Springer-Lehrbuch
Weitere Bände siehe www.springer.com/series/1183
Bernd Hecker
Europäisches Strafrecht Dritte, aktualisierte und erweiterte Auflage
1C
Professor Dr. Bernd Hecker Universität Trier FB V - Rechtswissenschaft 54286 Trier Deutschland
[email protected]
ISSN 0937-7433 ISBN 978-3-642-13126-4 e-ISBN 978-3-642-1 DOI 10.1007/978-3-642-13127-1 Springer Heidelberg Dordrecht London New York
3127-1
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005, 2007, 2010 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandentwurf: WMXDesign GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)
Vorwort zur 3. Auflage
Am I. Dezember 2009 trat nach einem stockend verlaufenden Ratifizierungsprozess der von den Staats- und Regierungschefs der EU am 13. Dezember 2007 unterzeichnete Vertrag von Lissabon in Kraft . Durch ihn gründen die Vertragsparteien untereinander eine Europäische Union ("Union") , der die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen. Die Union ist an die Stelle der EG getreten, deren Rechtsn achfolgerin sie ist. Die bisherige sog . "dritte Säule " der EU (PJZS) wurde in den supranationalen Bereich überführt . Freilich erfindet der Vertrag von Lissabon das Europäische Strafrecht nicht neu. Bereits auf dem Boden der früheren europäischen Vertr äge (EUV, EGV) hat sich innerhalb der EU ein integriertes System europäischer Strafrechtspflege entwickelt, das von den Strukturelementen Kooperation, Koordination, Assimilierung und Harmoni sierung geprägt ist. Erklärtes Ziel der Union bleibt die Schaffung eines Raum s der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen. Die europ äische Rechtssetzung ist dabei an die nunmehr rechtverbindlichen Gew ährleistungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gebunden. Europäisches Strafrecht ist nicht als statischer Recht szustand , sondern als Prozess der Europäisierung des Strafrechts und der Strafrechtspflege zu begreifen. Die 3. Auflage des Lehrbuches ist daher bemüht, die behandelten Sachthemen jeweils in ihrem historischen Kontext zu vermitteln, der die wesentlichen Entwicklungsschritte bis " Lissabon" nachzeichnet. Im Übrigen bleibt das Lehrbuch den bereits im Vorwort zur I. Auflage beschriebenen Zielen und Zielgruppen verpflichtet. Um den Fußnotenapparat überschaubar zu halten , musste eine subjektive Auswahl einschlägiger Nachweise getroffen werden . Ein fachliches " Unwerturteil" über nicht zitierte Beiträge ist damit selbstverständlich nicht verbunden . Allen Rezensenten und sonstigen Lesern danke ich für erteiltes Lob eben so wie für wertvolle Kritik und Hinweise. Konstruktive Anregungen nehme ich weiterhin gerne entgegen. Für tatkräftige Unter stützung danke ich - in Erinnerung an unsere angenehme Zusammenarbeit an der JLU Gießen - meinen ehemaligen wissenschaftli chen Mitarbeitern Dominique Dahlmanns, Nils Knobloch, Mathias H ütwohl, Isabel Schmieta und Kaja Lehr. Rechtsprechung, Literatur und Gesetzesmaterialien befinden sich auf dem Stand von Juni 2010 . Trier, im Oktober 20 I0
Bernd Hecker
Vorwort zur 1. Auflage
Europäisches Strafrecht ist eine junge, in dynamischer Entwicklung begriffene Rechtsdisziplin. Der Zugang zu dieser Rechtsmaterie ist dadurch erschwert, dass der einschlägige Rechts stoff supranationalen, völkerrechtlichen und innerstaatlichen Rechtsquellen verschiedener Hierarchien entstammt. Zu denken ist etwa an Gemeinschaftsprimärrecht, EG-Verordnungen, Richtlinien, völkerrechtliche Übereinkommen, Rahmenbeschlüsse sowie an nationale Gesetze und Rechtsverordnungen. Zwar existiert bereits eine recht stattliche Anzahl an Monographien, Zeitschriftenbeiträgen sowie Entscheidungen nationaler und europ äischer Gerichte (EuGH und EGMR), die sich mit Fragen des Europäischen Strafrechts befassen. Diese sind jedoch regelm äßig auf die Erörterung bestimmter Themenausschnitte bzw . spezieller Einzelprobleme fokussiert. Auch ist die Lektüre tiefschürfender Dissertationen, Habilitationsschriften und sonstiger wissen schaftlicher Monographien eine recht "schwere Kost", die sich kaum für Leser eignet, die sich in ein für sie neues, noch weitgehend unbekanntes Rechtsgebiet einarbeiten wollen . Für diesen Kreis von Interessenten bietet sich das Studium von Lern- und Übersichtbeiträgen an, die - mit unter schiedlicher Problemgewichtung - in bestimmte Themen des Europäischen Strafrechts einführen. Schon aufgrund der in Zeitschriften üblichen Seitenbegrenzungen vermögen diese Aufsätze freilich keine primär didaktisch ausgerichtete Gesamtdarstellung des Europäischen Strafrechts zu ersetzen, die - im Idealfall - den Rechtsstoff vollständig und systematisch aufarbeitet, fachliche und methodische Grundkenntnisse des Rechtsgebietes vermittelt, praxisnahe Vertiefungsschwerpunkte setzt , Anleitungen für die Lösung konkreter Fälle gibt , zentrale Thesen und Erkenntnisse einprägsam zusammenfasst, wichtige Literaturbeiträge und aktuelle Rechtsprechung nachwei st, dogmatisches und kriminalpolitisches Problembewusstsein weckt, zum Lernen und Weiterdenken anregt sowie nicht zuletzt - einen Kanon "abfragbaren Wissens" präsentiert. Ob und wie gut dies dem vorliegenden Lehrbuch gelungen ist, mögen die Leser entscheiden. Für konstruktive Kritik und Verbess erungsvorschläge j eder Art ist der Verfasser offen und dankbar. Das vorliegende Lehrbuch richtet sich in erster Linie an Studierende der Rechtswissenschaften sowie Absolventen von Polizeifachhochschulen, die sich in das Europäische Strafrecht einarbeiten, ihr Wissen festigen und erweitern oder auch nur Prüfungs stoff repetieren wollen . Insbesondere Studierenden, die Strafrecht oder Europarecht als Vertiefungs- bzw . Schwerpunktfach gewählt haben, möge das Lehrbuch nützliche Dienste erweisen. Aber auch Rechtspraktikern, die z. 8. als Richter , Staat sanwalt, Strafverteidiger oder Kriminalbeamter mit der Be-
VIII
Vorwort zur I. Auflage
arbeitung grenzüberschreitender oder europarechtsbezüglicher Strafrechtsfälle befasst sind , soll der "Einstieg" in die Materie erleichtert und ein rascher Zugang zu den breit verstreuten Rechtsbestimmungen sowie zu problemvertiefender Rechtsprechung und Literatur ermöglicht werden . Schließlich möge das Lehrbuch den in Wissenschaft und Lehre tätigen Kollegen Anregungen für Vorträge und Lehrveranstaltungen sowie Inspiration für die weitere Erforschung eines in rasanter Entwicklung befindlichen Rechtsgebietes bieten. Eine gewinnbringende Nutzung dieses Lehrbuches setzt ein gewisses Maß an fachlichem Vorwissen auf Seiten des Lesers voraus . Dieser sollte über fortgeschrittene Kenntnisse des deutschen Straf- und Strafprozessrechts sowie zumindest über Basiswissen in den Bereichen Verfassungs-, Europa- und Völkerrecht verfügen . Studierende der Rechtswissenschaften oder Absolventen von Polizeifachhochschulen dürften diese Voraussetzungen spätestens ab dem 4. Studiensemester mitbringen. Es erscheint sinnvoll, dargebotene Beispielsfälle zunächst selbständig zu durchdenken und sodann mit den Lösungshinweisen zu vergleichen . Zur Vertiefung bestimmter Einzelprobleme oder Themenkomplexe empfiehlt sich das Studium der angegebenen Literatur und Rechtsprechung. Dem eiligen oder um Vororientierung bemühten Leser sei die Lektüre der am Ende jedes Kapitels befindlichen Zusammenfassungen empfohlen. Auf den nachfolgend genannten Internetseiten findet der Leser Informationen über aktuelle europapolitische Themen und rechtliche Entwicklungen auf europäischer Ebene . Über http://www.coe.int gelangt man auf die Homepage des Europarates und über http://www.europa.eu.int auf die der Europ äischen Union . Der Zugriff auf die Datenbank CELEX (Recht der EU) erfolgt über http://europa.eu.int/celex. Für wertvolle Diskussionen, Anregungen, FundsteIlenrecherchen und sonstige tatkräftige Unterstützung in der Entstehungsphase dieses Buches danke ich Herrn Richter Dr. Lars Witteck sowie meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Herrn Markus Benner, Frau Melanie Berkl, Herrn Dominique Dahlmanns , Frau Anja Dohmen und Herrn Andreas Glaser. Gießen, im Januar 2005
Bernd Hecker
Inhaltsübersicht
Abkürzungsverzeichnis
XXVII
Abgekürzt zitierte Literatur
XXXV
Europäische Integration: Wichtige Daten und Ereignisse im Überblick
XLIX
Teil I: Einführung § I Grundbegriffe und Grundfragen des Europäischen Strafrechts § 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenzüberschreitenden Bezügen
3 .25
Teil 11: Träger des Europäischen Strafrechts und ihre Handlungsformen § 3 Europarat. § 4 Europäische Union
77 117
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk globaler, europäischer oder bilateraler Kooperation in Strafsachen
§ 6 Zusammenarbeit zwischen EuGH und nationaler Strafgerichtsbarkeit
I59 209
Teil 111: Strafrechtsrelevante Europäisierungsfaktoren § 7 Assimilierungsprinzip
227
§ 8 Strafrechtliche Annexkompetenz der EU
265
§ 9 Vorrang des Unionsrechts
301
§ 10 Unionsrechtskonforme Auslegung
329
§ I I Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung
367
§ 12 Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen
.4 I9
§ 13 Transnationales Doppelbestrafungsverbot...
457
X
Inhaltsübersicht
Teil IV: Strafrechtlicher Schutz der EU-Finanzinteressen § 14 Betrugsbekämpfung durch Europäisches Strafrecht...
.495
Stichwortverzeichnis
519
Inhaltsverzeichnis
Abkü rzu ngsverzeich nis
XXVII
Abgekürzt zitierte Literatur
XXXV
Europäische Integration : Wichtige Daten und Ereignisse im Überblick
XLIX
Teil I: Einführung
§ I Grundbegriffe und Grundfragen des Europäischen Strafrechts 3 A. Einleitung 3 B. Was ist "E uropäisches Strafrecht"? 5 I. Europäisches Strafrecht als strafrechtliche Rechtsm aterie sui generis 5 I. Gemeinsames rechtskulturelles Erbe der europ äischen Staaten 5 2. Europäisches Strafrecht und Europäisierung des Strafrechts 5 11. Europäisches Strafrecht als rechtswissenschaftliche Querschnittsmaterie 7 I. Kriminalpolitik 7 2. Strafrechtsdogmatik 9 3. Strafverfahrensrecht. 10 4. Kriminologie 11 5. Europarecht. 11 12 6. Verfassungs- und Völkerrecht 111. Praktische Bedeutung des Europäischen Strafrechts 12 I . Strafre chtsbegrenzende Europäisierungseffekte 13 2. Stärkung strafprozessualer Rechtspos itionen 15 3. Strafrechtsausdehnende Europäisierungseffekte 17 a) Europa als .Jcriminalgeographischer Raum" 17 b) Europäisches Strafrecht als Antwort auf grenzüberschreitende Kriminalität 18 c. Literaturhinweise 21 D. Rechtsprechungshinweise 23 E. Zusammenfassung von § I 23 § 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenzüberschreitenden Bezügen A. Internationales Strafrecht I. Begriff und Funktion des internationalen Strafrechts
25 25 25
XII
Inhaltsverzeichnis
11 . Schutzbereich deutscher Straftatbestände 27 111. Völkerrechtliche Grundlagen des internationalen Strafrechts 29 IV. Prinzipien des internationalen Strafrechts 3I I . Territorialitätsprinzip 3I a) Inlandsbegriff 3I b) Ubiquitätsprinzip 32 aa) Anwendungsbeispiele 33 bb) Abtreibungstourismus 34 c) Distanzdelikte 37 aa) Internetkriminalität 37 bb) Grenzüberschreitende Umweltdelikte 39 2. Flaggenprinzip 42 3. Aktives Personalitätsprinzip 42 4. Passives Personalitätsprinzip 43 5. Schutzprinzip 43 6. Weltrechtsprinzip 44 7. Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege 46 8. Kompetenzverteilungsprinzip 49 9. Prozessuale Aspekte der Verfolgung von Auslandstaten 50 V. Literaturhinweise 50 VI. Rechtsprechungshinweise 51 B. Transnationales Strafrecht 51 I. Begriffund Funktion des transnationalen Strafrechts 5I 11. Rechtshilfe in Strafsachen am Beispiel der Auslieferung 54 I . Rechtliche Grundlagen des Auslieferungsverkehrs 54 2. Grundprinzipien und allgemeine Voraussetzungen der Auslieferung 55 a) Grundsatz der Gegenseitigkeit... 55 b) Beiderseitige Straf- und Verfolgbarkeit 56 c) Grundsatz der Spezialität... 56 d) Auslieferungshindernisse 57 3. Auslieferungsverfahren 59 a) Verfahrensweise nach einem Fahndungserfolg in Deutschland .. 59 b) Förmliches Auslieferungsverfahren in Deutschland 60 111 . Literaturhinweise 62 IV. Rechtsprechungshinweise 62 c. Völkerstrafrecht 63 I. Begriffund Funktion des Völkerstrafrechts 63 11. Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) 64 111. Durchsetzung des Völkerstrafrechts 66 IV. Deutsches Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) 68 I. Strafanwendungsrecht des VStG B 68 2. Allgemeiner Teil des VStGB 69 3. Besonderer Teil des VStGB 69 4. Zusammenfassende Bewertung - Vorbildcharakter des VStGB 70 V. Literaturhinweise 7I
Inhaltsverzeichnis D. Zusammenfassung von § 2
XIII 72
Teil 11: Träger des Europäischen Strafrechts und ihre Handlungsformen
§ 3 Europarat
77 77 77 79 79 80 80 81 81 83 84 85 85 87 88 89 90 91 92 92 94 95 97 100 100 101 102 103 104 106 108 110 111 113 113
§ 4 Europäische Union
117 117 117 118 118
A. Strukturen und Ziele des Europarates I. Rechtsnatur des Europarates 11 . Organe des Europarates 111 . Arbeitsprogramm des Europarates B. Strafrechtsrelevante Aktivitäten des Europarates I. European Commitee on Crime Problems 11. Strafrechtsrelevante Konventionen I. Übersicht. 2. Praktische Bedeutung der Konventionen 111. Europarat als Forum paneuropäischer Kooperation IV. Literaturhinweise C. Bedeutung der EMRK für die europäische Strafrechtspflege I. System des Menschenrechtsschutzes I . Konventionsorgane 2. Verfahrensgang nach Einlegung einer Individualbeschwerde 3. Wirkung rechtskräftiger Urteile des Gerichtshofs 4. Innerstaatliche Umsetzung von Urteilen des Gerichtshofs 11. Anwendungsbereiche strafrechtsrelevanter Konventionsrechte I. Autonome Auslegung der Konventionsrechte 2. Konventionsgarantien als Auslieferungshindernis a) Drohende Todesstrafe und unmenschliche Behandlung b) Rechtschutzdefizit und "drakonische" Strafe 3. Strafprozessuale Verfahrensgarantien a) Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten b) Einsatz von Lockspitzeln c) Widerruf der Bewährung d) Frage- und Konfrontationsrecht des Beschuldigten e) Überlange Verfahrensdauer 4. Freiheitsrechte und strafprozessuale Untersuchungshaft 5. Einfluss von Konventionsrechten auf das materielle Strafrecht 111 . Bindung der EU an die EMRK D. Literaturhinweise E. Rechtsprechungshinweise F. Zusammenfassung von § 3 A. Union als Rechtsnachfolgerin der EG I. Rechtsnatur der EU 11 . Organe der EU und ihre Funktionen I. Europäischer Rat
XIV
Inhaltsverzeichnis
2. Rat der Europäischen Union 118 a) Allgemeines 118 b) Aufgaben des Rates 119 c) Strafrechtsrelevante Aktivitäten des Rates 120 3. Kommission der Europäischen Union 122 a) Allgemeines 122 b) Aufgaben der Kommission 124 c) Strafrechtsrelevante Aktivitäten der Kommission 125 d) Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) 126 4. Europäisches Parlament... 129 a) Allgemeines 129 b) Aufgaben des Europäischen Parlaments 130 c) Strafrechtsrelevante Aktivitäten des Europäischen Parlaments .. 132 5. Gerichtshof der Europäischen Union 133 a) Allgemeines 133 b) Aufgaben des Gerichthofes 133 c) Klage- und Verfahrensarten 134 aa) Vorabentscheidungsverfahren (Art . 267 AEUV) 134 bb) Vertragsverletzungsklagen (Art . 258, 259 AEUV) 134 cc) Nichtigkeitsklagen (Art . 263 , 264 AEUV) 135 dd) Untätigkeitsklagen (Art . 265 AEUV) 135 d) Strafrechtsrelevante Aktivitäten des EuG H 136 6. Europäischer Rechnungshof.. 136 a) Allgemeines 136 b) Aufgaben des Rechnungshofes 137 c) Strafrechtsrelevante Aktivitäten des Rechnungshofs 137 111. Rechtsquellen und Charakteristika der Unionsrechtsordnung 138 I . Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 138 2. Primäres Unionsrecht 139 3. Sekundäres Unionsrecht 140 a) Verordnungen (Art . 288 UA 2 AEUV) 140 b) Richtlinien (Art . 288 UA 3 AEUV) 140 c) Beschlüsse (Art . 288 UA 4 AEUV) 141 d) Empfehlungen und Stellungnahmen (Art . 288 UA 5 AEUV) 141 e) Sonstige Rechtsakte 142 B. Kompetenzen der Union zur Strafgesetzgebung 142 1. Strafrecht als autonom zu bestimmender Begriff des Unionsrechts .. 143 I . Untauglichkeit einer formalen Begriffsbestimmung 143 2. Begriffsbestimmung anhand materieller Kriterien 144 3. Abgrenzung zwischen Kriminalstrafrecht und Strafrecht i. w. S 145 4. Zuordnung einzelner Sanktionstypen des Unionsrechts 145 a) Geldbußen 146 b) Zwangsgeld und Strafgeld 146 c) Sanktionen im Agrar- und Fischereirecht.. 147 11. Diskussion einer etwaigen Strafgesetzgebungsbefugnis der EU 147 I . Judikatur des EuGH und deutscher Gerichte 148
Inhaltsverzeichn is
2. Literaturansichten 3. Vertiefende Diskussion zentraler Gesichtspunkte a) Kompetenzproblem und Legitimationsfrage b) Wortlaut potentieller Ermächtigungsnormen und systematische Aspekte c) Kriminalstrafrecht als Gegenstand der früheren 3. Säule d) Überführung der 3. Säule in den Rahmen des Unionsrechts e) Bedeutung des Art . 325 IV AEUV 4 . Ergebnis C. Literaturhinweise D. Rechtsprechungshinweise E. Zusammenfassung von § 4
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk globaler, europäischer oder bilateraler Kooperation in Strafsachen
XV
150 151 151 152 153 153 154 155 156 156 157
159
A. EU-Mitgliedstaaten als Träger des Europäischen Strafrechts 159 B. Strafrechtsrelevante Kooperationsformen 160 I. Einführung 160 11 . Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (Interpol) 160 III. Vereinte Nationen (UN) 161 I. Bekämpfung der Geldwäsche und Betäubungsmittelkriminalität 162 2. Bekämpfung illegaler grenzüberschreitender Abfallverbringung .. 163 3. Bekämpfung der transnationalen Kriminalität.. 163 IV. Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 164 1. Bekämpfung von Korruption und Bestechung 164 2. Bekämpfung der Geldwäsche 166 V. Gipfelkonferenz der G7/G8-Staaten 167 VI. Zusammenarbeit im Europarat.. 167 I. Bekämpfung der Geldwäsche und Betäubungsmittelkriminalität 167 2. Bekämpfung der Korruption 168 168 3. Bekämpfung der Cyber-Kriminalität 4 . Bedeutung der Zusammenarbeit im Europarat 169 C. Zusammenarbeit in der EU 169 I. Informelle Kooperation 170 1. TREVI-Arbeitsgruppen 170 2. CELAD 171 11 . Kooperation im Rahmen der Schengener Abkommen 171 171 1. Sehengen I und Sehengen 11 (SDÜ) 2. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit auf der Basis des SDÜ 173 a) Überblick 173 b) Polizeilicher Informationsaustausch (Art. 39 SDÜ) 173 c) Grenzüberschreitende Observation (Art. 40 SDÜ) 175 d) Grenzüberschreitende Nacheile (Art. 41 SDÜ) 176
XVI
Inhaltsverzeichnis
e) Gleichstellung der Beamten (Art . 42 SDÜ) und Schadensersatz (Art. 43 SDÜ) f) Das Schengener Informationssystem (Art. 92-119 SDÜ) 111. Die frühere 3. Säule der EU I. Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI) 2. European Drug Unit (EDU) 3. Europol a) Organisatorische Strukturen und Kontrolle von Europol b) Aufgaben von Europol c) Datenschutz 4 . Europäisches Justizielles Netz (EJN) 5. Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen 6. Eurojust a) Organisatorische Strukturen von Eurojust.. b) Aufgaben von Eurojust... IV. PJZS in dem einheitlichen Rahmen des Unionsrechts D. Bilaterale Zusammenarbeit I. Wesentlicher Inhalt des deutsch-schweizerischen Polizeivertrages I. Überblick 2. Observation (Art. 14, 15) 3. Nacheile (Art. 16) 4 . Verdeckte Ermittlungen (Art. 17, 18) 5. Kontrollierte Lieferungen (Art. 19) 6. Datenschutz (Art . 26-28) 7. Amtshandlungen im anderen Vertragsstaat 11. Würdigung des Polizeivertrages E. Rechtsschutz gegen grenzüberschreitende Strafverfolgung F. Literaturhinweise G. Zusammenfassung von § 5
§ 6 Zusammenarbeit zwischen EuCH und nationaler
Strafgerichtsbarkeit A. Integration des Vorabentscheidungsverfahrens in das Strafverfahren I. Funktion und Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens I. Sicherung des Auslegungs- und Verwerfungsmonopols des EuGH 2. Individualschutzfunktion 11. Vorlagebefugnis und Vorlagepflicht 111. Fallgruppen von Vorlagen im Strafprozess IV. Wirkungen der Vorabentscheidung B. Vorabentscheidungsverfahren und strafprozessuale Maximen I. Vorabentscheidung im Haupt- und Zwischen verfahren I. Zu lässigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens 2. Vorlageermessen und Ermittlungsgrundsatz 11. Vorabentscheidung im Ermittlungsverfahren I. Zu lässigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens
177 178 180 180 181 182 182 184 186 187 187 189 189 190 191 192 193 193 194 196 197 198 199 199 200 20 I 205 206
209 209 209 209 210 21 I 212 216 217 217 217 217 218 218
Inhaltsverzeichnis 2. Konflikt zwischen Vorlage und Funktion des Ermittlungsverfahrens 111. Auswirkung vorlagebedingter Verfahrensverzögerungen c. Literaturhinweise D. Rechtsprechungshinweise E. Zusammenfassung von § 6
XVII
219 221 221 221 222
Teil 111: Die strafrechtsrelevanten Europäisierungsfaktoren
§ 7 Assimilierungsprinzip
A. Mitgliedstaatliches Strafrecht im Dienste des Unionsrechts B. Assimilierung durch supranationale Verweisungen I. Primärrechtliche Verweisung auf nationale Straftatbestände I . Aussagedelikte 2. Verletzung von Geheimhaltungsptlichten 11 . Sekundärrechtliche Verweisung auf nationale Straftatbestände C. Assimilierung als Ausprägung der Schutzverpflichtung aus Art . 4 111 EUV I. Befugnis der Mitgliedstaaten zur Sanktionierung von Verstößen gegen Unionsrecht 11. Pflicht der Mitgliedstaaten zur Sanktionierung von Verstößen gegen Unionsrecht I. Mindestanforderungen an Sanktionsnormen im Dienste des Unionsrechts 2. Gleichstellungserfordernis und Mindesttrias a) Der Fall "Griechischer Mais" - ein .Jeading case" des Europäischen Strafrechts b) Bedeutung des "Mais-Urteils" 3. Gegenstand der strafrechtlichen Schutzverptlichtung 111. Unionsrechtlicher Rahmen für Strafgesetze im Dienste des Unionsrechts I. Unionsrechtlich festgelegte Untergrenze 2. Präzisierung der Untergrenze der Sanktionierungspflicht 3. Unionsrechtlich festgelegte Obergrenze 4 . Präzisierung der Obergrenze strafrechtlicher Sanktionen 5. Inhaltsbestimmung der unionsrechtlichen Rahmenbegriffe a) Konkretisierungsspielraum der Mitgliedstaaten b) Gleichstellungserfordernis c) Wirksamkeits- und Abschreckungserfordernis d) Verhältnismäßigkeit (Angemessenheit) der Sanktion D. Ausprägungen des Assimilierungsprinzips im deutschen Strafrecht I. Schutzbereichsausdehnung durch Gleichstellungsvorschriften I. Gleichstellungsbestimmung des § 264 VII Nr. 2 StGB 2. Gleichstellungsbestimmung des EUBestG 11. Verweisung auf Unionsrecht durch Blankettstrafgesetze I. Unionsrechtsakzessorisches Blankettstrafrecht
227 227 228 228 229 230 231 231 231 233 233 234 234 235 237 239 239 240 241 243 244 244 245 246 248 249 249 249 250 252 252
XVIII
Inhaltsverzeichnis
2. Grundtypen unionsrechtsakzessorischer Blankettstrafgesetze 254 a) Zuwiderhandlungen gegen bestimmte Ver- oder Gebote einer EU-Verordnung 254 b) Strafbarkeitslücken durch Austausch des Verweisungsobjekts .. 256 c) Strafbewehrung von Unionsrecht durch Festlegungen des deutschen Verordnungsgebers 258 3. Zusammenfassende Würdigung 261 E. Literaturhinweise 261 F. Rechtsprechungshinweise 262 263 G. Zusammenfassung von § 7
§ 8 Strafrechtliche Annexkompetenz der EU
265 A. Strafrechtsharmonisierung durch Richtlinien 265 I. Anweisungskompetenz vor und nach "Lissabon" 266 11. Entwicklung der Harmonisierungspolitik 269 I . Geldwäschestrafrecht 270 2. Strafrechtlicher Schutz des Euro 275 3. Umweltstrafrecht 276 a) Konvention des Europarates zum Schutz der Umwelt durch Strafrecht 276 b) Richtlinienvorschlag der Kommission v. 13. März 200 I 277 c) Rahmenbeschluss über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt 277 d) Urteile des EuGH zur Anweisungskompetenz der EG 278 e) Richtlinie 2008 /99/EG über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt 280 B. Strafrechtsangleichung in harmonisierten Politikbereichen 283 I. Grundlagen und Funktionen der Strafrechtsangleichung nach Art. 83 II AEUV 283 11. Strafrechtsrelevante Harmonisierungsbefugnisse im AEUV 285 I. Spezielle und allgemeine Harmonisierungsbefugnisse 285 2. Spezialermächtigungen im Bereich der gemeinsamen Politiken 285 285 a) Gemeinsame Agrarpolitik (Art . 38-44 AEUV) 286 b) Gemeinsame Verkehrspolitik (Art . 90-100 AEUV) 286 c) Umweltschutz (Art. 191 -193 AEUV) d) Schutz der EU-Finanzinteressen (Art . 325 IV AEUV) 287 3. Allgemeine Harmonisierungsbefugnisse (Art. 114, 115 AEUV) .. 288 III. Grenzen der strafrechtlichen Anweisungskompetenz 289 I . Subsidiaritätsprinzip 290 2. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 292 3. Reichweite der strafrechtlichen Anweisungsbefugnis der EU 293 294 IV. Verfahrensrechtliche "Notbremse" (Art. 83 III AEUV) c. Literaturhinweise 295 D. Rechtsprechungshinweise 297 297 E. Zusammenfassung von § 8
Inhaltsverzeichn is
§9
Vorrang des Unionsrechts
A. Unionsrecht und nationales Recht I. Grundlagen 11 . Vorranggrundsatz I . EuGH - Unbeschränkter Vorrang des Unionsrechts 2. BVerfG - Begrenzter Vorrang des Unionsrechts 3. Anwendungs- versus Geltungsvorrang B. Anwendungsvorrang und nationales Strafrecht 1. Neutralisierung mitgliedstaatlicher Strafvorschriften 11. Überlagerung strafverfahrensrechtlicher Bestimmungen 111 . Kollisionskonstellationen I . Echte und unechte (scheinbare) Kollision 2. Direkte und indirekte Kollision IV. Fallbeispiele aus Praxis und Literatur I . Unbefugte Ausübung einer veterin ärmedizin ischen Tätigkeit ("Auer") 2. Verstoß gegen nationale Kennz eichnungsvorschriften ("Ratti") 3. Grenzüberschreitende Veran staltung einer Lotterie oder Werbung hierfür 4. Übertreibende Produktanpreisung in grenzüberschreitender Werbekampagne 5. Abtreibungstourismus a) Unionsrechtsbezug des Falles b) Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote c) Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote d) Schutz des ungeborenen Lebens als zwingender Grund des Allgemeininteresses e) Strafbarkeit der Schwangeren und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz t) Strafbarkeit des Arztes und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 6. Lebenslange Ausweisung als strafrechtliche Nebenfolge ("Calfa") C. Literaturhinweise D. Rechtsprechungshinweise E. Zusammenfassung von § 9
§ 10 Unionsrechtskonforme Auslegung
A. Das Rechtsinstitut der unionsrechtskonformen Auslegung 1. Bedeutung der unionsrechtskonformen Ausl egung 11. Begründung und Inhalt der Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung I. Leitentscheidungen des EuGH ("von Coison und Kamann" ; " Harz") 2. Unionsrechtliche Grundlagen des Auslegungsgebotes 3. Nationale Recht sgrundlagen einer unionsrechtsfreundlichen Auslegung
XIX
301 30 I 30 I 302 302 302 304 305 305 307 308 308 311 313
3 13 314 315 317 319 319 320 321 321 322 323 324 325 326 327
329 329 329
330 330 331 333
XX
Inhaltsverzeichn is
III. Gegenstand der unionsrechtskonformen Auslegung I . Umsetzungsrecht und sonstiges nationales Recht ("Marleasing") 2. Richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts ohne vorangegangene Transformationsgesetzgebung a) Richtlinie und nationales Recht b) Fallbeispiel "Nostalgiewerbung" für Lebensmittel IV. Richtlinienkonforme Auslegung als mehrphasiger Interpretationsakt V. Verhältnis der unionsrechtskonformen Auslegung zu nationalen Auslegungsmethoden VI. Beginn der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung VII. Grenzen des Gebots unionsrechtskonformer Auslegung B. Unionsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht.. I. Aussagen des EuG H I . Strafrechtliche Verantwortlichkeit und Richtlinienrecht im Falle einer zum Tatzeitpunkt nicht umgesetzten Richtlinie ("Kolpinghuis Nijmegen") 2. Strafrechtliche Verantwortlichkeit und Richtlinienrecht im Falle einer zum Tatzeitpunkt fehlerhaft umgesetzten Richtlinie ("Arcaro") 3. Erfordernis der Bestimmtheit von Richtlinie und Strafgesetz ("Telecom Italia") 11. Aussagen des BGH ("Pyrolyse-Urteil") 111. Zur sog. "strafbarkeitserweiternden" Auslegung IV. Anwendungsfelder der unionsrechtskonformen Auslegung im Strafrecht I . Amtsanmaßung (§ 132 StGB) 2. Verwahrungsbruch (§ 133 StGB) 3. Urkundendelikte (§§ 267 , 271 , 274 , 348 StGB) 4. Umweltdelikte (§§ 324 a I, 325 I, 11,325 a I, 11 StGB) 5. Fahrlässigkeitsdelikte V. Rahmenbeschlusskonforme Auslegung nationalen Strafrechts c. Literaturhinweise D. Rechtsprechungshinweise E. Zusammenfassung von § I0
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung A. Einführung I. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts 11. Strafrechtsangleichung vor und nach "Lissabon" B. Angleichung des materiellen Strafrechts im Rahmen der JZS I. Rechtlicher Rahmen der Strafrechtsangleichung I. Harmonisierungsfähige Kriminalitätsbereiche 2. Gemeinsame Definitionen 3. Festlegung von Strafen 11. Grenzen der Strafrechtsangleichung
334 . 334 335 335 337 339 340 342 344 346 346 346 348 349 351 353 355 355 356 357 358 359 360 363 364 365 367 367 367 368 370 370 370 371 371 372
Inhaltsverzeichn is
XXI
C. Felder der Strafrechtsangleichung in der Union 372 I. Überblick: Rahmenbeschlüsse mit materie11strafrechtlichem Bezug 372 11 . Terrorismus 374 I . Anwendungsbereich 374 2. Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekämpfung 374 a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses 375 b) Wesentlicher Inhalt 375 c) Deutsches Strafrecht 378 III. Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern 379 I. Anwendungsbereich 379 2. Rahmenbeschluss zur Bekämpfung des Menschenhandels 380 a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses 380 b) Wesentlicher Inhalt 380 382 c) Reformbestrebungen auf Unionsebene d) Deutsches Strafrecht 383 3. Rahmenbeschluss zur Bekämpfung der Kinderpornographie 383 a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses 383 b) Wesentlicher Inhalt 384 386 c) Reformbestrebungen auf Unionsebene d) Deutsches Strafrecht 386 IV. Illegaler Drogenhandel. 387 I . Anwendungsbereich 387 2. Rahmenbeschluss zur Bekämpfung des illegalen Drogenhandels .. 388 a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses 388 b) Wesentlicher Inhalt 389 c) Deutsches Strafrecht 391 V. Geldwäsche 392 I. Anwendungsbereich 392 2. Rahmenbeschluss zur Bekämpfung der Geldwäsche 392 a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses 393 b) Wesentlicher Inhalt 393 c) Deutsches Strafrecht 394 VI. Korruption 395 I . Anwendungbereich 395 2. Rahmenbeschluss zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor 396 a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses 396 b) Wesentlicher Inhalt 396 c) Deutsches Strafrecht 397 VII. Fälschung von Zahlungsmitteln 398 I . Anwendungbereich 398 2. Rahmenbeschluss I zum strafrechtlichen Schutz des Euro 398 a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses 398 b) Wesentlicher Inhalt 399 c) Deutsches Strafrecht 399
XXII
Inhaltsverzeichnis
3. Rahmenbeschluss 11 und Beschluss über den Schutz des Euro vor Fälschungen 4. Rahmenbeschluss zum strafrechtlichen Schutz bargeldloser Zahlungsmittel a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses b) Wesentlicher Inhalt c) Deutsches Strafrecht VIII . Computerkriminalität I. Anwendungbereich 2. Rahmenbeschluss über Angriffe auf Informationssysteme a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses b) Wesentlicher Inhalt c) Deutsches Strafrecht IX. Organisierte Kriminalität I. Anwendungsbereich 2. Rahmenbeschluss zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses b) Wesentlicher Inhalt c) Deutsches Strafrecht.. 3. Rahmenbeschluss zur Bekämpfung der Schleuserkriminalität.. a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses b) Wesentlicher Inhalt c) Deutsches Strafrecht X. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit... I . Anwendungsbereich 2. Rahmenbeschluss zur Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses b) Wesentlicher Inhalt c) Deutsches Strafrecht D. Literaturhinweise E. Zusammenfassung von § I I
§ 12 Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen
A. Einführung B. Erleichterung der Zusammenarbeit.. I. Vermeidung von Kompetenzkonflikten 11. Instrumente des Rechtshilfeverkehrs in Europa I . Europäisches Rechtshilfeübereinkommen des Europarates 2. Rechtshilfekooperation nach Art . 48 ff. SDÜ 3. EU-Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen (EURÜ) 4. Rahmenbeschluss über die Europäische Beweisanordnung 111. Instrumente des Vollstreckungshilfeverkehrs in Europa C. Erleichterung der Auslieferung
400 400 400 40 I 402 403 403 404 404 404 407 408 408 408 409 409 410 410 411 411 412 412 412 413 413 413 414 415 416 419
419 420 420 422 422 423
423 424 426 427
Inhaltsverzeichnis Instrumente des Auslieferungsverkehrs in Europa I . Europäisches Auslieferungsübereinkommen des Europarates 2. Erleichterung des Auslieferungsverkehrs durch Art. 59 ff. SDÜ 3. EU-Übereinkommen über das vereinfachte Auslieferungsverfahren 4. EU-Auslieferungsübereinkommen (EUAÜ) 11. Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl I. Einführung 2. Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses 3. Wesentlicher Inhalt des Rahmenbeschlusses a) Verfahrensrechtliche Regelungen b) Materielle Bestimmungen 4. Bewertung und Ausblick 111. Umsetzung des Rahmenbeschlusses in Deutschland I . Nichtigerklärung des ersten Umsetzungsgesetzes 2. Das Europäische Haftbefehlsgesetz vom 20. Juli 2006 a) Abkehr vom Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit... b) Gesetzliches Prüfprogramm bei Auslieferung Deutscher. c) Gerichtliche Überprüfung der Bewilligungsentscheidung D. Gegenseitige Anerkennung justizieller Entscheidungen I. Anwendungsfelder I. Gegenseitige Anerkennung als zentrales Strukturprinzip 2. Angleichung strafprozessualer Verfahrensgarantien 3. Gegenseitige Anerkennung von Sanktionen 4. Gegenseitige Anerkennung der Wirkung von Verurteilungen 5. Informationsaustausch über Strafregistereinträge 6. Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur U-Haft 7. Internationale Rechtshilfe in Strafsachen 11. Unionsrechtlicher Hintergrund des Prinzips 111 . Tragfähigkeit des Prinzips beim transnationalen Beweistransfer. IV. Lösungsmöglichkeiten de lege ferenda E. Literaturhinweise F. Rechtsprechungshinweise G. Zusammenfassung von § 12 I.
§ 13 Transnationales Doppelbestrafungsverbot A. Einführung B. Auslegung und Anwendungsbereich des Art. 54 SDÜ I. Vorabentscheidungskompetenz des EuGH 11. Das Merkmal "rechtskräftige Aburteilung" I . Belgisehe "transactie" 2. Österreichisches Straferkenntnis 3. Niederländische "transactie" und staatsanwaltliehe Verfahrenseinstellung gern. § 153 a StPO 4. Vertiefende Diskussion a) Wortlautinterpretation
XXIII .427 427 429 429 429 430 430 431 431 431 432 436 439 439 440 441 441 443 443 443 443 .444 .445 .445 446 .447 .447 448 449 452 453 454 455 457 457 465 465 .466 467 468 469 470 471
XXIV
Inhalt sverzeichnis
b) Systematische Interpretation c) Teleologische Interpretation d) Definition des Merkmals "rechtskräftige Aburteilung" III. Vollstreckungselemente des Art . 54 SDÜ I . Erstes Vollsteckungselement 2. Zweites Vollstreckungselement 3. Drittes Vollstreckungselement a) Wortlautauslegung b) Teleologische Auslegung IV. Tatbegriff und Reichweite der materiellen Rechtskraft I. Deutscher Strafbefehl und Art. 54 SDÜ 2. Einstellung des Verfahrens nach Erfüllung einer Auflage V. Anwendbarkeit des Art. 54 SDÜ auf Entscheidungen im Bußgeldverfahren I . Verurteilung zu einer Bußgeldzahlung 2. Erledigungswirkung eines rechtskräftigen Bußgeldbescheids VI. Zur Frage der Weitergeltung mitgliedstaatlicher Erklärungen und Vorbehalte nach der Überführung des SDÜ in den Rahmen der EU c. Ausblick D. Literaturhinweise E. Rechtsprechungshinweise F. Zusammenfassung von § 13
472 473 475 476 478 478 479 481 481 482 485 485 486 486 487 .. 488 488 489 490 491
Teil IV: Strafrechtlicher Schutz der EU-Finanzinteressen
§ 14 Betrugsbekämpfung durch Europäisches Strafrecht
A. Unionsfinanzen als Angriffsfläche für kriminelle Praktiken I. Einführung 11 . Unionsfinanzen I . Eigenmittel der EU 2. Ausgaben der EU III. Deliktsformen und Täterstrukturen I. Erscheinungsformen der EU-Betrügereien a) Hinterziehung von Abgaben bei der Wareneinfuhr b) Erschleichung von Erstattungen bei der Warenausfuhr c) Abgabenhinterziehung und Subventionserschleichung innerhalb der EU 2. Täterstrukturen und Schadensschätzungen IV. Präventionsstrategien B. EU-Finanzinteressen als Schutzobjekt des Europäischen Strafrechts I. Mitgliedstaatliche Schutzverpflichtung II. Rechtszersplitterung als Hindernis für eine effektive Betrugsbekämpfung III. Wege zur Überwindung der Rechtszersplitterung in Europa IV. Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der EG
495 495 495 497 497 497 498 498 499 499 500 500 50 I 502 502 502 504 504
Inhaltsverzeichnis
I. Wesentlicher Inhalt der PIF-Konvention 2. Umsetzung in Deutschland C. Modelle für die künftige Entwicklung des Europäischen Strafrechts I. Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutze der finanziellen Interessen der EU I. Wesentlicher Inhalt des Corpus Juris 2. Bedeutung des Corpus Juris 11 . Grünbuch der Kommission I. Wesentlicher Inhalt des Grünbuchs 2. Kritische Würdigung 111 . Supranationales Betrugsstrafrecht.. D. Literaturhinweise E. Zusammenfassung von § 14 Stichwortverzeichnis
XXV
504 507 507 507 508 509 510 510 512 515 516 517 519
Abkürzungsverzeichnis
a.A. aaO abI. ABlEG Abs . AE AEUV a.F. AG AIDP Alt. AMG Anm . AO AöR Art. AT ATS Aufl . AuslG BAG BAGE BayObLG BayObLGSt BB betr. Bd. BGB BGBI. BGH BGHSt BGHStGrS
anderer Ansicht am angegebenen Ort ablehnend Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Absatz Alternativentwurf Europäische Strafverfolgung Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Amtsgericht Association internationale de droit penal Alternative Arzneimittelgesetz Anmerkung Abgabenordnung Archiv für öffentliches Recht Artikel Allgemeiner Teil Österreichische Schilling Auflage Ausländergesetz Bundesarbeitsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bayerisches Oberstes Landesgericht Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Strafsachen Betriebs-Berater betreffend Band Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt (Teil , Seite) Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Großen Senats des Bundesgerichtshofes in Strafsachen
XXVIII
Abkürzungsverzeichnis
bzw .
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundeskriminalamt Bundesnaturschutzgesetz Bundesrepublik Deutschland Bundesratsdrucksache Besonderer Teil Bundestags-Drucksache Betäubungsmittelgesetz Basler Übereinkommen über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfalle und ihrer Entsorgung Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts beziehungsweise
CDPC ChemG CELAD CJ C.SIS
European Commitee on Crime Problems Chemikaliengesetz Comite Europeen de la Lutte Antidrogue Corpus Juris Central Sehengen Information System
d. ders . d.h. dies . Diss . DM DÖV DRiZ DVBI
der , des derselbe das heißt dieselben Dissertation Deutsche Mark Die Öffentliche Verwaltung Deutsche Richter Zeitung Deutsches Verwaltungsblatt
EAG EAGV
Europäische Atomgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft Europäische Beweisanordnung European Currency Unit European Drug Unit Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
BGHZ BKA BNatSchG BRD BR-Drs. BT BT-Drs. BtMG BÜ BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE
EBA ECU EDU EG EGKS EGMR
Abkürzungsverzeichnis
EGV EJN ELR EKMR EMRK endg . EP ER ETS EU EuAIÜbk EUAÜ EUBestG EuG EuGH EuGHE EUR EuR Euratom EuRhÜbk EURÜ EUV EuZ EuZW evtl. EWG exempl. EZB
f. FATF FCKW ff. FS GA GASP
GD
gem .
XXIX
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Europäisches Justizielles Netz European Law Review Europäische Kommission für Menschenrechte Europäische Menschenrechtskonvention endgültige Fassung Europäisches Parlament Europäischer Rat European Treaty Series Europäische Union Europäisches Auslieferungsübereinkommen Auslieferungsübereinkommen der Mitgliedstaaten der EU EU-Bestechungsgesetz Europäisches Gericht erster Instanz Europäischer Gerichtshof Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs Euro Europarecht (Zeitschrift) siehe EAG Europäisches Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der EU Vertrag über die Europäische Union Zeitschrift für Europarecht Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht eventuell Europäische Wirtschaftsgemeinschaft exemplarisch Europäische Zentralbank folgende(r) Financial Action Task Force on Money Laundering Fluorchlorkohlenwasserstoff fortfolgende Festschri ft Goltdammerss Archiv für Strafrecht Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Generaldirektion(en) gemäß
XXX
Abkürzungsverzeichnis
GG GKG GMBI. GRCh GRECO GRUR GwG
h.A. h.L. h.M. HRRS Hrsg.
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Gerichtskostengesetz Gemeinsames Ministerialblatt Charta der Grundrechte der EU Gruppe der Staaten gegen Korruption Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Geldwäschegesetz herrschende Ansicht herrschende Lehre herrschende Meinung Online-Zeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht Herausgeber
LV.m. Lw.S.
International and Comparative Law Quarterly in der Regel in der Fassung im engeren Sinn im Sinne der (s) im weiteren Sinn Internationaler Gerichtshof Internationale Kriminalpolizeiliehe Kommission International Mitlitary Tribunal Gesetz über die Bekämpfung des Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr Internationaler Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte Internationales Privatrecht Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen Internationale Rechtshilfe in Strafsachen Internationaler Strafgerichtshof in Verbindung mit im weiteren Sinn
JA jew. JI JIT JR JURA JuS
Juristische Arbeitsblätter jeweils Justiz und Inneres Joint Investigation Teams Juristische Rundschau Juristische Ausbildung Juristische Schulung
ICLQ d. R. d. F. e. S. S. d. w. S. GH IKPK IMT IntBestG IPBPR IPR IRG IRhSt IStGH
Abkürzungsverzeichnis
XXXI
JZ JZS
Juristenzeitung Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen
Kap . KfZ KG kg KK KOM KorrBG krit. KritV
Kapitel Kraftfahrzeug Kammergericht Kilogramm Karlsruher Kommentar Europäische Kommission Korruptionsbekämpfungsgesetz kritisch Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
KSZE LFGB LG lit. LK LKA LMBG LRE
Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch Landgericht litera (Buchstabe) Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch Landeskrim inalamt Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz Sammlung lebensmittelrechtlicher Entscheidungen
m. MarkenG MDR MedR MoU MüKoStGB m.w.N.
mit Gesetz über den Schutz von Marken und sonstigen Kennzeichen Monatsschrift für Deutsches Recht Medizinrecht Memorandum of Understanding Münchner Kommentar zum Strafgesetzbuch mit weiteren Nachweisen
NATO n.F. NJOZ NJW NK NL NLG Nr. N .SIS NStZ NStZ-RR NuR
North Atlantic Treaty Organization neue Fassung Neue Juristische Online Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift Nomos-Kommentar zum Strafgesetzbuch Niederlande Niederländische Gulden Nummer National Sehengen Information System Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ Rechtsprechungsreport Strafrecht Natur und Recht
XXXII
Abkürzungsverzeichnis
NVwZ NZV
Neue Zeitschri ft für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht
OECD
Organisation for Economic Cooperation and Development Organisierte Kriminalität Office europeen de Lutte Anti-Fraude Österreichische Juristenzeitung Oberlandesgericht Entscheidungen der Oberlandesgerichte zum Straf- und Strafverfahrensrecht Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität Ordnungswidrigkeitengesetz Protection des interets financiers Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Partiya Karkeren Kurdistan Personenkraftwagen
OK OLAF ÖJZ OLG OLGSt OrgKG OWiG PIF PJZS PKK PKW RabelsZ RIDP RIW RL Rn. Rspr . Rz.
s. S. SchwZStrR SDÜ SIRENE SIS SK sog . StA StÄG StGB StPO str. StraFo
Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Revue Internationale de Droit Penal Recht der internationalen Wirtschaft Richtlinie Randnummer Rechtsprechung Randziffer siehe Satz, Seite Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Schengener Durchführungsübereinkommen Supplementary Information Request at the National Entry Schengener Informationssystem Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch sogenannte(r) Staatsanwaltschaft Strafrechtsänderungsgesetz Stratbesetzbuch Strafprozessordnung streitig Strafverteidiger Forum
Abkürzungsverzeichnis
XXXIII
StV StVJ
Strafverteidiger Steuerliche Vierteljahreszeitschrift
UA u.a. ÜbK UCLAF UKG
Unterabsatz unter anderem , und andere Übereinkommen Unite de Coordination de la Lutte Anti-Fraude Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität Umwelt- und Planungsrecht United Nations Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Bekämpfung transnationaler Kriminalität United States of America und so weiter unter Umständen Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb
UPR UN UN-TransKrimÜbK USA usw. u.U. UWG v. v. a. VereinsG VG vgl.
va
Vol.% Vorbem . VRS VStGB
WeinG WiKG wistra WKD WM WpHG WRP WuR WuW WVK ZaöRV ZBJI
vom, von vor allem Vereinsgesetz Verwaltungsgericht vergleiche Verordnung Volumenprozent Vorbemerkung Verkehrsrechts-Sammlung Völkerstrafgesetzbuch Weingesetz Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht Wirtschaftskontro Ildienst Wertpapiermitteilungen Wertpapierhandelsgesetz Wettbewerb in Recht und Praxis Wirtschaftsverwaltungs- und Umweltrecht Wirtschaft und Wettbewerb Wiener Vertragsrechtskonvention Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres
XXXIV
z.8.
ZeuS ZfRY ZfZ ZHR ZIS ZLR ZP ZRP ZStW ZUM zust. zutr.
Abkürzungsverzeichnis
zum Beispiel Zeitschrift für europarechtliche Studien Zeitschrift für Rechtsvergleichung, internationales Privatrecht und Europarecht Zeitschrift für Zölle und Yerbrauchssteuern Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht Zusatzprotokoll Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht zustimmend zutreffend
Abgekürzt zitierte Literatur
Monographien Ahlbrecht, Heiko, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert, 1999 (zit. : Ahlbrecht, Völkerrechtliche Strafgerichtsbarkeit) Albrecht, Peter-Alexis, Die vergessene Freiheit: Strafrechtsprinzipien in der europäischen Sicherheitsdebatte, 2006 (zit. : Albrecht, Strafrechtsprinzipien) Androulakis, loannis N., Die Globalisierung der Korruptionsbekämpfung, 2007 (zit. : Androulakis, Globalisierung der Korruptionsbekämpfung) Arbeithuber, Christoph, Die Internationale Kriminalpolizeiliehe Organisation, 1996 (zit. : Arbeithuber, Interpol) Bahnmüller, Mare, Strafrechtliche Unternehmensverantwortlichkeit im europäischen Gemeinschafts- und Unionsrecht, 2004 (zit.: Bahnmüller, Unternehmensverantwortlichkeit) Bisson, Frank, Die lebensgefährliche Verteidigung von Vermögenswerten, 2002 (zit. : Bisson, Verteidigung von Vermögenswerten) Bochmann, Christian , Entwicklung eines europäischen Jugendstrafrechts, 2009 (zit. : Bochmann, Europäisches Jugendstrafrecht) Böse, Martin, Strafen und Sanktionen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1996 (zit. : Böse, Strafen und Sanktionen) ders., Der Grundsatz der Verfügbarkeit von Informationen in der strafrechtlichen Zusammenarbeit der EU, 2007 (zit.: Böse, Grundsatz der Verftigbarkeit) Braum, Stefan , Europäische Strafgesetzlichkeit, 2003 (zit. : Braum, Strafgesetzlichkeit) Brechmann , Winfried, Die richtlinienkonforme Aus legung : zugleich ein Beitrag zur Dogmatik der EG-Richtlinie, 1994 (zit. : Brechmann , Richtlinienkonforme Auslegung) Breuer, Barbara, Der Im- und Export von Abfällen innerhalb der Europäischen Union aus umweltstrafrechtlicher Sicht, 1998 (zit. : Breuer, Im- und Export von Abfällen) Cappel , Alexander, Auf dem Weg zu einem europäischen Untreuestrafrecht, 2009 (zit. : Cappel , Europäisches Untreuestrafrecht) Degenhardt, Kerstin , Europol und Strafprozess, 2003 (zit. : Degenhardt, Europol) Deutscher , Jörg, Die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften zur originären Strafgesetzgebung, 2000 (zit.: Deutscher , Kompetenzen)
XXXVI
Abgekürzt zitierte Literatur
Dieblich , Franz, Der strafrechtliche Schutz der Rechtsgüter der der europäischen Gemeinschaften, 1985 (zit. : Dieblich, Rechtsgüter der EG) Diehm , Dirk, Die Menschenrechte der EMRK und ihr Einfluss auf das deutsche Strafgesetzbuch, 2006 (zit. : Diehm , Menschenrechte) Enderle, Bettina , Blankettstrafgesetze - Verfassungs- und strafrechtliche Probleme von Wirtschaftsstraftatbeständen, 2000 (zit. : Enderle , Blankettstrafgesetze) Esser, Robert , Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 2002 (zit. : Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht) Fawzy , Oliver, Die Errichtung von Eurojust - Zwischen Funktionalität und Rechtsstaatlichkeit, 2005 (zit. : Fawzy , Eurojust) Fromm , Ingo Erasmus , Der strafrechtliche Schutz der Finanzinteressen der EG Die Frage der Einführung einer supranationalen Strafrechtskompetenz durch Artikel 280 IV EGV, 2004 (zit. : Fromm, Finanzinteressen der EG) ders., EG-Rechtssetzungsbefugnis im Kriminalstrafrecht, 2009 (zit. : Fromm , EGRechtssetzungsbefugnis) Gading, Heike, Der Schutz grundlegender Menschenrechte durch militärische Maßnahmen des Sicherheitsrates - das Ende staatlicher Souveränität, 1996 (zit. : Gading, Sicherheitsrat) Garcia Marquis, Laura, Der Grundsatz der Gemeinschaftstreue und das Strafrecht, 2000 (zit. : Garcia Marquis, Gemeinschaftstreue) GelIermann, Martin, Beeinflussung des bundesdeutschen Rechts durch Richtlinien der EG, 1994 (zit. : GelIermann, Beeinflussung) Gentzik, Daniel , Die Europäisierung des deutschen und englischen Geldwäsche strafrechts, 2002 (zit. : Gentzik, Europäisierung des Geldwäschestrafrechts) Gröblinghoff, Stefan, Die Verpflichtung des deutschen Strafgesetzgebers zum Schutz der Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1996 (zit.: Gröblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers) Hammer-Strnad, Eva, Das Bestimmtheitsgebot als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999 (zit. : Hammer-Strnad, Bestimmtheitsgebot) Hecker , Bernd, Strafbare Produktwerbung im Lichte des Gemeinschaftsrechts, 200 I (zit. : Hecker , Produktwerbung) Heger, Martin , Die Europäisierung des deutschen Umweltstrafrechts, 2009 (zit. : Heger , Europäisierung) Heise , Friedrich Nicolaus, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht , 1998 (zit. : Heise , Gemeinschaftsrecht und Strafrecht) Heitzer , Anne , Punitive Sanktionen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1997 (zit. : Heitzer , Punitive Sanktionen) Herbst , Christoph, Grundprobleme des lebensmittelstrafrechtlichen Irreführungsverbots, 2000 (zit. : Herbst, IrrefLihrungsverbot) Hugger , Heiner, Strafrechtliche Anweisungen der Europäischen Gemeinschaft, 2000 (zit. : Hugger , Strafrechtliche Anweisungen) Jacso-Potyka, Judit , Bekämpfung der Geldwäscherei in Europa, 2007 (zit. : JacsoPotyka , Geldwäscherei)
Abgekürzt zitierte Literatur
XXXVII
Jagla , Susanne Fee, Auf dem Weg zu einem zwischenstaatlichen ne bis in idem im Rahmen der Europäischen Union, 2007 (zit. : Jagla, Zwischenstaatliches ne bis in idem) Jarass, Hans 0 ., Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts Die Vorgaben des Rechts der Europäischen Gem einschaft für die nationale Rechtsanwendung und die nationale Rechtsetzung nach Maastricht, 1994 (zit. : Jarass , Grundfragen) Jess e, Björn, Der Verbrechensbegriff des Römischen Statuts , 2009 (zit. : Jesse , Verbrechensbegrift) Jess en, Ernst, Zugangsberechtigung und besondere Sicherung i. S. v. § 202 a StGB , 1994 (zit. : Jessen , Zugangsberechtigung) Jokisch, Jens, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, 2000 (zit. : Jok isch , Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren) Juppe, Markus , Die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen in Europa, 2007 (zit. : Jupp e, Gegenseitige Anerkennung) Kahlk e, Svenja, Euroj ust - Auf dem Weg zu einer Europäischen Staatsanwaltschaft? - Die Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen innerhalb der Europäischen Union, 2004 (zit. : Kahlke, Euroj ust) Kerl, Robert, Lebensmittelstrafrecht im Spannungsfeld des Gemeinschaftsrechts, 2004 (zit. : Kerl, Lebensmittelstrafrecht) Kieschke, Olaf, Die Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und ihre Auswirkungen auf das deutsche Strafverfahrensrecht, 2003 (zit. : Kieschke, Praxis des EGMR) Kinzler, Robin, Grenzüberschreitende Strafverfahren - Das Prinzip gegenseitiger Anerkennung im europäisierten Strafverfahren am Beispiel von Auslieferung und Beweismitteltransfer, 2010 (zit. : Kinzler, Grenzüberschreitende Strafverfahren) Knaut, Silke , Die Europäisierung des Umweltstrafrechts - Von uneinheitlichen nationalen Regelungen über einheitliche europäische Mindeststandards hin zur Optimierung der Umweltstrafrechtsordnungen, 2005 , (zit. : Knaul , Europäisierung) Knebelsberger, Manuel , Die innerstaatliche Wirkungsweise von EURahmenbeschlü ssen und ihre gerichtliche Überprütbarkeit, 20 I0 (zit. : Knebelsberger, Rahmenbeschlüsse) Kniebühler, Roland Michael, Transnationales "ne bis in idem" - Zum Verbot der Mehrfachverfolgung in horizontaler und vertikaler Dimension, 2005 (zit.: Kniebühler, Ne bis in idem) Köhn e, Rainer, Die richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht - dargestellt am Abfallbegriff des § 326 Abs . I StGB , 1997 (zit.: Köhn e, Richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht) König , Peter, Stratbarer Organhandel, 1999 (zit. : König, Stratbarer Organhandel) Kreis, Florian , Die verbrechenssystemati sche Einordnung der EG-Grundfreiheiten, 2008 (zit. : Kreis, Grundfreiheiten) Krüßmann, Thomas, Tran snationales Strafprozessrecht, 2009 (zit. : Krüßmann, Tran snationales Strafprozessrecht)
XXXVIII
Abgekürzt zitierte Literatur
Krutisch, Dorothee, Strafbarkeit des unberechtigten Zugangs zu Computerdaten und -systemen, 2004 (zit. : Krutisch , Unberechtigter Zugang) Liebau , Tobias , "Ne bis in idem" in Europa - Zugleich ein Beitrag zum Kartellsanktionenrecht in der EU und zur Anrechung drittstaatlicher Kartellsanktionen, 2005 (zit. : Liebau , Ne bis in idem) Ligeti, Katalin, Strafrecht und strafrechtliche Zusammenarbeit in der Europäischen Union, 2005 (zit. : Ligeti, Strafrecht in der EU) Lührmann, Olivia , Tötungsunrecht durch Eigentumsverteidigung?, 1999 (zit. : Lührmann, Eigentumsverteidigung) Mansdorfer, Marco, Das Prinzip des ne bis in idem im europäischen Strafrecht, 2004 (zit. : Mansdorfer, Ne bis in idem) Martin, Jörg, Strafbarkeit grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen, 1989 (zit. : Martin, Grenzüberschreitende Umweltbeeinträchtigungen) Mehlhorn, Sven, Der Strafverteidiger als Geldwäscher - Probleme bei der Annahme bemakelter Verteidigerhonorare, 2004 (zit. : Mehlhorn , Strafverteidiger als Geldwäscher) Meyer, Frank, Demokratieprinzip und Europäisches Strafrecht, 2009 (zit. : Meyer, Demokratieprinzip) Middel, Stefan , Innere Sicherheit und präventive Terrorismusbekämpfung, 2007 (zit. : Middel , Terrorismusbekämpfung) Moll, Dietmar, Europäisches Strafrecht durch nationale Blankettstrafgesetzgebung , 1998 (zit.: Moll, Blankettstrafgesetzgebung) Pache , Eckhard , Der Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1994 (zit. : Pache, Schutz der finanziellen Interessen der EG) Peters, Anne , Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003 (zit. : Peters, Einführung EMRK) Petri, Thomas Bemhard, Europol : grenzüberschreitende polizeiliche Tätigkeit in Europa, 200 I (zit. : Petri, Europol) Post, Claudia, Kampf gegen den Menschenhandel im Kontext des europäischen Menschenrechtsschutzes, 2008 (zit. : Post, Menschenhandel) Rohljf, Daniel , Der Europäische Haftbefehl, 2003 (zit. : Rohljf, EuHb) Ruhs, Svenja, Strafbare Werbung - Die strafbare Werbung nach § 16 Abs. I UWG im Spiegel nationaler Reformbedürfnisse und europarechtlicher Einflüsse, 2006 (zit. : Ruhs, Strafbare Werbung) Satzger, Helmut, Die Europäisierung des Strafrechts, 2001 (zit. : Satzger, Europäisierung) v. Schaumann-Werder, Hedda, Strafrechtliche Produkthaftung im Europäischen Binnenmarkt, 2008 (zit. : v. Schaumann-Werder, Produkthaftung) Scheuermann, Sandra, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im geltenden und künftigen Europäischen Strafrecht, 2009 (zit. : Scheuermann, Gegenseitige Anerkennung) Schreiber, Jörg, Strafrechtsharmonisierung durch europäische Rahmenbeschlüsse, 2008 (zit. : Schreiber, Strafrechtsharmonisierung) Schmalenberg, Florian, Ein europäisches Umweltstrafrecht - Anforderungen und Umsetzungsprobleme unter Berücksichtigung des Richtlinienvorschlags KOM (2001) 139 endg ., 2004 (zit. : Schmalenberg, Europäisches Umweltstrafrecht)
Abgekürzt zitierte Literatur
XXXIX
Schröder, Christian , Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht, 2002 (zit. : Schröder, Richtlinien) Schutz , Jens-Peter, Das deutsche Markenstrafrecht - Eine Untersuchung des § 143 MarkenG unter Berücksichtigung europarechtlicher Einflüsse, 2004 (zit. : Schutz , Markenstrafrecht) Stegmann, Florian , Artenschutz-Strafrecht - Der strafrechtliche Schutz wildlebender Tier- und Pflanzenarten im nationalen und internationalen Recht, 2000 (zit. : Stegmann, Artenschutz-Strafrecht) Stein, Sibyl, Zum europäischen ne bis in idem nach Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens - Zugleich ein Beitrag zur rechts vergleichenden Auslegung zwischenstaatlich geltender Vorschriften, 2004 (zit. : Stein, Europäisches ne bis in idem) Thomas, Herbert, Das Recht auf Einmaligkeit der Strafverfolgung - Vom nationalen zum internationalem ne bis in idem -, 2002 (zit. : Thomas, Einmaligkeit der Strafverfolgung) Tinkl, Cristina, Die Rechtsstellung des Einzelnen nach dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, 2008 (zit. : Tinkl, Rechtsstellung) Vergho, Raphael , Der Maßstab der Verbrauchererwartung im Verbraucherschutzstrafrecht, 2009 (zit. : Vergho, Verbraucherschutzstrafrecht) Vormbaum, Moritz, Schutz der Rechtsgüter von EU-Staaten durch das deutsche Strafrecht - Zur europarechtskonformen Gestaltung und Auslegung von deutschen Straftatbeständen, 2005 (zit. : Vormbaum, Schutz der Rechtsgüter) Voß, Thomas, Europol: Polizei ohne Grenzen? - Strafrechtliche Immunitätenregelungen und Kontrolle von Europol , 2003 (zit. : Voß, Europol) Weber, Sebastian, Europäische Terrorismusbekämpfung: das Strafrecht als Integrationsdimension der Europäischen Union , 2008 (zit. : Weber, Europäische Terrorismusbekämpfung) Weertz, Antje , Der Schutz der finanziellen Interessen der EG: Betrachtung des Vorhabens zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft und der Auswirkungen auf die Verfahrensrechte der Betroffenen, 2007 (zit. : Weertz, Europäische StA) Weitendorf, Stephanie, Die interne Betrugsbekämpfung in den Europäischen Gemeinschaften durch das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF), 2007 (zit. : Weitendorf, Interne Betrugsbekämpfung) Ziegenhahn, Dominik , Der Schutz der Menschenrechte bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen, 2002 (zit. : Ziegenhahn, Menschenrechte) Zimmermann, Sarah, Die Strafbarkeit des Menschenhandels im Lichte internationaler und europarechtlicher Rechtsakte, 20 I0 (zit. : Zimmermann, Menschenhandel)
XL
Abgekürzt zitierte Literatur
Lehr- und Handbücher, Kommentare, Sammelbände Ahlbrecht, Heiko u. a. (Hrsg .), Internationales Strafrecht in der Praxis, 2008 (zit.: Bearbeiter, in: Ahlbrecht u. a. (Hrsg .), IntStR-Praxis) Alternativentwurf Europol und europäischer Datenschutz, herau sgegeben von Wolter, Jürgen u. a., 2008 (zit. : Bearbeiter , AE Europol) Ambos, Internationales Strafrecht, 2. Aufl., 2008 (zit. : Ambos, IntStR) Appel, Ivo, Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft zur Überwachung und sanktionsrechtlichen Ausgestaltung des Lebensmittelrechts, in: Dannecker, Gerhard (Hrsg .), Lebensmittelstrafrecht in der Europäischen Union, 1994 (zit. : Appel, Kompetenzen) Baldus, Manfred , Polizeiliche Zusammenarbeit im Raum der Freiheit , der Sicherheit und des Rechts - Erscheinungsformen, Grundlagen, Grenzen, in: Pache, Eckhard (Hrsg .), Die Europäische Union - Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts?, 2005 , S. 34 (zit. : Baldus, Polizeiliche Zusammenarbeit) Bauer, Michael , Organisation und rechtlicher Rahmen des Politikfelds Inneres und Justiz nach dem Vertrag von Lissabon , in: Weidenfeld, Werner (Hrsg .), Lissabon in der Analyse, 2008 (zit. : Bauer, Politikfeld Inneres und Justiz) Beulk e, Werner, Strafprozessrecht, 10. Aufl., 2008 (zit. : Beulke , Strafprozessrecht) Böse, Martin, in: Grützner, Heinrich /Pötz, Paul-Günther (Hrsg .), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, Loseblatt (zit.: Böse, IRG) ders., Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der transnationalen Strafrechtspflege in der EU - Die "Verkehrsfahigkeit" strafgerichtlicher Entscheidungen , in: Momsen , Carsten /Bloy , Rene/Rackow, Peter (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht, 2003 , S. 233 (zit. : Böse, Gegens eitige Anerkennung) v. Bogdany, Armin (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003 (zit. : Bearbeiter, in: v. Bogdany (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht) Bommer, Felix, in: Münk (Hrsg .), Die VN sechs Jahrzehnte nach ihrer Gründung, 2008 , S. 29 (zit. : Bommer, VN) v. Bubnoff, Eckhart, Der Europäische Haftbefehl - Ein Leitfaden für die Auslieferungspraxis, 2005 (zit. : v. Bubnoff, Leitfaden) Calliess, Christian/Ruffert, Matthias (Hrsg .), Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtcharta, 3. Aufl ., 2007 (zit. : Verfasser, in: Calliess/Ruffert, EUVlEG V) Dann ecker, Gerhard , Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das nationale Strafrecht, in: Gropp , Walter (Hrsg .), Wirtschaftskriminalität und Wirtschaftsstrafrecht in einem Europa auf dem Weg zu Demokratie und Privatisierung, 1998, S. 161 (zit. : Dannecker, Einfluss des Gemeinschaftsrechts) ders. , Das Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, in: Leitner, Roman (Hrsg.), Aktuelle s zum Finanzstrafrecht, 1998, S. 9 (zit. : Dannecker, Schutz der EG-Finanzinteressen) ders. , in: Eser, Albin/Huber, Barabara (Hrsg .), Strafrechtsentwicklung in Europa, Bd. 4.3, 1995 (zit. : Dann ecker , Strafrechtsentwicklung in Europa)
Abgekürzt zitierte Literatur
XLI
v. Duyne, Petrus C., Die Organisation der grenzüberschreitenden Kriminalität in Europa, in: Wolf, Gerhard (Hrsg.), Kriminalität im Grenzgebiet, Bd. 2, 1998, S. 259 (zit. : v. Duyne , Grenzüberschreitende Kriminalität) Ehlers , Dirk, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl ., 2009 (zit. : Ehlers , Grundfreiheiten) Eisele, Jörg , Harmonisierung des Umweltstrafrechts in der Europäischen Union , in: Pache , Eckhard (Hrsg.), Die Europäische Union - Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts?, 2005 , S. 134 (zit. : Eisele, Harmonisierung des Umweltstrafrechts) EMRK /GG Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, herausgegeben von Grote , Rainer/Marauhn, Thilo, 2006 (zit. : Grote/Marauhn/Verfasser, EMRK/GG) Epiney , Astrid, Umweltrecht in der Europäischen Union , 2. Aufl., 2005 (zit.: Epiney, Umweltrecht in der EU) Esser, Robert, Die menschenrechtliche Konzeption des Folterverbotes im deutschen Strafverfahren, in: Gehl, Günter (Hrsg.), Folter - Zulässiges Instrument im Strafrecht?, 2005 , S. 143 (zit. : Esser, in: Gehl (Hrsg.), Folter) ders., Europäische Initiativen zur Begrenzung der Untersuchungshaft, in: Joerden, Jan C./Szwarc, Andrzej (Hrsg.), Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland - rechtsstaatiiche Grundlagen, 2007, 233 (zit. : Esser, Untersuchungshaft) Fischer, Thomas, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 57. Aufl ., 20 I0 (zitiert Fischer) Garditz, Klaus F., Prävention und Repression als Kategorien im Recht der EU, in: Schenke, Wolf-Rüdiger u. a. (Hrsg.), AE Europol und europäischer Datenschutz, 2008 , S. 192 (zit. Gärditz , Kategorien) Göhler , Erich, Ordnungswidrigkeitengesetz, fortgeführt von König, Peter und Seitz , Helmut , 14. Aufl ., 2006 (zit. : Bearbeiter in: Göhler , OWiG) Grabenwarter, Christoph, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl ., 2009 (zit. : Grabenwarter, EMRK) Grabitz, Eberhard/Hilf, Meinhard (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union , Loseblattsammlung, (zit. : Grabitz/Hilf/ Bearbeiter) v. der Groeben, Hans/Schwarze, Jürgen (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EGVertrag, Bd. 1,6. Aufl ., 2003 (zit. : v. d. Groeben/Schwarze/Bearbeiter) Hackner , Thomas /Lagodny, Otto/Schomburg, Wolfgang/Wolf, Norbert, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Ein Leitfaden für die Praxis , 2003 (zit. : Hackner u. a., Leitfaden) Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union , herausgegeben von Rengeling, Hans-Werner/Middeke, Andreas/Gellermann, Martin , 2. Aufl ., 2003 (zit. : Bearbeiter, Europäischer Rechtsschutz) Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, herausgegeben von Wabnitz, Heinz-Bernd/Janovsky, Thomas, 3. Aufl ., 2007 (zit. : Bearbeiter, Wirtschaftsund Steuerstrafrecht) Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht: eine systematische Darstellung des europäischen Umweltrechts mit seinen Auswirkungen auf das deutsche Recht und mit rechtspolitischen Perspektiven, herausgegeben von
XLII
Abgekürzt zitierte Literatur
Rengeling , Hans-Werner, Bd. I und II, 2. Autl ., 2003 (zit. : Bearbeiter, EUDUR) Hecker , Bernd, Das Zusammenwirken von europäischem Abfallwirtschaftsrecht und deutschem Strafrecht am Beispiel der illegalen Abfallv erbringung von Deutschland nach Polen, in: Joerden , Jan C./Szwarc , Andrzej (Hrsg .), Europäisierung des Strafrechts in Polen und Deutschland - rechtsstaatliche Grundlagen, 2007 , S. 151 (zit.: Hecker, Illegale Abfallverbringung) ders./Heine, Günter, Grenzüberschreitende Abfallverbringung, Strafrecht und Europa, in: BKA (Hrsg .), Abfallwirtschaftskriminalität im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung, 2008 , S. 195 (zit. : Hecker bzw. Heine, Abfallwirtschaftskriminalität) Hefermeh l/Köhler/Bornkamm (Hrsg .), Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 27. Autl ., 2009 (zit. : Verfasser, in: Hefermehl u. a., UWG) Heine, Günter, Modelle originärer (straf-)rechtlicher Verantwortlichkeit von Unternehmen, in: Hettinger, Michael (Hrsg.) , Verbandsstrafe, Bd. 3, 2002 (zit. : Heine, Verantwortlichkeit von Unternehmen) ders., Europa und die strafrechtliche Bekämpfung des Glücksspiels, in: Wohlers (Hrsg .), Neuere Entwicklungen im schweizerischen und internationalen Wirtschaftsstrafrecht, 2007, S. I (zit. : Heine, Glücksspiel) Herdegen, Matthias, Europarecht, 11 . Autl . 2009 (zit.: Herdeg en, Europarecht) Herzog, Felixl Mülhausen , Dieter (Hrsg .), Geldwä schebekämpfung und Gewinnabschöpfung, Handbuch der straf- und wirtschaftsrechtlichen Regelungen , 2006 (zit. : Herzog/MülhausenlBearbeiter, Geldwäschebekämpfung) Hilgendorj, Eric, Tendenzen und Probleme einer Harmonisierung des Internetstrafrechts auf Europäischer Ebene, in: Schwarzenegger, Christian lArter , Oliver/Jörg , Florian (Hrsg .), Internet-Recht und Strafrecht, 2005, S. 257 (zit. : Hilgendorj, Harmonisierung des lnternetstrafrechts) Hoyer, PetraiKlos, Joachim , Regelungen zur Bekämpfung der Geldwäsche und ihre Anwendung in der Praxis : Geldwäschegesetz, Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, Internationale Regelungen , 2. Autl ., 1998 (zit. : HoyerlKlos, Geldwäsche) Huber, Barbara (Hrsg.), Das Corpus Juris als Grundlage eines Europäischen Strafrechts, 2000 (zit.: Bearbeiter, in: Huber (Hrsg .), Corpus Juris) Karlsruher Kommentar zum Ordnungswidrigkeitengesetz, herausgegeben von Senge, Lothar, 3. Autl ., 2006 (zit.: KKOWiGIBearbeiter) Karsai, Krisztina , Die Beziehungen zwischen Europäischem Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, in: Balogh, Elemer (Hrsg .), Ungarn auf der Schwelle in die EU, 2006 , S. 9 (zit. : Karsai, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht) Kirsch, Stefan (Hrsg .), Internationale Strafgerichtshöfe, 2005 (zit. : Verfasser, in: Kirsch (Hrsg .), Int. Strafgerichtshöfe) Körner, Harald Hans, Betäubungsmittelgesetz, Arzneimittelgesetz, 6. Autl ., 2007 (zit. : Körner , BtMG) Kohl, Andreas , Repressive und präventive Bekämpfung der transnationalen Organisierten Kriminalität im zusammenwachsenden Europa - Stand, Perspektiven und Problemfelder, in: Krevert, Peter/Kohl , Andreas (Hrsg .), Europäische Bei-
Abgekürzt zitierte Literatur
XLIII
träge zu Kriminalität und Prävention, 1998, S. 30 (zit. : Kohl , Transnationale Kriminalität) Kommentar zum Geldwäschegesetz (GwG) von Fülbier, AndreaslA epfelbach, Rolf R.lLangweg, PeterlSchröder, Christian lTextor, Petra , 5. Aufl ., 2006 (zit. : Bearbeiter , GwG) Kommentar zum Gesetz über die internationale Recht shilfe in Strafsachen (IRG), zusammengestellt und erläutert von Schomburg, WolfganglLagodny, OttolGleß, Sabine lHackner, Thomas, 4. Aufl ., 2006 (zit. : Bearb eiter , IRhSt) Kreß, Claus , Vorbemerkungen zu dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes, in: Grützner, Heinrich/Pötz, Paul-Günther (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, Loseblatt (zit. : Kreß, IStGH Vor 111 26) Kretschm er, Bernhard, in: Vedder, Christoph/Heintschel von Heinegg, Wolff (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag, 2007 (zit. : Kretschm er, EVV) Kühn e, Hans-Heiner, Strafprozessrecht - Eine system atisch e Darstellung des deutschen und europ äischen Strafverfahrensrechts, 8. Aufl ., 20 I0 (zit. : Kühn e, Strafprozessrecht) Lackner, Karl/Kühl, Kristian , Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, 26 . Aufl ., 2007 (zit. : LacknerlKühl) Lagodn y, Otto/Wiederin, Ewald/Winkler, Roland (Hrsg.), Probleme des Rahmenbeschlusses am Beispiel des Europ äischen Haftbefehls, 2007 (zit. : Lagodny/Wiederin /WinklerlVerfasser) Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. I, herausgegeben von Laufhütte, Wilhelm u. a., 12. Aufl ., 2007 (zit. : LK-Bearb eiter) Lenz, Carl-Otto/Borchardt , Klaus Dieter (Hrsg.), EU- und EG-Vertrag, 3. Aufl ., 2003 (zit. : LenziBorchardt/ Verfasser) Meyer, Jürgen (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union , 3. Aufl ., 2010 (zit. : Bearb eiter, in: Meyer (Hrsg .), GRCh) Meyer-Goßner, Lutz, Strafprozessordnung mit GVG und Nebengesetzen , 52. Aufl ., 2009 (zit. : Mey er-Goßner, StPO) Meyer-Ladewig , Jens , Europäische Menschenrechtskonvention , 2. Aufl ., 2006 (zit. : Meyer-Ladewig , EMRK) Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch , herausgegeben von Joecks, Wolfgang/Miebach, Klaus, Bd. I und 3, 2003 (zit. : MüKoStGBIBearb eiter) Pache, Eckhard, Die EU - ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Recht s?, in: Pache , Eckhard (Hrsg.), Die Europäische Union - Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ?, 2005 , S. 9 (zit.: Pache, EU) Perron, Walter, Strafrechtsvereinheitlichung in Europa, in Dörr, Dieter/Dreher, Meinrad (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft, 1997, S. 135 (zit.: Perron, Strafrechtsvereinh eitlichung) Reng ier. Rudolf, in: Fezer, Karl-Heinz (Hrsg.), Lauterkeitsrecht, Kommentar zum Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 2005 (zit. : Rengier, Lauterkeitsrecht) ders., Strafrecht Allgemeiner Teil , 2009 (zit. : Rengier, AT)
XLIV
Abgekürzt zitierte Literatur
Renzikowski, Joachim (Hrsg .), Die EMRK im Privat-, Straf- und Öffentlichen Recht - Grundlagen einer europäischen Rechtskultur, 2004 (zit. : Verfasser, in: Renzikowski (Hrsg.), EMRK) Roxin, Claus , Strafrecht Allgemeiner Teil I, 4. Aufl., 2006 (zit.: Roxin, AT Teil\) Satzger, Helmut/Schmitt, Bertram /Widmaier, Gunter (Hrsg .), Strafgesetzbuch Kommentar, 2009 (zit. : S/S/W-Bearbeiter) Satzger, Helmut, Internationales und Europäisches Strafrecht, 4. Aufl., 20 I0 (zit. : Satzger, IntStR) ders., Rechtspolitische Möglichkeiten zur Realisierung der Tatbestandsvorschläge der .Europa-Delikte", in: Tiedemann, Klaus (Hrsg .), Wirtschaftsstrafrecht in der Europäischen Union, 2002 , S. 71 (zit.: Satzger, Europa-Delikte) Schänke , Adolf/Schräder, Horst, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl ., 20 I0 (zit. : S/S-Bearbeiter) Scholten , Hans-Joseph, Das Erfordernis der Tatortstrafbarkeit in § 7 StGB - ein Beitrag zur identischen Norm im transnationalen Strafrecht, in: Beiträge und Materialien aus dem Max-Planck-Institut für Ausländisches und Internationales Strafrecht, Bd. 54, 1995 (zit.: Scholten, Tatortstrafbarkeit) Schroder , Christian , Das Lebensmittelstrafrecht als konkretes Beispiel für die Europäisierung des nationalen Strafrechts: Über die Verknüpfung des Blankettstrafgesetzes mit der EG-Verordnung und die Europäisierung der Fahrlässigkeits- und Unterlassungsdelikte, in: Sosnitza, Olaf (Hrsg .), Aktuelle Entwicklungen im deutschen und europäischen Lebensmittelsrecht, 2007 , S. 79 (zit. : Schroder , Lebensmittelstrafrecht) Schünemann , Bernd, Ein Alternativ-Entwurf zur Regelung der europäischen Strafverfolgung im Verfassungsvertrag der EU, in: Pache , Eckhard (Hrsg .), Die Europäische Union - Ein Raum der Freiheit , der Sicherheit und des Rechts? , 2005 , S. 81 (zit. : Schünemann , AE) ders . (Hrsg .), Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege, 2006 (zit. : Bearbeiter, in: Schünemann (Hrsg .), Gesamtkonzept) Schulz, Joachim, Europäisches Strafrecht, in: Rengeling, Hans-Werner (Hrsg .), Europäisierung des Rechts, 1996, S. 183 (zit. : Schulz , Europäisches Strafrecht) Sieber, Ulrich (Hrsg .), Europäische Einigung und Europäisches Strafrecht, 1993 (zit. : Bearbeiter, in: Sieber (Hrsg .), Europäische Einigung) ders., Auf dem Weg zu einem europäischen Strafrecht - Einführung zum Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der EU, in: Delmas-Marty, Mireille (Hrsg .), Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union, 1998, S. 2 (zit. : Sieber, Corpus Juris) Sinn , Arndt , Europäische Gemeinschaften, in: Gropp , Walter/Huber, Barbara (Hrsg .), Rechtliche Initiativen gegen organisierte Kriminalität, 2001 (zit. : Sinn, EG) Sommer , Ulrich, Strafprozessordnung und Europäische Menschenrechtskonvention, in: Brüssow, Rainer/Gatzweiler, Norbert/Krekeler, Wilhelm/Mehle, Volkmar (Hrsg .), Strafverteidigung in der Praxis, Bd. 1,3 . Aufl. 2004, § 17 (zit. : Sommer, StPO und EMRK)
Abgekürzt zitierte Literatur
XLV
Streinz, Die demokratische Legitimation der Europäischen Gemeinschaft nach
dem Vertrag von Maastricht und ihre Bedeutung für deren Sanktionskompetenzen, in: Dannecker, Gerhard (Hrsg.), Lebensmittelstrafrecht in der Europäischen Union , 1994 (zit. : Streinz, Demokratische Legitimation) Tiedemann, Klaus , Die Europäisierung des Strafrechts, in: Kreuzer, Karl F.lScheuing, Dieter H.lSieber, Ulrich (Hrsg.), Die Europäisierung der mitgliedstaatliehen Rechtsordnungen in der Europäischen Union , 1997, S. 134 (zit. : Tiedemann, Europäisierung) Wahl, Thomas, Datenschutz im Rahmen der polizeilichen Zusammenarbeit unter besonderer Berücksichtigung des SIS, in: Epiney, AstridlTheuerkauf, Sarah (Hrsg.), Datenschutz in Europa und die Schweiz, 2006, S.79 (zit. : Wahl, Datenschutz) Wehner, Ruth, Der Abbau der Grenzkontrollen in Europa, in: Achermann, Alberto/Bieber, Roland/Epiney, Astrid/Wehner, Ruth (Hrsg.), Sehengen und die Folgen :, 1995, S. 129 (zit. : Wehner, Abbau der Grenzkontrollen) Werfe, Gerhard, Völkerstrafrecht, 2. Aufl ., 2007 (zit. : Werfe, Völkerstrafrecht) Wesseis, Johannes/Beulke, Werner, Strafrecht Allgemeiner Teil, 38 . Aufl ., 2008 (zit. : Wessels /Beulke, AT) Zieschang, Frank, Akzeptanz Europäischen Strafrechts, in: Hohloch, Gerhard (Hrsg.), Wege zum Europäischen Recht, 2002, S. 39 (zit. : Zieschang, Akzeptanz) Zöller, Mark , Terrorismusstrafrecht, Handbuch, 2009 (zit. : Zöller, Terrorismusstrafrecht)
Beiträge in Fest- und Gedächtnisschriften Anagnostopoulos, lIias G., Ne bis in idem in der Europäischen Union : Offene Fragen, in: Festschrift für Winfried Hassemer, 20 I0, S. 1121 (zit. : Anagnostopoulos, Hassemer-FS) Appl, Ekkehard, Ein neues "ne bis in idem" aus Luxemburg?, in: Gedächtnisschrift für Theo Vogler, 2004, S. 109 (zit. : Appl , Vogler-GS) Beulke, Werner, Konfrontation und Strafprozessreform, in: Festschrift für Peter Riess , 2002, S. 3 (zit.: Beulke, Riess-FS) Böse, Martin, Die Europäisierung der Strafvorschriften gegen Kinderpornografie, in: Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder 2006, S. 751 (zit. : Böse, Schroeder-FS)
ders., Die Stellung des sog. Internationalen Strafrechts im Deliktsaufbau und ihre
Konsequenzen für den Tatbestandsirrtum, in: Festschrift für Manfred Maiwald, 2010, S. 61 (zit. : Böse, Maiwald-FS) Dannecker, Gerhard, Das Europäische Strafrecht in der Rechtsprechung des Bundesgerichthofs in Strafsachen, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. IV, 2000, S. 339 (zit.: Dannecker , BGH-FG) ders., Die Garantie des Grundsatzes "ne bis in idern" in Europa, in: Festschrift für Günter Kohlmann, 2003 , S. 593 (zit. : Dannecker, Kohlmann-FS)
XLVI
Abgekürzt zitierte Literatur
Eckstein, Ken, Europa und Opferschutz, in: Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder 2006 , S. 777 (zit. : Eckstein , Schroeder-FS) Eser, Albin , Das "Internationale Strafrecht" in der Rechtsprechung des BGH, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. IV, 2000 , S. 3 (zit. : Eser, BGH-FG) ders., Das Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs als Herausforderung für die nationale Strafrechtsptlege, in: Festschrift für Manfred Burgstaller zum 65. Geburtstag, 2004 , S. 355 (zit. : Eser, Burgstaller-FS) ders., Zwangsandrohung zur Rettung aus konkreter Lebensgefahr - Gegenkritische Rückfragen zur sog . .Rettungsfolter'', in: Festschrift für Wienfried Hassemer, 2010, 713 (zit. : Eser, Hassemer-FS) Gössel, Karl Heinz , Enthält das deutsche Recht ausnahmslos geltende, "absolute" Folterverbote?, in: Festschrift für Harro Otto , 2007 , S. 41 (zit. : Gössel, OttoFS) Harms, Monik aiHeine, Sonja, EG-Verordnung und Blankettgesetz, Festschrift für Knut Amelung, 2009, S. 393 (zit. : Harms/Heine , Amelung-FS) Hecker, Bernd , Ist die Zeit reif für die Schaffung eines " Europäischen Staatsanwaltes " zum Schutz der EG-Finanzinteressen?, in: Freundesgabe für Arthur Kreuzer, 2003 , S. 181 (zit. : Hecker, Kreuzer-FG) ders., Die gemeinschaftsrechtlichen Strukturen der Geldwäschestratbarkeit, in: Festschrift für Arthur Kreuzer zum 70. Geburtstag, Bd. I, 2008 , S. 216 (zit. : Hecker, Kreuzer-FS) Heine, Günter, Europol und Europäisierung des Rechts , in: Festschrift für Stefan Trechsel, 2002 , S. 237 (zit. : Heine, Trechsel-FS) ders., Schutz von Gew ässer und Meer durch Strafrecht: Neue europäische und nationale Entwicklungen, in: Festschrift für Harro Otto , 2007 , S. 1015 (zit. : Heine, Otto-FS) ders., Die Europäisierung des Strafrechts, dargestellt am Beispiel der Verbringung von Abfallen innerhalb der EU, in: Festschrift für Heike Jung, 2007 , S. 261 (zit. : Heine, Jung-FS) ders., Zum Begriff des Glücksspiels aus europäischer Perspektive. Zugleich ein Beitrag zur praktischen Umsetzung supranationaler Vorgaben, in: Festschrift für Knut Amelung, 2009 , S. 413 (zit. : Heine, Amelung-FS) Heintschel-Heinegg, Bernd , Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des Vereinigungsbegriffs in den §§ 129 ff. StGB , in: Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder 2006 , S. 799 (zit. : Heintschel-Heinegg, Schroeder-FS) Jäger , Christian, Das Verbot der Folter als Ausdruck der Würde des Staates, in: Festschrift für Rolf Herzberg, 2008 , S. 539 (zit. : Jäger , Herzberg-FS) Jescheck, Hans-Heinrich, Möglichkeiten und Probleme eines Europäischen Strafrechts , in: Festschrift für Jhong-Won Kim, 1991, S. 947 (zit. : Jescheck, Jhong-Won Kim-FS) ders., Neuere Entwicklungen im nationalen, europäischen und internationalen Strafrecht: Perspektiven für eine Kriminalpolitik im 21 . Jahrhundert?, in: Festschrift für Albin Eser, 2005 , S. 991 (zit. : Jescheck , Eser-FS)
Abgekürzt zitierte Literatur
XLVII
Jung, Heike, Zur "Internationalisierung" des Grundsatzes "ne bis in idem", in: Festschrift für Horst Schüler-Springorum, 1993, S. 493 (zit.: Jung , SchülerSpringorum-FS) Klein, Eckart , Objektive Wirkung von Richtlinien, in: Festschrift für Ulrich Everling, Bd. I, 1995, S. 64 I (zit. : Klein, Everling-FS) Kühl, Kristian , Der Beitrag der Strafrechtswissenschaft zur Europäisierung des Strafrechts, in: Festschrift für Alfred SölIner, 2000, S. 613 (zit. : Kühl, SölInerFS) Lagodny, Otto, Viele Strafgewalten und nur ein transnationales ne-bis-in-idem?, in: Festschrift für Stefan Trechsel zum 65 . Geburtstag, 2002, S. 253 (zit.: Lagodny, Trechsel-FS) Landau, Herbert, Verwirklichung eines europaweiten "ne bis in idem" im Rahmen der Anwendung des § 153 c Abs. I Nr. 3 StPO, in: Festschrift für Alfred SölIner, 2000 , S. 627 (zit. : Landau, SölIner-FS) Gehler, Dietrich , Fragen zum Strafrecht der Europäischen Gemeinschaft, in: Festschrift für Hans Heiner Jescheck zum 70. Geburtstag, 1985, 2. Bd., S. 1399 (zit. : Gehler, Jescheck-FS) Perron, Walter, Perspektiven der Europäischen Strafrechtsintegration, in: Festschrift für Wilfried Küper zum 70. Geburtstag, 2007 , S. 429 (zit. : Perron, K üper-FS) Radtke, Henning , Der Begriff der Tat im prozessualen Sinne in Europa , in: Festschrift für Manfred Seebode zum 70. Geburtstag, 2008, S. 297 (zit. : Radtke, Seebode-FS) Roxin, Claus, Rettungsfolter?, Festschrift für Kay Nehm , 2006 , S. 205 (zit. : Roxin, Nehm-FS) Schomburg, Wolfgang, Konkurrierende nationale und internationale Strafgerichtsbarkeit und der Grundsatz "ne bis in idem" , in: Festschrift für Albin Eser, 2005 , S. 889 (zit. : Schomburg, Eser-FS) Streinz, Rudolf, Schleichende oder offene Europäisierung des Strafrechts?, in: Festschrift für Harro Otto, 2007 , S. 1029 (zit. : Streinz, Otto-FS) Tiedemann, Klaus, EG und EU als RechtsquelIen des Strafrechts, in: Festschrift für Claus Roxin, 2001 , S. 1401 (zit. : Tiedemann, Roxin-FS) ders., Bemerkungen zur Zukunft des europäischen Strafprozesses, in: Festschrift für Albin Eser, 2005 , S. 889 (zit. : Tiedemann, Eser-FS) ders., Betrug und Korruption in der europäischen Rechtsangleichung, in: Festschrift für Harro Otto , 2007 , S. 1055 (zit. : Tiedemann, Otto-FS) Vogel, Joachim , Internationales und europäisches ne bis in idem, in: Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder 2006 , S. 877 (zit. : Vogel, Schroeder-FS) Zieschang , Frank, Der Einfluss der Europäischen Union auf das deutsche Strafrecht , in: Festschrift für Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag, 2008 , S. 1303 (zit. : Zieschang , Tiedemann-FS) Zäller, Mark, Die transnationale Geltung des Grundsatzes ne bis in idem nach dem Vertrag von Lissabon , in: Festschrift für Volker Krey zum 70. Geburtstag, 2010 , S. 501 (zit. : Zäller, Krey-FS)
Europäische Integration: Wichtige Daten und Ereignisse im Überblick
5. Mai 1949 Gründung des Europarates 4. November 1950 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 18. April 1951 Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS/Montanunion). Gründungsmitglieder: Frankreich, BRD , Italien , Luxemburg und Niederlande. Der Vertrag trat am 23 . Juli 1952 in Kraft 25. März 1957 Römische Verträge über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG bzw. Euratom). Gründungsmitglieder: Frankreich, BRD, Italien, Benelux-Staaten. Die römischen Verträge traten am I. Januar 1958 in Kraft 8. April 1965 Fusionsvertrag trat am I. Juli 1967 in Kraft: EGKS , EWG und EAG bilden zusammen die Europäischen Gemeinschaften mit gemeinsamen Organen 1970 EG-Finanzreform (System der Eigenfinanzierung der EG) 1973 EG-Erweiterung durch den Beitritt Großbritanniens, Dänemarks und Irlands 1979 Erste Direktwahlen zum Europäischen Parlament (EP) 1981 EG-Erweiterung durch den Beitritt Griechenlands 14. Juni 1985 Schengen-Übereinkommen zwischen Belgien, BRD , Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden über den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen zum I. Januar 1990 (Schengen I) 1986 EG-Erweiterung durch den Beitritt Portugals und Spaniens 17.128. Februar 1986 Einheitliche Europäische Akte (EEA): Erweiterung der Kompetenzen der Gemeinschaften. Festschreibung des Zieles, bis Ende 1992 den europäischen Binnenmarkt zu realisieren 19. Juni 1990 Übereinkommen zur Durchführung des Schengen-Übereinkommens über den völligen Abbau der Personenkontrollen an den gemeinsamen Binnengrenzen, deren Verlegung an die Außengrenzen und eine Reduzierung der Kontrollen im Warenverkehr ab I. Januar 1993 - SDÜ - (Schengen 11). Das SDÜ trat am 26 . März 1995 in Kraft 7. Februar 1992 Vertrag von Maastricht über die Europäische Union (EUV), der am I . November 1993 in Kraft trat: Gründung der EU mit dem Ziel weite-
L
Europäische Integrat ion : Wichtige Daten und Ereignis se im Überblick
rer politischer, sozialer und wirtschaftlicher Integration ("Drei-SäulenArchitektur") . Er bildet die Grundlage für die Vollendung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion bis 1999 sowie für weitere politische Integrationsschritte, insbesondere eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und eine Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI). Aus der EWG wird die EG 1995 EG/EU-Erweiterung durch den Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens 26. Juli 1995 Europol-Übereinkommen: Errichtung eines europäischen Polizeiamtes in Den Haag, das am I. Juli 1999 seine Arbeit aufgenommen hat 2. Oktober 1997 Vertrag von Amsterdam, der am I. Mai 1999 in Kraft trat: Er sieht u. a. neue Handlungsformen für die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) vor. Der sog . Sehengen-Besitzstand wird in die dritte Säule des EUV überführt 29. Juni 1998 Einrichtung eines Europäischen Justiziellen Netzes (EJN) auf der Grundlage einer Gemeinsamen Maßnahme des Europäischen Rates, die am 7. August 1998 in Kraft trat 14. Dezember 2000 Einrichtung einer vorläufigen Stelle zur justiziellen Zusammenarbeit (Pro-Eurojust), die am I. März 200 I ihre Arbeit in Brüssel aufgenommen hat 7.18. Dezember 2001 Vertrag von Nizza, der am I. Februar 2003 in Kraft trat. Außerhalb einer förmlichen Vertragsänderung wurde feierlich die Charta der Grundrechte der Europäischen Union proklamiert 28. Februar 2002 Einrichtung der Koordinierungsstelle Eurojust mit Sitz in Den Haag 1. Mai 2004 Beitritt von zehn süd- und osteuropäischen Staaten zur EG/EU , die damit auf 25 Mitgliedstaaten anwächst. Beitrittsländer sind Malta , Zypern, Slowenien, Ungarn , Slowakei, Tschechien, Polen , Litauen , Lettland und Estland 29. Oktober 2004 Unterzeichnung des Vertrags über eine Verfassung für Europa durch die Staats- und Regierungschefs der 25 EU-Mitgliedstaaten. 2005 Ablehnende Referenden in den Niederlanden und Frankreich bringen den Ratifizierungsprozess ins Stocken ("EU-Verfassungskrise") 1. Januar 2007 EG/EU-Erweiterung auf 27 Mitgliedstaaten durch den Beitritt von Rumänien und Bulgarien 13. Dezember 2007 Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon durch die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Mitgliedstaaten. Stockender Ratifizierungsprozess (u. a. wegen zwei Referenden in Irland ; Verfassungsklagen) - 1. Dezember 2009 Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon . Auflösung der bisherigen Dreisäulenstruktur der EU. Die EU ("Union") tritt an die Stelle der EG, deren Rechtsnachfolgerin sie ist, und erlangt Rechtspersönlichkeit. Die Charta der Grundrechte der EU erlangt Rechtsverbindlichkeit (Art. 6 I EUV), jedoch nicht für das Vereinigte Königreich und Polen (Protokoll Nr. 30)
Teil I Einführung
B. Hecker, Europäisches Strafrecht, DOI 10.1007/978-3-642-13127-1_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
4
§ 1 Grundbegriffe und Grundfragen des Europäischen Strafrechts
3 Nach dem Scheitern des in den Jahren 2002 /2003 erarbeiteten "Vertrags über eine Verfassung für Europa" infolge ablehnender Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden Mitte 2005 einigte sich der Europäische Rat unter deutscher Präsidentschaft am 23 . Juni 2007 darauf, eine Regierungskonferenz zur Ausarbeitung eines EU-Reformvertrages einzuberufen, die schließlich am 23 . Juli 2007 offiziell durch die Außenminister der EU eröffnet wurde. Noch am gleichen Tag legte die portugiesische Ratspräsidentschaft einen ersten Gesamtentwurf für einen neuen Reformvertrag vor. Am 5. Oktober 2007 veröffentlichte die portugiesische Ratspräsidentschaft einen revidierten Vertragsentwurf, der Grundlage der Einigung der Staats- und Regierungschefs auf dem EU-Gipfel vom 18.119. Oktober 2007 war. Der endgültige Vertragstext wurde am 13. Dezember 2007 in Lissabon unterzeichnet. Bis Ende 2008 sollte der Vertrag von Lissabon durch alle 27 EU-Mitgliedstaaten ratifiziert sein , so dass er am I. Januar 2009 hätte in Kraft treten können . Jedoch geriet der Ratifizierungsprozess zunächst ins Stocken, nachdem die irische Bevölkerung den Reformvertrag am 12. Juni 2008 in einem Referendum abgelehnt hat. Im Dezember 2008 einigten sich die Staatsund Regierungschefs der EU darauf, dass das Vertragswerk bis Ende 2009 in Kraft treten soll. Bei einer in Irland am 3. Oktober 2009 durchgeführten zweiten Volksabstimmung sprach sich eine deutliche Mehrheit für den Reformvertrag aus . In Deutschland waren Verfassungsklagen gegen die endgültige Ratifizierung des Vertrages beim BVerfG anhängig, die den Bundespräsidenten dazu veranlasst haben , die Unterzeichnung der Ratifikationsurkunde bis zum Abschluss des Verfahrens aufzuschieben. Mit seinem - die Klagen zurückweisenden - Urteil v. 30 . Juni 2009 machte das BVerfG schließlich den Weg für die Unterzeichnung des deutschen Zustimmungsgesetzes frei.' Am 13. November 2009 wurde mit der tschechischen Ratifikationsurkunde die letzte der 27 Urkunden bei der italienischen Regierung in Rom hinterlegt. Der Vertrag von Lissabon trat am I. Dezember 2009 in Kraft . Durch ihn gründen die Vertragsparteien untereinander eine Europäi sche Union ("Union") , der die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen . Die bisherige Drei-SäulenArchitektur der EU wurde aufgelöst. Die Union tritt an die Stelle der EG, deren Rechtsnachfolgerin sie ist (Art. I UA 3 S. 3 EUV) . Die bisherige dritte Säule der EU (Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen) wurde in den supranationalen Bereich überführt. Die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) wurde aus dem ehemaligen Dachverband der EU ausgegliedert und besteht abgesehen von einer institutionellen Verbundenheit mit der EU - als unabh ängige internationale Organisation fort . Primärrechtliche Grundlage der Union sind der Vertrag über die Europäische Union (EUV) und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der den bisherigen EGV ersetzt .? ßVerfG NJW 2009, 2267 = EuZ W 2009 , 552 ; vgl. hierzu Ambos/Rackow, ZIS 2009 , 397; Böse, Z IS 201 0, 76; Kubiciel, GA 2010, 99; Meyer, NStZ 2009 , 657 . Vgl. konsolidierte Passung der europ äischen Vert räge auf der Grundl age des Vert rags von Lissabon in ABIE U 2008 Nr . C 115, S. I; vgl. hierzu den Überblicksbeitrag von Maye r, JuS 2010 , 189.
B. Was ist " Europäisches Strafrecht"?
5
B. Was ist "Europäisches Strafrecht"? I. Europäisches Strafrecht als strafrechtliche Rechtsmaterie sui generis 1. Gemeinsames rechtskulturelles Erbe der europäischen Staaten Die europäischen Staaten können durchaus auf ein gemeinsames rechtskulturelles 4 Erbe zurückblicken, das sich in ihren jeweiligen Strafrechtsordnungen widerspiegelt ". Dieses Erbe wurzelt im römischen Recht der Antike, in der Ethik-Lehre des Christentums, der Philosophie der Aufklärung und dem außerordentlich lebhaften Informations- und Erfahrungsaustausch auf dem Gebiet des Strafrechts und der Kriminalpolitik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts". Die internationale wissenschaftliche Diskussion war vor allem das Werk der großen strafrechtlichen Vereinigungen, zu denen die im Jahre 1889 gegründete Internationale Kriminalistische Vereinigung gehörte. Diese wurde im Jahre 1924 als Association Internationale de Droit Penal (AIOP) in Paris wiedergegründet. Auf dem XIV . Internationalen Strafrechtskongress im Jahre 1989 in Wien hat die AIOP im Rückblick auf ihre Geschichte den durch sie geschaffenen weltweiten, über Europa hinausgehenden Zusammenhang der Strafrechtswissenschaft gew ürdigt'' , Als gemeineuropäische Charakteristika auf dem Gebiet des Strafrechts sind das Rechtsstaatsprinzip, vor allem in Gestalt des Gesetzlichkeitsprinzips, das Schuldprinzip, das Prinzip des " fair trial " im Strafprozess und das Humanitätsprinzip zu nennen, das vor allem für den Strafvollzug von Bedeutung ist.
2. Europäisches Strafrecht und Europäisierung des Strafrechts Trotz dieses gemeinsamen europäischen Erbes sind die Strafrechtsordnungen der 5 Staaten Europas höchst unterschiedlich ausgestaltet. Von einem europäischen Rechtsraum , in dem die nationalen Strafrechtssysteme vereinheitlicht sind bzw. eine supranationale Strafgewalt mit eigenen Justizorganen aufgrund eines genuin europäischen Straf- und Strafverfahrensrechts tätig ist, sind wir derzeit noch weit entfernt. Dennoch hat sich die Rede vom "Europäischen Strafrecht" inzwischen als allgemein anerkannter Sammelbegriff für einen eigenständigen strafrechtlichen Forschungsgegenstand durchgesetzt. Es handelt sich dabei um eine Rechtsmaterie eigener Art, die sowohl strafrechtsrelevantes Unionsrecht, regionales Völkerrecht als auch das hiervon beeinflusste nationale Strafrecht umfasst". Im Blickfeld des Europäischen Strafrechts stehen somit zum einen alle das Straf- und Strafverfahrensrecht der europäischen Staaten (europäische Strafrechtsptlege im weiteren Sinne) unmittelbar oder mittelbar betreffenden Normen des Union srechts (EUV, AEUV, GRCh), regionalen Völkerrechts (EMRK, Konventionen) und SeVogel, GA 2010, S. 1,4 ff: Jescheck, Jhong-Won Kim-FS, S. 947, 949. Jescheck, RIDP 1990, S. 59 ff. Ambos, IntStR, § 9 Rn. 13 ff; S/S/W-Satzger, Vor § 1 Rn. 10; ders., IntStR, § 2 Rn. 3.
6
§ 1 Grundbegriffe und Grundfragen des Europäischen Strafrechts
kundärrechts (Richtlinien, Verordnungen, Rahmenbeschlüsse, Übereinkommen) der supranationalen und internationalen Organisationen Europas (namentlich EU, EAG, Europarat, OECD) . Zum anderen umfasst das Europäische Strafrecht die durch Primär- und Sekundärrecht in vielfältiger Weise überlagerten Vorschriften des innerstaatlichen Strafrechts. 6 Die nationalen Strafrechtssysteme der europäischen Staaten sind in einen dynamisch verlaufenden Prozess der Europäisierung eingebunden, der sich vor allem auf die Aktivitäten des Europarates und der EU, auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten sowie auf die Tätigkeit der europäischen Gerichtshöfe in Straßburg (EGMR) und Luxemburg (EuGH) zurückfuhren lässt. So werden die Strafrechtsordnungen nicht nur durch die EMRK und die diesbezügliche Judikatur des EGMR auf übernational verbindliche Grundrechtsstandards festgelegt. Darüber hinaus sind die Strafrechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten vielfältigen Einflüssen der Unionspolitiken ausgesetzt. Bereits auf dem Boden der früheren Verträge (EGV und EUV) hat sich innerhalb der EU ein integriertes System europäischer Strafrechtspflege entwickelt, das im Wesentlichen von den Strukturelementen Kooperation, Koordination, Assimilierung und Harmonisierung geprägt ist. Der Vertrag von Lissabon (Rn. 3) schreibt diese Koordinaten fort und schafft die Grundlagen für eine kontinuierliche Fortentwicklung.? 7 Der Ausbau der internationalen Zusammenarbeit lässt die grenzüberschreitende Strafrechtspflege über den status quo der auf den Europaratskonventionen beruhenden Rechtshilfekooperationen hinauswachsen. Das Assimilierungsprinzip fuhrt zu einer " Indienststellung" der mitgliedstaatliehen Strafrechtsordnungen zum Schutze supranationaler Rechtsgüter, auf welche die EU mangels eigener kriminalstrafrechtlicher Rechtssetzungskompetenz angewiesen ist. So legt das aus Art. 4 111 EUV (ex-I 0 EGV) abzuleitende unionsrechtliche Rahmensystem Unterund Obergrenzen für mitgliedstaatliches Strafrecht im Dienste des Unionsrechts fest, die nicht unter- bzw . überschritten werden dürfen . Strafnormen dürfen nicht angewendet werden , soweit sie mit unionsrechtlich garantierten Grundfreiheiten kollidieren. Eine Neutralisierung mitgliedstaatlicher Straftatbestände ist allerdings immer nur die letzte Möglichkeit, Widersprüche zwischen nationalem Strafrecht und Unionsrecht aufzulösen. Kollisionen lassen sich zumeist schon durch eine unionsrechtskonforme Auslegung vermeiden. Im Übrigen ist das nationale Strafrecht nicht erst durch die vom Reformvertrag eingeführten Kompetenznormen des Art. 83 I, 11 AEUV einer Harmonisierung in Form einer Mindestangleichung zugänglich. Ein erheblicher Harmonisierungsschub wurde in den letzten Jahren bereits durch Richtlinienanweisungen der EG sowie durch intergouvernementale Maßnahmen der EU-Mitgliedstaaten (Rahmenbeschlüsse und Übereinkommen) ausgelöst. Der in den Abschnitt .Betrugsbekämpfung" eingefugte Art. 325 IV AEUV lässt sogar die Schaffung unmittelbar geltender europäischer Straftatbestände in Form einer Verordnung zu. Das lange Zeit als "Reservat" bzw. als "letzte Bastion " staatlicher Souveränität geltende Strafrecht folgt - wie
Hecker, Iurratio 2009 , 81 ff. ; Heger, ZIS 2009 , 406 ff.; Zöller, ZIS 2009 , 340 ff.
B. Was ist " Europäisches Strafrecht"?
7
der Freiburger Strafrechtler Tiedemann treffend formuliert hat" - mit "genuiner Verspätung" der Europäisierung anderer Teilgebiete des Rechts . Die Entwicklung des Europäischen Strafrechts ist untrennbar mit der Ge- 8 schichte des europäischen Integrationsprozesses verbunden, ja geradezu ein Indikator für dessen Fortschreiten. Nachdem das Ziel der Schaffung eines europäischen Binnenmarkts erreicht und die Personenkontrollen an den Binnengrenzen im Zuge des Sehengenprozesses abgeschafft wurden, wächst Europa politisch und rechtlich immer stärker zusammen, wenn auch die EU von einem Bundesstaat nach wie vor weit entfernt ist. Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am I. Dezember 2009 hat die politische Integration Europas einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen bleibt erklärtes Ziel der Union (Art . 3 11 EUV) . Von besonderer Bedeutung für das Europäische Strafrecht ist, dass die Charta der Grundrechte der Europäischen Union? (GRCh) vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung nunmehr rechtverbindlich ist (Art . 6 I EUV)1o. Jede Rechtssetzung auf der Ebene der EU muss daher die Gewährleistungen der Grundrechte-Charta beachten11 .
11. Europäisches Strafrecht als rechtswissenschaftliche Querschnittsmaterie Als Wissenschaftsdisziplin stellt das Europäische Strafrecht eine rechtswissen- 9 schaftliehe Querschnittsmaterie dar , die zahlreiche, sich teilweise überschneidende Probleme aus den Bereichen Kriminalpolitik, Strafrechtsdogmatik, Strafverfahrensrecht, Kriminologie, Europarecht sowie Verfassungs- und Völkerrecht jeweils unter Einbeziehung rechtsvergleichender Forschung - aufwirft". Nachfolgend sollen exemplarisch einige für das Europäische Strafrecht zentrale Themen aus diesen Wissenschaftsfeldern aufgeführt werden.
1. Kriminalpo/itik Europäische Kriminalpolitik umfasst den Inbegriff der Aussagen darüber, was 10 in Europa strafrechtlich gelten soll , also die europäische lex criminalis desiderata'". Sie fragt danach, ob und inwieweit es notwendig und sinnvoll ist, in be-
10
11
12 13
Tiedemann , Europäi sierung, S. 134. ABlEU 2007 Nr . C 303, S. I. Vgl. hierzu Pache/Rosch, EuR 2009 ,769 ff. Vgl. hierzu exemplarisch die Kommentierung der Art. 47 ff. GRCh (Justi zielle Recht e) von Eser, in: Meyer (I-Irsg.), GRCh . Dannecker, JZ 1996,869 ff.; Vogel, GA 2002 , 517. Zu den Sachfragen der europäischen Krimin alpolitik Jescheck, Eser-FS , S. 991 , 996 ff.; Kubic iel, GA 20 I0, 99, 111 ff .,: Perron , Küper-FS, S. 429 ff.; Schün emann , AE, S. 81,82 ff.; Sieber, ZStW 121 (2009), I ff.; Vogel, GA 2002 , 517, 522 ff.
8
§ 1 Grundbegriffe und Grundfragen des Europäischen Strafrechts
stimmten Bereichen strafrechtliche Instrumente einzusetzen." Zu denken ist etwa an die Bekämpfung von Terrorisrnus'", grenzüberschreitender bzw . organisierter Kriminalität" und Angriffen auf Rechtsgüter der EU17, aber z. 8. auch an einen europäisch abgestimmten Umgang mit Jugenddelinquenz" und Fragen des Opferschutzes'". In strafprozessualer Hinsicht ist z. 8. über die Entwicklung gemeinsamer Standards im Bereich der Verfahrensgarantien-", aber auch über die Begrenzung der Untersuchungshaft" zu diskutieren. Weitere zentrale Fragen lauten : Wie kann die demokratische Legitimation des Europäischen Strafrechts gewährleistet werden'F' - Wie erfolgt die verfassungsrechtliche und gerichtliche Kontrolle seiner Akteure'F'' - Ist ein supranationales Strafrecht erstrebenswertv-" - Soll lediglich eine Mindestharmonisierung des mitgliedstaatliehen Strafrechts erfolgen oder soll auf solche Maßnahmen gänzlich verzichtet werden?25 - Besteht Bedarf für die Schaffung einer " Europäischen StaatsanwaltschaftF" - Empfiehlt sich die europaweite Einführung kriminalstrafrechtlicher Verbandssanktionen'F? 11 Aufgrund der rasanten Entwicklung des noch in seinen Anfängen steckenden Europäischen Strafrechts verdient die kriminalpolitische Frage, in welche Richtung die Entwicklung gehen so1l28, mindestens ebensoviel Beachtung wie die strafrechtsdogmatische Analyse des bereits geltenden Europäischen Strafrechts. Die Strafrechtswissenschaft ist dazu aufgerufen, ihren Sachverstand in diese Debatte einzubringen und die europäische Kriminalpolitik mit konstruktiven Beiträgen zu unterstützen . Als herausragendes Beispiel für konstruktive Mitwirkung der Wissenschaft ist zunächst die Arbeit der seit 1995 im Auftrag des Europäischen 14
15
16
17 18
19 20 21
22
23 24
25
26
27 28
Vgl. hier zu die Mitteilung der Komm ission - Das Haager Programm : zehn Prioritäten für die nächsten fünf Jahre, KOM (2005), 184 endg. Vgl. hierzu Weber , Europäische Terrorismusbekämpfung, S. 131 ff und passim; Zimmermann, ZIS 2009, I ff. Vgl. hierzu Sieber , ZStW 121 (2009), S. 1,2 ff. Vgl. hierzu Fromm, Finanzinteressen der EG, 29 ff.; Rosenau , ZIS 2008, 9 ff. Vgl. hierzu Bochmann, Europäisches Jugendstrafrecht , S. 71 ff. und pass im. Vgl. hierzu Eckstein, Schroeder-FS , S. 777 1'[ Vgl. hierzu Vogel/Matt, StV 2007, 206. Vgl. hierzu Esser, Untersuchungshaft, S. 233 , 244 ff Böse, GA 2006,211 ,216 ff.; Kaiafa-Gbandi, ZIS 2006,521 ff.; Schünemann, ZStW 116 (2004), S. 376 , 390 ; ders ., AE, S. 81, 97 ff.; Sieber , ZStW 121 (2009), 1,50 ff.; Voge l, ZStW 116 (2004), S. 400 Ir Vgl. hier zu Satz ger. KritV 2008 , 17,29 Ir Vgl. hierzu Schwarzburg/J-lamdorf, NStZ 2002, 617 . Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU /CS U-Fraktion " Strafverfo lgung in einem zusammenwach senden Europ a" BT-Drs. 14/4991 , S. 1 ff. So der Vo rschlag der Kommi ssion in ihrem Grünbuch vom 11. Dezember 2001 ; KOM (2001) 715 endg.; vgl. hierzu Hecker , Kreu zer-FG, S. 181 Ir ; Radtke, GA 2004, 1 1'[; Satz ger. StV 2003, 137 ff.; Weertz, Europäische StA, S. 29 ff., 126 ff. und passim. Vgl. hierzu Bahnmüller, Unternehmensverantwortlichkeit, passim; Fromm, Z IS 2007, 279 ff.; Heine, Verantwortlichkeit von Unternehmen, S. 121 ff. Kreß , ZStW 116 (2004), S. 445 ff., Schünemann, AE, S. 81 ff.; de rs. (Hrsg.), Ge samtkonzept, passim; Zieschang, Akzeptanz , S. 39, 46 ff.
B. Was ist " Europäisches Strafrecht"?
9
Parlaments tätigen internationalen Expertengruppe unter Leitung der französischen Strafrechtswissenschaftlerin Mireille Delmas-Marty zu nennen , die ein aus Vorschriften des materiellen Strafrechts und Strafverfahrensrechts bestehendes "Corpus Juris" speziell für den Schutz der EU-Finanzinteressen entworfen hat (§ 14 Rn. 28 ff.).29 Beachtung verdienen des Weiteren von Strafrechtswissenschaftlern ausgearbeitete Vorschläge, wie der .Altemativentwurf Europäische Strafverfolgung'<", der "Gesamtentwurf für die europäische Strafrechtspflege" 31 und das " Manifest zur Europäischen Krirninalpolitik'<'.
2. Strafrechtsdogmatik Europäische Strafrechtsdogmatik umfasst den Inbegriff der Aussagen darüber, 12 was in Europa strafrechtlich gilt, also die europäische lex criminalis lata 33 • Deren Aufgabe ist es, die Strafrechtsnormen in ihrem inneren Zusammenhang, also systematisch zu entwickeln und zu deuten . Allerdings ist die klassische Strafrechtsdogmatik national gebunden und erweist sich deshalb, soweit es um die Harmonisierung der Strafrechtsordnungen in Europa geht, als zu eng . Bei der Auslegung werden also Erkenntnisse der Strafrechtsvergleichung, aber auch neue lnterpretationsmethoden anzuwenden sein. So werden z. B. weite Bereiche des Wirtschafts- und Umweltstrafrechts direkt oder indirekt von unionsrechtlichen Vorgaben beeinflusst. Man denke nur an den Einfluss europäischer Sondernormen auf die strafrechtliche Produkthaftung oder an die Bedeutung des europäischen Verbraucherleitbildes für das Verbraucherschutzstrafrecht>', aber auch an die Herausbildung europarechtsakzessorischer Umweltdelikte'". Es ist eine Aufgabe der Strafrechtsdogmatik, die europarechtlichen Einwirkungen aufzudecken und ihre strafrechtlichen Auswirkungen aufzuzeigen'". Vorhaben, die auf eine Vereinheitlichung oder auch nur Angleichung des mate- 13 riellen Strafrechts abzielen, werden nur dann auf allgerneine politische Akzeptanz in den betroffenen Staaten stoßen und von dauerhaftem Erfolg gekrönt sein, wenn es gelingt, die wesentlichen Wertungsfragen des Strafrechts auf einer abstrakten
29 30
31
32 33
34
35 36
Vgl. hierzu Hube r (Hrsg.), Corpus Juris, passim; Sieber, Corpus Juris , S. 2 ff. Schünemann , ZStW 116 (2004), S. 376 ff.; ders., AE, S. 81 Ir; krit. Militello, ZStW 116 (2004), S. 436 ff.; Vogel, ZStW 116 (2004), S. 400 Ir Schünemann (Hrsg.), Gesamtkon zept , passim; vgl. hierzu Hauer, Z IS 2007, 12 ff Vgl. den Text des Manifeste s mit Erläuterungen in ZIS 2009, 697 . Zu den Sachfragen der europäischen Strafrechtsdogmatik Dannecker, JZ 1996, 869 , 870; Kühne, GA 2005 , 195 ff.; Vogel, GA 2002, 517 , 519 ff., 529 ff. Hecker, Produktwerbung, S. 33 ff., 282 ff.; S/S/W-Satzger, § 263 Rn. 67; SchaumannWerder, Strafrechtliche Produkthaftung, S. 88 ff.; Soyka, wistra 2007 , 127, 131 Ir; Vergho, Verbraucherschutzstrafrecht, S. 37 ff., 101 ff. Heger, Europäisierung, S. 275 ff.; S/S-Hein e, § 330 d Rn. 19 a. Grundlegend Satzger, Europ äisierung, passim ; Schroder , Richtlinien, passim.
10
§ I Grundbegriffe und Grundfragen des Europäischen Strafrechts
Ebene in einer für alle Strafrechtssystem gültigen Weise zu formulieren" . Insoweit kommt der Strafrechtsvergleichung eine herausragende Bedeutung ZU 38 •
3. Strafverfahrensrecht 14 Auch jenseits der durch die EMRK festgelegten und durch die Judikatur des EGMR fortentwickelten Minde ststandards, die in den Mitgliedstaaten des Europarates bereits eine Art paneuropäisches Strafverfahrensrecht begründet haben?', schreitet die Europäisierung des Strafverfahrensrechts voran". Vor diesem Hintergrund stellt sich für den strafprozessualen Zweig der Strafrechtswissenschaft zum einen die Aufgabe , die unionsrechtliche Instrumentalisierung des nationalen Strafproze ssrechts und insbesondere das Zusammenspiel zwischen nationaler und supranationaler Gerichtsbarkeit - etwa im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens - zu beleuchten" . Zum anderen gilt es, die europarechtlichen Einflussfaktoren auf die mitgliedstaatliehen Strafverfahrensordnungen sichtbar zu machen , dogmatisch aufzuarbeiten und die Konsequenzen für die praktische Rechtsanwendung aufzuzeigen. Zu denken ist etwa an den Europäischen Haftbefehl, der inzwischen von allen Mitgliedstaaten in nationales Recht transformiert wurde'F , an den grenzüberschreitenden Informationsaustausch durch Polizei und Justiz" sowie Fragen der Bewelssicherung". Zukunftsprojekte wie ein "europäisches Ermittlungsverfahren" sind - falls politisch gewollt - nur auf der Grundlage gründlicher rechtswissenschaftlicher Vorarbeiten realisierbar, wobei auch hier die Rechtsvergleichung eine besondere Rolle spielt". Diffizile strafprozessuale Grundlagenprobleme wirft ferner das von der Kommi ssion angedachte GrünbuchKonzept" eines "europaweit verkehrsfähigen Beweises" auf, wonach die mitgliedstaatliehen Gerichte verpflichtet werden sollen, jedes Beweismittel zuzulassen, das nach dem nationalen Recht eines anderen Mitgliedstaates rechtm äßig erhoben wurde.". Von herausragender Bedeutung ist in einem europäischen Straf37 38
39
40
41
42
43 44 45 46 47
Vgl. hierzu Fuchs, ZStW 116 (2004) , S. 368 ; Perron, ZStW 109 (1997) , S. 281, 300 ff. Heger , Europäisierung, S. 63 Ir ; zur Method ik der Rechtsvergleichung Haase l'Fax, JA 2005, 232 ff. Vgl. hierzu Esser, Europäisches Strafverfahren srecht, passim; Krüßm ann . Transnationales Strafprozessrecht, passim. Vgl. hierzu Jok isch , Gemei nschaftsrecht und Strafverfahren , passim; Kühn e, Strafprozessrecht, Rn. 43 ff.; Tiedemann, Eser-FS, S. 889 fe ; Vogel/Matt, StV 2007 , 206 Ir Vgl. hierzu Dannecker, Europäischer Rechtsschutz, § 38 Rn. 34-81 ; Jok isch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 171 Ir Vgl. hierzu v. Heint schel-HeineggtRohljJ, GA 2003, 44 ff. ; RohljJ, EuHb, passim; Tinkl , Rechtsstellung des Einzelnen nach RBEuHb , passim. Vgl. hierzu Böse, Grund satz der Verftigbarkeit, passim. Vgl. hierzu Heger, ZIS 2007, 547 ff. Perron, ZStW 112 (2000) , S. 202 ff. KOM (2001) 715 endg. Vgl. hierzu Fuchs, ZStW 116 (2004) , S. 368 ; Gieß , ZStW 115 (2003), S. 131, 143 f.; Nes tler , ZStW 116 (2004) , S. 332, 335 ff.; Perr on, ZStW 112 (2000) , S. 202, 211 ff.; Radtke, GA 2004 , 118; Weertz, Europäische StA, S. 290 ff.
B. Was ist "E uropäisches Strafrecht"?
11
rechtsraum schließlich das transnationale Doppelbestrafungsverbot, das Im Lichte der Rechtsprechung des EuGH konkret auszuformen ist.
4. Kriminologie Rationale Kriminalpolitik erfordert die Bereitst ellung umfassenden und aussage- 15 kräftigen empirischen Materials": Die Kriminologie muss z. B. Aussagen treffen über typische Deliktsgestaltungen und Täterprofile etwa im Zusammenhang mit Angriffen auf den El.l-Finanzhaushalr'", Bei diesen Betrugs- , Korruptions-, Steuer- und Zolldelikten handelt es sich um besondere Erscheinungsformen der Wirtschaftskriminalität, deren Strukturen es aufzudecken gilt. Gleiches gilt etwa für das komplexe Phänomen der Geldwäschekriminalität, die eine Gefahr für die Funktion sfähigkeit der Wirtschaft innerhalb des europäischen Binnenmarktes darstellt/" Ein weiterer Bereich, der Kriminologie und Europ äische s Strafrecht verbindet, ist die Justizforschung, die sich etwa mit der Frage befasst, ob europarechtliehe Vorgaben in der Strafjustiz der Mitgliedstaaten gehörig umgesetzt werden .
5. Europarecht Das Europarecht ist in erheblichem Maße mit dem Straf- und Strafprozessrecht 16 recht verschränkt. Zentrale Probleme des Europäischen Strafrechts sind an der Schnittstelle zwischen nationalem Strafrecht und supranationalem Unionsrecht angesiedelt" . Das Zusammenspiel zweier getrennter, neben einander stehender, aber verflochtener Rechtsordnungen wirft neuartige Fragen auf, die im innerstaatlichen Rechtssystem keine Entsprechung finden'< . Aufgrund dieser Entwicklung versteht es sich von selbst, dass die Beschäftigung mit Europäischem Strafrecht spezifisch europarechtliches Wissen voraussetzt. Die Auseinandersetzung mit der Europäisierung des Strafrechts und der international-arbeitsteiligen Strafrechtspflege erfordert eine gründliche Durchdringung des europarechtlichen Normengeflechts unter besonderer Berück sichtigung der Rechtsprechung der europäischen Gerichtshöfe in Straßburg (EGMR) und Luxemburg (EuGH). Die Europarechtswissenschaft ist daher neben der Völker- und Verfassungsrechtswissenschaft eine zentrale Bezugswissenschaft für das Europäische Strafrecht. Das Gelingen der europäischen Integration auf dem Gebiet der Strafrechtspflege hängt in nicht unerheblichem Maße davon ab, inwieweit nationale Strafrechtspraktiker das Europarecht ebenso selbstverständlich und sicher anwenden wie die innerstaatlichen Rechtsnormen.
48 49 50 51
52
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
hierzu Dannecker, JZ 1996,869,870 ff.; Schneider, JR 2010,8 ff. hierzu Dannecker, ZStW 108 (1996), S. 577 , 579 ff. hierzu S/S-Stree/Hecker, § 261 Rn. 1 m. w. N . hierzu AmboslRackow, ZIS 2009, 397 ff.; Garditz, Kategorien, S. 192 ff. hierzu bereits Nettesheim, AöR 119 (1994), S. 261 ff.; Zuleeg, JZ 1992, 761 ff
12
§ I Grundbegriffe und Grundfragen des Europ äischen Strafrechts
17 Im Hinblick auf die durch den Vertrag von Lissabon (Rn . 3) erfolgte Gründung einer mit Rechtspersönlichkeit ausgestatteten Union als Rechtsna chfolgerin der EG (Art. I EUV) kommt dem Europäischen Verfassungsrecht wachsende Bedeutung ZU53 . Aus Sicht des Europäischen Strafrechts ist vor allem die Ausdeutung derjenigen Verfassungsbestimmungen von unmittelbarem Interesse, die sich mit dem " Raum der Freiheit , der Sicherheit und des Rechts" (Art . 3 11 EUV, Art. 67 ff. AEUV), den justiziellen Rechten (Art . 47 ff. GRCh 54 ) , der justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit in Strafsachen (Art . 82 ff., 87 ff. AEUV) sowie mit den Harmonisierungskompetenzen der Union befassen (Art . 83 AEUV) .
6. Verfassungs- und Völkerrecht 18 Das nationale Verfassungsrecht normiert ebenso wie das Völkerrecht fundamentale Grund- und Menschenrechte sowie Verfahrensgarantien, die von den nationalen Gesetzgebern und Strafverfolgungsbehörden zu beachten sind. Zu denken ist nur an Bestimmtheitsgrundsatz, Rückwirkungsverbot, Schuldgrundsatz und Ultima-Ratio-Prinzip/" Es gilt, die Bezüge zwischen den verfassungs- und völkerrechtlichen Prinzipien sowie dem Europäischen Strafrecht herzustellen . Inwieweit werden dem Europäischen Strafrecht hierdurch Schranken gesetzt? Wo liegen die Grenzen der unionsrechtskonformen Auslegung von Straftatbeständen? - Genügen die vom deutschen Gesetzgeber verwendeten Blankettgesetzgebungstechniken dem Bestimmtheitsgrundsatz und dem Parlamentsvorb ehalt? Wie ist die Rechtsstellung des Beschuldigten in einem international-arbeitsteiligen Strafverfahren institutionell und verfahrensrechtlich ausgestaltet v'"
111. Praktische Bedeutung des Europäischen Strafrechts 19 Nachdem oben die wissenschaftlichen Herausforderungen des Europäischen Strafrechts beleuchtet wurden , soll es im Folgend en darum gehen , anhand einiger Beispiele und Fragenkomplexe die Praxisrelevanz dieses neuartigen Rechtsgebietes aufzuzeigen. Im materiellen Strafrecht lassen sich sowohl strafrechtsbegrenzende als auch strafrechtsausdehnende Europäisierungseffekte nachweisen . Auch in strafprozessualer Hinsicht verläuft die Europäisierung in zwei Richtungen . Zum einen werden bestimmte strafprozessuale Rechtspositionen von Beschuldigten und Opfern durch europarechtliche Vorgaben gestärkt. Zum anderen wird - vor dem 53
54
55
56
Vgl. hierzu BVerfG NJW 2009, 2267 = EuZW 2009, 552 ; Amb os/Ra ckow , ZIS 2009, 397 ; Meyer, NStZ 2009, 657 sowie die europaverfassungsrechtlichen Grundlagenbeiträge in: v. Bogdandy (Hr sg.), Europ äische s Verfassungsrecht. Vgl. hierzu die Komm ent ierun g der Art. 47 ff. GRCh von Eser, in: Meyer (Hrs g.), GRCh . Vgl. hierzu S/S- Eser/Hecker, Rn. 30 ff. vor § 1 m. w. N. Vgl. hierzu Nestler, ZStW 116 (2004), S. 332 ff.; Sch ünem ann, ZStW 116 (2004), S. 376 , 382 ff.; Tinkl, Rechtsstellung des Einzelnen nach RbEuHbf, S. 38 ff. und passim; Vogel, ZStW 116 (2004), S. 400 , 404 f.; LK-Werle/Jeßb erger, Vo r § 3 Rn. 45 ff.
B. Was ist " Europäisches Strafrecht" ?
13
Hintergrund tran snationaler Kriminalitätsphänomene (" Europa als kriminalgeographis cher Raum") - die international-arbeitsteilige Strafverfolgung in Europa ausgebaut und intensivi ert. Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben der europ äischen Kriminalpolitik, für eine gerechte Balance zwischen den Belangen einer effektiven Strafrechtspflege einers eits und der rechtsstaatlich gebotenen Wahrung von Bürgerrechten andererseits zu sorgen .
1. Strafrechtsbegrenzende Europäisierungseffekte Kein Strafrechtspraktiker kann sich der europäischen Dimension seines Arbeits- 20 gebietes mehr entziehen. Überholt sind heute Vorgänge, in denen sich die Praxis dem damaligen Gemeinschaftsrecht gegenüber zuweilen geradezu ignorant verhielt, wie jener steuerstrafrechtliche Fall, den das LG Bonn Ende der 1980er Jahre zu entscheiden hatte . Ein Steuerpflichtiger war vor diesem Gericht u. a. wegen fortgesetzter Umsatzsteuerhinterziehung angeklagt worden , weil er keine monatlichen Umsatzsteuervoranmeldungen abgegeben hatte . Gegen diesen Vorwurf verteidigte sich der Angeklagte mit dem Einwand, dass zumindest seine Umsätze aus Kreditvermittlung nicht umsatzsteuerpflichtig gewesen seien . Dies ergebe sich aus einer EG-Richtlinie. Das LG Bonn wischte die europarechtlichen Einwände des Angeklagten mit der folgenden Bemerkung vom Tisch : "Die Kammer glaubt dem Angeklagten nicht, dass er bei seinen steuerlichen Fachkenntnissen auch nur im Entferntesten davon ausging, dass die deutsche Steuerges etzgebung durch europäische Richtlinien außer Kraft gesetzt wird. " Der BGH hob dieses Urteil im Revisionsverfahren auf und stellte unter Hinwei s auf die ständige Rechtsprechung des EuGH zutreffend fest, dass sich ein einzelner Marktbürger auf die Bestimmung einer nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinie berufen darf, wenn diese so klar umrissen ist, dass sie auch ohne Durchführungsmaßnahmen des nationalen Gesetzgebers angewendet werden kann'" . Der BGH war bereits seit den I960er Jahren mit dem Verhältnis von Gemein- 21 schaftsrecht und nationalem Strafrecht befasst ". Dabei haben die obersten Strafrichter von Anfang an eine rein nationale Ausrichtung ihrer Rechtsprechung vermieden und es ist ihnen stets gelungen, den supranationalen Vorgaben Rechnung zu tragen. Insbesondere darf die Anwendung strafrechtlicher Rechtsvorschriften weder zu einer Diskriminierung von Personen fuhren, denen das Unionsrecht einen Anspruch auf Gleichbehandlung verleiht (Art. 18 AEUV ; ex-Art. 12 EGV), noch dürfen die vom Unionsrecht garantierten Grundfreiheiten missachtet werden'". Neben dem Diskriminierungsverbot und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat der EuGH weitere strafrechtsrelevante Garantien wie den Grundsatz "N ullum crimen sine lege" mit seinen Auswirkungen des Rückwirkungsverbots und des Bestimmtheitsgrundsatzes, den Lex-Mitior-Grundsatz sowie bestimmte Ausprägungen des ne bis in idem-Grundsatzes als allgemeine Rechtsgrundsätze des 57 58 59
ßG HSt 37, 168 ff. = NJW 1991, 1622; vgl. hierzu Schröder, Richtlinien, S. 13 I:
Dannecker, BGH-FG, S. 339, 346 ff.
EuGHE 1989, 195, 222; 1993, 1663; 1996, 929; 1999, 11, 29; Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 19 ff., 27 ff.; Stiebig, EuR 2005, 466, 471.
14
§ I Grundbegriffe und Grundfragen des Europ äischen Strafrechts
Gerneinschaftsrechts'? (ex-Art. 6 11 EUV) anerkannt, die heute als Unionsrecht fortgelten (Art . 6 11I EUV) . 22 Die nationalen Strafverfolgungsbehörden müssen den Grundsatz des Vorrangs des unmittelbar anwendbaren Unionsrechts beachten, was z. B. auf dem Feld des Gl ücksspielstrafrechtsv' (§ 284 StGB) praxisrelevant wird62 . Anlass für eine Überprüfung nationaler Stratbestimmungen auf ihre Vereinbarkeit mit Unionsrecht besteht insbesondere immer dann , wenn die Anwendung des Straftatbestandes in den Schutzbereich unionsrechtlich garantierter Grundfreiheiten eingreift'". Beispielsweise wird die strafrechtliche Produkthaftung in Fällen grenzüberschreitender Produktvermarktung durch die vom EuGH konkretisierten Vorgaben der Warenverkehrsfreiheit begrenzt". Infolge des Anwendungsvorranges des Unionsrechts sind die nationalen Stell en daran gehindert, Strafrechtsnormen anzuwenden, soweit diese nicht im Einklang mit demselben stehen (§ 9 Rn. 10 ff.). So wurde z. B. die von einem griechischen Gericht gegen die italienische Touristin Calfa wegen illegalen Betäubungsmittelbesitzes verhängte Strafmaßnahm e der lebenslangen Ausweisung aus Griechenland vom EuGH als mit Primärrecht (passive Dienstleistungsfreiheit) unvereinbare Maßnahme eingestuft'" (§ 9 Rn. 49 0. Neben den primärrechtlichen Grundfreiheiten entfalten - wie bereits der eingangs geschilderte Fall aus dem Bereich des Steuerstrafrechts zeigt - nicht selten auch Sekundärrechtsdirektiven strafrechtsbegrenzende Wirkungen'". Die Berufung auf eine unmittelbar anwendbare begünstigende Richtlinie schützte z. B. den vor einem französischen Gericht Angeklagten Auer vor Bestrafung, der im Besitz eines italienischen, aber eben nicht eines französischen veterinärmedizinischen Diploms in Frankreich die Tätigkeit eines Tierarztes ausübte (§ 9 Rn. 24)67. 23 Reichhaltiges Anschauungsmaterial für die Überlagerung des nationalen Strafrechts durch Unionsrecht liefert das Lebensmittelstrafrecht, das in erheblichem Umfang von Verordnungen und Richtlinien durchdrungen ist68 • Sekundärrecht determiniert nicht nur die für alle Fahrlässigkeitstatbestände maßgeblichen Sorgfaltsanforderungen, sondern legt die Mitgliedstaaten im Bereich des Täuschungsschutzes auf ein europäisches Verbraucherleitbild fest, was in einigen Mitgliedstaaten (darunter Deutschland) zu einer Neubestimmung des Verbraucherschutzstandards im Sinne einer Liberalisierung der Lebensmittelvermarktung führt (§ 10
60
61 62
63 64 65 66
67 68
Vgl. zur Anwendbarkeit der recht sstaatliehen Garantien des Gemein schaftsrechts auf europäisie rtes Strafrecht Satzger, Europäisie rung, S. 177 Ir ; Heine, Glückssp iel, S. I ff.; ders ., Amelun g- FS, S. 413 ff. EuGI-I NJW 2007 , 1515, 1519; OLG Frankfurt NStZ-RR 2008, 372 ; OLG Hamburg, BeckRS 2009 , 20809; OLG München NJW 2006 , 3588. OLG München BeckRS 2009 , 11745 [Verstoß gege n A WGl Schaumann-Werder, Strafrechtliche Produkthaftung, S. 210 ff. EuGI-IE 1999, 11. Sch räder , Richtlin ien, 13 f., 250 Ir EuGI-IE 1983, 2727; vgl. hierzu Hanf, JZ 1999, 785. Dann ecker, ZStW 117 (2005), S. 697 , 704 ff., 725 ff.; Hecker, Produktwerbung, S. 58 ff., 65 ff., 78 ff.; Schröde r, Leben smittel strafrecht, S. 79 ff.; Vergho, Verb rauche rschutzstrafrecht, S. 220 ff.
B. Was ist " Europäisches Strafrecht"?
15
Rn. 17 ff.). Beispielsweise darf - um einen etwas skurrilen Fall aus der deutschen bußgeldrechtlichen Praxis'" aufzugreifen - den inländischen Anbietern importi erter Lebensmittel nicht die Vornahme einer ausschließlich deuts chsprachigen Kennzeichnung abverlangt werden, wenn es sich um europa- oder weltweit vermarktete Erzeugnisse mit hohem Bekanntheitsgrad in Deutschland handelt. Die Vermarktung dieser Produkte in ihrer Originalverpackung mit fremdsprachiger Etikettierung darf nicht als ordnungswidriger Kennzeichnungsverstoß geahndet werden . Folglich müssen die Liebhaber englischen Lebensstils nicht darauf verzichten, einen " Ha uch von Harrods" zu verspüren, wenn sie in Deutschland ein Fachgeschäft für Originalerzeugnisse aus Großbritannien aufsuchen. Es bleibt Aufgabe aller nationalen Strafverfolgungsbehörden, den unionsrecht- 24 liehen Einflüssen bei der Anwendung von Strafgesetzen Rechnung zu tragen. Gerichte, deren Entscheidung nicht mehr mit innerstaatlichen Rechtsmitteln angefochten werden können , müssen gern. Art . 267 111 AEUV (ex-Art. 234 111 EGV) die Frage nach der Auslegung und Gültigkeit von entscheidungserheblichem Unionsrecht dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegen (§ 6 Rn. 7).
2. Stärkung strafprozessualer Rechtspositionen Zwar kennt das Rechtssystem der EU (noch) kein eigenes supranationales Straf- 25 verfahrensrecht, doch haben einige Urteile des EuGH deutlich gemacht, dass die unionsrechtliche Überlagerung sich keineswegs auf das materielle Strafrecht beschränkt" . Dass das Unionsrecht zu einer Ausweitung strafprozessualer Rechtspositionen führen kann , zeigen folgende Fallbeispiele aus der Praxis : (I) In dem vor einem italienischen Gericht geführten Strafverfahren gegen Bickel 26 und Franz hat der EuGH das Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV ; ex-Art. 12 EGV) ausdrücklich auch aufstrafprozessuale Regelungen bezogen" . Personen, die sich in einer unionsrechtlich ger egelten Situation in einem anderen Mitgliedstaat befinden, müssen vor dessen Gerichten genauso behandelt werden wie dessen Angehörige. Dies bedeutet im konkreten Fall, dass eine verfahrensrechtliche Regelung, die der deutschsprachigen Bevölkerung in Bozen das Recht auf eine Gerichtsverhandlung in deutscher Sprache einräumt, auch zugunsten von Angeklagten deutscher und österreichischer Staatsangehörigkeit anzuwenden ist. (2) In der Rechtssache" Cowan " 72 ging es um einen britischen Touristen, der 27 bei einem Aufenthalt in Paris tätlich angegriffen und schwer verletzt wurde . Das französische Strafverfahrensrecht sah einen Entschädigungsanspruch des Opfers gegen den Staat nur unter der Voraussetzung vor, dass das Opfer französischer 69 70
71
72
AG Köln, Z LR 2002 , 525 m. Anm. Hecker , Z LR 2002 , 527 . Vgl. hierzu Esser, StV 2004, 221 ff.; Jokisch , Gem ein schaftsrecht und Strafver fahren, S. 143 f.; Karsai, Gemein schaftsrecht und Strafrecht, S. 9 ff.; Kühne , Strafprozessrecht , Rn. 56. EuG H EuZW 1999 , 82; vgl. hierzu Esser, ZEuS 2004 , 290 , 296 . EuGHE 1989, 195 ff.
16
§ I Grundbegriffe und Grundfragen des Europ äischen Strafrechts
Staatsangehöriger, Inhaber einer Fremdenkarte oder Angehöriger eines Staates ist, der mit Frankreich ein Gegenseitigkeitsabkommen für die Anwendung der einschlägigen Vorschrift geschlossen hat. Diese Voraussetzungen lagen in dem konkreten Fall nicht vor. Der EuGH erblickte in der französischen Regelung eine unionsrechtswidrige Ungleichbehandlung" . 28 (3) In einer Vorabentscheidung, um die das AG Schleswig ersucht hatte , postulierte der EuGH ein unionsrechtliches Beweisverwertungsverbot, welches der Berücksichtigung eines auf staatlich veranlassten Probenahmen beruhenden AnaIysegutachtens in einem nationalen Ordnungswidrigkeitenverfahren entgegensteht" . Dem Verantwortlichen eines Lebensmittelunternehmens wurde in einem Bußgeldverfahren vor einem deutschen Gericht vorgeworfen, unzutreffend deklarierte Wursterzeugnisse fahrlässig in den Verkehr gebracht zu haben . Die Lebensmittelbehörden hatten zuvor in mehreren Einzelhandelsgeschäften Proben von Erzeugnissen des Unternehmens genommen und von jeder Probe eine Zweitprobe in den Gesch äften zurückgelassen. Aus ungeklärten Gründen hatten weder der Betroffene noch das Unternehmen Kenntnis von den staatlich veranlassten Probenentnahmen erlangt, so dass sie nicht in der Lage waren , ein (möglicherweise entlastendes) Gegengutachten einzuholen. Der EuGH stellte fest, dass sich ein Lebensmittelhersteller nach Art. 7 der Richtlinie 89/397 /EWG über die amtliche Lebensmittelüberwachung gegenüber den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaates auf ein Recht zur Einholung eines Gegengutachtens berufen kann, wenn diese Behörden aufgrund einer Analyse von im Einzelhandel entnommenen Proben seiner Erzeugnisse die Auffassung vertreten, dass diese nicht den nationalen lebensmittelrechtlichen Bestimmungen genügen. Analysegutachten, die auf nationaler Ebene entgegen diesen Richtlinienvorgaben erhoben worden sind und von der durch die Überwachung betroffenen Person nicht mehr unter Berücksichtigung der Grunds ätze eines fairen , kontradiktorischen Verfahrens angegriffen werden können , unterliegen einem Beweisverwertungsverbot. Der Ausschluss des Gutachtens als Beweismittel steht also nicht im Ermessen des nationalen Gerichts, sondern ist nach Ansicht des Gerichtshofs zwingend geboten, wenn sich die Fairness des Verfahrens bei Verwertung des Gutachtens nicht mehr gewährleisten lässt. Das AG Schleswig zog aus dieser Vorabentscheidung des EuGH die Konsequenz, das Bußgeldverfahren einzustellen. 29 (4) Von erheblicher praktischer Bedeutung ist schließlich das in Art. 54 SDÜ sowie Art. 50 GRCh verankerte grenzüberschreitende Doppelbestrafungsverbot (§ 13). Nach der Rechtsprechung des EuGH führen nicht nur rechtskräftige Gerichtsurteile, sondern auch gern. § 153 a StPO erfolgende staatsanwaltliehe Verfahrenseinstellungen zu einem transnationalen Strafklageverbrauch" .
73
74
75
Inzwischen wurde das Entschädigungsrecht durch die Richtlin ie 2004 /80 des Rates zur Entschädigung der Opfer von Straftat en v. 29. April 2004 harmonisiert (AßlEG N r. L 261, S. 15). EuGHE 2003 , 3735 m. Anm . v. Schaller; vgl. hierzu die ausführliche Besprechung von Esser, StV 2004 , 221 ff.; ders., ZEuS 2004 , 290 , 296 . EuGH NJW 2003 , 1173.
B. Was ist "Europäisches Strafrecht"?
17
Als überaus bedeutsame, die Rechtsposition von Beschuldigten ausbauende Euro- 30 päisierungsfaktoren erw eisen sich nicht zuletzt die in der EMRK verbrieften und vom EGMR ausgeformten Verfahrensgarantien, die zum Teil über die Gewährleistungen des nationalen Rechts hinausgehen. Dieser Befund sollte vor allem Strafverteidiger zu einer vertieften Beschäftigung mit der Konvention veranlassen?". Mit der Individualbeschwerde (§ 3 Rn. 26 ff.), die nach Ausschöpfung des nationalen Rechtsweges beim EGMR in Straßburg erhoben werden kann , steht dem strafrechtlich Verfolgten ein mächtiges Rechtsinstrument zur Verfügung, mit dem z. B. Auslieferungshindernisse geltend gemacht, die Einhaltung bestimmter Verfahrensrechte eingefordert, der staatliche Einsatz von Lockspitzeln gerügt oder eine überlange Untersuchungshaft- oder Verfahrensdauer beanstandet werden können (§ 3 Rn. 33 ff.).
3. Strafrechtsausdehnende Europäisierungseffekte Die nachfolgend zu behandelnden strafrechtsausdehnenden Europäisierungseffek- 31 te sind vor dem Hintergrund der Kriminalitätsentwicklung in Europa zu betrachten .
a) Europa als .krirninalqeoqraphischer Raum" Bis Ende der 1990er Jahre spielte die Kriminalitätsbekämpfung im Vergleich zu 32 anderen Politikfeldern der Gemeinschaft eine eher untergeordnete Rolle . Die europäische Integration sollte vor allem auf ökonomischem Gebiet vorangebracht werden , also in einem Bereich, in dem die Mitgliedstaaten am ehesten zu einem Verzicht auf nationale Souveränitätsvorbehalte bereit zu sein schienen. Dass das Strafrecht in der Folgezeit immer stärker in den Fokus der Unionspolitik geriet, hängt mit der besorgniserregenden Kriminalitätsentwicklung zusammen, die der ehemalige Präsident des BKA in folgendem Zitat auf den Punkt brachte: .Europa ist kriminalgeographisch schon längst eine Einheit. "77 Der gravi erende Anstieg grenzüberschreitender Kriminalität ließ die Befürchtung zur Gewissheit werden , dass nicht nur unbescholtene Bürger vom Wegfall der Kontrollen an den Binnengrenzen und der Freizügigkeit des Personen-, Dienstleistungs- und Waren verkehrs profiti eren . Die Zentren der Wohlstandsgesellschaften der EU-Mitgliedstaaten stellen begehrte Absatzmärkte für illegale Produkte und Dienstleistungen aller Art dar. Sie bilden eine Ziel scheibe für kriminelle Angriffe auf geordnete Finanz-, Wirtschafts-, und Wettbewerbsabläufe. Auch dürfen die Augen nicht davor verschlossen werden , dass das gesamteuropäische Haus vom Virus der Korruption und mafioser Strukturen durchsetzt ist. Hinzu kommt die latente Bedrohung durch den internationalen Terrorismus. Die Einsicht, dass auf sich allein gestellte nationale Strafverfolgungssysteme der Globalisierung der Kriminalität und ihres vielfältigen Bedrohungspotentials weithin hilflos gegenüberstehen, erzeugte einen massiven kriminalpolitischen Handlungsdruck, der nationale Souveränitätsvorbehalte immer stärker zurückdrängte , das Europäische Strafrecht zu einem bedeu76 77
Jung, StV 1990, 509 ff.; Weigend, StV 2000, 384 ff Zachert, in: Sieber (Hrsg.), Europäische Einigung, S. 61, 76.
18
§ I Grundbegriffe und Grundfragen des Europäischen Strafrechts
tenden Pfeiler europäischer Integrationspolitik aufwertete und die transnationale Strafverfolgung revolutionierte. Vor allem folgende Kriminalitätsphänomene stehen im Mittelpunkt transnationaler Kriminalität, die nicht selten einen hohen Organisationsgrad aufweist": -
Terrorismus, Waffen- und Rauschgifthandel, Schleuserkriminalität, Menschenhandel, Organhandel, Kfz-Verschiebungen, Illegaler Abfallexport ("M ülltourismus"), Verstöße gegen Lebensmittel- und Arzneimittelrecht, Illegaler Technologietransfer, Illegaler Handel mit radioaktiven und nuklearen Substanzen Produktpiraterie, Arten schutzkriminalität, Illegale Zuwanderung, illegale Arbeitnehmerbeschäftigung, Computerkriminalität (Angriffe auf Informationssysteme), Geldwäsche, Angriffe auf die Finanzinteressen der EU, Angriffe auf die europäische Währung Euro (Falschgelddelikte).
33 Begünstigt wird die transnationale Kriminalität dadurch, dass die Einfuhrkontrollen nach der Öffnung der Binnengrenzen und der Abschaffung der Personenkontrollen im Rahmen des Schengener Abkommens ("Schengen I") nur noch an den Außengrenzen erfolgen, dort aber ausschließlich nach den Gesetzen des jeweils zuständigen Staates, der über Umfang und Intensität der Kontrollen entscheidet (§ 5 Rn. 29 ff.). Das nicht unbeträchtliche Entdeckungsrisiko, dem sich Straftäter früher beim Grenzübertritt ausgesetzt sahen, ist in Wegfall geraten. Der damit einhergehende Verlust an Sicherheit gibt dringend Anlass , über polizei- und strafrechtliche Ausgleichsmaßnahmen nachzudenken.
b) Europäisches Strafrecht als Antwort auf grenzüberschreitende Kriminalität 34 Die Globalisierung der organisierten Kriminalität und der en Hineinwirken in den Rechtsraum der EU-Mitgliedstaaten stellen neue Herausforderungen für die grenzüberschreitende polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Europa dar. Es liegt im gemeinsamen Interesse aller Mitgliedstaaten, der transnationalen Kriminalität unter Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze möglichst wirkungsvoll entgegenzutreten. Gleiches gilt im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Angriffen auf den EU-Finanzhaushalt durch betrügerisch agierende Marktteilnehmer (zu denken ist vor allem an die Erlangung ungerechtfertigter Vorteile durch Subven78
Vgl. hierzu v. BubnojJ, ZEuS 2001, 165 ff. ; Dann ecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 17 ff. ; v. Duyn e, Grenzüberschreitende Kriminalität, S. 259 ff. ; Hecker, JA 2002,723 ff. ; Zachert, in: Sieber (Hrsg.), Europäische Einigung, S. 61 ff.
B. Was ist "E uropäisches Strafrecht"?
19
tionsbetrug und Abgabenhinterziehung) oder korrupte Amtsträger. Fraglich ist, ob es hierzu supranationaler strafrechtlicher Konz eptionen (bis hin zur Schaffung eines europäischen Strafgesetzbuches) bedarf oder ob schon ein auf Rechtsangleichung abzielender Ausbau der mitgliedstaatliehen Strafrechtssysteme sowie eine Verbesserung (Erleichterung, Intensivierung) der internationalen polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit ausreichen . Die Mitgliedstaaten als " Herren der Verträge " haben der Union - mit einer Ausnahme (Art. 325 IV AEUV; vgl. § 4 Rn. 81; § 14 Rn. 44) - keine Kompetenz zur Setzung kriminalstrafrechtlicher Normen übertragen (§ 4 Rn. 82) . Bei realistischer Betrachtung der politischen Gegebenheiten lässt sich die Vision eines supranationalen Strafrechts"? jedenfalls in absehbarer Zeit nicht realisieren, zumal auch das EP und der Europäische Rat derzeit keine Supranationalisierung des Strafrechts anstr eben". Bereits nach früherer Rechtslage waren die Mitgliedstaaten zur strafrechtli- 35 ehen Verfolgung von Angriffen auf Rechtsgüter der Gemeinschaft verpflichtet (§ 7 Rn. 27 ff.). Aus den in Art . 4 111 EUV, 325 I, 11 AEUV (ex-Art. 10,280 I, 11 EGV) verankerten Loyalitätsgeboten folgt eine strafrechtliche Schutzverpflichtung der Mitgliedstaaten gegenüber der Union" . Verstöße gegen das Unionsrecht sind nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln zu verfolgen, wie nach Art und Schwere vergleichbare Zuwiderhandlungen gegen nationales Recht, wobei die angedrohten Sanktionen wirk sam , verhältnismäßig und abschreckend sein müssen. Bei der Verfolgung solcher Straftaten ist das Einstellungsermessen der nationalen Strafverfolgungsbehörden (Opportunitätsprinzip) unionsrechtlich begrenzt und kann im Einzelfall sogar auf Null reduziert seinv . Im Übrigen wird der Grundsatz der verfahrensmäßigen Autonomie der Mitgliedstaaten durch den Vorranganspruch des Unionsrechts eingeschränkt" . Beispielsweise entfällt die Vorlagepflicht nach § 121 11 GVG , wenn ein OLG in Übernahme der Judikatur des EuGH von der Rechtsprechung eines anderen OLG abweichen will '". Während die kriminalpolitischen Bestrebungen der EU in den 1990er Jahren 36 noch in erster Linie darauf gerichtet war , die grenzüberschreitende polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten zu verbessern, ist seit Beginn dieses Jahrhunderts die Harmonisierung des materiellen Strafrechts in den Fokus europäischer Kriminalpolitik ger ückt", In seinen bahnbrechenden Urteilen
79
80
81 82 83 84
85
Vgl. hierzu Perron, Strafrechtsvereinh eitlichung, S.135 ; ders., ZStW 112 (2000), S. 202 , 210; Sieber, Z LR 1991,451 ,475 ff.; ders., ZStW 121 (2009), S. 1,22,44 ff. Vgl. die Entschließung de s EP zu den Strafverfahren im Rahm en der EU (Corpus Juris), BR-Drs. 276/99 sowie die Mitteilungen über die Empfehlung des Europäischen Rate s bet reffend " Unionsweite Kriminalitätsbek ämpfung", NlW 2000, 339 . Vgl. hierzu Hecker, lurratio 2009, 81 , 82 f. Vgl. hierzu Jokisch, Gem einschaftsrecht und Stra fverfahren, S. 149 ff Kühne, Strafprozessrecht , Rn. 58. ßGHSt 36, 92 ; Ambos , IntStR , § 11 Rn. 40; Dannecker, Europä ische r Recht sschutz, § 38 Rn. 68; Seitz, in: Göhler, OW iG, § 79 Rn. 38 . Hecker, lA 2007, 561 ff.; Perron, Küper-FS, 429 , 430 ff.; Schreiber, Strafrechtsharmon isierung, passim ; Vogel, GA 2003 , 314 ff.
20
§ I Grundbegriffe und Grundfragen des Europäischen Strafrechts
v. 13. September 2005 86 und v. 23 . Oktober 2007 87 erkannte der EuGH der EG die Befugnis für die Aufstellung strafrechtlicher Mindestvorgaben zu, soweit diese zur Erreichung der im EGV genannten Ziele als erforderlich angesehen werden" . Der durch den Vertrag von Lissabon (Rn . 3) neu geschaffene Art. 83 11 AEUV knüpft an diese strafrechtliche Annexkompetenz an (§ 8 Rn. 36 ff.)" . Im Rahmen der 3. Säule der EU wurden auf der Grundlage der ex-Art. 29 , 31 lit. e EUV zahlreiche Rechtsakte (in der Regel Rahmenbeschlüsse) erlassen, die auf eine Mindestangleichung des materiellen Strafrechts der Mitgliedstaaten abzielen und ein breites Kriminalitätsspektrum betreffen, namentlich Terrorismus, Organisierte Kriminalität , illegaler Drogenhandel, Falschgelddelikte, Menschenhandel, Schleuserkriminalität, Kinderpornographie, Korruption im privaten Sektor, rassistisch oder fremdenfeindlich motivierte Straftaten sowie Angriffe auf Informationssysteme. Diese Harmonisierungspolitik wird nach dem Inkrafttreten des Reformvertrags nach Maßgabe des Art . 83 I AEUV fortgesetzt, welcher der Union eine originäre Strafrechtsangleichungskompetenz verleiht?" (§ II Rn. 3 ff.). 37 Den Strafrechtsaktivitäten der Union haftet eine expansive Tendenz an, die in der Fachdiskussion mitunter auf dezidierte Ablehnung stoßen?'. Auch wenn man die teilweise nicht ganz frei von Polemik vorgetragene Fundamentalopposition gegen die EU-Kriminalpolitik nicht unterstützt, kann man sich einigen fachlichen Bedenken gegen eine unreflektierte Strafrechtsexpansion nicht verschließen?' : Dies gilt z. B. für die berechtigte Kritik an der Übertragung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung auf den Bereich des Beweisrechts (§ 12 Rn. 59 ff.) . Auch sollte die europäische Kriminalpolitik darauf achten, dass die gewachsenen Strafrechtskulturen der Mitgliedstaaten nicht ohne Not zerschlagen oder zersetzt werden. Dem strafrechtsspezifischen Schonungsgebot?' ist bestmöglich Rechnung zu tragen, handelt es sich bei den nationalen Strafrechtsordnungen doch um hochkomplexe und dynamische Systeme, die durch ein breites Ensemble materiellrechtlicher und prozessualer Normen, dogmatischer Maximen und nationalspezifischer Praktiken der Rechtsdurchsetzung gekennzeichnet sind?' . Auch ist mit einer Vereinheitlichung des materiellen Strafrechts noch nicht das Problem gelöst, dass in den EU-Mitgliedstaaten unterschiedliche Verfahrensordnungen und Strafver-
86 87 88
89 90 91
92
93 94
EuGH JZ 2006, 307 ff. = ZIS 2006, 179 ff EuGI-I NStZ 2008, 703. Vgl. hierzu Eisele, JZ 2008, 248 ff.; Kubiciel, NStZ 2007, 136 ff; Satzger , KritV 2008, 17, 22f[; Zimmermann, NStZ 2008, 662 f[ Vgl. hierzu Heger, ZIS 2009, 406, 412 f.; Zimmermann, Jura 2009,844,847. Vgl. hierzu Heger, ZIS 2009, 406, 411 f.; Zimmermann, Jura 2009,844,846 ff. Exemplarisch hierfür stehen die Beiträge von Albrecht, ZRP 2004, 1; Braum, StV 2003, 576; ders., Strafgesetzlichkeit, passim; Hassemer, ZStW 116 (2004); S. 304; Nestler, ZStW 116 (2004), S. 332; Schünemann, ZIS 2007, 528 ff. Zu zentralen Kritikpunkten vgl. Gieß, IRhSt, Vor 111 Rn. 94 ff.; Satzger, KritV 2008, 17,34ff. Satzger, Europäisierung, S. 166 ff. Perron, ZStW 109 (1997), S. 281, 288, 299; Weigend, ZStW 105 (1993), S. 774, 789.
C. Literaturhinweise
21
folgun gsinten sitäten bestehen". Erfahrene Rechtsvergleicher wei sen scho n se it j eher darauf hin, dass Rechtsangleic hung auf einem Gebiet wie de m Strafrecht ein kom ple xes, de likates und müh seliges Unterfangen dar stellt " . Nichtsdestotrotz dürfe n die Augen vor dem kriminalpoliti schen Hand lungsbe- 38 darf n ich t verschlossen werden . Der durch den Beitr itt ost- und südeuropä ischer Länder auf derze it 27 Mitgl iedstaaten ang ewac hsen e ,.kriminalgeographische Raum Europa'' stellt ei n geme insames - alle EU-Mitgliedstaaten al s solche und die EU als po litische Organi sation betreffendes - kriminalpolitisch es Problem ersten Ranges dar. Da dieser Herausforderung nicht durch natio nale Allei ngä nge ei nze lner Mitgl iedstaaten, sonde rn nur durch ein e möglichst reibu ngslos aufei nand er abge st immte Polizei - und Strafverfolg ungsarbeit aller Mitgliedstaat en begegnet werden kann, besteht nach hier vertretener Auffassung keine sinnvo lle Alternativ e zu einer an rechtsstaa tlieh en Prinzi pien orientierten Weiter entw ickl ung des Europä ischen Strafrechts. Der die nationalen Strafrech tsord nun gen nach w ie vor bestimmende Territorialbez ug vermag den grenzübergreifende n Kriminal itätsform en nicht durch weg adäq uat zu begegnen. Eine Effe ktivie rung der zwischenstaatl ichen Kooperationsform en erscheint unabdin gbar, da sich das tradierte Rech tshilfesystem nach den Erfahrungen der Stra fverfo lgun gspra xis vielfac h als zu schwerfällig und ineffi zient erwiese n hat" . Daher führt kein Weg an einer bere ichsspezi fischen Ang leicheng des materiellen und formellen Strafrech ts und einer Verbesser ung der institutionell-organisatori schen Rahmenbed ingun gen für eine grenzü berschreitend e Strafverfolgung vorbe i. Allerd ings sollte der notwend ige Au sba u der inter nat iona l-arbeitsteili ge n Stra frechtsp flege nich t nur e insei tig an den Belangen und w ünsc hen der Strafverfolgungssei te orienti ert se in, sondern bei allem berec htigten Stre ben nac h Effe ktivität stets auch die rechtsstaatlich ge bote ne Wahrun g der BUrgerrechte im Auge behalten. Derze it eilt die Praxis des Europäischen Strafrechts der Wissenschaft vora us. Es ge hört indes zu den vorne hmste n A ufgaben der Strafrechtswissenscha ft. den Europäls lerungsprozess unter den vorgenannte n Aspekten konstruktiv-kritisch zu beglelren" .
c. Literaturhinweise Ambos. rr ucrnanonates Strafrecht. 2. Aufl.. 200K, § 9 Ambos/Rackow. Erste Überlegungen zu den Konsequenzen des Lissabon-Urteils des
u v ern t für das Europäische Strafrecht. ZIS 2009. 397
Böse, Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon und ihre Bedeutung 1111' die Europäisierung des Strafrechts. ZIS 20IO. 76 Braum, Europäische Strafgesetzlichkeit. 2003. passim Perron. Straff-echtsvercinhcitlichung. S. 135. 145. Jung/Schroth, GA 19&3. 241. 24K, Vgl. v. Bidmoff: ZEuS 2000. 185. 188 L Lige n; Strafrecht in der EU. S. 21; Perron. Strafrechtsvereinheitlichung. S. 135. 147 1T.: Wasmeier, ZStW 116 (2004). S. 320 f. Klip . ZStW 11 7 (2005). S. 889: Kühl. Söllncr-FS. S. 6 13: Vog el. GA 2002. 5 17: Zieschang, ZStW 1[] (20ül) . S. 255.
22
§ I Grundbegriffe und Grundfragen de s Europäischen Stra frechts
Dannecke r, Das Euro päische Strafrecht in der Rechtsprechung des BG H in Strafsachen , in: BGH-FG aus der Wissen sch aft, Bd . IV, 2000, S. 339 ders., Die Dyn amik de s materiellen Strafrechts unter dem Einfluss europ äischer und internationaler Entwicklunge n, ZStW 117 (2005), S. 697 ders., Das mat er ielle Strafrecht im Spannungsfeld des Recht s der EU, JURA 2006, 95 , 173 ders., Die Entwi cklung des Wirt schaftsstrafrecht s unter dem Einfluss des Europarechts, in: Wabn itzlJ ano vsky (Hrsg.), Wirtsch .- und Steuerstra frecht, 3. Aufl ., 2007, 2. Kapitel Esser , Auf dem Weg zu einem europäischen Stra fverfahrensr echt, 2002, passim Hecker, Europäisches Strafrecht als Antwort auf tra ns nationa le Krimin alität", JA 2002, 723 ders., Sind die nat ional en Gren zen des Strafrecht s überwindbar", JA 2007, 561 ders., Der Vertrag von Lissabon und das Europäi sche Strafrecht , lurratio 2009, 81 Heger , Perspektiven des Europäische n Strafrechts nach dem Vertrag von Lissabon, Z IS 2009,406 Kühn e, Strafprozess recht, 8. Aufl ., 2010, Rn . 43-100.4 Krüßmann, Tran snation ale s Strafprozessrecht, 2009, passim Kub iciel, Das .Lissabonv-U rteil und das Europäische Strafrecht , GA 2010, 99 Mayer, Der Vertrag von Lissabon im Übe rblick, JuS 2010,189 Meye r, Die Lissabon-E ntsche idung des BVe rfG und da s Strafrecht , N StZ 2009, 657 Perr on, Sind die nation ale n Grenzen de s Stra frechts überwi ndbar" , ZStW 109 (1997), S. 281 ders., Perspektiven der Europäis chen Strafrechtsintegration, K üper-F S, 2007, 429 Rosenau, Z ur Europäisie rung im Strafrecht - Vom Schutz finan ziell er Interessen der EG zu eine m gem eineuropäisch en Strafgeset zbu ch?, Z IS 2008, 9 Satzge r. Die Europäi sie rung des Strafrechts , 2001 , pas sim ders., Das Strafrecht als Gegenstand europäischer Gesetzgebungs tätigkeit, KritV 2008, 17 Schneider , Die gegenwä rtige Situation der internationa len Kriminologie - ihre Fort sch ritte im ersten Jahrzehnt de s 21 . Jahrhunderts, JR 20 I0, 8 Sch roder, Europäische Richtlinien und deut sch es Strafrecht , 2002, pas sim Sieber, Die Zukunft des Euro päische n Strafrechts , ZStW 121 (2009), 1 Suhr , Die PJZS in Strafsachen nach dem .Lissabonv-U rtei l des BVerfG , ZE uS 2009, 687 Tiedemann, Die Europäisierun g de s Stra frechts, in: Kreuzer/Scheuing/Sieber (Hrsg.), Die Europäisieru ng der mitgl ied staatl iehen Rechtsordnungen in der EU, 1997, S. 134 ders., EG und EU als Rechtsquellen de s Strafrechts, Roxi n-F S, 2001 , S. 1401 ders., Geg enwart und Zukunft des Europäi sche n Strafrechts , ZStW 116 (2004), S. 945 ders., Bemerkunge n zur Z ukunft des euro päische n Strafprozess es, Ese r-F S, 2005 , S. 889 Vogel, Europäis che Kriminalpolitik - europäische Strafrcchtsdogrnatik, GA 2002, 517 ders., Harm on isierung de s Strafrechts in der EU, GA 2003,314. ders., Tran skulturelles Stra frecht, GA 2010, I ders./Matt, Gemeinsa me Stan da rds für Strafverfahren in der EU, StV 2007, 206 Weigend, Die Europäische Men sch enr echt skon vention als deut sches Recht - Koll isionen und ihre Lös ung, StV 2000, 384 Zieschang, Chance n und Risiken der Europäisierung des Strafrechts , ZStW 113 (2001), 255 ders., Der Einflu ss der EU auf das deutsche Stra frecht, Tiedemann-FS, 2008, 1303 Zimmermann, Tendenzen der Stra frechtsang leichung in der EU, ZI S 2009, I ders., Die Au slegung künftiger EU-Strafrechtskompetenzen nach dem Lissabon-Urteil de s BVe rfG, Jura 2009,844 Zäller, Europäis che Strafgeset zgebung, Z IS 2009, 340
E. Zusammenfassung von § I
23
D. Rechtsprechungshinweise EuGHE 1989, 195 (Rechtssache Cowan - Opferent schädigun gsanspruch und Diskriminierungs verbot ) EuGI-IE 1999, 11 (Stra fverfahren gege n Calfa wegen unerlaubten Betäubungsmittebes itzes) EuGI-I EuZW 1999, 82 (Strafverfahren gegen Bickel und Franz - Anspruch auf Gleichbehandlung im Strafverfahren) EuGH NJW 2003 , 1173 (transnationale s Doppelbestrafung sverbot) EuGHE 2003 , 3735 (Bußgeldverfahren gegen Steffe nsen - Beweisverwertungsverbot) EuGI-I ZIS 2006 , 179 (Strafrechtliche Harmon isierungskomp etenz der EG - Umwe ltpolitik) EuGI-I NJW 2007 , 1515 (Strafverfahren gege n Placanica u. a. - Glückssp ielstrafrecht und Dienstl eistungsfreiheit) EuGH N StZ 2008 , 703 (Strafrechtliche Harmoni sieru ngskompetenz der EG - Verkehr spolitik) BVerfG NJW 2009 , 2267 = EuZW 2009 ,552 (Vert rag von Lissabon)
E. Zusammenfassung von § 1 Obwohl die europäischen Staaten über ein gemein sames rechtskulturelles Erbe 39 verfugen , das sich in fundamentalen Prinzipien ihrer Strafrechtsordnungen widerspiegelt , ist ihr Strafrecht höchst unterschiedlich ausgestaltet. Ein echte s Europastrafrecht - etwa in Gestalt eines europäi schen Strafgesetzbuche s oder einer europäischen Strafprozessordnung - existiert derzeit nicht. Dennoch hat sich in der Strafrechtswissenschaft die Rede vom Europäischen Strafrecht inzwischen als allgemein anerkannter Sammelbegriff für einen eigenst ändigen strafrechtlichen Forschungsgegenstand durchgesetzt. Er beschreibt eine Rechtsmaterie eigener Art, die sowohl strafrechtsrelevantes Unionsrecht, regionales Völkerrecht als auch das hiervon beeinflusste nationale Strafrecht umfasst. Als Wissenschaftsdisziplin stellt das Europäische Strafrecht eine rechtswissenschaftliche Querschnitt smaterie dar, die zahlreiche, sich teilweise überschneidende Probleme aus den Bereichen Kriminalpolitik, Strafrechtsdogmatik, Strafverfahrensrecht, Kriminologie, Europarecht sowie Verfassungs- und Völkerrecht - jeweils unter Einbeziehung rechtsvergleichender Forschung - aufwirft . Die Globalisierung der Kriminalit ät und deren Hineinwirken in den "kriminal- 40 geographischen Raum" Europa stellen die europ äische Kriminalpolitik vor große Herausforderungen. Die nationalen Strafrechtssysteme sind vor diesem Hintergrund in einen dynami sch verlaufenden Prozess der Europäisierung eingebunden, der sich vor allem auf die Aktivitäten des Europarates, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten sowie auf den Einfluss des Unionsrechts zurückfuhren lässt. Als zentrale Europäisierungsfaktoren erweisen sich die vom EGMR ausgeformten Garantien der EMRK, die vom EuGH konkretisi erten Prinzipien des Unionsrechts (Assim ilierung , Vorrangprinzip, unionsrechtskonforme Auslegung) sowie die breit gefächerte Harmonisierungspolitik der Union.
B. Hecker, Europäisches Strafrecht, DOI 10.1007/978-3-642-13127-1_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
26
§ 2 Strafrechtliche Spezi alm ater ien mit grenzüberschreitenden Bezü gen
dinierung kollidierender Geltungsansprüche konkurrierender Rechtsordnungen befassen, indem sie festlegen , welches nationale (inländische oder ausländische) Recht bei der konkreten Sachents cheidung zugrunde zu legen ist, wenden deutsche Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte ausschließlich deutsches Strafrecht an-. Eine sog. Fremdrechtsanwendung im Sinne einer unmittelbaren Anwendung ausländischer Strafnormen ist im geltenden deutschen Strafanwendungsrecht nicht vorgesehen . Dementsprechend kann sich die Strafverfolgung durch deutsche Strafverfolgungsbehörden lediglich auf solche Taten beziehen, die nach innerstaatlichem Recht strafbar sind. Allerding s müssen sich die Rechtsanwender im Rahmen der Tatortklausel des § 7 StGB (Rn. 46, 58) mit der Frage befassen , ob die in Rede stehende Tat nach ausländischem Strafrecht strafbar ist' . Auch kann die Auslegung von Blankettstrafuormen, verwaltungsakzessorischen Straftatbeständen oder normativen Tatbest andsmerkmalen von nach ausländischem Recht zu beurteil enden Rechtsfragen abh ängen' . 3 Die Regelungen der §§ 3-7, 9 StGB sind konstitutiver Bestandteil der primären Strafrechtsnormen, indem sie den Anwendungsbereich beschreiben, für den sich das deutsche Strafrecht einen Bewertungsanspruch zuerkennt. Die Anwendbark eit deutschen Strafrechts ist freilich kein Tatbestandselement, sondern objektive Bedingung der Strafbarkeit, auf die sich der Vorsat z des Täters nicht erstrecken muss". Lassen die Regelungen des internationalen Strafrechts die Ausübung deutscher Strafgewalt im Einzelfall nicht zu, so stellt dies nach deutscher Rechtspraxis ein Prozesshindernis dar, das zur Einstellung des Verfahrens führt ". Die Erstreckung des innerstaatlichen Strafrechts auf Lebenssachverh alte mit Auslands- bzw. Ausländerb ezug birgt die Gefahr in sich, dass ein Täter wegen derselben Tat von mehreren Staaten gleichzeitig oder nacheinander verfolgt wird" . Das Nebeneinander mehrerer nationaler Strafansprüche wirft die Frage auf, ob bzw. inwieweit der Täter vor einer mehrfachen Verfolgung und Bestrafung geschützt ist. Hierauf wird im Rahmen des transnationalen Doppelbestrafungsverbots innerhalb der EU ("ne bis in idern") näher einzugehen sein (§ 13).
MüKoStG ß IAmbos, Vor §§ 3- 7 Rn. 2; ders. , IntStR, § 1 Rn. 5; Satzger, IntStR, § 3 Rn. 4; LK-Werle/Jeß berger, Vor § 3 Rn. 8, 330 ; dies., JuS 2001 , 35, 36. Fü r Fremdrechtsan wendung innerhalb der EU de lege ferenda Deiters, Z IS 2006 , 472 Ir OL G Celle NJW 2001 , 2734; MüKo StGB IAmbos, § 7 Rn. 5 ff.; ders ., IntStR, § 3 Rn. 49 ff.; Satzger, IntStR, § 3 Rn. 5; LK-WerleIJeßberger, Vor § 3 Rn. 332 , § 7 Rn. 21 ff. Walter, Ju S 2006, 870 ; LK-WerleIJeßberger, Vor § 3 Rn. 333 ff. Ambos, IntStR, § 1 Rn. 9; Fischer, Vor §§ 3-7 Rn. 30; Satzger. Jura 201 0, 108, 111; Werlel.Ießberge r, Vor § 3 Rn. 452; a. A. Böse, Ma iwald- FS, S. 61, 69 Ir ; Pawlik, Z IS 2006, 274 , 283 ("Ta tbestand smerkmale") . BGH St 34,1 ,3 f.; BGH NJW 1995, 1844, 1845; NS tZ 1997 , 119; MüKo StGBIAmbos, Vor §§ 3- 7 Rn. 4; LK- WerleIJeßberger, Vor § 3 Rn. 10. Satzger , IntStR, § 3 Rn. 6; LK-WerleIJeßberger, Vor § 3 Rn. 45 ff., 340 .
A. Internationales Strafrecht
27
11. Schutzbereich deutscher Straftatbestände Bei Sachverhalten mit Auslands- bzw. Ausländerbezug stellt sich unabhängig von 4 der Frage des Geltungsbereichs deutschen Strafrechts das jeweils gesondert zu erörternde Problem , ob der einschlägige deutsche Straftatbestand überhaupt den Schutz ausländischer Rechtsgüter und Interessen umfasst oder ob er eine tatbestandsimmanente Beschränkung auf einen rein inländischen Rechtsgüterschutz aufweist". Bei der Beantwortung dieser Frage kann nicht etwa auf die geografische Lage des Tatobjekts oder die Staatsangehörigkeit von Täter und Opfer, also gerade nicht auf internationalstrafrechtliche Kriterien abgestellt werden . Vielmehr ist durch eine umfassende Normauslegung die Reichweite des von ihr intendierten Rechtsgüterschutzes zu ermitteln. Beispielsweise bezwecken die Staatsschutzdelikte (§§ 80 ff. StGB) nur den 5 Schutz der Bundesrepublik Deutschland vor Angriffen auf ihre innere und äußere Sicherheit. Es ist nicht Aufgabe des deutschen Strafrechts, ausländische Staaten gegen Angriffe auf ihre Staatsgewalt und Souveränität zu schützen 10. Ebenso ist eine Widerstandshandlung, die ein deutscher Hooligan gegenüber einem ausländischen Polizeibeamten im Ausland verübt, keine nach § 113 I StGB strafbare Handlung, da diese Bestimmung nur der Durchsetzung innerstaatlicher Vollstreckungsakte zu dienen bestimmt ist und demgemäß nur Amtsträger geschützt werden, denen nach deutschem Recht eine bestimmte hoheitliche Funktion obliegt (vgl. auch § II I Nr. 2 Iit. a-c StGB)l1. Im Übrigen erschließt sich der Schutzbereich von Straftatbeständen im Hinblick auf die Einbeziehung nichtdeutseher Rechtsgüter bzw. Interessen nicht immer so eindeutig aus der tatbestandliehen Umschreibung wie bei den Staatsschutz- oder Widerstandsdelikten. So unterfallt z. B. die Verletzung einer nach ausländischem Recht begründeten Unterhaltspflicht durch einen im Inland lebenden Ausländer oder auch eines Deutschen gegenüber einem im Ausland lebenden Ausländer nicht dem Tatbestand des § 170 I StGB , da diese Bestimmung nicht den Schutz ausländischer Sozialbehörden vor ungerechtfertigter Inanspruchnahme bezweckt". Ist dagegen ein im Ausland lebender Deutscher als Unterhaltsberechtigter betroffen, bleibt für § 170 I StGB Raum 13. Individualrechtsgüter wie Leben (§§ 211 ff. StGB), Gesundheit (§§ 223 ff. StGB), Eigentum (§§ 242 ff. StGB), Vermögen (§§ 263, 266 StGB) sowie Fortbewegungs- und Willensfreiheit (§§ 239 , 240 StGB) werden auch dann von
10
11 12
13
Ambos, IntStR , § I Rn. 31 ff:; Satzger , IntStR, § 3 Rn. 8 f., § 6 Rn. I Ir. Nach h. M. geht die Frage nach dem tatbestandl iehen Schutzbereich der Geltungsfrage " logisch" vor ; vgl. hierzu MüKoStGB/Ambos , Vor §§ 3-7 Rn. 89; SSW-Satzger, Vo r §§ 3-7 Rn. 7; LK-Werle/Jeßberger, Vo r § 3 Rn. 273 . Vgl. zu Aufb aufragen in der Fallbearbeitung Satzger, Jura 20 I0, 108, 111 ; Rengier, AT, § 6 Rn. 3 ff.; Walter, JuS 2006 , 870 ff. ßGHSt 22, 282 , 285 ; 29,73,75 ff.; MüKoStGI3 /Ambos, Vor §§ 3-7 Rn. 81; Fischer, Vor § 3 Rn. 9; SSW-Satzger, Vor §§ 3-7 Rn. 9; LK-WerlelJeßberger, Vor § 3 Rn. 277, 294 ff SSW-Satzger, Vor §§ 3-7 Rn. 9; LK-WerlelJeßberger, Vor § 3 Rn. 295 . BGHSt 29,85,89; BayObLG NJW 1982 1243; LK-Werle/Jeßberger , Vor § 3 Rn. 307 . KG JR 1985, 516 ; Fischer, § 170 Rn. 3 a.
28
§ 2 Strafrechtliche Spezi almaterien mit grenzüberschreitenden Bezügen
den einschlägigen deutschen Straftatbeständen geschützt, wenn der von einer Inlandstat betroffene Rechtsgutsträger Ausländer ist!' . Der von einem Deutschen im Ausland begangene Landfriedensbruch unterliegt gern. § 7 11 Nr. I StGB der deutschen Strafgewalt, da es sich bei § 125 StGB um einen Tatbestand handelt , der besonders gefährliche, die öffentliche Sicherheit in hohem Maße beeinträchtigende Angriffe auf Individualrechtsgüter mit Strafe bedroht". Verkehrsdelikte (namentlich §§ 3 16, 315 c, 142 StGB , § 21 StVG) , die von einem Deutschen im ausländischen Straßenverkehr begangen werden , sind nach Maßgabe des § 6 Nr. 9 bzw . § 7 I Nr. I, 11 Nr. 1 StGB nach deutschem Strafrecht verfolgbar, soweit durch diese Taten (auch) dem Individualrechtsgüterschutz dienende Tatbestände verwirklicht werden 16 . 6 Der Schutzbereich deutscher Strafrechtsnormen kann auch durch unionsrechtliche Faktoren, namentlich durch das Assimilierungsprinzip, dergestalt überlagert sein, dass er sich auch auf supranationale Rechtsgüter bzw. Unionsinteressen erstreckt (§ 7 Rn. 31) 17. Typische Beispiele hierfür bilden zum einen der Tatbestand des Meineids (§ 154 StGB) , der kraft einer primärrechtlichen Assimilierungsbestimmung auch auf Angriffe gegen die supranationale Gerichtsbarkeit des EuGH anzuwenden ist (§ 7 Rn. 9), zum anderen der Subventionsbetrug (§ 264 I StGB), der sich im Lichte des durch die "Mais-Rechtsprechung" des EuGH konkretisierten Loyalitätsgebotes (Art . 4 III UA 2, 3 EUV; ex-Art. 10 EGV) auf den Schutz des EU-Finanzhaushalts zu erstrecken hat (§ 7 Rn. 69 ff.). Wenn eine "Gleichstellungsklausel" nach dem Vorbild der §§ 162 I, 264 VII Nr. 2 StGB fehlt, kann insbesondere die unionsrechtskonforme Auslegung zu einer Schutzbereichsausdehnung nationaler Straftatbestände auf supranationale Rechtsgüter führen 18. 7 Ein höchst praxisrelevantes, jedoch wissenschaftlich noch wenig geklärtes Diskussionsfeld für die Frage der Europäisierung des Schutzbereichs nationaler Straftatbestände bietet das Umweltstrafrecht im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Umweltbeeinträchtigungen' ", In der Literatur wird vorgeschlagen, die deutschen Umweltdelikte, die auf eine "Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten " abstellen (§§ 324 a, 325 , 325 a StGB) , im Lichte des aus Art. 4 III EUV abzuleitenden Assimilierungsgebotes als europarechtsakzessorische Tatbestände zu interpretieren (§ 10 Rn. 73). Diesem Auslegungsvorschlag zufolge umfassen die nach der Legaldefinition des § 330 d Nr. 4 lit. a StGB tatbestandsrelevanten Rechtsvorschriften nicht nur deutsche Umweltgesetze, sondern auch EU-Verordnungen sowie das gesamte harmonisierte Umweltrecht des EU-Mitgliedstaats, auf
14
15
16 17 18 19
BGHSt 29,85,88; Fischer, Vor §§ 3-7 Rn. 8; LK-WerleIJeßberger, Vor § 3 Rn. 274 . OLG Celle NJW 2001 , 2734 , 2735 ; Fischer, § 125 Rn. 2. ßGHSt 20,45,51 f.; ßayObLG VRS 26, 100, 101; MüKoStGßIAmbos, Vor §§ 3-7 Rn. 91; Fischer, Vor §§ 3-7 Rn. 11; LK-WerlelJeßberger, Vor § 3 Rn. 311 . SSW-Satzger, Vor §§ 3-7 Rn. 11; LK-WerlelJeßberger, Vor § 3 Rn. 280 Ir Vormbaum , Schutz der Recht sgüte r, S. 94 ff. ; LK-WerleIJeßberger, Vor § 3 Rn. 285 . S/S-Eser, Vor §§ 3-7 Rn. 42; S/S-Heine, Vor §§ 324 ff. Rn. 7 e; Dann eckerfStr einz , EUDUR, § 8 Rn. 47 m. w. N.
A. Internationale s Strafrecht
29
dessen Gebiet die tatbestandsmäßige Handlung vorgenommen wird" . Der Schutzbereich der §§ 324 ff. StGB erstreckt sich demnach auch auf die Umweltgüter in den anderen Elf -Mitgliedstaaten" . Die hiermit unver einbare frühere Judikatur des BGH22, nach welcher das deuts che Abfallstrafrecht nur inländische Umweltgüter schütze, ist ohnehin überholt, seitdem die Beschränkung des Gewässerbegriffs in § 330 d Nr. I StGB a. F. auf Tatobjekte " im räumlichen Geltungsbereich diese s Gesetzes" durch das 2. UKG23 aufgehoben wurde . Deutsches Umweltstrafrecht ist somit prinzipiell auch auf Fälle mit grenzüberschreitender Dimension anw endbar. Weitere Voraussetzung ist allerdings, dass die §§ 3-7, 9 StGB die Ausdehnung deutscher Strafgewalt im konkreten Einzelfall gestatten (Rn . 37 ff.). Die Staat en können schließlich aufgrund von völkerrechtlichen Vereinbarun- 8 gen verpflichtet sein, ihren Strafrechtsschutz auch fremd- oder übersta atlichen Kollektivrechtsgütern angedeihen zu lassen> . So hat die Bundesrepublik Deutschland den Schutzbereich bestimmt er Strafvorschriften (§§ 93 ff., 109 d ff., 113 ff., 333,334 StGB) zugunsten der NATO- Vertragspartner erweitert.
111. Völkerrechtliche Grundlagen des internationalen Strafrechts Es besteht Einigkeit darüber, dass eine unbegrenzte Ausd ehnung der nationalen 9 Strafgewalt unzul ässig ist" . In welch em Umfang ein Staat seine Strafgewalt in Anspruch nehmen und ausdehnen darf, wird durch das Völkerrecht bestimmt, das in allen Fällen mit Auslandsberührung die Geltendmachung eines legitimierenden Anknüpfungspunkts ("g enuine link") verlangt, der im Einzelfall einen unmittelbaren Bezug zur Strafverfolgung im Inland herstellt" . Aus dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller Staaten folgt , dass diese ihre Strafgewalt jedenfalls auf das eigene Territorium und die eigenen Staatsangehörigen erstrecken dürfen . Die Ausdehnung der Strafgewalt über das eigene Staatsgebiet darf nur erfolgen, wenn kein völkerrechtliches Verbot entgegensteht. Eine willkürliche Ausdehnung
20 21
22 23 24
25
26
Hecker, Z StW 115 (2003), S. 880, 898 ff. ; S/S -Heine, § 330 d Rn . 12; S/S -Heine , Vor §§ 324 ff. Rn. 7 e, § 330 d Rn. 3; DanneckerlStreinz, EUD UR , § 8 Rn. 47 ; Vormbaum. Schutz der Rechtsg üter, S. 155 Ir BGH St 40, 79 (zu § 326 I Nr. 3 StG B a. F.); hiergegen zutr. Reng ier. JR 1996,34 ff. Z weites Gesetz zur Bekä mp fung der Umweltkrimi nalität v. 27. Ju ni 1994 (BG B!. I 1994, 1440). S/S -Eser , Vor §§ 3-7 Rn . 3; Fischer, Vor § 3 Rn . 5; SS W -Sa tzger , Vor §§ 3-7 Rn. 10; LK-Werle/Jeßberger, Vor § 3 Rn . 51 ff. Vgl. hierzu den ber ühmten Lotus-F all des IG H v. 7. Sept ember 1927 (P CIl Ser. A Nr. 10); MüKoStG BIAmbos, Vor §§ 3- 7 Rn. 17; ders., IntStR, § 2 Rn. I ff.; Rath , JA 2006 ,435; LK-Werle/Jeßberger, Vor § 3 Rn. 19 f[ IGH ICJ-Rep. 1955, 24 ff. ("Nottebohm") ; IGH ICJ-Rep. 1970, I ff. ("B arcelona Tract ion ") ; BVerfGE 63, 343, 369; 92, 277, 320 f.; BGH St 34, 334, 336; 45, 64 , 66; 46,212,225 ; BayObLG NJW 1998,393 ; MüKo StGB IAmb os, Vor §§ 3- 7 Rn. 21 ff.
30
§ 2 Strafrechtliche Spezi alm aterien mit grenzüberschreitenden Bezügen
der staatlichen Strafgewalt, die einem "Strafrechtsimperialismus" gleichkäme, verstieße gegen das völkerrechtliche Nichteinmischungsgebotv . 10 Bei der Prüfung , ob eine extraterritoriale Strafgewaltserstreckung mit dem Nichteinmischungsgebot vereinbar ist, muss auf einer ersten Stufe festgestellt werden , ob der strafrechtsrelevante Lebenssachverhalt eine besondere Nähebeziehung zu dem Staat aufweist, der die Ausübung der Strafgewalt beansprucht. Wenn diese vorliegt, spricht eine Vermutung für die völkerrechtliche Unbedenklichkeit der Strafgewaltsausdehnung. Auf einer zweiten Stufe ist sodann zu prüfen , ob der Ausübung extraterritorialer Strafgewalt im konkreten Fall gleichwohl ein völkerrechtliches Verbot entgegensteht, wobei insoweit nur das Willkür- und das Rechtsmissbrauchsverbot in Betracht kommen " . Im Rahmen dieser materiellvölkerrechtlichen Prüfung ist unter Abwägung der betroffenen Staaten- und Souveränitätsinteressen darüber zu befinden , ob der abstrakt-generelle Anknüpfungspunkt auch die konkrete Hoheitsausübung legitimiert. Dabei gilt die Maxime , dass jeder Staat seine Strafgewalt soweit als möglich, aber im Verhältnis zu anderen Staaten nur soweit als nötig ausdehnen darf, um deren Interessen nicht ungebührlich zu verletzen". Von einer ungebührlichen Verletzung der fremdstaatlichen Souveränität ist auszugehen, wenn sich die Strafgewaltsausdehnung im konkreten Fall als unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen Staates darstellt. 11 Als völkerrechtlich legitimierende Anknüpfungspunkte kommen insbesondere der Begehungsort einer Tat (Territorialitätsprinzip ) 30, die Staatsangehörigkeit des Täters bzw. Opfers (aktives und passives Personalitätsprinzip)!' , der Schutz bestimmter inländischer Rechtsgüter (Schutzprinzipjv bzw. von Interessen universellen Charakters (Weltrechtsgrundsatz)" , das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege" sowie das Kompetenzverteilungsprinzip> in Betracht. Im deutschen Strafanwendungsrecht (§§ 3-7, 9 StGB) finden alle genannten Prinzipien - zumeist in kombinierter Form - ihren spezifischen Ausdruck, freilich mit unterschiedlicher Gewichtung. Aus völkerrechtlicher Sicht sind sie jedoch nur insoweit als verbindlich hinzunehmen, als sie mit dem Nichteinmischungsgebot (das als allgemeine Regel des Völkerrechts gern. Art. 25 GG den innerstaatlichen einfachen Gesetzen vorgeht) vereinbar sind" .
27 28 29 30 31 32
33 34
35 36
MüKoStGßIAmbos, Vor §§ 3-7 Rn. 19 ff.; ders., IntStR, § 2 Rn. 2 ff.; Ligeti , Strafrecht in der EU, S. 70 ff.; Kasper , MDR 1994, 545. MüKoStGBIAmbos, Vor §§ 3-7 Rn. 22 m. w. N . MüKoStGBIAmbos , Vor §§ 3-7 Rn. 23 m. w. N . Ambos, IntStR, § 3 Rn. 4 ff.; LK-WerleIJeßberger, Vor § 3 Rn. 222 ff. Ambos, IntStR, § 3 Rn. 39 Ir , 71 f f.; LK-Werle/Jeßberger, Vor § 3 Rn. 228 ff., 232 ff. Ambos, IntStR , § 3 Rn. 68 Ir ; LK-Werle/Jeßberger, Vor § 3 Rn. 225 ff. Ambos, IntStR, § 3 Rn. 93 Ir ; LK-Werle/Jeßberger, Vor § 3 Rn. 237 ff. Ambos, IntStR, § 3 Rn. 116 ff.; LK-Werle/Jeßberger, Vo r § 3 Rn. 248 f. Ambos, IntStR, § 3 Rn. 128; LK-WerleIJeßberger, Vor § 3 Rn. 255 f. BGHSt 27,30,31 f.; MüKoStGBIAmbos, Vo r §§ 3-7 Rn. 24.
A. Internation ale s Strafrecht
31
IV. Prinzipien des internationalen Strafrechts
1. Territorialitätsprinzip a) Inlandsbegriff Nach § 3 StGB gilt deutsches Strafrecht für alle im Inland begangenen Taten. 12 Der Begriff des " Inlands" umfasst das gesamte Staatsgebiet, in dem deutsches Strafrecht aufgrund hoheitlicher Strafgewalt seine Ordnungsfunktion geltend macht" . Seit dem Beitritt der DDR umfasst das Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland die in der Präambel des GG genannten 16 Bundesl änder (staatsrechtlicher Inlandsbegriff). Zum Inland gehören neben dem deutschen Landgebiet (einschließlich deutscher Exklaven, Zollgebiete und Freihäfen) auch die Eigengewässer, das Küstenmeer und der Luftraum über dem Staatsgebiet, nicht jedoch der Festlandsockel" : In welchem Raum ein Staat seine Strafgewalt ausüben darf, ist im Übrigen vielfach Gegenstand völkerrechtlicher Vereinbarungen" ; Bsw. findet nach einem deutsch-schweizerischen Abkommen auf Straftaten, die bei einer vorgeschobenen deutschen Grenzabfertigungsstelle in der Schwei z aus Anlas s der Grenzkontrolle begangen werden (z. 8. Trunkenheitsfahrt bei der beab sichtigten Einreise) deutsches Strafrecht Anwendung" : Fall 1: Die Botschaft e ines ausl änd isch en Staat es in Berlin wird von Demonstranten be- 13 setzt. Bei eine m Handgemenge im Eingan gsbereich de s Bot sch aftsgel ände s löst sich durch Una chtsa mkeit ein Schuss aus der Dien stw affe de s deutschen Polizeibeamten P, wodurch der Demonstrant D - ein ausländis cher Staatsan gehör iger - zu Tode kommt. Kann P wegen dieses Vorfalles in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden?"
Lösungshinweise Fall I : P kann in Deutschland wegen Verdachts der fahrlässi- 14 gen Tötung (§ 222 StGB) gem . § 3 StGB strafrechtlich verfolgt werden , wenn der Eingangsbereich der ausländi schen Botschaft zum deutschen Staat sgebiet gehört. Nach h. M. gelten auch die Dienst- und Wohngebäude diplomatischer und konsularischer Vertretungen als Inland" . Das Territorialitätsprinzip ermöglicht somit die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts und legitimiert die Ausübung innerstaatlicher Strafgewalt.
37 38
39
40 41 42
BGH St 30, 1; 32, 297; S/S-Eser, Vor § 3-7 Rn. 47. Amb os, IntStR , § 3 Rn. 14 ff.; SS W -Satzge r, § 3 Rn. 6; Rath, JA 2007, 26, 29; Walter, JuS 2006, 870, 871; LK-WerlelJeßberger , § 3 Rn. 24. LK-WerlelJeß berger, § 3 Rn. 26 Ir O LG Karl sruh e N StZ-RR 2006, 87; vgl. au ch BGH St 31,2 I 6. Werlel.Ießberger, Ju S 2001, 35, 38. RGSt 69, 54, 55; OL G Köln StV 1982,471 ; MüKoStGB IAmbos, § 3 Rn. 10; LKWerlel.Ießberger, § 3 Rn. 68.
32
§ 2 Strafrechtliche Spezi alm aterien mit grenzüberschreitenden Bezügen
15 Besondere Bedeutung hat das Territorialitätsprinzip im Recht der Ordnungswidrigkeiten, da die Regelungen des OWiG grundsätzlich nur auf Inlandstaten Anwendung finden (§§ 5, 7 OWiG)43. Insoweit kann auf die obigen Ausführungen (Rn . 12) verwiesen werden . Als Inlandstaten gelten im Ordnungswidrigkeitenrecht auch Handlungen, die auf einem Schiff oder Luftfahrzeug begangen werden, das berechtigt ist, die Bundesflagge oder das Staatszugehörigkeitszeichen der Bundesrepublik Deutschland zu fuhren . § 5 OWiG lässt ferner eine Ausdehnung der deutschen Bußgeldgewalt auf Handlungen außerhalb des räumlichen Geltungbereichs des OWiG für den Fall zu, dass dies durch Gesetz bestimmt wird . Bei diesen sog . .V orbehaltsklauseln'' kann es sich um originäre innerstaatliche Bestimmungen oder um Regelungen aufgrund ratifizierter internationaler Abkommen handeln".
b) Ubiquitätsprinzip 16 Das in § 3 StGB verankerte Territorialitätsprinzip wird ergänzt durch das in § 9
StGB normierten Ubiquitätsprinzip. Begangen ist die Tat demnach an jedem Ort , an dem der Täter gehandelt hat (§ 9 I, I . Var. StGB) oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen (§ 9 1,2. Var . StGB) oder an dem der zum Tatbestand gehörende Erfolg eingetreten ist (§ 9 I, 3. Var. StGB) oder nach der Vorstellung des Täters eintreten sollte (§ 9 I, 4. Var . StGB). Einen tatortbegründenden Erfolg bewirkt auch der Eintritt der schweren Folge eines erfolgsqualifizierten Delikts" (z. B. Tod des Opfers im Rahmen der §§ 227 1,251 StGB) bzw . der objektiven Bedingung der Strafbarkeit" (vgl. §§ 231 I, 283 I, 323 a I StGB) im Inland . Sobald ein Mittäter (§ 25 11 StGB) im Inland handelt, wird dies den anderen Mittätern zugerechnet, so dass auch deren Tatbeiträge als im Inland begangen betrachtet werden" . Ebenso wird dem mittelbaren Täter (§ 25 I S. I, 2. Var. StGB) die Handlung seines Tatwerkzeugs zugerechnet. Handlungsort des mittelbaren Täters ist folglich der Ort, an dem er selbst oder sein Tatmittler eine tatbestandsmäßige Aktivität entfaltet hat". Die Teilnahme (Anstiftung und Beihilfe) ist sowohl am Ort der Haupttat (§ 911 S. 1,1. Var . StGB) als auch an jedem Ort begangen, an dem der Teilnehmer gehandelt hat (§ 9 11 S. 1,2. Var . StGB) oder
43 44 45
46
47
48
KKOWiG/Bohn ert, Einle itung Rn. 181; KKOWiG/Rogall , § 5 Rn. 6 ff. KKOWiG/Rogall, § 5 Rn. 31 ff. MüKoStGB/Amb os/Ru egenberg , § 9 Rn. 21; LK-Werle/Jeßberger, § 9 Rn. 35; Rath, JA 2006, 435 , 438 . ßGHSt 42 ,235, 242 ; ßGI-I StV 1997,23; MüKoStGß/Ambos/Ruegenberg, § 9 Rn. 21; S/S- Eser, § 9 Rn. 6 a; Hilgendorj, ZStW 113 (200 I) , S. 662; Werle/Jeßberger, § 9 Rn. 37 ; a. A. Gottwald, JA 1998, 343 ; Rath, JA 2006, 435 , 438 ; Satzger, NStZ 1998, 117; ders., Jura 2010 , 108, 113; ders., IntStR, § 5 Rn. 29 ff. BGHSt 39, 88, 90; BGH NJW 2002, 3486, 3487 ; NStZ-RR 2009, 197; MüKoStGß/Ambos/Ruegenberg, § 9 Rn. 10; Rengier. AT, § 6 Rn. 10; Rotsch , Z IS 2010 , 168,172 ff.; Satzge r. IntStR, § 5 Rn. 19; ders ., Jura 2010 ,108,114; Werlel.Ießberger, § 9 Rn. 13; a. A. SK /Hoyer , § 9 Rn. 5. BGH wistra 1991 , 135; MüKoStGB/Amb os/Ru egenberg , § 9 Rn. 10; Rath, JA 2007, 26, 27 ; Rengier, AT, § 6 Rn. 10; Satzger, IntStR, § 5 Rn. 20 ; ders., Jura 2010, 108, 114; Werle/Jeßberger, § 9 Rn. 14; a. A. SK /Hoyer, § 9 Rn. 5.
A. Internationales Strafrecht
33
im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen (§ 9 11 S. 1, 3. Var. StGB) oder an dem nach seiner Vorstellung die Haupttat begangen werden sollte (§ 9 11 S. 1,4. Var. StGB). Hat der Teilnehmer an einer Auslandstat im Inland gehandelt, so gilt für die Teilnahme das deutsche Strafrecht, auch wenn die Tat nach dem Recht des Tatorts nicht mit Strafe bedroht ist (§ 9 11 S. 2 StGB). aa) Anwendungsbeispiele
(1) Täter handelt im Inland : T schießt im Bereich des deutsch-schweizerischen 17 Grenzüberganges von Konstanz (0) aus mit Tötungsvorsatz auf sein nur wenige hundert Meter entferntes, in Kreuzlingen (CH) stehendes Opfer O. Deutsches Strafrecht (§ 212 StGB bzw. §§ 212, 22 StGB ; ggf. §§ 223, 224 I Nr. 2, Nr. 5 StGB) findet auf diesen Fall - unabhängig von einem nach Schweizer Recht begründeten Strafanspruch - gem . §§ 3, 9 I, I. Var. StGB Anwendung. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt hierfür ist der deutsche Handlungsort. (2) Eingetretener oder vorgestellter Erfolgsort im Inland: T schießt im Be- 18 reich des deutsch-schweizerischen Grenzüberganges von Kreuzlingen (CH) aus mit Tötungsvorsatz auf sein nur wenige hundert Meter entferntes, in Konstanz (0) stehendes Opfer O. In dieser Fallkonstellation ist deutsches Strafrecht im Hinblick auf den in Deutschland gelegenen Erfolgsort anwendbar, falls 0 verletzt oder getötet wird (§§ 3, 9 1,3 . Var. StGB) . Verfehlt die Kugel den 0 , ist der Tötungsversuch nach deutschem Strafrecht verfolgbar, weil der tatbestandliehe Erfolg nach der Vorstellung des T auf deutschem Territorium eintreten sollte (§§ 3, 9 1,4. Var. StGB). Fallvariante: Angenommen, T schießt in Kreuzlingen auf 0 , der sich sodann schwer verletzt über die Grenze nach Konstanz retten kann , wo er später den Folgen der Schussverletzung erliegt, so findet auch auf diese Fallvariante wegen Erfolgseintritts in Deutschland das deutsche StGB Anwendung" : Falls die Konstanzer Ärzte das Leben des 0 retten können und das Tötungsdelikt des T damit im Versuchsstadium stecken bleibt, kann die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts jedenfalls nicht auf das Territorialitätsprinzip gestützt werden. Denn T hat im Ausland gehandelt, der Erfolg des Körperverletzungsdelikts ist im Ausland eingetreten und der Erfolg des Tötungsdelikts sollte nach der Vorstellung des T ebenfalls im Ausland eintreten. (3) Inländischer Handlungs- oder Erfolgsort bei Unterlassungsdelikt: 19 Sachverhalt wie in den Beispielsfällen (I) und (2) jeweils mit dem Zusatz, dass der Bruder B des 0 neben T steht , als dieser sich gerade anschickt, auf 0 zu schießen. Obwohl B zutreffend erfasst, was T vorhat und dies verhindern könnte, bleibt er untätig, weil ihm der Tod des 0 aufgrund eigener Interessen gelegen kommt. In Beispielsfall (I) ist auf die Unterlassungstat des B (§§ 212, 13 StGB) deutsches Strafrecht anwendbar, weil er die Erfolgsabwendung in Konstanz - also auf deutschem Gebiet - hätte vornehmen müssen (§§ 3, 9 1,2. Var . StGB)50. In Beispielsfall (2) ergibt sich die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts daraus, dass der zum Tatbestand (des unechten Unterlassungsdelikts) gehörende Erfolg in Deutschland 49
50
Vgl. hierzu die Parallelfälle von Rath, JA 2006, 435, 436 und WerlelJeßberger, JuS 2001, 35, 39. Ratsch, ZIS 2010,168,172 Ratsch, ZIS 2010,168,172
34
20
21
22
23
§ 2 Strafrechtliche Spezi alm aterien mit grenzüberschreitenden Bezügen
Deutschland eingetreten ist (§§ 3, 9 I, 3. Var. StGB) bzw . nach der Vorstellung des B in Deutschland eintreten sollte (§§ 3,9 1,4. Var . StGB). (4) Teilnehmer an einer Inlandstat handelt im Ausland : Sachverhalt wie in den Beispielsfällen (1) und (2) jeweils mit dem Zusatz, dass A den T vom Ausland aus telefonisch zur Tötung des 0 bestimmt hat. In beiden Fallkonstellationen ist A wegen Anstiftung zum (versuchten) Tötungsdelikt nach deutschem Strafrecht verfolgbar. Denn nach § 9 11 S. I, I. Var. StGB ist die Teilnahme an dem Ort begangen , an dem die Haupttat begangen ist. Die Haupttat des T ist als Inlandstat zu werten, wobei entweder auf den Handlungs- oder den Erfolgsort abzustellen ist. (5) Teilnehmer an einer Auslandstat handelt im Inland : G übergibt T in Kenntnis und mit Billigung von dessen Tötungsvorhaben in Konstanz (0) die Waffe, mit welcher T kurze Zeit später in Kreuzlingen (Cl-l) den 0 erschießt. Die Erstreckung deutscher Strafgewalt auf die in der Schweiz spielende Haupttat lässt sich nicht auf § 3 StGB stützen, da kein inländischer Handlungs- oder Erfolgsort vorliegt. Ob die Haupttat des T gem . § 7 I, 11 StGB nach deutschem Strafrecht aburteilbar ist, hängt u. a. von der Staatsangehörigkeit von Täter und Opfer ab . Dessen ungeachtet findet jedenfalls auf den in Deutschland erbrachten Tatbeitrag des G deutsches Strafrecht (§§ 211, 212, 27 StGB) Anwendung, weil G im Inland gehandelt hat (§§ 3, 911 S. 1,2. Var. StGB)5'. (6) Versuch der Beteiligung: A hat den Berufskiller T im Ausland mit der Ermordung des 0 in Deutschland beauftragt. Noch bevor der hierzu bereite T zur Tatdurchführung schreiten kann , wird er verhaftet. Sowohl die nach §§ 30 11, 211, 212 StGB strafbare Bereiterklärung des T, einen Mord zu begehen als auch die von A begangene versuchte Anstiftung zum Mord (§§ 30 1,211 ,212 StGB) sind nach deutschem Strafrecht verfolgbar, weil der tatbestandsmäßige Erfolg (Tod des 0) nach der Vorstellung beider Beteiligen in Deutschland eintreten sollte (§ 9 11 S. 1,4. Var. StGB). Deutsches Strafrecht findet auch Anwendung, wenn der Versuch der Beteiligung im Inland begangen ist (§ 9 11 S. 1,2. Var. StGB)52. (7) Beteiligung im Inland an einer Auslandstat, die nach Tatortrecht nicht mit Strafe bedroht ist : Um diese Konstellation geht es insbesondere beim sog . "Abtreibungstourismus", der im Folgenden etwas ausführlicher behandelt werden soll (Fall 2). Mit dem genannten Schlagwort werden Fälle umschrieben, in denen sich eine Schwangere ins Ausland begibt, um dort von einem Arzt eine nach Tatortrecht legale Abtreibung ihrer Leibesfrucht vornehmen zu lassen .
bb) Abtreibungstourismus 24 Fall 2: In der 16. Woche ihrer Schwangerschaft entschließt sich S, in e iner niederländi-
schen Klinik eine Abtreibung ihrer Leibes frucht vorn ehm en zu lassen. Ihr Freund F, der nicht der Kind svater ist, fährt die S in Kenntni s und mit Billigung ihres Vo rhaben s in eine niederländische Stadt , wo S bei dem dort praktizierenden Arzt A den Eingriff nach Maßga be niederländi schen Rechts legal durchführen lässt. Bei Sund F handelt es sich um deutsche Staatsbü rger , die ihren ständigen Wohn sitz in Deutschland haben . Strafbarke it von S und F?
51
52
Vgl. hierzu OLG Schleswig NStZ-RR 1998,313 . MüKoStGBIAmbos/Ru egenberg , § 9 Rn. 37.
A. Internationales Strafrecht
35
Lösungshinweise Fall 2 (Strafbarkeit der S) : In Deutschland wurde das Abtrei- 25 bungsstrafrecht zwar insofern liberalisiert, als das frühere Modell einer Indikationenlösung im Jahre 1995 durch ein Modell der Fristenlösung mit Beratungspflicht ersetzt wurde" . Die Schwangere unterliegt indes der Strafandrohung des § 218 111 StGB, wenn sie eine Abtreibung an sich vornehmen lässt, die nicht nach Maßgabe des § 218 a StGB von der Strafbarkeit ausgenommen ist. So liegt der Fall hier. Der von S veranlasste und geduldete Schwangerschaftsabbruch in der 16. Woche ihrer Schwangerschaft erfüllt in objektiver und subjektiver Hinsicht den Straftatbestand der Abtreibung gern . § 218 I StGB. Die in § 218 a I StGB normierten Voraussetzungen für einen straflosen Schwangerschaftsabbruch sind nicht gegeben , da der Eingriff außerhalb der Zwölfwochenfrist ohne die gesetzlich vorgeschriebene Pflichtberatung (§ 219 StGB) vorgenommen wurde. Eine den Schwangerschaftsabbruch rechtfertigende Indikation nach § 218 a 11 bzw . 111 StGB liegt nicht vor. Auch der persönliche Strafausschließungsgrund des § 218 a IV I StGB, der die Schwangere straflos stellt, wenn der Abbruch von einem Arzt vor Verstreichen der 22 . Schwangerschaftswoche vorgenommen wird, greift nicht ein, da es an der vorgeschriebenen Beratung fehlte >', Da der Schwangerschaftsabbruch im Ausland vorgenommen wurde, ist weiter 26 zu prüfen, ob auf den in Rede stehenden Sachverhalt überhaupt deutsches Strafrecht Anwendung findet. Im vorliegenden Fall ist § 5 Nr. 9 StGB einschlägig, der durch das Anknüpfen an die deutsche Staatsangehörigkeit des Täters dem sog . "aktiven Personalitätsprinzip" (Rn . 43 f.) Ausdruck verleiht'". Danach gilt deutsches Strafrecht für im Ausland begangene Taten i. S. d. § 218 I StGB, wenn der Täter zur Zeit der Tat Deutscher ist und seine Lebensgrundlage im Geltungsbereich des StGB, also in Deutschland, hat. Entgegen einer in der Bevölkerung weit verbreiteten Ansicht können sich demnach Schwangere deutscher Staatsangehörigkeit durch das Ausweichen in eine fremde Rechtsordnung, in der der Schwangerschaftsabbruch weitergehend straffrei gestellt ist als im Recht ihres Heimatstaates, dem deutschen Strafrecht nicht entziehen. Gegen S besteht mithin ein deutscher Strafanspruch gern . §§ 218 I, 111, 5 Nr. 9 StGB (zur Vereinbarkeit mit Unionsrecht vgl. § 9 Rn. 37 ff.) . Lösungshinweise Fall 2 (Strafbarkeit des F) : Eine Strafbarkeit des F als Mit- 27 täter einer Abtreibung gern . §§ 218 1,25 11 StGB kann nicht bejaht werden, da seinem lediglich im Vorfeld des Schwangerschaftsabbruches erbrachten Tatbeitrag nicht das für eine Mittäterschaft notwendige Gewicht zukommt. Das Ob und Wie der Tatbestandserfüllung lag objektiv und nach dem Willen des F vom Fahrtantritt bis zur Vornahme des Eingriffes stets in den Händen der S. Nach allen Täterlehren, also unabhängig davon, ob man maßgeblich auf die Tatherrschaft oder auf den Täterwillen abstellt, muss eine Mittäterschaft des F abgelehnt werden. Auch eine Unterlassungstäterschaft des F gern . §§ 218 I, 13 StGB scheidet aus . Da er 53
54
55
Vgl. Art. 8 Ges. zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten i. d. F. des ÄndG v. 2 I. August 1995 (BGBI. I 1995, 1050), in Kraft getr. am I. Oktober 1995; vgl. hierzu MüKoStGB/Gropp, Vor §§ 218 ff. Rn. 1-10. S/S-Eser, § 218 a Rn. 71; MüKoStGB/Gropp , § 218 Rn. 80. MüKoStGBIAmbos , Vor §§ 3-7 Rn. 35, § 5 Rn. 28; LK-WerleIJeßb erger, § 9 Rn. 136.
36
§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenzüberschreitenden Bezügen
nicht der leibliche Vater des Kindes der S ist, existiert keine GarantensteIlung, aus der eine Pflicht zur Verhinderung eines verbotenen Schwangerschaftsabbruches abgeleitet werden könnte'<. 28 F hat aber dadurch , dass er die S in Kenntnis und mit Billigung ihres Vorhabens zu der holländischen Abtreibungsklinik fuhr, eine nach §§ 218 I, 27 StGB strafbare Beihilfe zur Abtreibung begangen. Von einem Teil der Rechtsprechung und Literatur wird die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts bei Gehilfentaten auf § 5 Nr. 9 StGB gestützt, obwohl diese Bestimmung ausdrücklich nur von dem "Täter" spricht , der zur Zeit der Tat Deutscher sein und seine Lebensgrundlage im Inland haben muss'". Dieser Auslegungsansatz geht von der Prämisse aus, dass der Begriff "Täter" in § 5 Nr. 9 StGB nicht im materiellrechtlichen, sondern in einem prozessualen Sinne zu verstehen sei. "Täter" einer im Ausland vorgenommenen Abtreibung sei demzufolge jede Person, gegen die sich das Strafverfahren wegen eines im Ausland durchgeführten Schwangerschaftsabbruches richtet , mag ihr Tatbeitrag materiellrechtlich auch als Anstiftung oder Beihilfe zu werten sein. 29 Ob diese weite Auslegung Zustimmung verdient, kann jedenfalls in den Standardfällen des Abtreibungstourismus, in denen der Teilnehmer seinen Tatbeitrag bereits im Inland erbringt, offen bleiben, da die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts hier schon aus dem Territorialitätsprinzip (§ 3 StGB) folgt. Als problematisch könnte sich jedoch der Umstand erweisen , dass die von S in den Niederlanden begangene Haupttat nach Tatortrecht nicht strafbar ist. Wegen der (limitierten) Akzessorietät der Teilnahme ist die Strafbarkeit des Teilnehmers grundsätzlich von der Strafbarkeit der im In- oder Ausland verübten Haupttat abhängig . Demnach müsste nach allgemeinen Grundsätzen eine Strafbarkeit des im Inland handelnden Teilnehmers ausscheiden, wenn die im Ausland begangene Haupttat nach Tatortrecht nicht mit Strafe bedroht ist. Diese Konsequenz wendet jedoch die Vorschrift des § 9 11 S. 2 StGB ab, indem sie die Geltung deutschen Strafrechts für den im Inland handelnden Teilnehmer an einer Auslandstat auch für den Fall anordnet, dass diese Tat nach dem Recht des Tatorts nicht strafbar ist" . Die vor dem Grenzübertritt von F geleistete Hilfe zu der in den Niederlanden vollzogenen Abtreibung kann also gern. §§ 3, 9 11 2 StGB nach deutschem Strafrecht abgeurteilt werden , wobei es nicht darauf ankommt, ob der Schwangerschaftsabbruch nach dem Recht des Tatortes mit Strafe bedroht ist" .
56
57
58 59
Vgl. zur Garanten steIlung des leiblichen Vaters S/S-E ser, § 218 Rn. 54; Fischer , § 218 Rn. 7; MüKoStGB /Gropp, § 218 Rn. 51. AG Albstadt MedR 1988, 261, 262 ; MüKoStGBIAmbos, § 5 Rn. 6; Mitsch , JURA 1989, 193, 196; Satzger, IntStR, § 5 Rn. 9, 70; LK-WerlelJeßberger, § 5 Rn. 21 ff.; a. A. S/S-Eser, § 5 Rn. 17; Fischer, § 5 Rn. 9; Rath, JA 2007 ,26,30. MüKoStGBIAmbos, Vor §§ 3-7 Rn. 39 ff m. w. N. Zutr. Mitsch, JURA 1989, 193, 194 zum Fall des AG Albstadt MedR 1988, 261.
A. Internation ale s Strafrecht
37
c) Distanzdelikte aa) Internetkriminalität Besondere Schwierigkeiten bereitet die Bestimmung des Tatortes bei sog . "Dis- 30 tanzdelikten", die unter Nutzung des Internets begangen werden' ". Fall 3 (BGHSt 46, 212) : Neonaz i A, ein austra lischer Staats bürger, stellt auf seiner 31 deutsch sprachigen Homepage Artikel über die sog. .Auschwitzlüge" über einen austra lisch en Ser ver ins Net z. In den Art ikeln wird behauptet, es sei wisse nschaftlich erwiesen, da ss der Holo caust nicht stattge funde n hab e. Der Kripobeamte K liest diese Erklärunge n auf sei ne m Computer in Deutschland. Best eht eine strafrechtl iche Handhabe gegen A, falls dieser in den Zugriffsbere ich deut scher Strafverfolgungsbehörd en ge langt?
Lösungshinweise Fall 3 : A erfüllt durch die Leugnung des Holocausts nach deut- 32 schem Strafrecht den Tatbestand der Volksverhetzung (§ 130 lI1 StGB). Da diese Tat vom Ausland aus begangen wurde, stellt sich die Frage, ob A überhaupt der deutschen Strafgewalt unterliegt. Zu prüfen ist, ob die Anw endung deutschen Strafrechts auf §§ 3, 9 StGB gestützt werden kann . Es müsste sich also um eine Tat handeln, die im Inland begangen wurde. Nach der Legaldefinition des § 9 StGB ist eine Tat an dem Ort begangen, an dem der Täter gehandelt hat oder an dem der zum Tatbestand gehörende Erfolg eingetreten ist. Einige Stimmen in der Literatur nehmen eine Inlandshandlung i. S. d. § 9 I, 1. Var. StGB an, wenn die Wirkung des Verhaltens - hier : das Leugnen des Holocausts - im Inland eingetreten ist" . Mit "Handlungsort" meint das Gesetz indes den Aufenthaltsort des Täters bei Vornahme der tatbestandsmäßigen Handlungs- und dieser lag im vorliegenden Fall im Ausland . Möglicherweise ist aber der "Erfolg" der Tat in Deutschland eingetreten, so 33 dass es sich gern. §§ 3, 9 I, 3. Var . StGB um eine in Deutschland verfolgbare Inlandstat handelt. Die Bestimmung der Rechtslage bereitet hier Schwierigkeiten, denn § 130 lI1 StGB ist kein klassisches Erfolgsdelikt (wie z. B. §§ 212 , 223 StGB), sondern ein sog . " potentielles" Gefahrdungsdelikt (Spezialfall eines abstrakten Gefährdungsdelikts'") . § 130 lI1 StGB knüpft also nicht - wie etwa die Tötungs- und Körperverletzungsdelikte - an die tats ächliche Sch ädigung eine s Recht sgutes an, sondern lässt es ausreichen, dass das geschützte Rechtsgut (hier: der öffentliche Friede in Deutschland) lediglich einer abstrakt-generellen Gefahr ausgesetzt wird (; ... geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören H). Es wird daher die Auffassung vertreten, deutsches Strafrecht könne hier schon deshalb nicht zur Anwendung gelangen, weil im Inland kein .A ußenwelterfolg" im Sinne einer tat-
60
61
62 63
Vgl. hierzu MüK oStOB/Amb os/Ruegenberg, § 9 Rn. 26 ff., Rath , JA 2007, 26, 28 f.; Satzger. IntStR , § 5 Rn. 43 ff.; ders., Jura 20 I 0, 108, I 15 I: jew. m. w. N . Cornils, JZ 1999, 394, 396; S/S- Eser, § 9 Rn. 4, 6; Sieber, NJW 1999, 2065 ("Tathandlungserfolg") ; Werlel.leßberger, JuS 2001 , 35, 39. MüK oStOB /Ambos/Ruegenberg , § 9 Rn. 29. BOH St 46,212,218; BOH NJ W 1999,2129; Fischer, vor § 13 Rn. 19; S/S -Heine, Vor §§ 306 ff Rn . 3; Lackne r/Kühl, vor § 13 Rn . 32; Rengier, AT, § 10 Rn. 16.
38
§ 2 Stra frechtliche Spezialmaterien mit grenzüberschreitenden Bezü gen
sächlichen Rechtsgutsschädigung (oder zumindest konkreten Gefahr) eingetreten sei (Rn . 39)64. 34 Der BGH bejaht jedoch die Anw endb arkeit deutschen Strafrechts" . Er interpretiert den Erfolgsbegriff des § 9 I, 3. Var. StGB weit und argumentiert, es reiche aus, dass durch die Aufrufbarkeit des volksverhetzenden Inhalts in Deutschland ein zum Tatbestand des § 130 11I StG B gehörender "Gefährdungserfolg" eingetreten sei. Auf dieser Basis kann die von A verwirklichte Straftat als Inlandstat angesehen und in Deutschland verfolgt werd en. Dabei lässt der BGH offen, ob der Erfolgbegriff bei abstrakten Gefährdungsdelikten - wie von einem Teil der Literatur" vertreten wird - generell so zu verstehen ist, dass Erfolgsort auch jeder Ort sei, an dem sich die abstakte Gefahr realisiert (Rn . 40) . Dieser Recht sprechung wird entgegengehalten, dass sie zu einer extrem weiten Ausdehnung der Anwendung deutschen Strafre chts führe , die an die Grenzen der völkerrechtlichen Legitimation deutsch en Strafanwendungsrechts stoße?". So würd en im Ausland begangene Äußerungshandlungen mit Strafe bedroht, deren Straflosigke it dort verfassungsrechtlich verbürgt seien" . 35 Den Kritikern der BGH- Entsch eidung ist zuzugeben, dass eine uferlos e Strafverfolgungszuständigkeit Deutschlands für alle im Internet begangenen Straftaten völkerrechtl ich nicht zulässig ist und überdie s unpraktikabel erscheint' ". Zu denken ist etwa an den Fall, dass ein amerikan ischer Student eine Homepage erstellt , in der er seine Ex-Freundin in beleidigender Form verleumdet. Von der deutschen Staatsan waltschaft kann nicht ernsthaft verlangt werden , in Fällen die ser Art Ermittlungsverfahren gegen ausl ändische Täter einzuleiten. Einer zu weitgehenden Ausdehnung der deuts chen Strafgewalt im Bereich der Intern et-Kriminalität sollte daher durch eine teleologische Reduktion des Ubiquitätsprinzips begegnet werd en, die eine spezifische Inlandsbeziehung der Tathandlung sicherstellt" . Nach hier vertretener Ansicht verdient die Entscheidung des BGH im konkreten Fall Zustimmung, da im Hinblick auf die offenkundige Adressierung des in deutscher Sprache verfassten Textes an Zielgruppen in Deutschland ein spezifischer Bezug der Tathandlung zu dem Staat besteht , in dem die Gefahr einer Störung des öffent-
64
65
66
67 68
69 70
KG NJW 1999 , 3500, 350 I f.; OLG Saar brücken NJW 1975, 506, 507 ; S/S -Eser , § 9 Rn. 6; Heger, Europäisierung, S. 256; Hilge ndorf. ZStW 113 (200 1), S. 662 f.; Kudlieh, StV 2001 , 398 f.; Lackne rl Kühl, § 9 Rn. 2; Satzger, NStZ 1998, 112, 114 ff.; ders., Ju ra 20 I0, 108, 113; ders., IntStR , § 5 Rn. 25 ff: ß GHSt 46,212. Grundl egend Martin, Grenzüberschreite nde Umwe ltbeei nträchtigu ngen, S. 17 ff., 48 ff., 79 ff.; ders., ZRP 1992, 19; ihm folge nd Hecker, ZStW 115 (2003), S. 880 , 885 ff.; Heinrich, GA 1999, 72, 77 ff.; SKI Hoyer, § 9 Rn. 7; König in: Göhler, OW iG, § 7 Rn. 6 a; Rath , JA 200 6, 435 , 438 ; Rengier, AT, § 6 Rn. 17; LK-WerleIJeßberger, § 9 Rn. 33 ff., 89. Fischer, § 9 Rn. 8a; Sch ünemann, GA 2003 , 299 , 304. Sieber, Z RP 2001 , 100. Eser, BGH- FG, S. 3, 23. Vgl. hierzu Cornils , JZ 1999,394 ff.; Hörnle, NS tZ 2001 ,310; Koch, GA 2002 , 703 ff., Rengier, AT, § 6 Rn. 18; LK- WerleIJeß berger, § 9 Rn. 99 ff.
A. Internationales Strafrecht
39
liehen Friedens i. S. d. § 130 III StGB eingetreten ist" . Lösungsvorschlag Fall 3: A kann in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden . bb) Grenzüberschreitende Umweltdelikte Umweltverschmutzung ist schon ihrem Wesen nach ein grenzüberschreitendes 36 Phänomen . Ober- und unterirdische Gewässer, Luftströmungen, Schallwellen und Strahlungen bewegen sich nach den Eigengesetzlichkeiten der Natur und nehmen keine Rücksicht auf die Grenzen eines Staatsgebietes. Bei grenzüberschreitenden Umweltdelikten, die in deutsches Staatsgebiet hineinwirken ("Distanzdelikte"), stellt sich die Frage, ob ein tatortbegründender "Erfolg" i. S. d. § 9 I S. 1, 3. Var. StGB gegeben ist, der die Anwendung deutschen Umweltstrafrechts legitimiert . Da diese Frage Gelegenheit zu einer vertiefenden Klärung des internationalstrafrechtlichen Erfolgsbegriffs gibt, ist der nachfolgende Lösungsvorschlag bewusst etwas ausführlicher gestaltet. Fall 4: Ein in Frankreich angesiedelter Industriebetrieb produziert im Dreiländereck ein In- 37 sekti zid . Die bei der Herstellung anfallenden toxischen Nebenprodukte werden illegal au f offenen Halden innerhalb des ßetriebsgeländes gelagert. Der Wind weht den giftigen Staub von Frankreich in die angrenzenden Gebiete Deutschlands, was zu einer Kontaminat ion landwirtschaftlich genutzter Böden führt. Auf die se We ise gelangen ge sundheitsschädliche Substanzen in die Milch de r dort weidenden Kühe72 • Lässt sich die Anwendbarkeit des § 325 I StGB auf §§ 3, 9 I S. 1,3. V ar. StGB stützen?
Lösungshinweise Fall 4: A hat in objektiver und subjektiver Hinsicht den Tatbe- 38 stand des § 325 I StGB erfüllt , wenn man der Auffassung folgt, dass eine "Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten " im Lichte des unionsrechtlichen Assimilierungsgebotes (§ 7 Rn. 31) aus der Verletzung harmonisierten französischen Umweltrechts folgt (§ 10 Rn. 73)73 . Im Rahmen der hier untersuchten Fallgruppe grenzüberschreitender Luftverunreinigungen stellt sich die Frage, ob das in § 3 StGB verankerte Territorialitätsprinzip ein strafrechtliches Vorgehen gegen ausländische Störungsquellen gestattet. Da die tatgegenständliche Anlage in Frankreich betrieben wurde, vermag der Handlungsort (§ 9 I S. 1, 1. Var. StGB) die Anwendung deutschen Umweltstrafrechts nicht zu legitimieren . Es kommt daher aus internationalstrafrechtlicher Sicht entscheidend darauf an, ob die von § 325 Abs. I StGB geforderte Schädigungseignung als " Erfolg" i. S. d. § 9 I S. I, 3. Var. StGB gewertet werden kann. Nach weit verbreiteter Meinung weisen potentielle und rein abstrakte Gefähr- 39 dungsdelikte keinen "zum Tatbestand gehörenden Erfolg" auf, der bei Distanztaten einen inländischen Tatort begründen könnte (Rn. 33) . Als Hauptargument wird angeführt, im Rahmen des § 9 StGB meine der Begriff " Erfolg" eine von der tat71
72
73
Vgl. auch KG NJW 1999, 3500 (Verwendung verfassungswidriger Kennzeichen bei einem vom deutschen Fernsehen übertragenen Fußballspiel im Ausland); krit. hierzu Fischer, § 9 Rn . 8 b; Waller, JuS 2006, 870, 872 . Vgl. hierzu ausfü hrl ich Hecker, ZStW 115 (2003), S. 880 ff. Vgl. zur Tatbestandserfüllung und zur Schutzbereichsdisku ssion Hecker, ZStW 115 (2003), S. 880, 882 ff., 889 m. w. N .
40
§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenzüberschreitenden Bezügen
bestandsmäßigen Handlung räumlich und/oder zeitlich abtrennbare Veränderung der Außenwelt in Form der Verletzung oder konkreten Gefährdung des geschützten Rechtsgutes. Bei den abstrakten Gefährdungsdelikten existiere ein derartiger Außenwelterfolg nicht , weil hier bereits der bloße Vollzug der tatbestandsmäßigen Handlung unrechtsbegründend wirke , ohne dass es auf den Eintritt einer gesondert festzustellenden Gefahrenlage ankomme. Auf der Basis dieser dogmatischen Prämisse ist § 325 I StGB auf einen im Ausland stattfindenden Anlagenbetrieb nicht anwendbar". Da die genannte Stratbestimmung tatbestandlieh nicht auf eine Schädigung oder konkrete Gefährdung von Rechtsgütern abstellt, könne selbst dann nicht von dem Eintritt eines "zum Tatbestand gehörenden Erfolges " gesprochen werden , wenn in tatsächlicher Hinsicht feststünde, dass der von der ausländischen Anlage produzierte Schadstoffausstoß eine Verletzung oder konkrete Gefährdung von Rechtsgütern auf deutschem Gebiet verursacht habe.". 40 Diese Ansicht vermag nicht zu überzeugen. Zustimmung verdient die in der Literatur im Vordringen befindliche und auch vom BGH (Rn . 34) zugrunde gelegte Auffassung, nach der zumindest den potentiellen Gefährdungsdelikten ein " Erfolg" i. S. d. § 9 I S. I, 3. Var. StGB zugeschrieben werden kann . Der Wortlaut der Norm lässt durchaus eine Auslegung des Erfolgsbegriffes zu, die den "zum Tatbestand gehörenden Erfolg" bereits in dem Hervorrufen einer von dem Tatbestand vorausgesetzten abstrakten Gefahrenlage sieht. Von dieser Sichtweise geprägt ist etwa das Verjährungsrecht. Der BGH und die h. L. erblicken den für die Feststellung des Verjährungsbeginns maßgeblichen Erfolg (§ 78 a S. 2 StGB) bei abstrakten Gefährdungsdelikten in der mit der Tatbestandsverwirklichung einhergehenden Gefährdung der geschützten Rechtsg üter?". Eine weite Auslegung des Erfolgsbegriffes lässt sich des Weiteren auf Argumente aus der Dogmatik der abstrakten Gefährdungsdelikte und der unechten Unterlassungsdelikte stützen . So hält der wohl überwiegende Teil der Literatur die Bestrafung aus einem abstrakten Gefährdungsdelikt für mit dem Schuldprinzip unvereinbar, wenn die zu beurteilende Tat trotz formeller Erfüllung des Tatbestandes im konkreten Fall offensichtlich ungefährlich und dies bei Vornahme der Handlung erkennbar gewesen sei". Der BGH hat zu dieser Frage zwar nicht abschließend Stellung genommen, hält die Nichtanwendung des abstrakten Gefährdungstatbestandes der schweren Brandstiftung (§ 306 a I Nr. 1 StGB) aber immerhin für denkbar, wenn der Täter sich beim Inbrandsetzen kleiner überschaubarer Räumlichkeiten durch absolut zuverlässige lückenlose Maßnahmen vergewissert hat, dass die tatbestandlieh vorausgesetzte Gefährdung mit Sicherheit nicht eintreten kann". Diese Ansätze führen zu der Erkenntnis , dass das stratbare Unrecht bei den abstrakten Gefährdungsdelikten nicht schon allein in der formellen Erfüllung des Tatbestandes liegt. Notwendig ist stets 74 75 76
77
78
Dannecker/Streinz, EUDUR, § 8 Rn. 49; Heger, Europäi sierung, S. 256. So explizit Satzger , NStZ 1998, 112, 114 II ßGHSt 32, 293, 294; 36, 255, 257; LacknerlKühl, § 78 a Rn. 3; MüKoStGßIMüsch, § 78 a Rn. 6. Vgl. Martin , Grenzüberschreitende Umweltbeeinträchtigungen, S. 64 ff. m. w. N. und die zusammenfassende Darstellung bei Roxin , AT Teil I , § 11 Rn. 153 ff BGHSt26, 121, 123fI;34, 115, 119.
A. Internationales Strafrecht
41
auch die Schaffung eines rechtlich missbilligten Risikos der Verletzung des geschützten Rechtsgutes. Folglich kann in dem Risiko eines Schadenseintrittes der vom Handlungsvollzug abtrennbare Erfolg des abstrakten Gefährdungsdeliktes gesehen werden. Von der Existenz eines den abstrakten Gefährdungsdelikten immanenten tatbestandliehen Erfolges gehen Rechtsprechung und h. L. auch im Rahmen der unechten Unterlassungshaftung gern . § 13 StGB bzw . § 8 OWiG aus?". In einer allgemeinen Formel lässt sich der von einem Garanten abzuwendende tatbestandsmäßige Erfolg auch treffend beschreiben als die (Außenwelt)Wirkung, die von dem tatbestandliehen Ereignis ausgeht'". Bildlich gesprochen sind alle Orte, die sich im räumlichen Gefahrenkreis der Anlage befinden, Erfolgsorte i. S. d. § 9 I S. 1,3 . Var. StGB . Der tatsächliche Eintritt einer konkreten Gefährdung oder gar Verletzung eines geschützten Rechtsgutes wirkt bei Taten i. S. d. § 325 I StGB zwar nicht erfolgsortbegründend, ist jedoch als gewichtiges Indiz dafür zu werten, dass die tatbestandlieh vorausgesetzte abstrakte Gefährdung auch an diesem Ort bestanden hat bzw . noch fortbesteht". Nach alledem ist zu konstatieren, dass die These von den angeblich "erfolglo- 41 sen" Gefährdungsdelikten dogmatisch auf unsicherem Grund steht. Auch die kriminalpolitische Zielsetzung, die mit der Schaffung abstrakter Gefährdungsdelikte intendiert wird , sollte bei der Auslegung des internationalstrafrechtlichen Erfolgsbegriffes nicht unberücksichtigt bleiben. Durch die Vorverlagerung der Strafbarkeit sollen bestimmte Rechtsgüter einem erhöhten strafrechtlichen Schutz unterstellt werden . Die von der h. L. vertretene enge Auslegung des Erfolgsbegriffes führt jedoch bei grenzüberschreitenden Umweltdelikten zu dem geradezu paradoxen Ergebnis, dass diesen Rechtsgütern der vom Gesetzgeber zuerkannte erhöhte Schutz deshalb versagt bleibt, weil sie durch - angeblich "erfolglose" - abstrakte bzw . potentielle Gefährdungsdelikte geschützt werden . Den Vorzug verdient nach alledem die weite Interpretation der Erfolgsortklausel des § 9 I S. 1,3 . Var . StGB. Sie fügt sich nicht nur harmonisch in die Dogmatik der abstrakten Gefährdungsdelikte und der unechten Unterlassungsdelikte ein, sondern überzeugt auch unter kriminalpolitischen Aspekten. Erfolgsort der in § 325 I StGB beschriebenen Tat ist also nicht nur der Ort , an dem die schadstoffausstoßende Anlage betrieben wird , sondern auch derjenige, an dem das tatbestandlieh missbilligte Risiko einer Rechtsgutsverletzung eintritt. Lösungsvorschlag Fall 4: Auf die in Frankreich vorgenommene Handlung (luftverunreinigender Anlagenbetrieb gern. § 325 I StGB) findet deutsches Umweltstrafrecht Anwendung. Zur Anwendbarkeit des § 6 Nr . 9 StGB auf extraterritoriale Umweltstraftaten vgl. Rn. 52.
79
80 81
ßGHSt 46, 222; ßayObLG JR 1979, 289, 290 f.; OLG Stuttgart NuR 1987, 28 I; KKOWiG/Rengier , § 8 Rn. 9 Ir ; ders., AT, § 49 Rn. 7; a. A. LK-Weigend, § 13 Rn. 15. KKOWiG/Rengier, § 8 Rn. 10; ders., AT, § 6 Rn. 16. Zutr. Heinrich, GA 1999, 72, 81 f.
42
§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenzüberschreitenden Bezügen
2. Flaggenprinzip 42 Eng verwandt mit dem Gebietsgrundsatz ist das Flaggenprinzip (§ 4 StGB) . Es besagt , dass der Staat, dessen Flagge ein Schiff oder dessen Staatszugehörigkeitszeichen ein Luftfahrzeug zu führen berechtigt ist, seine Strafgewalt für alle Taten in Anspruch nehmen darf, die an Bord des Schiffes oder des Luftfahrzeugs begangen werden".
3. Aktives Personalitätsprinzip 43 Nach dem aktiven Personalitätsprinzip" , das in §§ 5 Nr. 3 a, 5 b, 8, 9, 11 a, 12, 14 a, 15 StG B und in § 7 11 Nr. I StGB zum Ausdruck gelangt, darf ein Staat seiner Strafgewalt Handlungen eigener Staatsangehöriger unterwerfen, die im Ausland begangen werden . Hierzu gehören gern. § 5 Nr. 3 a, Nr. 5 b StGB bestimmte Staatsschutzdelikte deutscher Täter. Nach § 5 Nr. 8 b StGB sind sog. "Sextouristen", die im Ausland sexuellen Missbrauch von Kindern oder Jugendlichen (§ 176-176 b, 182 StGB) begehen , nach deutschem Strafrecht verfolgbar . Der im Ausland begangene sexuelle Missbrauch von Schutzbefohlenen (§ 174 I, 111 StGB) unterliegt demgegenüber nach § 5 Nr. 8 a StGB nur dann deutscher Strafgewalt, wenn Täter und Opfer zum Tatzeitpunkt Deutsche sind und ihre Lebensgrundlage im Inland haben (Kombination von aktivem und passivem Personalitätsprinzip). "Abtreibungstourismus", d. h. die Vornahme einer nach § 218 I StGB tatbestandsmäßigen Abtreibung im Ausland , ist nach § 5 Nr. 9 StGB strafrechtlich verfolgbar, wenn der Täter zur Zeit der Tat Deutscher ist und seine Lebensgrundlage im Inland hat (Rn. 26) . § 5 Nr. 11 a StGB erstreckt den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts auf die Verursachung einer Nuklearexplosion (§ 328 11 Nr. 3,4, IV, V StGB) durch einen Deutschen im Ausland. AufTaten, die ein deutscher Amtsträger (§ 11 I Nr . 2 StGB) oder für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter (§ 11 I I Nr.4 StGB) während eines dienstlichen Aufenthalts oder in Beziehung auf den Dienst im Ausland begeht , ist nach § 5 Nr. 12 StGB deutsches Strafrecht anwendbar. Zu denken ist etwa an den Fall, dass ein deutscher Behördenleiter während seines Urlaubsaufenthaltes im Ausland Geld oder sonstige Vorteile von einem Geschäftsmann annimmt, der sich hierdurch das Wohlwollen der Behörde erkaufen will (§ 331 I StGB). Nach § 5 Nr. 14 a StGB ist die von einem Deutschen begangene Abgeordnetenbestechung (§ 108 e StGB) unabhängig von der Tatortstratbarkeit nach deutschem Strafrecht verfolgbar. § 5 Nr. 15 StGB lässt die strafrechtliche Verfolgung des im Ausland stattfindenden Organhandels" zu, wenn er von einem Deutschen betrieben wird.
82 83
84
Vgl. hierzu MüKoStGBIAmbos, § 4 Rn. I ff.; ders., IntStR, § 3 Rn. 28 Ir m. w. N. Vgl. hierzu MüKoStGBIAmbos, Vor §§ 3-7 Rn. 35 ff.; ders., IntStR, § 3 Rn. 44 ff:; Rengier, AT, § 6 Rn. 20 ff.; Satzger, IntStR, § 4 Rn. 7, § 5 Rn. 64, 78 ff Vgl. hierzu König , Strafbarer Organhandel , passim; ders., Das strafbewehrte Verbot des Organhandels, in: Roxin /Schroth (Hrsg.), Medizinstrafrecht , 2000, S. 265.
A. Internationales Strafrecht
43
§ 7 11 Nr. I StGB unterwirft im Ausland begangene Taten der deutschen Straf- 44 gewalt , wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist (Rn. 56) oder - was höchst selten der Fall ist - der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt" und wenn der Täter zum Zeitpunkt der Tatbegehung deutscher Staatsangehöriger ist oder danach geworden ist. Das Erfordernis der Strafbarkeit der Auslandstat nach Tatortrecht (doppelte Strafbarkeit) soll verhindern , dass die deutsche Strafgewalt auf Sachverhalte ausgedehnt wird, bei denen der Tatortstaat eine Strafsanktion nicht für geboten hält" . Beispielsweise ist ein in den Niederlanden wohnhafter deutscher Arzt, der in einer niederländischen Klinik nach Tatortrecht legale Abtreibungen vornimmt, nicht nach deutschem Recht (§ 218 I StGB) strafbar. § 5 Nr. 9 StGB lässt eine Strafrechtsausdehnung nicht zu, weil dieser Arzt seine Lebensgrundlage nicht in Deutschland hat und § 7 11 Nr. I StGB kommt mangels Strafbarkeit der Abtreibung im Tatortstaat nicht zur Anwendung.
4. Passives Personalitätsprinzip An das passive Personalitätsprinzip" knüpfen diejenigen Bestimmungen des in- 45 ternationalen Strafrechts an, die eine Auslandserstreckung deutschen Strafrechts auf im Ausland gegen einen Deutschen begangene Taten zulassen . Auf die deutsche Staatsangehörigkeit des Opfers einer Auslandstat stellen namentlich ab § 5 Nr. 6 StGB in Fällen der Verschleppung und politischen Verdächtigung (§§ 234 a, 241 a StGB), § 5 Nr. 6 a StGB bei Kindesentziehungen in Fällen des § 235 11 Nr. 2 StGB, § 5 Nr. 8 a StGB bei sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen (§ 174 I, 11I StGB), § 5 Nr. 14 a StGB in Fällen der Bestechung deutscher Abgeordneter (§ 108 e StGB) sowie § 7 I StGB, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder - was höchst selten der Fall ist - der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt.
5. Schutzprinzip Das Schutzprinzip beruht auf einer engen sachlichen Bezogenheit des strafrecht- 46 liehen Schutzgegenstandes zu dem die Strafgewalt beanspruchenden Staat. Demgemäß erstreckt sich die nationale Strafgewalt auch auf bestimmte Auslandstaten, die inländische Rechtsgüter verletzen oder gefährden " . Eine spezielle Ausprägung des Schutzprinzips im staatsschutzrechtlichen Sinne ist das Realprinzip, dem die völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Idee zugrunde liegt, dass es einem Staat nicht verwehrt werden darf, sich Angriffen auf seine politische und militäri-
85 86
87 88
Vgl. hierzu MüKoStGB/Ambos , § 7 Rn . 17 f.; ders., IntStR, § 3 Rn . 56 . Vgl. hierzu MüKoStGB/Ambos, § 7 Rn. 5 ff.; Eser, BGH-FG , S. 3, 12 f. Vgl. hierzu MüKoStGB/Ambos , Vor §§ 3-7 Rn. 42 II; ders., IntStR, § 3 Rn. 71 ff.; Rengier. AT, § 6 Rn. 23 f.; Satzger , IntStR, § 4 Rn. I I, § 5 Rn. 78 ff. Vgl. hierzu BGHSt 34, 334, 339; MüKoStGB/Ambo s, Vor §§ 3-7 Rn. 39; ders., IntStR, § 3 Rn . 80 ff.; Rengier, AT, § 6 Rn . 25 ; Satzg er, IntStR, § 4 Rn. 9 ff., § 5 Rn . 64 ff. ; Werle/Jeßb erger , JuS 2001, 141.
44
§ 2 Strafrechtliche Spezialm aterien mit gr enzüberschreitenden Bezügen
sehe Integrität mit strafrechtlichen Mitteln zu erwehren" . Beispielsweise ist ein englischer Hooligan, der während einer im Ausland stattfindenden Sportveranstaltung öffentlich eine deutsche Fahne verbrennt oder darauf uriniert ("beschimpfenden Unfug daran verübt" ; vgl. § 90 a 11 StGB) gern. § 5 Nr. 3 b StGB nach deutschem Strafrecht verfolgbar' ", Die völkerrechtliche Legalität und Legitimität der in § 5 Nr. I bis 5 StGB getroffenen Strafrechtsanwendungsbestimmungen - diese beziehen sich auf gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Staatsschutzdelikte - ergibt sich deshalb ohne weiteres aus dem Realprinzip. Das Gleiche gilt für § 5 Nr. 10 StGB , der die deutsche Rechtspflege vor Falschaussagedeliken (§§ 153-156 StGB) schützt" . Zu denken ist etwa an die von einem deutschen Gericht angeordnete Vernehmung eines Zeugen im Ausland durch einen beauftragten Richter. 47 Eine individualrechtliche Ausprägung findet das Schutzprinzip in denjenigen Vorschriften des Strafanwendungsrechts, die auf den strafrechtlichen Schutz inländischer Tatopfer (passives Personalitätsprinzip; vgl. Rn. 45) oder sonstiger inländischer Individualschutzgüter abzielen . Zur letztgenannten Kategorie gehört die für die Bekämpfung der Wirtschaftsspionage'? bedeutsame Bestimmung des § 5 Nr. 7 StGB , der die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts bei Verletzung von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen eines im Inland ansässigen Betriebes oder Unternehmens anordnet.
6. Weltrechtsprinzip 48 Das Weltrechtsprlnzip" erlaubt die weltweite Verfolgung extraterritorialer Taten unabhängig vom Tatort und der Staatsangehörigkeit von Täter und Opfer. Gegenstand der nach dem Weltrechtsprinzip verfolgbaren Taten sind Handlungen, die sich gegen weltweit anerkannte (universelle) Kulturwerte und Rechtsgüter richten, an deren Schutz ein gemeinsames Interesse aller Staaten besteht. Als typische Beispiele für Taten , für die jedem Staat die Befugnis zur strafrechtlichen Verfolgung zusteht, gelten die See- und Luftpiraterie?' , völkerrechtliche Kernverbrechen" (z. B. Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit) und Akte des internationalen Terrorismus" . § 6 StGB unterstellt dem Weltrechtsprinzip eine Reihe von Auslandstaten, die sich gegen international geschützte Rechtsgüter richten . 89 90 91 92
93
94 95 96
M üKoStGßIAmbos, Vor §§ 3-7 Rn. 40 m. w. N . Werle/Jeßberger, JuS 2001, 141. MüKoStGBIAmbos, § 5 Rn . 30. Vgl. hierzu Bär, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 12. Kap . Rn . 95 ff. sowie Möhrenschlager, ebenda, 13. Kap . Rn. 2 ff. Vgl. hier zu MüKoStGßIAmbos , Vor §§ 3-7 Rn. 47 ff.; ders ., IntStR, § 3 Rn. 93 ff:; Rengier. AT, § 6 Rn. 26; Satzger, IntStR, § 4 Rn. 12 Ir , § 5 Rn. 74 ff.; Werle/Jeßberger , JuS 2001, 141, 142. MüKoStGBIAmb os, Vor §§ 3-7 Rn . 54; Hecker, JA 2009,673 ff. MüKoStGBIAmbos, Vor §§ 3-7 Rn . 54. MüKoStGBIAmb os, Vor §§ 3-7 Rn . 55 .
A. Internationales Strafrecht
45
Die dem Weltrechtsprinzip zugeordnete Bestimmung des § 6 Nr. I StGB a. F. er- 49 möglichte die Verurteilung eines bosnischen Serben für im Bosnien-Krieg begangene Völkerrechtsverbrechen durch ein deutsches Gericht?". Der früher in § 6 Nr. I StGB normierte Tatbestand des Völkermordes (§ 220 a StGB a. F.) - das Paradigma einer Straftat , deren nationale Verfolgung im Interesse aller Staaten liegt 98 wurde inzwischen in das neu geschaffene deutsche Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) eingestellt (Rn . 90 ff.) . Die Zuordnung der in § 6 Nr. 2 StGB erfassten Kernenergie-, Sprengstoff- und Strahlungsverbrechen (§§ 307, 308 I-IV, 309 11, 310 StGB) zum Weltrechtsprinzip lässt sich mit der Begründung rechtfertigen, dass diese Taten sich kaum auf ein bestimmtes Territorium begrenzen lassen und die Existenz ganzer Bevölkerungsgruppen gefahrden können" : Dem WeItrechtsprinzip unterstellt sind ferner gern. § 6 Nr. 3 StGB bestimmte Formen der Seeund Luftpiraterie (§ 316 c StGB) , gern. § 6 Nr. 4 StGB der Menschenhandel (§§ 232-233 a StGB), gern. § 6 Nr. 5 StGB der unbefugte Vertrieb von Betäubungsmitteln, gern. § 6 Nr. 6 StGB die Verbreitung pornografischer Schriften (§§ 184 a, 184 b 1-11I, 184 c 1-11I StGB), gern. § 6 Nr. 7 StGB die Geld-, Wertpapier- und Zahlungskartenfälschung sowie deren Vorbereitung (§§ 146, 149, 151, 152, 152 b I-V StGB) und gern. § 6 Nr. 8 der Subventionsbetrug (§ 264 StGB) . Eine Parallelvorschrift zu § 6 Nr. 8 StGB , findet sich - bezogen auf den Schutz staatlicher Einnahmen (Steuern und Abgaben) - in § 370 VII AG. Das deutsche Strafanwendungsrecht trägt in §§ 6 Nr. 8 StGB, 370 VII AG einer aus Art. 325 AEUV (ex-Art. 280 EGV) abzuleitenden unionsrechtlichen Pflicht aller Mitgliedstaaten Rechnung, ihr nationales Strafrecht zum Schutze der EU-Finanzinteressen zu funktionalisieren' ?'. § 6 Nr. 9 StGB normiert eine blankettartige Generalklausel, nach der deutsches 50 Strafrecht auf Taten anzuwenden ist, die auf Grund eines für die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen zwischenstaatlichen Abkommens auch dann zu verfolgen sind , wenn sie im Ausland begangen werden' ?'. Der eigentliche internationalstrafrechtliche Anknüpfungspunkt liegt bei § 6 Nr. 9 StGB in einer völkervertraglich festgelegten und für die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen Verfolgungspflicht. Die Verbindlichkeit setzt die innerstaatliche Ratifikation des zwischenstaatlichen Abkommens voraus . Weiterer Anknüpfungspunkte für die Ausübung deutscher Strafgewalt bedarf es in diesen Fällen nicht' ?' .
97
98 99 100
101
102
ßVerfG NStZ 2001 , 240 ; ßGHSt 45,64 m. Anm . Hilgendorf, JR 2001 ,82; vgl. hier zu auch Ambos, NStZ 2000, 71 ; Lüder, NJW 2000, 269 ; Werte, JZ 1999, 1181. LagodnyINill-Th eobald, JR 2000, 202 , 206 . MüKoStGBIAmbos , § 6 Rn . 10. Insoweit besteht jedenfalls ein legitimierender völkerrechtlicher Anknüpfungspunkt für die Ausdehnung der deutschen Strafgewalt auf den Rechtsraum der Union; vgl. MüKoStGßIAmbos , § 6 Rn. 18; ders., IntStR, § 3 Rn. 110; Satzger, IntStR, § 5 Rn. 75. Vgl. hierzu MüKoStGBIAmbos , § 6 Rn . 19 ff.; ders. , IntStR, § 3 Rn . 111; S/S-Es er, § 6 Rn. 10 f.; Rath, JA 26 , 31 ; Wilkitzki, ZStW 99 (1987), S. 455 , 475 . BGHSt 46 ,292,307; MüKoStGBIAmbos , § 6 Rn . 20.
46
§ 2 Strafrechtliche Spezi alm aterien mit grenzüberschreitenden Bezügen
51 Die Bestimmung des § 6 Nr. 9 StGB spielt insoweit, als spezielle Strafrechtsanwendungsnormen zur Umsetzung unionsrechtlicher Pönalisierungspflichten zugunsten von Unionsinteressen (z. B. § 6 Nr. 8 StGB bezüglich des im Ausland begangenen Subventionsbetruges zum Nachteil der EU) fehlen , eine nicht zu unterschätzende Rolle, da sie mögliche Inkongruenzen zwischen dem unionsrechtlichen Schutzauftrag und nationalem Strafanwendungsrecht pauschal beseitigt' ?' . Soweit das Unionsrecht (Art . 4 111 UA 2, 3 EUV, 325 I, 11 AEUV) die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, supranationalen Rechtsgütern der EU den gleichen strafrechtlichen Schutz angedeihen zu lassen wie dies bei gleichartigen Angriffen auf nationale Rechtsgüter der Fall ist (§ 7 Rn. 26) , muss auch das nationale Strafanwendungsrecht so ausgestaltet sein, dass es eine Verfolgung von Auslandstaten ermöglicht' ?'. § 6 Nr . 9 StGB stellt als internationalstrafrechtliche .Auffangnorm" sicher, dass deutsches Strafrecht, welches dem Schutz von Unionsinteressen dient , auf extraterritoriale Taten anwendbar ist lOs. Ein Beispiel hierfür bildete die bereits vor Inkrafttreten des neuen § 162 I StGB nach deutschem Strafrecht (§ 153 StGB) verfolgbare uneidliche falsche Zeugenaussage eines ausländischen Staatsbürgers, die vor dem EuGH an dessen Sitz in Luxemburg begangen wird!". 52 Noch nicht abschließend geklärt ist die Frage, ob sich die Anwendung deutschen Umweltstrafrechts auf im Ausland spielende Fälle grenzüberschreitender Umweltkriminalität auf § 6 Nr. 9 StGB stützen lässt, falls §§ 3, 9, 5 Nr. 11,7 I, 11 StGB nicht zur Anwendung gelangen. Auf der Basis der hier vertretenen Ansicht , wonach es sich bei den Umweltgütern (Luft, Boden , Gewässer) um durch Unionsrecht ausgeformte supranationale Rechtsgüter handelt (Rn . 7), lassen sich die deutschen Umweltstraftatbestände als Strafrecht im Dienste der Durchsetzung von Unionsrecht begreifen' v' . Als solche sind sie über § 6 Nr. 9 StGB auch auf extraterritoriale Taten anwendbar.
7. Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege 53 Nach dem Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege (§ 7 11 Nr. 2 StGB) kann der im Inland betroffene ausländische Täter, der aus bestimmten Gründen nicht ausgeliefert wird, wegen einer im Ausland begangenen Tat nach deutschem Strafrecht verfolgt und abgeurteilt werden'?", Die Strafverfolgung dient in diesem Fall der Durchsetzung des Strafverfolgungsinteresses des Tatortstaates und/oder des Heimatstaates des Täters, der mangels Auslieferung des Täters an der Durchführung eines Strafverfahrens gehindert ist. So lässt sich z. B. die Strafverfolgung eines am Flughafen Frankfurt festgenommenen bosnischen Serben für in Bosnien 103
104
105
106 107 108
Satzger, Europäisierung, S. 389 . Vgl. zu dem im Ent stehen begriffenen Union sschutzprinzip Satzger, IntStR, § 4 Rn. 18; LK-Werle/Jeßberger, Vor § 3 Rn. 251 f. MüKoStGßIAmbos, Vor §§ 3-7 Rn. 16. Vgl. hier zu Sinn , NJ W 2008, 3526 , 3529. Vgl. hierzu eingehend Hecker, ZStW 115 (2003), S. 880 , 894 ff. MüKoStGBIAmbo s, Vor §§ 3-7 Rn. 58 ff., 68 ; ders. , IntStR, § 3 Rn. 120 ff.; Ligeti, Strafrecht in der EU, S. 77 f.; Satzger, IntStR, § 4 Rn. 15.
A. Internationales Strafrecht
47
begangene Kriegsverbrechen neben § I VStGB (Rn. 90) auch auf § 7 " Nr. 2 StGB stützen , wenn eine Auslieferung des Beschuldigten nicht möglich ist' ?". Vom Ausländerbegriff erfasst sind nicht nur nicht-deutsche Staatsangehörige, 54 sondern auch Staatenlose!": Die Anwendung des § 7 " Nr. 2 StGB setzt voraus , dass die Auslieferung des im Inland betroffenen Täters überhaupt zulässig wäre , jedoch nicht stattfindet, weil ein Auslieferungsersuchen nicht gestellt oder abgelehnt wird oder die Auslieferung - etwa wegen des schlechten Gesundheitszustandes des Täters - undurchführbar ist!" . Nach h. M. soll es auf die Gründe , die den Tatort- oder Heimatstaat des Täters dazu bewegen , kein Auslieferungsersuchen zu stellen , nicht ankommen und damit der Verfolgungswille dieser Staaten unbeachtlich sein'P. Diese Auffassung begegnet Bedenken, da sie einen etwa zum Ausdruck gebrachten Verfolgungsverzicht des ausländischen Staates konterkariert, obwohl doch die Strafverfolgung stellvertretend für diesen betrieben werden soll 113. Fall 5: Die türkischen Staatsbürger A und 13, beide Funktionäre der Arbeiterpartei Kurd is- 55 tans (PKK), töten nach einem Hinrichtungsprozess in einem Ausbildungslager der PKK im Libanon einen Parteigenossen P wegen "gruppenschädlichen Verhaltens" . Einige Monate später werden A und 13 in Deutschland festgenommen . Weder die libanesische noch die türki sche Regierung stellen einen Au slieferungsantrag. Im Mordprozess gegen A vor dem zuständigen deutschen Gericht macht die Verteidigung geltend, die Tat sei im Hinblick auf ein zwischenzeitlich erlassenes libane sisches Amnestiege setz nicht mehr verfolgbar. Frage I : Wie mu ss das deutsche Gericht verfahren, wenn der Sachvortrag der Verteidigung zutrifft? 114 Frage 2: Wie ist zu entscheiden, wenn es sich bei dem Tatopfer P um einen türkischstämmigen deutschen Staatsangehörigen hand elt ?
Lösungshinweise Fall 5: Falls die Bestimmungen des internationalen Strafrechts 56 (hier : § 7 " Nr. 2 StGB) die Ausübung deutscher Strafgewalt im Hinblick auf das libanesische Straffreiheitsgesetz nicht zulassen , müsste das deutsche Gericht das Verfahren wegen Vorliegens eines Prozesshindernisses einstellen (Rn . 3). Die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts (§ 211 StGB) hängt nach § 7 " Nr. 2 StGB davon ab, ob die Tat von A und Bauch am Tatort mit Strafe bedroht ist. Nach h. M. erfordert dies die materielle Strafbarkeit der Tat nach Tatortrecht, wobei Rechtfertigungs-, Entschuldigungs- und sonstige Strafausschließungsgründe zu berücksichtigen sind!", soweit sie nicht gegen international anerkannte Rechts-
109
110 111 112
113 114
115
ßGHSt 45,64 (zu § 6 Nr. I StGß a. F.); vgl. auch ßayObLG NJW 1998,392 m. Anm. v. Lagodny, JR 1998, 475 ff.; krit. Ambos, NStZ 1998, 138. MüKoStGBIAmbos , § 7 Rn . 27; LK-WerleIJeßberger, § 7 Rn. 93. Vgl. hierzu MüKoStGBIAmbos, § 7 Rn . 29; LK-WerleIJeßberger, § 7 Rn . 117. OLG Düsseldorf, NSt Z 1985, 268; Scholt en, NSt Z 1994, 266, 268. Vgl. die krit ischen Ausführungen von MüKoStGßIAmbos, § 7 Rn. 30 I: Vgl. hier zu ßGH NJ W 1992,2775; WerlelJeßberger , JuS 2001,141 ,143 I: BGHSt 2, 160, 161 ; 42, 275, 277; OLG Celle, NJW 2001, 2734; MüKoStGBIAmbos, § 7 Rn . 9 f.; LacknerlKiihl, § 7 Rn. 2; SSW-Satzger, § 7 Rn . 17 ff.; ders., IntStR, § 5 Rn . 89 ff.; ders., Jura 20 I 0, 190, 193; LK-WerlelJeßb erger, § 7 Rn . 37.
48
§ 2 Strafrechtliche Spezi alm aterien mit grenzüberschreitenden Bezügen
grundsätze ("internationaler ordre public ") verstoßen!". Unbeachtlich sollen dagegen etwaige am Tatort bestehende prozessuale Strafverfolgungshindernisse sein , weil es allein auf die sachlich-rechtliche Lage ankommet'". Nach dieser Ansicht ginge das Verteidigungsvorbringen von A und B ins Leere und das deutsche Gericht könnte sie wegen des im Libanon begangenen Mordes aburteilen . Mit überzeugenden Gründen vertritt eine im Vordringen befindliche Auffassung eine differenzierende Auslegung der Klausel "am Tatort mit Strafe bedroht ist" . Sie unterscheidet danach, ob der deutsche Strafanspruch an die deutsche Staatsangehörigkeit von Täter oder Opfer (§ 7 I, 11 Nr. I StGB) oder an die Ausübung stellvertretender Strafrechtspflege (§ 7 11 Nr. 2 StGB) anknüpft. Da es im Anwendungsfeld des Personalitätsgrundsatzes um den Schutz deutscher Staatsbürger im Ausland (§ 7 1 StGB) und um die Verhinderung von Straflosigkeit deutscher Täter für im Ausland begangene Taten gehe (§ 7 11 Nr. I StGB), bestehe ein originäres Strafverfolgungsinteresse Deutschlands, welches ungeachtet des Bestehens prozessualer Verfolgungshindernisse im Tatortstaat durchzusetzen sei. Demgegenüber verfolge Deutschland im Fall des § 7 11 Nr. 2 StGB kein eigenes Strafverfolgungsinteresse, sondern handle lediglich in Vertretung des Tatortstaates. Würde der Ergreifungsstaat Verfolgungshindernisse des Tatortstaates - etwa eine Amnestie ignorieren, so käme dies einer Missachtung der souveränen Entscheidung des Tatortstaates gleich und würde sich als unzulässige "Vertretung ohne Vertretungsmacht" darstellen'!". Das OLG Düsseldorf hat sich dieser Ansicht bezüglich einer Amnestie im Tatortstaat angeschlossent'". Der BGH hat dieses Urteil jedoch aufgehoben und die vorherrschende Ansicht best ätigt, wonach die Existenz prozessualer Verfolgungshindernisse im Tatortstaat die Ausübung deutscher Strafgewalt gem . § 7 11 Nr. 2 StGB nicht hinderet-". Lösungsvorschlag Frage I : Entgegen der h. M. liegen die Voraussetzungen des § 7 11 Nr . 2 StGB im Hinblick auf das Amnestiegesetz des Tatortstaates nicht vor . Das in Deutschland geführte Verfahren gegen A und B ist einzustellen. Lösungsvorschlag Frage 2 : Wenn es sich bei dem Tatopfer um einen deutschen Staatangehörigen handelt, ist gem . § 7 1 StGB nach allen Ansichten deutsches Strafrecht anwendbar. Die Existenz eines prozessualen Verfolgungshindernisses im Tatortstaat ist im Anwendungsbereich des passiven Personalitätsprinzips unbeachtlich.
116
117
118
119 120
ßGHSt 42, 275, 279 m. Anm. König, JR 1997,317; Satzger, IntStR, § 5 Rn. 93 ; ders., Jura 2010, 190, 193; LK-WerlelJeßberger, § 7 Rn. 38 ; dies., JuS 2001 , 141, 143. BGH NJW 1954, 1086 (Strafant rag) ; BGHSt 20, 22 (ausI. Strafverlangen); BGH GA 1976, 242 (Ve rjährung); BGH NStZ-RR 2000, 361 (Verjährung); KG JR 1988 , 345 (Amnestie); Fischer, § 7 Rn. 7; Schalten , NStZ 1994, 266 ;. MüKoStGßIAmbos , § 7 Rn. 13; ders., IntStR , § 3 Rn. 127; S/S- Eser, § 7 Rn. 23 ; LacknerlKühl, § 7 Rn. 2; Rath, JA 2007, 26, 34 ; Satzger , Jura 2010, 190, 193; LKWerlelJeßberger, § 7 Rn. 46 ; dies., JuS 2001 , 141, 144. OLG DüsseldorfMDR 1992, 1161; zust. Eser, JZ 1993,875 . BGH NJW 1992,2775 m. abI. Anm . LagodnylPappas, JR 1994, 162.
A. Internationale s Strafrecht
49
8. Kompetenzverteilungsprinzip Neben den oben behandelten Prinzipien des internationalen Strafrechts erlangt in 57 jüngerer Zeit das Kompetenzverteilungsprinzip wachsende Bedeutung. Nach dessen Grundidee wird durch völkerrechtliche Vereinbarung die Zuständigkeit eines Verfolgungsstaates festgelegt, um im Falle konkurrierender Strafansprüche mehrerer Staaten .lurtsdiktionskonflikte!" zu vermeiden' P . Als Beispiel für einen Jurisdiktionskonflikt mag folgender Fall dienen : Die is- 58 raelische Botschaft in Berlin wird von türkischen Staatsangehörigen ang egriffen. Dabei kommt ein deutscher Polizeibeamter durch den Schuss eine s Angreifers ums Leben . In diesem Fall können drei staat liche Strafgewalten einen Verfolgungsanspruch geltend machen, wobei sich die Ausübung deutscher Strafgewalt auf das Territorialitätsprinzip (Tatort in Deutschland) und den passiven Personal itätsgrundsatz (Staatsangehörigkeit des Opfers), die israelische auf das Realprinzip (Staatsschutzgrundsatz) und die türki sche auf das aktive Personalitätsprinzip (Staatsangehörigkeit des Täters) berufen kann !> . Jurisdiktionskonflikte dieser Art lassen sich nur vermeiden, wenn es gelingt, durch völkerrechtliche Vereinbarungen eine Rangfolge (Hierarchie) der legitimierenden Anknüpfungspunkte zu fixieren und möglicherweise auf verfahrensrechtlicher Ebene eine Instanz zu schaffen, die im Konfliktfall über die Verfolgungszuständigkeit ent scheidet. Dass eine solche Lösung möglich ist, zeigt die Regelung in Art. 27 UN-SeerechtsÜber einko m men '>, die der Strafgewalt des Flaggenstaates (Staat, unter dessen Flagge ein Schifffahrt) Vorrang vor der des Küstenstaates einräumt! " . Gewisse Fortschritte sind insoweit im Rechtsraum der EU zu ver zeichnen 126. 59 Am 15. Dezember 2009 ist der Rahmenbeschluss zur Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafverfahren"? in Kraft getreten, der direkte Konsultationen der betroffenen Strafverfolgungsbehörden vorschreibt, um "effiziente Lösung" herbeiführen zu können, bei der die nachteiligen Folgen von parallel geführten Verfahren verm ieden werden (§ 12 Rn. 4) . Au ch Art . 9 11 des am 23 . Juni 2002 in Kraft getretenen Rahmenbeschlusses zur Terrorismusbekämpfung!" und Art . 10 IV des am 16. März 2005 in Kraft getretenen Rahmenbeschlusses über Angriffe auf Informationssysteme F? normieren eine Koordinierungspflicht, wenn mehrere Staaten für die Strafverfolgung zuständ ig sind. Die in Art . 54 SDÜ getroffene Regelung über das transnationale Doppelbestrafung sverbot innerhalb des EU-Rechtsraumes (§ 13) beinhaltet zwar keine Festle121 122
123 124 125
126
127
128 129
Vgl. hierzu Ambos, IntStR, § 4 Rn. I ff.; LK -WerlelJeß berger, Vo r § 3 Rn. 45 f[ Ambos, IntStR, § 3 Rn. 128; LK-WerlelJeß berger, Vor § 3 Rn. 255 r. Vgl. zu die sem Fall MüKoStGBIAmbos, Vor §§ 3- 7 Rn . 62; ders. , Int StR, § 4 Rn . 8 ff. BGBI. 11 1994, 1799; 1995, 602. Vgl. hierzu MüKo StGB IAmbos, Vor §§ 3-7 Rn. 34, 64, § 3 Rn . 13, § 4 Rn . 17; ders. , IntS tR, § 4 Rn. 14. MüKoStG ß IAmbos, Vor §§ 3- 7 Rn. 61; LK-WerlelJeßberger, Vo r § 3 Rn. 48 Ir ABIEU 2009 Nr. L 328, S. 42; vgl. hi erzu Anagnostopoulos, Hasse me r-F S, S. I 12 I, 1137 ff ABIEU 2002 , N r. L 164, S. 3; vg l. hierzu LK-WerlelJeßberger, Vor § 3 Rn. 149. ABIEU 2005 N r. L 69, S. 67.
50
§ 2 Stra frechtliche Spezialmaterien mit grenzüberschreitenden Bezü gen
gung der Strafverfolgungszuständigkeit bei konkurrierenden Strafansprüchen . Sie sorgt aber - nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung verfahrensabschließend er Erledigungen ("re chtskräftige Aburteilun g") - für einen grenzüberschreitenden Strafklageverbrauch nach Maßgabe der Rechtskr aftbestimmungen des Erstverfolgerstaates und schließt dadurch die erneute Aburt eilung derselben Tat in allen anderen Mitgliedstaat en aus.
9. Prozessuale Aspekte der Verfolgung von Auslandstaten 60 Für die Verfolgung von Auslandstaten gilt generell das Opportunitätsprinzip (§ 153 c I Nr. 1 StPO), d. h. die Staatsanwalt schaft kann ohne Zustimmung des Gerichts das Verfahren einstellen . Bei Taten i. S. d. § 5 Nr. 2-6 StGB kommt ein Absehen von der Verfolgung aus politischen Gründen in Betracht (§ 153 d I StPO i. V. m. § 74 a I Nr. 2-6 GVG sowie § 120 I Nr. 2-7 GVG). Zu beachten ist aber, dass das Einstellungsermessen der Staatsanwaltschaft erheblich oder sogar auf Null reduziert sein kann, wenn es um die Verfolgung von Auslandstaten geht, die sich gegen strafrechtlich zu schützende Interessen der EU richten 130 . So kann sich etwa die Einstellung eines wegen Verdachts eines im Ausland zum Nachteil der EU begangenen Subventionsbetruges (§§ 6 Nr. 8, 264 I, VII Nr. 2 StGB) geführten Strafverfahr ens als Verstoß gegen Art. 325 I AEUV darstellen und im Wege eines von der Kommission anzustrengenden Vertrag sverletzungsverfahren s durch den EuGH festgestellt werden .
V. Literaturhinweise Am bos, Intern ation ales Stra frecht, 2. Autl ., 2008 , §§ 1--4 Böse, Die Stellun g des sog . Interna tional en Stra frechts im Delikt saufbau und ihre Konsequenzen für den Tatbes tandsirrtum, Maiwald-F S, 20 I0, S. 61 Cornils, Der Begehungsort von Äußer ungsdelikten im Internet, JZ 1999, 394, 396 Eser, Das " Internationale Stra frecht" in der Recht spre chu ng des BOH, in: Roxin/W idmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bunde sger ichtshof, Festga be aus der Wissenschaft, Bd. IV, 2000 , S. 3 Hecker, Orenzüb erscheitend e Luftve runre inigungen, ZStW 115 (200 3), S. 880 Heinrich, Der Erfolgsort beim abstrakten Gefährdungsdelikt. OA 1999, 72 Hilgendorj, Über legungen zur strafrechtlichen Interpr etation des Ubiquitätsprinzips im Ze italte r des Internet, NJW 1997, 1873 Koch, Nationa les Strafrecht und glob ale Internet-Kriminalität. Zur Reform des Stra fanwendun gsrechts bei Kommunikationsdelikten im Internet, OA 2002 , 703 Mitsc h, Mitwirkung am versuchten Schwangerschaftsabbruch (an) einer N ichtschwangeren im Au sland , JU RA 1989, 193 Rath, Internat ionales Strafrecht (§§ 3 ff. StO B) - Pr üfungsschema, Ausla ndsbezug, Tatortbe stimrnung, JA 200 6, 435 und JA 200 7, 26 Rotsch, Der Handlu ngsort i. S. d. § 9 I StO B - Zur Anwendung deut schen Stra frechts im Falle des Unterlassens und der Mittäter schaft, ZIS 20 I0, 168 130
Vgl. hierzu Jok isch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahr en, S. 166 ff.
B. Transnationales Strafrecht
51
Satzger. Die Anwendung des deutschen Strafrechts auf gren züberschreitende Gefährdungsdel ikte , NStZ 1998 , 112 ders., Internationales und Europäisches Strafrecht, 4. Aufl ., 2010, §§ 3-6 ders ., Das deutsche Strafanwendungsrecht (§§ 3 Ir StGI3), Jura 2010, 108; 190 Sieber, Internationales Strafrecht im Internet - Das Territorialitätsprinz ip der §§ 3, 9 StGB im globalen Cyberspace, NJW 1999, 2065 Vormbaum, Schutz der Rechtsgüter von EU-St aaten durch das deutsche Strafrecht, 2005 , S.4-33 Walter, Einführung in das internation ale Strafrecht, JuS 2006, 870 ff.; 967 ff. Werlel.leßberger, Grundfalle zum Strafanwendungsrecht, JuS 2001 , 35; 14 I
VI. Rechtsprechungshinweise BVerfGE 63 , 343 (legitimierender Anknüpfungspunkt) BVerfGE 92 , 277 (legitimierender Anknüpfungspunkt) BGI-ISt 22,282 (Schutzbereich der Staatsschutzdelikte) BGI-ISt 29, 73 (Sc hut zbere ich der Staatsschutzdelikte) BGI-ISt 29, 85 (Sch utzbereich des § 170 StGB) BG H NJW 1992 , 2775 (Prinzip der stellvertretenden Strafrechtsptlege) BG HSt 42 , 279 (Erfordernis der Tatortstrafbarkeit) BG HSt 45,64 (Weltrechtsprinzip; zu § 6 Nr . I StGB a.F.) BGI-ISt 46 , 2 I 2 (Er folgsbegriff des § 9 StGB) BGI-ISt 46,292 (Weltrechtsprinzip bei der Verfolgung internationaler Verbrechen) OLG Düs seldorfMDR 1992, 1161 (Amnestie im Tatortstaat und § 711 Nr. 2 StGB)
B. Transnationales Strafrecht I. Begriff und Funktion des transnationalen Strafrechts Der Begriff " trans na tio na les Strafrecht" bezeichnet eine Rechtsmaterie, die sich 6 1 im weitesten Sinne mit dem rechtlic hen, institutionell-organisatorischen und verfahrenstechnisc hen Instru mentarium der (intemational-arbeitsteiligen) grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen sowie damit zusammenhängender Rechtsschutzprobleme befasst. Funktional zielt das transnationale Strafrecht auf die Bewältigung strafrechtsrelevanter Lebenssachverhalte ab, die nicht ausschließlich auf nationale materie ll- und verfahrensrechtliche Problemlösungen gestützt werden k önnen!" . Vor dem Hintergrund einer zunehmenden "Transnationalisierung der Verbrechensbegehung"!" in einer ökonomisch, informationstechnisch und politisch immer enger verflochtenen Welt 133 hat sich inzwischen die Einsicht
131 132
133
Schomburg/Lagodny/Gleß/f1ackner , IRhSt, Einleitung Rn. 15 Ir Ziegenhahn, Men schenrechte, S. 36 . Zu Globalisierung und Strafrecht vgl. Hilgendorf, in: Dre ier/Forke l/Laubenthal (Hrsg.), Festschrift 600 Jahre Würzburger Ju ristenfakult ät. 2002, S. 333 , 338 ff.
52
§ 2 Stra frec htliche Spezialmaterien mit grenzü berschreitenden Bez ügen
durchgesetzt, dass den neuen globalen Herausforderungen der internationalen Kriminalität nur durch das Zusamme nwirken der Staatengemeinschaft und durch eine international koordinierte Strafverfolgung begegnet werden kann . Namentli ch der die innere Sicherh eit der Staaten bedrohende internationale Terrorismus sowie bestimmte Erscheinungsformen der schweren und organisierten Kriminalität (u. a. Menschenhandel, Drogen- und Waffenhandel, illegaler Technologietransfer, Cybercrime, Umweltkriminalität) stellen Herausforderungen dar, die auf rein nationaler Ebene nicht angemessen zu bewältigen sind . 62 Ein Bereich , in dem die transnationale Zusammenarbeit eine lange Tradition besitzt, ist die internationale Rechtshilfe in Strafsachen. Hierunter versteht man jedwede Unterstützung, die vom ersuchten Staat für ein ausl ändi sche s Strafverfahren (des ersuchenden Staates) gewährt wird . Traditionelle Bereiche der Rechtshilfe sind der zwischenstaatliche Auslieferungsverkehr '>', die Unterstützung bei der Vollstreckung strafrechtlicher Sankt ionen (Vollstreckungshilfe)!" und die sog. "kleine" oder sonstige Rechtshilfe!" , bei der es um alle denkbaren Unterstützungsh andlungen geht, die nach dem innerstaatlichen Verfahrensrecht des ersuchten Staates zulässig sind. Hierzu geh ören z. B. die Zust ellung von Ladungen und Urte ilen, die Vernehmung von Zeugen und Beschuldigten oder Beschlagnahme und Herausgabe von Beweismitteln!" , aber auch die Durchführung grenzüberschreitender operativer Maßnahmen wie Überwachung des Fernrneldeverkehrs! " , Einsatz von verdeckten Ermittlern sowie Observation oder kontrollierte Lieferungen . Vgl. hierzu folgend en 63 Beispielsfall: Die deut sch e Staat sanwalt schaft er mittelt gegen den türk isch en Staatsbürger A wegen des dringenden Ve rdacht s, in Deut schl and eine n Auftragsm ord begangen zu haben. Noc h bevor A in Untersuch ungs haft genommen werde n kann , hat er sich nach Frankreich abgesetzt. Zw ar kann A nach Abschluss der staatsa nwa ltliehen Ermitt lung en auch dann in Deutschl and angeklagt werden, we nn er abwes end ist. Die Haupt verhandlung vor einem deutsch en Gericht kann aber nur in Anwesenheit des A stattfi nde n (§ 230 I StPO). Mit Rücksicht au f d ie völke rrechtliche Sou veränität Frankreic hs dürfen deut sche Staatsorgane nicht ein fac h nach Frankreich fahre n und den mit international em Haftbe fehl ges uchten A festnehmen, um ihn nach Deutschland zu verbringe n. Vie lmehr muss der Recht shilfeweg beschritten werd en. Die deut sche Regierung wird die fran zösische daru m ersuche n, den Aufenthaltsort des A in Frankreich zu erm itteln , ihn festzunehmen und an Deut schl and aus zuliefern. Die Auslieferung gesta ltet sich ggf. so, dass A an der Grenze den deutschen Behörde n übergeben wird. Innerh alb der EU wird anstelle des klassische n Auslieferungs verfa hrens ein wesent lich vereinfach tes Übergabev erfahren prakt iziert (" E ur opä ischer Haftbefehl" ; vgl. § 12 Rn. 20 ff.), wenn es sich - wie hier - um eine sog. .Katalogtat" (umschrieben als "v orsätzliche Tö tung" ) handelt.
134
135 136 137
138
Vgl. hierzu Hackner u. G. , Leitfaden , Rn. 54 ff. und die instruktiven Einführungen von Schaefer, NJW -Spezi al 2008, 536 und Weigend, Ju S 2000, 105. Vgl. hie rzu Hackner u. a., Leitfade n, Rn. 133 ff. Vgl. hierzu Hackner u. a., Leit fade n, Rn. 171 ff. Vgl. hierzu OLG Köln StV 200 6, 229 und die Bespre chu ng von GleßiSpencer, StV 200 6, 269 ff. Vgl. hierzu Schuster, NS tZ 2006 , 657 ff.
B. Transnationales Strafrecht
53
Die Pflege der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen ist seit jeher ein zentrales 64 Anliegen des Europarates, der mit derzeit 47 Mitgliedstaaten größten Staatenvereinigung Europas . Die Europaratskonventionen im Bereich der Rechtshilfe fungieren als "Mutterkonventionen" des europäischen Rechtshilfeverkehrs, auf denen zahlreiche bilaterale oder multilaterale Ergänzungsverträge sowie deliktsbezogene Übereinkommen aufbauen . Zu einer Erleichterung der Rechtshilfekooperation innerhalb der EU führen die Art. 48 ff., 59 ff. SDÜ, die als sog. "Schengenbesitzstand" in die frühere 3. Säule der EU überfuhrt wurden! " : Die internationale Kooperation der 27 EU-Mitgliedstaaten vollzieht sich heute jedoch nicht mehr ausschließlich in den Formen des traditionellen Rechtshilfeverkehrs. Innerhalb der Union erlangen neuartige Formen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in Strafsachen wachsende Bedeutung, die sich von den Mechanismen der klassischen Rechtshilfe lösen!" , So handelt es sich z. B. in bestimmten Fällen der "SchengenKooperation", namentlich bei der grenzüberschreitenden Observation und Nacheile (Art . 40 , 41 SDÜ) nicht mehr um Rechtshilfe im engeren Sinne, weil den observierenden bzw. nacheil enden ausländischen Polizeibeamten eine - freilich eng umgrenzte - Mitnahme von Hoheitsgewalt zugestanden wird (§ 5 Rn. 36, 108). In Eilfällen wird sogar auf ein zuvor gestelltes Ersuchen verzichtet. Zu weiteren Erleichterungen fuhren Bestimmungen wie Art. 52 SDÜ, wonach die unmittelbare Übersendung justizieller Urkunden an Personen gestattet ist, die sich in einem Vertragsstaat aufhalten. Auch erfolgt die gesamte .Europol-Kooperation" außerhalb des klassischen Rechtshilfeverkehrs (§ 5 Rn. 62) . Der Europäische Haftbefehl stellt den Auslieferungsverkehr zwischen den EU-Mitgliedstaaten auf eine neue rechtliche Grundlage und markiert zugleich einen grundlegenden Paradigmenwechsel (§ 12 Rn. 20 ff.). Durch die Schaffung eines unionsweit vollstreckbaren Festnahme- und ÜbersteIlungsbefehls rückt das an die Stelle des klassischen Auslieferungsverfahrens tretende unionsinterne Übergabeverfahren bereits in die Nähe einer innerstaatlichen Zusammenarbeit. Der weitere Ausbau und die Effektivierung der polizeilichen und justiziellen 65 Zusammenarbeit stellen herausragende Ziele auf dem Weg zu einem " Raum der Freiheit , der Sicherheit und des Rechts" (Art . 3 " EUV, 67 I AEUV; ex-Art. 29 EUV) dar, zu deren Verwirklichung alle Mitgliedstaaten der EU verpflichtet sind. Die Errichtung des Schengener Informationssystems (SIS) , Europäischen Polizeiamtes (Europo\), Europäischen Justiziellen Netze s (EJN) und der supranationalen ClearingsteIle Eurojust sowie zahlreiche Übereinkommen und Rechtsakte zur polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit (§ 12 Rn. 5 ff.) zeugen von der fortschreitenden Europäisierung der international-arbeitsteiligen Verbrechensbekämpfung . Transnationales Strafrecht stellt insoweit eine Spezialmaterie des Europäischen Strafrechts dar. Begleitet werden die von Europarat und EU ausgehenden Aktivitäten zur Ver- 66 besserung der zwischen staatlichen Kooperation von zahlreichen Initiativen auf globaler Ebene, die zur Erarbeitung völkerrechtlicher Übereinkommen im Rahmen der UN (§ 5 Rn. 5 ff.), zur Schaffung weltweiter Netze des Informationsaus139 140
Vgl. hierzu Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 82 ff.; Vogel, JZ 2001,937,938 ff Vgl. Hackner u. a., Leitfaden, Rn. 3; Vogel, JZ 2001, 937, 938 ff.
54
§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenzüberschreitenden Bezügen
tauschs sowie zur Ausweitung der formellen und informellen Zusammenarb eit im Kampf gegen internationale Kriminalität beitragen141 . 11. Rechtshilfe in Strafsachen am Beispiel der Auslieferung 67 In ihrem Kern wird die grenzüberschreit ende Zusammenarbeit in Strafsachen auch weiterhin von der traditionellen , durch Ersuchen gekennzeichneten Rechtshilfe geprägt. Ein wegen seiner völkerrechtlichen und politischen Aspekte mitunter höchst brisanter Teilbereich der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen ist die Auslieferung' <. Zu denken ist in diesem Zusammenhang etwa an das in England geführte Auslieferungsverfahren gegen den chilenischen Ex-Diktator Pinoeher" oder an die vertrackte Situation nach der Festnahme des von Deutschland und der Türkei mit Haftbefehlen gesuchten Kurdenführers Öcalan in Italien144. Nachfolgend sollen daher am Beispiel der Auslieferung die wesentlichen Grundlagen des zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehrs in Europa dargestellt werden.
1. Rechtliche Grundlagen des Auslieferungsverkehrs 68 Das Auslieferungsrecht beruht auf drei Rechtsschichten : Europaratskonvention nebst Zusatzprotokoll und Ergänzungsverträgen, EU-Recht, nationales Recht. Innerhalb Europas und im Verhältnis zu Israel bildet das Europäische Auslieferungsübereinkommen v, 13. Dezember 1957 (EuAIÜbk)145 des Europarates das zentrale Regelungswerk für den vertraglichen Auslieferungsverkehr (§ 12 Rn. 14). Dieses wird durch zwei Zus atzprotokolle v. 15. Oktober 1975146 und v. 17. März 1978147 sowie durch bilaterale Auslieferungsverträge !" und deliktsspezifische Europaratsübereinkommen 149 ergänzt. Der Auslieferungsverkehr zwischen den EU-Mitgliedstaaten, die an den Sehengen-Besitzstand gebunden sind, wird durch Spezialregelungen des multilateralen Schengener Durchführungsübereinkommens (Art. 59-66 SDÜ) erleichtert (§ 12 Rn. 17). Hinzu treten ergänzend die im
141 Vgl. hierzu eingehend Ziegenhahn. Menschenrechte, S. 48 ff. 142 Vgl. hierzu v. Bubnoff, Leitfaden, S. 12 ff.; Hackner u. a., Leitfaden, Rn. 54 ff.; Weigend, JuS 2000, 105. 143 Vgl. hierzu Weigend, JuS 2000 , 105, 107. 144 Es handelte sich hierbei um einen negativen Strafgewaltskonllikt, da Deutschland kein Auslieferungsersuchen an den Festnahmestaat Italien stellte, der Öcalan daraufhin wieder auf freien Fuß setzte. In der Folgezeit kam es dann zu der spektakulären völkerrechtswidrigen Entführung Öcalans in die Türkei, wo er zunächst zum Tode, später zu lebenslanger Haft verurteilt wurde; vgl. hierzu Kühne, JZ 2003 , 670; Ligeti, Strafrecht in der EU, S. 82; Wassermann, NJW 1999, 760. 145 ETS Nr. 24 ; ßGß I. 11 1964, 1369; 1976, 1778 ; 11982,2071; 111994 ,299. 146 ETS Nr. 86; von Deutschland nicht ratifi ziert. 147 ETS Nr. 98 ; ßGß I. 11 1990, 118; 1991,874. 148 Beispielsweise hat Deutschland derartige Verträge mit Italien, den Niederlanden, Österreich, der Schweiz und Israel abgeschlossen; vgl. Hackner u. a., Leitfaden, Rn. 296. 149 Vgl. hierzu Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, IRhSt, Einleitung Rn. 35 ff.
B. Transnationales Strafrecht
55
Rahmen der früheren 3. Säule der EU entwickelten Instrumente, namentlich das Übereinkommen v. 27. September 1996 über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der EU 150, das Übereinkommen v. 10. März 1995 über das vereinfachte Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der EU151 (§ 12 Rn. 18 f.) sowie der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten'< (§ 12 Rn. 20 ff.) . Den auf nationaler Ebene erlassenen Rechtshilfegesetzen'<' - in Deutschland handelt es sich um das Gesetz über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG)154 - kommt im wesentlichen die Bedeutung zu, die Grundsätze festzulegen, die im Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr mit solchen Staaten anzuwenden sind , mit denen keine Verträge abgeschlossen worden sind (vertragsloser Rechtshilfeverkehr). Außerdem enthalten die nationalen Gesetze Bestimmungen über das innerstaatliche Auslieferungsverfahren. § I III IRG stellt klar , dass völkerrechtliche Vereinbarungent'", soweit sie unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht geworden sind, den Vorschriften des IRG vorgehen. Für die Praxis bedeutet dies , dass in jedem Einzelfall geprüft werden muss, ob eine solche vorrangige Regelung existiertr". Nach Auffassung der deutschen Rechtsprechung ist der ersuchte Staat aber nicht daran gehindert, sein innerstaatliches Auslieferungsrecht dann anzuwenden, wenn und insoweit es zu Gunsten des ausländischen Verfahrens über den Auslieferungsvertrag hinausgehtt'".
2. Grundprinzipien und allgemeine Voraussetzungen der Auslieferung a) Grundsatz der Gegenseitigkeit Rechtshilfe wird nur unter der Voraussetzung geleistet, dass der ersuchende Staat 69 dem ersuchten Staat im vergleichbaren umgekehrten Fall ebenfalls Rechtshilfe leistet (Grundsatz der Gegenseitigkeit). Auf vertrags loser Grundlage ist die Auslieferung einer verfolgten Person nur zulässig, wenn die Gegenseitigkeit generell oder aufgrund einer Zusicherung im Einzelfall verbürgt ist (§ 5 IRG) . Im Vertragsbereich stellt dagegen bereits das Übereinkommen im Umfang seines Regelungsgehalts die Gegenseitigkeit ("do ut des ") her 158. 150
151
152 153
154 155 156
157
158
ABlEG 1996 Nr . C 313 , S. 11; vgl , da s deutsche Zustimmungsge setz v. 27 . September 1998 (13GB!. II 1998,2253). AB lEG 1995 Nr. C 78, S. 2; vg\. das deutsche Zustimmungsgesetz v. 7. September 1998 (13GB!. II 1998, 2229, 2253; 1999, 357). ABlEG 2002 Nr . L 190, S. I. Rechtsvergleichende Hinweise liefern Schomburg/Lagodny /Gleß/Hackner , [RhSt, Einleitung Rn. 152 ff. 13GB\. [ [994, [537. Vg!. hier zu Schomburg/Lagodny /Gleß/Hackner, [RhSt, Anhang 18 (Konventionsli ste) . Lagodny , [RhSt, § I [RG Rn. 7 ff: OLG Frankfurt a. M., NStZ-RR 2001 , 156 m. w. N .; krit. hierzu Lagodny , IRhSt, § I IRG Rn . 19 ff. v. BubnojJ, Leitfaden, S. 26 ; Hackner u. a., Leitfaden , Rn . 24, 104.
56
§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenzüberschreitenden Bezügen
b) Beiderseitige Straf- und Verfolgbarkeit 70 Grundsätzlich hängt die Auslieferungsfähigkeit des Verfolgten davon ab, ob dessen Tat auch nach dem Recht des ersuchten Staates strafbar und verfolgbar ist (§§ 2, 3 I IRG; Art. 2 I EuAIÜbk) . Deutschland müsste daher z. B. das Auslieferungsersuchen eines islamisch geprägten Staates ablehnen, der gegen seinen Staatsangehörigen wegen eines nach islamischem Recht strafbaren Ehebruchs ein Strafverfahren durchführen will 159. Im Übrigen erfolgt eine Auslieferung nach § 3 11 IRG und Art . 2 I EuAIÜbk nur wegen Straftaten, die im Höchstmaß mit Freiheitsentziehung von mindestens einem Jahr bedroht sind . Im vertraglich geregelten Auslieferungsverkehr gilt regelmäßig ein streng formeller Prüfungsmaßstab, d. h., der ersuchte Staat prüft nicht selbst den Tatverdacht, sondern unterstellt diesen nach Maßgabe des ausländischen Haftbefehls oder Urteils"'". Zu einer Prüfung des Tatverdachts kommt es nur dann , wenn besondere Umstände dies im Einzelfall nahe legen, z. B. weil Anhaltspunkte für eine missbräuchliche Nutzung des Auslieferungsanspruchs bestehen oder die Tat bereits in dem ersuchten oder einem dritten Staat Gegenstand eines mit Freispruch oder Einstellung abgeschlossenen Verfahrens war'?' . Im vertragslosen Auslieferungsverkehr erstreckt sich die Prüfung hingegen regelmäßig darauf, ob hinreichender Tatverdacht vorliegt (§ 10 11 IRG)162. 71 Der Grundsatz beiderseitiger Straf- und Verfolgbarkeit wird durch einige Ergänzungsverträge und das Übereinkommen v. 27 . September 1996 über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der EU (Rn . 68) durchbrochen (§ 12 Rn. 19). So entfallen nach dessen Art . 3 die Vorbehaltsmöglichkeiten bei der Verfolgung bestimmter Taten der OK sowie bei politischen und Fiskaldelikten. Eine Auslieferung kommt nach dem Übereinkommen auch für Delikte in Betracht, für die im ersuchten Staat nur eine Höchststrafe von mindestens sechs Monaten gilt. Im Umfang der Positivliste des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten wird innerhalb der EU auf das Erfordernis der beiderseitigen Straf- und Verfolgbarkeit verzichtet (§ 12 Rn. 26) . c) Grundsatz der Spezialität 72 Ein weiteres tragendes Prinzip des traditionellen Auslieferungsverkehrs ist der Grundsatz der Spezialität (§ ll IRG, Art. 14 I EuAIÜbk). Er soll sicherstellen, dass eine ausgelieferte Person im ersuchenden Staat speziell nur wegen der Tat verfolgt wird, deretwegen die Auslieferung bewilligt worden ist 163. Beispielsweise kann der ersuchte Staat von dem ersuchenden Staat verbindliche Zusicherungen dafür verlangen, dass der Betroffene ausschließlich wegen der Delikte ver159
160
161 162
163
Weigend, JuS 2000, 105, 107. ßVerfG NJW 1983, 1726; ßGH NJW 1984,2046,2047 f.; ßGI-ISt 32, 314; Hackner u. a., Leitfaden, Rn. 105; Schaefer, NJW-Spe ziaI2008, 536. BGHSt 27,191 ; BGHSt 32, 314; OLG Karlsruhe NJW 1991,2225 . OLG Frankfurt a. M. NStZ-RR 2006, 343. Hackner u. a., Leitfaden, Rn. 28, 94 ff.; Weigend, JuS 2000, 105, 109.
B. Transnationales Strafrecht
57
folgt wird , die der Auslieferungsbewilligung zugrunde liegen und dass dieser auch nicht ohne ausdrückliche Zustimmung des ersuchten Staates an einen dritten Staat ausgeliefert oder abgeschoben wird. Im vertraglichen Auslieferungsverkehr tritt der Spezialitätsschutz automatisch im vertraglich festgelegen Umfang ein . Dem Ausgelieferten muss ferner nach Abschluss des Strafverfahrens und einer etwaigen Strafvollstreckung eine Frist eingeräumt werden, innerhalb derer er den ersuchenden Staat verlassen kann, ohne den Schutz des Spezialitätsgrundsatzes zu verlieren . Andere, vor der Auslieferung begangene Straftaten des Ausgelieferten sind dadurch der Verfolgungs- und Vollstreckungsgewalt des ersuchenden Staates entzogen. Für in Deutschland eingehende Auslieferungsersuchen bestimmt § 72 IRG die Verbindlichkeit ausländischer Bedingungen für deutsche Strafverfolgungsorgane . Spezialitätsvorbehalte, mit denen ein ausländischer Staat die Auslieferung des Verfolgten verbunden hat, sind daher von deutschen Behörden und Gerichten zu beachten'?'. Der Spezialitätsgrundsatz dient damit dem Ausgleich zwischen dem Interesse des ersuchenden Staates an umfassender Strafverfolgung einerseits und dem Schutz des Verfolgten vor übermäßiger Beeinträchtigung andererseits.
d) Auslieferungshindernisse Auch wenn alle oben genannten Voraussetzungen gegeben sind , kann Deutschland 73 eine Auslieferung ablehnen, wenn diese auf Grund der besonderen Umstände des Einzelfalles wesentlichen Grundsätzen des Völkerrechts oder der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde (Vorbehalt des "ordre public" ; § 73 IRG)165. Zu nennen sind hier folgende zentralen Auslieferungshindernisse: Grundsatz der Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger (Art. 1611 S. I GG) . Inzwischen ermöglicht allerdings eine Grundgesetzänderung prinzipiell die Auslieferung Deutscher an internationale Strafgerichtshöfe und die Mitgliedstaaten der EU166 (§ 12 Rn. 35) . Drohende Todesstrafe im ersuchenden Staat"? (Art . 102 GG; § 8 IRG)l68. Drohende übermäßig harte Bestrafung, Folter oder unmenschliche Behandlung im ersuchenden Staat, die sich als Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellen (§ 3 Rn. 39 ff.)169. 164 Hackner u. a., Leitfaden, Rn. 98 Ir. 165 OLG Köln NJW 2008, 3300; Lagodny, IRhSt, § 73 Rn. I II 166 Vgl. Art. I des Gesetzes v. 29. November 2000 (BGBI. I, 1633); hierzu Uhle, NJW
2001,1889.
167 Von den 47 Europaratsstaaten können derzeit 46 die Todesstrafe in Friedenszeiten weder verhängen noch vollstrecken, da sie das 6. Zusatzprotokoll der EMRK ratifiziert haben. Einzige Ausnahme ist Russland, das noch kein Ratifikationsverfahren durchgeführt hat; vgl. hierzu Rosenau , ZIS 2006, 338 II 168 Hackner u. a., Leitfaden, Rn. 119 ff.; Weigend, JuS 2000, 105, 108; WoljJ, StV 2004, 169
154 ff Hackner u. a., Leitfaden, Rn. 122 f.; Ziegenhahn . Menschenrechte, S. 409 ff.
58
§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenzüberschreitenden Bezügen
- Drohende rechtsstaatswidrige Verfolgung im ersuchenden Staat. Eine Auslieferung ist unzulässig, wenn ernstliche Gründe für die Annahme bestehen, dass die verfolgte Person im Falle ihrer Auslieferung wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Anschauungen verfolgt, bestraft oder benachteiligt werden würde (§ 6 11 IRG ; Art. 3 11 EuAIÜbk)170. - Grundsatz der Nichtauslieferung bei politischen und militärischen Delikten (§§ 6 I, 7 I IRG ; Art . 3 1,4 EuAIÜbk)1 71 . Diese Vorbehalte werden indes durch moderne Instrumente der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Europa eingeschränkt (§ 12 Rn. 19, 26) . - Grundsatz der Nichtauslieferung bei fiskalischen Taten . Schon das 2. ZP zum EuAIÜbk sowie Art . 63 SDÜ haben die in Art . 5 EuAIÜbk enthaltene fakultative Klausel der Verweigerung von Rechtshilfemaßnahmen wegen der steuer- und zollrechtliehen Natur der Straftat so weit eingeschränkt, dass dieser Vorbehalt kaum noch praktische Bedeutung hat. - Verjährung oder Amnestie. Die Auslieferung ist nach § 9 Nr. 2 IRG unzulässig, wenn die Verfolgung oder Vollstreckung der Tat, deretwegen um Auslieferung ersucht wird und für die (zumindest auch) die deutsche Gerichtsbarkeit begründet ist, nach deutschem Recht verjährt oder aufgrund eines deutschen Straffreiheitsgesetzes au sgeschlossen ist 172 • Nach Art . 10 EuAIÜbk wird die Au slieferung nicht bewilligt, wenn die Verfolgung oder Vollstreckung der Tat nach den Vorschriften des ersuchenden oder ersuchten Staates verjährt ist. Im Anwendungsbereich des Art . 62 I SDÜ richtet sich die Frage der Unterbrechung der Verjährung jedoch allein nach dem Recht des ersuchenden Staates!" . - Rechtskräftige Aburteilung derselben Tat im ersuchten Staat (§ 9 Nr . I IRG ; § 9 EuAIÜbk) in Form eines Gerichtsurteils oder einer qualifizierten, d. h. materielle Rechtskraft entfaltenden Verfahrenseinstellung ("ne bis in idem")! " , Das in Art . 54 SDÜ normierte transnationale Doppelbestrafungsverbot, das derzeit von 30 europäischen Staaten (27 EU-Staaten sowie Island, Norwegen und Schweiz) angewendet wird (§ 13 Rn. 13), bewirkt, dass die rechtskräftige Aburteilung in einem dieser Staaten innerhalb des Rechtsraumes dieser Vertragsstaaten zu einem Au slieferungshindernis führt!" .
f-Iackner u. a., Leitfaden, Rn. 116. Hackner u. a., Leitfaden, Rn. 113 ff.; Weigend, JuS 2000, 105, 108. 172 Vgl. hierzu BGH BeckR S 2010 , 06066 ; BGHSt 52, 191 = NJW 2008, 1968 m. krit. Anm . Böse, NStZ 2008, 636; OLG Köln NVwZ-RR 2009, 221. 173 Zur Frage der Gleichst ellung einer auf einem Ruhen bzw. einer Hemmung beruhenden Verjährungsverlängerung mit einer Unterbr echung der Verjährung vgl. ßGH NStZ 2002,661 m. Anm. Hecker, NStZ 2002, 663; OLG StuUgart NStZ-RR 2001, 345. 174 Hackner u. a., Leitfaden, Rn. 261 ff.; Weigend, JuS 2000, 105, 108. 175 OLG München NJW 2007 , 788, Schomburg, 1RhSt, Einleitung Rn. 69; Art. 54 SDÜ Rn. 5; ders., Eser-FS , S. 829, 837. 170
171
B. Transnationales Strafrecht
59
3. Auslieferungsverfahren a) Verfahrensweise nach einem Fahndungserfolg in Deutschland Wie sich das Auslieferungsverfahren nach einem Fahndungserfolg in Deutschland 74 praktisch gestaltet, lässt sich an dem folgenden Beispielsfall' ?" demonstrieren: Bei einer Verkehrskontrolle wird der däni sche Staatsbürger Hans en angehalten. Eine Überprüfung seiner Personalien ergibt, dass er von der Staatsanwaltschaft Lüttich (Belgien) im Schengener Informationssystem (SIS) zur Fahndung ausgeschrieben ist. Der Ausschreibung liegt eine Verurteilung wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von 8 Jahren zugrunde, der sich Hansen durch Flucht entzogen hat.
Das im März 1995 eröffnete und mittlerweile in ganz Westeuropa etablierte SIS 75 ist ein staatenübergreifendes, computergestütztes polizeiliches Fahndungssystem , das in den Vertragsstaaten des SDÜ ("Fahndungsunion") den Online-Zugriff auf polizeiliche Fahndungsdaten ermöglicht!" (§ 5 Rn. 48 ff.). Das BKA als deut sche SIRENE (Supplementary Information Request at the National Entry) erhält automatisch aufgrund der Abtrage im nationalen Fahndungssystem eine Treffermeldung , die über den SIS-Zentralrechner in Straßburg auch die belgisehe SIR ENE erreicht. Diese informiert die zuständigen belgischen Justizbehörden, welche nunmehr die Auslieferung gegen Hansen betreiben müssen. Das BKA erstellt eine Übersetzung der Rubriken " Sachverhaltsbeschreibung" und " Beschreibung des Tatvorwurfs" in dem Begleitpapier zur SIS-Fahndung und übersendet das in französischer Sprache verfasste Papier nebst übersetzten Teilen an die für die Festnahme verantwortliche Polizeidienststelle. Zugleich wird das zuständige Landeskriminalamt informiert, das seinerseits die nach §§ 13 11, 14 I IRG sachlich und örtlich zuständige Generalanwaltschaft sowie das Landesjustizministerium unterrichtet. Die Ausschreibung von Hansen im SIS beruht auf Art . 95 SDÜ , erfolgte also mit dem Ziel der Festnahme zum Zwecke der anschließenden Auslieferung. Nach Art . 64 SDÜ steht eine Ausschreibung gern. Art . 95 SDÜ einem Ersuchen um vorläufige Festnahme i. S. d. Art . 16 EuA IÜbk gleich . Die Polizeibeamten werden Hansen daher nach § 19 IRG vorläufig festnehmen . Nach § 22 IRG ist Hansen unverzüglich, spätestens am Tage nach seiner Festnahme, dem zuständigen Haftrichter am Amtsgericht vorzuführen und von diesem zu vernehmen. Dabei wird Hansen darüber belehrt, dass er sich der Unterstützung eines Beistandes (§ 40 IRG) bedienen kann und es ihm freisteht, sich zum Tatvorwurf zu äußern. Außerdem erhält er Gelegenheit, zu seiner vorläufigen Festnahme Stellung zu nehmen und Einwendungen gegen seine Auslieferung zu erheben. Erhebt er keine Einwendungen, ist er auch über die Möglichkeit des vereinfachten Auslieferungsverfahrens! " und dessen Rechtsfolgen zu belehren. Wenn der Haftrichter sich von
176 177 178
Vgl. hierzu Hackner u. a., Leitfade n, Rn. 62. Vgl. hierzu Gleß ILüke, JURA 1998,70,74 f.; Kühn e, Strafprozessrecht, Rn. 77. Im vereinfachten Auslieferungsverfahren, das nur mit Zustimmun g des Verfolgten durchgeführt wird, entfallt das Zul ässigkeitsverfahren vor dem OLG; vgl. hierzu Hackner u. a., Leitfaden , Rn. 86 ff.
60
§ 2 Strafrechtliche Spezi alm aterien mit grenzüberschreitenden Bezügen
der Identität Hansens und davon überzeugt hat, dass sich die belgisehe Ausschreibung auf ihn bezieht, ordnet er an, dass Hansen bis zur Entscheidung des OLG über die Anordnung der vorläufigen Auslieferungshaft!" festzuhalten ist (§ 22 111 S. 2 IRG), welche die zuständige Generalstaatsanwaltschaft unverzüglich herbeizuführen hat (§ 22 111 S. 3 i. V. m. § 21 IV S. 2 IRG) . Für Hansen ist diese Entscheidung unanfechtbar (§ 22 111 S. 3 i. V. m. § 21 VII IRG) . Von der Festnahmeentscheidung ist die belgisehe Seite zu unterrichten, was die Generalstaatsanwaltschaft - sinnvollerweise über das BKA und die belgisehe SIRENE - sicherstellt.
b) Förmliches Auslieferungsverfahren in Deutschland 76 Das förmliche Auslieferungsverfahren beginnt, wenn der die Übergabe einer verfolgten Person begehrende (ersuchende) Staat mit einem schriftlichen Auslieferungsersuchen an die zuständige deutsche Stelle (ersuchter Staat) herantritt. Nach Art. 12 I EuAIÜbk sind Auslieferungsersuche grundsätzlich auf dem diplomatischen Weg zu übermitteln. Art . 2 des 2. Zusatzprotokolls zum EuAIÜbk erlaubt jedoch die Übersendung unmittelbar an das Bundesministerium der Justiz und Art . 62 SDÜ sogar an das zuständige Landesjustizministerium . Da für Belgien und Deutschland das SDÜ gilt , wird das belgisehe Justizministerium im obigen Beispielsfall das Ersuchen um die Auslieferung Hansens direkt an das zuständige deutsche Landesjustizministerium richten. 77 Der weitere Verfahrensgang richtet sich im vertraglichen wie im vertragslosen Auslieferungsverkehr nach den Bestimmungen der §§ 10 ff. IRGI80. Das Verfahren der Auslieferung ist zweistufig ausgestaltet. Einem justiziellen Zulässigkeitsverfahren schließt sich ein ministerialbehördliches Bewilligungsverfahren an. In dieser Zweistufigkeit gelangt zum einen die rechtliche und politische Dimension der Auslieferung zum Ausdruck. Zum anderen ist sie durch die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern bedingt: Die Strafrechtspflege obliegt den Ländern (Art . 74 I Nr. I GG), während die Pflege der auswärtigen Beziehungen nach Art . 32 I GG eine Bundesangelegenheit darstellt. 78 Zunächst überprüft das OLG , in dessen Bezirk der Verfolgte ergriffen oder ermittelt worden ist (§§ 13 I, 14 I IRG) die rechtliche Zulässigkeit der Auslieferung. Das Zulässigkeitsverfahren dient der Prüfung, ob die unabdingbaren Rechtshilfevoraussetzungen erfüllt sind und keine Auslieferungshindernisse bestehen. Vorbereitet und durchgeführt werden die Entscheidungen des OLG von der Generalstaatsanwaltschaft (§ 13 11 IRG) . Vor der Entscheidung des OLG erhält der Verfolgte rechtliches Gehör vor dem Amtsgericht, in dessen Bezirk er sich aufhält (§ 28 IRG) . Eine Vernehmung zum Gegenstand der Beschuldigung entfallt, wenn er dem vereinfachten Auslieferungsverfahren (§ 41 IRG) zugestimmt hat. Das OLG entscheidet nach mündlicher Verhandlung durch Beschluss (§§ 31, 32 I IRG) . Erklärt es die Auslieferung für unzulässig, so ist die Bewilligungsbehörde 179
180
Sie dient der Sicherung des Auslieferungsverfahrens; vgl. hierzu Hackner u. a., Leitfaden, Rn. 69 ff. BohmlRosenthal. in: Ahlb recht u. a. (Hr sg.), InstStR-Praxis, Rn. 628 ff.; Schaefe r, NJW-Spezial 2008 , 536.
B. Transnationales Strafrecht
61
hieran gebunden (§ 13 I S. 2 IRG) . Auch im umgekehrten Fall ist die Entscheidung nach der ausdrücklichen Bestimmung des § 13 I S. 2 IRG unanfechtbar. Der Verfolgte kann sich nur noch im Wege einer Verfassungsbeschwerde wehren, indem er vor dem BVerfG geltend macht, die Entscheidung des OLG verletze ihn in seinen Grundrechten 181 . Das OLG kann jedoch erneut entscheiden, wenn nach seiner Entscheidung Umstände eingetreten sind, die Anlass zu einer abweichenden Beurteilung geben könnten (§ 33 IRG) . Nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges kann der Verfolgte Individualbeschwerde beim EGMR einlegen. Liegt nach Abschluss des Zulässigkeitsverfahrens ein Beschluss des OLG vor, 79 der die Auslieferung des Verfolgen für zulässig erklärt, so erstattet die Generalstaatsanwaltschaft dem Landesjustizministerium hierüber Bericht und fugt den Gerichtsbeschluss bei. Damit beginnt das Bewilligungsverfahren. Da das Bundesministerium der Justiz die Ausübung seiner Bewilligungskompetenz durch eine Zuständigkeitsvereinbarung auf die Landesjustizverwaltungen übertragen hat, soweit Ausli eferungsersuchen auf eine völkerrechtliche Vereinbarung gestützt werden, fungieren im vertraglichen Rechtshilfeverkehr die Landesjustizministerien als Bewilligungsbehörden. Das zuständige Landesjustizministerium oder eine von ihm beauftragte Behörde (Generalstaatsanwaltschaft) trifft eine endgültige Entscheidung über die Auslieferung, wobei ihm mit Rück sicht auf außen- und allgemeinpolitische Erwägungen ein weiter Beurteilungs- und Ermessensspielraum zusteht 182. Auch die Bewilligungsbehörde ist verpflichtet, die Zulässigkeit der Auslieferung selbständig zu prüfen und darf sich nicht ohne weiteres auf das Ergebni s der gerichtlichen Prüfung verlassen. Die Ablehnung des Auslieferungsersuchens beendet das Verfahren und verbraucht das Ersuchen, was allerdings ein erneutes Gesuch in gleicher Sache nicht hindert' P. Ob der Verfolgte die Bewilligung seiner Auslieferung gerichtlich anfechten kann , ist umstritten! " . Das BVerfG hat sich auf den Standpunkt gestellt, eine gesonderte Anfechtung der Bewilligung nach Art . 19 IV GG komme nur sehr eingeschränkt in Betracht, da der Bewilligungsbehörde ein nicht justiziabler außen- und allgemeinpolitischer Beurteilungsspielraum zugestanden werden müsse!" . Im Anwendungsbereich des Europäischen Haftbefehls soll das Übergabever- 80 fahren direkt zwi schen den beteiligten Justizbehörden abgewickelt werden (§ 12 Rn. 20 ff.). Der deutsche Gesetzgeber hat sich jedoch sowohl in dem ersten und nach Nichtigerklärung desselben durch das BVerfG186 - auch in dem zweiten Umsetzungsgesetz für die Beibehaltung des zweistufigen Auslieferungsverfahrens
181 182
183 184
185 186
Lagodny , IRhSt , § 13 Rn. 9 ff. Hackner u. a., Leitfade n, Rn. 68 ; Weigend, JuS 2000, 105, 109. BVerfGE 50, 244 , 250 . AbI. Gr ütznerl Pölz, Internationaler Rechtshilfeverk ehr in Strafsachen, 2. Aufl., § 12 IRG Rn. 20 ff.; VogleriWilkitzki, Gesetz über die International e Rechtshilfe in Strafsachen, Lose blatt, § 12 IRG Rn. 21-24; befLirwortend OVG Berlin StV 2002 , 87, 88. BVerfGE 63,215,226 = NJW 1983 , 1725 ; BVe rfGE 96,100,118 = NJW 1997,3013 ; krit. Lagodny , JZ 1998, 568 ; ders., IntRhSt, § 12 Rn. 22 ff BVerfGE 113, 273 = NJW 2005 , 2289; vgl. hierzu Sachs, Ju S 2005 , 931 .
62
§ 2 Strafrechtliche Spezi almater ien mit grenzüberschreitenden Bezügen
entschieden (§ 12 Rn. 39 ff., 42 ff.)187. Da die Bewilligungsentscheidung einer deutschen Behörde im Rahmen des Anwendungsbereiches des Europäischen Haftbefehls die gesetzliche Einsc hränkung des verfassungsrechtlichen Verbots der Auslieferung Deutscher (Art. 16 11 S.2 GG) konkretisiert, fordert nunmehr au ch das BVerfG eine gerichtliche Überprüfbarkeit nicht nur der Zul ässigkeits-, sondern auch der Bewilligungsentscheidung (§ 12 Rn. 41 ,49).
111. Literaturhinweise Ahlbrecht u. a. (Hrsg.), Internationales Strafrecht in der Praxis, 2008 , Das Recht shilfeve rfahren, Teil 5 (Rn . 593-1054) HackneriSchomburglLagodnylGleß, Das 2. Europäische Haftbefehl sgesetz, N StZ 2006 , 664 HacknerlSchomburglLagodnylWolf, Internat ionale Rechtshilfe in Strafsachen - Ein Leitfaden für die Praxis, 2003 Kühne, Strafprozessrecht, 8. Aufl ., 20 I0, Rn. 82-92 Kr üßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 2009 Lagodny , Überlegungen zu einem men schengere chten transnationalen Straf- und Strafverfahrensrecht, Eser-FS, 2005 , S. 777 Schaefer, Das formelle Auslieferun gsverfahren. NJW-Spezial 2008 , 536 Schus ter, Telekommunikationsüberwachung in grenzüberschreitende n Strafverfahren nach Inkrafttreten des EU-Rechtshilfeübereinkomm ens, NStZ 2006 , 257 Weigend, Grundsätze und Probleme des deut schen Auslieferungsrechts, JuS 2000 , 105 WoljJ, Die verfassungsrechtlichen Auslieferungsverbote, StV 2004 , 154 Ziegenhahn. Der Schu tz der Menschenrechte bei der grenzüberschrei tenden Zusammenarbeit in Stra fsachen, 2002
IV. Rechtsprechungshinweise BVerfGE 96, 100 (ger ichtliche Überprüfbarkeit der Bewilligungsent scheidung) ßVerfG E 113, 273 = NJW 2005 , 2289 (Nichtigerklärun g des EuHbG v. 21. Juli 2004; u. a. zur gerich tlich e Überprütbarkeit der ßewilligungsentscheidung) ßGHSt 52, 191 = NJW 2008 , 1968 = NStZ 2008 , 635 (Nach deutschem Recht eingetretene Verfol gungsverjähru ng steht Auslieferung eines Deutschen an Polen entgegen) BGH BeckR S 2010 , 06066 (Verfolgun gsverjährung als Auslieferungs hindernis) OLG Frankfurt a. M., N StZ-RR 2001 , 156 (Verh ältni s zwischen inner staatlichem Auslieferungsrecht und völkerrechtliche n Auslieferungsverträgen) OLG Köln NJW 2008 , 3300 (Verstoß gege n ordre public als Auslieferun gshindern is) OLG Mün chen NJW 2007 , 788 (Transnational es Doppelbestrafun gsverbot als Ausli eferungshindern is)
187 Vgl. hierzu die berecht igte Kritik von Ahlb recht , StV 2005 , 40, 42; Böse, IRG, § 83 b
Rn. I; v. BubnojJ, Leitfaden, S. 17; HacknerlSchomburglLagodnylGleß, NStZ 2006 , 664,665; Lagodny , StV 2005 , 515, 518 ; Wehnert, Stra Fo 2003 , 356, 359 f.
C. Völkerstrafrecht
63
C. Völkerstrafrecht Vom Europäischen Strafrecht abzugrenzen ist das Völkerstrafrecht. Im Gegen- 81 satz zu den Normen des Völkerstrafrechts hat das Europäische Strafrecht noch nicht die Entwicklungsstufe eines echten supranationalen Strafrechts ("International Criminal Law", .D roit penal international") erreichtl'". Die dem Europäischen Strafrecht zuzuordnenden Tatbestände vermögen in der Regel keine unmittelbare - ohne Transformation in nationales Recht bestehende - individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit zu begründen.
I. Begriff und Funktion des Völkerstrafrechts Seitdem auch natürlichen Personen (und nicht nur Staaten) grundsätzlich die Fä- 82 higkeit zuerkannt wird, unmittelbare Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten zu sein, ist die Entwicklung eines Völkerstrafrechts möglichl'". Dem Völkerstrafrecht zuzuordnen sind alle universell geltenden Normen , die eine unmittelbare strafrechtliche Verantwortung von Individuen durch Völkerrecht konstituieren 190 . Synonym werden auch die Begriffe "völkerrechtliches Strafrecht", "materielles internationales Strafrecht" oder "Verbrechen gegen das Völkerrecht" verwendet. Mit völkerstrafrechtlichen Tatbeständen haben wir es also zu tun, wenn diese der Völkerrechtsordnung entstammen, individuell vorwerfbares Unrecht beschreiben und als Rechtsfolge eine Strafe androhen, wobei die Strafbarkeit ihren Geltungsgrund im Völkerrecht selbst findet , also unabhängig von der Transformation des Tatbestandes in die staatliche Rechtsordnung besteht'?'. Das Völkerstrafrecht schützt den "Frieden, die Sicherheit und das Wohl der Welt" als die höchsten Güter der V ölkergerneinschaft'F. Anerkannte Völkerrechtsverbrechen sind die Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und das Aggressionsverbrechen (sog. .Kernverbrechen''; " international crimes"}'?". Der Angriff auf fundamentale Interessen der Völkergemeinschaft rückt diese Straftaten in eine globale Dimension und macht sie zu Völkerrechtsverbrechen. Streitig diskutiert wird , ob über die genannten Kernverbrechen hinaus weitere Delikte, wie z. B. internationaler Rauschgifthandel oder Terrorakte, nach Völkerrecht strafbar sind . Das Völkerstrafrecht berücksichtigt, dass sich jede Völkerrechtsverletzung letztlich auf das Verhalten von Individuen zurückführen lässt und zielt darauf ab, zu verhindern, dass diese sich - wenn sie als staatliche Organe oder im Auftrag eines Staates gehandelt haben - hinter dem Schutzschild der Im188 189
190
191 192 193
MüKoStGBIAmbos, Vor §§ 3-7 Rn . 5; Satzger , Europäisierung, S. 57 ff. Ahlbrecht, Völkerrechtliche Strafgerichtsbarke it, S. 19 ff.; Triffierer, ZStW 114 (2002), S. 321, 327 Ir ; LK-Weigend, Einl., Rn. 95; Werte, Völkerstrafrecht. Rn. 2 Ir Ambos, IntStR, § 5 Rn. I; Werte, V ölkerstrafrecht, Rn. 81 ff. m. w. N . Vgl. zu l3egriffund Geltung des Völkerstrafrechts .zesse, Verbrechensbegriff S. 48 ff. Vgl. Ab s. 3 der Präambel de s IStGH-Statuts. MüKoStGBIAmbos, Vor §§ 3-7 Rn . 6; S/S-EseriHecker, Vor § 1 Rn . 20; Satzger. IntStR, § 12 Rn . 3; Werte, Völkerstrafrecht, Rn . 83 .
64
§ 2 Strafrechtliche Spezialm aterien mit grenzüberschreitenden Bezügen
munität bzw. staatlicher Souveränität verbergen können . Die völkerrechtliche Pönalisierung bestimmter, besonders schwerer Menschenrechtsverletzungen verstärkt die auf internationaler Ebene bestehenden, nicht-strafrechtlichen Schutzmechanismen und dient damit dem Schutz der Menschenrechte'?'. 83 Solange die Völkergemeinschaft nicht über eine eigene Strafgerichtsbarkeit verfugte, erfolgte die Durchsetzung des Völkerstrafrechts durch die Organe der Staaten , die ihre Zuständigkeit zur Strafverfolgung erklärt haben ("Indirect Enforcement Model"). Eine Strafverfolgung durch internationale Organe ("Direct Enforcement Model") fand bislang nur in historischen Ausnahmesituationen statt. Zu denken ist etwa an die Internationalen Kriegsverbrechertribunale von Nürnberg und Tokio ("International Military Tribunals" - IMT)195 oder an die Einrichtung von Internationalen Ad-hoc-Strafgerichtshöfen zur Verfolgung schwerer Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien (1993)196 bzw. in Ruanda (1995)197. Diese internationalen Strafgerichte urteilen auf der Grundlage von Straftatbeständen, die in ihren jeweiligen Statuten geregelt und demgemäß dem Völkerrecht zugeordnet sind .
11. Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) 84 Mussten für die Bewältigung der Verbrechen und Massaker in Ruanda und dem ehemaligen Jugoslawien noch Ad-hoc-Gerichte auf der Grundlage von Kapitel VII der UN-Charta als Maßnahme "zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" etabliert werden, so bietet das IStGH-Statut (Statut von Rom), durch welches die 120 Unterzeichnerstaaten am 17. Juli 1998 die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH; Weltstrafgerichtshot) mit Sitz in Den Haag beschlossen haben , eine bislang beispiellose, zukunftsweisende Möglichkeit zur Aburteilung von V ölkerrechtsverbrechenl'". Nur sieben Staaten, namentlich die USA , China, Israel, Irak, Libyen , Jemen und Katar , lehnten das Statut ab. 21 Staaten enthielten sich der Stimme. Mit Hinterlegung der 60. Ratifikationsurkunde ist das IStGH-Statut am I. Juli 2002 in Kraft getreten und damit der Weltstrafgerichtshof am gleichen Tag errichtet worden . Als 110. Mitgliedstaat trat Tschechien am 21 . Juli 2009 dem IStGH-Statut bei.
196
Werte, Völkerstrafrecht, Rn. 121 f f.; zu den Strafzwecken im Völkerstrafrecht vgl. Sommer , VN , S. 29 ff: Ahtbrecht, Völkerrechtliche Strafgerichtsbarkeit, S. 124 Ir; Satzger, IntStR, § 12 Rn. 9, § 12 Rn. 5 ff., 13 ff.; Werte, Völkerstrafrecht, Rn . 14 ff. Ambos, IntStR, § 6 Rn . 34 ff.; Satzger, IntStR, § 13 Rn . 18 ff.; Werte, Völkerstrafrecht,
197
Ambos, IntStR, § 6 Rn. 37 ff.; Satzger. IntStR, § 13 Rn. 29 ff.; Werte, V ölkerstrafrecht,
194
195
Rn . 47 ff.
198
Rn. 53 ff. Vgl. aus der reichhaltigen Literatur exempl. Ambos, ZStW 111 (1999), S. 176; ders., NJW 1998, 3743 ; ders. , IntStR, § 6 Rn . 40 ff.; Fastenrath, JuS 1999 , 632 ; ZStW 112 (2000), S. 381 ; Satzger, NStZ 2002, 125; ders., IntStR, § 14 Rn. 1 ff.; SeidellStahn, JURA 1999 ,632; Werte, Völkerstrafrecht, Rn . 55 ff.
ca cu.
C. Völkerstrafrecht
65
Die Errichtung eines Weltstrafgerichtshofes, der am 11. März 2003 seine Arbeit 85 in den Haag aufgenommen hat, bedeutet einen Quantensprung in der Entwicklung einer Völkerstrafgerichtsbarkeit. Die Zuständigkeit des IStGH erstreckt sich auf die Aburteilung von Völkermord, Verbrechen geg en die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Aggression, die seit dem 1. Juli 2002 auf dem Territorium eines Vertragsstaates oder durch Angehörige eines Vertragsstaates begangen worden sind'?". Mit dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts haben die länger als ein Jahrhundert währenden Bemühungen um eine stä ndige internationale Strafgerichtsbarkeit einen historischen Höhepunkt err eicht' ?", Das Statut umfas st im Ganzen 13 Teile mit insgesamt 128 Artikeln . Geregelt werden Gerichtsorgani sation, Straftatbestände, allgemeine Strafrechtsprinzipien, Strafverfahrensrecht sowie die Zusammenarbeit der Staaten mit dem IStGH bei Strafverfahren und Strafvo11streckung?" , Die Hauptfunktion des Weltstrafgerichtshofes ist es, Individuen für solche Verbrechen verantwortlich zu mach en, die nicht nur die unmittelbaren Opfer selbst , sondern die internationale Staatengemeinschaft als solche berühren, weil diese Verbrechen die Grundlagen eines friedlichen und menschenwürdigen Zusammenlebens der Menschen innerhalb ihrer jeweiligen Volksgemeinschaft sowie der Völker untereinander untergraben. Das Statut ist dementsprechend auf die Wahrung des Weltfriedens zuge schnitten und normiert in Art. 5 die vier Kerntatbest ände des Völkerstrafrechts. Entgegen der bisherigen Tradition der Völkerstrafgerichtsbarkeit werden die Völkerstraftaten nicht lediglich durch Zuständigkeit stitel angedeutet, die der Ausfüllung durch das Völkergewohnheitsrecht bedürfen . Vielmehr werden die einzelnen Tatbestände in den Art . 6-8 in fast 70 Untertatbestände aufgegliedert und ausformuliert/'". Damit macht das Völkerstrafrecht einen gewichtigen Schritt in die Richtung kontinentaler Bestimmtheitsanforderungen 203 • Dieser Entwicklungsschritt wird in Art . 22 I IStGH-Statut gewissermaßen förmlich besiegelt, indem der IStGH darauf festgelegt wird, nur auf der Grundlage der im Statut niedergelegten Tatbestände zu judizieren (spezielles " nullum crimen sine legev-Prinzip>'). Besonders innovativ ist ferner die Weiterentwicklung der "general principles" des Völkerstrafrechts, die einem "Allgeme inen Teil " nahe kommen-'".
199
200
20 1
202
203 204 205
Für Staat en, die erst nach Inkra fttreten des Statuts beigetreten sind, ist der Zeitpunkt maß geblich , zu dem da s Statut für diesen Staat Geltung beansprucht ; vgl. Kreß , IStG H Vor III 26 Rn. 17; Werte, Völkerstrafrecht, Rn. 23 I. Fixson , in: Kirsch (Hr sg.), Int. Stra fgerichtshöfe, S. 207 ff.; Werte, Völkerstrafrecht, Rn. 73. Ambos, IntStR , § 6 Rn. 43 Ir ; Satzge r. IntStR , § 14 Rn. 4. Vgl. hierzu die Strukturanalyse der Straftatbeständ e des IStG H-Statuts von Jesse, Verbrechensbegri ff passim. Kreß, IStGH Vor III 26 Rn. 31 ff.; Werte, Völkerstrafrecht, Rn. 79. Ambos, IntStR, § 7 Rn. 8; Satzger , IntStR , § 15 Rn. 13. Amb os, IntStR, § 7 Rn. 1 ff.; Jesse, Verbrechensbegriff, S. 183 ff
66
§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenzüberschreitenden Bezügen
86 Die Zuständigkeit des IStGH "ratione personae", also die Frage, welche Personen der Strafgewalt des Weltstrafgerichtshofes unterliegen, war die umstrittenste Frage der Verhandlungen-'". Das von Deutschland favorisierte Modell automatischer und universeller Zuständigkeit des IStGH vermochte sich ebenso wenig durchzusetzen wie das restriktive Modell, jedes einzelne Strafverfahren von der Zustimmung des betroffenen Staates (Heimatstaat des Beschuldigten; Tatortstaat) abhängig zu machen . Der gefundene Kompromiss, von dem das Statut ausgeht, sieht vor, dass der IStGH zuständig ist, sofern der Tatortstaat oder der Heimatstaat des Täters das Statut ratifiziert haben (Art. 5 i.V .m. Art . 12 IStGH-Statut)207. Folglich unterfallen auch Staatsangehörige von Nichtvertragsstaaten unter das Zuständigkeitsregime des IStGH , wenn sie eine Völkerstraftat auf dem Gebiet eines Vertragsstaates begangen haben >". Das allgemeine Zuständigkeitsregime wird durch die sog. "sicherheitsratsgestützte Zuständigkeit" nach Art . 12, 13 IStGHStatut überlagert und erweitert-?", Im Falle einer Verfahrensauslösung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im Rahmen von Kapitel VII der UN-Charta besteht demnach keine Schranke für die Ausübung der IStGH-Zuständigkeit210. Der Sicherheitsrat hat es somit in der Hand, die Zuständigkeit des IStGH für die Verfolgung von Nichtvertragsstaatsangehörigen zu begründen, die im Verdacht stehen, in einem Nichtvertragsstaat Völkerrechtsverbrechen begangen zu haben .
111. Durchsetzung des Völkerstrafrechts 87 Das IStGH-Statut geht von einer zweifachen Durchsetzungsmöglichkeit des Völkerstrafrechts aus - einer direkten und einer indirekten. Zum einen eröffnet es den Weg für eine Aburteilung völkerstrafrechtlicher Delikte auf internationaler Ebene durch den IStGH . Zum anderen lässt es den Weg offen für eine Durchsetzung des Völkerstrafrechts durch die Vertragsstaaten. Der IStGH soll die nationale Strafgerichtsbarkeit also nicht ersetzen, sondern ergänzen. Erreicht wird dies durch die Festschreibung des Grundsatzes der Komplementarität, wonach die nationale Strafgerichtsbarkeit Vorrang vor der des Weltstrafgerichtshofes genießt (Art. \7-19 IStGH-Statut)211 . Der IStGH darf seine Gerichtsbarkeit erst ausüben, wenn ein Vertragsstaat nicht fähig oder willens ist, die Strafverfolgung ernsthaft zu betreiben (Art. 17 IStGH-Statut). Unwillig ist ein Staat, wenn die Strafverfolgung nur zum Schein erfolgt, wenn das Verfahren nicht unabhängig und unparteiisch geführt wird und sich mit dem wirklichen Willen der Strafverfolgung
206 207
208 209
2 10 211
Kreß, IStGH Vor III 26 Rn. 11 ff. Ambos, IntStR , § 8 Rn. 6; Kreß, IStGH Vor III 26 Rn. 12; Satzger, IntStR, § 14 Rn. 9; Werte , V ölkerstrafrecht, Rn. 231 . Eser, Burgstaller-FS, S. 355, 358 . Ambos, IntStR, § 8 Rn. 8; Satzger, IntStR , § 14 Rn. 16; Werte, Völkerstrafrecht, Rn. 232 . Kreß, IStGH Vor III 26 Rn. 16, 19. Ambos, IntStR , § 8 Rn. 10; Eser, Burg staller-FS, S. 355, 360 ff.; Kreß, IStGH Vor III 26 Rn. 22 ff.; Satzger, NStZ 2002 , 125 f.; ders. , IntStR , § 14 Rn. 17 ff.
C. Völkerstrafrecht
67
nicht vereinbaren lässt. Unfähigkeit zur Strafverfolgung liegt vor, wenn das nationale Justizsystem ganz oder teilweise zusammengebrochen ist bzw. nicht zur Verfügung steht und daher eine ordnungsgemäße Strafverfolgung nicht möglich ist. Dabei liegt die Entscheidung darüber, ob der jeweilige Staat ernsthaft verfolgen kann oder will, beim IStGH212. Die Hauptlast der Durchsetzung des Völkerstrafrecht s wird im Lichte des Komplementaritätsprinzips nicht beim IStGH und wohl auch nicht bei den Tatortstaaten , sondern bei verfolgungsbereiten Drittstaaten liegen . Das System konkurrierender Zust ändigkeit zwischen IStGH und Verfolgungsstaaten nach Art . 17 f. IStGH-Statut wird in Art . 20 IStGH-Statut durch eine ne bis in idem-Regelung vervollst ändigt-". Bekanntlich nehm en die USA eine ablehn ende Haltung geg enüber dem IStGH 88 ein. Im Kern haben die USA ihre Nein-Stimme von Rom mit der Möglichkeit begründet, dass der Weltstrafgerichtshof unter Umständen seine Zust ändigkeit auch auf amerikanische Soldaten ausüben könne . Die USA halten dies für unvereinbar mit ihrer übergeordneten Aufgabe als Zentralmacht internationaler Friedenssicherung und -durchsetzung. Diesen , in dem Selbstverständnis als Weltfriedensmacht wurzelnden politischen Bedenken der USA, ist freilich entgegenzuhalten, dass die Furcht vor dem IStGH schon deshalb unbegründet ist, weil das im Statut verankerte Komplementaritätsprinzip jedem Staat die Möglichkeit einr äumt, die Strafverfolgung von Völkerrechtsverbrechen eigener Staatsangehöriger selbst in die Hand zu nehmen und damit ein Verfahren vor dem IStGH auszuschließen-" . Deutschland hat die Entwick lung, die zum Abschluss des IStGH-Statuts führte , 89 auf internationalem Parkett mit großem Engagement gefördert-" . Mit Erlass des zur Ratifikation erforderlichen IStGH-Statutsgesetzes 216 sowie mit der Änderung des Art . 16 11 GG 217 (wodurch gewährleistet wird , dass auch deutsche Staats angehörige an den IStGH überstellt werden können), hat der deutsche Gesetzgeber wesentliche Schritte zur Ermöglichung der Arbeitsaufnahme des Weltstrafgerichtshofes unternommen . Zeitgleich mit dem IStGH-Statut ist am I. Juli 2002 schließlich das Ausführungsgesetz (RSAG)21 8 in Kraft getreten, welches die Zusammenarbeit Deutschlands mit dem IStGH regelt.
2 12 213
214
215 216 217 218
Kreß, IStGI-1 Vor 111 26 Rn. 29 ; Werte, Vö lkerstrafrecht, Rn. 227. Ambos, IntStR , § 7 Rn. 7; Kreß , IStG H Vor 111 26 Rn. 29. Kreß, NS tZ 2000, 617 , 618 . VgI. zur Entw icklungsgeschichte des IStGH- Statut s Kreß, IStGH Vor 111 26 Rn. I ff.; Werte, Völkerstrafrecht, Rn. 59 ff. ß Gß I. 11 2000, 1393. Die Hinterleg ung der Ratifi kation surkunde beim General sekr etär der UN erfolgte am 11. Dezemb er 2000. ß Gß I. I 2000, 1633; vgI. h ierzu Kreß, IStG H Vor 111 26 Rn. 372; Satzger, IntS tR, § 17 Rn. 3; Zimmermann, JZ 2001 , 209 ff. BGBI. 1 2002 , 2144 ; vgI. hierzu Kreß , IStGH Vor 111 26 Rn. 373; MacLean, ZRP 2002 , 260 ff.; Satzger, IntStR, § 17 Rn. 5.
68
§ 2 Strafrechtliche Spezi alm aterien mit grenzüberschreitenden Bezügen
IV. Deutsches Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) 90 Am 30 . Juni 2002 , einen Tag vor dem IStGH-Statut, ist das Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) vom 26 . Juni 2002 in Kraft getreten-!". Mit dieser Kodifikation wird das materielle Strafrecht Deutschlands an die Bestimmungen des IStGHStatuts angepasst und damit zugleich ein "deutsches V ölkerstrafrecht" begründet. Das IStGH-Statut verpflichtet die Vertragsstaaten nicht zur Aufnahme von Völkerstraftatbeständen in ihr nationales Recht. Die Implementierung von Völkerstraftaten in deutsches Strafrecht soll jedoch nach dem erklärten Willen des deutschen Gesetzgebers vor dem Hintergrund des Komplementaritätsprinzips (Rn . 87) sicherstellen, dass Deutschland stets in der Lage ist, die in die Zuständigkeit des IStGH fallenden Verbrechen selbst verfolgen zu können . Das spezifische Unrecht der Verbrechen gegen das Völkerrecht soll erfasst und Deckungslücken zwischen deutschem Strafrecht und Völkerstrafrecht vermindert werden-" . Da das im deutschen Verfassungsrecht verankerte Gesetzlichkeitsprinzip (Art . 103 11 GG) eine deutsche Strafverfolgung der völkergewohnheitsrechtlich anerkannten Tatbestände des IStGH-Statuts ausschließt, solange diese nicht in einem förmlichen Gesetz geregelt sind?" , stand der Gesetzgeber nur vor der Wahl, das bestehende StGB durch Einfügung neuer Straftatbestände zu erweitern oder eine einheitliche Kodifikation zu schaffen. Aus überzeugenden Gründen hat er sich für die letztgenannte Lösung entschieden-". Zum einen kommt durch ein eigenständiges Gesetzeswerk der besondere Stellenwert der Rechtsmaterie zum Ausdruck, zum anderen kann ihren Eigenarten besser Rechung getragen werden. Für eine eigenständige Kodifikation spricht nicht zuletzt auch die bessere Übersichtlichkeit und praktische Handhabbarkeit des komplexen Rechtsstoffes. Das VStGB kodifiziert die völkergewohnheitsrechtlich geltenden Völkerstraftatbestände in enger Anlehnung an das IStGH-Statut, wobei § 220 a StGB a. F. (Völkermord) mit marginalen Änderungen in das neue Gesetzeswerk übernommen wurde.
1. Strafanwendungsrecht des VStGB 91 Die wohl bedeutsamste Einzelfrage des VStGB betrifft seinen internationalen Anwendungsbereich. Nach § I VStGB gilt dieses Gesetz für alle in ihm bezeichneten Straftaten gegen das Völkerrecht, für die in ihm bezeichneten Verbrechen auch dann , wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist. Damit ordnet das VStGB für alle Verbrechenstatbestände die uneingeschränkte Geltung des Weltrechtsprinzips an. Auf Völkerrechtsverbrechen ist damit deutsches Strafrecht stets anwendbar, gleichgültig, wo, von wem oder 2 19
220
221
222
BGBI. 1 2002 , 2254 ; vgl. hierzu Satzger , IntStR, § 17 Rn. 6 ff. Eine vollständige Deckungsgleichheit wird mit dem VStGß nicht erreicht; vgl. Satzger, NSt Z 2002 , 125, 127 ff: Vgl. hier zu nur Satzger, NSt Z 2002 , 125, 126; ders., JuS 2004 , 943 , ff.; ders., IntStR , § 17 Rn. 12. Vgl. den ent spr. Vo rschl ag von Kreß, Vom Nutzen eines deut schen Völkerstrafge setzbuches, 2000, passim ; teilweise a. A. Dietmeier, Meurer-GS, 2002 , S. 333 ff.
C. Völkerstrafrecht
69
gegen wen die Taten begangen worden sind 223. Die Rechtsprechung des BGH224, nach der die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts von dem Nachweis eines legitimierenden Anknüpfungspunktes abhänge, der einen unmittelbaren Bezug der Strafverfolgung zum Inland herstellt (z. B. ständiger Aufenthalt des Täters in Deutschland), ist insoweit gegenstandslos gewordens-'' , § I VStGB wird dur ch die Regelung des § 153 f I-III StPO flankiert, die eine Einste llungsmöglichkeit für deutsche Strafverfolgungsorgane vorsieht, wenn der Inlandsbezug fehlt oder wenn vorrangige Gerichtsbarkeiten im Spiel sind. Die Anordnung des uneingeschränkten Weltrechtsprinzips auf alle Verbrechen 92 des VStGB wirkt sich aber auch begrenzend auf die Zuständigkeit der deut schen Strafgewalt aus . Das Weltrechtsprinzip legitimiert die Anwendung des VStGB auf Auslandstaten ohne Inlandsbezug nämlich nur insoweit, als es sich bei den dort definierten Verbrechen zugleich um völkerrechtlich anerkannte Verbrechen handelt. Würde der deutsche Gesetzgeber nicht nur völkerrechtskonkretisierend, sondern völkerrechtsfortbildend tätig werden , so wäre die Anwendung des Weltrechtsprinzips nicht mehr zu rechfertigen und ein sonstiger inländischer Anknüpfungspunkt erforderlich, da ansonsten geg en das völkerrechtliche Nichteinmischungsgebot (Rn . 9) verstoßen würde-" .
2. Allgemeiner Teil des VStGB Der Allgemeine Teil umfasst nur wenige Vorschriften (§§ 1-5 VStGB). 93 § 2 VStGB erklärt als "zentrale Urnschaltnorm'? " die Bestimmungen des aIIgemeinen Strafrechts für anwendbar, wenn das VStGB keine Sonderregelung trifft. Die Sonderregelungen betreffen das Strafanwendungsrecht (§ I VStGB), das Hand eln auf Befehl (§ 3 VStGB), die Verantwortlichkeit militäris cher Befehlsh aber und sonstiger Vorg eset zter (§ 4 VStGB) sowie die Verjährung (§ 5 VStGB sieht die Unverj ährbarkeit der Verfolgung von nach diesem Gesetz begangenen Verbrechen vor) . Fragen zu Vorsatz, Irrtum , Notwehr, Notstand, Tät ersch aft und Teilnahme sowie Unterla ssen sind anhand der Bestimmungen des StGB zu beantworten .
3. Besonderer Teil des VStGB In §§ 6-14 VStGB werden die einzelnen Völkerstraftaten in einem Besonderen 94 Teil normiert. Dem IStGH-Statut ent sprechend enth ält der Besondere Teil in § 6 VStGB den Tatbestand des Völkermords, der früher in § 220 a StGB verankert 223
224 225
226 22 7
cacu. ZStW
112 (2000) , S. 386 f.; Satzger, IntStR, § 17 Rn. 38; ders., NStZ 2002, 125, 131. ß GHSt 45,64,66; vgl. hierzu Satzger. NStZ 2002 , 125, 131. Vgl. hier zu ßGI-ISt 46, 292, 307 ; MüKoStGß IAmbos, § 6 Rn. 5; ders., NStZ 1999, 406; Kreß , N StZ 2000 ,617,624 f.; Satzger. N StZ 2002 , 125, 131; Werte, JZ 1999, 1181,11 82 f.; WertelJeßberger, JuS 2001 ,141 ,142. Satzger , IntStR, § 17 Rn. 38; ders., NStZ 2002 , 125, 131 f. Werte, JZ 2001 , 886 .
70
§ 2 Strafrechtliche Spezialm aterien mit grenzüberschr eitenden Bezügen
war. Zu beachten ist, dass sich der Begriff des Völkermordes zum Teil weit von dem Begriff des Mordes entfernt, den der deutsche Rechtsanwender aus § 211 StGB kennt 228 . 95 Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden in § 7 VStGB normiert. Dabei wird ein Katalog von Einzeltaten (z. B. Tötung eines Menschen, Versklavung, Vertreibung, Folter, Vergewaltigung, Nötigung zur Prostitution usw.) unter Strafe gestellt, wenn diese Taten im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen eine Zivilbevölkerung begangen werden . In den §§ 8-12 VStGB sind Kriegs- und Bürgerkriegsverbrechen normiert, also Straftaten, die im Zusammenhang mit einem internationalen oder nichtinternationalen bewaffneten Konflikt begangen werden . Die §§ 13-14 VStGB enthalten Sondervorschriften über die strafrechtliche Verantwortlichkeit von militärischen Befehlshabern (Sonderdelikte) wegen Verletzung der Aufsichtspflicht bzw. Unterlassen der Meldung einer Straftat (auch durch einen zivilen Vorgesetzten). Ausgeklammert bleibt (noch) das Aggressionsverbrechen, um den laufenden internationalen Verhandlungen nicht vorzugreifen-".
4. Zusammenfassende Bewertung - Vorbildcharakter des VStGB 96 Das VStG B darf mit Recht als "großer Wurf' bezeichnet werden? ". Die Kodifikation versetzt die deutsche Strafrechtsordnung in die Lage , adäquat auf Völkerrechtsverbrechen zu reagieren>' . Zwar wird der Idealzustand, die im IStGH-Statut normierten Völkerstraftaten möglichst vollständig der deutschen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen, vom VStGB nicht vollständig erreicht. Die verbleibenden Deckungslücken werden aber nur in seltenen Ausnahmefällen zu einer Übernahme von Verfahren durch den IStGH führen und erscheinen daher hinnehmbar. Das VStGB ist in vorbildlicher Weise um eine klare und systematische Ausgestaltung des deutschen Völkerstrafrechts bemüht und mag insoweit anderen Staaten wertvolle Anregungen für die Anpassung ihrer Rechtsordnung an das IStGH-Statut liefern . 97 Möglicherweise kann der Vorbildcharakter des VStGB sogar das künftige Europäische Strafrecht beeinflussen. In der Literatur ist mit gewichtigen Gründen der Vorschlag unterbreitet worden, die Schaffung eines EU-Finanzstrafgesetzbuches nach dem Vorbild des VStGB anzustreben-F. Hier wie dort bietet die Existenz einer gesonderten Kodifikation folgende Vorteile: Kompakte ZusammenfLihrung und Präzisierung des komplexen und teilweise unübersichtlichen Rechtsstoffes, größere Rechtsklarheit, bessere praktische Handhabbarkeit, Vergleichbarkeit nationaler und internationaler Rechtsprechung bei gleichzeitiger Internationalisierung der Debatte, erhöhter Symbolwert einer Kodifikation . 228
229 230 23 1 232
Ambos, in: Kirsch (Hrsg.), Int. Strafgerichtshöfe, S. 139 ff.; Werfe , Völkerstrafrecht, Rn. 658 Ir Kreß , IStGI -1 Vor 111 26 Rn. 46 , 374. Satzger, NStZ 2002, 125, 132. Vgl. zur bisherigen Anwendungspr ax is Werle, V ölkerstr afrecht, Rn . 315 .
Schwarzburg/Hamdo rf, NStZ 2002,617,623.
C. Völkerstrafrecht
71
v. Literaturhinweise Ambos, 14 examensrelevante Fragen zum neuen internationalen Strafgerichtshof JA 1998, 988 ders., Z ur Rechtsgrundlage des Internationalen Strafgerichtshof Z St WIll (1999), 175 ders., Der Allgemeine Teil des V ölker strafrechts. 2002 ders., Die völkerstrafrechtlichen Kern verbrechen, in: Kirsch (Hrsg.), Internationale Strafgerichtsh öfe, 2005 , S. 139 ders., Internation ale s Strafrecht, 2. A ufl., 2008, §§ 5-8 Sommer, Strafzwecke im V ölkerstrafrecht, in: M ünk (Hrsg.), Die Vereinen Nationen sechs Jahrzehnte nach ihrer Gründung, 2008, S. 29 Eser, Das Rom-Statut de s Internationalen Strafgerichtshofs al s Herausforderung für die nationale Strafrechtspfleg e, in: Burgstaller-ES, 2004, S. 355 Eser/Kr eicker, Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Bd. 1, 2003 Fastenrath , Der Internationale Str afgerichtshof JuS 1999 ,632 Fixs on, Der Internationale Strafgericht shof: Seine Ent stehung und seine Stellung im Völkerrecht, in: Kirsch (Hrsg.), Internationale Strafgerichtsh öfe, 2005, S. 207 Kreß , Völk erstrafrecht in Deutschland, N StZ 2000,617 ders., Vom N utze n ein es deutschen V ölkerstralgeset zbuch es, 2000 ders., Vorbemerkungen zu dem Römi schen Statut de s Internationalen Str afgericht shofes, in: Grü tzner/ Pötz (Hrsg.), Internationale r Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, Internation aler Str afgericht shof 2003 , Vo r 111 26 Rn. 1-364 Kreß/Wannek, Von den beiden internationalen Ad-Hoc-Tribunalen zum Internationalen Strafgerichtshof in: Kirsch (Hrsg.), Internationale Strafgerichtsh öfe, 2005, S. 231 Lago dny, Legi timatio n und Bedeutung des ständigen Internationalen Strafger ichtshofes, Z StW 113 (2001), S. 800 Satzger, Das neue Völkerstrafgesetzbuch - eine kriti sche Wü rdigung, NStZ 2002, 125 ders., Die Internationali sierung de s Str afrechts als Herau sfo rderung für den stra frechtlichen Bestimmtheitsgrundsat z, JuS 2004, 943 ders., Internationales und Europä isches Strafrecht, 4. Aufl. , 2010, §§ 12-17 Schomburg, International e Strafger ichtsbarkeit - Eine Einführung, in: Kirsch (Hrsg.), Intern at ion ale Str afgerichtsh öfe, 2005, S. 9 Werte, Konturen eine s deutschen V ölke rstr afrechts, JZ 200 1,885 ders., V ölkerstrafrecht, 2. Aufl ., 2007 Werle l.Ießberger, Das V ölkerstrafgesetzbuch, JZ 2002 , 725 Zimmermann, Au f dem Weg zu eine m deutschen V ölkcrstrafgesetzbuch, Z RP 2002,97 ders., Bestrafung völkerrechtlicher Verbrechen durch deutsch e Gerichte nach In-KraftTreten de s V ölkerstrafgesetzbuches, NJW 2002,3068
72
§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenzüberschreitenden Bezügen
D. Zusammenfassung von § 2 98 In diesem Kapitel werden drei strafrechtliche Spezialgebiete mit grenzüberschreitenden Bezügen vorgestellt, die teilweise enge Berührungs- bzw. Überschneidungspunkte mit dem Europäischen Strafrechts aufweisen : Internationales Strafrecht, transnationales Strafrecht und Völkerstrafrecht. 99 Bei den in §§ 3-7, 9 StGB normierten Bestimmungen des internationalen Strafrechts handelt es sich um innerstaatliches Strafanwendungs-, Strafgewalts- bzw. Geltungsbereichsrecht. Die Regeln des internationalen Strafrechts geben Auskunft darüber, ob auf einen bestimmten Lebenssachverhalt, der sich im Ausland abspielt oder an dem ausländische Täter und/oder Opfer beteiligt sind, deutsche Strafuormen Anwendung finden . Falls die Auslegung der Strafuorm ergibt, dass sich ihr Schutzbereich auch auf ausländische oder supranationale Schutzgüter erstreckt, ist anhand der Bestimmungen des internationalen Strafrechts zu prüfen, ob eine Ausdehnung der nationalen Strafgewalt zulässig ist. In welchem Umfang ein Staat seine Strafgewalt in Anspruch nehmen und ausdehnen darf, wird durch das Völkerrecht bestimmt, das in allen Fällen mit Auslandsberührung die Geltendmachung eines legitimierenden Anknüpfungspunkts verlangt, der im Einzelfall einen unmittelbaren Bezug zur Strafverfolgung im Inland herstellt . Als völkerrechtlich legitimierende Anknüpfungspunkte kommen insbesondere der Begehungsort einer Tat (Territorialitätsprinzip), die Staatsangehörigkeit des Täters oder des Opfers (aktives und passives Personalitätsprinzip), der Schutz bestimmter inländischer Rechtsgüter (Schutzprinzip) bzw. von Interessen universellen Charakters (Weltrechtsprinzip), das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege sowie das Kompetenzverteilungsprinzip in Betracht. Alle genannten Prinzipien finden im deutschen Strafanwendungrecht - zumeist in kombinierter Form - ihren spezifischen Ausdruck . In der Praxis wirft insbesondere die Auslegung des durch den Ubiquitätsgrundsatz konkretisierten Territorialitätsprinzips (§§ 3, 9 StGB) Probleme auf, namentlich wenn es um sog. .Distanzdelikte" (z. 8. Äußerungsdelikte im Internet, grenzüberschreitende Umweltdelikte) geht. 100 Transnationales Strafrecht ist eine Rechtsmaterie, die sich im weitesten Sinne mit dem rechtlichen, institutionell-organisatorischen und verfahrenstechnischen Instrumentarium der (international-arbeitsteiligen) grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen sowie damit zusammenhängender Rechtsschutzprobleme befasst. Das transnationale Strafrecht zielt auf die Bewältigung strafrechtsrelevanter Lebenssachverhalte ab, die nicht ausschließlich auf nationale materiell- und verfahrensrechtliche Problemlösungen gestützt werden können . Ein Bereich , in dem die transnationale Zusammenarbeit in Strafsachen schon eine lange Tradition besitzt , ist die internationale Rechtshilfe in Strafsachen. Hierunter versteht man jede Unterstützung, die vom ersuchten Staat für ein ausländisches Strafverfahren gewährt wird. Traditionelle Bereiche der Rechtshilfe sind der zwischenstaatliche Auslieferungsverkehr, die Unterstützung bei der Vollstreckung strafrechtlicher Sanktionen (Vollstreckungshilfe) und die sonstige Rechtshilfe, bei der es um alle denkbaren Unterstützungshandlungen geht, die nach dem innerstaatlichen Verfahrensrecht des ersuchten Staates zulässig sind .
D. Zusammenfassung von § 2
73
Pflege und Entwicklung der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen sind seit 101 jeher ein zentrales Anliegen des Europarates. Die von den Mitgliedstaaten ratifizierten Rechtshilfekonventionen des Europarates fungieren als "Mutterkonventionen" des europäischen Rechtshilfeverkehrs, auf denen zahlreiche bilaterale oder multilaterale Ergänzungsverträge sowie deliktsbezogene Übereinkommen aufbauen. Innerhalb der EU erlangen neuartige Formen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in Strafsachen wachsende Bedeutung, die sich von den Mechanismen der klassischen Rechtshilfe lösen. Zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel im Auslieferungsverkehr zwischen den EU-Mitgliedstaaten führt das neue Instrumentarium des Europäischen Haftbefehls. Um echtes supranationales Strafrecht handelt es sich beim Völkerstrafrecht. 102 Nach einer pragmatischen Definition sind dem Völkerstrafrecht alle universell geltenden Normen zuzuordnen, die eine unmittelbare strafrechtliche Verantwortung von Individuen durch Völkerrecht konstituieren. Anerkannte Völkerrechtsverbrechen sind die Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und das Aggressionsverbrechen. Solange die Völkergemeinschaft nicht über eine eigene Strafgerichtsbarkeit verfügte, erfolgte die Durchsetzung des Völkerstrafrechts im wesentlichen durch die nationalen Organe der Staaten, die ihre Zuständigkeit zur Strafverfolgung durch Annahme eines entsprechenden innerstaatlichen Rechtsakts erklärt haben . Eine Strafverfolgung durch internationale Organe fand bislang nur in historischen Ausnahmesituationen statt. Zu denken ist etwa an die Internationalen Kriegsverbrechertribunale von Nürnberg und Tokio ("International Military Tribunals" - IMT) oder an die Einrichtung von Internationalen Ad-hoc-Strafgerichtshöfen zur Verfolgung schwerer Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien (1993) bzw. in Ruanda (1995) . Die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) mit Sitz in Den Haag, der am 11. März 2003 seine Arbeit aufgenommen hat, bedeutet einen Quantensprung in der Entwicklung einer Völkerstrafgerichtsbarkeit. Der IStGH ist als "WeItstrafgerichtshof" zuständig für die Aburteilung von Verbrechen des Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Aggression , die seit dem I. Juli 2002 auf dem Gebiet eines Vertragsstaates oder durch Angehörige eines Vertragsstaates begangen worden sind. Das IStGH-Statut weist dem IStGH die Aburteilungskompetenz zu, sofern der Tatortstaat oder der Heimatstaat des Täters das Statut ratifiziert haben . Folglich unterfallen auch Staatsangehörige von Nichtvertragsstaaten unter das Zuständigkeitsregime des IStGH, wenn sie eine Völkerstraftat auf dem Gebiet eines Vertragsstaates begangen haben . Das allgemeine Zuständigkeitsregime wird durch die sog. "sicherheitsratsgestützte Zuständigkeit" nach Art. 12, 13 IStGH-Statut überlagert und erweitert. Das IStGH-Statut geht von einer zweifachen Durchsetzungsmöglichkeit des 103 Völkerstrafrechts aus. Zum einen eröffnet es den Weg für eine Aburteilung völkerstrafrechtlicher Verbrechen auf internationaler Ebene durch den IStGH. Zum anderen gestattet es die Durchsetzung des Völkerstrafrechts durch die Vertragsstaaten . Erreicht wird dies durch die Festschreibung des Grundsatzes der Komplementarität, wonach die nationale Strafgerichtsbarkeit Vorrang vor der des IStGH genießt. Der Gerichtshof darf seine Gerichtsbarkeit erst ausüben , wenn ein Vertragsstaat nicht fähig oder willens ist, die Strafverfolgung ernsthaft zu betrei-
74
§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenzüberschreitenden Bezügen
ben . Mit dem am 30 . Juni 2002 in Kraft getretenen Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) vom 26. Juni 2002 wurde das nationale Strafrecht an die Bestimmungen des IStGH-Statuts angepasst und damit zugleich ein "deutsches Völkerstrafrecht" begründet. Die Implementierung von Völkerstraftaten in deutsches Strafrecht versetzt Deutschland in die Lage, die in die Zuständigkeit des IStGH fallenden Verbrechen selbst verfolgen zu können .
Teil 11 Träger des Europäischen Strafrechts und ihre Handlungsformen
B. Hecker, Europäisches Strafrecht, DOI 10.1007/978-3-642-13127-1_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
7R
§ 3 Europarat
3 Übersicht: nie 47 Mitgliedstaaten des Europarates (Bcit rittsda tenf Alba nien ( 13. Juli 199 5)
Ando rra ( 10. Oktober 1994)
Armenien (25. Ja nuar 2001 )
Ase rbcklschan (25. Januar 2001)
Belgien (5. Mai 1949)
Bosnien und Herzego wina (24 . April 2002 )
Bulgarien (7. Mai 1992 )
Dänemark (5. Mai 1949 )
Deut schland ( 13. Juli 1950)
Estland (14. Mai 1993 )
Finnland (5. Mai 1989)
Frankreich (5. Mai 1949 )
Gee rgien (2 7. Apri l 1999 )
Griechenland (9. August 1949)
Irland (5. Mai 1949 )
Island (9. M ärz 1950)
Italien (5. Mai 1949)
Kroatien (6 . No~ em b<:r 1996)
Leüte nd (10. Februar 1995)
Liechtcnstcm (23. November 1978)
Litauen (14. Mai 1993)
l. uxemburg (5. Mai 1949)
Maha (29. April 1965)
Ehern. Jugcsl. k cp. Mazedoni en (9. November 199 5)
Moldaw icn ( 13. J uli 199 5)
Monaco (5. O ktober 2(04 )
Montenegro ( 11. Mai 2007)
Niederlande (5. Ma i 1949 )
Norwege n (5. Mai 1949)
ÖSterreich ( 16. April 1956)
Polen (29. Novem ber 1991)
Portugal (22. September 19 76 )
Rumänien (7. Oktober 1993)
Russische Föderation (28 Februar 1996)
San Mar ino (16. Novembe r 1988)
Schweden (5. Mai 1949)
Sehwd/. (6. Mai 1963)
Serbien und Momcnc gro (3. April 2003 )
Slowakei (30. Juni 1993)
Slowen ien ( 14. Mai 1(93)
Spanien (24. November 19 77)
Tsc hech ische Republik (30. Jun i 1993 )
Türke i (13. April 1950)
Ukraine (9. November 199 5)
Unga rn (6. Novemb<:r 1990)
Vereinig tes Königreich (5. Mai 1949)
Zypcrn {24 , Mai 1961)
Beobachterstatus im Ministerkomitee: Kanada (29. Mai 1996) - Heiliger Stuhl (7. März 1970) - Japan (20. November 1996) - Mexiko ( 1. Dezember 1999) - Vereinigte Staaten von Amerika ( 10. Januar 1996); Beobachterstatus bei der Parlamentarlsch en Versammlung: Kanada (28. Ma i 1997) - Israel (2. Dezember 1957) - Mexiko (4. November 1999). .. Der Europarat ist die umfassendste Staatenvereinigung Europas. Ihr gemeinsames Band ist die Verpflichtung zur Rechtsstaatlichkelt. Alle Mitgliedstaaten bekennen sich zum Grundsatz der Vorherrschaft des Rechts sowie zur Anerkennung von Menschenrechten und Grundfreihe iten (vg1. Art. 3 S. I Europaratssatzung). Dieses Prinzip ist vorrangig inkorporiert in der Euro päischen Konvention zum Schutz Aktueller Stand bei www.con venrions.coe.int.
A. Strukturen und Ziele de s Europarate s
79
der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) v. 4. November 1950 und ihren Zusatzprotokollerr'. Bei schwerwiegender Missachtung dieser Grundsätze kann das entscheidende Organ des Europarats, das Ministerkomitee, einem Mitgliedstaat das Recht auf Vertretung vorläufig entziehen und ihn zum Austritt auffordern . Als schärfstes Mittel kann das Komitee den Ausschlu ss des Mitgliedstaates beschließ en.
11. Organe des Europarates Organe des Europarates sind das Ministerkomitee, die Parlamentarische Ver- 5 sammlung sowie der Kongress der Gemeinden und Regionen Europas. Das Ministerkomitee ist das Entscheidungsorgan des Europarates. Es setzt sich zusammen aus den Außenmini stern der Mitgliedstaaten bzw. ihren ständigen Vertretern . Die Parlamentarische Versammlung ist das beratende Organ, das sich aus 318 Mitgliedern zusammensetzt, die von den nationalen Parlamenten benannt werden . Die Zahl der von den nation alen Parlamenten entsendeten Vertret er ist für jeden Staat festgelegt (zwischen 2 und 18). Ebenfalls ein beratendes Organ ist der Kongress der Gemeinden und Regionen Europas, der die Interessen der Regionalund Kommunalbehörden vertritt. Die Aktivitäten des Europarates werden von einem Generalsekretär geleitet und koordiniert, der von der Parlamentarischen Versammlung gewählt wird . Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und das Anti- 6 Folter-Komitee sind keine Organe des Europarats, sondern Organe der sie tragenden Konvent ionen (EMRK bzw. Anti-Folter-Konvention) .
111. Arbeitsprogramm des Europarates Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa erhielt der 7 Europarat neue politische Impulse durch Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs. Im Jahre 1993 stel1ten sich die Staat s- und Regierungschefs der damals 32 Mitgliedstaaten des Europarates in Wien den neuen Herausforderungen und ebnet en den Weg für die Erweiterung. 1997 verabschi edeten sie in Straßburg für die damals 40 Mitgli edstaaten einen neuen Aktionsplan zu vier großen Themen: Demokratie und Menschenre chte, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Sicherheit der Bürger und Erziehung zur Demokratie und kulturellen Vielfalt. Diese Themen bilden die Grundlage für das Arbeitsprogramm des Europarates in diesem neuen Jahrtausend . Der Europarat organi siert regelm äßig Fachmini sterkonferenzen (für Justiz, Bildung, Familienangelegenheiten, Gesundheit, Umwelt, kommunale Verwaltung, Migration, Gleichstellung von Mann und Frau, Arbeit, MassenDie EM RK ist in Deutschl and durch Gesetz vom 7. Augu st 1952 (8GB!. 11 1952 , 685 , 953 ) in Verbindu ng mit der Bek anntm achung vom 15. Deze mber 1953 (B GB!. 11 1953, 14) übe r das Inkraftt reten ratifiziert worden und gilt seit dem 3. Septem ber 1953 als einfache s Bunde srecht.
80
§ 3 Europarat
medien , Kultur , Sport, Jugend usw.), auf denen die aktuellen Probleme in diesen Bereichen analysiert und diskutiert werden. Amtssprachen des Europarates sind Englisch und Französisch, doch werden auch Deutsch, Italienisch und Russisch von der Parlamentarischen Versammlung als Arbeitssprachen eingesetzt. 8 Die Arbeit des Europarats findet Ausdruck in themenzentrierten Empfehlungen sowie in Konventionen und Abkommen, die den Mitgliedstaaten zu Beitritt und Ratifikation angeboten werden . Diese können den Anstoß geben und die Grundlage bilden für die Änderung bzw. Harmonisierung des nationalen Rechts in den Mitgliedstaaten. Der Europarat verabschiedet auch Teilabkommen, die eine Art der Zusammenarbeit " mit variabler Geometrie" darstellen und jeweils interessierten Mitgli edstaaten die Möglichkeit geben , mit Zustimmung der anderen Mitglieder spezifische Arbeiten von allgemeinem Interesse durchzufLihren. 9 Als völkerrechtlicher Zusammenschluss souveräner Staaten kann der Europarat selbst keine Rechtsvorschriften erlassen, die in den Einzelstaaten unmittelbare Geltung beanspruchen. Es bleibt stets der souveränen Entscheidung der Mitgliedstaaten überlassen, ob sie einer Konvention des Europarats beitreten und diese durch Ratifikation in innerstaatliches Recht verwandeln.
B. Strafrechtsrelevante Aktivitäten des Europarates I. European Commitee on Crime Problems 10 Bereits im Jahre 1957 hat das Ministerkomitee den europäischen Ausschuss für Strafrechtsprobleme (CDPC5) mit dem Ziel gegründet, die Arbeiten auf strafrechtlichem Gebiet zu intensivieren". Dem CDPC kommt dabei die Aufgabe zu, die Arbeiten an Fragen des Straf- und Strafverfahrensrechts, der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen ebenso wie der Strafvollstreckung, des Strafvollzugs, der Kriminologie und der Kriminalpolitik zu koordinieren. Innerhalb des CDPC bestehen Unterausschüsse, deren Mitglieder aufgrund ihrer besonderen Fachkenntnisse mit der Untersuchung bestimmter Spezialprobleme betraut werden . Das CDPC betreibt strafrechtsrelevante Grundlagenforschung und erstellt Vorarbeiten für völkerrechtliche Vereinbarungen. Zu denken ist etwa an rechtsvergleichende Studien über ausgewählte strafrechtliche Problemfelder, wie z. B. Terrorisrnusbekämpfung", Umweltschutz, Verbraucherschutz, Opferschutz. Bis zum Jahre 2009 hat das Ministerkomitee für den strafrechtlichen Bereich über 100 strafrechtsrelevante Resolutionen und Empfehlungen verabschiedet.
European Commitee on Crime Problems. Ambos, IntStR, § 10 Rn. 68; Satzger, IntStR , § 11 Rn. 6; Vogler, JURA 1992,586 ff. Vgl. hierzu die Tätigke it des Expertenkomitees des Europarates zur Terrorismusbekämpfung (CODEXTER).
B. Strafrechtsrelevante Aktivitäten des Europarates
81
11. Strafrechtsrelevante Konventionen
1. Übersicht Von den über 50 strafrechtsrelevanten Konventionen", die der Europarat initiiert 11 und ausgearbeitet hat, werden folgende exemplarisch aufgeführt: - Europäische Menschenrechtskonvention v. 4. November 19509 , - Europäisches Auslieferungsübereinkommen v. 13. Dezember 1957 10 mit seinen ZP v. 15. Oktober 197511 und v. 17. März 1978 12, - Europäisches Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen v. 20 . April 1959 13 mit seinem ZP v. 17. März 1978 14, - Europäisches Übereinkommen über die Ahndung von Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr v. 30. November 1964 15 , - Europäisches Übereinkommen über die Übertragung der Strafverfolgung v. 15. Mai 1972 16 , - Europäisches Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus v. 27 . Januar 1977 17 und Protokoll zur Änderung dieses Übereinkommens v. 15. Mai 2003 18 , - Europäisches Übereinkommen über die Kontrolle des Erwerbs und Besitzes von Schusswaffen durch Einzelpersonen v. 28 . Juni 1978 19, - ZP v. 15. März 197820 zum Europäischen Übereinkommen betreffend Auskünfte über ausländisches Recht v. 7. Juni 19682 1, - Europäisches Übereinkommen über die ÜbersteIlung verurteilter Personen v. 21 . März 198322 mit seinem ZP v. 18. Dezember 199723 , - Protokoll Nr. 6 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe v. 28 . April 1983 24,
10
11 12
13 14 15 16 17 18 19
20 21
22
23
Die Konventionen können im (englischen oder französischen) Volltext abgerufen werden unter www.conventions.coe.int. ETS Nr. 5; BGB!. 11 1952, 686, 953; 1954, 14; 1968, 1116, 1120; 1970, 1315; 1972, 105;1989,546,991 ; 1995 11,578. ETS Nr. 24; BGB!. 11 1964, 1369; 1976,1778; 1982,2071 ; 1994,299. ETS Nr. 86. ETS Nr. 98; BGB!. 11 1990, 118; 1991,874. ETS N r. 30; BGB!. 11 1964, 1369, 1386; 1976, 1799; 1982,2071 ; 2000,555. ETS Nr. 99; BGB!. 11 1990, 124; 1991, 909; 2000, 555. ETS N r. 52. ETS Nr. 73. ETS Nr. 90; BGB!. 11 1978,321 ,907; 1989,857; 1998, 1136. ETS Nr. 190. ETS N r. 101; BGB!. 11 1980,953; 1986,616. ETS N r. 97; BGB!. 11 1987,58; 1987,593. ETS N r. 62; BGB!. 11 1974,937; 1975,300. ETS Nr. 112; BGB!. 11 1991, 1006; 1992, 98; vgl. auch das Überstellungsausftihrungsgesetz v. 26. September 1991 (BGB!. 1991 I, 1954). ETS Nr. 167.
82
§ 3 Europ arat
- Europäisches Übereinkommen über Gewalttätigkeiten und Fehlverhalten von Zuschauern bei Sportveranstaltungen und insbesondere bei Fußballspielen v. 19. August 1985 25, - Europäisches Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe v. 26 . November 198726, - Europäisches Übereinkommen über Geldwäsche sowie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Erträgen aus Straftaten v. 8. November 1990 27 , - Europäisches Übereinkommen über den unerlaubten Verkehr mit Drogen auf hoher See zur Durchführung des Art . 17 des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen v. 13. Januar 199528 , - Europ äisches Übereinkommen über den Schutz der Umwelt durch Strafrecht v. 4. November 199829 , - Strafrechtliches Anti-Korruptionsübereinkommen v. 27 . Januar 199930 mit seinem ZP v. 15. Mai 2003 3 1, - Europäisches Übereinkommen zur Datennetzkriminalität vom 23 . November 2001 32 (Cybercrime-Konvention) mit seinem ZP zur Kriminalisierung von Handlungen rassistischer und fremden feindlicher Art begangen durch Computersysteme v. 28 . Januar 2003 33, - Protokoll Nr . 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe unter allen Umständen v. 3. Mai 2002 34, - Europäisches Übereinkommen zur Terrorismusprävention v. 16. Mai 2005 35 , - Europäisches Übereinkommen gegen Menschenhandel v. 16. Mai 2005 36 - Europäisches Übereinkommen über Geldwäsche, Terrorismusfinanzierung sowie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Erträgen aus Straftaten v. 16. Mai 2005 37, - Übereinkommen des Europarates zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch v. 25 . Oktober 2007 38 24
25
26 27
28 29
30 31
32 33 34 35
36
37
ETS N r. 114; BGB!. 11 1988,663; 1989,814; vg!. hierzu Rosenau , Z IS 2006, 338 , 339 . ETS Nr . 120 ; BGB!. 11 2004, 1642. ETS Nr . 126; BGB!. 111989,946; 1990,491 ; 1996,1114. ETS Nr. 141; BGB!. 11 1998,519; 2000,1304; 2001 , 339 ; vg!. hierzu Ambos, IntStR, § 10 Rn. 70. ETSNr. 156;BGB!. 1I 2000, 13 13. ETS N r. 172; vg!. hierzu Knaut, Europäisierung, S. 243 ff. ETS Nr . 173; vg!. hierzu Kubiciel , ZStW 120 (2008), S. 429 ff. ETS Nr . 191. ETS Nr . 185; vg!. hierzu Ambos, IntStR, § 10 Rn. 71; Baier, Z UM 2004, 39, 41 ff. ETS N r. 189. ETS N r. 187; vg!. hierzu Rosenau , Z IS 2006, 338 , 339 f. ETS N r. 196 ; vg!. hierzu Middel , Te rrorismusbekämpfung, passim; Zöller, Terrorismusstrafrecht, passim. ETS Nr . 197 ; vgl. hierzu Post und Zimm ermann , Men schenhandel , passim. ETS Nr . 198.
B. Strafrechtsrelevante Aktivitäten des Europarates
83
2. Praktische Bedeutung der Konventionen Die nachfolgenden Beispiele mögen aufzeigen, wie sich Europaratskonventionen 12 auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen sowie auf Kriminalpolitik und Strafgesetzgebung auswirken: (1) Die größte praktische Bedeutung kommt den einschlägigen Europarats- 13 konventionen im Bereich der Rechtshilfe (Auslieferung, Vollstreckungshilfe, sonstige Rechtshilfe) zu (§ 2 Rn. 64). Das EuRhÜbk v. 20 . April 1959 39 und das EuAIÜbk v. 13. Dezember 195740 konstituieren als sog. " Mutterkonventionen" des europäischen Rechtshilfeverkehrs einen rechtlichen Rahmen, auf dem zahlreiche bi- und multilaterale Übereinkommen sowie EU-Maßnahmen aufbauen . Die Vollstreckungshilfe wird bis heute maßgeblich von dem Überstellungsübk. v. 21. März 1983 41 geprägt. Nach seinem Art. 2 11 hat jede verurteilte Person das Recht, dem Urteils- oder Vollstreckungsstaat gegenüber den Wunsch zu äußern , nach Maßgabe dieses Übereinkommens überstellt zu werderr". Die Vollstreckungshilfe stellt ein wesentliches Element einer effektiven grenzüberschreitenden Strafrechtspflege dar, zumal die Auslieferung eines in seinen Heimatstaat zurückgekehrten verurteilten Straftäters an den Urteilsstaat vielfach an rechtlichen Hindernissen scheitert. Im Übrigen verspricht eine Strafvollstreckung im Heimatstaat des Straftäters bessere Resozialisierungschancen. (2) Die Bedeutung von Europaratskonventionen für die europäische Kriminal- 14 politik und Gesetzgebung zeigt sich darin , dass sich die Gesetzgeber bei der Ausarbeitung nationaler oder europäischer Rechtsakte - z. B. in den Bereichen Terrorismus , Geldwäsche, illegaler Drogenhandel, Umweltkriminalität, Korruption, Cyber Crime , sexuelle Ausbeutung von Kindern - an den in einschlägigen Europaratskonventionen enthaltenen Regelungsmodellen orientieren. So beeinflusste z. B. das am I. September 1993 in Kraft getretene Übk. des Europarates über das Waschen, das Aufspüren, die Beschlagnahme und die Einziehung der Erträge aus Straftaten v. 8 . November 199043 legislative Maßnahmen gegen Geldwäsche auf nationaler und europäischer Ebene . Das Übereinkommen zielt darauf ab, den Vortatenkatalog der nationalen Geldwäschetatbestände über den Bereich der Betäubungsmitteldelikte auf alle Straftaten auszudehnen. Darüber hinaus enthält es detaillierte Rechtshilferegelungen für die Phasen Ermittlung, vorläufige Sicherung und definitive Einziehung von Tatwerkzeugen sowie illegal erlangter Erträge und Vermögensgegenstände. Seine Vorgaben sind in die drei Geldwäscherichtlinien der EG eingeflossen". Auch der am 6. Juli 2001 in Kraft getretene Rahmenbeschluss des Rates über Geldwäsche sowie Ermittlung, Einfrieren, Beschlag38 39 40 41
42
43
44
ETS Nr . 201 . ETS Nr . 30 ; BGBl. 11 1964, 1369, 1386; 1976, 1799; 1982, 2071 ; 2000 , 555. ETS N r. 24; 13GB!. 11 1964, 1369; 1976, 1778; 1982,2071 ; 1994,299. ETS Nr. 112; 13GB!. 11 1991, 1006; 1992, 98; vgl. auch das Überste llungsausführungsgeset z v. 26. September 1991 (I3Gß]. 11991 , 1954). Vgl. hierzu die praxisorientierte Darstellung von Hackner u. a., Leitfaden , Rn. 143 ff ETS Nr . 141. Vgl. hierzu Ambos, IntStR , § 10 Rn. 70; S/S-StreelHecker, § 261 Rn. 1 m. w. N.
84
§ 3 Europarat
nahme und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten" v. 26 . Juni 200 I knüpft an das Geldwäscheübereinkommen des Europarats an. 15 (3) Die Arbeit mit multilateralen Übereinkommen erfordert vielfach die Kenntnis des Straf- und Strafverfahrensrechts der Partnerstaaten (z. B. beiderseitige Strafbarkeit als Auslieferungsvoraussetzung). Daher kommt dem Austausch von Informationen über das ausländische Recht besondere Bedeutung zu. In dem ZP v. 15. März 1978 zu dem Europ. Übk v. 7. Juni 1968 betreffend Auskünfte über ausländisches Rechr" wird den Vertragsparteien ein förmlicher Anspruch auf die gegenseitige Erteilung von Rechtsauskünften in Strafsachen, namentlich über ihr materielles Strafrecht, Strafverfahrensrecht und ihre Gerichtsverfassung gewährt. Der BGH hat von diesem Auskunftsanspruch Gebrauch gemacht, als er darüber zu entscheiden hatte, ob einem nach belgischem Recht abgeschlossenen verwaltungsrechtlichen Vergleich zwischen der belgischen Finanzbehörde und einem Abgabenhinterzieher (sog . "transactie") gern. Art. 54 SDÜ stratklageverbrauchende Wirkung auch in Deutschland zukommt (§ 13 Rn. 24 f.). Um diese Frage entscheiden zu können , verlangte er authentische Informationen über bestimmte Rechtsfragen, die das belgisehe Justizministerium später konventionsgetreu übermittelt har".
11I. Europarat als Forum paneuropäischer Kooperation 16 Während zu Beginn der Tätigkeit des Europarats noch die klassischen Instrumente der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit - Auslieferung und Rechtshilfe - im Vordergrund standen, verlagerte sich der Schwerpunkt seiner Aktivitäten in den letzten Jahren zunehmend auf strafrechtliche Spezialmaterien wie z. B. Terrorismus, Computerkriminalität, Umweltschutz, Korruption und Geldwäsche. Dabei geht es vor allem um Rechtsangleichung durch Entwicklung gemeinsamer Definitionerr". Die beachtliche Zahl von Konventionen des Europarates auf strafrechtlichem Gebiet darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass den Bemühungen um die Vereinheitlichung bzw. Angleichung der Strafrechtssysteme bislang nur ein begrenzter Erfolg beschieden war. Praktische Bedeutung haben bisher neben der EMRK (Rn. 18 ff.) vor allem die Auslieferungs-, Rechtshilfe- und die Überstellungskonventionen erlangt. Bis heute bestimmen diese Konventionen die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen in Europa (§ 2 Rn. 68 ff.). 17 Es hat sich jedoch gezeigt, dass dem Streben nach Rechtsvereinheitlichung selbst im Kreis der durch die EMRK verbundenen Staaten Grenzen gesetzt sind . Die meisten strafrechtsbezüglichen Konventionen des Europarates sind mangels der erforderlichen Zahl von Ratifikationen in den Mitgliedstaaten nicht in Kraft getreten. Schrittmacher der europäischen Strafrechtsentwicklung ist derzeit nicht der Europarat, sondern die EU. Durch den Vertrag von Lissabon wurde sogar eine 45 46
47 48
ABlEG 200 I Nr. L 182, S.I. ETS Nr. 97; BGB!. 11 1987, 58; 1987, 593. BGH NStZ 1998, 149; BGH NStZ 1999, 250; Schomburg, StV 1999, 244, 246 . Wilkitzki, ZStW 105 (1993) , S. 821, 824 f.
C. Bedeutung der EMRK für die europäische Strafrechtsptlege
85
Kompetenzgrundlage für die Schaffung supranationalen Strafrechts zum Schutze der EU-Finanzinteressen eingeführt (Art . 325 IV AEUV ; vgl. hierzu § 14 Rn. 44) . Im Übrigen verfügt die Union über nicht unbeträchtliche Harmonisierungsbefugnisse im Bereich des Strafrechts (Art . 83 I, 11 AEUV). Nichtsdestotrotz wird der Europarat auch künftig eine bedeutende Rolle als Forum paneuropäischer Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafrechtspflege und der Kriminalpolitik spielen. Die Berichte, Konferenzen und Kolloquien sind aus der Entwicklung der europäi schen Kriminalpolitik nicht mehr hinwegzudenken. Gerade die postkommunistischen Staaten können bei der notwendigen Umgestaltung ihres Strafrechts von dem auf Europaratsebene gebündelten Sachverstand Nutzen ziehen.
IV. Literaturhinweise Ambos, Internationales Stra frecht, 2. Aull ., 2008 , § 10 Herdegen, Europarecht, 11. Aufl ., 2009 , §§ 2-3 Hoitz (Hrsg.), 50 Jahre Europarat, 2000 Jung, Konturen und Perspekt iven de s europ äischen Strafrechts, JuS 2000 , 417 Klebes, Die Rechts struktur des Europarats und insbesond ere der Parlam entarischen Versammlung, 1996
c. Bedeutung der EMRK für die europäische Strafrechtspflege Entsprechend ihrer Ausrichtung am Schutz der Menschenrechte und Grundfreihei- 18 ten erstrecken sich die einzelnen Garantien der EMRK auf alle Rechtsbereiche einschließlich und namentlich des Strafrechts. Wie die folgende Über sicht zeigt, stehen die menschenrechtliehen Garantien in weiten Teilen in einem spezifisch strafre chtlichen oder zumindest strafrechtsrelevanten Kontext.
Übersicht: Strafrechtsrelevante Garantien der EMRK und ihrer Zusatzpro- 19 tokolle Art. 2 I Art. 3 Art.41-III Art . 5 I Art . 5 lI-V Art . 6 I Art . 6 11 Art. 6 III Art. 7 I
Recht auf Leben Verbot von Folter, unmen schlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit Recht auf Freiheit und Sicherheit Rechte von Festgenommenen Recht auf ein faires Verfahren Unschuldsvermutung Rechte von Angeklagten, insbesondere Recht auf Verteidigerbeistand und Konfrontation mit Belastungszeugen Keine Strafe ohne Gesetz
86
§ 3 Europ arat
Art. 8 I Art. 9 I Art. 10 I Art. I I I Art. 13 Art. 14 Art. 34 Art. 16. ZP Art. 2 I 7. ZP Art. 3 7. ZP Art. 4 I 7. ZP Art. 1,2 13. ZP
Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit Freiheit der Meinungsäußerung Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit Recht auf wirksame Beschwerde Diskriminierungsverbot Individualbeschwerderecht Abschaffung der Todesstrafe Rechtsmittel in Strafsachen Recht auf Entschädigung bei Fehlurteilen Ne bis in idem Abschaffung der Todesstrafe unter allen Umständen
20 Von allen Konventionen des Europarates hat die EMRK die nachhaltigste und prägend ste Wirkung auf die Strafrechtsptlege der Konventionsstaaten entfaltet. Als "gemeineuropäisches Grundgesetz" gewährleistet sie einen bei jeder Strafverfolgung zu wahrenden gemeineuropäischen Grundrechtsstandard. Mit der Individualbeschwerde (Art . 34 EMRK) , die beim EGMR zu erheben ist, stellt sie ein bedeutsames völkerrechtliches Instrument zur effektiven Durchsetzung dieser Garantien zur Verfügung. Die reiche Spruchpraxis des EGMR formt die europ äischen Grundfreiheiten nicht selten bis hin zu äußerst konkreten Gewährleistungen. Dadurch werden die Strafrechtssysteme der Konventionsstaaten " von außen her" auf übernational gültige Maßstäbe der Fairness und Rechtsstaatlichkeit verpflichtet. Das von der EMRK und ihren Zusatzprotokollen etablierte System des Menschenrechtsschutzes wird deshalb zu Recht als eine der "Triebfedern" bzw. als " Katalysator" der Europäisierung des Strafrechts bezeichnet". Die in ihr enthaltenen Verfahrensgarantien gehen zum Teil über die Gewährleistungen des nationalen Rechts (Verfassungs- und Strafprozessrecht) hinaus'", was vor allem Strafjuristen zu einer vertieften Beschäftigung mit der Konvention veranla ssen sollte>' . Zu den Hauptproblemfeldern, mit denen sich der EGMR in den letzten Jahrzehnten zu befa ssen hatte, gehören die nach der EMRK zu wahrenden Grenzen bei der Bekämpfung von Terrorismus und Separatismus, die rechtsstaatliche Bewältigung des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie, Justizdefizite in den Konventionsstaaten, Folterverbot sowie Pressefreiheit und Schutz der Privatsph äre'<.
49
50
51
52
Esser, Europäische s Strafverfahren srecht , S. 45; Jung, JuS 2000 , 417 , 418 ff.; Kühne, StV 2001 , 73, 75; Satzge r, JA 2005 , 656 , 658 ; Tiedemann , Europäisierung, S. 140. Vgl. hierzu d ie Gegenüb erstellun g des deut schen und europäischen Grundrecht sschutzes im Bereich der Justi zgrundrecht e von Grote/MarauhnlDörr, EMRK/GG, Kap. 13 (Freiheit der Person) und Grote/Marauhn/Grab enwart erlPabel, EMRK/GG, Kap. 14 (Faires Verfahren) . Weigend, StV 2000 , 384 ff. Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2009 , 3749, 3753 f.
C. Bedeutung der EMRK für die europäische Strafrechtsptlege
87
I. System des Menschenrechtsschutzes In erster Linie muss der Schutz der Menschenrechte durch das innerstaatliche 21 Recht der Konventionsstaaten gesichert werden . Alle Mitgliedstaaten des Europarates (Rn. 3) sind Vertragsstaaten der EMRK . Als solche sind sie völkervertragsrechtlich verpflichtet, die Einhaltung aller in der EMRK verbrieften Rechte zu gewährleisten. Die meisten Konventionsstaaten haben die EMRK mit einem Vertragsgesetz in innerstaatliches Recht umgesetzt. In Deutschland wurde die EMRK durch das Gesetz über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 7. August 1952 ratifiziert-' Die Bundesrepublik Deutschland ist daher an die EMRK und deren Auslegung durch den EGMR über den gem . Art . 59 11 GG erfolgten innerstaatlichen Zustimmungsakt gebunden>' In einigen Staaten (z. B. Österreich, Schweiz" , Griechenland) gilt die EMRK mit Verfassungsrang. Praktisch alle Mitgliedsstaaten des Europarates haben die EMRK in ihr innerstaatliches Recht integriert" Dies bedeutet, dass der einzelne Bürger sich vor den nationalen Behörden und Gerichten auf die Bestimmungen der EMRK berufen kann und dass die staatlichen Organe die umfangreiche Rechtsprechung (das sogenannte "Case Law") des EGMR beachten müssen . Da die EMRK im innerstaatlichen Recht der Bundesrepublik Deutschland nicht 22 mit Verfassungsrang ausgestattet ist, kann eine Verfassungsbeschwerde nicht unmittelbar auf eine Konventionsverletzung gestützt werden '" . Jedoch misst das BVerfG der Konvention große Bedeutung für die Konkretisierung verfassungsrechtlicher Standards zu, was sich u. a. darin zeigt , dass die Judikatur des EGMR als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatliehen Grundsätzen des GG herangezogen wird'" . Es ist also durchaus möglich , mit einer Verfassungsbeschwerde zu rügen , staatliche Organe hätten eine Entscheidung des EGMR missachtet oder nicht ber ücksichtigt'" . Auch das BVerwG und der BGH erkennen eine " Pflicht zur Beachtung einer gefestigten Auslegungspraxi s" des EGMR an 60 • 53
54
55
56
57
58 59 60
BGB!. 11 1952, 686, 953 ; 1954, 14; 1968, 1116, 1120; 1970, 1315; 1972, 105; 1989, 546, 991; 1995, 578 . BVerfGE 82, 106, 115; 111,307 = NJW 2004, 3407; Amb os, IntStR, § 10 Rn. 8; Esser , StV 2005 , 348 ; Grabenwarter, EMRK, § 3 Rn. 5; Staebe, JA 1996, 75 ff. Obwohl die EMRK nur im Range eines Bundesgesetze s steht, beh andelt das Schweizerische Bund esgericht Beschwerde n wege n Verletzung der Kon vention wie eine Verfass ungsbesc hwe rde ; vg!. hierzu Ambos, ZStW 115 (2003), S. 583, 588; Grabenwarter, EMRK, § 3 Rn. 3; Kieschke, Praxis des EGMR, S. 170 Ir Amb os, IntStR, § 10 Rn. 8; Ehlers , JURA 2000 , 372 , 373 ; Ziegenhahn , Men schenrechte, S. 472 ff. BVerfGE 64, 135, 157; 111,307 ff. = NJW 2004 , 3407 ff. ; Amb os, IntStR, § 10 Rn. 9; Esser, StV 2005 , 348 ; Grab enwa rter, EMRK, § 3 Rn. 6; Limbach, EuGRZ 2000 , 417, 418 ; zu den in dieser Frage abweichenden Ansichten vg!. Pache, EuR 2004 , 393 , 399. BVerfGE 74, 358 , 370 = NJW 1987,2427; 111,307 ff. = NJW 2004 , 3407 ff. Meyer -Ladewig, EMRK, Art. 46 Rn. 32. BVerwG JZ 2000 , 1050 m. Anm. v. Kadelba ch ; BGHSt 45 ,321 ff.; 46, 93, 97 ; 51, 150 ff. ; 52, 124 ff. ; Amb os, IntStR, § 10 Rn. 9; Dannecker, BGH-F G, S. 339 , 342 ff.
88
§ 3 Europ arat
23 Sollte der Schutz durch nationale Gerichte versagen und ist der innerstaatliche Rechtsweg ausgeschöpft, kann jeder Betroffene Individualbeschwerde gem. Art. 34 EMRK beim EGMR in Straßburg erheben. Ebenso können auch Staaten gegen andere Staaten Beschwerde erheben (Art . 33 EMRK) 61, was in der Praxis allerdings sehr selten vorkommt". In Mitgliedstaaten, in denen eine verfassungsgerichtliche Kontrolle von Gesetzen fehlt oder nur schwach ausgeprägt ist (wie in Frankreich, wo der Verfassungsrat Gesetze nur vor ihrer Verkündung überprüfen darf), kommt dem Rechtsschutz durch den EGMR die Funktion einer Art " ErsatzVerfassungsgerichtsbarkeit" zu.
1. Konventionsorgane 24 Ursprünglich wurden zwei voneinander unabhängige Organe zur Überwachung der Anwendung der EMRK gegründet: Die Europäische Kommission für Menschenrechte (1954) und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (1959). Um die ständig steigende Anzahl von Fällen effektiver bewältigen und insbesondere die durchschnittliche Verfahrensdauer abkürzen zu können , beschloss man 1993 die Errichtung eines neuen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) als Nachfolger des zweigleisigen alten Systems. Durch das 11. ZP zur EMRK63 wurde das Rechtsschutzsystem der Konvention grundlegend umgestaltet". Der neue ständige Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat am 1. November 1998 seine Tätigkeit aufgenommen . Die Richter , die von der Beratenden Versammlung des Europarates gewählt werden , sind vollkommen unabhängig. Ihre Anzahl entspricht derjenigen der Konventionsstaaten. Das neue System kennt drei verschiedene Spruch körper : Ausschüsse mit drei Richtern zur Vorprüfung von Individualbeschwerden, Kammern mit sieben Richtern, denen die Regelzuständigkeit für substanzhaltige Individual beschwerden zukommt und die Große Kammer mit siebzehn Richtern , welche für die Entscheidung besonders wichtiger Rechtsfragen zuständig ist. Das inzwischen von allen Europaratsstaaten ratifizierte 14. ZP zur EMRK65 sieht Änderungen der Konvention zur Entlastung des Gerichtshofs vor, insbesondere die Einführung eines Einzelrichters, der über die Zulässigkeit der Beschwerde entscheidet'". Um die dringende Entlastung des Gerichtshofs nicht weiter aufzuschieben, hatten die Konventionsstaaten als Zwischenlösung das Protokoll 14bis zur Zeichnung aufgelegt. Dieses am I. Oktober 2009 in Kraft getretene ZP übernimmt wesentliche Rege61
62
63 64
65 66
Vgl. hierzu Ambos, IntStR, § 10 Rn. 11; Ehlers, JURA 2000, 372 , 381 ; Satzger, IntStR, § 11 Rn. 97 . Am 26. März 2007 erhob Georgi en Staatenbeschwerde gegen die Russische Föderation wegen angeblicher willkürlicher Repre ssionen gegenüber in Russland lebenden Georgi ern ; vgl. EuGRZ 2007 , 242. BGBI. 11 1995,578; 1998,2582. Vgl. hierzu Esser, Europäisches Stra fverfahrensrecht, S. 46; Kieschke, Praxis des EGMR, S. 50 ff.; Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2009 , 3749, 3750 f. ETS Nr . 194; BGBI. 11 2006 , 138. Vgl. hierzu und zum Nachfolgenden Ladewig/Petzold, NJW 2009 , 3749, 3752.
C. Bedeutung der EMRK für die europäische Strafrechtsptlege
89
lungen des Protokolls Nr. 14 über den Einzelrichter und der erweiterte Zuständigkeit des Richterausschusses, jedoch mit der Besonderheit, dass mit ihm nicht zusätzliche materielle Rechte garantiert, sondern lediglich Verfahrensregeln geändert werden . Deutschland hat am 29. Mai 2009 eine Erklärung nach dem Madrider Abkommen vom 12. Mai 2009 abgegeben'", in dem die Konventionsstaaten die Möglichkeit geschaffen haben, bestimmte Verfahrenserleichterungen des Protokolls Nr. 14 vorläufig für anwendbar zu erklären. Deswegen richtet sich das Verfahren bei Beschwerden gegen Deutschland seit dem I. Juni 2009 nach Art. 24 11, 26 I, 111,27 und 28 EMRK in der Fassung des Protokolls Nr . 14. Neben dem EGMR besteht weiterhin das Ministerkomitee des Europarates als 25 Konventionsorgan mit "politischem Einschlag". Das Ministerkomitee kann beim Gerichtshof die Erstattung eines Rechtsgutachtens zu Konventionsfragen beantragen (Art . 47 EMRK) und wacht über die Durchführung endgültiger Urteile des EGMR (Art. 4611 EMRK) .
2. Verfahrensgang nach Einlegung einer Individualbeschwerde Jede natürliche Person , nicht-staatliche Organisation oder Personenvereinigung 26 kann die angebliche Verletzung eines in der EMRK verbrieften Rechts durch einen Konventionsstaat mittels Individualbeschwerde beim EGMR rügen (Art . 34 EMRK) . Das Verfahren vor dem Gerichtshof ist kosten frei. Die Amtssprachen des Gerichtshofs sind Englisch und Französisch. Die Beschwerde und alle Schriftsätze können jedoch bis zur Zulässigkeitserklärung in der Sprache eines Konventionsstaates abgefasst sein. Etwas vereinfacht dargestellt, gestaltet sich der Verfahrensgang" nach Einlegung einer Individualbeschwerde wie folgt: Nach Eingang der Beschwerde prüft ein Ausschuss des Gerichtshofs bzw. ein 27 Einzelrichter (Rn . 24) zunächst deren Zulässigkeit (Art . 28 EMRK) . Dies bedeutet, dass die Beschwerde bestimmte in der EMRK festgelegte Anforderungen erfüllen muss. Hierzu gehören vor allem die vorherige Beschreitung und Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges" sowie die Einhaltung der Sechs-MonatsFrist nach Erlass der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung (Art. 35 I EMRK). In Fällen der Untersuchungshaft ist der Anforderung der Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges Genüge getan , wenn der Beschwerdeführer alle nach nationalem Recht vorgesehenen Rechtsbehelfe gegen die Haftentscheidung ergriffen hat. Er muss also nicht etwa den rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens der letzten Instanz abwarten 70 . Über anonyme Beschwerden entscheidet der Gerichtshof nicht (Art. 35 11 lit. a EMRK) . Auch darf die Beschwerde nicht mit einer vom Gerichtshof bereits geprüften Beschwerde übereinstimmen oder bereits einer anderen internationalen Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz vorgelegt worden sein, ohne dass nunmehr neue Tatsachen vorgetragen werden (Art . 35 11 67 68
69 70
BGB!. 11 2009 , 823. Vg!. hierzu den Überblick bei Grabenwarter, EMRK, § 13; Meyer-Ladewig, EMRK, Ein!. Rn. 15-27; Meyer-Ladewig/Petzold. NJW 2009, 3749, 3752 ff. Dies erfordert in Deutschland - falls zulässig - auch die Anrufung des BVerfG . Kühne/Esser, StV 2002, 383, 384 m. w. N.
90
§ 3 Europ arat
lit. a, b EMRK) . Als unzulässig werden auch offensichtlich unbegründete oder missbräuchliche Beschwerden verworfen (Art . 35 111 EMRK) . Ein einstimmiger Verwerfungsbeschluss ist endgültig (Art. 28 S. 2 EMRK) . 28 Wenn eine Beschwerde für zulässig erklärt wurde , entscheidet in der Regel eine Kammer (Art. 29 EMRK) , welcher der nationale Richter des als Partei beteiligten Staates angehören muss (Art . 27 11 EMRK) . Diese strebt zunächst eine gütliche Einigung zwischen den Parteien (Beschwerdeführer und beklagter Staat) an. Eine einvernehmliche Lösung kann zum Beispiel in der Zahlung einer Entschädigung durch den Staat oder einer Gesetzesänderung bei gleichzeitiger Rücknahme der Beschwerde bestehen . Die Große Kammer kann auf zwei Wegen mit der Frage der Zulässigkeit und Begründetheit einer Beschwerde befasst werden : Zum einen kann die Kammer in Fällen von grundsätzlicher Bedeutung die Sache nach Art. 30 EMRK an die Große Kammer abgeben, wenn keine Partei widerspricht. Zum anderen ist gegen Urteile der Kammer eine Art " Berufung" zur Großen Kammer möglich. Nach Art. 43 EMRK können die Parteien binnen drei Monaten nach dem Urteil der Kammer die Verweisung an die Große Kammer beantragen. Über diesen Antrag entscheidet ein Ausschuss mit fünf Richtern , der prüft, ob die erforderliche besondere Bedeutung der Sache vorliegt. Gibt er dem Antrag statt, verhandelt und entscheidet die Große Kammer über die Sache noch einmal. Urteile der Großen Kammer werden mit ihrer Verkündung sofort rechtskräftig.
3. Wirkung rechtskräftiger Urteile des Gerichtshofs 29 Rechtskräftige Urteile des Gerichtshofes sind völkerrechtlich verbindlich (Art. 46 I EMRK) . Sie stellen allerdings nur einen etwaigen Verstoß des beklagten Staates gegen die EMRK fest. Der Gerichtshof kann also nicht etwa ein nationales Gerichtsurteil kassieren" . Er ist keine "Superrevisionsinstanz". Wenn der EGMR eine Verletzung der Konvention festgest ellt hat, beinhaltet das Urteil für den betroffenen Staat die Verpflichtung, den festgestellten Rechtsverstoß - soweit dieser fortdauert - unverzüglich abzustellen sowie in Zukunft vergleichbare Verstöße gegen die EMRK zu unterlassen" . Außerdem kann der Gerichtshof dem in seinen Rechten verletzten Beschwerdeführer eine "gerechte Entschädigung" als Wiedergutmachung für erlittene materielle und immaterielle Schäden zuerkennen, die der betroffene Staat zu zahlen hat (Art. 41 EMRK). 30 Die Bindungswirkung (materielle Rechtskraft) eines Urteils des EGMR bezieht sich nur auf die am konkreten Verfahren vor dem Gerichtshof beteiligten Parteien (Beschwerdeführer und Konventionsstaat)" . Nationales Recht vermag weder von den Konventionsgarantien noch von Urteilen des EGMR unmittelbar verdrängt zu werden . Die Behörden und Gerichte nicht verfahrensbeteiligter Konventionsstaaten sind daher an die in einer Entscheidung des EGMR festgestellte Rechtslage nicht gebunden, solange der nationale Gesetzgeber durch Erlass oder 71
72
73
Vgl. hierzu Ambos, IntStR , § 10 Rn. 12; Eh/ers, JURA 2000, 372 , 382 Kieschke, Praxis des EGMR, S. 66 ff.; Kühn e, Strafprozessrecht, Rn. 41 m. w. N . Vgl. zum Inhalt der Verpflichtung Mey er-La dewig, EMRK, Art . 46 Rn. 1 ff. Meye r-Ladewig , EMRK, Art . 46 Rn. 13.
C. Bedeutung der EMRK für die europäische Strafrechtsptlege
91
Änderung entgegenstehender Vorschriften keine neue (konventionskonforme) Rechtslage hergestellt hat" . Davon unberührt bleibt freilich die Pflicht aller innerstaatlichen Stellen zu einer konventionskonformen Ausl egung und Anwendung nationaler Rechtsvorschriften, sofern diese einen entsprechenden Interpretationsspielraum zulassen" . Insoweit kann von einer faktischen Orientierungswirkung bzw . Appellfunktion für alle Konventionsstaaten gesprochen werden" . In derselben Sache dürfen die nationalen Entscheidungsträger des verurteilten Konventionsstaates von der rechtlichen Würdigung der EMRK durch den Gerichtshof nicht abweichen . Für deutsche Gerichte folgt diese völkerrechtliche Pflicht aus dem Rechtsgedanken des § 358 IStPO.
4. Innerstaatliche Umsetzung von Urteilen des Gerichtshofs Für die Überwachung der innerstaatlichen Umsetzung von Urteilen des EGMR ist 31 das Ministerkomitee des Europarates zuständig (Art . 46 11 EMRK). Dieses hat z. 8. dafür zu sorgen , dass der Beschwerdeführer die ihm vom Gerichtshof zuerkannte Entschädigung auch wirklich erhält und dass weitere Maßnahmen zur Wiedergutmachung getroffen werd en. Es kann sich dabei zum Beispiel um die Wiederaufuahme eine s Gerichtsverfahrens (vgl. § 359 Nr. 6 StPO) 77, Aufh ebung einer Beschlagnahme oder Streichung einer Vorstrafe aus dem Strafregister handeln . Diese Wiedergutmachungsmaßnahmen beziehen sich aber nur auf das konkrete , dem Urteil des Gerichtshofs zugrunde liegende Verfahren. Darüber hinau s stellt das Ministerkomitee sicher, dass die Staaten jene Maßnahmen treffen, die zur künftigen Vermeidung von Konventionsverletzungen notw endig sind . Dies kann eine Änderung der Gesetze , der Rechtsprechung (konventionskonforme Auslegung) oder der Verwaltungspraxis erfordern, aber z. 8. auch den Bau modernerer Gefängnisse oder den Einsatz zusätzlichen Justizpersonals mit sich bringen. Beispielsfall: In ei ne m gegen d ie Nie de rlande gefLihrten Beschwerdeve rfahren hatt e der 32 EGM R eine n Fall zu beurteilen, in dem bestimmte Lücken der niederl ändi schen Strafgesetzgebung zut age getreten waren ?" Ein Täter, der eine ge istig behi nderte M inderj ährige zwang, sich zu entkleide n und mit ihm sex uell zu ve rkehren, konnte nach den damals einschl ägigen Bestimmungen des niederl änd isch en Strafrechts fü r diese Tat nicht belan gt we rden. Der Vat er des Tatopfers und d ieses selbst erhobe n Besc hwe rde bei der (damals zuständigen) Kommi ssion für Mensch enr echt e. Der Gerichtsho f stellte im Erge bnis fest , das s die Ni ederlande ihre Schutzptlicht aus Art. 8 EMRK (Schutz de s Privatlebens) verletzt ha74
75
76
77 78
Vgl. hierzu LG Ma inz NJ W 1999, 1271; Eiseie, JA 2000, 424, 428; ders., JA 2005, 390,392; Haass, NS tZ 1999,442 ff.; Masuch , NV wZ 2000, 1266, 1267 ff.; Weigend, StV 2000, 384, 387 f. Vgl. hierzu BVerfG 111,307 ff. = NJW 2004, 3407 ff.; BGH St 46,93,97 ff.; Amb os, Z StW 115 (2003), S. 583, 590 ff.; Esser, StV 2005, 348, 352 ff.; Masuch, N VwZ 2000, 1266, 1268; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 46 Rn. 14 Ir Ambos, IntStR, § 10 Rn. 12. Vgl. hierzu Ambos, IntStR , § 10 Rn . 12; Esser, StV 2005, 348, 354; Satzger, IntStR , § 11 Rn. 104; Weigend, StV 2000, 384, 388. EG M R EuG RZ 1985,297.
92
§ 3 Europarat
be und sprach der Beschwerdeführerin die Zahlung einer Entschädigung zu. Aus der genannte n Konventi onsgarantie leitete der EGMR eine staatliche Pflicht ab, geistig behinderte Minderjäh rige vor Angriffen gegen ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung mit strafrechtlichen Mitteln zu schützen. Zivilrechtliche Vorschriften allein begründeten keinen ausreichenden Schutz. Die innerstaatliche Umsetzung dieser Entscheidung erfordert somit ein Tätigwerden des niederl ändischen Gesetzgebers. Er muss für eine Anpassung des nationalen Strafrechts an die vom EGMR konkretisierten Konvention sgarantien sorgen.
11. Anwendungsbereiche strafrechtsrelevanter Konventionsrechte 33 Die menschenrechtliehen Garantien lassen s ich in Freiheitsrechte (Art. 2-4, 8, 9, 12 EM R K, Art. 1-2 des I ZP), Gleichheitsrechte (Art. 14 EM RK, 5 des 7 . ZP sowie 12 . ZP), politische Rechte (Art. 10, 11 EM R K, 3 des I. ZP) und justizbezogene Rechte (Art. 5-7 EM RK) emteilen' ". Die Prüfung von Abwehrrechten ist dreistufig angelegt'". Der Erö rterung des Schutzbereichs des in Betracht kommenden Abwehrrechts schließt sic h die Frage an , ob eine dem Konventionsstaat zu zurechnende Maßnahme (z. B. Legi slativakt, Judikatur oder sonst iges staatl iche s Handeln) in den Schutzbereich eingreift. Ggf. ist zu prüfen, ob dieser E ingriff gerechtfertigt ist. Eine Rechtfertigung kann sich daraus ergeben, dass der E ingriff lediglich a llge me ine (Art. 15-\7 EM RK), sp ez ielle (Art. 8-11 , j ew. Abs. 2) oder immanente Schranken (Verhältnismäßigkeitsprüfung) des Abwehrrechts konkretisiert. Die folgende Darst ellung so ll einen kursorisch en Überblick üb er di e Anwendungsbereiche strafrechtsrel evanter Konventionsrechte liefern" .
1. Autonome Auslegung der Konventionsrechte 34 Fall I : In einem im Jahre 1984 laufenden Verfahren verhängte das AG Heilbro nn gegen einen türki schen Staatsang ehörigen eine Geldbuße in Höhe von DM 60.- wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit. Nach seinem Einspruch gegen den Bußgeldbe scheid vernahm das AG den Betroffenen sowie mehrere Zeugen unter Hinzuziehung eines Dolmetschers. Sodann nahm der Betroffene seinen Einspruch zurück. Das AG verurteilte den Betro ffenen in seiner Nebenentsche idung zur Zahlung der Gericht skosten. Die Gericht skasse bürdete daraufhin dem Betroffenen auch die Kosten für die Zuziehung des Dolmetschers in Höhe von DM 63,90.- auf. Diese Kostenentsche idung wurde vom LG bestätigt. Hiergegen erhob der Betroffene Beschwerde bei der (damal s zuständige n) Kommission für Menschenrechte, mit der er die Verletzu ng seines Recht s auf unentgeltl iche Beiziehung eines Dolmet schers aus Art. 6 III lit. e EMRK rügte 82 .
79 80 81
82
Am bos, IntStR, § 10 Rn. 13. Grabenwarter, EMRK, § 18 Rn. I ff. Umfassendere Darstellungen der strafrechtsrelevanten Konventionsrechte finden sich bei Grote/Marauhn/Dörr bzw. Grabenwarterll'a bel, EMRK/GG, Kap. 13 (Freiheit der Person), Kap. 14 (Faires Verfahren); Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht; Grabenwarte r, EMRK, §§ 20-26; Meyer-Ladewig , EMRK; Peters, Einführung EMRK. EGMR ("Özt ürk/Deut schland") EuGRZ 1985, 62; vgl. hierzu Kieschke, Praxis des EGMR, S. 94 ff.
C. Bedeutung der EMRK für die europäische Strafrechtsptlege
93
Lösungshinweise zu Fall 1: Die Beschwerde hatte Erfolg. Zwar bezieht sich die 35 Konventionsbestimmung des Art . 6 111 Iit. e EMRK nur auf Strafverfahren. Der EGMR vermochte sich aber nicht der Auffassung der deutschen Bundesregierung anzuschließen, welche argumentiert hatte , die Konvention finde schon deshalb keine Anwendung, weil die Kosten dem Betroffenen nicht in einem Straf-, sondern in einem Bußgeldverfahren auferlegt worden seien . Der EGHM sah dies wie zuvor bereits die Kommission für Menschenrechte - anders. Im Hinblick auf den repressiven Charakter des Bußgeldverfahrens und der Sanktionierungswirkung eines Bußgelds seien die nach deutschem Recht verhängten Ordnungswidrigkeiten als Straftaten im Sinne der EMRK zu werten. Dabei betonte der Gerichthof das Prinzip einer von der nationalen Begrifflichkeit unabhängigen, autonomen Auslegung der Konventionsrechte". Die Entscheidung ist zwar - wie sich aus den abweichenden Voten einiger Richter ergibt - nicht ganz unproblematisch . Da aber im Ergebnis festgestellt wurde, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen Art. 6 111 lit. e EMRK verstoßen hat, musste sie das einschlägige innerstaatliche Recht (Gerichtskostengesetz) ändern . In der Folgezeit wurden die im Bußgeldverfahren geltenden Kostenbestimmungen der Konventionsauslegung des Gerichtshofes entsprechend angepasst (vgl. § 57 GKG , § 464 StPO). Das Recht auf unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers war bereits Ge- 36 genstand eines Urteils des EGMR aus dem Jahre 1978 84 • Entgegen einer damals in der deutschen Justiz weit verbreiteten Praxis des Gerichtskostenrechts stellte der Gerichtshof fest , dass ein der Gerichtssprache nicht mächtiger Angeklagter auch im Falle seiner Verurteilung nicht die Kosten zu tragen habe , die durch die Beiziehung eines Dolmetschers entstehen. Die besondere Bedeutung der Konventionsgarantie des Art . 6 111 lit. e EMRK für ein faires und rechtsstaatliches Verfahren hob auch der BGH in seinem Urteil v. 26 . Oktober 2000 hervor" . Ein der Gerichtsprache nicht kundiger Angeklagter hat demnach unabhängig von seiner finanziellen Lage für das gesamte Strafverfahren und damit auch für das vorbereitende Gespräch mit einem Verteidiger einen Anspruch auf unentgeltliche Zuziehung eines Dolmetschers, auch wenn kein Fall einer notwendigen Verteidigung gegeben ist" . Die vom EGMR praktizierte autonome Auslegung der Konventionsrechte wird 37 auch in dem Bereich der Sicherungsverwahrung aktuell. So hat der Gerichtshof in seinem Urt. v. 17. Dezember 2009 festgestellt, dass die vom deutschen Gesetzgeber im Jahre 1998 87 vorgenommene rückwirkende Streichung der in § 67 d I StGB a. F. enthaltenen zwingenden Höchstfrist (zehn Jahre) für die erste Unterbringung in der Sicherungsverwahrung durch § 67 d 111 StGB i. V. m. Art la 111 83
84
85 86
87
Vgl. hierzu Esser, Europäi sches Strafverfahrensrecht, S. 51 ff., Jung , EuGRZ 1996, 370,372 f. EGMR EuGRZ 1979,34 = NJW 1979, 1091 mit Anm. Vogler, EuGRZ 1979,640. Vgl. hierzu auch Kieschke , Praxis des EGMR, S. 72 ff ßGHSt 46, 178 = NJW 2001 ,309. Grote/Marauhn/Grab enwarterlPabel, EMRKlGG , Kap. 14 Rn. ISO. Gleiche s gilt für das gerichtliche Bußgeldverfahren; vgl. Seitz in Göhler , OWiG, § 46 Rn. 10a. Ges. v. 26. Januar 1998 (BGBt. 1 1998, 160).
§ 3 Europarat
94
EGStGB eine nachträglich auferlegte "Strafe " darstellt und deshalb gegen Art . 7 I EMRK verstößt" . Der Gerichtshof übernimmt also im Rahmen seiner Auslegung des Art . 7 I EMRK ausdrücklich nicht die im zweispurig angelegten Reaktionssystem Deutschlands übliche und verfassungsrechtlich relevante Unterscheidung zwischen Maßregeln der Besserung und Sicherung (§ 61 StG B) einerseits und Strafen andererseits. Aus der Sicht des deutschen Rechtssystems geht es bei den Maßregeln nicht um Schuldausgleich, sondern um präventive Gefahrenabwehr, für weiche die jeweils zweckmäßigsten Maßnahmen möglich sein sollen. Das BVerfG erblickte daher in der rückwirkenden Streichung der Höchstfrist für die erste Unterbringung in der Sicherungsverwahrung keinen Verstoß gegen das nur auf "Strafen" zugeschnittene Rückwirkungsverbot des Art . 103 11 GG89. Im Lichte der seit 10. Mai 2010 rechtskräftigen Entscheidung des EGMR steht auch die im Jahre 2004 eingeführte - vom BVerfG nicht beanstandete' ? - nachträgliche Sicherungsverwahrung (§ 66 b StGB) auf dem menschenrechtliehen Pr üfstand?'.
2. Konventionsgarantien als Auslieferungshindernis 38 Eine herausragende Rolle spielen die menschenrechtliehen Garantien im Bereich der grenzüberscheitenden Zusammenarbeit in Strafsachen, insbesondere wenn es um Rechtshilfe und Auslieferung geht'" , Der um Rechtshilfe (Auslieferung) ersuchte Staat befindet sich dabei regelmäßig in einer gewissen "Konfliktsituation" . Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass neben völkervertragsrechtliehen Kooperationsverptlichtungen sowohl völkerrechtlich als auch innerstaatlich (namentlich durch Verfassungsrecht) begründete Individualrechtspositionen des Verfolgten (Auszuliefernden) zu beachten sind ?' . Einerseits wird der ersuchte Staat schon im eigenen politischen Interesse darauf bedacht sein, seinen bestehenden Rechtshilfeverpflichtungen nachzukommen, andererseits darf er dabei seine Bindungen an Grund- und Menschenrechte nicht missachten. Es ist grundsätzlich anerkannt, dass Konventionsrechte einen Staat dazu verpflichten können, die Auslieferung einer strafrechtlich verfolgten oder rechtskräftig verurteilten Person zu unterlassen, selbst wenn der ersuchte Staat durch einen (bilateralen, regionalen oder multinationalen) Auslieferungsvertrag dem ersuchenden Staat zur Auslieferung verpflichtet
ist".
88 89 90 91 92
93
94
EGMR NStZ 2010, 263; seit 10. Mai 2010 rechtskräftig. ßVerfGE 109, 133, 167ff.; zust. LK-Dannecker, § 2 Rn. 140; S/S- Eser/f-1ecker, § 2 Rn. 40; krit. Kinzig, NJW 2004, 911, 913; Mushoff, KritV 2004, 137, 140ff. BVerfG NJW 2006, 3483, NJW 2008, 1682, NJW 2009, 980. Vgl. hierzu Kinzig, NStZ 2010, 233, 238 f.; Ullenbruch, NJW 2008,2609,2613 f. Zu den Grundfragen des Auslieferungsrechts vgl. Weigend, JuS 2000, 105. Zu den auslieferungsrelevanten Konventionsrechten vgl. Bohm/Rosenthal, in: Ahlbrecht u. a. (I-Irsg.), IntStR-Praxis , Rn. 671 Ir; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 199 ff., 374 ff.; zu den verfassungsrechtlichen Auslieferung sverboten vgl. WoljJ, StV 2004, 154 ff. Vgl. hierzu Ziegenhahn. Menschenrechte, S. 274 ff., 470 ff.
C. Bedeutung der EMRK für die europäische Strafrechtspflege
95
a) Drohende Todesstrafe und unmenschliche Behandlung Fall 2: Der deut sche Staatsangehörige S, der im Ve rdacht stand , in Virgin ia (USA) die E1- 39 tern seiner Freundin getötet zu haben , war nach Großbritann ien geflohen. Die USA steilten ein Ausliefe run gsge such , dem Großbritannien aufgrund des bestehenden Auslieferungsvertrags auch stattgab. Geg en diese Entscheidung legte S Beschwerde bei der (damals zuständigen) Komm ission für Menschenrechte ein, welche den Gerichtsho f zur endgültigen Entsche idung anrief: Im Falle einer Verurteilung in den USA drohte S die Todesstrafe. Großbritannien hatte das 6. ZP zur EM RK (Verbot der Todesstrafe) zu diesem Zeitpunkt (Ende der 1980e r Jahre) noch nicht ratifiziert" . Frage I : Hat das Vereinigte Kön igreich durch seine Auslieferungsentscheidung gegen Art. 2 I, 3 I EMRK verstoßen? Frage 2: Wie stellt sich die Rechtslage in Deut schland dar , wenn dem Aus zuliefernden im ersuchenden Staat die Todesstrafe droht?
Lösungshinweise zu Fall 2 (Frage I) : Der Auslieferung des S in die USA könnte 40 ein aus der EMRK abzuleitendes Auslieferungshindernis entgegenstehen. Der Schutz des Lebens (Art. 2 I EMRK) und das Verbot von Folter, unmenschlicher Behandlung oder erniedrigender Strafe (Art. 3 EMRK) gehören aufgrund ihres engen Zusammenhangs mit der Menschenwürde zu den fundamentalen Garantien der Konvention . Gerade die für die internationale Rechtshilfe in Strafsachen so bedeutsamen Fälle der Auslieferung bei drohender Verhängung bzw. Vollstreckung eines Todesurteils unterfallen jedoch nicht dem Schutzbereich des Art . 2 I EMRK. Denn nach Art . 2 I S. 2 EMRK ist die von einem Gericht verhängte Todesstrafe nicht konventionswidrig. Folglich kann auch die Auslieferung an einen Staat, in welchem dem Auszuliefernden die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe droht, nicht gegen Art . 2 I EMRK verstoßen" . Die von Art . 2 I EMRK noch uneingeschränkt als Ausnahme zum Recht auf 41 Leben zugelassene Todesstrafe wurde erst durch Art . I des 6. ZP zur EMRK v. 28. April 1983 verboten . Die Formulierung des Verbots " Die Todesstrafe ist abgeschafft. Niemand darf zu dieser Strafe verurteilt oder hingerichtet werden " macht deutlich, dass hier nicht nur eine objektive Verpflichtung der Konventionsstaaten, sondern ein subjektives Recht der Strafverfolgten statuiert wird . Der EGMR hat inzwischen mehrfach entschieden, dass ein Konv entionsstaat gegen Art. I des 6. ZP zur EMRK97 verstößt, wenn ein Flüchtiger in einen Staat ausgeliefert wird, in dem er ern sthaft Gefahr läuft, zum Tode verurteilt oder hingerichtet zu werden" .
95 96
97
98
EGMR ("Soering/Verein igtes Kön igreich") EuGRZ 1989, 314 = NJW 1990, 2183 . EGMR ("Kirkwood/Verein igtes Königreich ") Decisions&Reports 37, 158; vgl. aber auch EGMR NVwZ 2006, 1267, 1270 mit der Bemerkung, dass es vor dem Hinte rgrund gew andelter Auffassungen in den Europarat sstaaten nicht ausgeschloss en ist, jedenfalls die Ve rhängung der Todesstrafe in einem unfairen Prozess als Ve rstoß gegen Ar t. 2 EM RK einzustufen; vgl. hierzu Meyer-Ladewig , EMRK, Prot. Nr. 6 Rn. 3. Von den 47 Europaratstaaten könn en derzeit 46 die Todesstrafe in Friedens zeiten weder verh ängen noch vollstreck en, da sie das 6. Z P der EMRK ratifi ziert hab en. Einzige Au snahme ist Russland , das noch kein Ratifikation sverfahren durchgeführt hat; vgl. hierzu Rosenau, ZIS 2006 , 338 ff. Meye r-Ladewig, EMRK, Prot , Nr. 6 Rn. 3 a m. w. N .
96
§ 3 Europarat
42 In Fall 2 gelangte das 6. ZP jedoch nicht zur Anwendung, da es von Großbritannien seinerzeit noch nicht ratifiziert war. Für den EGMR stellte sich daher die Frage, ob die Auslieferung in einen Staat, in welchem dem Auszuliefernden ein Todesurteil droht , gegen Art. 3 EMRK verstößt. Da der Gerichtshof Art. 3 EMRK im Einklang mit Art. 2 I EMRK auslegen musste , welcher die Vollstreckung der von einem Gericht verhängten Todesstrafe ausdrücklich zulässt, konnte er die Todesstrafe als solche nicht als "unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung" i. S. d. Art. 3 EMRK werten?". Der Gerichtshof prüfte daher, ob die einem Todeskandidaten in den USA drohenden Haftbedingungen eine Verletzung des Art. 3 EMRK begründen können . Nach ständiger Rechtsprechung wird die " unmenschliche Behandlung" definiert als eine Behandlung, die absichtlich schwere psychische und physische Leiden verursacht. Hierbei sind zum Beispiel die Art der Behandlung oder der Bestrafung und der Zusammenhang, in dem sie erfolgt, die Art und Weise ihrer Vollstreckung, ihre zeitliche Dauer, ihre physischen und geistigen Wirkungen sowie Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen zu berücksichtigen 100. Auf der Grundlage dieser Definition und unter Abwägung aller konkreten Umstände des Einzelfalles entschied der EGMR , dass die Auslieferung des S an die USA im Hinblick auf das jahrelange Warten in der Todeszelle und das dadurch verursachte "Todeszellensyndrom" (Ungewissheit über den Zeitpunkt der Hinrichtung) mit dem Verbot unmenschlicher Behandlung (Art. 3 EMRK) unvereinbar ist' ?'. Der Gerichtshof betonte, dass die Verantwortlichkeit eines zur Auslieferung ersuchten Staates auch Beeinträchtigungen umfasse, die außerhalb seines Hoheitsbereichs eintreten und die er durch schlichtes Nichtausliefern verhindern kann . 43 Bahnbrechend war diese Entscheidung vor allem deshalb, weil sie die völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Konventionsstaaten für die Wahrung der von der EMRK gewährleisteten Menschenrechte auch außerhalb ihres eigenen Hoheitsbereiches bzw . in Nicht-Konventionsstaaten begründete und somit die mittelbare territoriale Anwendbarkeit der Konvention maßgeblich erweitert hat. Dies hat für den internationalen Rechtshilfeverkehr zur Folge, dass den Konventionsstaaten eine Auslieferung an Staaten , in welchen dem Auszuliefernden die Anwendung von Folter oder unmenschlicher Behandlung droht , von Art. 3 EMRK untersagt wird' F. Bestehende (bilaterale) Rechtshilfe- und Auslieferungsverträge zwischen Konventionsstaaten und sonstigen Staaten müssen konventionskonform ausgelegt werden . 44 Lösungshinweise zu Fall 2 (Frage 2): Auch die Bundesrepublik Deutschland ist als Konventionsstaat durch Art. 3 EMRK daran gehindert, in Fallkonstellationen wie dieser einem Auslieferungsersuchen stattzugeben. Da die deutsche Verfassung der Auslieferung von Verfolgten bei konkret drohender Todesstrafe ent-
99
100 IO!
102
Vgl. aber das abw eichende Votum des Richt ers de Meyer , EuGRZ 1989,325. EGMR EuGRZ 1979,149,153 ; EuGRZ 1979 , 162; StV 2006, 617 ff. EGMR (Soering/GB) EuGRZ 1989,314 = NJW 1990,2183 . EGMR NVwZ 2008 , 761 ff., 1330 ff.; Mey er-Ladewig , EMRK, Art . 3 Rn. 20.
C. Bedeutung der EMRK für die europäische Strafrechtspflege
97
gegen steht (Art . 102, I 1,2 " I GG)I03, ist diese durch § 8 IRG für den vertragslosen Aus lieferungsverkehr und durch entsprechende Erklärungen zu fast allen von Deutschland unterzeichneten Auslieferungsverträgen auch einfachrechtlich deklaratorisch ausg eschlossen worden' ?' ,
b) Rechtschutzdef izit und "drakonische" Strafe Fa ll 3 : Mit Verbalnote v. 18. Dezember 2000 ersucht en die USA die Republik Österreich 45 um Auslieferung des amerikani schen und israelischen Staat sangehörigen W zur Vollstreckung einer Freiheitsstra fe von 845 Jahr en aus einem Urteil des Bezirksgerichts Or lando/F1orida. Der Verurt eilung des W lagen versch iedene im Rahm en von Schwindelfirm en begang ene Betr ugs- und Untreuehandlungen sowie Konkurs straftaten mit einem Gesamtschaden von mehreren Millionen US-Dollar zugrunde. W war während einer Verhandlungspause, die der Beratung der Geschworenen vorausging , geflüchtet. So ergingen der Schuld spruch und die Festsetzun g des Strafma ßes in Abwesenheit des W. Die gegen das Urteil und das Strafmaß ger ichtete Berufun g des W wurde auf der Grundl age des Prinzip s des Berechtigungsverlu stes auf Antrag des Staatsanw altes verwo rfen. Diesem steht nach amerikanischem Recht kein Recht smittel mehr gegen seine Verurteilung ZUI 05. Frage I : Besteht ein von Österreich zu beachte ndes Auslieferungshindemis? Frage 2 : Wie wäre der Fall zu beurteilen, wenn ein entsprechendes Auslieferungsgesuch an die Bundesrepublik Deutschland gericht et würde?
Lösungshinweise zu Fall 3 (Frage I) : Zwischen der Republik Österreich und den 46 USA besteht ein Auslieferungsvertrag, der in Art. 9 bestimmt, dass der ersuchte Staat die Auslieferung ablehnen kann, sofern der ersuchende Staat nicht solche Informationen oder Zusicherungen abgibt, die der ersuchte Staat als ausreichend erachtet , um klarzustellen, dass die Person eine angemessene Möglichkeit hatte, ihre Verteidigungsrechte zu wahren, oder dass ihr nach der Übergabe angemessene Rechtsmittel oder zusätzliche Verfahren offen stehen . Dem Vertr agswortlaut nach könnte man zu der Auffassung gelangen, W habe 47 in den USA, nämlich in dem Verfahren vor dem Bezirksgericht Orlando /Florida, bereits ausreichend Gelegenheit gehabt, seine Verteidigungsrechte zu wahren . Dass ihm nunmehr im Falle einer Auslieferung an die USA nach dem Prinzip des Berechtigungsverlustes keine weiteren Recht smittel mehr zur Verfugung stünden, habe er sich selbst zuzuschreiben und zu verantworten, da er sich dem Verfahren vor dem Geschworenengericht durch Flucht ins Ausland entzogen habe . Fraglich ist, ob diese Auslegung den Anforderungen der EMRK genügt, die im innerstaatlichen Recht Österreichs Verfassungsrang genießt' > . Ein Auslieferungshindernis kann nicht etwa aus Art . 13 EMRK abgeleitet wer- 48 den, der das Recht auf wirksame Beschwerde festschreibt, da der Schutzbereich 103
104
105 106
Vgl. zu den verfass ungsunmittelbaren Auslieferungsverboten BVerfGE 75, 1 = NJW 1987,2155; BVerfG NJW 1994,2883 ; Wolfl, StV 2004 ,154,158 sowie OLG Kob lenz StV 2002 , 87 (Auslieferungsverbot bei droh ender Folter). Hackner u. a., Leitfaden, Rn. 119. OLG Wien N StZ 2002 , 669 m. Anm. v. B öse. Vgl. zum Einfluss der EMRK auf das österre ichische Straf- und Strafverfahrensrecht Fuchs, ZStW 100 (1988), S. 444 ff.
98
§ 3 Europarat
dieser Garantie nicht betroffen ist. Bei Art. 13 EMRK geht es darum , dem Einzelnen Rechtsschutzmöglichkeiten vor innerstaatlichen Rechtsschutzinstanzen (nicht notwendigerweise vor einem Gericht) zu sichern , um die mögliche Verletzung der in der Konvention festgelegen Rechte rügen zu können 107. Genau dieses Recht wird in dem ersuchten Staat (Österreich) aber gewährleistet. 49 Ein menschenrechtlich fundiertes Auslieferungshindernis könnte sich daraus ergeben , dass für W im ersuchenden Staat (USA) keine Möglichkeit mehr besteht, gegen das Urteil des Bezirksgerichts Rechtsmittel einzulegen. Nach Auffassung des OLG Wien würde die Auslieferung des Wohne vorherige Zusicherung, dass seine Verurteilung von einem übergeordneten Gericht überprüft wird, Art. 2 des 7. ZP zur EMRK verletzen. Dieser lautet: " Wer von einem Gericht wegen einer strafb aren Handlung verurteilt worden ist, hat das Recht, das Urteil von einem übergeordneten Gericht nachprüfen zu lassen. " Der Senat bedient sich hierbei methodisch des Instruments der verfassungskonformen Auslegung des zwischen den USA und der Republik Österreich geschlossenen Auslieferungsvertrages. Im Lichte der mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtschutzgarantie des 7. ZP ist der in Art. 9 des bilateralen Auslieferungsvertrages geregelte Ablehnungsgrund des Fehlens angemessener Rechtsmittel gegeben. Dass sich W durch Flucht dem Strafverfahren in den USA entzogen und dadurch nach amerikanischem Recht seine Berechtigung zum Einlegen von Rechtsmitteln verwirkt hat, darf ihm in Österreich nicht entgegengehalten werden . Zwar ist eine Auslieferung zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils nicht schlechthin unzulässig, sofern der Verfolgte von dem Strafverfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, sich diesem Verfahren aber durch Flucht entzogen hat und er im Strafverfahren von einem ordnungsgemäß bestellten Verteidiger unter Beachtung rechtsstaatlicher Mindestanforderungen verteidigt werden konnte!" . Jedoch darf - worauf der EGMR in seiner vom OLG Wien zitierten Entscheidung hinweist - der Verfolgte nicht durch Vorenthaltung seiner Verfahrensrechte dazu gezwungen werden , sich dem Strafverfahren zu stellen 109. Der EGMR hat es deshalb als "offensichtlich unverhältnismäßig" angesehen , das Fernbleiben des Verfolgten mit einem weitgehenden Verbot der Verteidigung zu sanktionieren. Das vom OLG Wien unter direkter Heranziehung von Art. 2 des 7. ZP zur EMRK angenommene Auslieferungshindernis kann sich somit auf die Judikatur des EGMR stützen!". 50 Lösungshinweise zu Fall 3 (Frage 2) : Der vom OLG Wien vorgezeichnete Weg, ein Auslieferungshindernis unmittelbar aus Art. 2 des 7. ZP zur EMRK abzuleiten , ist für die Bundesrepublik Deutschland derzeit nicht gangbar, da sie zu den wenigen Staaten gehört, die das 7. ZP zwar gezeichnet, aber noch nicht ratifiziert haben . Freilich ist die Bundesrepublik - unabhängig von der innerstaatlichen Geltung der Konventionsrechte - völkerrechtlich zu deren Einhaltung verpflichtet. Nach gefestigter Rechtsauffassung sind die Konventionsgarantien der EMRK bei 107 108 109 110
Meyer-Ladewig , EMRK, Art. 13 Rn. 8. ßVerfG NJW 1987,830 mit Verweis auf EGMR EuGRZ 1985,631 ; ßGH JZ 2002 , 464 m. Anm . v. Vogel. EGMR ("Krombach/Frankreich ") NJW 2001 ,2387,2391. Vgl. hierzu Böse, NStZ 2000 , 670, 671 .
C. Bedeutung der EMRK für die europäische Strafrechtsptlege
99
der Auslegung des GG zu berücksichtigen 111. Wenn es um die Prüfung verfassungsrechtlicher Auslieferungshindernisse ging , vertrat das BVerfG bisher tendeziell eine restriktive Rechtsprechungslinie und hielt eine Auslieferung erst dann für unzulässig, wenn die Behandlung des Verfolgten im ersuchenden Staat nicht dem völkerrechtlichen Mindeststandard entsprach oder Grundrechte verletzte, die zu den unabdingbaren Grundsätzen der verfassungsrechtlichen Ordnung gehören 112. Auf die Hintergründe, die das BVerfG zu dieser "Vergröberung" des verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabes im Bereich der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit veranlasst haben , kann an dieser Stelle nicht vertieft eingegangen werden' !'. Ein zentraler Grund dürfte darin liegen , dass jeweils die Grundrechte des Verfolgten und das auf die arbeitsteilige internationale Strafrechtspflege anzuwendende (gegenläufige) Gebot einer effektiven Strafverfolgung gegeneinander abzuwägen sind . Ein Auslieferungshindernis kann in Fall 3 jedenfalls nicht auf Art. 19 IV GG gestützt werden , da diese Verfassungsbestimmung zwar gerichtlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt, aber nach herrschendem Verfas sungsverständnis gerade keine Rechtmittel gegen gerichtliche Entscheidungen garantiert' !", Nach deutschem Verfassungsrecht müsste jedoch im Hinblick auf die in den 51 USA gegen W verhängte Strafe von 845 Jahren ein Auslieferungshindernis angenommen werden!" . Dies folgt aus dem in Art . I GG verankerten Gebot der Achtung der Menschenwürde, dem das Verbot erniedrigender und unmenschlicher Bestrafung immanent ist. Die Menschenwürde wird in ihrem unantastbaren Kern betroffen, wenn der Verurteilte ungeachtet der weiteren Entwick lung seiner Persönlichkeit jegliche Hoffnung aufgeben muss , seine Freiheit jemals wieder zu erlan-
gen!".
Des Weiteren würde die Auslieferung des W gegen Art . 3 EMRK verstoßen. 52 Eine grob unverhältnismäßige Strafe kann sich nämlich je nach den Umständen des Einzelfalles als " unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung" darstellen' !' . In Fall 3 ist W wegen diverser Vermögensdelikte verurteilt worden, für die in den entsprechenden Straftatbeständen des deutschen StG B Höchststrafen von zehn Jahren vorge sehen sind (§§ 263 11I,26611 StGB). Die Verh ängung einer Freiheitsstrafe von 845 Jahren, die dem Verurteilten keine Hoffnung lässt, seine Freiheit j emals wieder zu erlangen, erscheint - gemessen an dem Tatvorwurf und der in Deutschland hierbei für angemessen gehaltenen Höchststrafe - unerträglich hart und unangemessen 118.
111
112 113 114 115
116 117 118
BVerfGE 74, 358 , 370 = NJW 1987,2427; 111,307 ff. = NJW 2004 , 3407 ff. BVerfGE 59, 280 , 283 ; 63, 332 , 337 ; 75, I, 19; BVe rfG NJW 2001 , 3111 , 3113 . Vgl. hierzu Böse, NStZ 2002 , 670 f. ß Ve rfGE 11,263 ,265 ; Böse, NStZ 2002 , 669 , 670 . Böse, N StZ 2002 ,670,671 f. BVerfGE45, 187, 228 f., 245 ; 65, 261 , 281 ; 72, 105, 116f. EKMR DR 37, 209 , 220/232 f.; Trechsel, EuGRZ 1987,69, 73. Böse, N StZ 2002, 670 , 672 .
100
§ 3 Europarat
3. Strafprozessuale Verfahrensgarantien 53 Die Verfahrensgarantien des Art . 6 EMRK zählen neben den in Art . 3 EMRK normierten Individualrechten zu den bedeutsamsten menschenrechtliehen Gewährleistungen der Konvention'!". Bei den in Art. 6 1-111 EMRK formulierten Rechten handelt es sich um Mindestgarantien, die in jedem rechtsstaatliehen Strafverfahren zu beachten sind . Hierzu gehören namentlich der Grundsatz des fairen Verfahrens (Art . 6 I EMRK), die Unschuldsvermutung (Art . 6 11 EMRK) und bestimmte Verteidigungsrechte des Angeklagten (Art. 6 111 lit. abis e EMRK). Letztere stellen nicht abschließend aufgeführte Ausprägungen des Rechts auf ein faires Verfahren dar, welches das Kernstück sämtlicher Verfahrensgarantien des Art. 6 EMRK bildet.
a) Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten 54 Der EGMR stellte fest , dass Frankreich gegen das in Art. 6 I EMRK verankerte "fair-trial-Prinzip" verstoßen habe , weil ein französisches Gericht einem nichtverteidigten Beschuldigten im Rahmen des Strafverfahrens kein eigenes Akteneinsichtsrecht gew ährte' ?", Die bis zur Änderung der StPO im Jahre 1999 geltende deutsche Gesetzeslage, die lediglich dem Verteidiger, nicht aber dem Angeklagten einen eigenen Anspruch auf Akteneinsicht zubilligte, war somit im Lichte der EMRK höchst problematisch. Mit dem neu geschaffenen § 147 VII StPO , der dem nichtverteidigten Beschuldigten das Recht zugesteht, Abschriften aus den Akten zu verlangen, reagierte der deutsche Gesetzgeber auf die Vorgaben der Straßburger Richter. In neueren Urteilen zum Akteneinsichtsrecht' >' betont der EGMR, dass das "fair-trial-Prinzip" verletzt werde, wenn der Verteidigung der Zugang zu denjenigen Dokumenten verweigert werde, die wesentlich sind , um die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft ihres Mandanten angreifen zu können. Zwar sei die Notwendigkeit effektiver polizeilicher Ermittlungen, einschließlich der Geheimhaltung bestimmter Informationen, anzuerkennen . Dieser legitime Zweck könne jedoch nicht dazu fuhren , dass Rechte der Verteidigung substantiell beschnitten werden . Damit ist die Konventionswidrigkeit einer staatsanwaltliehen Praxis klargestellt, die allzu leichtfertig unter Hinweis auf eine Gefährdung des Untersuchungszwecks (§ 147 11 StPO) Akteneinsicht verweigert' < .
119
120 121
122
Ambos, IntStR, § 10 Rn. 14 ff. ; ders ., ZStW 115 (2003), S. 583, 596 ff. ; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 51 ff., 400 ff. ; Grote/M arauhn/GrabenwarterlPabel, EMRK/GG , Kap. 13 Rn. 12 ff. ; Kühl , ZStW 100 (1989) , S. 406, 413 ff.; Mey erLadewig, EMRK, Art. 6 Rn. I; Satzger, IntStR, § 11 Rn. 58. EGMR NStZ 1998, 429 m. zust. Anm. Deumeland. Vgl. hierzu Ambos, NStZ 2003, 14 ff.; Renzikowski, in: Renzikowski (I-Irsg.), EMRK, S.II2ff. Vgl. hierzu Ambos, ZStW 115 (2003) , S. 583, 628 ; hierzu Grote/M arauhnlDä rr, EMRK/GG , Kap. 13 Rn. 85; Schlothauer, StV 2001,192 ff.
C. Bedeutung der EMRK für die europäische Strafrecht sptlege
101
b) Einsatz von Lockspitzeln Nicht minder problematisch ist aus menschenrechtlicher Sicht die höchstrichterli- 55 che Rechtsprechung in Deutschland, die den Einsatz von und die Tatprovokation durch polizeiliche Lockspitzel zur Überführung von Straftätern - etwa im Bereich der Drogenbekämpfung - lediglich als Strafmilderungsgrund ber ücksichtigt' > , Der EGMR entschied in einem Verfahren gegen Portugal, dass unbescholtene und bislang unverdächtige Bürger nicht durch staatliche Agenten in Straftaten hineingezogen werden dürfen 124. Wenn der Gerichtshof in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass das öffentliche Interesse nicht den Gebrauch von Beweismitteln rechtfertigen kann , die als Ergebnis polizeilicher Provokation gewonnen wurden, so liegt dem die Auffassung zugrunde, dass das Recht auf ein faires Verfahren einen so herausragenden Rang einnimmt, dass es Zweckmäßigkeitsüberlegungen nicht geopfert werden darf'25. Folglich müsste in einschlägigen Fällen im Hinblick auf den Verstoß gegen Art . 6 I EMRK regelmäßig von einem Beweisverwertungsverbot, wenn nicht sogar von einer Verwirkung des staatlichen Strafanspruches ausgegangen werden 126. In einem Grundsatzurteil der Großen Kammer v. 5. Februar 2008 127 fordert der EGMR klare Regeln für den Einsatz verdeckter Ermittier und polizeilicher Informanten. Der Gerichtshof stellt fest , dass die Verwendung von Beweisen, die durch polizeiliche Anstiftung gewonnen wurden, gegen das Recht auf ein faires Verfahren nach Art . 6 I EMRK verstößt. Anlass für seine Entscheidung war der Fall eines litauischen Staatsanwalts, der von einem verdeckt arbeitenden ErmittIer der Polizei Bestechungsgelder angenommen hatte . Nach Auffassung des Gerichtshofs dürfen die Strafverfolgungsbehörden, insbesondere im Kampf gegen organisierte Kriminalität und Korruption zwar auch auf Ermittlungsmethoden wie den Einsatz von verdeckten Ermittlern und Informanten zurückzugreifen . Diese müssen sich jedoch im Rahmen klarer Grenzen bewegen und von ausreichenden Sicherungen gegen Missbrauch begleitet sein . Insbesondere ist ein eindeutiges und vorhersehbares Verfahren erforderlich, um die fraglichen Ermittlungsverfahren zu genehmigen, durchzuführen und zu überwachen . Ob das deutsche Recht, das in den §§ 110 a ff. StPO zwar den Einsatz von verdeckten Ermittlern, nicht jedoch den von V-Personen geregelt hat' >, den vom Gerichtshof aufgestellten Anforderungen genügt, erscheint zweifelhaft.
123 BGHSt 32, 115, 121 ff. ; 32, 345 ff. ; 33, 283; 45, 321; 47, 44, 47; NStZ 2009, 405, 406. 124 EGMR NStZ 1999,47 m. Anm. v. SommerlKinzig, StV 1999,288. 125 Ambos, NStZ 2002, 628, 632; ders., IntStR, § 10 Rn. 17; Dannecker, BGH-Festgabe, S. 339, 344.
126 Vgl. hierzu Beulke, Strafpro zessrecht, Rn. 288; Hamm, StV 2001, 81, 83; Kudlich, JuS 2000, 951; Satzger, IntStR, § 11 Rn. 75.
127 EGMR (Ramanauskas/LlT) , NJW 2009, 3565; vgl. auch EGMR (Pyrgiot akis/GR) HRRS 2008 Nr. 500.
128 Vgl. hierzu Mey er-Goßn er, StPO, § 110 a Rn. 4 a.
102
§ 3 Europarat
c) Widerruf der Bewährung 56 Nach Art. 6 11 EMRK gilt jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig. Im der Rechtssache " BöhmerlDeutschland "129 erinnerte der EGMR zunächst daran , dass die Unschuldsvermutung ein besonderer Aspekt des in Art . 6 I EMRK garantierten Rechts auf ein faires Verfahren ist. Der Widerruf der Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung gern. § 56 f I Nr . I StGB ist nach den weiteren Darlegungen des EGMR nur dann mit Art . 6 11 EMRK vereinbar, wenn die neue Straftat schon abgeurteilt worden ist oder - wie in einer früheren Entscheidung der EKMR ausgeführt!' ? - der Verurteilte die neue Straftat im Beisein eines Verteidigers gestanden hat!" . Diese Auslegung der Konventionsgarantie führte den EGMR zu der Feststellung, dass Deutschland Art . 6 I EMRK verletzt habe , indem das OLG Hamburg eine Strafaussetzung zur Bewährung gern. § 56 f I Nr . I StGB widerrufen hat, ohne den Ausgang des wegen der Anlasstat gegen den Verurteilten anhängigen Verfahrens beim AG Hamburg abzuwarten. Die vom OLG Hamburg praktizierte Verfahrensweise, sich im Widerrufsverfahren durch Anhörung von Zeugen selbst eine Überzeugung vom Vorliegen der neuen Straftat zu bilden, erklärte der EGMR ausdrücklich für konventionswidrig. Die Rechtsprechung des EGMR steht damit im Gegen satz zu der bisherigen - vom BVerfG 132 anerkannten - h. M. in Deutschland, nach der ein Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung auch aufgrund eigener Ermittlungen des Widerrufsgerichts erfolgen kann , solange dieses nur von der Begehung der neuen Tat überzeugt ist, ohne dass die neu e Tat bereits abgeurteilt sein muss' > . Unter dem Eindruck der Entscheidung des EGMR verlangen nunmehr einige deutsche Obergerichte die rechtskräftige Aburteilung der Anlasstat als Widerrufsvoraussetzung, wenn nicht der Betroffene die neue Straftat glaubhaft gestanden hat !" . Auch das BVerfG neigt inzwischen der Auffas sung zu, dass der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 f I Nr. I StGB regelmäßig die Verurteilung des Verfolgten weg en der Anlasstat voraussetzt!" . In der Literatur ist zu Recht gesetzgeberischer Handlungsbedarf angemeldet word en, da der Text des § 56 f I Nr. I StGB einen - wie gezeigt konventionswidrigen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung aufgrund eigener Ermittlungen des Widerrufsgerichts vor Aburteilung der Anlasstat nicht ausschließt. Es bietet sich an, entweder in § 56 f I Nr. 1 StGB klarzustellen, dass der Widerruf eine rechtskräftig festge stellte neue Straftat erfordert oder durch eine Änderung der §§ 453 I,
129
130 131 132 133 134
135
EGMR StV 2003 , 82 ff. = NJW 2004, 43 ff.; vgl. hierzu Neubacher, GA 2004 , 402 ff.; Pauly , StV 2003 , 86 ff.; Peglau , N StZ 2004 , 248 ff. EKMR StV 1992, 282 . Vgl. zu dieser VarianteOLG Köln NStZ 2004,686. ß VerfG NStZ 1987, 118; NStZ 1991,230; NJW 1994,377. Vgl. hierzu Fischer, § 56 f Rn. 4 m. w. N. OLG Ce lle StV 2003 , 575 ; OLG Düsseldorf NJW 2004 , 790; OLG Jena StV 2003 , 574 ; OLG N ürnberg NJW 2004 , 2032 ; OLG Stuttga rt NJW 2005 , 83 ; ebe nso Neubaeher, GA 2004 , 402 , 410 ; Pauly , StV 2003 , 86 ff.; a. A. Peglau, NStZ 2004 , 248 , 251 . BVerfG N StZ 2005 , 204 .
C. Bedeut ung der EMRK für die europäische Strafrechtsptlege
103
462 a 11 StPO dafür zu sorgen , dass das für die Aburteilung der neuen Tat zuständige Tatgericht auch über den Bewährungswiderruf entscheidet!" .
d) Frage- und Konfrontationsrecht des Beschuldigten Art. 6 111 lit. d EMRK garantiert dem Beschuldigten das Recht, Fragen an Belas- 57 tungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen sowie die Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu erwirken. Der EGMR erblickte einen Verstoß gegen diese Konventionsgarantie u. a. darin, dass ein österreichisches Gericht die strafrechtliche Verurteilung des BeschwerdefLihrers im Wesentlichen auf die Verle sung polizeilicher Vernehmungsprotokolle stützte, die im zuvor geführten Ermittlungsverfahren ohne Anwesenheit des Beschwerdeführers oder seines Verteidigers erstellt wurden 137. In der Hauptverhandlung hatten sich die Hauptbelastungszeugen auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen. Der Gerichtshof führte aus, dass die Verlesung von Zeugenaussagen durch die Konvention zwar nicht generell verboten sei. Doch stelle es eine Konventionsverletzung dar, wenn dem BeschwerdefLihrer zu keinem Zeitpunkt im Verfahren Gelegenheit gegeben worden sei, die an seiner Verurteilung maßgeblich beteiligten Zeugen direkt oder über seinen Verteidiger zu befragen . Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs müssen grunds ätzlich alle Beweise 58 in Gegenwart des Angeklagten in öffentlicher Verhandlung in Blickrichtung auf eine kontradiktorische Argumentation erhoben werden! " , Die Verwendung von im Vorverfahren erlangten Beweismitteln ist aber nicht unvereinbar mit Art. 6 111 lit. d EMRK , wenn der Angeklagte eine angemessene und geeignete Gelegenheit hatte , die Glaubwürdigkeit der Zeugen durch eigene oder Verteidigerbefragung zu überprüfen . Diese Konventionsgarantie kann auch verletzt sein, wenn die Anon ymität eines Belastungszeugen in einem Umfang gewahrt wird, dass es weder dem Angeklagten noch dessen Verteidiger ermöglich wird, die Aussagemotivation dieses Zeugen selbst zu hinterfragen' > . Fall 4: Der An geklagte wurde vom Landge richt wegen Sexualdelikt en zum N achteil sei ne r 59 Tochter zu eine r Gesam tfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Das Urte il stützt sich im Wesentlichen auf die Au ssage des als Ze uge ve rnommene n Ermittlungs richters, nachd em die Gesch ädigte in der Hauptverhandlung von ihrem Ze ugnisve rweige rungsrecht Gebrauch gema cht hatte . Bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung der Geschädig ten wurde dem noch nicht verte idigten Angeklagten wegen Gefä hrdung de s Unters uchungs erfolgs kein An wes enheitsr echt einger äumt (§ 168 c 1Il StPO). Auch wurde kein Verteidiger bestellt, so dass im Ergebnis weder eine unm ittelbare Befragung durch den Angeklagten noch durch
136
137 138
139
Lacknerl Kühl~ § 56 f Rn. 3; Ne ubacher, GA 2004, 402, 417; Peglau , ZRP 2003, 242, 243.
EGM R (Unterp ertin ger/A) EuG RZ 1987, 147; vgl. h ierzu Beulke, Riess- FS, S. 3, 9 ff. Vgl. hierzu Gaede, StV 2006, 599, 602 ff.; Grote/Marauhn /Grab enw arterlPabel, EM RKlGG, Kap . 14 Rn . 145 ff. EGMR (KostovskiINL) StV 1990, 481; vgl. aber auch EGMR (Jorgic/D) , NJOZ 2008, 3605,3610 zur kon vention skonformen Ablehn ung von Bewe isant rägen .
104
§ 3 Europarat
einen Verteidiger ermöglicht wurde! ". Frage: Wie ist die unterlassene Verteidigerbestellung im Lichte des Art. 6 IIIlit. d EMRK zu beurteilen?
60 Lösungshinweise zu Fall 4: Der Angeklagte durfte gern. § 168 c III StPO wegen Gefährdung des Untersuchungszwecks von der ermittlungsrichterlichen Vernehmung der Geschädigten ausgeschlossen werden . Dieser Ausschluss stellt als solcher noch keine Verletzung des Art. 6 III lit. d EMRK dar, da bei bestimmten Konstellationen auf eine Konfrontation des Zeugen mit dem Angeklagten verzichtet werden darf, etwa aus Gründen des Zeugenschutzes oder wenn zu befürchten ist, dass der Zeuge in Anwesenheit des Angeklagten nicht die Wahrheit sagen werde. Allerdings wäre es ohne weiteres möglich gewesen, gern. § 141 III StPO einen Verteidiger zu bestellen und diesen zu dem ermittlungsrichterlichen Vernehmungstermin zu laden . Auf diese Weise hätte wenigstens der Verteidiger Gelegenheit gehabt, unmittelbar Fragen an die Geschädigte zu richten . Die konventionskonforme Auslegung des § 141 III StPO gebietet, dass in Fällen der vorliegenden Art dem noch nicht verteidigten Beschuldigten vor der ermittlungsrichterlichen Vernehmung eines wichtigen Belastungszeugen ein Verteidiger bestel1t wird . Das Ermessen der deutschen Strafverfolgungsbehörden bei der Frage der Verteidigerbestellung reduziert sich unter den gegebenen Umständen im Lichte des Art . 6 III Iit. d EMRK auf Null. Folglich verletzt die unterlassene Verteidigerbestellung das von der Konvention garantierte Recht des Angeklagten, Fragen an den Zeugen stellen zu lassen 141 .
e) Überlange Verfahrensdauer 61 Immer komplexer werdende Strafverfahren und rigorose Sparmaßnahmen der öffentlichen Hand haben dazu beigetragen, dass Verzögerungen bei der Erledigung von Strafverfahren leider nichts Ungewöhnliches mehr sind!" . Beschwerden wegen überlanger Dauer der nationalen Strafverfahren bilden daher den Großteil der ansteigenden Klagetlut vor dem EGMR. Mit Urteil v. 31. Mai 200 I stellte der Gerichtshof fest, dass die Bundesrepublik Deutschland wegen wesentlicher Überschreitung einer angemessenen Verfahrensdauer gegen ihre Konventionsptlichten aus Art . 6 I EMRK verstoßen hat!". Der Zeitraum, der im Hinblick auf Art . 6 I EMRK berücksichtigt werden muss , beginnt nach Auffassung des Gerichtshofs, sobald eine Person formell angeschuldigt wird oder der gegen sie gerichtete Verdacht aufgrund behördlicher Strafverfolgungsmaßnahmen ernsthafte Auswirkungen auf ihre Situation hat. Von der ersten Information des Beschwerdeführers, dass gegen ihn ein Strafverfahren wegen Umweltdelikts eingeleitet wurde , bis zur letztinstanzliehen Entscheidung waren mehr als neun Jahre vergangen . Eine VerfahrenseinsteIlung wegen Verletzung des Art . 6 I EMRK wurde von den deutschen Gerichten abgelehnt. Der BGH vertrat die Auffassung, dass der überlangen 140 141 142
143
Fall nach ßGHSt 46,93. Zu den revisionsrechtlichen Folgen vgl. ßGHSt 46, 93, 103 ff. Krehl , StV 2006 , 408 ; Krehl/Eidam , NStZ 2006 , 1 ff. EGMR (Metzger/D) NJW 2002 , 2856 ; vgl. auch EGMR (Eckle /D) EuGRZ 1983,371 (Verfahrensdauer von 17 bzw. 10 Jahren) .
C. Bedeut ung der EMRK für die europäisch e Strafrechtsptlege
105
Verfahr ensdau er auf der Strafzumessungsseite (Strafmilderungsgrund) ausreichend Rechnung getragen werden könne!" . Demgegenüber rief der EGMR seine ständige Rechtsprechung in Erinnerung, wonach die Konventionsstaaten dazu verpflichtet seien, ihre Justizsysteme so zu organisieren, dass die Instanzgerichte in der Lage seien, ihre Verfahren in angemessener Zeit abzuschließen! " . Als besonders schwerwiegende Verzögerungen stufte der Gerichtshof die Dauer von 15 Monaten zwischen Abschluss der polizeilichen Ermittlungen und Anklageerhebung ein, aber auch den Umstand , dass es zwei Jahre und drei Monate bis zur Aufhebung des landgerichtliehen Urteils durch den BGH dauerte , weil das LG das Urteil nicht in der gesetzlich geforderten Frist weitergeleitet hatte. Neben der Feststellung einer Konventionsverletzung sprach der Gerichtshof dem Beschwerdeführer eine Entschädigung für den erlitten en immateriellen Schaden in Höhe von DM 10000.- sowie für Gerichts- und Anwalt skosten in Höhe von DM 15000.- ZU 146 • Die Möglichkeit, wegen rechtsstaatswidriger Verfahren sverzögerung ein Ver- 62 fahrenshinderni s anzunehmen, wurde vom BGH bislang nur in "ganz außergewöhnlichen Einzelfällen" anerkannt!" . Nach der Rechtsprechung des EGMR vermag die Herabsetzung einer Strafe wegen überlanger Verfahrensdauer die Opfereigenschaft des Betroffenen nur zu beseitigen , wenn das Gericht die Konventionsverletzung anerkennt und angemessene Wiedergutmachung leistet!" . Die Strafzumessungslösung des BGH versagt daher, wenn das Gesetz - wie bei § 211 StGB - keine Möglichkeit eröffnet, das Tatunrecht und die darin zum Ausdruck kommende Schuld des Täters zu relativieren. So kann bei einem Schuld spruch wegen Mordes von der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe in aller Regel nicht deswegen abgesehen werden, weil die Beendigung des Strafverfahrens von den Strafverfolgungsorganen in einer Weise verzögert wurde , die beim Ausspruch von zeitiger Freiheitsstrafe oder von Geldstrafe eine Kompensat ion zugunsten des Angeklagten auf der Rechtsfolgenseite gebieten würde!" . Auch darf im Hinblick auf die Gesetzesbindung der Gerichte (Art . 20 111 GG) kein Strafabschlag gewährt werden , durch den die gesetzlich vorgesehene Mindeststrafe unterschritten würde . Vor diesem Hintergrund vollzog der der Große Senat des BGH in seiner Grundsatzentscheidung v. 17. Januar 2008 150 einen Systemwechsel von der Strafzumessungslösung zum Vollstreckungsmodell: Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart verzögert worden , dass dies bei der 144 145
146 147
148 149
150
ß GH N StZ 1997, 189. Vgl. hierzu Grote/Marauhn /Grabenw arterlPabel, EMRK/GG, Kap. 14 Rn. 103 ff. Z u dem Recht auf Entschädigung wegen kon vent ions widriger Freihei tsentziehung vgl. Grote/MarauhnlDä rr, EMRK/GG , Kap . 13 Rn. 102 ff. BGHSt 46, 159, 171; vg l. hierzu Beulke, Stra fprozessr echt, Rn. 26. EGMR (Dzelili/D) NVwZ-RR 2006 , 513, 515 ff. ß GH NJW 2006, 1529 m. krit. Anm. v. Hoffman n-Holland, ZIS 2006 , 539 f[ und Krehl, StV 2006 , 408 Ir ; nicht beanstandet von BVerfG NStZ 2006, 680 . Der EGMR wertet dies als Verstoß gege n Art. 13 EMRK (HRRS 2009 Nr. 808). BGHGrSSt 52, 124 = NJW 2008 , 860 ; vgl. hierzu Kraatz , JR 2008 , 189 ff.; Maier/Percic, NStZ-RR 2009 , 297 ff., 329 ff.; Reichenbach, NStZ 2009 , 120; Roxin I., StV 2008 , 14; Satzger , IntStR, § 11 Rn. 66 .
106
§ 3 Europarat
Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist der Angeklagte gleichwohl zu der nach § 46 StGB angemessenen Strafe zu verurteilen. Zugleich ist in der Urteilsformel auszusprechen, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als vollstreckt gilt.
4. Freiheitsrechte und strafprozessuale Untersuchungshaft 63 Art . 5 I EMRK garantiert das Recht der persönlichen Freiheit. Er schützt die Bürger vor willkürlicher Inhaftierung, indem er abschließend die Voraussetzungen aufzählt, unter denen die nationalen Gesetze eine Freiheitsentziehung anordnen dürfen . In Art . 5 11 - IV EMRK sind spezifische Verfahrensgarantien des Inhaftierten festgeschrieben , wie z. B. seine Rechte, unverzüglich in einer ihm verständlichen Sprache über die Gründe seiner Festnahme informiert sowie unverzüglich einem Richter zum Zwecke der Haftkontrolle vorgeführt zu werden!" . Den Garantien des Art . 5 EMRK kommt eine zentrale Bedeutung für das strafprozessuale Institut der Untersuchungshaft zu, welches darauf abzielt, die Durchführung eines Strafverfahrens zu sichern' >. Die besondere Problematik der Untersuchungshaft liegt zum einen darin , dass auch für einen Untersuchungsgefangenen bis zum ges etzlichen Nachweis seiner Schuld die Unschuldsvermutung gilt. Er ist ledigli ch einer Straftat verdächtig. Zum anderen ist er in der Untersuchungshaft stärkeren Einschränkungen (z . B. Kontaktsperren, Einzelhaft, Reglementierungen des Brief- und Fernmeldeverkehrs) ausgesetzt als im Regelstrafvollzug und muss im Gegensatz zu Strafgefangenen das zusätzliche Leid der Ungewissheit der ihn erwartenden Haftdauer ertragen. 64 Die EMRK trägt der besonderen Interessen lage des Untersuchungsgefangenen Rechnung, indem sie in Art. 5 111 S. 2 EMRK einen Anspruch auf gerichtliche Aburteilung innerhalb einer ang emessenen Frist oder auf Haftentlassung während des Verfahrens normiert. Bestimmungen des nationalen Strafprozessrechts, die bei bestimmten Tatvorwürfen die Möglichkeit einer Haftverschonung bzw. die Aussetzung der Untersuchungshaft gegen eine Sicherheit generell ausschließen, sind mit Art . 5 111 S. 2 EMRK ebenso wenig vereinbar wie eine Regelung, die für bestimmte Taten oder im Hinblick auf eine zu erwartende Strafhöhe zwingend die Anordnung von Untersuchungshaft vorschreibt' >. Nach der Rechtsprechung des EGMR ist es in erster Linie Aufgabe der staatlichen Gerichte, sicherzustellen, dass die Untersuchungshaft eines Beschuldigten eine angemessene Dauer nicht überschreitet. Dabei müssen die Gerichte unter gebührender Beachtung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung alle Umstände prüfen, die für und gegen das Bestehen eines zwingenden öffentlichen Interesses an der Fortdauer der Untersuchungshaft sprechen. Nach einer Untersuchungshaftdauer von zwei Jahren ist das Recht des Beschuldigten auf Aburteilung innerhalb angemessener Frist verletzt, 151 152
153
Vgl. hierzu EGMR NJW 2001,51. Vgl. hierzu Grote/M arauhn/Dö rr, EMRK/GG, Kap. 13 Rn. 57 ff. ; Kühn e/Esser, StV 2002, 383 ff. Grote/M arauhn/Dö rr, EMRK/GG, Kap. 13 Rn. 178; Kühn e/Esser, StV 2002, 383, 388.
C. Bedeutung der EMRK für die europ äische Strafrechtsptlege
107
wenn die Justizbehörden nicht besondere Sorgfalt beim Betreiben des Verfahrens angewendet haben' >'. Fall 5: Der in Frankreich als politischer Flüchtling anerkannte Beschwerdeführer, der türki- 65 sehe Staat sangehörige E, wurde in Deutschland festgenommen, da er im Verdacht stand, Mitgli ed der terrori stischen Vere inigung PKK zu sein und Urkundsdelikte begang en zu haben (§§ 129 a, 267 StGB). Die gegen ihn angeordnete und vollzogene Untersuchungshaft dauerte insgesamt fünf Jahre und elf Monate. Sie wurde in sieben Haftprüfungsentscheidungen wiederholt mit der Schwere des Tatvorwurfes, der Höhe der dem E drohenden Strafe und mit Fluchtgefahr des E begründet, der in Deut schland über keinen Wohn sitz und keine persönlichen Bindungen verfügte. E wurde schließlich wegen Mitgliedschaft in einer terrori stischen Vereinigung (§ 129 a StGB) zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilti ss. Frage: Hat Deutschland gegen Art. 5 111 S. 2 EMRK verstoß en?
Lösungshinweise Fall 5: Bereits aus Art. 6 I S. I EMRK lässt sich ein Beschleu- 66 nigungsverbot als allgemeine Verfahrensgarantie ableiten . Im Hinblick auf die besondere Interessenlage von Untersuchungsgefangenen statuiert Art. 5 111 S. 2 EMRK jedoch ausdrücklich einen Anspruch des Festgenommenen auf Aburteilung innerhalb einer angemessenen Frist. Das in Deutschland durchgeführte Verfahren gegen E ist somit an Art. 5 111 S. 2 EMRK zu messen. In seinem Urteil" Erdem/Deutschland" bejahte der EGMR eine Konventions- 67 verletzung durch die Bundesrepublik Deutschland wegen überlanger Untersuchungshaft. Zwar bestanden Tatverdacht und Fluchtgefahr (§ 112 I StPO) während der gesamten Haftzeit fort, doch reichen diese Gründe nach Auffa ssung des Gerichtshofs nach einer Haftdauer von fünf Jahren und elf Monaten nicht mehr aus, um letztlich eine Untersuchungshaftdauer zu rechtfertigen, die praktisch identisch mit der später verhängten Freiheitsstrafe war. Der EGMR verlangt von den nationalen Behörden, dass sie Fortgang und Abschluss des Verfahrens besonders fordern , damit sich die gegenüber der normalen Strathaft mit besonderen Belastungen verbundene Untersuchungshaft nicht unnötig lange hinzieht. Es reicht nach Auffassung des EGMR nicht aus, die Haftfortdauer durch fast gleichlautende Standardformulierungen anzuordnen. Das Urteil ist von erheblicher Bedeutung, weil es unverhohlen Kritik an der - leider verbreiteten - Praxis übt, die Haftfortdauer gern. §§ 121, 122 StPO gleichsam automatisch und mit standardisierter Begründung anzuordnen . Es stellt klar, dass sich die Begründungslast der Justizbehörden mit zunehmender Haftdauer vergrößert und jeder Haftfortdauerbeschluss neu begründet werden muss!" .
154
155 156
EGMR (Kudl alPL) NJW 2001 , 2694 ; EGMR (Cevizovic /D), NJW 2005 , 3125 , 3126 ff.; EGMR (Kala shniko v/Rußland) NVwZ 2005 , 303, 305 ; EGMR (Dzelili/D) NVwZ -RR 2006 , 513, 515 ; vgl. hierzu Grote/Marauhn/Dö rr, EMRK/GG, Kap. 13 Rn. 60 ; Leipold, NJW-Spez ial NJW 2005 ,567. EGMR (Erdem/D) EuGRZ 2001 , 391 ; vgl. hierzu Ambos, NStZ 2003 ,14,15 . Vgl. hierzu auch BVerfG StV 2006 , 703 ff.; Grote/Marauhn/D örr, EMRK/GG, Kap. 13 Rn. 66; Kühne/Esser, StV 2002 , 383, 388 m. w. N .
108
§ 3 Europarat
5. Einfluss von Konventionsrechten auf das materielle Strafrecht 68 Die Relevanz von Konventionsgarantien für das materielle Strafrecht" ? wird in Deutschland seit langem anhand der Frage diskutiert, ob sich Art. 2 II lit. a EMRK auf die Auslegung des Notwehrrechts (§ 32 StGB) auswirkt. Art. 2 11 Iit. a EMRK (Recht auf Leben) lautet: " Oie Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, we nn sie sich aus einer unb edingt erforde rlichen Gewaltanwendu ng ergi bt, um die Verteidi gun g eines Menschen gegenüber rechtswidrige r Gewaltan wendu ng sicher zustellen."
69 Fall 6: Dieb 0 flieht mit den von ihm erbeuteten wert voll en Schmuckstücken aus dem Juwelierges chä ft des J. Die einzige erfolgverspre chende Möglichkeit, den Schmuck zu retten, besteht für J da rin, den 0 durch einen gezielten Schu ss in die Beine niederzustrecken. So geschi eht es. 0 wird dab ei so schwe r getro ffen, das s er - was J zur Rettun g sein er Schmuckstücke auch bill igend in Kauf genommen hat - an den Folgen der erlittenen Schussverletzung stirbt. Frage: Wie ist die Rechtslage im Lichte des Art. 2 11 lit. a EMRK zu beurteilen ?
70 Lösungshinweise zu Fall 6: J ist nicht wegen eines Tötungsdelikts (§ 212 StGB) strafbar, wenn sein Handeln durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt ist. Der Schuss auf 0 war nach Lage der Dinge erforderlich, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff auf das Eigentum des J zu beenden. Die Höherrangigkeit des durch die Verteidigungshandlung verletzten Rechtsgutes (Leben des 0) gegenüber dem angegriffenen Rechtsgut (Eigentum des J) begründet nach ganz h. M. keine Einschränkung des Notwehrrechts . Eine Notwehrbeschränkung wird nur in Fällen krasser Disproportionalität zwischen Angriff und Abwehrmaßnahme bejaht! " . 71 Von einigen Autoren wird nun aber die These vertreten , Art. 2 II lit. a EMRK, der die Tötung von Menschen nur zur Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung gestattet, wirke unmittelbar unter den Staatsbürgern und beschr änke daher ihr Notwehrrecht' >? Nach dieser Auffassung ist die Tötung eines Menschen zur Verteidigung von Sachgütern schlechthin verboten . Die Bundesrepublik Deutschland sei demnach verpflichtet, dass in § 32 StGB geregelte Notwehrrecht durch eine engere Auslegung oder durch eine Gesetzesänderung den Vorgaben des Art. 2 II lit. a EMRK anzupassen. 72 Eine andere Gruppe von Autoren teilt zwar im Ausgangspunkt die These , dass Art. 2 II lit. a EMRK zumindest eine mittelbare Wirkung auch unter Privaten entfalte . Das in § 32 StGB normierte Notwehrrecht und seine sozialethisch orientierte Auslegung in der deutschen Rechtspraxis stünde aber in völligem Einklang mit 157
158
159
Zu dem (rel ativ begrenzten) Einfluss der EMRK auf das deut sche materielle Strafrecht vgl. Diehm, Men schenrechte, 135 ff., 325 ff., 345 ff.; Kühl, ZStW 100 (1988), S. 601 , 624 ff. W esselslB eulke, AT, Rn. 343 ; M üKoStG BIErb , § 32 Rn. 192; S/S-Len ckn erIPerron, § 32 Rn. 50; Rengie r. AT, § 18 Rn. 57 ff. Bisson, Verteidigung von Ver mögen swerten, S. 149 ff., 210 ; Fris ter, GA 1985 , 553 , 564 ; Koriath , in: Ranieri (Hrsg.), Europäisierung der Rechtsw issen sch aft, 2002, S. 47, 52 ff.; S/S -Lenc knerIPerron, § 32 Rn. 64 ; L ührmann, Eigentumsv erteidigung, S. 281 f.
C. Bedeutung der EMRK für die europäische Strafrechtsptlege
109
den Vorgaben der Konvention . Diese verbiete nur absichtliche, nicht aber ungewollte oder bedingt vorsätzliche Tötungshandlungen, die zur Abwendung von Angriffen auf das Eigentum vorgenommen werden!", Damit verliere das aufgeworfene Problem seine praktische Bedeutung, da eine mit direktem Vorsatz oder Absicht ausgeführte Tötung kaum jemals erforderlich sein dürfte , um einen Angriff auf Sachwerte abzuwehren. Die überzeugende h. L. steht auf dem Standpunkt, dass § 32 StGB durch die 73 EMRK nicht modifiziert werde, weil diese nicht die Rechtsbeziehungen der Bürger untereinander betreffe, sondern nur Übergriffe des Staates in die Rechtssphäre des Einzelnen verhindern wolle!". Aus ihrer Sicht besteht daher keine aus Art. 2 11 lit. a EMRK abzuleitende Pflicht, durch eine Neuinterpretation des § 32 StGB oder eine Gesetzesänderung dafür sorgen, dass Tötungshandlungen zur Abwehr von Angriffen auf Sachwerte dem Anwendungsbereich des Notwehrrechts entzogen werden . Der Staat sei für den Schutz der Bürger vor Drittbeeinträchtigungen nur zuständig, soweit es um Übergriffe gehe, gegen die sich der Einzelne ohne Hilfe der Obrigkeit nicht problemlos selbst zu schützen vermag . Die im vorliegenden Zusammenhang einschlägige Gefahr, Opfer von Notwehrmaßnahmen zu werden , könne der Betroffene aber ebenso leicht vermeiden wie andere selbst gewählte Risiken - indem er seinen eigenen rechtswidrigen Angriff unterlasse' <. Bereits die kursorische Darstellung des Meinungsstands macht deutlich, dass eine Einschränkung des Notwehrrechts im Lichte des Art. 2 11 lit. a EMRK immerhin diskutabel ist. Nach derzeit herrschendem Rechtsverständnis lässt die Konventionsgarantie die bestehende Auslegung und Ausgestaltung des § 32 StGB jedoch unberührt' < . Lösungsvorschlag zu Fall 6: Da J in Notwehr handelte , hat er sich nicht gem . § 212 StGB strafbar gemacht. Exkurs: Die Anwendung von sog. "Rettungsfolter" durch staatliche Organe 74 ist als Verteidigungsmittel im Rahmen der §§ 32, 34 StGB schlechthin unzulässig 164, selbst wenn das Androhen oder Zufügen von Schmerzen durch Polizeibeamte im konkreten Fall das einzige noch zur Verfugung stehende Mittel darstellt, um etwa einen Kindesentführer zur Preisgabe des Opferversrecks''" oder einen
160
161
162
163
164
165
Meyer-Goßner, Art . 2 MRK Rn . 3; Roxin , AT Teil I, § 15 Rn . 86 ff.; Zieschang, GA 2006,415,418 f. Ambos, IntStR, § 10 Rn . 56 ; We sselslBeulk e, AT, Rn . 343 a; Eiseie, JA 2000, 424, 428; MüKoStGßIErb, § 32 Rn. 16 ff.; Fischer, § 32 Rn. 40 ; Mitsch, JuS 2000, 850; Rengier. AT, § 18 Rn. 60; SSW-Rosenau, § 32 Rn. 37 . MüKoStGßIErb, § 32 Rn. 18, wohl auch Satzger, IntStR, § 11 Rn. 33. Zum finalen Rettungsschusses vgl. Ambos, IntStR, § 10 Rn. 57 ; Grab enwarter, EMRK, § 20 Rn . 12; Satzg er, IntStR, § 11 Rn. 34 Ambos, IntStR, § 10 Rn . 61 ; We sselslBeulk e, AT , Rn . 289 a; Ellbogen, JURA 2005, 339; S/S-LencknerIPerron , § 32 Rn. 62 a; Rengier. AT, § 18 Rn. 97 ; Roxin , Nehm-FS, S. 205, 213; S/S-Sternberg-Liebenlf-lecker, § 340 Rn. 9; Satzger. IntStR, § 11 Rn. 36; MüKOStGI3IVoßen, § 343 Rn. 9; a. A. Eser, Hassemer- FS, S. 713 ff.; Erb, Jura 2005, 24 , 26 ff., ders., NStZ 2005 , 593 , 599 ; Göss el, Otto-FS, S. 41 , 60 ; Lacknerl Kühl , § 32 Rn . 17 a. Vgl. hierzu LG Frankfurt a. M. NJW 2005, 692 ; EGMR NStZ 2008,699.
110
§ 3 Europarat
Terroristengehilfen zur Offenbarung von Anschlagpl änenl'" zu bewegen. Art. 3 EMRK statuiert - selbst in Fällen öffentlichen Notstands (Art. 15 11 EMRK) - ein absolutes Verbot vo n Folter sowie unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und stellt somit zwingendes, d. h. nic ht re lativierbares Vö lkerrecht dar''".
111. Bindung der EU an die EMRK 75 Der EuGH hat bei der Entwicklung eines ungeschriebenen Grundrechtsstandards als Teil der allgemeinen Rechtgrundsätze des Gemeinschaftsrechts immer wieder auf die EMRK sowie die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zur ückgegriffen's". Er hat einen beachtlichen, umfassenden Katalog von Gemeinschaftsgrundrechten entwickelt, der neben wirtschaftlichen Freiheitsrechten auch etwa die Unverletzlichkeit der Wohnung, Meinungs- und Informationsfreiheit, Vereinigungs- und Religionsfreiheit oder die Achtung des Familienlebens sowie Verfahrensrechte wie den Anspruch auf rechtliches Gehör und effektiven Rechtsschutz umfasst's''. Die Geltung dieser Gemeinschaftsgrundrechte gegenüber der EG wurde bereits vor dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon ausdrücklich anerkannt (ex- Art . 6 11 EUV) . Nach Art . 6 111 EUV sind die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts. 76 Eine unmittelbare Bindung der EU an die EMRK besteht nach derzeitiger Verfassungslage aber (noch) nicht. Ein Beit r itt der Union z ur EMRK würde diese den Kontrollmechanismen der EMRK unterwerfen und hätte damit erhebliche Auswirkungen auf das unionsrechtliche Rechtsschutzsystem . In seinem Gutachten v. 28 . März 1996 stellte der EuGH fest , dass ein Beitritt der (damaligen) EG zur EMRK eine vorherige Änderung des EGV erfordert'?". Eine der zentralen Innovationen des Vertrags von Lissabon besteht nun genau darin , dass er in Art . 6 11 EUV die primärrechtliche Grundlage für einen Beitritt der Union zur EMRK bereitstellt?" . Zugleich betont Art . 6 11 S. 2 EUV aber auch , dass durch einen Beitritt nicht die vertraglich festgelegten Zuständigkeiten der Union verändert werden . Die für einen Beitritt der Union erforderlichen Anpassungen der EMRK sind bereits durch das inzwischen von allen Europaratsstaaten ratifizierte 14 . ZP zur
166 167
168
169
170 171
Vgl. hier zu Erb, Jura 2005,24 ff., Jäger, Herzberg-FS, S. 539 ,548. EGMRStV2006,617,621 ;NStZ2008,699, 700 ; NVwZ 2008 , 761 , 762,1330,1331 ; Diehm, Men schenrechte, S. 342 ff.; Esser, NStZ 08, 657 , 658 ; ders ., in : Gehl (Hrsg.), Folter, S. 143 ff.; Schild ebenda, S. S. 59 ff.; Kinzig, ZStW 115 (2003), S. 791 ff. Vgl. nur EuGI-I E 1979, 3727 , 3745 ff.; 2003 , 3735, 3777 ff.; Pache, in: I-Ieselhaus /Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 4 Rn. 93 ff. Pache/Rosch, EuR 2009 , 769 , 772 m. w. N. EuGHE 1996, 1759, 1789 (Rz . 35) = EuZW 1996, 307, 309. Art . 6 11 EUV begründet eine Beitrittsermächtigung und -verpfl ichtung der EU; vgl. Pach e/Rosch; EuR 2009 , 769 , 779 f. m. w. N .
D. Literaturhinweise
111
EMRK172 vorbereitet , das in einem neuen Art. 59 II EMRK ausdrücklich eine Beitrittsmöglichkeit für die EU vorsieht. Jedoch müssen auch nach dem Inkrafttreten des 14. ZP zur EMRK noch weitere Voraussetzungen erfüllt werden, bevor der EU-Beitritt zur EMRK vollzogen werden kann 173. Die entweder im Rahmen eines weiteren Zusatzprotokolls zur EMRK oder eines auszuhandelnden Beitrittsvertrages der Union mit den Konventionsstaaten zu regelnden Punkte betreffen insbesondere die Art der Einbeziehung eines Richters der EU in das Rechtsschutzsystem der EMRK, Repräsentation und Stimmrecht der EU im Ministerkomitee des Europarates und die Zulässigkeit von Staatenbeschwerden der EU-Mitgliedstaaten untereinander oder gegenüber der EU. Auch müssen die hohen verfahrensrechtlichen Hürden überwunden werden, die der Lissabonner Vertrag für den EU-Beitritt zur EMRK vorsieht. Solange die Union nicht der EMRK beigetreten ist, können Rechtsakte der EU 77 als solche nicht vor dem EGMR angegriffen werden . Denkbar ist aber, dass ein nationaler AusfLihrungsakt eines EU-Mitgliedstaates (z. B. Verwaltungsakt, Gerichtsentscheidung), durch den sekundäres Unionsrecht (Verordnungen, Richtlinien) vollzogen wird, wegen angeblicher Verletzung der EMRK im Wege einer Individualbeschwerde beim EGMR gerügt und damit zur menschenrechtliehen Überprüfung gestellt wirdt?",
D. Literaturhinweise Ambos , Der Europ äische Ger ichthof für Menschenrechte und die Verfahrensrechte, ZStW 115 (2003), S. 583 ders. , Internationales Strafrecht, 2. Aufl., 2008, § 10 Diehm , Die Menschenrechte der EMRK und ihr Einfluss auf das deutsche Strafgeset zbuch, 2006, passim Dörr, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRKlGG Konkordanzkommentar, 2006, Kap . 13 (Freiheit der Person) Ehlers, Die Europäische Menschenrechtskonvention, JURA 2000, 372 Eiseie, Die Berücksichtigung der Beschuldigtenrechte der EMRK im deutschen Strafprozess aus dem Blickwinkel des Revisionsrechts, JR 2004, 12 ders. , Die Bedeutung der Europ äischen Menschenrechtskonvention für das deutsche Strafverfahren, JA 2005 , 390 ders. , Die einzelnen Beschuldigtenrechte der Europäischen Men schenrechtskonvention, JA 2005,901 Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 2000, passim ders. , Die Umset zung der Urteile des EGMR im nationalen Recht - ein Beispiel für die Disson anz völkerrechtlicher Verpflichtungen und verfassungsrechtlichen Vorgaben?, StV 2005 , 348 172 173
174
ETS Nr. 194; BGBI. 11 2006, 138. Pach elRösch, EuR 2009 , 769 , 781 ff. m. w. N . Vgl. hierzu EGMR NJW 2006, 197; Dörr , JuS 2006, 442 ; Heer-Reißmann. NJW 2006, 192; Kieschke , Praxi s des EGMR, S. 38 ; Satzger, IntStR, § 11 Rn. 18.
I 12
§ 3 Europarat
Grabenwarter, Europäische Men schenrechtskonvention. 4. Aufl ., 2009 Grabenwarterll'abel, in: Grote/M arauhn (Hrsg.), EMRKlGG Konkordanzkommentar, 2006, Kap . 14 (Grundsatz de s fairen Ve rfah ren s) Hamm , Der Einsatz heimlicher Ermittlungsmethoden und der Anspruch auf ein faires Verfahren , StV 2001 ,81 Jun g, Die Europäische Menschenrechtskonvention und das deutsche Strafrecht, EuG RZ 1996,370 Kieschke, Die Prax is de s Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und ihre Au swirkungen auf da s deutsche Strafverfahrensrecht, 2003 , passim Kinzig, Not kennt kein Gebot? - Die strafrechtlichen Kons equenzen von Folterhandlungen an Tatverdächtigen durch Poli zeibeamte mit präventiver Z ielsetzung, Z StW 115 (2003), S. 7910 ders ., Das Recht der Sicherungsverwahrung nach dem Urteil de s EGMR in Sachen M. gegen Deutschland, NStZ 20 I0, 233 Koriath , Einschränkung de s deutschen Notwehrrechts (§ 32 StGB) durch Art . 2 11 a EM RK?, in: Ranieri (Hrsg.), Die Europäisie rung der Rechtswissenschaft, 2002, S. 47 Kühl, Der Ein fluss der Europäischen Menschenrechtskonvention auf das Strafrecht und Strafverfahrensrecht der Bundesrepublik Deut schland, Z StW 100 (1988), S. 406 (Teil I), S. 601 (Teil 2) Kühn e, Grundrechtsschutz in einem grenzenlosen europäischen Strafrecht, in: KreuzerlScheuing/S ieber (Hrsg.), Europäischer Grundrechtsschutz, 1998, S. 55 ders., Die Rechtsprechung des EGM R als Motor für eine Verbesserung des Schutzes von ßeschuldigtenrechten in den nationalen Strafver fahren srechten der Mitgliedstaaten, StV 2001 , 73 ders., Die Ent scheidung de s EGMR in Sachen Öcalan, JZ 2003 ,670 ders., Strafprozessrecht, 8. Aufl ., 20 I0, Rn . 29--42 Kühn elEsser, Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Untersuchungshaft, StV 2002 , 383 Meyer-Ladewig/Petzold, 50 Jahre Euro päischer Ger ichtshof für Menschenrechte, NJW 2009,3749 Ne ubacher , Der Bewährungswiderrufwegen einer neuen Straftat und die Unschuldsverrnutung, GA 2004, 402 Pache/Rosch; Die neue Grundrechtsordnung der EU nach dem Vertrag von Lissabon, EuR 2009, 769 Peters, EinfLi hrung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003 , passim Renzikowski, Fair trial als Wa ffengleichheit - adversatorische Elemente im Strafprozess", in : Renzikowski, Joachim (Hrsg.), Die EMRK im Priv at-, Straf- und Öffentlichen Recht - Grundlagen einer europäi schen Rechtskultur, 2004, S. 97 Rosenau , Europäische Rechtspolitik zur Ab schaffung der Todesstrafe, ZIS 2006, 338 Roxin , Rettungsfolter?, Nehm-FS, 2006, S. 205 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. , 201 0, § 11 Schumann, .Brechmitteleinsatz ist Folter"? - Die Rechtsprechung des EG M R zum ßrechmitteleinsatz im Strafverfahren - Besprechung de s Urteil s de s EGMR v. 17. Juli 2006, StV 2006, 661 Weigend, Die Europäische Men schenrechtskonvention als deutsches Recht - Kollisionen und ihre Lösung, StV 2000, 384 Ziege nhahn. Der Schutz der Menschenrechte bei der gren züberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen, 2002, passim
F. Zu sammenfassung von § 3
113
E. Rechtsprechungshinweise EGMR EuGRZ 1989, 314 = NJW 1990, 2183 ("Todeszellensynd rom") EGMR NStZ 1998,429 (Akteneins icht srecht des Beschuld igten) EGMR NStZ 1999,47 (Einsatz polizeilich er Lockspitzel) EGMR NJW 2001 , 2387 (Rechtsschutzgarantien des Auszuliefernd en) EGMR StV 2001 , 489 (überl ange Verfah ren sdaue r) EGMR EuGRZ 2001 ,391 (überl ange Daue r der Untersuchungshaft) EGMR NJW 2001 , 2694 (überl ange Dauer der Untersuchungshaft) EGMR StV 2003 , 82 = NJW 2004 , 43 (Unschuld svermutung und Bewährungswiderruf) EGMR StV 2006 , 617 (Zwangsweise Verabreichun g von Brechmitteln) EGMR NJW 2006 , 197 (Sekundäres Gemeins chaft srech t und EMRK) EGMR NJOZ 2008 , 3605 (in Deut schl and erfolgte Verurteilung wege n Völkermordes auf dem Prüfstand der Art . 5 I Iit. a, 6 I, 111 lit. d, 7 EMRK) EGMR NStZ 2008 ,699 ("Rettungsfolte r" im Erm ittlungsverfahren) EGMR NJW 2009 , 3565 (Einsatz von verdeckten Ermittlern und Informant en) EGMR NStZ 2010 , 263 (rückwirkende Stre ichung der Höchstfrist für die erste Unterbringung in der Sicherun gsverwahrung). BVerfGE 74, 358 = NJW 1987,2427 (Bedeutung der EMRK für die Verfassungs- und Gesetzesa uslegung) BVerfG NJW 2004 , 3407 (Umsetzu ng der Urteile des EGMR im nationalen Recht) BVerfG NStZ 2005 , 204 (Bewährungswiderruf und Unschuldsve rmutung) BVerfG StV 2006 , 703 (Kein wichtige r Grund für Fortdauer der Untersuchungshaft bei vermeidbarer Verfahrensverzögerung) BGHSt 32, 345 (polizeiliche Tatprovokation als Strafmi lderungsgrund) BGHSt 45, 321 (Strafzu messungslösung bei konventionswid rige m Lock spitzeleinsatz) BGHSt 46, 93 (Au slegung des § 141 111 StPO im Lichte des Art. 6 111 lit. d EMRK) BGHSt 46, 159 (Folgen rechts staats widriger Ver fahrensverzögerun gen) BGHS t 46, 178 (Anspruch auf unentgeltliche Z uziehung eines Dolmetschers) BGHGSSt 52, 124 = NJW 2008 , 860 ("Vollstreckungsmodell" bei rechts staatswidr iger Verfahren sverzögerung)
F. Zusammenfassung von § 3 Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht der Europarat. dessen Tätigkeit die Ent- 78 wicklung des Strafrechts in Europa maßgeblich mitgeprägt und beeinflusst hat. Von ihm gehen schon seit Jahrzehnten die verschiedensten Initiativen in den Bereichen Strafrecht, Kriminalpolitik, Verfas sungsrecht und Menschenrechtsschutz mit dem Ziel der Rechtsvereinheitlichung und der Förderung der zwischen staatlichen Zusammenarbeit aus. Der Europarat ist eine am 5. Mai 1949 gegründete internationale (paneuropäische) Organisation "klassischen Zuschnitts" mit Sitz in Straßburg (Europa-Palais), die das Ziel verfolgt, eine engere Verbindung zwischen ihren Mitgliedstaaten zum Schutze und zur Förderung der Ideale und Grunds ätze , die ihr gemeinsames Erbe bilden, herzustellen und ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fordern . Derzeit gehören dem Europarat 47 Mitgliedstaaten
114
79
80
81
82
83
§ 3 Europarat
an, darunter auch alle EU-Mitgliedstaaten. Alle Mitgliedstaaten bekennen sich zu dem Grundsatz der Vorherrschaft des Rechts sowie zu den Mensch enrechten und Grundfreiheiten, die in dem bedeutsamsten Übereinkommen des Europarates inkorporiert sind - der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) v. 4. November 1950. Bereits im Jahre 1957 hat das Ministerkomitee den europäischen Ausschuss für Strafrechtsprobleme (ECCP) mit dem Ziel gegründet, die Arbeiten auf strafrechtlichem Gebiet zu intensivieren . Dem ECCP kommt dabei die Aufgabe zu, die Arbeiten an Fragen des Straf- und Strafverfahrensrechts, der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen ebenso wie der Strafvollstreckung, des Strafvollzugs, der Kriminologie und der Kriminalpolitik zu koordinieren . Zwar kann der Europarat als völkerrechtlicher Zusammenschluss souveräner Staaten selbst keine Rechtsvorschriften erlassen, die in den Einzelstaaten unmittelbare Geltung beanspruchen . Unter seinem Dach wurden aber über 50 strafrechtsrelevante Konventionen ausgearbeitet, denen die Mitglied staaten beitreten und die sie durch Ratifikation in innerstaatliches Recht transformieren können . Von allen strafrechtsrelevanten Konventionen des Europarates hat die EMRK die nachhaltigste Wirkung auf die Strafrechtspflege der Konventionsstaaten entfaltet. Als "gemeineuropäisches Grundgesetz" gewährleistet sie einen bei jeder Strafverfolgung zu wahrenden gemeineuropäischen Grundrechtsstandard. Durch die reichhaltige Spruchpraxi s des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) werden die europäischen Grundfreiheiten nicht selten zu äußerst konkreten Gewährleistungen geformt und die Strafrechtssysteme der Konventions staaten " von außen her" auf übernational gültige Maßstäbe der Fairness und Rechtsstaatlichkeit verpflichtet. Die in der EMRK enthaltenen Verfahrensgarantien gehen zum Teil über die Gewährleistungen des nationalen Verfassungs- und Strafprozessrechts hinaus . Alle Mitgliedstaaten des Europarates sind Vertragsstaaten der EMRK und als solche völkervertragsrechtlich verpflichtet, die Einhaltung aller in der EMRK verbrieften Rechte zu gewährlei sten. In Deutschland wurde die EMRK durch das Gesetz über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten v.7. August 1952 ratifiziert und gilt seitdem unmittelbar als einfaches Bundesrecht. Sollte der Schutz durch nationale Gerichte versagen und ist der innerstaatliche Rechtsweg ausgeschöpft, kann jeder Betroffen e Individualbeschwerde gern. Art. 34 EMRK beim EGMR erheben . Rechtskräftige Urteile des Gerichtshofes sind völkerrechtlich verbindlich (Art. 46 I EMRK). Wenn der EGMR eine Verletzung der Konvention festgestellt hat, beinhaltet das Urteil für den betroffenen Staat die Verpflichtung, den festgestellten Rechtsverstoß unverzüglich abzustellen sowie in Zukunft vergleichbare Verstöße gegen die EMRK zu unterlas sen. Außerdem kann der Gerichtshof dem in seinen Rechten verletzten Beschwerdeführer eine gerechte Entschädigung als Wiedergutmachung für erlittene materiell e und immaterielle Schäden zuerkennen, die der betroffene Staat zu zahlen hat. Der Gerichtshof befleißigt sich einer von den nationalen Begrifflichkeiten unabhängigen, autonomen Auslegung der Konventionsrechte, was im Laufe der Jahre zur Herausbildung eines gemeineuropäischen Grundrechtsstandards ge-
F. Zusammenfassung von § 3
115
führt hat. Große Bedeutung haben die Konventionsgarantien vor allem im internationalen Rechtshilfe- und Auslieferungsverkehr und in der Strafverfahrenspraxis erlangt. Im Bereich des materiellen Strafrechts ist der Einfluss der EMRK bisher eher gering geblieben. Dass aber auch hier ein menschenrechtliches Einflusspotential besteht, zeigen die Themen Einschränkung des Notwehrrechts im Lichte des Art. 2 II lit. a EMRK sowie .Rettungsfolter". Eine unmittelbare Bindung der Union an die EMRK besteht nach derzeitiger 84 Verfassungslage noch nicht. Eine der zentralen Innovationen des Vertrags von Lissabon besteht aber darin, dass er in Art. 6 II EUV die primärrechtliche Grundlage für einen Beitritt der Union zur EMRK bereitstellt. Jedoch sind auch nach dem Inkrafttreten des 14. ZP zur EMRK noch nicht alle von Seiten der EMRK und des Unionsrechts vorgegebenen Bedingungen für den Vollzug des EUBeitritts zur EMRK erfüllt. Solange die Union nicht der EMRK beigetreten ist, können Sekundärrechtsakte der EU als solche nicht vor dem EGMR angegriffen werden . Denkbar ist aber, dass ein Unionsrecht umsetzender nationaler Ausführungsakt wegen angeblicher Verletzung der EMRK im Wege einer Individualbeschwerde beim EGMR gerügt wird .
B. Hecker, Europäisches Strafrecht, DOI 10.1007/978-3-642-13127-1_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
118
§ 4 Europäische Union
11. Organe der EU und ihre Funktionen 2 Unter dem Titel III " Bestimm ungen über die Organe" regeln Art . I3- I9 EUV den institutionellen Rahmen der Union . Die früheren Hauptorgane der EG (EP, Rat, Kommission, Gerichtshof, Rechnungshof, Zentralbank) sind nunmehr Organe der EU (Art. 13 EUV). Der in ex-Art. 4 EUV genannte " Europäische Rat", in dem die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie der Präsid ent der Kommission zusammenkamen, bildete nach früh erer Verfassungslage kein Organ der EU, sondern nur ein Forum für die Abstimmung unter den Mitgliedstaaten unter Einbeziehung des Kommissionspräsidenten. Der Auflösung der bisherigen Säulenstruktur entsprechend wurde der Europä ische Rat (Rn . 3) nunmehr als neues Unionsorgan eingeführt (Art. 15 EUV). Er darf nicht mit dem " Rat der EU" (Rn . 4) oder gar mit dem Europarat (§ 3 Rn. 2) verwechselt werden".
1. Europäischer Rat 3 Der Europäische Rat (ER; Art. 15 EUV, 235-236 AEUV) ist ein von den Staatsund Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten, dem Präsidenten des ER und dem Präsidenten der Kommission gebildetes Leitungsorgan, das sich mindestens zweimal pro Halbjahr zu ein em Tr effen (" EU-Gipfel") versammelt. Er wird nicht gesetzgeberisch tätig, sondern soll die für die Entwicklung der Union notwendigen Impulse geben und die hierfür erforderlichen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten festlegen . Soweit in den Verträgen nichts anderes bestimmt ist, entscheidet der ER im Kon sens. Als Vorsitzender der Gipfeltreffen wird auf jeweils zweieinhalb Jahre ein Präsident des ER gewählt, der kein nationales politisches Amt innehaben darf. Ihm obliegt es, die Kontinuität in der Arbeit des ER zu gewährleisten und bei Konflikten zu vermitteln bzw. Kompromissvorschläge zu unterbreiten . Auch der Hohe Vertreter der Union für Auß en- und Sicherheitspolitik nimmt an den Arbeiten des ER teil. An den Abstimmungen des ER sind jedoch ausschließlich die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten beteiligt. Die (nicht rechtsverbindlichen) Ergebnisse der Tagungen des ER werden in den " Schlussfo lgerungen des Vorsitzes" festgehalten.
2. Rat der Europäischen Union a) Allgemeines 4 Der Rat der Europäischen Union ("Rat") ist das politische Entscheidungs- und Rechtsetzungsorgan der Union . Seine Aufgaben, Organisation und Willensbildung sind in Art . 16 EUV, 237-243 AEUV geregelt. Sitz de s Rates ist Brüssel, wo in der Regel auch die Ministertagungen stattfinden. In den Monaten April, Juni und Oktober tagt er jedoch in Luxemburg. Der Rat wird von einem Generalsekretariat und einem aus Ständigen Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaten gebildeten Ausschuss unterstützt (Art. 240 I, II AEUV). Jeder Mitgliedstaat entsendet einen Vertreter auf Mini sterebene in den Rat , der befugt ist, für seine RegieZu den terminologischen Tücken im Europarecht vgl. Diehm, JuS 2007, 209 ff.
A. Union als Rechtsnachfolgerin der EG
119
rung verbindlich zu handeln. Die Teilnahme von Staatssekretären an Beschlussfassungen des Rates entspricht ständig geübter Praxis und dürfte inzwischen durch Gewohnheitsrecht gedeckt sein . Formell gibt es zwar nur einen Rat, jedoch wechseln die Minister je nach dem Fachressort, in dess en Zuständigkeit die auf der Tagesordnung stehende Frage fällt, namentlich in den Formationen " Landwirtschaft und Fischerei", " Wirtschaft und Finanzen", .Wettbewerbsfähigkeit", " Umwelt", "Justiz und Inneres ", " Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz", "Verkehr, Telekommunikation und Energie", " Bildung, Jugend und Kultur" sowie "Auswärtige Angelegenheiten" . Als Rat "Allgemeine Angelegenheiten" sorgt er für die Kohärenz der Arbeiten des Rates in seinen verschi edenen Zusammensetzungen (Art . 16 VI UA 2 EUV) . Als Rat "Auswärtige Ang elegenheiten" gestaltet er das ausw ärtige Handeln der Union entsprechend den strategischen Vorgaben des ER (Rn . 3) . Die Präsidentschaft des Rates wird abwechselnd für die Dauer von jeweils sech s Monaten von einem Mitgliedstaat übernommen. Eine Ausnahme bildet der Rat für Ausw ärtige Angelegenheiten, in dem der auf fünf Jahre gewählte Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik den Vorsitz führt (Art . 16 IX EUV). Im institutionellen Gefüge der Unionsorgane ist der Rat dasjenige mit der gr öß- 5 ten Kompetenzfülle. Bei der Rechtsetzung (Erlass von Verordnungen, Richtlinien oder Beschlüssen) hat der Rat immer noch das größte Gewicht, obwohl die SteIlung des Europäischen Parlaments gegenüber dem Rat durch den Vertrag von Lissabon deutlich aufgewertet worden ist. Der Rat vertritt die Mitgliedstaaten und ist das Hauptentscheidungsgremium der Union . Die im Rat tagenden Regierungsvertreter tragen die politi sche Verantwortung gegenüber ihrem nationalen Parlament sowie den Bürgern, die sie vertreten. Als Bindeglied zwischen der EU und den Mitgliedstaaten kommt dem Rat eine wichtige " Scharnierfunktion" zu.
b) Aufgaben des Rates Die wesentlichen Aufgaben des Rates sind folgende : -
6
Festlegung der Unionspolitiken und deren Koordinierung, Gesetzgebung der Union (gemeinsam mit dem EP), Ausübung der Haushaltspolitik (gemeinsam mit dem EP), Mitwirkung beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge, Ernennung der Mitglieder des Rechnungshofes , des Wirtschafts- und Sozialausschusses sowie des Ausschusses der Regionen .
Aus der Perspektive des Europäischen Strafrechts ist die Rechtssetzungstätigkeit 7 des Rates von besonderem Interesse. In der Regel - so auch im Bereich des Strafrechts (Art . 82-85 AEUV) - wird das sekundäre Unionsrecht von Rat und EP gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren auf Vorschlag der Kommission erlassen (Art . 289 I, 294 AEUV). Soweit in den Verträgen nichts anderes bestimmt ist, beschließt der Rat mit qualifizierter Mehrheit (Art . 16 111 EUV). Im Hinblick auf die Erweiterung der EU, die am I. Mai 2004 durch den Beitritt von zehn und am I. Januar 2007 von zwei weiteren Staaten vollzogen wurde, sah der
120
§ 4 Europäische Union
Vertrag von Nizza (200 I) eine Änderung der Stimmengewichtung vor. Der Beitrittsvertrag griff diese Vereinbarung auf, mit welcher den Wünschen der bevölkerungsreicheren Mitgliedstaaten entgegen gekommen werden sollte . Er enthält eine Bestimmung zur Regelung der Stimmengewichtung im Rat für die 27 Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Vertrags von Nizza, die am I. November 2004 in Kraft getreten ist. Nach Art. 3 111 des dem Vertrag von Lissabon beigefügten Protokolls über die Überga ngsbest im m ungen" gelten diese Regelungen bis zum 31. Oktober 2014 fort. Ein Beschluss des Rats gilt demnach als angenommen, wenn eine bestimmte Stimmenzahl darauf entfällt, die die Befürwortung durch die Mehrheit der Ratsmitglieder zum Ausdruck bringt (Prinzip der "doppelten Mehrheit"). Die qualifizierte Mehrheit ist erreicht, wenn mindestens 255 von 345 Stimmen auf die Annahme eines Ratsbeschlusses entfallen. Die Stimmen der Mitgliedstaaten werden wie folgt gewichtet: -
Deutschland, Frankreich, Italien und Vereinigtes Königreich: je 29 Stimmen , Spanien und Polen : je 27 Stimmen, Rumänien : 14 Stimmen Niederlande: 13 Stimmen, Belgien , Griechenland, Tschechien, Ungarn und Portugal : je 12 Stimmen Österreich, Schweden und Bulgarien: je I0 Stimmen, Slowakei, Dänemark, Irland, Finnland und Litauen : je 7 Stimmen, Lettland , Slowenien, Estland , Zypern und Luxemburg: je 4 Stimmen, Malta : 3 Stimmen.
8 Nach Art. 3 111 des Protokolls gilt auch die sog. "Bevölkerungsklausel" fort, wonach ein Mitglied des Rates beantragen kann, dass bei einer Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit überprüft wird, ob diese zumindest 62 % der Gesamtbevölkerung der Union repräsentiert. Ist dies nicht der Fall, kommt der betreffende Beschluss nicht zustande. Diese Bestimmung kommt zu den anderen Voraussetzungen für die Annahme eines Rechtsakts (qualifizierte Mehrheit der Stimmen und Mehrheit der Mitgliedstaaten) hinzu . Sie soll gewährleisten, dass die Entscheidungen des Rats für die Mehrheit der Bevölkerung der EU repräsentativ ist.
c) Strafrechtsrelevante Aktivitäten des Rates 9 Durch den Vertrag von Lissabon wurde die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Art . 67 111, 82-86 AEUV), die auch Harmonisierungsmaßnahmen einschließt (Art . 83 I, 11 AEUV) , in den Zuständigkeitsbereich der Union (Art . 4 11 lit. j AEUV) überführt. In der Vergangenheit haben die im Rat vertretenen Mitgliedstaaten zahlreiche Vorstöße der Kommission, die auf eine Angleichung nationaler Strafbestimmungen im Rahmen der früheren ersten Säule der EU abzielten, aufgrund von Souveränitätsvorbehalten blockiert. Jedoch bedeutet dies nicht, dass die ehemaligen EG-Mitgliedstaaten sich generell geweigert hätten , ihr strafrechtliches Instrumentarium auch zur Durchsetzung von Gemeinschaftspolitiken einzusetzen. ABIEU 2008 Nr . C 115, S. 322.
A. Union als Rechtsnachfolgerin der EG
121
So wurden einige Verordnungen oder Richtlinien erlassen , die zu einer gewissen Ang leichung des mitgliedstaatliehen Sanktionenrechts einschließ lich des Krimi nalstrafrechts geführt oder sich zumindest auf die Auslegung beste hender Straftatbestände ausgewirkt haben . Prominente Beispiele für strafrechtsrelevante Recht setzungsakte bilden die : - RL des Rates 89/592 /EWG zur Koordinierung der Vorschriften betreffend Insider -Geschäfte vom 13. November 1989 (" lnsider-RL")5, die in Deutschland zu einer neuen Strafnorm (§ 38 i. V. m. § 14 Wertpapierhandelsgesetz) führten , nach der erstmals Börsentransaktionen unter Strafandrohung gestellt werden, bei denen Insiderinformationen Grundlage des Wertpapiergeschäfts waren . Die Insider-RL wurde ersetzt durch die RL 2003 /6/EG des EP und des Rates über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation v. 28 . Januar 2003 6 ; - RL 91/308 /EWG des Rates zur Verhinderung und Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche vom 10. Juni 199]7, geändert durch die RL 200 1/97/EG8 und ersetzt durch die RL 2005 /60 /EG des EP und des Rates zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Ge ldwäsche einschließlich der Finanzierung des Terrorismus v. 26 . Oktober 2005 9 ("Dritte GeldwäscheRL"); - VO Nr . 259 /93 (EWG) des Rates zur Überwachung und Kontrolle der Verbrin gung von Abfallen in der, in die und aus der Europäischen Gemeinschaft vom I. Februar 19931°, die in Deutschland zur Einfügung des § 326 11 StGB führte. Diese VO wurde ersetzt durch VO (EG) Nr. 1013/2006 des EP und des Rates vom 14. Juni 2006 über die Verbringung von Abfallen (VV A)11 . - VO (EG) Nr . 1493/1999 des Rates über die gemeinsame Marktorganisation für Wein vom 17. Mai 1999 12, geändert durch VO (EG) Nr . 479 /2008 des Rates v. 29 . April 2008 13, welche die Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen , um Verstöße gegen die Verordnung je nach ihrer Schwere zu ahnden ; - VO (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28 . Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit'", nach der Praktiken des Betrugs oder der Täuschung, die Verfälschung von Le-
10 11
12
13 14
ABlEG 1989 Nr. L 334, S. 30. ABIEU 2003 Nr. L 96, S. 16; vgl. hierzu Park, NStZ 2007,369 ff: ABlEG 1991 Nr. L 166, S. 77. ABlEG 2001 Nr. L 344, S. 76. ABlEG 2005 Nr. L 309, S. 15; vgl. hierzu Hecker, Kreuzer-FS, S. 216 ff. ABlEG 1993 Nr. L 30, S. I. ABlEG 2006 Nr. L 190, S. I; vgl. hierzu Hecker!Heine , Abfallwirtschaftskriminalität, S. 206 rr, 258 Ir ABlEG 1995 Nr. L 179, S. 1. ABIEU 2008 Nr. L 148, S. I. ABlEG 2002 Nr. L 31, S. I.
122
§ 4 Europäische Union
bensmitteln und alle sonstigen Praktiken, die den Verbraucher irrefuhren können, zu untersagen sind . Die Mitgliedstaaten werden verpfli chtet , Vorschriften für Maßnahmen und Sanktionen bei Verstößen gegen das Lebensmittel- und Futtermittelrecht festzulegen, die wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssen ; - RL 2008 /99 /EG des EP und des Rates v. 19. November 2008 über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt". Die RL normiert in Art. 3 einen Katalog umweltschädlicher Handlungen, die unter Strafe gestellt werden müssen, wenn sie vorsätzlich oder zumindest grob fahrlässig begangen wurden . Im Hinblick auf die Strafen verpflichtet Art. 5 die Mitgliedstaaten, wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen vorzusehen ; - RL 2009/123/EG v. 21. Oktober 2009 zur Änderung der RL 2005 /35 /EG über die Meeresverschmutzung durch Schiffe und die Einführung von Sanktionen für Verstöße!". 10 Als zentraler und herausragender Faktor der Europäisierung der internationalen Strafrechtspflege innerhalb der EU erwies sich bislang jedoch das gemeinsame Vorgehen der Mitgliedstaaten im Bereich der ehemaligen 3. Säule (PJZS) nach exArt . 29--42 EUV. Der Rat hat insbesondere von dem durch den Vertrag von Amsterdam geschaffenen Handlungsinstrument des Rahmenbeschlusses (ex-Art. 34 11 lit. b EUV) rege Gebrauch gemacht und - auf Initiative eines Mitgliedstaates oder der Kommission - zahlreiche Rechtsakte erlassen, die auf eine Harmonisierung des Strafrechts und eine Effektivierung der polizeilichen und strafrechtlichen Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten abzielen". Der Reformvertrag von Lissabon hat die 3. Säule in den einheitlichen Rahmen des Unionsrechts überführt" .
3. Kommission der Europäischen Union a) Allgemeines 11 Die Kommission ist das Exekutivorgan der EU. Bestimmungen über ihre Aufgaben, Organisation und Willensbildung finden sich in Art . 17 EUV, 244-250 AEUV . Sitz der Kommission ist Brüssel. Sie besteht aus einem Kollegium von 27 Mitgliedern (einschließlich des Kommissionspräsidenten) - j e ein Kommissar aus jedem Mitgliedstaat (Art. 17 IV EUV), dem die Verantwortung für ein bestimmtes politisches Ressort übertragen wird . Der Präsident, die beiden Vizepräsidenten und die übrigen Mitglieder der Kommission werden aufgrund ihrer allgemeinen Befähigung ausgewählt und müssen die volle Gewähr für ihre Unabh ängigkeit bieten (Art . 17 111 UA 2 EUV) . Bei den Kommissaren handelt es sich um Persönlichkeiten, die zuvor in ihrem Herkunftsland ein hohes politisches Amt - oft auf Ministerebene - ausgeübt haben . Die Neubesetzung der Kommission erfolgt alle 15
16
17 18
AB IEU 2008 Nr. L 328, S. 28 ; vgl. hierzu Fromm, ZfW 2009 , 157; Zimmermann, Z RP 2009 ,74. AB1EU 2009 Nr . L 280, S. 52. Hecker, JA 2007 ,561 ff.; Schreiber, Strafrecht sharmonisierung, S. 13 ff. Heger, ZIS 2009 , 406 ff.; Suhr, ZEu S 2009 , 687, 690 ff.; Zöller, ZIS 2009 , 340 , 343 .
A. Union als Rechtsnachfolgerin der EG
123
fünf Jahre in den sechs Monaten nach der Wah l des EP. So hat das neu gewählte Parlament genügend Zeit, dem vom ER mit qualifizierter Mehrheit vorgesch lagenen Kommissionspräsidenten durch Wah l sein Vertrauen auszusprechen (Art . 17 VII UA I EUV). Der ER (Rn . 3) ernennt mit qua lifizierter Mehrheit und mit Zustimmung des Kommissionspräsidenten den Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik (Art . 18 I EUV) ; dieser ist zug leich einer der Vizepräsidenten der Kommission . Im Einvernehmen mit dem gewählten Präsidenten nimmt der ER die Liste der Kandidaten an, die er als Mitg lieder der Kommission vorschlägt (Art . 17 VII UA 2 EUV). Nach der Nominierung betragt das neu gewählte EP die Kandidaten ausführlich und gibt eine Stellungnahme ab, bei der es die Kommission als Ganze (nicht jedoch einzelne Kommissare) annehmen oder ablehnen kann (Art . 17 VII UA 3 EUV) . Nach einem zustimmenden Votum des EP wird die Kommission vom ER mit qualifizierter Mehrheit ernannt. Die Kommission ist dasjenige EU-Organ, dessen Willensbildung ganz von den Interessen der Mitgliedstaaten gelöst ist. Neben dem Gerichtshof verkörpert sie die reinste Ausprägung eines supranationalen Organs im Unionssystem. Sie ist dem EP gegenüber politisch verantwortlich, das ihr jederzeit das Misstrauen aussprechen und sie durch ein mit Zweidrittelmehrheit getroffenes Misstrauensvotum zum Rücktritt zwingen kann (Art . 234 AEUV). Der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik kann außerdem auch vom ER ent lassen werden (Art. 18 I EUV). Des Weiteren muss jeder Kommissar zurücktreten, wenn er vom Kommissionspräsidenten dazu aufgefordert wird (Art . 17 VI UA 2 EUV) . Dem KoIlegium der 27 Kommissionsmitglieder steht ein Verwaltungsapparat 12 zur Seite, der aus aIlgemeinen Diensten (Generalsekretariat, Juristischer Dienst , Statistisches Amt usw.) sowie aus Generaldirektionen besteht. An der Spitze einer Generaldirektion steht ein Generaldirektor, der dem zuständigen Kommissionsmitglied gegenüber verantwortlich ist. Die Kommission verfügt zudem über Auslandsvertretungen, die sog. Delegationen der Europäischen Kommission, die dem Hohen Vertreter unterstehen. Sie übernehmen Aufgaben wie die AußendarsteIlung von EU-Politiken, das Erstellen von Analysen sowie gegebenenfaIls Verhandlungen im Rahmen eines vorgegebenen Mandats. Die Kommission tritt gewöhnlich einmal wöchentlich in Brüssel und während der Plenartagungen des Parlaments in Straßburg zusammen. Erforderliche Beschlüsse werden mit der einfachen Mehr heit der Kommissionsmitglieder gefasst und werden damit Bestandteil der Politik der Kommission . Bei der Ausübung ihrer Befugnisse nimmt die Kommission umfassende Anhörungen vor, in denen sich parlamentarische Kreise, nationale Behörden und Berufs - und Gewerkschaftsverbände äußern können . Zu technischen Einzelheiten geplanter Rechtsvorschriften oder Vorschläge ho lt die Kommission die SteIlungnahme von Sachverständigen ein, die in von ihr eingesetzten Ausschüssen oder Arbeitsgruppen arbeiten . Bei der Verabschiedung zahlreicher Durchführungsmaßnahmen wird sie von Ausschüssen unterstützt, denen Vertreter der Mitgliedstaaten angehören. Darüber hinaus arbeitet die Kommission eng mit dem Wirtschafts- und Sozialausschuss als beratenden Organen zusammen.
124
§ 4 Europäische Union
b) Aufgaben der Kommission 13 Die Europäische Kommi ssion hat im Wesentlichen folgende Aufgaben: -
Unterbreitung von Vorschlägen für neue EU-Rechtsakte (Art. 17 11 EUV), Durchführung der Unionspolitiken, Ausübung von Koordinierungs-, Exekutiv- und Verwaltungsfunktionen Überwachung der Einha ltung des Unionsrechts ("Hüterin der Verträge") ,
- Vertretung der Union nach außen - Aushandlung völkerrechtliche Verträge. 14 Als Exekutivorgan der Union führt die Kommission Maßnahmen auf allen Gebieten des Unionsrechts durch . Ferner fuhrt die Kommi ssion unter der Kontrolle des Rechnungshofs den Haushaltsplan der Gemeinschaft aus und verwaltet die Programme. Beide Organe verfolgen dabei das Ziel , eine wirt schaftliche Haushaltsführung zu gew ährlei sten . Auf der Grundlage des Jahresberichts des Rechnungshofs stimmt das EP über die Entlastung der Kommission für die Durchführung des Haushaltsplans ab. 15 Die Kommission wacht als "Hüterin der Verträge" über die ordnungsgemäße Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten. Wird aus ihrer Sicht gegen Union srecht verstoßen, so ergreift sie die vom A EUV vorgesehenen Maßnahmen. Beispielsweise geht sie gegen einen Mitgliedstaat vor, der eine Richtlinie nicht umgesetzt oder gegen Pflichten aus den Unionsverträgen verstoßen hat (Art. 258 AEUV) . Wird der Verstoß auch im Verlauf des Prüfungsverfahrens durch die Kommission nicht abgestellt, so kann dies e den Gerichtshof anrufen, der letztli ch für die Ausl egung und Durchsetzung des Unionsrechts zuständig ist. So erhie lt auch das Europäische Strafrecht durch ein von der Kommission gegen die Griechische Republik geführtes Vertragsverletzungsverfahren wichtige Impulse. Deren Beamte waren gegen eine zum Nachteil des EG-Finanzhausha ltes begangene Abgabenhinterziehung nicht eingeschritten. Die Kommission sah hierin eine Verletzung der den Mitgliedstaaten gegenüber der damaligen EG obliegenden Pflicht zu gemeinschaftstreuem Verhalten (ex-Art. 10 EGV) . Das Verfahren mündete in das berühmte " Ma is-Urte il" des EuGH19 (§ 7 Rn. 24 ff.). Von besonderer praktischer Bedeutung ist auch die Aufgabe der Kommission, die Einhaltung der in Art. 101105 AEUV (ex-Art. 81-85 EGV) verankerten Wettbewerbsregeln zu überwachen und diese ggf. durch Einleitung eines Kart ellverfahrens durchzusetzen. Dieses Verfahren kann in der Verh ängung eine s Bußgelds gegen Unternehmen münden, die sich eines Verstoßes gegen Europ äische s Kartellrecht schuldig gemacht haben- ".
19 20
EuGHE 1989, 2965. Vgl. hierzu Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 16. Kap. Rn. 164 ff.; Heine, SchZStR Bd. 125 (2007), S. 105, 109 ff.
A. Union als Rechtsnachfolgerin der EG
125
c) Strafrechtsrelevante Aktivitäten der Kommission Im Mittelpunkt der strafrechtsrelevanten Aktivitäten der Kommission steht seit je- 16 her der Schutz der finanziellen Interessen der EU - nach Art. 325 I AEUV (exArt . 280 I EGV) ein zentrales Feld der Unionspolitik (§ 14). Die Kommission sorgt nicht nur dafür, dass die vorhandenen Handlungsinstrumente zum strafrechtlichen Schutz von Unionsinteressen und zur Durchsetzung der Unionspolitiken konsequent genutzt werden . Darüber hinaus arbeitet sie in den letzten Jahren verstärkt an der Entwicklung gemeinsamer strafrechtlicher Standards innerhalb des europäischen Rechtsraumes. Diese Arbeit äußert sich in konkreten Vorschlägen der Kommi ssion für den Erlass von Rechtsakten, die zu einer effektiveren Bekämpfung strafwürdiger Verstöße gegen Unionsrecht fuhren sollen. Beispiele hierfür aus neuerer Zeit bilden: - Vorschläge für den Erlass einer Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt v. 13. März 200]21 und v. 9. Februar 2007 22 , - Vorschlag für eine geänderte Richtlinie über strafrechtliche Maßnahmen zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums v. 26 . April 2006 23, - Vorschlag für den Erlass einer Richtlinie zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornographie v. 29 . März 20 I024 , - Vorschlag für den Erlass einer Richtlinie zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels v. 29 . März 20 I025 In dem Grünbuch zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der 17 Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft-" entwickelte die Kommi ssion eine neue kriminalpolitische Konzeption zur strafrechtlichen Bekämpfung von Betrügereien zu Lasten des Gemeinschaftshausha ltes. Seit jeher vertrat das EU-Exekutivorgan die Recht sauffassung, dass der frühere EGV auch strafrechtliche Anweisungskompetenzen beinhalte, welche die EG mit der Befugnis ausstatten würden, durch Richtlinien auf den Erlass und die inhaltliche Ausgestaltung mitgliedstaatlicher Strafnormen Einfluss zu nehm en . Hierbei stieß die Kommission jedoch regelmäßig auf den politischen Widerstand der im Rat vertretenen Mitgliedstaaten, die gerade auf dem Gebiet des Strafrechts sehr auf die Wahrung ihrer nationalen Souveränität bedacht waren . In dem mit Spannung erwarteten Urteil des EuGH v. 13. September 2005 setzte sich die Kommi ssion mit ihrem Standpunkt durch . Der Gerichthof schloss sich dem Vorbringen der Kommission an und erkl ärte den Rahmenbeschluss über den 21
22
23 24
25
26
Vgl. KOM (2001) 139 endg.; ABlEG 2001 Nr. C 180 E, S. 238; vgl. hierzu ausführlich Schmalenberg, Europäisches Umweltstrafrecht, passim. KOM (2007) , 51 endg.; vgl. hierzu Heger, Harmonisierung, S. 275 f f KOM (2006) 168 endg. KOM (2010) 94 endg. KOM (2010) 95 endg. KOM (2001) 715 endg ., vgl. auch die Follow-up-Mitteilung der Komm ission v. 19. März 2003 KOM (2003) 128 endg.
126
§ 4 Europäische Union
Schutz der Umwelt durch das Strafrecht für nichtig'" . Mit der Tragweite und den Folgen dieses Urteils, insbesondere mit dessen Auswirkungen auf bereits verabschiedete und vorgeschlagene Rechtsakte, befasste sich die Kommission in ihrer Mitteilung an das EP und den Rat v. 24 . November 2005 28 • Der am I . Dezember 2009 in Kraft getretene Reformvertrag schreibt nunmehr in Art . 83 I1 AEUV eine strafrechtliche Annexkompetenz der Union fest (§ 8). 18 Auch im Rahmen der früheren Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) nach Titel VI des Unionsvertrages (ex-Art. 29-42 EUV) entfaltete die Kommission vielfältige Aktivitäten , um an der Verwirklichung des Aufbaus eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts mitzuwirken (Art . 3 I1 EUV , 67 AEUV ; ex-Art. 29 EUV). Beispiele hierfür bilden : - Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität-", - Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung von Rassi smus und Frerndenfeindlichkeit'", - Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über die Europä ische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verw endung in Strafverfahrens", - Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über bestimmte Verfahrensrechte in Strafverfahren innerhalb der Europ äischen Union>, - Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der EU ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren>, - Grünbuch .Erlangung verwertbarer Beweise in Strafsachen aus einem anderen Mitgliedstaat"?",
d) Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) 19 Die strafrechtliche Bekämpfung der Kriminalität zum Nachteil der EUFinanzinteressen ist eine von den Mitgliedstaaten und der Union arbeitsteilig wahrzunehmende Aufgabe (Art . 325 I AEUV; ex-Art. 280 I EGV) . Bereits im Jahre 1988 hat die Kommission zu diesem Zweck eine Task Force zur Bekämpfung von Betrügereien zu Lasten der Gemeinschaft eingerichtet, die Unite de Coordination de la Lutte Anti-Fraude (UCLAF), eine zentrale Koordinierungs-
27 28 29 30 31
32 33 34
EuGHE 2005, 7879 = JZ 2006, 307 ff. = ZIS 2006, 179 ff. KOM (2005) 583 endg. KOM (2005) 6 endg. KOM (2001) 664 endg. KOM (2003) 688 endg.; vgl. hierzu Esser, ZEuS 2004, 290, 301 ff.; Gieß, StV 2004,
679 ff. KOM (2004) 328 endg. KOM (2005) 91 endg. KOM (2009) 624 endg.; vgl. hierzu Schünemann/Roger, ZIS 2010, 92 ff.
A. Union als Rechtsnachfolgerin der EG
127
stelle innerhalb der Kommission. Diese wurde am I. Juni 1999 durch die Nachfolgeorganisation Office de la Lutte Anti-Fraude (OLAF) abgelöst". UCLAF hatte die Aufgabe, die Aktivitäten der Gemeinschaft auf dem Gebiet 20 der Betrugsbekämpfung zu koordinieren, die Kommission in diesem Bereich zu vertreten sowie eine eigene Betrugsbekämpfungspolitik zu entwickeln und durchzufuhren. Die operative Tätigkeit der UCLAF-Kontrolleure konzentrierte sich im Wesentlichen auf Ermittlungen außerhalb der Kommission , vorrangig in mitgliedstaatliehen Wirtschaftsunternehmen. Wenn sich nach der Durchführung von Kontrollen Anhaltspunkte für das Vorliegen strafrechtlich relevanter Sachverhalte ergaben, konnten die Kontrolleure die mitgliedstaatliehen Strafverfolgungsorgane auffordern, Ermittlungen durchzufLihren. Die Verfolgung von Betrügereien mit grenzüberschreitender Dimension unterstützte UCLAF durch Koordinierung der Ermittlungen. Stets war UCLAF jedoch auf die Kooperationsbereitschaft der nationalen Ermittlungsbehörden angewiesen . Eigene strafprozessuale Ermittlungsbefugnisse erhielt UCLAF erst durch die Verordnung (EG , Euratom) Nr. 2185 /96 des Rates vom I I. November 1996 betreffend die Kontrollen und Überprüfung vor Ort durch die Kommission zum Schutz der finanziellen Interessen der Europ äischen Gemeinschaften vor Betrug und anderen Unregelm äßigkeiten'" . Hierzu gehörte das Recht , zum Zwecke der Beweissammlung Unterlagen zu kopieren (nicht zu beschlagnahmen) sowie in begründeten Verdachtsfällen Räumlichkeiten und Grundstücke zu betreten. Dabei waren die Kontrolleure an das Verfahrensrecht des jeweiligen Mitgliedstaates gebunden, auf dessen Hoheitsgebiet sie agierten . Die von UCLAF gesammelten Beweise durften in von diesen Staaten durchgeführten Strafverfahren verwertet werden . Eine Rechtsgrundlage für die Vornahme kommissionsinterner Ermittlungen 21 wurde erst im Jahre 1998 geschaffen". Einer wirksamen DurchfLihrung interner Untersuchungen stand jedoch die fehlende Unabhängigkeit von UCLAF , die selbst in die hierarchische Struktur der Kommission eingebunden war, entgegen'" - was einer der maßgeblichen Gründe für die Ablösung von UCLAF durch OLAF war'". Mit der Schaffung dieser supranationalen Betrugsbekämpfungsbehörde, deren Befugnisse neben der externen auch die unionsinterne administrative Betrugsaufklärung umfasst, ist eine neue Ära in der europäischen Betrugsbekämpfung angebrochen". OLAF ist zum einen mit der DurchfLihrung von Verwaltungsuntersuchungen beauftragt, die der Bekämpfung von Betrug, Korruption und sons35
36 37
38
39
40
v. BubnojJ, ZEuS 2002, 185, 196 ff.; Gieß, EuZW 1999, 618 ff.; Hetzer, Kriminalistik 2005, 419 ff.; Kuhl/Spitzer, EuR 2000, 671 ff.; Ligeti, Strafrecht in der EU, S. 198 ff.; Mager, ZEuS 2000, 177 ff.; ausf. Weitendorf, Interne Betrugsbekämpfung, S. 27-107 . ABlEG 1996 Nr. L 292, S. 2. Dannecker, Handbuch Wirtschafts- und Steuerstrafrecht , 2. Kap. Rn. 199; Gieß, EuZW 1999, 618, 619; Hetzer, Kriminalistik 2005, 419, 420. Sonderbericht des Rechnungshofes Nr. 8/98 (ABlEG 1998 Nr. C 230, S. 1,20 ff.). Beschluss der Kommission v. 28. April 1999 zur Errichtung des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) ; ABlEG 1999 Nr. L 136, S. 20. Gieß, EuZW 1999, 618, 621; Haus, EuZW 2000, 745 ff.; Hetzer, Kriminalistik 2005, 419, 421; ders., ZfZ 2005, 185, 189 ff.
128
§ 4 Europäische Union
tigen rechtswidrigen Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaften dienen . Zum anderen unterstützt und koordiniert OLAF die mitgliedstaatliehen Maßnahmen der Betrugsbekämpfung. Zwar ist OLAF organisatorisch der Kommission zuzurechnerr" . Anders als seine Vorgängerinstitution verfügt OLAF jedoch über weitreichende Befugnisse und Entscheidungsautonomie'": 22 OLAF ermittelt betrugsrelevante Sachverhalte in voller Unabhängigkeit, also ohne an Weisungen der Kommission gebunden zu sein (in Form eines sog . " unionsunmittelbaren Vollzugs") und vermag durch die Weitergabe seiner Ermittlungsergebnisse Strafverfolgungsmaßnahmen auf mitgliedstaatlicher Ebene auszulöserr". Die mitgliedstaatliehen Strafverfolgungsbehörden entscheiden nach pflichtgemäßer Überprüfung des von OLAF übermittelten Beweismaterials über eine Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen. Auch sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, der Union kontinuierlich Bericht zu erstatten über finanzielle Unregelmäßigkeiten und Betrügereien, die Gegenstand einer ersten amtlichen oder gerichtlichen Feststellung gewesen sind . Um den OLAF-Kontrolleuren eine ordnungsgemäße Auswertung der mitgeteilten Informationen zu ermöglichen, wurde in den einschlägigen Rechtsgrundlagen im Einzelnen festgelegt, welche Informationen zu übermitteln sind . Dazu gehört u. a. die Angabe der Vorschrift, gegen die verstoßen wurde, das Schadensvolumen, die beim Begehen der Unregelmäßigkeit angewandten Praktiken sowie Informationen über hieran beteiligte natürliche oder juristische Personen. 23 Die Befugnisse des OLAF bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben richten sich nach den im Wesentlichen auf ex-Art. 280 IV EGV gestützten Verordnungen (EG) Nr. 1073/99 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25 . Mai 1999 44 sowie der Verordnung (Euratom) Nr . 1074/99 des Rates vom 25 . Mai 1999 45 • Diese gelten gern . Art . 9 des dem Vertrag von Lissabon beigefügten Protokolls über die Übergangsbestimm ungerr" bis auf weiteres fort . Da OLAF vorrangig zur Verbesserung der unionsinternen Kontrollmöglichkeiten geschaffen wurde, lassen die genannten Verordnungen die Vorgaben für die Durchführung von externen Ermittlungen praktisch unangetastet. Es bleibt dabei, dass die von den Kontrolleuren gesammelten Beweismittel in nationalen Strafverfahren gerichtsverwertbar sind . Neu ist, dass die Untersuchungen von OLAF nicht mehr von der Kommission, sondern unter der Verantwortung eines weisungsunabhängigen Direktors durchgeführt werden. Eine grundlegende Neuerung stellt die Umsetzung des Art . 325 AEUV (ex-Art. 280 EGV) in konkrete Aufgabenbeschreibungen für OLAF dar . Bedeutsame Änderungen ergeben sich vor allem im Bereich der unionsinternen
41
42
43 44 4S
46
Kuhl /Spitzer, EuR 2000, 671 , 673 ff.; ausf. Weitendorf, Interne Betrugsbekämpfung, S. 61 ff. v. BubnoJJ, ZE uS 2002 , 185, 196, 199; ausf. Weitendorf, Interne Betrugsbek ämpfung. S.117-152. v. BubnoJJ, Z EuS 2002 , 185, 200 ff ABlEG 1999 Nr . L 136, S. I ff. ABlEG 1999 Nr . L 136, S. 8 ff. ABIEU 2008 Nr . C 115, S. 322 .
A. Union als Rechtsnachfolgerin der EG
129
Betrugsbekämpfung'". So erhalten die OLAF-Kontolleure ohne Voranmeldung unverzüglich Zugang zu sämtlichen Informationen und Räumlichkeiten der Unionsorgane, Einrichtungen, Ämter und Agenturen, um deren Rechnungsführung überprüfen zu können . Das Gericht erster Instanz hat in seiner Entscheidung v. 2. Mai 2002 bestätigt, dass OLAF auch bei den Mitgliedern des EP Durchsuchungen zu Kontrollzwecken vornehmen darf, soweit hierdurch die Immunität der Parlamentarier nicht beeinträchtigt wird": Die Kontrolle der Tätigkeit von OLAF obliegt einem auf Art. 11 VO (EG) 24 Nr. 1073/99 bzw. VO (Euratom) 1074/99 basierenden Überwachungsausschuss, der sich aus fünf Persönlichkeiten zusammensetzt, die in ihren Ländern die Voraussetzungen erfüllen, um hochrangige Aufgaben in Zusammenhang mit dem Tätigkeitsbereich des Amt es wahrzunehmen. Sie werden vom Parlament, dem Rat und der Kommission im gegenseitigen Einvernehmen für eine Zeit von drei Jahren ernannt. Allein von diesen fünf Personen hängt es ab, wie gut die " Kontrolle der Kontrolleure" funktioniert oder ob diese Kontrollkonzeption neu überdacht werden muss'". Bedenklich muss das weitgehende Fehlen ausformulierter Rechte der Personen stimmen, die von dem unionsrechtlichen Vorermittlungsverfahren betroffen sind'". Hier sollte in absehbarer Zeit eine Nachbesserung erfolgen'" .
4. Europäisches Parlament a) Allgemeines Das Europäische Parlament (EP) fungiert als demokratisches Repräsentativor- 25 gan, welches die Völker der Mitgliedstaaten vertritt (Art. 14 EUV, 223-234 AEUV). Die Ursprünge des EP reichen in die 1950er Jahre zurück , jedoch wurde es erst 1979 erstmals von allen Bürgern der Mitgliedstaaten in allgemeiner Wahl gewählt. Im Zuge einiger Reformen wurde der Aufgabenkreis des EP als Organ der demokratischen Kontrolle auf Unionsebene sukzessive erweitert. Das EP tagt in allen drei "europäischen Hauptstädten" - Straßburg, Brüssel und Luxemburg. Jedoch finden die Plenartagungen, zu denen alle Abgeordneten zusammenkommen, in Straßburg - dem Sitz des Parlaments - statt. Die parlamentarischen Ausschüsse tagen in Brüssel , während das Generalsekretariat in Luxemburg angesiedelt ist. Dieser aufwändige "Wanderzirkus" ist weniger dem EP anzulasten als den beteiligten Mitgliedstaaten , die darum ringen , möglichst viel Präsenz der Unionsorgane auf ihrem Staatsgebiet zu erhaschen . Das Parlament wird alle fünf Jahre gewählt und besteht derzeit aus 736 Abgeordneten, die sich zu länderübergreifenden Fraktionen zusammengeschlo ssen haben . Diese repräsentieren die in den Mitgliedstaaten der Union vertretenen großen politischen Richtungen .
47 48 49 50
51
Gieß, EuZW 1999, 618, 619; Hetzer, Kriminalistik 2005, 419, 420. EuG Rs T - 17/00 v. 2. Mai 2002 ("Rothley/Parlam ent"), Slg. 2002, 11-579, Rn. 66 ff: Gieß, EuZW 1999, 618, 620 f. Gieß , EuZW 1999,618,620 f.; ausf. Weitendorf, Interne Betrugsbekämpfung , S. 166238. Vgl. hierzu Weitendorf, Interne Betrugsbekämpfung, S. 249 ff.
130
§ 4 Europäische Union
b) Aufgaben des Europäischen Parlaments 26 Das EP hat im Wesentlichen die folgenden Aufgaben: -
Ausübung demokratischer Kontrolle über die Unionsorgane, Ausübung von (mit dem Rat geteilter) gesetzgebender Gewalt, Mitwirkung bei der Verabschiedung des Haushalts, Zustimmung bei bestimmten völkerrechtlichen Vertr ägen , Zust immung zur Aufnahme neuer Mitgliedstaaten , Zustimmung zur Benennung neuer Kommissionsmitglieder.
27 Das EP übt durch sein Zustimmungsvotum eine demokrati sche Kontroll e über die Kommi ssion , die Ernennung des Präsidenten und der Kommi ssion smitglieder aus . Auch nach ihrem Amtsantritt ist die Kommission dem EP gegenüber politisch verantwortlich, das ihr das Misstrauen aussprechen und sie so zum Rücktritt zwingen kann (Art . 234 AEUV) . Im Allg emeinen übt das EP seine Kontrolle durch die regelmäßige Prüfung der Berichte aus, die ihm von der Kommission vorgelegt werden . Darüber hinau s richten die Abgeordneten regelm äßig schriftliche oder mündliche Anfragen an die Kommission. Die Mitglieder der Kommi ssion nehmen an den Plenartagungen des Parlaments und an den Sitzungen der parlamentarischen Ausschüsse teil, was einen ständigen Dialog beider Organe ermöglicht. Die parlamentarische Kontrolle erstreckt sich auch auf den Rat. Die Abgeordneten richten regelmäßig schriftliche oder mündliche Antragen an den Präsidenten des Rates, der an den Plenartagungen und an wichtigen Debatten teilnimmt. Auf einigen Gebieten wie z. 8. der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspoli28 tik, der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit sowie in Fragen von gemein samem Intere sse - Asylpolitik, Einwanderung, Bekämpfung von Drogensucht, internationale Betrugs- und Verbrechensbek ämpfung - hat sich eine enge Zusammenarbeit zwi schen EP und Rat entwickelt. Zu diesen Fragen wird das EP regelm äßig vom Präsidenten des Rates informiert. Schließlich wird der Präsident des EP zur Eröffnung jeder Tagung des Rates eingeladen, wo er die Standpunkte und Anliegen des Parlaments in Bezug auf aktuelle Probleme und Themen, die auf der Tagesordnung des Europäischen Rates stehen , zur Sprache bringen kann . Die Prüfung der von Bürgern eingereichten Petitionen und die Einsetzung nicht ständiger Unter suchungsaus schü sse bilden weitere Kontrollmöglichkeiten des EP. 29 Das EP ist mit dem Rat an der Ausarbeitung und Annahme der Rechtsvorschriften beteiligt, die von der Kommi ssion vorgeschlagen werden . Am häufig sten - so auch in der Justizpolitik (Art . 82 ff. AEUV) - gelangt das ordentliche Gesetzgebungsverfahren (Art. 289 AEUV) zur Anwendung, in dem gemeinsame Rechtsakte des Rates und des EP erlassen werden (Mitentscheidungsverfahren gern. Art . 294 AEUV ; ex-Art. 251 EGV). Können sich die beiden Organ e nicht einigen , so wird ein Vermittlungsausschuss einberufen, der einen Kompromissvorschlag ausarbeitet. Billigt der Vermittlungsausschuss keine gemeinsamen Entwurf, so gilt der vorge schlagene Rechtsakt als nicht erla ssen (Art . 294 XII AEUV) . Die Zustimmung des Parlaments ist auch unerläs slich , wenn es um besonders wichtige politische oder institutionelle Fragen geht, z. 8. Beitritt neuer
A. Union als Rechtsnachfolgerin der EG
131
Mitgliedstaaten, Abschluss von Assoziierungsabkommen mit Drittstaaten oder von internationalen Übereinkommen, Verfahren der Wahlen zum EP, Aufenthaltsrecht der Unionsbürger sowie Aufgaben und Befugnisse der EZB. Mit der Einführung des Mitentscheidungsverfahrens durch den Vertrag von 30 Maastricht (1992) und dessen Ausweitung durch die Verträge von Amsterdam (1997) und Lissabon (2009) wurde das Gewicht des EP im Rahmen des unionsrechtlichen Gesetzgebungsverfahrens zweifellos gest ärkt'<. Gleichwohl ist das EP nicht im gleichen Umfang wie die mitgliedstaatliehen Parlamente in der Lage , demokratische Legitimation zu vermitteln. Das Hauptrechtsetzungsorgan der Union ist nach wie vor der Rat, welcher der Exekutive zuzurechnen ist. Insbesondere fehlt dem EP das Initiativrecht und somit die konstruktive Gestaltungsmöglichkeit auf dem Gebiet der Gesetzgebung. Dieses Initiativrecht hat auf EU-Ebene nur die Kommission, die aber immerhin vom EP zu dessen Ausübung aufgefordert werden kann (Art. 225 AEUV). Im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren kann das EP den Erlass eines Recht saktes zwar verhindern, aber nicht erzwingen. Soweit lediglich das Anhörungs-, Zusammenarbeits- oder Zustimmungsverfahren vorgesehen ist, verfügt das EP nicht einmal über diese "destruktive" Gest altungsmacht. Dass somit der Rat in einigen Bereichen ohne das EP, das EP aber niemals ohne den Rat Recht setzen kann , best ätigt das nach wie vor bestehende Demokratiedefizit auf Unionsebene'". Auch nach Inkrafttreten des Reformvertrages von Lissabon hat die Union noch keine Ausgestaltung erfahren, die dem Legitimationsniveau einer staatlich verfassten Demokratie entspricht'<. Damit stoßen auch etwaige Pläne für die Schaffung supranationaler Strafgesetze auf unionsverfassungsrechtliche Grenzen . Solange das EP nicht zu einem echten Legislativorgan ausgebaut ist, bestehen Zweifel an der Existenz einer für die supranationale Strafgesetzgebung ausreichenden demokratischen Legitimation'". Die Klärung dieses Grundsatzproblems hängt freilich von der umstrittenen Vorfrage ab, wie man den Satz " nullum crimen sine lege parlamentaria" - nach h. M. ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Union srechts - materiell ausfüllt".
52
53
54
55
56
Bauer, Politikfeld Inneres und Justiz, S. 111 ff.; Fromm , EG-Recht ssetzung sbefugni s, S. 71 ff.; Sieber, ZStW 121 (2009), S. 1,57 f.; Suhr , ZEuS 2009, 687, 692 Ir Braum , ZIS 2009, 4 I8, 42 I ff.; Deutscher, Kompetenzen, S. 3 I7 ff.; Everling, in: v. ß ogdandy (I-Irsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 866; Meyer, Demokrati eprin zip, S. 15 ff.; Satzge r, Europäisierung, S. 122 ff.; Schünemann, in: ders. (Hrsg.), Gesamtkonzept , S. 95 ff.; Rosenau , ZIS 2008, 9, 18 f. BVerfG NJW 2009, 2267, 2277; vgl. hierzu Böse, ZIS 2010, 76, 82 ff. zu dem Beitrag des EP zur demokrati schen Legitimat ion der EU-Rechtssetzung. Vgl. hierzu auch Albrechtl ßraum, KritV 1998,460,471; Hilgendorf, in: FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät. 2002, S. 333, 34 I; Ligeti, Strafrecht in der EU, S. 29 ff., 36 ff.; Lüderssen, GA 2003,71 ,84; Vog el, GA 2002,517,525 ; Weigend, ZStW 105 (1993), S. 774, 800; ders ., StV 2001, 62, 67. Vgl. hierzu Böse, GA 2006, 211, 216 ff.; Satzger, Europäisierung, S. 128 ff. m. w. N.
132
§ 4 Europäische Union
c) Strafrechtsrelevante Aktivitäten des Europäischen Parlaments 31 Mangels Initiativrechts im Bereich der Unionsrechtsetzung ist es dem Europä ischen Parlament (EP) nicht möglich, strafrechtsrelevante Rechtsakte in das europäische Rechtsetzungsverfahren einzubringen. Das EP hat sich aber immer wieder in Form von Entschließungen zu Fragen der Kriminalpolitik geäußert. Exemplarisch ist hinzuweisen auf die Entschließung des EP v.:
- 7. März 1977 zum Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und Strafrecht'", - 16. März 1984 zur Anwendung de s Grundsatze s "Ne bis in idern" innerhalb der EG58, - 24 . Oktober 1991 zum rechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der EG59, - 24 . Januar 1994 zur Bekämpfung der Betrügereien im internationalen Maß -
stab'" ,
- 6. April 1998 zur justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in der EU61, - 17. Mai 200 I zu der Mitteilung der Kommission an den Rat und das EP zur ge genseitigen Anerkennung von Endentscheidungen in Strafsachens-, - 31 . März 2004 zur Europäischen Beweisanordnung'", - 8. Mai 2006 über die Folgen des Urteils de s Gerichtshofs v. 13. September 2005 (Rs. C- 176/03 , Komrnission/Ratj'", - 29 . November 200 7 zu dem Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Au sdruckswei sen von Rassismus und Frerndenfeindlichkeit" , - 21 . Oktober 2008 zu dem Entwurf eines Rahmenbeschlusses des Rates über die Europä ische Beweisanordnung zur Er langung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen'< - 24 . März 2009 zur Bekämpfung der Genitalverstümmelung bei Frauen in der EU67, - 10. Februar 20 I0 zur Verhütung de s Menschenhandels'".
57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68
ABlEG 1977 Nr. C 57, S. 55. ABlEG 1984 Nr. C 104, S. 133. ABlEG 1991 Nr. C 305, S. 106. ABlEG 1994 Nr. C 20, S. 185. ABlEG 1998 Nr. C 104, S. 267. Vgl. KOM (2000) 495 endg. ABlEG 2004 Nr. C 103, S. 658. Sitzungsdokument A6-0172/2006. ABIEU 2008 Nr. C 297 E, S. 125. Sitzungsdokument A6-0408/2008. Sitzungsdokument A6-0054/2009. Sitzungsdokument B7-0029/20 IO.
A. Union als Rechtsnachfolgerin der EG
133
5. Gerichtshof der Europäischen Union a) Allgemeines Der Gerichtshof der Europäischen Union (Art . 19 EUV , 251-281 AEUV) umfasst 32 den Gerichtshof (EuGH), das Gericht (bisher: EuG) und Fachgerichte (bisher: gerichtliche Kammern). Seine Aufgabe ist es, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern. Um die seit seiner Gründung im Jahre 1952 stetig wachsende Prozessflut'" besser bewältigen und gleichzeitig den Rechtsschutz für die Bürger verbessern zu können, wurde ihm durch Ratsbeschluss von 1988 das Gericht erster Instanz (EuG) beigeordnet. Dieses entscheidet in erster Instanz über bestimmte Rechtsstreitigkeiten, insbesondere über die Klagen von Einzelpersonen"? und in Wettbewerbssachen. Sitz des Gerichtshofes ist Luxemburg. Aufgrund eines Ratsbeschlusses aus dem Jahre 1999 und einer Änderung der Verfahrensordnung des Gerichts erster Instanz können bestimmte Fälle ohne besondere Komplexität auch einem Einzelrichter übertragen werden . Dem EuG H gehören nach der im Jahre 2007 erfo lgten EU-Erwe iterung 27 33 Richter an. Ihre Zahl wird gern . Art . 254 AEUV in der Satzung des Gerichtshofs festgelegt. Ihm stehen acht Generalanwälte zur Seit e, deren Aufgabe es ist, in voller Unparteilichkeit und Unabhängigkeit öffentlich Schlussanträge zu den Rechtssachen, mit denen der Gerichtshof befasst ist, zu ste llen und zu begründen (Art. 252 AEUV) . Die Richter und Generalanwälte werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten in gegenseitigem Einvernehmen auf sechs Jahre ernannt (Art. 253 I AEUV) . Eine Wiederernennung ist zulässig . Alle drei Jahre findet eine teilweise Neubesetzung der Richterämter satt. Ernannt werden entweder hoh e Richter oder sonst hervorragend befähigte Juristen, die jede Gewähr für Unabh ängigkeit bieten. Der Gerichtshof und das Gericht wählen jeweils aus ihrer Mitte ein en Präsidenten für die Dauer von drei Jahren.
b) Aufgaben des Gerichthofes Die zentralen Aufgaben des EuGH lassen sich wie folgt zusammenfassen:
34
- Auslegung der Union sverträge , - Fortbildung des Unionsrechts, - Kontrolle der Unionsrechtsakte auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Unionsrecht, - Kontrolle des Verh altens der Mitgliedstaaten am Maßstab des Unionsrechts. Damit der Gerichtshof seinen Auftrag, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung 35 und Anwendung der Verträge zu sichern, erfüllen kann , wurde er mit bestimmten Rechtsprechungsbefugnissen ausgestattet, die sowohl eine Reihe von Klagearten als auch das Verfahren für den Erlass von Vorabentscheidungen betreffen?" : 69 70 71
Vgl. hierzu Middeke, Europäischer Rechtsschutz, § 3 Rn. 1. Vgl. hierzu Middeke, Europäischer Rechtsschutz, § 9 Rn. 1 ff Vgl. hierzu Burgi , Europäischer Rechtsschutz, § 5 Rn. 1 ff.
134
§ 4 Europäische Union
c) Klage- und Verfahrensarten aa) Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) 36 Das in der Praxis wohl wichtigste Verfahren vor dem Gerichtshof ist in Art . 267 AEUV (ex-Art. 234 EGV) geregelt (ausführlich hierzu § 6)72. Danach entscheidet der EuG H im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung der Verträge (Primärrecht), über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union (Sekundärrecht). Wird eine derartige Frage dem Gericht eines Mitgliedstaates gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Geri chtshof zur Entscheidung vorlegen (Art . 267 11 A EUV) . Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, sind zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet (Art . 267 111 AEUV) . Die nationalen Gerichte müssen also prüfen, ob die Auslegung des Unionsrechts für die konkrete Urteilsfindung entscheidungsrelevant ist. Der Gerichtshof entscheidet unmittelbar nur über die Auslegung oder die Gültigkeit von Unionsrecht. Daher ist die Frage nach der Vereinbarkeit nationalen Rechts mit Unionsrecht kein tauglicher Vorlagegegenstand. Es ist allein Sach e der nationalen Gerichte, aus der Vorabentscheidung des Gerichtshofs die rechtlichen Schlussfolgerungen zur Unionsrechtskonformität des nationalen Rechts zu ziehen. 37 Durch den Vertrag von Amsterdam (1997) wurde die Vorabentscheidungszuständigkeit des Gerichtshofs erweitert, indem ex-Art. 35 I EUV dem EuGH die Zuständigkeit zuwies, über die Gültigkeit und Auslegung von Rahmenbeschlüssen, sonstigen Beschlüssen und Übereinkommen nach Titel VI des früheren Unionsvertrages (PJZS) zu entscheiden. Dies galt freilich nur für diejenigen Staaten, die - wie die Bundesrepublik Deutschland - von der gern. ex-Art. 35 11 EUV eröffneten Möglichkeit des "opt-in" Gebrauch gemacht haben" . Da der Vertrag von Lissabon die bisher für den Bereich der PJZS bestehenden Sonderregelungen streicht, sind in Zukunft alle aus dem Gemeinschaftsrecht bekannten Klagearten nach Art . 258 ff. AEUV anwendbar. Zu beachten ist jedoch, dass nach Art. 10 1111 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen" für Rechtsakte der PJZS, die vor Inkrafttreten des Reformvertrages angenommen und danach nicht mehr verändert wurden, eine Übergangsfrist von fünf Jahren (ab Inkrafttreten des Reformvertrags) angeordnet ist, innerhalb derer ex-Art. 35 EUV weiter gilf", bb) Vertragsverletzungsklagen (Art . 258 , 259 AEUV) 38 Diese Klageart ermöglicht es dem Gerichtshof zu prüfen, ob die Mitgliedstaaten ihren unionsrechtlichen Verpflichtungen nachgekommen sind ". Die Klage kann 72
73
74
7S 76
Vgl. hierzu Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 237 ff.; Jok isch, Gemein schaftsrecht und Strafverfahren, S. 171 ff. ; Middeke , Europäischer Recht sschut z, § 10 Rn. 1 Ir Vgl. hierzu EuGI-IG v. 6. Augu st 1998; in Kraft getreten am I. Ma i 1999 (BGBI. I 1998,2035). AB1EU 2008 Nr . C 115, S. 322. Vgl. hierzu Suhr, ZEuS 2009 , 687 , 695 ; Zimm ermann , Jura 2009 ,844. Burgi, Europäischer Recht sschutz, § 6 Rn. 1 ff.
A. Union als Rechtsnachfolgerin der EG
135
entweder von der Kommission - praktisch der Hauptanwendungsfall - oder von einem Mitgliedstaat erhoben werden . Jeder Mitgliedstaat muss sich dabei die Verstöße seiner Organe zurechnen lassen, so dass sich die Klage immer gegen den Mitgliedstaat als solchen und nicht etwa gegen die nationale Behörde oder das Gericht richtet , dem eine Verletzung des Unionsrechts angelastet wird. Im Zusam menhang mit strafrechtlichen Fragen kommt ein Vertragsverletzungsverfahren vor allem in Betracht, wenn es ein Mitgliedstaat versäumt hat, die erforderlichen Sanktionsgesetze zum Schutze der Rechtsgüter und Interessen der EU zu erlas sen?". An lass für die Erhebung einer Vertragsverletzungsklage kann aber auch die nicht im Einklang mit Unionsrecht stehende Auslegung oder Anwendung von innerstaatlichen Normen des Straf- und Strafv erfahrensrechts sein. Dem Hauptverfahren vor dem EuGH ist ein obligatorisches Vorverfahren vorgeschaltet, an dessen Ende eine begründete Stellungnahme der Kommission steht, in welcher der Mitgliedstaat unter Fristsetzung zur Beseitigung der Unionsrechtsverletzung aufgefordert wird . Kommt der Mitg liedstaat dieser Aufforderung nicht nach, "kann" die Kommission nach Art. 258 " AEUV Klage erheben, wobei ihr Ermessensspielraum nach h. M. dergestalt beschr änkt ist, dass von einer Klageerhebung nur bei Bagatellfallen oder aus Gründen wichtiger Unionsopportunität abgesehen werden darf". Am Ende des Hauptverfahrens steht ein Feststellungsurteil, mit weIchem der EuGH ausspricht, ob die gerügte Verletzung von Unionsrecht vorliegt oder nicht. Stellt der Gerichtshof die behauptete Vertragsverletzung fest, so ist der betroffene Staat nach Art. 260 I AEUV verpflichtet, sie unverzüglich abzu stellen . Ergreift der Staat die sich aus dem Urtei l des EuGH ergebenden Maßnahmen nicht, so kann die Kommission erneut den Gerichtshof anrufen, welcher gern. Art. 260 " UA 2 AEUV sogar die Möglichkeit hat, ein Zwangsgeld gegen den säumigen Staat zu verhängen . cc) Nichtigkeitsklagen (Art . 263 , 264 AEUV) Mit diesen Klagen können Mitgliedstaaten, Rat, Kommission und EP die Nichtig- 39 erklärung von Rechtsakten der Gemeinschaft oder von Teilen dieser Rechtsakte beantragen". Natürliche oder juristische Personen können die Nichtigerklärung von Rechtsakten fordern , die sie unmittelbar und individuell betreffen'". Der Gerichtshof kann auf diese Weise die Rechtmäßigkeit der Handlungen der Unionsorgane überprüfen . Ist die Klage begründet, so wird die angefochtene Handlung für nichtig erklärt. dd) Untätigkeitsklagen (Art . 265 AEUV) In Ergänzung zu den Nichtigkeitsklagen betreffen die Untätigkeitsklagen einen 40 Unterfall der Vertragsverletzung durch die Unionsorgane'" . Ein Fall der Untätig keit liegt vor, wenn das EP, der Rat, die Kommi ssion oder die EZB vertragswidrig 77
78 79
80 81
Vgl. nur EuG HE 1989, 2965 Ir = EuZ W 1990 , 99 ("Griech isch er Ma is") mit Anm. v. Bleckmann, WuR 1991 , 285 und Tiedemann, EuZ W 1990, 100. Burgi , Europä ische r Rechtsschutz, § 6 Rn. 24 . Burgi, Europäi scher Rechtsschutz, § 7 Rn . I ff. Vgl. zum Rechtsschutz gegen EG-Verordnungen Röhl , Ju ra 2003 ,830. Burgi, Europäi scher Rechtsschutz, § 8 Rn . I ff.
136
§ 4 Europäische Union
keinen Beschluss fassen . Dann können die Mitgliedstaaten, die anderen Unionsorgane und unter bestimmten Umständen auch natürliche oder juristische Personen den Gerichtshof anrufen, um die Unrechtmäßigkeit dieses Nichthandelns feststellen zu lassen . Die Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen, deren Untätigkeit als vertragswidrig erklärt worden ist, haben die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergebenden Maßnahmen zu ergreifen (Art . 266 I AEUV).
d) Strafrechtsrelevante Aktivitäten des EuGH 41 Schon seit jeher befleißigt sich der EuGH bei seiner Judikatur einer autonomen (von den Begriftlichkeiten der nationalen Rechtsordnungen gelösten) und dynamischen - am Wirksamkeitsprinzip ("effet utile") und an der .J mplied powers''Doktrin ausgerichteten - Vertragsauslegung. Dies gilt namentlich auch für die Bestimmung des Einflusses des früheren Gemeinschaftsrechts auf das Strafrecht. So bejahte der Gerichtshof eine strafrechtliche Anweisungskompetenz der EG (§ 8), arbeitete den Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Strafrecht heraus (§ 9) und statuierte ein Gebot zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nationaler Stratbestimmungen (§ 10). Aus ex-Art. 10 EGV formte er das Assimilierungsprinzip (§ 7), das zu einer Indienststellung des nationalen Strafrechts zugunsten von Gemeinschaftsinteressen führt . In einer Reihe von Urteilen betonte der Gerichthof, dass die Strafgerichte zu einer das Gemeinschaftsrecht fördernden Ausgestaltung, Auslegung und Weiterentwicklung ihres nationalen Prozessrechts verpflichtet sind 82 • Im Bereich des früheren Unionsrechts glich er - gestützt auf die Zuständigkeitsbestimmung des ex-Art. 35 I EUV - die Wirkweise von Rahmenbeschlüssen weitgehend derjenigen von Richtlinien an und konkretisierte das transnationale Doppelbestrafungsverbot des Art. 54 SDÜ (§ 13). Von Teilen der Literatur wurde die Rolle des EuGH als .Ersatzverfassungsgeber" der EU sehr kritisch gesehen'". Der Vertrag von Lisabon stellt nunmehr die europaverfassungsrechtlichen Grundlagen zur Verfügung, die der EuGH bereits aus den früheren Verträgen (EGV /EUV) abgeleitet har". Auf die Bedeutung und Funktion des Zusammenspiels zwischen EuGH und nationalen Gerichten im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens - ein zentraler Faktor der Europäisierung des Strafrechts - wird noch ausführlicher einzugehen sein (§ 6).
6. Europäischer Rechnungshof a) Allgemeines 42 Der Rechnungshof (Art . 285-287 AEUV) nimmt die Rechnungsprüfung der Union wahr. Er wurde im Jahre 1975 im Zuge der Überarbeitung der haushaltsrechtlichen Vertragsbestimmungen geschaffen und war seit dem Inkrafttreten des Ver82 83
84
Vgl. nur EuGHE 1990,2879; 2003, 3735. Vgl. hierzu exempl. Hefendehl , ZIS 2006, 161 ff.; Pohl, ZIS 2006, 213 Ir; Rackow , ZIS 2008, 526 ff.; Satzger , KritV 2008, 17 ff.; Weißer, ZIS 2006, 562 ff. Vgl. hierzu Hecker, lurratio 2009, 81 ff.; Kubiciel , GA 2010, 99, 101 ff.; Suhr , ZEuS 2009,687,698 ff.
A. Union als Rechtsnachfolgerin der EG
137
trages von Maastricht (1993) ein vollwertiges Organ der früheren EG. In der Folge des Vertrages von Amsterdam wurden im Jahre 1999 die Kontroll- und Untersuchungsbefugnisse des Rechnungshofs ausgedehnt, um eine wirksamere Bekämpfung von Betrügereien und Unregelmäßigkeiten zum Nachteil des Gemeinschaftshaushalts zu ermöglichen. Sitz des Rechnungshofs ist Luxemburg. Der Rechnungshof besteht derzeit aus 27 Mitgliedern, die vom Rat nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig auf sechs Jahre ernannt werden .
b) Aufgaben des Rechnungshofes Die Hauptaufgabe des Rechnungshofes besteht darin , die wirtschaftliche Ausfüh- 43 rung des Haushaltsplan s der Union zu kontrollieren, also die Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit der Einnahmen und Ausgaben zu prüfen . Er gew ährleistet ferner die Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung und trägt damit zur Wirksamkeit und Transparenz des Unionssystems bei. Der Rechnungshof unterstützt die Haushaltsbehörden (EP und Rat) durch Vorlage eines j ährlichen Berichts , in dem er zum abgeschlossenen Haushaltsjahr Stellung nimmt. Dieser Bericht stellt eine entscheidende Grundlage für den Beschluss des EP über die der Kommission zu erteilende Entlastung für ihre Haushaltsführung dar. Die Mitarbeiter des Rechnungshofs fuhren Prütbesuche bei anderen Organen, in den Mitgliedstaaten und in allen Drittstaaten durch , die Zahlungen aus dem Unionshaushalt erhalten. c) Strafrechtsrelevante Aktivitäten des Rechnungshofs Die Prüfer des Rechnungshofs kontrollieren die Belege der Rechnungsvorgänge 44 und können auch Prütbesuche vor Ort bei den verwalt enden Stellen und den Begünstigten der Unionshilfen durchführen. Im Allgemeinen dauern diese Prütbesuehe in den Mitgliedstaaten ein bis zwei Wochen und werden gemeinsam mit den nationalen Rechnungsprüfungsorganen oder den zuständigen Behörden durchgefuhrt . Der Kontrollbericht muss sämtliche Informationen beinhalten, die aus den Überprüfungen hervorgegangen sind . Er muss insbesondere die in dem geprüften nationalen oder lokalen System entdeckten Schwachstellen benennen , die festgestellten Fehler , Unregelmäßigkeiten und Betrugsdelikte aufzeigen und Vorschläge für das weitere Vorgehen enthalten. Der Rechnungshof besitzt keine eigen en Exekutivbefugnisse. Entdecken die Prüfer Hinweise auf Betrugsfälle bzw. decken sie tatsächliche Betrügereien oder Unregelmäßigkeiten auf, werden die zuständigen Unionsorgane hiervon so rasch wie möglich in Kenntnis gesetzt, damit diese die geeigneten Maßnahmen ergreifen können .
138
§ 4 Europäische Union
111. Rechtsquellen und Charakteristika der Unionsrechtsordnung 1. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 45 Die Unionsre chtsordnung beruht zwar auf ein er völkervertragsrechtliehen Grundlage, hat sich aber zu einer autonomen Rechtsordnung entwicke lt" . Entsche idend ist, dass die Mitgliedstaaten der Union Hoheitsrechte zugewiesen und den Unionsorganen die Befugnis zu eigenständiger Rechtsetzung übertragen hab en. Die Union verfugt aber nicht über eine souveräne Staatlichkeit mit unbegrenzter Rechtsetzungsgewalt. Vielmehr erfolgt die Kompetenzaufteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art . 5 I, 11 EUV). Danach wird die Union nur innerhalb der Grenzen der ihr zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig . Alle der Union nicht übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten. Das EinzeIermächtigungsprinzip legt fest , dass die Unionsorgane für jeden Rechtsakt eine ausdrückliche oder zumindest im Wege der Vertragsauslegung nachweisbare Ermächtigungsgrundlage ben ötigen. Das Prim ärrecht (Rn . 48) bildet mithin Grundlage und Rahmen der EU-Rechtsetz ungsgewalt, steckt aber auch deren Grenzen ab . 46 Die Tätigkeitsbereiche der Union sind in Art . 3, 6 AEUV (au sschließliche Zuständ igke it) und Art . 4-5 A EUV (geteilte Zuständigkeit) im Einze lnen festgeschrieben'". Im ausschließlichen Zuständigkeitsbereich der Union kann nur die Union gesetzgeberisch tätig werden und verb indliche Rechtsakte erlassen (Art. 2 I A EUV) . Hierzu gehören nach Art . 3 I A EUV namentlich die Bereiche Zollunion (Iit. a), Wettbewerbsregeln für den Binnenmarkt (Iit. b), Währungspolitik (Iit. c), Erhaltung der biologischen Meeresschätze (Iit. d), Handelspolitik (Iit. e), Abschluss internationaler Übereinkünfte (Art. 3 11 AEUV) sowie be stimmte Durchführungsrnaßnahrnen (Art. 6 AEUV). Die Union teilt ihre Zu ständigkeit mit den Mitgliedstaaten, wenn ihr die Verträge außerhalb der in Art . 3, 6 AEUV genannten Bereichen eine Zuständigkeit übertragen (Art . 4 I AEUV). In den Bereichen der geteilten Zuständigkeit nehmen die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit wahr, sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat (Art . 2 11 S. 2 A EUV) . Die derart get eilte Zuständigkeit erstreckt sich nach Art . 4 11 A EUV auf die Bereiche Binnenmarkt (Iit. a), Sozialpolitik (Iit. b), wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt (Iit. c), Landwirtschaft und Fischerei (Iit. d) , Umwelt (Iit. e), Verbraucherschutz (Iit. f), Verkehr (Iit. g), transeuropäische Netze (Iit. h), Energ ie (Iit. i), Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Iit. j) , gemeinsame Sicherheitsanliegen im Bereich der öffentlichen Gesundheit (Iit. k) sowie Koordination der Wirtschaftspolitik innerhalb der Union (Art . 5 A EUV). Den Unionsorganen steht ein umfassendes, aus einzelnen Vertragsnormen bestehendes Kompetenzmosaik zur VerfLigung, wobei sich Ges etzgebungskompetenzen nicht selten aus relativ weit gefassten Vorgaben zur Aufgabenerfüllung bzw . zur Erreichung bestimmter Ziele (sog . finale Kompetenzzuweisungen) ergeben. So können 85
86
EuGHE 1964, 1251 , 1269; BVerfG NJW 2009,2267,2271 ,2273 ; Satzger, Europäisierung, S. 36 ff. Vgl. den Überblick von May er, JuS 2010, 189, 192 ff.
A. Union als Rechtsnachfolgerin der EG
139
beispielsweise nach Art . 40 11 AEUV alle zur Durchführung der gemeinsamen Agrarpolitik (Art . 39 AEUV) "erforderlichen" Maßnahmen ergriffen oder gern. Art . 91 I lit. d AEUV alle "zweckdienlichen" Vorschriften zur DurchfLihrung der gemeinsamen Verkehrspolitik erlassen werden . Aus strafrechtlicher Sicht ist Art. 325 IV AEUV von besonderem Interesse, wonach der Rat und das EP die "erforderlichen" Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien beschließen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten . Eine sog . "Kompetenz-Kompetenz", also die Befugnis, die eigene Kompetenz zu erweitern , besitzt die Union (wie die früh ere EG) aber nicht" Die umfassendsten und in der Praxis wichtigsten Einzelermächtigungen des 47 AEUV sind in Art. 114 , 115 A EUV (ex- Art . 95 , 94 EGV) niedergelegt. Diese Bestimmungen stauen die Union mit der Befugnis aus , beliebige Sachbereiche zu regeln, soweit dies für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes erforderlich ist. Auch das mitgliedstaatliche Strafrecht ist von der in diesen Artikeln verankerten Harmonisierungskompetenz nicht ausgenomrnen'". Zu beachten ist freilich , dass die Art. 114, 115 AEUV lediglich eine Rechtsangleichungsbefugnis verleihen, die nicht mit einer Rechtssetzungskompetenz gleichgesetzt werden darf. Die Rechtsquellen der Unionsrechtsordnung unterteilt man in primäres und sekundäres Unionsrecht.
2. Primäres Unionsrecht An der Spitze Normenhierarchie steht das primäre Union srecht, das die Verträge 48 (EUV/AEUV) einschließlich ihrer Protokolle, Anhänge und Erklärungen, die GRCh (Art . 6 I EUV) sowie Rechtsquellen gleichen Ranges umfasst. Alle primärrechtlichen Rechtsakte stehen auf derselben hierarchischen Ebene. Für ihr Verhältnis untereinander gilt der Vorrang der lex posterior und der lex specialis. Das geschriebene Prim ärr echt wird ergänzt durch ungeschriebenes Unionsrecht in Form allgemeiner Rechtsgrundsätze, deren Existenz von Art . 340 11 AEUV (exArt. 288 11 EGV) vorausgesetzt wird. Von herausragender Bedeutung ist die Ausformung allgemeiner Recht sgrundsätze im Dienste eine s union srechtiichen Grundrechtsstandards durch die Rechtsprechung des EuGH. Grundlage hierfür bildet der Rückgriff auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und die Gew ährleistungen der EMRK. Wichtige Grundsätze wie das Willkürverbot'" , Verh ältnism äßigkeits-P", Vertrauensschutz-?' und Rechtssicherheitsprinzip'<
87
88
89 90 91 92
BVerfGE 75, 223, 242; 89,155, 194; NJW 2009, 2267, 2272; Deutscher, Kompetenzen, S. 204 f.; Satzger, Europäisierung, S. 33. Dannecker, Jura 1998, 79, 81; Deutscher, Kompetenzen, S. 210 f.; Dieblich. Rechtsgüter der EG, S. 276; Satzger, Europäisierung, S. 419 ff., je w. m. w. N. EuGI-IE 1978, 1991. EuGHE 1979, 677. EuGHE 1978, 169. EuGHE 1983, 2633.
140
§ 4 Europäische Union
sowie das Verbot der Mehrfachverfolgung derselben Tat 93 haben auf diese Weise Einzug in das Unionsrecht gehalten. Die Judikatur des EuGH ist in Art . 6 III EUV (ex-Art. 6 II EUV) festgeschrieben und bekräftigt worden . 49 Das Primärrecht gilt in allen Mitgliedstaaten unmittelbar und genießt gegenüber dem nationalen Recht Anwendungsvorrang, d. h., in unionsrechtlich geregelten Bereichen werden nationale Regelungen (einschließlich Strafbestimmungen) verdrängt. Dem nationalen Recht wird damit nicht etwa (wie verfassungswidrigen Gesetzen in Deutschland) die Wirksamkeit abgesprochen - es ist lediglich unanwendbar. Der Grundsatz des Anwendungsvorranges ist einer der zentralen Faktoren für die Europäisierung des mitgliedstaatliehen Strafrechts (§ 9).
3. Sekundäres Unionsrecht 50 Das Sekundärrecht umfasst die Rechtsakte der Unionsorgane (EP und Rat; vgl. Art. 14 I, 16 I EUV) , die aufgrund und nach Maßgabe der Unionsverträge erlassen worden sind . In Art . 288 UA 2-5 AEUV sind die nachfolgend erläuterten Handlungsformen aufgeführt.
a) Verordnungen (Art. 288 UA 2 AEUV) 51 Verordnungen sind unmittelbar gültig und in allen Mitgliedstaaten rechtlich verbindlich, ohne dass es hierzu nationaler Umsetzungsmaßnahmen bedarf. Damit ist die sog. .D urchgriffswirkung" der Verordnung und ihre unmittelbare Anwendbarkeit in den Mitgliedstaaten primärrechtlich festgeschrieben. Aufgrund ihrer abstrakt-generellen Regelungswirkung kommt der Verordnung Rechtssatzqualität zu, weswegen sie auch als "Europäisches Gesetz" bezeichnet wird . Nach h. M. besteht keine Befugnis der Union, kriminalstrafrechtliche Regelungen im Wege einer Verordnung zu erlassen (Rn . 67 ff.). Eine Ausnahme hiervon ist die aus Art . 325 IV AEUV abzuleitende Kompetenz zur Schaffung echten Unionsstrafrechts zum Schutz der finanziellen Interessen der Union (Rn. 80).
b) Richtlinien (Art. 288 UA 3 AEUV) 52 Richtlinien binden die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die innerhalb einer bestimmten Frist zu erreichenden Ziele , überlassen den innerstaatlichen Stellen jedoch die Wahl der Form und Mittel , mit denen diese Ziele erreicht werden sollen . Sie müssen entsprechend den einzelstaatlichen Verfahren in nationales Recht umgesetzt werden . Art . 288 UA 3 AEUV geht somit von einem zweistufigen Verfahren aus . Durch den Erlass der Richtlinie wird zunächst ein direktes Ptlichtenverhältnis zwischen der Union und dem Mitgliedstaat als Richtlinienadressat hergestellt. In einem zweiten Schritt müssen die Mitgliedstaaten durch nationale Maßnahmen dafür sorgen , dass die inhaltlichen Zielvorgaben der Richtlinie effektiv
93
EuGHE 1966, 153, 178; 1984, 4177; Satzger, Europäisierung, S. 178, 686; Spannowsky, JZ 1994, 326, 334.
A. Union als Rechtsnachfolgerin der EG
141
umgesetzt werden?'. Die Umsetzung der Richtlinienvorgabe kann in Form eines nationalen Legislativaktes (Gesetz, Rechtsverordnung), aber auch im Wege einer richtlinienkonformen Interpretation bestehender innerstaatlicher Rechtsvorschriften erfolgen, soweit dies Rechtsdogmatik und nationales Verfassungsrecht zulassen (§ 10). Auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist vermag die Richtlinie ab dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens (Art . 297 11 UA 2 AEUV) gewisse Rechtswirkungen zu entfalten. Nach der Rechtsprechung des EuGH dürfen die Mitgliedstaaten während der laufenden Umsetzungsfrist keine nationalen Vorschriften erlassen, die geeignet sind, die Erreichung des in der Richtlinie vorgegebenen Ziels in Frage zu stellen'". Unter engen Voraussetzungen hat der EuGH eine "Durchgriffswirkung" auch 53 bei Richtlinien anerkannt'". Danach kann eine den Bürger begünstigende Richtlinienbestimmung ausnahmsweise dann unmittelbar anwendbar sein, wenn sie trotz Fristablaufes nicht oder nur unzulänglich in innerstaatliches Recht umgesetzt wurde und von ihrem Inhalt her unbedingte und hinreichend bestimmte Vorgaben trifft, um im Einzelfall angewendet zu werden . Inhaltlich unbedingt ist die Richtlinie dann, wenn sie weder mit einem Vorbehalt noch mit einer Bedingung versehen ist. Hinreichend bestimmt ist die Richtlinie, wenn sie allgemein und unzweideutig bestimmte Vorgaben zum sachlichen Regelungsgehalt, zum geschützten Personenkreis und zu den durch die Regelungen verpflichteten Einrichtungen trifft. Der EuGH begründet diese ausnahmsweise anzunehmende direkte Wirkung der Richtlinie mit dem Anliegen, den Normen des Unionsrechts Geltung zu verschaffen ("effet utile") . Außerdem soll verhindert werden , dass der Mitgliedstaat aus seiner Säumnis gegenüber dem von der Richtlinie Begünstigten Vorteile zieht. Eine unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien im Verhältnis Privater untereinander (horizontale Wirkung) lehnt der EuGH aber grds . ab'".
c) Beschlüsse (Art. 288 UA 4 AEUV) Beschlüsse sind als konkret-individuelle Regelungen - vergleichbar einem deut- 54 schen Verwaltungsakt bzw. einer Allgemeinverfügung - für die Empfänger rechtlich verbindlich. Sie bedürfen daher keiner Umsetzung durch nationale Rechtsakte. Anders als die bisherigen Entscheidungen (ex-Art. 249 IV EGV) können Beschlüsse jedoch auch allgemeine Geltung beanspruchen (Art . 297 11 AEUV) . d) Empfehlungen und Stellungnahmen (Art. 288 UA 5 AEUV) Empfehlungen und Stellungnahmen sind zwar gern. Art. 288 UA 5 AEUV nicht 55 verbindlich. Sie entfalten aber eine mittelbare Rechtswirkung insofern, als sie bei der Auslegung von Unionsrecht durch nationale Gerichte und Behörden zu beach94 95 96
97
HerrmannlMichl, JuS 2009 , 1065, 1068 Ir; Sche rzberg, Jura 1992,572 ff. EuGI-IE 1997,7411 (Rz. 50). EuGI-I NJW 2004 , 3547 , 3548 = JuS 2005, 357 (Streinz) ; f1errmannIMichl , JuS 2009, 1065, Schroder, Richtlinien, S. 9 ff. Die Rspr. des EuGH wird von BVerfGE 75, 223 ff. im Grund satz als zulässige Rechtsfortbildung gebilligt. EuGH NJW 2010 , 427, 429 m. w. N.; Herrmann/Michl, JuS 2009, 1065, 1066 f.
142
§ 4 Europäische Union
ten sind'". Empfehlungen können der Rat, die Kommission und in besonderen Fällen auch die EZB abgeben (Art. 292 AEUV). Stellungnahmen können alle Unionsorgane abgeben.
e) Sonstige Rechtsakte 56 Als sog . "ungekennzeichnete Rechtshandlungen" oder "Akte sui generis" bezeichnet man solche Handlungsformen der Unionsorgane, die außerhalb des in Art. 288 AEUV normierten Handlungskanons liegen . Zu denken ist insbesondere an Entschließungen, Aktionen oder Programme. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um nach außen unverbindliche Organisations- und Gestaltungsakte, Absichts- oder Selbstverptlichtungserklärungen.
B. Kompetenzen der Union zur Strafgesetzgebung 57 Die Union übt in den ihr von den Verträgen zugewiesenen Zuständigkeitsbereichen eine eigene supranationale Hoheitsgewalt aus, die einen " Durchgriff ' in den mitgliedstaatliehen Hoheitsbereich ermöglicht. Dies bedeutet, dass die Rechtssetzungsorgane der Union Rechtsakte erlassen können, die gegenüber dem nationalen Recht Vorrang genießen und in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar sind . Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob die Union auch eine Strafgesetzgebungskompetenz besitzt, die es ihr ermöglicht, originäres Unionsstrafrecht zu setzen. Selbst wenn man der Union die Befugnis zur Setzung unmittelbar anwendbarer Strafnormen zuschreiben würde, könnte dennoch nicht von einer umfassenden Kriminalstrafgewalt der Union gesprochen werden. Denn die Kompetenz zur Rechtssetzung (,Jurisdiction to prescribe") beinhaltet nicht automatisch auch die Vollzugskompetenz, also die Fähigkeit, gesetztes Recht mit eigenen Vollzugsorganen durchzusetzen (,Jurisdiction to enforce")?', Für den Vollzug unionsrechtlicher Normen sind - außer in den seltenen Fällen unionsunmittelbaren Vollzugs - die Mitgliedstaaten zuständig. Somit wären auch für die Verfolgung und Ahndung von Taten, die nach Unionsstrafrecht mit Strafe bedroht sind , die nationalen Strafverfolgungsorgane der Mitgliedstaaten zust ändigt'P. 58 Bislang findet sich keine einzige genuin unionsrechtliche Strafnorm, geschweige denn ein Kodex supranationaler Strafnormen. Es wäre aber voreilig, aus diesem Befund den Schluss zu ziehen, es bestünde keine kriminalstrafrechtliche Rechtssetzungskompetenz der Union . Denkbar ist ja immerhin, dass die Gesetzgebungsorgane der Union bislang von einer entsprechenden Kompetenz - etwa auf Grund politischer Vorbehalte der Mitgliedstaaten - lediglich noch keinen Gebrauch gemacht haben. In der Tat ist die Frage nach dem Bestehen einer Rechtssetzungskompetenz der Union auf dem Gebiet des Kriminalsstrafrechts keine "rein akadeEuGI-IE 1989,4407. Ambos, 1ntStR, § 11 Rn. I; Ligeti, Strafrecht in der EU, S. 69 f. 100 Deutscher, Kompetenzen, S. 81; Tiedemann, Roxin-FS, S.1401 , 1403; Satzger, Europäi sierung , S. 90 f. jew. m. w. N .
98
99
B. Kompetenzen der Union zur Strafge setzgebung
143
mische" Angelegenheit. Sie bedarf schon deshalb der Klärung, weil sie den Rahmen für Realisierung von "Europa-Delikten" absteckt'?' . Die Diskussion erfordert eine genaue Vorstellung über den Gegenstand einer etwaigen (kriminal)strafrechtl ichen Rechtssetzungsbefugnis.
I. Strafrecht als autonom zu bestimmender Begriff des Unionsrechts Der Begriff des Strafrechts wird weder vom geschriebenen Unionsrecht noch von 59 der europäischen Rechtsprechung definiert. Dies ist misslich. Denn die Untersuchung der Frage, ob eine Kompetenz der Union zur Setzung strafrechtlicher Normen besteht und wie weit diese ggf. reicht, setzt Klarheit darüber voraus, welche Regelungen überhaupt dem Strafrecht zuzuordnen sind und welche nicht.
1. Untauglichkeit einer formalen Begriffsbestimmung Man könnte zunächst in Betracht ziehen, die Abgrenzung zwischen strafrechtli- 60 chen und nicht-strafrechtlichen Rechtsmaterien anhand formaler Kriterien vorzunehmen, etwa in dem Sinne, dass jede Sanktionsnorm des Unionsrechts, die als Rechtsfolge eine Freiheitsstrafe, Geldstrafe oder Geldbuße androht, dem Strafrecht zuzuordnen wäre. Dieser dem deutschen Recht geläufige Ansatz'P? vermag im Bereich des Unionsrechts jedoch nicht zu überzeugen . Zum einen können und dürfen nationale Terminologien nicht ohne weiteres auf unionsrechtliche Rechtsbegriffe übertragen werden . Unionstermini sind grundsätzlich autonom zu bestimmen. Zum anderen sind bereits die in den Mitgliedstaaten gebräuchlichen Begrifflichkeiten im Bereich des Sanktionenrechts so uneinheitlich, dass ihre unreflektierte Übertragung auf das Unionsrecht nicht praktikabel erscheint. So wird z. B. der in der deutschen Fassung des Art . 103 11 Iit. a AEUV verwendete Terminus "Geldbuße" im deutschen Recht nicht dem Kriminalstrafrecht zugeordnet, während in der englischen ("fine") , niederländischen ("geldboete") und italienischen ("ammenda") Fassung Begriffe verwendet werden, die innerstaatlich dem Kriminalstrafrecht entstammen und insoweit mit der deutschen "Geldstrafe" vergleichbar sind . Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass eine an die angedrohten Sanktionen anknüpfende formale Abgrenzung im Übrigen schon deshalb nicht gelingen kann , weil das Unionsrecht - im Gegensatz zu einigen Mitgliedstaaten (darunter Deutschland) - über kein geschlossenes strafrechtliches System im Sinne eines numerus clausus der strafrechtlichen Sanktionen verfügt'P'',
101
102
103
Vgl. hierzu Satzger , Europadelikte, 71 ff. und die von Dannecker erläuterten Vorschläge für ein supranationales Lebensmittelstrafrecht, ebenda, S. 239 ff., 466 ff. Vgl. BVerfGE 27, 18,30; König, in: Göhler, OWiG, 14. Autl ., 2006, Vor § I Rn. 6; krit. hierzu KKOWiG/Bohnert , Einleitung Rn. 11 I. Satzger , Europäisierung, S. 65.
144
§ 4 Europäische Union
2. Begriffsbestimmung anhand materieller Kriterien 61 Ausschlaggebend für die Qualifikation einer Regelung als "strafrechtl ich" können daher im Rahmen einer autonomen unionsrechtlichen Begriffsbestimmung nur materielle Kriterien sein . In der Kompetenzdiskussion hat sich die Unterscheidung zwischen Strafrecht im weiteren Sinne (sog . "punitive Sanktionen") , Kriminalstrafrecht und nichtstrafrechtlichen Sanktionen durchgesetzt'?", Es bietet sich an, die Abgren zung anhand der vom EGMR entwickelten Kriterien vorzunehmen, die zur Anwendung der strafrechtlichen Garantien der EMRK führen'?", Maßgeblich sind demnach die Voraussetzungen, bei deren Vorliegen von einer "strafrechtlichen Anklage" i. S. d. Art. 6 EMRG auszugehen ist. Eine auf Unionsebene getroffene Regelung bzw. Maßnahme ist demnach dem Strafrecht im weiteren Sinne zuzuordnen, wenn mit ihr (zumindest auch) ein repressiver, auf Sanktionierung eines missbilligten Verhaltens gerichteter Zweck verfolgt wird oder wenn mit ihr eine besonders schwere Rechtsgutseinbuße für den Täter verbunden ist. Normen, die einen Rechts verstoß mit Freiheitsentziehung bedrohen, sind regelm äßig dem Strafrecht zuzuordnen. Regelungen, welche die Verh ängung finanzieller Sanktionen vorsehen , wird man jedenfalls dann als strafrechtliche Maßnahmen werten müssen , wenn sie erheblich in die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit des Zahlungspflichtigen eingreifen und die Grenzen der Wiedergutmachung eines Schadens deutlich überschreiten. Die Zweckrichtung der Sanktion stellt das vorrangige Abgrenzungskriterium dar . Im Regelfall sind daher nichtstrafrechtlicher Natur solche Sanktionsregelungen, die ausschließlich präventive (der Gefahrenabwehr dienende) oder restitutive (aufSchadensausgleich gerichtete) Zwecke verfolgen . Der punitive Charakter solcher Regelungen und damit deren Zuordnung zum Strafrecht im weiteren Sinne kann sich aber auch aus der tatsächlichen Wirkung der Sanktion ergeben. Diesem gegenüber dem Funktionskriterium nachrangigen Abgrenzung skriterium kommt alleinentscheidende Bedeutung zu, wenn sich ein repressiver Zweck der in Rede steh enden Unionsmaßnahme nicht oder zumindest nicht eindeutig festst ellen lässt. Jedenfalls bei besonders schwerwiegenden Rechtsgutseinbußen für den Betroffenen erscheint es gere chtfertigt , eine (an sich nicht repre ssive Zwecke verfolgende) Sanktionsregelung aufgrund ihrer tatsächlichen Wirkung als punitive Maßnahme (Strafrecht im weiteren Sinne) einzustufen. Dies kommt aber nur bei Anordnung von Freiheitsentziehungen und gravierenden Beschränkungen der wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit in Betracht'?".
104
105 106
Vgl. hierzu Deutscher, Kompetenzen, S. 165 ff. 174 ff.; Fromm, Finanzinteressen der EG, S. 66 ff.; Satzger, Europäisierung, S. 58 ff., 64 ff., 72 ff. Satzger, IntStR, § 8 Rn. 5. Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 43; Satzger, Europäisierung, S. 72.
B. Kompetenzen der Union zur Strafgesetzgebung
145
3. Abgrenzung zwischen Kriminalstrafrecht und Strafrecht i. w. S. Auch der Begriff Kriminalstrafrecht ist im Rahmen der Diskussion über eine 62 EU-Strafrechtssetzu ngsbefugnis als ein autonom zu bestimmender Terminus des Unionsrechts zu begreifen und zu handhaben . Anders als beim Strafrecht im weiteren Sinne ist jedem Mitgliedstaat eine eigene Kategorie des Kriminalstrafrechts bekannt. Kein gangbarer Weg wäre es aber , dass jeder Mitgliedstaat seine nationale Begriftlichkeit und damit sein Begriffsverständnis zugrunde legt. Dies hätte angesichts divergierender Begriffsinhalte zur Folge , dass die Reichweite einer etwaigen EU-Rechtssetzungskompetenz auf dem Gebiet des Strafrechts nicht einheitlich bestimmt werden könnte. Richtigerweise müssen die mitgliedstaatliehen Definitionen im Wege einer wertenden Rechtsvergleichung zu einem einheitlichen Unionsbegriff verschmolzen werden'?". Ungeachtet der bestehenden Divergenzen weisen die Strafrechtssysteme der Mitgliedstaaten einige Gemeinsamkeiten auf, die als Ansatzpunkte für die Herausarbeitung eines unionsrechtlichen Begriffs des Kriminalstrafrechts herangezogen werden können. Es lässt sich ein ganzes Bündel materieller Kriterien aufstellen, die es ermöglichen, zumindest den Kern des unionsrechtlich zu verstehenden Kriminalstrafrechts zu bestimmen und für die Kompetenzdiskussion fruchtbar zu rnachenl'": Kriminalstrafen bilden den Kernbestand punitiver Sanktionen (Strafrecht im weiteren Sinne) und teilen daher notwendigerweise deren repressive Zwecksetzung , Kriminalstrafrecht liegt regelmäßig vor, wenn die Rechtsfolge des Sanktionstatbestandes auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe oder die Auferlegung einer finanziellen Einbuße gerichtet ist, die in eine Ersatzfreiheitsstrafe umwandelbar ist, Kriminalstrafrechtliche Sanktionen bringen immer ein sozialethisches Unwerturteil zum Ausdruck, Die Verhängung einer Kriminalstrafe wird zumeist durch den Eintrag in ein Strafregister dokumentiert, Kriminalstrafen werden durch ein Gericht in einem dafür vorgesehenen Verfahren verhängt. In Recht sbehelfsverfahren zugunsten des Betroffenen gilt das Verbot der reformatio in peius (Ver schlechterungsverbot), Kriminalstrafen unterliegen der Geltung des Gesetzlichkeits- und des Schuldprinzips.
4. Zuordnung einzelner Sanktionstypen des Unionsrechts Anhand der oben aufgestellten materiellen Kriterien lässt sich eine Zuordnung der 63 im Gemeinschaftsrecht bekannten Sanktionstypen zu den gemeinschaftsrechtlich
107 108
Satzger, Europäisierung, S. 74 ff Satzger, Europäisierung, S. 79.
146
§ 4 Europäische Union
autonom definierten Materien des Kriminalstrafrechts, des Strafrechts im weiteren Sinne oder des sonstigen (nichtstrafrechtlichen) Sanktionenrechts vornehmen'P",
a) Geldbußen 64 Bei den im europäischen Kartellrecht (Art. 103 11 Iit. a AEUV) vorgesehen Geldbußen handelt es sich aufgrund ihres eindeutig repressiven Charakters unzweifelhaft um punitive Sanktionen, die dem Strafrecht im weiteren Sinne zuzuordnen sind . Gegen ihre Einordnung als kriminalstrafrechtliche Sanktionen sprechen aber gleich mehrere Gründe: Die Geldbuße wird nicht durch ein Gericht, sondern durch die Kommission in ihrer Funktion als Exekutivorgan verhängt. Das zur Überprüfung zuständige Gericht (Art. 256 I AEUV) entscheidet hier in einem Verwaltungsverfahren, so dass der Grundsatz der reformatio in peius nicht gilt 110. Durch die Verhängung der Geldbuße wird kein sozialethisches Unwerturteil zum Ausdruck gebracht. Schließlich spricht gegen die Annahme einer kriminalstrafrechtlichen Rechtsnatur der Geldbuße, dass das Unionsrecht bei Nichteinbringlichkeit keine Ersatzfreiheitsstrafe vorsieht und dass keine Eintragung in ein Strafregister erfolgt!" . Die vorstehenden Ausführungen gelten entsprechend für Geldbußen, welche die EZB nach Art . 13211I AEUV gegen Unternehmen festsetzen sowie für Geldbußen, die der EuGH gern . Art . 27 der Satzung des EuGH112 gegen ausbleibende Zeugen verhängen kann .
b) Zwangsgeld und Strafgeld 65 Das Zwangsgeld, das sowohl in Art . 103 11 lit. a AEUV als auch in Art . 132 11I AEUV neben dem Bußgeld als mögliche Sanktion aufgezählt wird, zielt nicht darauf ab, einen in der Vergangenheit liegenden Rechtsverstoß zu ahnden . Vielmehr soll eine gegenwärtige oder künftige Rechtsverletzung verhindert werden . Im Hinblick auf seine ausschließlich präventive Zwecksetzung stellt das Zwangsgeld keine Sanktion mit strafrechtlichem Charakter dar!". Das Zwangsgeld kann allerdings im Einzelfall als "versteckte Strafsanktion" dem Strafrecht im weiteren Sinne zugeordnet werden, wenn seine Höhe - gemessen an dem zugrunde liegenden Verstoß - unverhältnismäßig erscheint und auf eine faktisch repressive Zwecksetzung schließen lässt!". Ebenso wie das Zwangsgeld stellt auch das durch Satzung der EZB eingeführte sog . "Strafgeld" keine punitive Sanktion dar, da es funktional lediglich darauf abzielt, einen aktuellen Rechtsverstoß abzustellenr".
109
110 1I1 112
113
114 115
Deutscher, Kompetenzen, S. 92 ff.; Liebau, Ne bis in idem , S. 38 ff.; Satzger, Europäisierung, S. 80 ff. jew. m. w. N. Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 16. Kap . Rn. 192, 213 m. w. N . Deutscher, Kompeten zen , S. 139 ff., 174 ff.; Satzger, Europäisierung, S. 83 f. Protokoll Nr. 3 über die Satzung des Gerichtshofes der Europäischen Union (Aßl EU 2008 Nr. C 215 , S. 210). Satzger, Europäisierung, S. 61, 80 f. m. w. N . Satzger , Europäisierung, S. 81. Satzger, Europäisierung, S. 61 f.
B. Kompetenzen der Union zur Strafgesetzgebung
147
c) Sanktionen im Agrar- und Fischereirecht Eine ganze Palette von Sanktionen eigener Art stellt das Unionsrecht im Bereich 66 des Agrar- und Fischereirechts zur Verfügung. Bei unberechtigter Inanspruchnahme von Subventionen kommen Subventionskürzungen, Abzüge sowie Subventionssperren, Strafzuschläge und KautionsverfaII in Betracht!": Für diese Maßnahmen hat sich die Bezeichnung Europäisches Verwaltungssanktionenrecht durchgesetzt'V. Obwohl einiges für ihre Einordnung als "verdeckte Strafsanktionen" (Strafrecht im weiteren Sinne) spricht (Rn . 61), ist die Rechtsnatur dieser Regelungen und Maßnahmen umstritten. In einer älteren Entscheidung erblickte der EuGH in der Maßnahme des Kautionsverfalls!" keine straf-, sondern eine verwaltungsrechtliche Sanktion!". Auch die in einer Verordnung vorge sehene Subventionssperre stufte er in einem Aufsehen erregenden Urteil v. 27. Oktober 1992 nicht als Strafsanktion ein 120 . Leider teilte der Gerichtshof nicht mit, was er unter "Strafsanktion" versteht (Rn . 70). Falls er damit meinte , dass es sich bei den streitgegenständlichen Maßnahmen nicht um kriminalstrafrechtliche Sanktionen handelt, stünde die vom EuGH verwendete Terminologie ("verwaltungsrechtliehe" Sanktion) ihrer Charakterisierung als punitive, d. h. dem Strafrecht im weiteren Sinne zuzuordnende Sanktionen nicht entgegen 121 .
11. Diskussion einer etwaigen Strafgesetzgebungsbefugnis der EU Eine Gesetzgebungsbefugnis der Union auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts 67 kann nur angenommen werden , wenn sich die Existenz einer primärrechtlichen Kompetenzgrundlage nachweisen lässt, die es den Rechtsetzungsorganen der Union (EP und Rat) gestattet, supranationale Straftatbestände zu schaffen . Denn nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Rn. 45) erfordert das Tätigwerden der Union stets eine sowohl den Regelungsgegenstand als auch die Handlungsform betreffende Ermächtigungsgrundlage im Primärrecht. Supranationale Rechtssetzung auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts bedeutet, dass die EU selbst Straftatbestände erlässt, die unmittelbar, d. h. ohne nationalen Umsetzungsakt, in jedem Mitgliedstaat anwendbar sind und die Strafbarkeit Einzelner begründen. Die einzig passende Form für diese Rechtssetzung ist demnach die Verordnung (Rn . 51) . Keine geeignete Handlungsform für die Setzung supranationalen Strafrechts stellt die Richtlinie (Rn. 52) dar. Denn sie entfaltet keine direkte Wirkung in den Mitgliedstaaten und vermag daher niemals "aus sich heraus " - also 116
117
118
119 120 121
Deutscher, Kompetenzen, S. 94 ff.; Fromm , Finanzinteressen der EG, S. 70 f.; Satzger, Europäisierung, S. 62 f., 84 ff. Dann ecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 85; Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 47 Ir ; Tiedemann, ZStW 116 (2004) , S. 945, 948. Vgl. hierzu Deutsch er, Kompetenzen, S. 108 ff.; Heitzer , Punitive Sanktion en, S. 47 ff.; Tiedemann, NJW 1983,2728 ff je w. m. w. N. EuGHE 1970, 1125 ff. = NJW 1971, 343 ff.; ebenso Deutscher, Kompete nzen, S. 108. EuGHE 1992, 5383 ; a. A. Deutscher, Kompete nzen, S. 102 ff. Zutr. Satzger . Europ äisierung , S. 87.
148
§ 4 Europäische Union
unabh ängig von zu ihrer Durchführung erlassenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften - eine strafrechtliche Verantwortlichkeit Einzelner zu begründen'V. Ob und ggf. inwieweit die Unionsorgane befugt sind , den Mitgliedstaaten mittels Richtlinien bestimmte Vorgaben zur Setzung und Ausgestaltung nationaler Strafrechtsnormen zu machen, ist somit keine Frage der Rechtssetzungskompetenz, sondern unter dem Aspekt einer etwaigen Anweisungskompetenz der Union zu diskutieren (§ 8) . Die nachfolgende Diskussion bezieht die bezüglich der früheren EG entwickelten Rechtsstandpunkte insoweit ein , als diese auch für die Union als Rechtsnachfolgerin der EG (Art . I UA 3 S. 3 EUV) von Bedeutung sein können.
1. Judikatur des EuGH und deutscher Gerichte 68 In früheren Entsche idungen, in denen sich der EuGH eher beiläufig mit der Frage einer Sanktionskompetenz der EG befas ste, wies er stets den Mitgliedstaaten die grundsätzliche Zu ständigkeit für die Schaffung von Strafsanktionen zum. Des Weiteren findet sich in einigen Urteilen die folgende - mehr oder weniger gleichlautende - Formulierung: " Enthält das Gemeinschaftsrecht keine Vorschrift (Gemeinschaftsregelung), die für den Fall ihrer Verletzung durch den Einzelnen bestimmte Sanktionen vorsieht, so sind die Mitgliedstaaten befugt, die Sanktionen zu wählen, die ihnen sachgerecht erschemen.v' >' Der erste Teil dies er Formulierung lässt Spekulationen dahingehend zu, der EuGH gehe grundsätzli ch doch von einer - in ihrem Umfang allerdings nicht näher bestimmten - Sanktionskompetenz der Gemeinschaften aus 125. Neue Impulse erhielt die wissenschaftliche Diskussion der Kompetenzfrage vor allem durch das Urteil des EuG H v. 27 . Oktober 1992 126: 69 Gegenstand dieses Urteils war eine von der Bundesrepublik Deutschland erhoben e Nichtigkeitsklage gern . ex-Art. 230 EGV gegen Verordnungen auf dem Gebiet des Agrarrechts. In dies en Rechtsakten war vorgesehen, dass einem in Unregelmäßigkeiten verstrickten Landwirt, der zu Unrecht Beihilfen erlangt hat, die Zahlung eines Zuschlags aufzuerlegen ist. Des Weiteren wurde vorgeschrieben, dass die nationalen Behörden den betroffenen Wirtschaftsteilnehmer für die Dauer eine s Jahres von der Subventionsgewährung ausschließen müssen . Gegen diese Regelungen wandte sich die klagende Bundesrepublik u. a. mit dem Argument fehlender Rechtssetzungskompetenz der EG auf dem Gebiet des Strafrechts. Die Klagebegründung konzentrierte sich argumentativ nur auf den Leistungsausschluss und nicht auf den eigentlich problematischen " Stra fzuschlag" , was in der Literatur auf Kritik stieß127. Nach Auffassung der Klägerin handelt es sich bei der 122
123 124 125 126 127
EuGHE 1987, 3969 , 3971 ; 1996, 6609 ff. ; 2005 , 3565 ; Satzger, IntStR, § 7 Rn. 8; kritisch hierzu Schroder, DVBI 2002 , 157 ff. EuGHE 1977, 1495; 1981,2595 ; 1989, 195. EuGI-IE 1977, 139; 1990,2911. SO Z . ß. vertreten von Appe l, Kompetenzen, S. 300; Böse, Strafen und Sanktionen, S. 56; Pache, Schutz der finanziellen Interessen der EG, S. 300 ff. EuGHE 1992, 5383 ff. Satzger , Europä isierung, 200 I, S. 86 ; Schroder, Richtlinien, S. 109; Tiedemann, NJW 1993,49.
B. Kompetenzen der Union zur Strafgesetzgebung
149
in der Verordnung vorgesehenen Subventionssperre um eine Sanktion mit Strafcharakter. Zur Einführung eines Leistungsausschlusses, der zugleich ein strafrechtli ches Unwerturteil über den Wirtschaftsteilnehmer beinhalte, seien die Gemeinschaftsorgane nicht befugt. Der EuGH vermo chte sich dieser Argumentation im Ergebnis nicht anzuschließen. Er führte aus, dass die EG gern. ex-Art. 34 11 EGV (Art . 40 11 AEUV) dazu ermächtigt sei, alle Sanktionen einzuführen, die für die wirksame Anwendung der Regelungen auf dem Gebiet der gemeinsamen Agrarpolitik erforderlich seien . Zugleich erklärte der EuGH , dass über die Zuständigkeit der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Strafrechts nicht zu entscheiden sei, da der Leistungsausschluss keine Strafsanktion darstellet". Da der Gerichtshof den in der angegriffenen Verordnung angeordneten Leis- 70 tungsausschluss mangels repressiven Charakters lediglich als eine präventive Zwecke verfolgende Regelung einstufte, die sicherstellen soll, dass unzuverlässige Subventionsbewerber nicht in den Genuss von Leistungen gelangen, sah er keinen Anlass , auf die Frage einzugehen, was unter einer "Strafsanktion" zu verstehen ist. Seinem Urteil lässt sich nicht eindeutig entnehmen, ob er damit allein das Kriminalstrafrecht oder auch das Strafrecht im weiteren Sinne (Rn . 61) gemeint hat. In später ergangenen Urteilen hat der EuGH seine frühere Rechtsprechungsformel wieder aufgegriffen, in welcher von der grundsätzlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für das Strafrecht gesprochen wird'-", Auch die deut schen Strafgerichte haben bereits mehrfach die Auffassung ver- 71 treten , dass die Zuständigkeit für die Strafgesetzgebung allein bei den Mitgliedstaaten liege 130. In dem 1973 vor dem BGH verhandelten " Süddeutschen Getreidefall"131 hatte die Verteidigung vorgebracht, aus dem Fehlen einer gemeinschaftsrechtlichen Sanktionsnorm in einer vergemeinschafteten Regelungsmaterie folge die Unanwendbarkeit nationaler Strafuormen. Ausgangspunkt dieser Argumentation war die These, dass die EG in einem gemeinschaftsrechtlich besetzten Bereich auch die Kompetenz zur Einführung strafrechtlicher Sanktionen innehaben müsse . Die Mitgliedstaaten dürften den Verzicht der EG auf Erlass einer solchen Sanktionsregelung nicht durch Schaffung nationaler Stratbestimmungen unterlaufen. Das Revision svorbringen wäre durchaus schlüssig, wenn eine EGStrafrechtsetzungskompetenz bestünde. Der BGH trat dieser Argumentation jedoch entgegen und stellte schlicht fest, dass dem Gemeinschaftsgesetzgeber nicht die Befugnis zum Erlass von Sanktionen strafrechtlicher Natur übertragen worden sei. Die Ahndung von Verstößen gegen Gemeinschaftsrecht sei Sache der Mitgliedstaaten.
128 129 130
131
EuGI-1E 1992,5383 (Rz. 24 f.). EuGI-IE 1995,4125; 1995,4663 ; 1998,7637; 2005, 7879; 2007, 9097. ßGHSt 25,190,193 f.; 27,181 ,182; 41,127,131 f.; ßayObLGSt 1992, 121 , 122; KG VRS 54 (1978), 231, 232 f.; OLG KoblenzNStZ 1989, 188, 189; OLG Stuttgart NJW 1990,657,658. SGHSt 25, 190; vgl. hierzu Dannecker, SGH-FO , S. 339,346 f.
§ 4 Euro päis che Union
150
2. Literaturansichten 72 In der Literatur wird eine supranationale Rechtssetzungskompetenz auf dem Gebiet des Krim inalstrafrechts - von einer bereichsspezifischen Ausnahme (Rn . 80) abg esehen - ganz überwiegend abgelehnt' < . Die zentrale Begründung hierfür lautet, dass sich eine solche Befugnis nach dem Prinzip der begrenzten EinzeIermächtigung (Rn . 54) unmittelbar aus dem Primärrecht ergeben müsst e. In den europäi schen Verträgen seien aber nur Kompetenzen zur Schaffung punitiver Sanktionsnormen (Strafrecht im weiteren Sinne) vorgesehen . Zu keinem Zeitpunkt hätten die Mitgliedstaaten eine so bedeutsame Befugnis wie die Androhung und Verhängung echter Kriminalstrafen der EG übertragen . Die h. M. sieht ihre Rechtsauffassung durch die Regelungen der ex-Art. 29 ff. EUV best ätigt , durch die das Kriminalstrafrecht der sog . dritten Säule der EU (intergouvernementalen Zusammenarbeit) zugewiesen wurde. Dies best ätige den Willen der Mitgliedsstaaten , der EG keinerlei Kompetenzen zur Setzung von Strafnonnen einzuräument '". Die Überführung der dritten Säule in den einheitlichen Rahmen des Union srechts durch den Reformvertrag von Lissabon ändere hieran nichts">' . Schließlich wird das auf europäischer Ebene bestehende Demokratiedefizit als weiterer Einwand gegen die Annahme einer entsprechenden Rechtsetzungsbefugnis angeführt (Rn .
30) 135 .
73
Eine literarische Minderheitsmeinung bejaht im Grundsatz eine Kompetenz der früheren EG zur Schaffung supranationaler Strafnormenr". Sie stützt sich hierbei zum einen auf den Wortlaut der prim ärrechtlichen Ermächtigungsgrundlagen, denen sich keine Begrenzung auf nicht-strafrechtliche oder punitive Sanktionen entnehmen lasse . Unter Berufung auf die Lehre von den .J mplied powers'v'V, wonach die geschriebenen Kompetenznormen immer auch die Befugnis zur Setzung not132
133
134 135
136
137
Vgl. hierzu exempl. MüKo StGB IAntbos, Vo r §§ 3-7 Rn. 9; ders., IntStR, § 11 Rn. 4; Dannecker, Jur a 2006, 95, 96 ff.; Deutscher, Kompetenzen, S. 309 ff.; Eisele, JA 2000, 896 ff.; ; Ju ng , JuS 2000 , 417, 419; Kudli ch, JA 1999, 525 ; Moll , ß1ankettstrafgesetzgebung, S. 4 ff.; Musil, NStZ 2000, 68, 69 ; Duo , Jura 2000 , 98 ; Rosenau, Z IS 2008 ,9, 14 ff.; Satzge r. IntStR, § 8 Rn. 18 ff.; Schr öder, Richtl inien, S. 105 ff., 161; Tiedemann , ZStW 116 (2004), S. 945 , 947 ; Zöller, ZIS 2009 , 340 , 342 . Dannecker, Jur a 1998, 79, 80; Satzger. IntStR, § 8 Rn. 22 . Zöller, ZIS 2009, 340 , 343 . Braum, GA 2005 , 681 , 688 ff.; Deutscher , Komp eten zen , S. 335 ff.; Eisele, JA 2000, 896,897; Hilgendorf, in: FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, 2002 , S. 333 , 341 ; Luderssen. GA 2003, 71 (84) ; Rosenau, Z IS 2008 , 9, 14 ff.; Sieb er, ZStW 103 (1991), 957,970; Streinz, Demokratische Legitimation, S. 219 , 220 ff.; Vogel, GA 2002,517, 525 ; Weigend, ZStW 105 (1993), S. 774, 800 ; ders., StV 2001 , 63, 67 ; ausführ l. hierzu Meyer, Demokratieprinz ip, S. 113 ff. und passim. Appe l, Komp etenzen, S. 183; Böse, Strafen und Sanktion en, S. 56, 61 ff., 94 ; ders. , GA 2006, 211, 220 Ir ; Heitzer , Punit ive Sanktionen, S. 136 ff.; Pache, Schutz der finanziellen Interessen der EG, S. 341; ders., EuR 1993, 173, 178 r. Deutscher, Kompetenzen, S. 206 f.; Gro blinghoff, Verpflichtung des Strafge setzgebers, S. 94 . Diese Doktrin entspr icht weitgehend der im deut schen Staatsrecht anerkannten .Bundeskompetenz kraft Sachzusa mmenhangs".
B. Kompetenzen der Union zur Strafgesetzgebung
151
wendigerweise mitzuregelnder Tatbestände beinhalten, wird argumentiert, mit jeder Kompetenznorm sei die uneingeschränkte normative Zuständigkeit auf die Gemeinschaft übergegangen . Dies impliziere auch die Befugnis, kriminalstrafrechtliche Sanktionsnormen zu schaffen. Die Minderheitsmeinung beruft sich dabei auch auf Aussagen des EuGH , in denen davon gesprochen wird, dass Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht von den Mitgliedstaaten unter Strafe zu stellen sind, "soweit das Gemeinschaftsrecht selbst keine Sanktionen vorsieht" (Rn . 68) . Die im Hinblick auf die unzureichende demokratische Legitimation einer supranationalen Strafgesetzgebung bestehenden Bedenken werden von der Minderheitsmeinung zwar als rechtspolitische Kritik ernst genommen, in rechtlicher Hinsicht jedoch nicht für durchgreifend erachtetr" Ein grundsätzlicher Ausschluss des Kriminalstrafrechts aus der supranationalen Rechtsetzungskompetenz könne somit nicht festgestellt werden. Allerdings sollen europäische Strafvorschriften auch nach Auffassung der Minderheitsmeinung die Ausnahme bleiben. Denn der Erlass von Strafrechtsnormen werde durch die sachlichen Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlagen sowie durch die Prinzipien der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (Art . 5 111, IV EUV ; ex-Art. 5 EGV) beschränktl '" .
3. Vertiefende Diskussion zentraler Gesichtspunkte a) Kompetenzproblem und Legitimationsfrage Der entscheidende Punkt in der Kompetenzdiskussion ist nicht , ob eine etwaige 74 EU-Strafgesetzgebung beim derzeitigen Stand der Unionsverfassung in hinreichender Weise demokratisch legitimiert wäre , sondern die Frage , ob die Mitgliedstaaten der Union die Befugnis zur Setzung kriminalstrafrechtlicher Normen übertragen haben . Wie Schröder überzeugend aufgezeigt hat, vermag es schon aus systematischen Gründen nicht zu überzeugen, das Kompetenzproblem allein anhand des Legitimationskriteriums lösen zu wollen 140 . Dies kann in dem folgenden Gedankenexperiment demonstriert werden , bei dem unterstellt wird, das EP erhielte aufgrund einer Änderung der Vertr äge Legislativbefugnisse, die denen der nationalen Parlamente entsprechen. Wollte man die Strafgesetzgebungsbefugnis rein demokratietheoretisch diskutieren und an dem Grundsatz "nulla poena sine lege parlamentaria" ausrichten, müsste das Kompetenzproblem nunmehr erledigt sein . Dies ist aber nicht der Fall. Denn auch wenn das EP zu einem echten Legislativorgan ausgebaut worden ist, bleibt nach wie vor klärungsbedürftig, ob die Mitgliedstaaten die Recht ssetzungszuständigkeit auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts auf den Unionsgesetzgeber übertragen haben . Wenn eine Analyse des Primärrechts ergibt, dass dies nicht geschehen ist, dann springt die Rechtssetzungsbefugnis auch nicht etwa als Folge des Ausbaus des EP zu einem echten Legislativorgan auf dieses über. Somit kommt der im Lichte des Prinzips der begrenzten EinzeIermächtigung zu diskutierenden Frage einer etwaigen Kompetenzübertragung die ausschlaggebende Bedeutung für die Lösung der Kompetenzfrage zu. 138 139 140
Appel, Kompetenzen, S. 185; Böse, Strafen und Sanktionen, S. 91. Appel, Kompetenzen, S. 192; Böse, Strafen und Sanktionen, S. 94 f. Schröder, Richtlin ien, S. 132 ff.
152
§ 4 Europäische Union
b) Wortlaut potentieller Ermächtigungsnormen und systematische Aspekte 75 Der Wortl aut potentiell er Ermächtigungsnormen des Primärrechts (z. B. Art . 40 11, 43 11, 79 11 lit. d, 91 I lit. c, d, 325 IV AEUV) steht der Annahme einer bereichsspezifischen Befugnis der Union , kriminalstrafrechtliche Normen zu setzen, nicht entgegen 141 . So erscheint es nach der sprachlichen Fassung etwa des Art . 91 I lit. c AEUV nicht ausgeschlossen, dass EP und Rat zwecks " Verbesserung der Verkehrssicherheit" auch kriminalstrafrechtliche Maßnahmen ergreifen. Die reine Wortlautauslegung erlaubt aber kein abschließendes Urteil darüber, ob die von den Ermächt igungsnormen jeweils funktional umschriebenen Union sbefugnisse auch die Setzung kriminalstrafrechtlicher Normen ein schließen. Gegen eine Strafgesetzgebungsbefugnis der Union sprechen folgende systematische Überlegungen : 76 Wenn es zutreffen sollte , dass der Union - unter Heranziehung der Lehre von den " im plied powers" (Rn . 73) - mit der Zuweisung einer bestimmten Sachkompeten z immer zugleich auch eine - lediglich durch das Subsidiaritätsprinzip und den Verh ältnismäßigkeitsgrundsatz beschränkte - Befugnis zur Setzung supranationaler Sanktionsnormen übertragen wurde, dann ergibt die in Art. 103 11 lit. a AEUV verankerte Bußgeldkompetenz auf dem Gebiet des europäischen Karteilrecht s keinen rechten Sinn . Es fragt sich, warum der Vertrag eine im Vergleich mit dem Kriminalstrafrecht weniger gewichtige Bußgeldkompetenz ausdrücklich regelt, wenn derartige Rechtsetzungsbefugnisse ohnehin aus der Sachkompetenz folgen sollen. Der Sinn der dort getroffenen Kompetenzzuweisung erschließt sich nur vor dem Hintergrund bestehender Kompetenzvorbehalte auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts 142. 77 Ein weiteres Argument, das gegen eine Übertragung kriminalstrafrechtlicher Recht setzungsbefugnisse auf die EG sprechen, ergibt sich aus einer wertenden Betrachtung derjenigen Teilbereiche des Primärrechts, in denen von Anfang an nicht auf kriminalstrafrechtliche Regelungen verzichtet werden konnte. So verwei st das primäre Unionsrecht in Art . 30 der Satzung des Gerichtshofs für den Fall einer Eidesv erletzung von Zeugen und Sachverständigen auf das Strafrecht der Mitgliedstaat en>". Danach behandelt "j eder Mitgliedstaat die Eidesverletzungen eines Zeugen oder Sachverständigen wie eine vor seinen eigenen in Zivilsachen zuständigen Gerichten begangene Straftat. AufAnzeige des Gerichtshofs verfolgt er den Täter vor seinen zuständigen Gerichten Die Verweisung des Primärrechts auf das nationale Strafrecht ist Ausdruck des sog. Assimilierungsprinzips (§ 7). Mit seiner Hilfe wird der für notwendig erachtete Schutz eine s bestimmten Union sinteresses gew ährleistet, ohne die Rechtsetzungs- und Verfolgungszuständigkeit der Mitgliedstaaten anzutasten . Es spricht gegen eine Übertragung kriminalstrafrechtH .
141
142
143
Vgl. hierzu Böse, Strafen und Sanktionen, S 61 ff.; Fromm, Finanzinteressen der EG, S. 107 ff.; ders., EG-Rechtssetzungsbefugnis, S. 64 ff.; Satzger, Europäisierung, S. 99 ff.; Schröder, Richtlinien, S. 118 ff Schröder, Richtlinien, S. 120; a. A. Böse, GA 2006 , 211, 220, der in ex-Art. 83 11 lit. a EGV nur die Konkretisierung einer Regelungsptlicht vor dem Hintergrund einer bereits bestehenden Ermächtigung der EG zum Erlass von Stratbestimmungen sieht. Protokoll Nr. 3 über die Satzung des Gerichtshofes der Europäischen Union (ABIEU 2008 Nr. C 215, S. 210) .
B. Kompetenzen der Union zur Strafgesetzgebung
153
licher Rechtsetzungskompetenzen auf die Union , dass die genannte Bestimmung nicht etwa den EU-Organen, sondern allein den Mitgliedstaaten die Aufgabe zuweist , die europäische Rechtspflege mit dem für notwendig erachteten Strafrechtsschutz zu versehent'".
c) Kriminalstrafrecht als Gegenstand der früheren 3. Säule Durch den Vertrag von Maastricht (1992) wurde die Zusammenarbeit der Mit- 78 gliedstaaten in Strafsachen nicht in den Rahmen des ex-EGV einbezogen, sondern als "Angelegenheit von gemeinsamem Interes se" der sog. 3. Säule der EU zugewiesen . Es wurde also gerade keine EG-Rechtsetzungskompetenz auf dem Gebiet der Kriminalitätsbekämpfung begründet, sondern vielmehr das Modell einer intergouvernementalen Kooperation gewählt. Die Fortentwicklung des Unionsrechts durch den Vertrag von Amsterdam (1997) änderte hieran nichts , sondern bestätigte im Gegenteil sogar die Sonderrolle des Strafrechts im Hinblick auf die Zust ändigkeitsverteilungr". So wurde die Bekämpfung der in ex-Art. 29 S. 2 EUV aufgeführten Kriminalitätsfelder gerade nicht als Gemeinschaftsangelegenheit, sondern ausdrücklich als eine den Mitgliedstaaten obliegende Aufgabe begriffen. Dass keine Vergemeinschaftung des Strafrechts erfolgt war, bestätigte auch exArt. 42 EUV, der es dem Rat gestattete, durch einstimmigen Beschluss Maßnahmen aus dem Anwendungsbereich des ex-Art. 29 EUV dem Titel IV des ex-EGV zu unterstellen'<. Das gemeinsame Vorgehen der Mitgliedstaaten schloss die schrittweise Annahme von Maßnahmen zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen in den Bereichen organisierte Kriminalität, Terrorismus und illegaler Drogenhandel ein (exArt. 31 lit. e EUV) . Zur Verwirklichung dieser Ziele stellte ex-Art. 34 11 lit. b EUV dem Rat ein neuartiges Instrument - den Rahmenbeschluss!" - zur Verfügung. Indem diese Bestimmung jedoch zugleich klarstellte, dass es sich hierbei nicht um eine unmittelbar wirksame Rechtssetzung handelt, so gelangte auch hierin der fortwährende Souveränitätsvorbehalt der Mitgliedstaaten zum Ausdruck. d) Überführung der 3. Säule in den Rahmen des Unionsrechts Die Auflösung der früher en Tempelarchitektur der EU durch den Reformvertrag 79 von Lissabon (2009) und die damit einhergehende Überführung der früher en 3. Säule in den einheitlichen Rahmen des Unionsrechtsv" lässt die bisherige Kompetenzverteilung im Bereich der Strafgesetzgebung grundsätzlich unberührt. Den Gesetzgebungsorganen der Union wird in Art. 83 I, 11 AEUV gerade keine Befugnis zu einer supranationalen Strafrechtssetzung verliehen, sondern lediglich eine 144 145
146
147 148
Zutr. Schroder, Richtlinien, S. 120 ff. Deutscher, Kompetenzen, S. 345 Ir; Satzger , Europäisierung, S. 141 Ir; Schröder, Richtlinien, S. 152 ff.; a. A. Böse, GA 2006, 211 , 215 f. Eiseie, JA 2000, 896, 898; Hailbronner/Thiery, EUR 1998, 583, 613; Harings, EUR 1998 (Beiheft2), 81, 83, 88; Kaiafa-Gbandi, KritV 1999, 162, 164. Vgl. hierzu Gärditz/Gusy , GA 2006, 225, 228 ff.; Husemann , wistra 2004,447 ff. Heger, ZIS 2009, 406 ff.; Suhr, ZEuS 2009, 687, 690 ff.; Zöller, ZIS 2009, 340, 343.
154
§ 4 Europäische Union
Harmoni sierungskompetenz in Form der Mindestangleichung von Straftaten und Strafen durch Richtlinien zuerkannt.
e) Bedeutung des Art. 325 IV AEUV 80 Art . 325 IV AEUV sieht vor , dass das EP und der Rat zur Gewährleistung eines effektiven und gleichwertigen Schutzes in den Mitgliedstaaten " die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanz iellen Interessen der Union richten ", beschließen. Bereits unter der Geltung
seiner Vorläuferbestimmung - ex-Art. 280 IV S. I EGV - wurde streitig darüber diskutiert, ob sich hieraus eine Befugnis zu supranationaler Strafrechtssetzung ableiten lässt 149. Ein Teil der Literatur ste llte sich auf dem Standpunkt, ex-Art. 280 IV S. I EGV scheide als taugliche Ermächtigungsgrund lage für die Schaffung supranationalen Strafrechts bzw . auch nur für eine Harmonisierung kriminalstrafrechtlicher Tatbestände schlechthin aus 150. Zur Begründung wurde maßgeblich auf die sich aus EGV /EUV ergebende Kompetenzverteilung auf dem Gebiet der Strafgesetzgebung im Allgemeinen und auf die Vorbehaltsklausel des ex-Art. 280 IV S. 2 EGV im Besonderen hingewiesen, in der es hieß : "Die Anwendung des
Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege bleibt unberührt. " Demgegenüber begriff eine entgegengesetzte Literaturansicht ex-Art. 280 IV S. I EGV als Kompetenzgrundlage für eine bereichsspezifische (auf den Schutz der EG-Finanzinteressen beschränkte) EG-Strafrechtsetzungsbefugnis151 . Diese Auffassung verdiente keinen Beifall, da keinerlei Anhaltspunkte dafür bestanden, dass die Mitgliedstaaten im Zuge der durch den Vertrag von Amsterdam bewirkten Fortentwicklung des Union srechts ihren Willen zum Ausdruck gebracht haben, kriminalstrafrechtliche Kompetenzen auf die EG zu übertragen' <. 81 Gegen eine Reduzierung ihres sachlichen Gehalts auf bloße Präventivmaßnahmen spricht bereits der Wortlaut der in Art . 325 IV AEUV bzw. ex-Art. 280 IV S. I EGV getroffenen Regelung ("Bekämpfung von Betrügereien " im Gegensatz zu " Verhütung "). Noch stärker fällt ihr systematischer Zusammenhang mit den in Art . 325 1-111 AEUV (ex-Art. 280 1-111 EGV) enthaltenen Bestimmungen ins Gewicht'P. Diese stellen nichts anderes als eine deklaratorische Ausprägung des im Fall "Griechischer Mais "154 konkretisierten Assimilierungsprinzips (§ 7 149 Vgl. hierzu ausführlich Fromm , Finanzinteressen der EG, passim.
Griese, EuR 1998, 476; Musil, NStZ 2000, 68 ff.; Satzger, ZRP 2001, 549 f[ ; Schw arzburg/Hamdorf, NStZ 2002,617,620; Schr öder , Richtlinien , S. 154 f[ Auch die deutsche Bundesregierung sah in ex-Art. 280 IV S. 1 EGV lediglich eine Kompetenzgrundl age zur Angleichung präventiver Vorschriften unter Ausschluss des Strafrechts (vgl. BT-Drs. 13/9339, S. 159). 151 BerglKarpenstein, EWS 1998,81 ; Hedtmann , EuR 2002, 122, 133 f.; Moll , Blankettstrafgesetzgebung, S. 11 , 212; Stiebig , EuR 2005, 466, 483 ff.; Tiedemann, Roxin-FS, S. 1401, 1406 Ir ; Wolffga ngl lllrich, EuR 1998, 616, 644; Zieschang, ZStW 113 (2001), 255, 259 ff. 152 Griese, EuR 1998,476. 153 Vgl. hierzu Fromm , EG-Recht ssetzung sbefugni s, S. 67. 154 EuGHE 1989,2965 ff. 150
B. Kompetenzen der Union zur Strafgesetzgebung
155
Rn. 30) dar. Ein systematisch und teleologisch argumentierender Interpretationsansatz führt mithin zu der Erkenntnis, dass das strafrechtliche Instrumentarium nicht aus dem Maßnahmenkatalog des Art . 325 IV AEUV (ex-Art. 280 IV S. I EGV) ausgeschlossen werden darf155. Auf der Basis dieses Vorverständnisses stellt diese Vorschrift eine spezielle Kompetenzgrundlage für die Angleichung mitgliedstaatliehen Strafrechts dar, soweit dies zur Erreichung des spezifischen Schutzzwecks (Bekämpfung von Betrügereien zum Nachteil der Union/EG) erforderlich ist156. Das Urteil des EuGH v. 13. September 2005 157 bestätigt dieses Auslegungsergebnis: Wenn den in ex-Art. 135 S. 2, 280 IV S. 2 EGV enthaltenen Vorbehalten kein Harmonisierungsverbot im Bereich des Umweltstrafrechts zu entnehmen war, so musste dies auch und erst Recht für den strafrechtlichen Schutz der EG-Finanzinteressen gelten. In der durch den Reformvertrag von Lissabon geschaffenen Fassung des Art . 325 IV AEUV wurde die Vorbehaltsklausel ersatzlos gestrichen. Damit steht zum einen fest, dass im Bereich des EU-Finanzschutzes jedenfalls eine Strafrechtsharmonisierung durch Richtlinien möglich ist158. Der Wegfall des Vorbehalts und die Offenheit des Art. 325 IV AEUV für die Wahl der Handlungsform (Richtlinie oder Verordnung) lässt darüber hinaus die Auslegung zu, dass auf seiner Grundlage sogar supranationale Straftatbestände zur Bekämpfung des EU-Betrugs erlassen werden d ürfenl'", Damit wächst der Union erstmalig eine originäre supranationale Strafrechtssetzungkompetenz zu.
4. Ergebnis Grundsätzlich verfugt die Union über keine supranationale Kriminalstrafgewalt. 82 Eine bedeutsame Ausnahme von diesem Grundsatz statuiert Art . 325 IV AEUV für den Bereich der EU-Betrugsbekämpfung. Die genannte Rechtsgrundlage lässt nicht nur eine Angleichung mitgliedstaatliehen Strafrechts mittels Richtlinien, sondern die Schaffung supranationaler Straftatbestände durch Verordnung zu. Auch ist die Union befugt, punitive Sanktionsregelungen (Strafrecht im weiteren Sinne) zu schaffen, soweit bestehende Ermächtigungsgrundlagen der europäischen Verträge diese Möglichkeit vorsehen (z. B. Art. 103 IIlit. a AEUV).
155
156
157
158 159
Insoweit ist den Ausführungen von Tiedemann , Roxin-FS, S. 1401, 1409 zu folgen . Deutscher, Kompetenzen, S. 345 ; Eisele, JZ 2001 , 1157, 1160; Fromm, ZIS 2007 , 26; Rosenau , ZIS 2008 , 9, 15. EuGI-I 2005, 7879 = JZ 2006 , 307 . Satzger , KritV 2008, 25 ff:; ders. , IntStR , § 9 Rn. 50. Fromm, EG-Rechtssetzungsbefug nis, S. 61 rr, 73; StraFo 2008 , 358, 365 ; Heger, ZIS 2009,406,416; Mansdorfer, HRRS 2010 , 11, 18; Meyer, NStZ 2009 , 657 , 658 ; Rosenau, ZIS 2008 , 9,16; Satzger , IntStR, § 8 Rn. 24 ff.; ders., KritV 2008 ,17,25 ; Sieber, ZStW 121 (2009), 1,59; Zimmermann, Jura 2009 ,844,845 f.
156
§ 4 Europäische Union
C. Literaturhinweise Am bos, Intern ation ales Strafrecht, 2. Aufl ., 2008, § 11 Böse, Die Zuständigkei t der Europäischen Gemeinschaft für das Stra frecht, GA 2006, 211 ders., Die Entscheidung des BVerfG zum Vertra g von Lissabon und ihre Bedeutung für die Europäisie rung des Strafrecht s, Z IS 20 I 0, 76 von Bubn off, Institutionelle Krimin alitätsbek ämpfung in der EU - Schr itte auf dem Weg zu einem europäischen Erm ittlungs- und Strafverfo lgungsraum , ZEuS 2002, 185 Burgi , in: Rengeling/M iddeke/Gelle rmann (Hr sg.), Handbuch des Recht sschutzes in der Europäischen Union, 2. Aufl ., 2003 , §§ 5-8 Dannecker , Das Europäische Strafrecht in der Rechtsprechung des Bundesge richtshofs in Strafsachen, in: Roxin/W idmai er (Hrsg.): 50 Jahr e Bund esger ichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. IV, 2000, S. 339 ders., Das mater ielle Stra frecht im Spannungsfeld des Recht s der EU, Jura 2006,95 Fromm, EG-Rechtss etzungsbefugnis im Krim inalstrafrecht, 2009 , passim Heger, Perspektiven des Europäischen Stra frechts nach dem Vertrag von Lissabon, ZIS 2009,406 Herrmann/Michl, Wirkungen von EU-Richtlinien, JuS 2009 , 1065 Hecker, Sind die nation alen Grenzen des Strafrechts überwindbar? - Die Harm on isierun g des materiellen Strafrechts in der Europ äischen Union, JA 2007, 561 Herrm ann/Michl, Wirkun gen von EU-Richtlinien, JuS 2009 , 1065 Rosenau, Z ur Europäisie rung im Stra frecht - Vom Schut z finanzieller Interessen der EG zu einem ge meineuropäischen Strafgesetzbu ch?, Z IS 2008 , 9 Satzger. IntStR, 4. Aufl., 201 0, § 7-8 ders., Das Strafrecht als Gegenstand europ äische r Gesetzgebungstätigkeit, KritV 2008 , 17 Sieber, Die Zukunft des Europ äischen Strafrechts, ZStW 121 (2009) , 1 Stiebig, Strafrecht setzungskompetenz der Europ äischen Gemeins chaft und Europ äische s Strafrecht: Skylla und Cha rybdi s einer europäischen Odyssee", EuR 2005, 466 Suhr , Die PJZ S in Stra fsach en nach dem .Lissabonv-Urteil des BVerfG, ZE uS 2009, 687 Weitendorf. Die interne Betrugsbekämpfung in den Europäischen Gemein schaft en durch das OL AF, 2007, passim Zimm ermann , Die Auslegun g künft iger EU-Strafrecht skompetenzen nach dem Lissabo nUrteil des BVe rfG, Jura 2009 ,844 Zöller, Europäische Stra fgesetzgebun g, ZIS 2009 , 340
D. Rechtsprechungshinweise EuGI-IE 1991, 6079 (Rechtsnatur der EG) EuGHE 1992,5383 ; 1995,4125 ; 1995, 4663; 1998,3731 ; 1998,7637 (zu r Sankt ionskompetenz der EG) EuGHE 2005, 7879 = JZ 2006, 307 (Strafrechtliche Harmonisierungskompetenz der EG) EuGI-IE 2007, 9097 = NStZ 2008, 703 (Strafrechtl iche Harmonisierun gskomp etenz der EG) BVerfG E 22, 293 ; 51,222; 89, 155 (Rechtsnatur der EG) BVerfG E 37, 271 (Autonomie der Gemein schaft srecht sordnung)
E. Zu sammenfassung von § 4
157
ßVerfG E 89, 155 (Recht snatur der EU) BVerfG NJW 2009 , 2267 (Rechtsnatu r der Union nach dem Vert rag von Lissabon) BGHSt 25,190; 27,181 ; 41,127 (Zu ständi gke it der Mitgliedstaaten im Bereich der Krim inalstrafgesetzgebun g)
E. Zusammenfassung von § 4 In diesem Kapitel werden die Rolle der EU als Trägerin (Akteurin) des Europäi- 83 schen Strafrechts und ihre strafrechtsrelevanten Recht ssetzungsbefugnisse beleuchtet. Bei der EU handelt es sich um eine supranationale Organisation mit eigener Rechtspersönlichkeit (Art . 47 EUV). Sie handelt durch eigene Organe (ER, EP, Rat, Kommission, Gerichtshof und Rechnungshof), die einen von den Mitgliedstaaten unabhängigen Willen bilden . Die Union srechtsordnung stellt eine autonome Rechtsordnung dar. Über eine 84 souveräne Staatlichkeit mit unbegrenzter Recht ssetzungsgewalt verfugt die Union aber nicht. Vielmehr erfolgt die Kompetenzaufteilung nach dem Prinzip der begren zten Einzelermächtigung (Art . 5 I, 11 EUV). Danach wird die Union nur innerhalb der Grenzen der ihr zugewies enen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig . Die Rechtsquellen der Unionsrechtsordnung unterteilt man in primäres und sekund äres Unionsrecht. Die europäischen Verträge weisen der Union keine Strafgesetzgebungskompe- 85 tenz zu. Eine bedeutsame Ausnahme von diesem Grundsatz besteht nach Art. 325 IV AEUV für den Bereich der EU-Betrugsbekämpfung. Außerdem ist die Union befugt, punitive Sanktionsregelungen (Strafrecht im weiteren Sinne) zu schaffen, soweit vertragliche Ermächtigungsgrundlagen (z. B. Art . 103 11 lit. a AEUV) diese Möglichkeit vorsehen . Von der Rechtssetzungskompetenz der Union auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts ist ihre in Art . 83 I, 11 AEUV normierte Befugnis zu unterscheiden, mitgliedstaatliche Strafrecht durch Richtlinien zu harmonisieren.
B. Hecker, Europäisches Strafrecht, DOI 10.1007/978-3-642-13127-1_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
160
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
B. Strafrechtsrelevante Kooperationsformen I. Einführung 2 Die EU-Mitgliedstaaten sind in ein komplexes Netzwerk weltweiter, europäi scher und zwischenstaatlicher Kooperationssysteme eingebunden, welche sich die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen zu einem Teil ihrer Aufgabengebiete gemacht haben . Diese Kooperationsformen können auf rein informeller politischer Zusammenarbeit der beteiligten Staaten beruhen , auf völkerrechtlich nicht verpflichtenden Zusammenschlüssen nationaler Behörden, aber auch auf völkerrechtlichen Abkommen, die zur Gründung internationaler Organisationen geführt haben. Zu den Institutionen, die im Bereich der internationalen Kriminalitätsbekämpfung und Strafrechtsptlege global tätig werden , gehören die Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (Interpol), die Vereinten Nationen (UN) , die Organisation für Wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (O ECD) und die Gipfeltreffen der G7/G8-Staaten. Auf europ äischer Ebene ist die Strafrechtsentwicklung maßgeblich durch die Aktivitäten des Europarates geprägt worden. Daneben spielen auch die Nordische Passunion und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZ E) eine gewiss e Rolle 1. Die intensivste Form internationaler Zusammenarbeit in Strafsachen findet derzeit unter dem Dach der Europäischen Union statt, nachdem deren ehemalige 3. Säule (PJZS) durch den Reformvertrag von Lissabon in den einheitlichen Rahmen des Unionsrechts überfuhrt worden ist''. Zum Netzwerk justizieller und polizeilicher Zusammenarbeit in Strafsachen gehören aber nicht zuletzt auch bilaterale Kooperationsformen zwischen EU-Mitgliedstaaten und Drittstaaten.
11. Internationale Kriminalpolizeiliehe Organisation (Interpol) 3 Ein erster Schritt auf dem Weg zu einer internationalen Kooperation im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung war die Gründung der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommi ssion (IKPK) im Jahre 1923, die nach Ende des zweiten Weltkrieges weiter fortentwickelt und im Jahre 1956 in Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (Interpol) mit Sitz in Paris (seit 1989 in Lyon) umbenannt wurde . Interpol hat sich zum wichtigsten Instrument für die weltweite polizeiliche Zusammenarbeit entwickelt''. Die Mitgliedschaft bei Interpol ist allein nationalen Polizeibehörden vorbehalten, was diese Einrichtung maßgeblich von anderen Formen institutionalisierter Kooperation unterscheidet" . Im Zentrum der Arbeit von Interpol stehen die nationalen Verbindungsbüros (in Deutschland: BKA), die in über 80 % der Fälle unmittelbar - also nicht etwa auf dem umständlichen Weg Vgl. hierzu Ziegenhahn. Menschenrechte, S. 108 Ir Heger , ZIS 2009, 406 ff.; Suhr, ZEuS 2009, 687, 690 ff.; Zäller, ZIS 2009, 340, 343. Vgl. hierzu ausführl. Arbeithu ber, Interpol , passim. Eine Autl istung aller beteiligten Staaten (derzeit 188; Stand 06/20 I0) findet sich auf der Homepage der Organisation unter http://www.interpoI.int.
B. Strafrechtsrelevante Kooperation sformen
161
über Botschaften und Außenministerien - untereinander Informationen und Daten austaus chen". Die größte Bedeutung von Interpol liegt nach wie vor im Bereich der internationalen Fahndung". Gesuchte Personen können zur Festnahme, Aufenthaltsermittlung oder verdeckten Beobachtung ausgeschrieben werden. Für die nationalen Verbindungsbüros besteht freilich keine Pflicht zur Beteiligung an Interpol-Fahndungsmaßnahmen. Die Erledigung von Gesuchen und die Durchführung operativer Maßnahmen obliegen den jeweils zuständigen nationalen Polizeibehörden, die sich dabei ausschließlich an den für sie geltenden innerstaatlichen Rechtsvorschriften orientieren. Interpol ist ein Instrument, dessen sich die Mitglieder nach eigenem Ermessen bedienen können. Der Souveränitätsanspruch der Staaten bleibt im Rahmen der Interpol-Zusammenarbeit völlig unberührt. Zwischen den EU-Mitgliedstaaten wird die polizeiliche Zusammenarbeit nicht 4 mehr über Interpol, sondern über das Schengener Informationssystem (SIS) koordiniert (Rn . 48 ff.). Eine Interpol-Fahndung kommt für die EU-Mitgliedstaaten also nur noch in Betracht, wenn Drittstaaten zu beteiligen sind . Trotz des Vorranges des SIS ist Interpol für die EU-Mitgliedstaaten weiterhin von Bedeutung, da es sich um die einzige weItumspannende Kooperationsform im Bereich der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit handelt.
111. Vereinte Nationen (UN)
Während es sich bei Interpol um eine Zusammenarbeit nationaler Polizeibehörden 5 handelt, stellen die Vereinten Nationen (UN) als Zusammenschluss von Staaten ebenso wie der Europarat - eine klassische internationale Organisation dar? Eine der fundamentalen Aufgaben der UN war und ist es, jedenfalls den Mindeststandard der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu definieren und durchzusetzen", Zur Achtung und Verwirklichung dieses Mindeststandards sind alle UN-Mitgliedstaaten verpflichtet. Die UN haben durch ihre Organe - vor allem Generalversammlung, Sicherheitsrat und Internationaler Gerichtshof - und durch die mit ihnen verbundenen Sonderorganisationen mehrfach die Bedeutung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für den Strafprozess und den Strafvollzug hervorgehoben . Programmatischer Ausgangspunkt hierfür war die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte v. 10. Dezember 1948, die neben allgemeinen Verfahrensgrundrechten insbesondere die Garantie des fairen Verfahrens, die Unschuldsvermutung sowie das Prinzip "nulla poena sine lege" postulierte. Diese Garantien wurden neben anderen klassischen Justizgrundrechten in dem Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte (IPBPR) v. 19. Dezember 1966 kodifiziert. 165 Staaten haben diesen Pakt ratifiziert", Da der IPBPR jedoch kein Sturm , Kriminali stik 1997,99, 100; Wahl, Datenschutz, S. 79, 81 f. Vgl. zur Interpol- Fahndung Wehner , Abbau der Grenzkontrollen, S. 129, 152 f. Ständig er Sitz der UN ist New York . Ihr Gründungsstatut ist die mittl erweile mehr fach geänderte Charter ofthe United Nations (UN-Charta). Vgl. hierzu die ausführl. Darstellung von Gading , Sicherheitsrat, passim. Stand 06/2010 .
162
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
individuelles Beschwerdeverfahren, sondern lediglich eine eingeschränkte Möglichkeit der Staatenbeschwerde vorsi eht , vermochte er niemals eine solche Bedeutung wie die EMRK zu erlangen10. Neben dem IPBPR kann das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe v. 10. Dezember 1984 (UN-Anti-Folter-Konvention) zu den herau sragenden strafrechtsrelevanten UN-Konventionen gezählt werden!' . 6 Seit ihrer Gründung im Jahre 1945 haben die UN eine breite Palette an internationalen Standards, Richtlinien, Resolutionen und Modellverträgen entwickelt, um eine an rechtsstaatliehen Grundsätzen orientierte Strafverfolgungspraxis in den Mitgliedstaaten voranzutreibent - . Der breit gefächerte Katalog strafrechtsrelevanter Bereiche, derer sich die UN ang enommen haben, umfasst neben dem Völkerstrafrecht (§ 2 Rn. 81 ff.) und der Rechtshilfe in Strafsachen (§ 2 Rn. 62) Th emen wie Behandlung von Gefangenen, Anwendung von Gewalt und Schusswaffengebrauch durch Strafverfolgungsbehörden, Opferschutz, Unabhängigkeit der Justiz sowie die Rolle von Anwälten und Staatsanwälten . Das erwünschte Verhalten von Strafverfolgungsbehörden bzw . öffentlichen Amtsinhabern und Beamten wurde in Verhaltenscodices zusammengefasst. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die UN-Erklärung gegen Korruption und Bestechung. 7 Zur Verwirklichung ihrer Hauptziele, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, betätigen sich die UN seit vielen Jahren auch auf dem Feld der Kriminalitätsprävention und der Bekämpfung bestimmter Formen der Kriminalität, insbesondere der Betäubungsmittel-, Korruptions-, Geldwäsche- und Umweltdelinquenz. Aufgrund fehlender Rechtssetzungs- und Exekutivbefugnisse handelt es sich bei den Resolutionen der Generalversammlung freilich nur um politische Willensbekenntnisse der Mitgliedstaaten. Demgegenüber können die von den UN ausgearbeiteten Übereinkommen durch innerstaatliche Ratifikation eine völkerrechtliche Verbindlichkeit für die Vertragsstaaten entfalten. Exemplarisch sei auf die nachfolgend behandelten Konventionen verwiesen.
1. Bekämpfung der Geldwäsche und Betäubungsmittelkriminalität 8 Von den deliktsspezifischen Konventionen der UN ist insbesondere das Übereinkommen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen v. 20 . Dezember 1988 (UN-SuchtstoffÜbK)1 3 hervorzuheben, da es zu den innovativsten völkerrechtlichen Regelungen im Bereich der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen zählt!" , Dieses Übereinkommen verfolgt in erster Linie das Ziel , das " Re inwaschen" von Er lösen aus illegalen Drogengesch äften (Geldwäsche) zu kriminalisieren und die internationale Zusammenarbeit 10
11
12
13 14
In Deut schl and gilt der IPBPR seit 15. Novembe r 1973 als unmittelbar geltendes Bundesrecht (BGB!. 11 1973, 1533). In Deutschland gilt die UN-Anti-Folter-Konvention seit 3 I. Oktober 1990 als unm ittelbar ge ltendes Bund esr echt (BGB!. 11 1990,246; 1993, 715 ; 1996,282). Ziege nhahn, Men sche nrechte, S. 53 ff. BGB!. 1993 11, 1137; vgl . hierzu die Kommentierung von Lagodny , IRh St, V D 2a. Ziege nhahn, Men sche nrechte, S. 123 ff.
B. Strafrechtsrelevante Kooperationsformen
163
bei der Bekämpfung des Drogenhandels zu fördern" . Neben der Verpflichtung, entsprechende Strafnormen zu schaffen, enthält das Übereinkommen insbesondere Auslieferungs- und Rechtshilfeverpflichtungen. Diese dienen dem Zweck, grenzüberschreitende Ermittlungen und die Auslieferung von Beschuldigten in Geldwäsehefällen zu erleichtern sowie Eingriffe in das Vermögen international tätiger Straftäter über die Grenzen hinweg zu ermöglichen. Nicht zuletzt regelt die Konvention auch moderne Formen polizeilicher Kooperation wie den Austausch von Verbindungsbeamten oder kontrollierte Drogenlieferungen mit dem Ziel , Schmuggler und deren Hinterm änner zu ermitteln.
2. Bekämpfung illegaler grenzüberschreitender Abfallverbringung Das Basler Übereinkommen über die Kontrolle der grenzüberschreitenden 9 Verbringung gefährlicher Abfalle und ihrer Entsorgung v. 22 . März 1989 (BÜ)16 zielt darauf ab, den seit den 1980er Jahren in zunehmenden Umfang auftretenden Mülltourismus international zu bekämpfen. Ziel des BÜ ist es, sicherzustellen , dass Sonderabfalle grundsätzlich in dem Staat entsorgt werden , in dem sie erzeugt wurden . Nach Art . 4 BÜ haben die Vertragsparteien den unerlaubten Verkehr mit Abfallen als Straftat einzustufen und zu ahnden . Die frühere EG trat diesem Übereinkommen bei und setzte ihre hieraus resultierenden Verpflichtungen durch Erlass der Verordnung (EG) Nr. 259/93 des Rates v. I. Februar 1993 zur Überwachung und Kontrolle der Verbringung von Abfallen in der, in die und aus der EG (EGAbNerbVO)17 um. Art . 50 I VVA (ex-Art. 26 V EGAbNerbVO) verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Einführung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen, die bei einem Verstoß gegen die VO zu verhängen sind .
3. Bekämpfung der transnationalen Kriminalität Spezifi sche Regelungen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit für alle 10 Bereiche der grenzüberschreitenden Kriminalität enth ält das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Bekämpfung der transnationalen Kriminalität v. 15. Dezember 2000 (UN-TranskrimÜbK)18. Hierzu gehören Bestimmungen über Auslieferung, Rechtshilfe und Vollstreckungsübernahme sowie spezielle Ermittlungsmethoden wie kontrollierte Lieferungen, elektronische Überwachung und verdeckte Ermittlungen. Im Bereich der polizeilichen Kooperation stehen die Sammlung und der Austausch von Informationen im Vordergrund.
15 16
17
18
Denkschr ift BR-Drs. 506/92, S. 44; vgl. hierzu Ambos, ZStW 114 (2002), 236 ff. ß Gß I. 11994,771; 111994,2703 . ABlEG 1993 Nr. L 30, S. I; ersetzt durch vo (EG) Nr. 1013/2006 v. 14. Juni 2006 über die Verbringung von Abfällen - VVA - (ABlEG 2006 Nr. L 190, S. I). UN-Doc. N 55/383; vgl. hierzu Plachta , ZStW 110 (1998), S. 819 ff.
164
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
IV. Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) II Die Organisation für Europä ische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (O EEe) wurde im Jahre 1948 gegründet und muti erte im Jahre 1961 zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (O ECD) . Während die OECD zu Beginn ihrer Tätigkeit eine rein westeuropäische Vereinigung der Industriestaaten gewesen ist, hat sie sich nach dem Beitritt Australiens, Japans, Kanadas und der USA sowie anderer außereuropäischer Mitgliedstaaten zu einem Forum der wirtschaftlichen Zusammenarbeit der 31 wichtigsten Industrieländer der Welt entwickelt! ", Als internationale Organisation, die sich die Förderung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen ihren Mitgl iedstaaten zum Ziel gesetzt hat, beschäftigt sich die O ECD auch mit kriminalpolitischen Problemen des internationalen Gesch äftsverkehrs-". Zur Durchsetzung ihrer Ziele im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts bedient sich die O ECD wie die UN überwiegend des sog . "s oft law" . Damit sind Instrumente wie Modellkonventionen, Empfehlungen und Verhaltenscodices gemeint, die nicht auf eine Recht sharmonisierung im Sinne eines "G le ichklangs" der Normen abzielen, sond ern auf eine funktionale Annäherung der Strafrechtssysteme (Ass imilierung}" , Diese Methode hat den Vorte il, dass sie die Durchsetzung gewisser strafrechtlicher Standards in grundverschiedenen Recht systemen wie dem angelsächsischen, kontinental-europäisch en und asiatischen ermöglicht, ohne dass tradierte Prinzipien und Regelungstechniken aufgegeben werden müssen . 12 Zu den strafrechtsrelevanten Aktivitäten der O ECD geh örte z. B. die Ausarbeitung detaillierter Empfehlungen über die Strafbarkeit bestimmter Computerdelikte im Jahre 1985 22 • In den letzten Jahren haben sich die Bekämpfung von Bestechung und Korruption im internationalen Geschäftsverkehr sowie der Geldwäsche als strafrechtliche Hauptbetätigungsfelder der OECD herauskristallisiert.
1. Bekämpfung von Korruption und Bestechung 13 Der Rat der OECD verab schiedete am 27 . Mai 1994 eine Empfehlung zur Ergre ifung wirk samer Maßnahmen zur Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amt sträger im Zusammenhang mit dem internationalen Geschäftsverkehr. Ein Jahr später gab er eine überarbeitete Empfehlung ab und forderte die unverzügliche Erarbeitung eines internationalen Übere inkommens. Vom 18. bis 21. November 1997 tagte in Paris eine diplomatische Konferenz, in der sich die Teilnehmer einvernehmlich auf den Text eines entsprechenden OECD-Übereinkommens mit zugehörigen Erläuterungen verständigten . Am 27 . Dezember 1997 unterzei chneten die Mitgliedstaaten der O ECD sowie Argentinien, Brasilien, Bulgarien, Chile 19 20 21
22
Am 11. Januar 20 I0 vollzog Ch ile als erster Staat Südamer ikas den Beitr itt zur O ECD. Für 201 0 sind die Beitritte von Estland, Israel und Slow eni en ge plant. Vgl. hierzu Ziegenhahn, Men sche nrechte, S. 60 ff. Vgl. hierzu Pieth, ZStW 109 (199 7), 756, 770 f. Vgl. hierzu Sieber, JZ 1996, 429 ff., 494 ff.
B. Strafrechtsrelevante Kooperation sformen
165
und die Slowakische Republik die OECD-Konvention zur Bekämpfung der Korruption-", Dieses Übereinkommen ist inzwischen von fast allen beigetretenen Staaten ratifiziert und in nationales Recht umgesetzt worden . Um die dem offenen und freien Wettbewerb unterworfenen Märkte vor den ne- 14 gativen Auswirkungen der Korruption zu schützen, verpflichtet das Übereinkommen die Vertragsstaaten zur Kriminalisierung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr durch Einführung entsprechender Straftatbestände. Außerdem versprechen sich die beteiligten Staaten, einander umfassend Rechtshilfe zu leisten. Hierbei soll das klassische Rechtshilfeerfordemis der beiderseitigen Strafbarkeit als gegeben angesehen werden. Auch sollen die Konventionsstaaten gewährleisten, dass Rechtshilfeersuchen nicht unter Hinweis auf das Bankgeheimnis abgelehnt werden dürfen . Die Vertragsstaaten verpflichten sich des Weiteren, auch eigene Staatsangehörige auszuliefern oder eine entsprechende Strafverfolgung im eigenen Hoheitsgebiet sicherzustellen. In Deutschland erfolgte die Umsetzung der OECD-Konvention durch das Ge- 15 setz zu dem Übereinkommen v. 17. Dezember 1997 über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr (IntBestG) v. 10. September 1998 , welches am 15. Februar 1999 in Kraft trat/", Gesetzestechnisch hat der deutsche Gesetzgeber die Strafbarkeit der Bestechung ausl ändischer Amtsträger dadurch erreicht, dass er in Art . 2 § I IntBestG ausländische mit inländischen Amtsträgern gleichgestellt und in diesen Fällen die Anwendung der §§ 334, 335, 336, 338 11 StGB vorgesehen hat (nicht erfasst werden also Vorteilsgewährungen nach § 333 StGB)25. Der Amtsträgerbegriff des IntBestG ist nicht im Sinne der jeweiligen nationalen Rechtsordnung, sondern autonom auf der Grundlage der OECD-Konvention auszulegen", Strafbar ist gern . Art . 2 § 2 IntBestG unter den dort genannten Voraussetzungen auch die Bestechung ausländischer Abgeordneter. Insoweit geht der Strafrechtsschutz weiter als bezüglich nationaler Abgeordneter (§ 108 e StGB)27. Ergänzt werden die o. g. Strafbestimmungen durch das EU-Bestechungsgesetz (EUBestG) v. 10. September 1998 28, das zu einer Ausdehnung des Anwendungsbereichs der §§ 334, 335, 336, 338 StGB auf Richter und Amtsträger der anderen EU-Mitgliedstaaten sowie auf Richter des Gerichtshofes der EU und Unionsbeamte führt " . Mit diesem Gesetz erfüllte der deutsche Gesetzgeber seine Verpflichtungen aus dem I. ZP zum Übereinkommen 23 24
25
26
27 28
29
Abgedruckt mit amtlicher Übersetzung in BT-Drs. 13/10428, S. 9fI BGB!. 11 1998, 2327; 1999, 87; zu m IntßcstG vg!. Karte , wistra 1999, 81; KrauseiVogel, RIW 1999,488 ff:; Taschke, StV 2001 , 78 ff.; Zieschang NJW 1999, 105, 106 ff. Pelz , StraFo 2000 , 300 , 302 ff. BGHSt 52, 323 = NJW 2009 , 89 ; Satzger, NStZ 2009, 297 , 304 ; Schu ster/Riib enstahl, wistra 2008,201,203 ; a. A. Androulakis, Globalisierung der Korruptionsbekämpfung, S.405. Lackner/Kiihl, § 108 eRn. 9; Taschke, StV 2001 , 78, 80. BGB!. 11 1998 , 2340. Gänßle, NStZ 1999, 543 ff.; Ligeti, Strafrecht in der EU, S. 306 ff.; Pelz , StraFo 2000, 300 , 301 f.; Zieschan g , NJW 1999 , 105 f.
166
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
über den Schutz der finan ziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften zur Bekämpfung der Korruption-? und dem Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der EU oder der Mitgliedstaaten beteiligt sind-" .
2. Bekämpfung der Geldwäsche 16 Die Aktivitäten der OECD im Kampf gegen Geldwäsche werden vor allem von der bei der OECD angesiedelten FA TF (Financial Action Task Force on Mone y Laundering) koordiniert und vorangetrieben'<. Bei der FATF handelt es sich um ein ursprünglich von den Staats- und Regierungschefs der G7-Staaten und dem Vorsitzenden der EU-Kommission im Juni 1989 eingesetztes zwischenstaatliches Gremium, dessen zentrale Aufgabe darin besteht, die internationale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Geldwäsche zu entwickeln und zu fördern . Die FATF setzt sich aus den Mitgliedstaaten der wichtigsten Finanzzentren Europas, Nordamerikas und Asiens sowie zwei internationalen Organisationen zusammen. Nach ihrer Gründung im Jahre 1989 entwarf sie 40 Empfehlungen zur Geldwäschebekämpfung, die im Wesentlichen in die I. EG-Geldwäscherichtlinie von 1991 33 eingeflossen sind . Die jährlichen Berichte der FATF, in welchen die Defizite im Kampf gegen die Geldwäsche nicht nur in den Mitgli edstaaten, sondern gerade auch in den nicht kooperierenden Staaten aufgezeigt werden, sind durchaus geeignet, politischen Druck auf die Staaten auszuüben . So hat z. B. Österreich im Februar 2000 - wie von der FATF gefordert - die bis dahin nach inner staatlichem Recht mögliche Einrichtung anon ymer Konten abgeschafft. 17 Die Konvention zur Bekämpfung der Korruption und die von der O ECD initiierten Aktivitäten gegen Geldwäschekriminalität bilden anschauliche Beispiele dafür, wie durch Übereinkommen, die im Rahmen internationaler Kooperation geschlossen wurden, aber auch durch bloß e Empfehlungen bestimmte strafrechtliche Standards und Maßnahmen in den Konv entionsstaaten durchgesetzt werden können . Freilich funktioniert dieser " weiche" Durchsetzungsmechanismus nur, wenn die Konventionsstaaten zur Umsetzung der empfohlenen Zielvorgaben in nationale s Recht bereit sind.
30 31
32
33
ABlEG 1996 Nr. C 313, S. I. ABlEG 1997 Nr. C 195, S. 1; vgl. hierzu Dannecker, Wirtschaf ts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 46, 50. Vgl. hierzu Gentzik , Europäisierung des Geldwäschestrafrechts, S. 37 f.; Hoyer/Klos , Geldwäsche, S. 38; Ziegenhahn, Menschenrechte, S. 61 f. Richtlinie 91 /308/EWG v. 10. Juni 1991 zur Verhinderung und Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche (ABlEGNr. L 166, S. 77).
B. Strafrechtsrelevante Kooperationsformen
167
V. Gipfelkonferenz der G7/G8-Staaten Seit 1975 treffen sich die Staats- und Regierungschefs von sieben Industriestaaten 18 mit dem weltwirtschaftlich größten Gewicht (G7-Staaten : Deutschland, Frankreich , Großbritannien, Italien , Japan, Kanada und USA) zu einer jährlichen Gipfelkonferenz, um sich über wirtschaftliche und politische Fragen auszutauschen. Die seit 1998 (nach dem Beitritt Russlands) in G8-Staaten umgetaufte Institution bildet eine Plattform für eine informelle politische Zusammenarbeit der beteiligten Staaten ohne feste Strukturen oder eigene Organe. Zu den von den G7/G8-Staaten behandelten Themen gehören auch kriminalpolitische Fragen, insbesondere die Bekämpfung von Terrorismus, OK, Geldwäsche und Missbräuchen in internationalen Computernetzen-", Die auf den Gipfelkonferenzen gefassten Beschlüsse und Empfehlungen entfalten keine rechtliche Bindungswirkung, sind jedoch von nicht zu unterschätzender politischer Bedeutung.
VI. Zusammenarbeit im Europarat Im Europa des Europarates arbeiten inzwischen 47 Staaten - darunter alle EU- 19 Mitgliedstaaten - zusammen, die sich zur Wahrung und Beachtung der in der EMRK niedergelegten Grundfreiheiten verpflichtet haben . Der Tätigkeit der Straßburger Konventionsorgane (Europäische Kommission für Menschenrechte und Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte )35 ist es zu verdanken, dass sich innerhalb der letzten Jahrzehnte ein gemeineuropäischer Grundrechtsstandard herausbilden konnte, der die nationalen Strafrechtsordnungen der Konventionsstaaten erheblich beeinflusst (§ 3 Rn. 18 ff.). Der Europarat setzt bei seiner Arbeit im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung zum einen auf die Instrumente des "soft law" (Modellgesetze, Stellungnahmen, Empfehlungen, Verhaltenscodices), aber auch auf die harmonisierende Wirkung völkerrechtlicher Übereinkommen (§ 3 Rn. I1 ff.) . Exemplarisch ist auf die Maßnahmen des Europarates zur Bekämpfung von Geldwäsche, Drogenkriminalität, Korruption und Cyber Crime hinzuweisen, durch die entsprechende Aktivitäten der OECD, UN bzw . G8-Staaten ergänzt werden.
1. Bekämpfung der Geldwäsche und Betäubungsmittelkriminalität Am 8. November 1990 wurde das Übereinkommen über Geldwäsche sowie 20 Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Erträgen aus Straftaten beschlosserr", das am I. September 1993 in Kraft getreten ist. Mittlerweile ist es von den meisten Mitgliedstaaten ratifiziert worden". Das Übereinkommen zielt - inso34 35
36 37
Vgl. hierzu Sieber, JZ 1997,369,372. Seit dem 1. November 1998 ist die EKMR und der nur bei Bedarf tagende EGMR durch einen ständig tagenden EGMR ersetzt worden. ETS Nr. 141. In der BRD gilt es seit I. Januar 1999 (BGBI. II 1998, 519; 2000, 1304; 2001, 339).
168
§ 5 EU-Mitglied staaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
weit über das UN-SuchtstoffÜbK v. 20. Dezember 1988 (Rn. 8) hinausgehend darauf ab, den Vortatenkatalog der nationalen Geldwäschetatbestände über den Bereich der Betäubungsmitteldelikte auf alle Straftat en auszudehnen. Darüber hinaus enthält das Übereinkommen detaillierte Rechtshilferegelungen für die Phasen Ermittlung, vorläufige Sicherung und definitive Einziehung von Tatwerkzeugen sowie illegal erlangter Erträge und Vermögensgegenstände. 21 Durch das Europäische Übereinkommen über den unerlaubten Verkehr mit Drogen auf hoher See zur Durchführung des Art. 17 des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen v. 13. Januar 199538 sollen insbesondere die rechtshilferechtlichen Instrumentarien des Art. 17 UN-SuchtstoffÜbK präzisiert und verstärkt werden , indem Regelungen zur Ausübung der Strafgewalt und zum Einsatz von Zwangsmaßnahmen getroffen werden .
2. Bekämpfung der Korruption 22 Am 27. Januar 1999 wurde eine Strafrechtskonvention zur Korruptions" verabschiedet , die für diejenigen Staaten , welche die Konvention ratifiziert haben, zum I. Juli 2002 in Kraft getreten isr". Das Übereinkommen bezieht sich umfassend auf Bestechung und Bestechlichkeit im öffentlichen und privaten Sektor sowohl im nationalen als auch im internationalen Bereich . Des Weiteren finden sich in dem Übereinkommen umfangreiche Regelungen zu Rechtshilfe , Auslieferung, Spontankontakten und direktem Informationsaustausch zwischen den nationalen Strafverfolgungsbehörden. Zugleich wurde eine Vereinbarung über die Einsetzung der Gruppe der Staaten gegen Korruption (GRECO) getroffen , um die nationalen Aktivit äten durch intensivere Zusammenarbeit zu stärken .
3. Bekämpfung der Cyber-Kriminalität 23 Ein weiteres Beispiel für die Zusammenarbeit der Europaratsstaaten im Bereich der Bekämpfung transnationaler Kriminalität ist das Europäische Übereinkommen zur Datennetzkriminalität v. 23. November 2001 41, welches erstmals hochspezifische und umfangreiche Anpassungen des materiellen und prozessualen innerstaatlichen Strafrechts vorsieht, um die verschiedensten Formen von "Cyber Crime" zu bekämpfen . Diese von Deutschland am 9. März 2009 ratifizierte Konvention sieht u. a. die Möglichkeit vor, Internetdienste zu verpflichten, sämtlichen Datenverkehr über drei Monate zu speichern . Das Eindringen in Computersysteme ("Hacking") wird als strafwürdige Handlung angesehen". 38 39 40
41 42
ETS Nr . 156; BGB!. 2000 11, 1313. ETS N r. 173 mit seinem Zusatzprotokoll v. 15. Mai 2003 (ETS Nr. 191). Deutschland hat das Übereinkommen zwar unterzeichnet, aber bislang noch nicht ratifiziert. ETS Nr . 185; BGB!. 2008 11, 1242 . Dannecker, Wirtschafts- und Steue rstrafrecht, I. Kap. Rn. 75; Schnabi, wistra 2004 , 211,215.
C. Zusammenarbeit in der EU
169
4. Bedeutung der Zusammenarbeit im Europarat Dass dem Streben nach Rechtsvereinheitlichung auf dem Feld des Strafrechts je- 24 doch Grenzen gesetzt sind, zeigt sich daran, dass die meisten strafrechtsrelevanten Übereinkommen des Europarates mangels der erforderlichen Zahl von Ratifikationen nicht in Kraft getreten sind. Der eigentliche " Schrittmacher" der europäischen Strafrechtsentwicklung ist derzeit nicht der Europarat, sondern die EU. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Europarat dennoch eine bedeutende Rolle als Forum paneuropäischer Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafrechtspflege und der Kriminalpolitik spielt (§ 3 Rn. 16). Neben der politischen Erfahrung, die der Europarat durch die Ausarbeitung und den Abschluss zahlreicher Konventionen auf dem Gebiet der Kriminalitätsbekämpfung und der intern ationalen Strafrechtspflege erlangt hat, prädestinieren ihn vor allem seine im Verhältnis zur EU größere Zahl an Mitgliedern und die dadurch bedingte kriminalgeographische Abdeckung als geeignete Institution für eine Abstimmung der nationalen Kriminalpolitiken bzw. Angleichung des Straf- , Strafverfahrens- und Rechtshilferecht s. Die Tätigkeit des Europarates ist aus dem Prozess der Internationalisierung des Strafrechts schon deshalb nicht hinweg zu denken, weil er auch die Nicht-EUStaaten in die internationale Zusammenarbeit einbindet. Letzteres ist von zentraler Bedeutung, weil sich Ost-, Mittel- und Westeuropa mittlerweile zu einem zusammenhängenden kriminalgeographischen Aktionsraum entwickelt haberr".
C. Zusammenarbeit in der EU Im Europa der Europäischen Union findet die polizeiliche und justizielle Zu- 25 sammenarbeit der 27 EU-Mitgliedstaaten seit dem Inkrafttreten des Reformvertrages von Lissabon am I. Dezember 2009 in dem einheitlichen Rahmen des Unionsrecht s starr" . Die nachfolgend in ihren wesentlichen Entwick lungsphasen darzustellende Kooperation der Mitgliedstaaten im Bereich der inneren Sicherheit hat sich seit den 1970er Jahren zwar stetig, aber im Hinblick auf nationale Souveränitätsvorbehalte nur langsam ausgeweitet. Erst nach und nach hat sich bei den Mitgliedstaaten die Einsicht durchgesetzt, dass eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Justiz und der Innenpolitik ihrem gemeinsamen Interesse entspricht.
43
Kohl, Transnationale Kriminalität, S. 30 ff. ; Zachert, in: Sieber (Hrsg.), Europäische
44
Heger, ZIS 2009, 406 ff. ; Suhr, ZEuS 2009, 687, 690 ff.; Zäller, ZIS 2009, 340, 343.
Einigung, S. 61, 76.
170
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
I. Informelle Kooperation 1. TREVI-Arbeitsgruppen 26 Das Aufkommen des politisch motivi erten Terrorismus in den I 970er Jahren und die hierdurch entstandene neue Bedrohungslage war der äußere Anlass für die EGMitgliedstaaten, zu einer engeren transnationalen Zusammenarbeit im Bereich der Strafverfolgung zu gelangen. Im Hinblick darauf, dass die früh ere EG zu diesem Zeitpunkt noch keine Kompetenz für innen- und recht spolitische Angelegenheiten hatte , bediente man sich zunächst einer rein informellen (nicht institutionalisierten) Kooperationsform . Der Europä ische Rat von Rom reagierte im Jahre 1975 auf die damaligen Terroranschläge durch die Einführung einer regelm äßigen informellen Zusammenarbeit der nationalen Behörden in Konsultations- und Arbeitgruppen . Diese sollten Informationen und Erfahrungen auf dem Gebiet der Terrorismusbekämpfung austauschen und gemeinsame polizeiliche Strategien erarbeiten. Die informelle Zusammenarbeit in den hieraus erwachsenen, regelmäßig tagenden TREVI-Konsultationsgruppen 45 reichte aber schon bald über das von TREVI I behandelte Thema Terrorismusbekämpfung hinaus. 27 Mit der Bildung der Arbeitgruppe TREVI 11 reagierten die Mitgliedstaaten auf die Ereignisse im Brüsseler Heysel-Stadion am 29 . Mai 1985, bei denen 39 Menschen getötet und mehr als 400 Personen verletzt wurden. Diese Arbeitsgruppe hatte die Aufgabe, Informationen über schwerwiegende Störungen der öffentlichen Ordnung insbesondere im Zusammenhang mit Fußballrowdytum auszutauschen . Der Arbeitsschwerpunkt der im Jahre 1985 gegründeten Arbeitsgruppe TREVI III lag bei der Bekämpfung der internationalen OK, insbesondere des illegalen Rauschgifthandels. Die Ad-hoc-Arbeits-gruppe Europol befasste sich im Anschluss an den EG-Gipfe l in Luxemburg (1991) mit der Bildung einer eurokriminalpolizeilichen Zentralstelle. In der Ad-hoc-Arbeitsgruppe TREvr92 wurden Ausgleichsmaßnahmen für den aus der Umsetzung des Schengener Übereinkommens (Rn . 30) resultierenden Wegfall der Kontrollen an den Binnengrenzen und den damit einhergehenden Sich erheitsverlusten beraten. Da die TR EVIZusammenarbeit keine rechtli che Grundlage im Gemeinschaftsrecht hatte, war sie nicht in den institutionellen Rahmen der EG eingegliedert. Eine gewisse Anbindung an die Organisationsstruktur der EG ergab sich nur daraus, dass der Vorsitz in den Arbeitsgruppen durch den Mitgliedstaat ausgeübt wurde, der turnusgemäß den Vorsitz im Rat führte . Im Rahmen von TR EVI wurden keine rechtlich verbindlichen Vereinbarungen erarbeitet, sondern Ministerempfehlungen, deren Umsetzung von dem politischen Willen der einz elnen Mitgliedstaaten abhängig war . Durch die in den TR EVI-Arbeitsgruppen praktizierte Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kriminalitätsbekämpfung wurde jedoch der Grundstein für die später 45
Der Ursprung des Kürzels ist unklar: Während manche Autoren TREVI als Kürzel für die Begriffe .Terrorisme, Radicalisme et Violence Internationale" sehen, führen andere ihn auf den Namen des ersten Tagungsortes der Arbeitsgruppe bei der "Fontana di Trevi" in Rom zurück; vgl. Gleß /Lüke, JURA 1998, 70, 71 , dort Fn. 25; Ligeti, Strafrecht in der EU, S. 55, dort Fn. 22.
C. Zusammenarbeitin der EU
171
infolge der Verträge von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997) institutionalisierte Kooperation der Mitgliedstaaten im Rahmen der 3. Säule der EU gelegt".
2. CELAD In den 1980er Jahren wurde die Drogenbekämpfung in vielen Mitgliedstaaten zum 28 beherrschenden Thema der kriminalpolitischen Agenda. Im Jahre 1989 setzte der Europäische Rat CELAD (Cornite Europeen de la Lutte Antidrogue) ein - ein Ausschuss nationaler Vertreter mit der Aufgabe, Maßnahmen der Mitgliedstaaten und der EG zur Bekämpfung der Drogensucht und der Drogenkriminalität zu koordinieren. Ein wesentliches Ergebnis der Ausschussarbeit war die Erstellung eines Europäischen Drogenbekämpfungsplans, der u. a. die Einrichtung einer Europäischen Drogenbeobachtungsstelle vorsah . Eine solche errichtete der Europäische Rat im Jahre 1993 in Lissabon". Dort werden seither Informationen über die Drogen- und Drogensuchtproblematik, jedoch keine personenbezogenen Daten gesammelt. Die Datensammlung der Beobachtungsstelle dient als empirisch fundierte Grundlage für repre ssive und präventive Maßnahmen der Mitgliedstaaten. Im Jahre 1997 wurde CELAD durch die Horizontale Drogengruppe (HDG) des Rates abg elöst , die eine in der "Grauzone" zwischen intergouvemementaler und unionsrechtlicher Zusammenarbeit anzusiedelnde Kooperationsform darstellt".
11. Kooperation im Rahmen der Sehengener Abkommen 1. Schengen I und Schengen 11 (SDÜ) Das "Europa der zwei Geschwindigkeiten" äußerte sich in der Zusammenarbeit 29 einer Gruppe von zunächst fünf EG-Staaten, die eine weitergehende politische Integration Europas anstrebten. Ausgehend von einem Beschluss des Europäischen Rates aus dem Jahre 1984 forcierte die Gemeinschaft das Projekt .Europa der Bürger", das spürbare Auswirkungen auf das Alltagsleben der Bürger entfalten sollte . Hierzu gehörte auch und vor allem die Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen. Am 14. Juni 1985 unterzeichneten Deutschland, Frankreich , Belgien, Luxemburg und die Niederlande das Abkommen von Schengen (Luxemburg) über den schrittweisen Abbau der Personenkontrollen an den gemeinsamen Grenzen zwischen den Vertragsparteien (Schengen 1)49. Die durch den Wegfall der Binnengrenzkontrollen befLirchtete Einbuße an innerer Sicherheit soll-
46
47 48 49
Vgl. hierzu Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 218 f.; Degenhardt , Europol, S. 21 ff:; Sinn , EG, S. 300; Nelle s, ZStW 109 (1997), S. 727, 734.
vo (EWG)302/93; ABLEG 1993 Nr. L 36, S. I.
Gleß/L üke, JURA 1998, 70, 72; Sinn , EG, S. 341.
Übk. zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der BRD und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen v. 14. Juni 1985 (GMBI. 1986,79 ff.).
172
§ 5 EU-Mitglied staaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
te ein weiterer völkerrechtlicher Vertrag, das Schengener Durchführungsübereinkommen (Schengen 11 - SDÜ) v. 19. Juni 199050 ausgleichen. 30 Das SDÜ trat am 1. September 1993 in Kraft. Die praktische Anwendung seiner Einze lbestimmungen und der von Sehengen 1 beschlossene Wegfall der Personenkontrollen an den Binnengrenzen erfolgte jedoch erst nach Schaffung der erforderlichen technischen (z. B. Einrichtung von Datenbanken und der dafür erforderlichen Datenschutzbehörden) und rechtlichen (sog . " Inkraftsetzung") Voraussetzungen am 26. März 1995, zunächst zwischen den fünf Partnern des Schengener Abkommens sowie Spanien und Portugal. Seit 1995 traten Italien, Griechenland, Österreich, Dänemark, Finnland und Schweden dem SDÜ bei. Norwegen und Island wenden das Schengen-Regelwerk seit dem 25. März 2001 , die Schweiz seit dem 12. Dezember 2008 vollumfänglich an. Großbritannien und Irland sind keine Parteien des Schengener Abkommens. Sie können den "Schengen-Acquis" (Rn. 68) mit Billigung der Union ganz oder teilweise übernehmen und sich an seiner Weiterentwicklung beteiligen. Dänemark entscheidet von Fall zu Fall, ob es sich an der Weiterentwicklung des Sehengen-Besitzstandes auf völkerrechtlicher Grundlage anschließt und das ohne seine Beteiligung zustande gekommene Gemeinschaftsrecht als nationales Recht anwenden will. Von den am 1. Mai 2004 der EU beigetretenen zehn Staaten haben alle mit Ausn ahme von Zypern den Sehengen-Besitzstand weitgehend übernommen'". Trotz Vollmitgliedschaft in der EU wenden Bulgarien und Rumänien (Beitritt am I. Januar 2007) und Zypern den Sehengen-Besitzstand bislang nur teilweise an. 31 Das SDÜ regelt in 142 Artikeln die grundlegenden operativen Bestimmungen des Schengen-Systems. Neben Maßnahmen zur Abschaffung der Grenzkontrollen und zum freien Personenverkehr führte es eine Reihe von Maßnahmen zum Ausgleich möglicher Sicherheitsdefizite ein. Hierzu gehören namentlich die Vereinbarung einheitlicher Kontrollstandards an den Außengrenzen, die Anwendung gemeinsamer Grunds ätze für die Einreise und den Aufenthalt von Drittausl ändern , die Definition einer einheitlichen Visumpolitik und -praxis , die Regelung der Zuständigkeit für die Behandlung von Asylge suchen sowie die Annahme gemeinsamer Grundsätze für die grenzüberschreitende polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit. Schließlich ermöglicht das Schengener Informationssystem (SIS) als technische Kernstück der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit allen Teilnehmerstaaten den Zugriff auf ein zentrales, für die Polizeizusammenarbeit äußerst nützliches Informationssystem (Rn. 48 ff.).
50
51
Übk. zur Durchführung des Übereinkommens von Sehengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierung en der Staaten der ß enelux-Wirt schaft sunion , der ßRD und der Französischen Republik betreffend den schrittwei sen Abbau der Kontroll en an den ge meinsamen Grenzen v. 19. Jun i 1990 - SD Ü- (BG ßl . 11 1993, 1013 ff.). Ygl. die in Anh ang 1 der Beitr ittsakte aufgeführten Bestimmungen des SchengenBesitzstande s, die ab dem Beitritt für die neuen Mitglied staaten bindend und in ihnen anzuwenden sind (ABl EU 2003 Nr. L 236, S. 50).
C. Zusammenarbeit in der EU
173
2. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit auf der Basis des SDÜ a) Überblick Der im SDÜ normierte Katalog für eine engere polizeiliche und justizielle Zu- 32 sammenarbeit, die der vorbeugenden Bekämpfung und der Aufklärung von strafbaren Handlungen dient , umfasst folgende Maßnahmen : -
Polizeilicher Informationsaustausch (Art . 39 SDÜ) , Grenzüberschreitende Observation (Art. 40 SDÜ), Grenzüberschreitende Nacheile (Art . 41 SDÜ), Gleichstellung der Beamten (Art . 42 SDÜ), Direkte Kommunikation (Art . 44 SDÜ) , Präventive Spontaninformationen (Art. 46 SDÜ), Entsendung von Verbindungsbeamten (Art . 47 SDÜ) , Leistung von Rechtshilfe über das Europäische Rechtshilfeübereinkommen hinaus (Art . 48-49 SDÜ) , Direkte Übersendung von gerichtlichen Urkunden (Art. 52 SDÜ), Unmittelbare Übermittlung von Rechtshilfeersuchen von Justizbehörde zu Justizbehörde (Art. 53 SDÜ) , Staatenübergreifender Informationsaustausch (Art. 57 SDÜ) , Erleichterung der Auslieferung (Art . 59-66 SDÜ) , Übertragung der Vollstreckung von Strafurteilen (Art. 67-69 SDÜ), Bildung gemeinsamer Arbeitsgruppen zur Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität (Art . 70 SDÜ) , Kontrollierte Lieferung bei dem unerlaubten Handel mit Betäubungsmitteln im Einzelfall auf der Grundlage der Vorwegbewilligung der betroffenen Vertragsparteien (Art. 73 SDÜ) .
b) Polizeilicher Informationsaustausch (Art. 39 SDÜ) Der formlose polizeiliche Informationsaustausch (Art. 39 I SDÜ) dient sowohl der 33 vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten (präventivpolizeilicher Bereich) als auch der Aufkl ärung von Straftaten (Strafverfolgung). Ein "polizeilicher Rechtshilfeverkehr" gern. Art. 39 I SDÜ ist aber ausgeschlossen, wenn ein Ersuchen oder dessen Erledigung nach nationalem Recht den Justizbehörden vorbehalten ist und die Erledigung des Ersuchens die Ergreifung von Zwangsmaßnahmen (z. B. Festnahme, Durchsuchung, Beschlagnahme und Telefonüberwachung) erfordert. Nach deutschem Recht kommen demnach z. B. folgende Hilfeleistungsmaßnahmen in Betracht: erkennungsdienstliche Behandlung (§ 81 b StPO) , Datenabgleich (§ 98 c StPO) , Identitätsfeststellung (§ 163 b StPO) , kurzfristige Observationen, Klärung der Aussagebereitschaft von Zeugen , polizeiliche Vernehmung von Zeugen und Beschuldigten (§ 163 aStPO), Auskünfte aus öffentlich zugänglichen Unterlagen und Melderegistern sowie Halterfeststellungen. Art. 39 11 SDÜ normiert eine Beweisverwertungsschranke. Danach können schriftliche Informationen, die von der ersuchten Vertragspartei nach Art. 39 I SDÜ übermittelt werden , nur mit Zustimmung der zuständigen Justizbehörde der ersuchten Vertragspartei von der
174
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
ersuchenden Vertragspartei als Beweismittel in einem Strafverfahren benutzt werden. 34 Beispiel: Die französische Justi z darf ein poli zeiliches Protokoll über eine l3eschuldigtenvernehrnung, das im Rahmen eines Informationsaustausches gern . Art. 39 I SDÜ von der deutschen Poli zei an die fran zösischen Kollegen übersandt wurde, nur dann als Beweismittel in einem gegen den Vernommenen geführten Strafverfahren verwerten, wenn die zuständige deutsche Justi zbehörde zustimmt'< .
35 Grundsätzlich wird der polizeiliche Rechtshilfeverkehr über die "beauftragte zentrale Stelle" abgewickelt, in der Bundesrepublik Deutschland also über das BKA. Ein unmittelbarer Informationsaustausch zwischen den beteiligten Polizeibehörden ist nur in Eilfallen zulässig (Art . 39 11I 2 SDÜ). Nach Art. 39 V SDÜ bleiben jedoch weitergehende bilaterale Abkommen zwischen den Vertragsparteien, die eine gemeinsame Grenze haben, unberührt. Hierzu gehört z. B. der Vertrag von Prüm v 27. Mai 2005 53 , in dem sich mehrere EU-Mitgliedstaaten zur Beschleunigung und Verbesserung der Polizeikooperation zusammengeschlossen haben>'. Dieser Vertrag sieht ein direktes Zugangs- und Abrufrecht auf bestimmte Register und Datenbanken in den einbezogenen Partnerländern vor, soweit der Zugriff auf diese Informationen nach nationalem Recht zulässig wäre . Unter den erfassten Datenkategorien finden sich Informationen über gestohlene Fahrzeuge, DNA-Daten und gespeicherte Fingerabdrücke. Seine wesentlichen Bestimmungen wurden durch Beschluss des Rates v. 23. Juni 2008 55 in den Rechtsrahmen der EU überfuhrt. Die Kommission hat am 12. Oktober 2005 den Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über den Austausch von Informationen nach dem Grundsatz der Verfügbarkeit'" vorgelegt. Sollte dieser Vorschlag angenommen werden , wären die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, bestimmte Arten von Informationen (DNA-Profile, Fingerabdrücke, ballistische Erkenntnisse, KfzHalterermittlungen, Telefonnummern sowie Auskünfte aus Personenstandsregistern), die ihren Behörden zur VerfLigung stehen , gleichwertigen Behörden anderer Mitgliedstaaten zur Verfugung zu stellen , soweit diese die Informationen für die Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben im Hinblick auf die Verhütung, Aufdeckung und Untersuchung von Straftaten benötigen.
52 53
54 55
56
Vgl. hierzu BGHSt 34 , 334, 342 II Vertrag über die Vertiefung der grenzüberschreitenden Zu sammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung de s Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration (BGBI. 2006 11, S. 626). Unterzeichnerstaaten sind Belgien, Frankreich , Luxemburg, Niederlande, Österreich, Spanien und Deutschland. Dem Vertrag beigetreten sind Finnland, Slowenien, Ungarn und Norwegen (Stand: 06 /2010). Böse , Grundsatz der Verfügbarkeit, S. 42 II ; Hummer, EuR 2007, 517 ff. ABIEU 2008 Nr. L 210 , S. 1; krit. hierzu Papayannis, ZEuS 2008, 242 f. KOM (2005) 490 endg.; vgl. hierzu Böse, Grundsatz der Verfügbarkeit, S. 46 ff.; Meyer , NStZ 2008, 188 ff
C. Zusammenarbeit in der EU
175
c) Grenzüberschreitende Observation (Art. 40 SDÜ) Das SDÜ ermöglicht erstmals auch die Durchführung grenzüberschreitender poli- 36 zeilicher Maßnahmen, bei denen Hoheitsgewalt eines Vertragsstaates auf dem Territorium eines benachbarten Vertragsstaates ausgeübt wird . Nach Art . 40 I SDÜ sind Beamte einer Vertragspartei, die im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens in ihrem Land eine Person wegen des Verdachts der Beteiligung an einer auslieferungsfähigen Straftat observieren, befugt, die Observation auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Vertragsstaates fortzusetzen , wenn dieser der grenzüberschreitenden Observation auf der Grundlage eines zuvor gestellten Rechtshilfeersuchens zugestimmt hat. Unter Observation versteht man gemeinhin eine länger andauernde heimliche Beobachtung von Personen durch Polizeibehörden, wobei ein Kontakt zwischen der observierten Person und dem observierenden Beamten grundsätzlich nicht beabsichtigt ist. Vor Inkrafttreten des SDÜ durften deutsche Beamte grundsätzlich nur auf deutschem Hoheitsgebiet tätig werden. Die "klassische" Rechtshilfe sah demgemäß lediglich vor, dass die Observation an der Grenze an die Beamten des ersuchten Staate s übergeben wird . In Art. 40 I SDÜ wird ein neues Konzept der transnationalen Strafverfolgung deutlich, nämlich die Befugni s für Beamte eines Schengenstaates, unter Mitnahme von Hoheitsgewalt auf dem Territorium des benachbarten Staates tätig zu werden . Nach Art . 40 I S. 3 SDÜ ist jedoch die Observation auf Verlangen der ersuchten Vertragspartei an die Beamten der Vertragspartei, auf deren Hoheitsgebiet die Observation stattfindet , zu übergeben. Die grenzüberschreitende Observation ist gem . Art . 40 I SDÜ an folgende 37 Voraussetzungen gebunden, welche kumulativ vorliegen müssen'" : - ein eingeleitetes Ermittlungsverfahren im Ausgangsstaat, - wegen einer auslieferungsfähigen Straftat (richtet sich nach der Gesamtheit der auslieferungsrechtlichen Vereinbarungen zwischen den beteiligten Staaten), - gegen eine bereits observierte Person ("Zielperson") in dem (um grenzüberschreitende Observation) ersuchenden Staat sowie - die Zustimmung des ersuchten Staates ("Zielstaates") auf der Grundlage eines zuvor gestellten Rechtshilfeersuchens. Ausnahmswei se kann bei besonderer Dringlichkeit auch ohne vorherige Zu- 38 stimmung eine grenzüberschreitende Observation erfolgen. Dann gelten aber die in Art. 40 11 SDÜ niedergelegten besonderen Bestimmungen: - Voraussetzungen des Art . 40 I SDÜ (Rn. 38), - eine besondere Dringlichkeit, die es nicht erlaubt, im Wege eines Rechtshilfeersuchens die vorherige Zustimmung des Zielstaates einzuholen, - die observierte Person steht im Verdacht der Beteiligung an einer in Art. 40 VII SDÜ (Straftatenkatalog) aufgeführten Straftat,
57
SchomburglGleß , IRhSt, Art. 40 SDÜ Rn. 8 ff.
176
§ 5 EU-Mit gliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
- der Grenzübertritt ist noch während der Observation unverzüglich der in Art. 40 V SDÜ bezeichneten Behörde mitzuteilen, - ein Rechtshilfeersuchen nach Art. 40 I SDÜ ist unverzüglich nachzureichen, wobei die Gründe , die einen Grenzübertritt ohne vorherige Zustimmung rechtfertigen , mitzuteilen sind, - die Observation ist einzu stellen , sobald die Vertragspartei, auf deren Hoheitsgebiet die Observation stattfindet, dies verlangt oder wenn die Zustimmung nicht fünf Stunden nach Grenzübertritt vorliegt. 39 Die Praktikabilität der in Art. 40 11 SDÜ für Eilfälle getroffenen Regelung kann durchaus bezweifelt werden". Es steht zu befürchten, dass das ängstliche Klammern an Souveränitätsgedanken wahrscheinlich wieder zu neuen Grauzonen führen wird. Unbefriedigend ist auch , dass die mit der Observation des Tatverdächtigen einhergehende Observation von Kontaktpersonen ungeregelt geblieben ist. 40 In Art. 40 111 lit. a-h SDÜ sind weitere allgemeine Zuläs sigkeitsvoraussetzungen für eine grenzüberschreitende Observation nach Art. 40 I bzw . 11 SDÜ normiert . Nach der Grenzüberschreitung sind die observierenden Beamten an das Recht des Staates gebunden, auf dessen Hoheitsgebiet sie operieren. Sie dürfen ihre Dienstwaffe mit sich führen, es sei denn, die ersuchte Vertragspartei hat dem ausdrücklich widersprochen. Der Schusswaffengebrauch ist mit Ausnahme des Falles der Notwehr nicht zul ässig'". Die observierenden Beamten sind nicht befugt, Wohnungen und öffentlich nicht zugängliche Grund stücke zu betreten . Auch dürfen sie die zu observierende Person nicht anhalten oder festnehmen.
d) Grenzüberschreitende Nacheile (Art. 41 SDÜ) 41 Grenzüberschreitende Nacheile bedeutet Fortsetzung der polizeilichen Verfolgung von flüchtigen Personen auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Staates?'. Diese neue Form polizeilicher Aktivität über die Grenzen des eigenen Staat sgebietes hinaus ist gem . Art. 41 I SDÜ zulässig , wenn eine Person auf frischer Tat betroffen wurde oder aus Untersuchungs- oder Strafhaft geflohen ist und die Behörden des Staates , auf dessen Hoheitsgebiet nachgeeilt wird, nicht rechtzeitig informiert werden und deshalb die Verfolgung nicht selbst an der Grenze aufnehmen können . Die Befugni s, die Verfolgung im Wege einer grenzüberschreitende Nacheile auf dem Staatsgebiet einer anderen Sehengen-Vertragspartei fortzusetzen , hängt gem . Art. 41 I SDÜ von folgenden Voraussetzungen ab :
- Verfolgung einer Person, die auf frischer Tat bei der Begehung oder der Teilnahme an einer Straftat nach Art. 41 IV SDÜ (Option : Katalogtat oder auslieferungsfähige Tat) betroffen wird oder die aus Untersuchungs- oder Strafhaft geflohen ist, 58 59
60
SchomburglGleß, IRhSt , Art. 40 SD Ü Rn. 13. Zur Problematik des polizeilichen Schusswaffengebrauchs an der deut sch-bel gischniederl änd ischen Grenze vgl. Bramm ertziHourdouxlHartwig, Die Polizei 1996, S. 33. v. BubnojJ, ZRP 2000 , 60.
C. Zusammenarbeit in der EU
177
Eilbedürftigkeit (besondere Dringlichkeit der Angelegenheit) - insofern wird auf die Ausschöpfung der Kommunikationsmittel des Art . 44 SDÜ verwiesen Kontaktaufnahme der nacheilenden Beamten mit der zuständigen Behörde des Gebietsstaates spätestens bei Grenzübertritt, Einhaltung der in einer Erk lärung gern . Art . 41 IX SDÜ festgelegten Erklärung zu den konkreten räumlichen, zeitlichen und sachlichen Nacheilemodalitäten. Deutschland hat durch Erklärungen gern . Art . 41 IX SDÜ den Beamten Belgiens, 42 Frankreichs, Luxemburgs, der Niederlande und Österreichs das Recht der Nacheile ohn e räumliche und zeitliche Begrenzung, für alle auslieferungsfähigen Straftaten und unter Einräumung eines Festhalterechts gewährt. Demgegenüber sind die Nacheilemodalitäten, an welche die deutschen Beamten gebunden sind , in den Nachbarstaaten Deutsch lands jeweils unterschiedlich geregelt" und stellen durch eine willkürliche, sachlich nicht nachvollziehbare rigide Begrenzung eine effektive Nutzung der Nacheile als Instrument der Strafverfolgung in Frage . In der Literatur wird zu Recht eine Harmonisierung der Nacheilemodalitäten 43 gefordert mit dem Ziel , ein unb eschränktes Nachei le- und Festhalterecht im Nachbarterritorium zu erreichen'<. Ungeklärt ist, welche Konsequenzen es für die Gerichtsverwertbarkeit von Beweismitteln hat, die unter Verletzung der Observations- oder Nacheilebestimmungen erlangt wurden. Man denke z. B. an den Fall, dass ein Tatverdächtiger in Luxemburg von nacheilenden deutschen Beamten an einem Ort festgehalten wurde, der elf Kilometer im Landesinneren liegt (nach einer Erklärung Luxemburgs gern . Art . 41 IX SDÜ gilt eine Zehn-KilometerBegrenzungj". Fraglich ist auch, ob die Beamten in so lchen Fällen unter besonderem strafrechtlichen Schutz stehen (vgl. Art . 42 SDÜ).
e) Gleichstellung der Beamten (Art. 42 SDÜ) und Schaden sersatz (Art. 43 SDÜ) Während eines Einschre itens nach Maßgabe der Art . 40 und 41 SDÜ werden die 44 Beamten, die im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei eine Aufgabe erfül len, den Beamten dieser Vertragspartei in Bezug auf die Straftaten gleichgestellt, den en diese Beamten zum Opfer fallen oder die sie begehen würden (Art . 42 SDÜ). Fallbeispiel: Ein aus französischer Strafhaft entflohener Häftling H leistet mit Gewalt Wi- 45 derstand gegen seine Festnahme durch französische Beamte, die ihm über die Grenze hinweg nach Deutschland nachgeeilt sind. Da die französischen Beamten gern. Art. 42 SDÜ den deutschen Amtsträgem gleichgestellt werden, muss sich H gern. § 113 StGB strafrechtlich verantworten. Die Gleichstellungsklausel bewirkt aber auch, dass sich die strafrechtliche Haftung der französischen Beamten nach den für deutsche Amtsträger geltenden 61
62 63
Vgl. hierzu die Erklärungen der Vertragsstaaten im Anhang zum SDÜ bei Schom-
burg/Lagodny/Gleß/Hackner, IRhSt. v. BubnojJ, ZRP 2000, 60 ff. ; Schomburg, IRhSt, Art. 41 SDÜ Rn. 6.
Für die Annahme eines Beweisverwertungsverbotes wegen Verletzung der souveränen Rechte des Gebietsstaates Böse, ZStW 114 (2002) , S. 148, 177.
178
§ 5 EU-Mitg liedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
Bestimmungen richtet (z. B. §§ 331, 332, 340, 343, 344, 345 StGB). Völlig ungekl ärt ist die Recht slage, wenn Beamte eine grenzüberschreitende Observation oder Nacheile unter (bewu sster oder unbewu sster) Überschreitung räumlicher oder zeitlicher Grenzen durchführen und sich hierbei strafrechtlich relevante Ereigni sse abspielen'".
46 Art. 43 I SDÜ bestimmt, dass die Vertragspartei für einen Schaden, den ihre Beamten im Rahmen einer nach Art. 40 und 41 SDÜ vorgenommenen Diensthandlung auf dem Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei verursacht haben , nach Maßgabe ihres nationalen Rechts der anderen Vertragspartei haftet. Nach Art . 43 " SDÜ verpfli chtet sich die Vertragspartei, auf deren Hoheitsgebiet der in Absatz I genannte Schaden verursacht wird , diesen Schaden so zu ersetzen, wie sie ihn ersetzen müsste, wenn ihre eigenen Beamten ihn verursacht hätten. 47
Fallbeispiel: Eine Zivilstreife der franzö sischen Polizei entdeckt kurz vor dem Grenzübergang Straßburg/Kehl den aus franzö sischer Untersuchungshaft entflohenen H. Die franzö sischen Polize ibeamten eilen H über die Rheinbrücke hinweg nach bis zu einem auf deutschem Territorium geleg enen Rastplat z. Dort zwingen sie ihn, mit erhobenen I-länden auszusteigen, legen ihm Handfesseln an und durchsuch en seinen Wagen. Bei der Durch suchungsaktion wird durch grob e Unachtsamkeit eines Beamten der PKW des H beschädigt. Nach Art. 43 11 SD Ü muss die Bund esrepublik den materiellen Schad en so ersetzen, wie sie es müsste, wenn deutsch e Beamte ihn verursacht hätten. H kann also einen Schad ensersatzanspruch (aus Amt shaftung gern. § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG) gegen die Bundesrepublik Deut schland geltend machen und erforderlichenfalls auch vor einem deut schen Gericht einklagen . Gemäß Art. 43 111 SDÜ besteht eine Erstattungsptli cht zwischen den betroffenen Staaten. Falls Deutschland dem H Schaden sersatz leistet, ist Frankreich der Bunde srepublik gegenüber zur Erstattung verpflichtet.
f) Das Schengener Informationssystem (Art. 92-119 SDÜ) 48 Neben der grenzüberschreitenden polizeilichen Zusammenarbeit stellt das in den Art . 92-1 19 SDÜ geregelte Schengener Informationssystem (SIS) die zweite wesentliche Neuerung der transnationalen Kriminalitätsbekämpfung in Europa dar. Das im März 1995 eröffnete und derzeit in 16 Staaten" etablierte SIS ist ein computergestütztes polizeiliches Fahndungssystem, das in den Vertragsstaaten den Online-Zugriff auf polizeiliche Fahndungsdaten erm öglicht". Durch das SIS werden Ausschreibungen, die der Suche nach Personen oder Sachen dienen , zum Abruf im automatisierten Verfahren bereitgehalten. Im Gegensatz zur Interpol-Fahndung (Rn. 3) sind die Teilnehmer des SIS verpflichtet, dem Fahndungsersuchen eines Vertragsstaates zu entsprechen.
64 65
66
Vgl. hierzu Schomburg , IRhSt, Art. 42 SDÜ Rn. 7. Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland , Frankreich, Griechenland , Island, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwege n, Österreich, Portugal , Schw eden, Schw eiz, Spanien (Stand : Juni 2010) . Vgl. hierzu Dann ecker, Wirtschafts- und Steuer strafrecht , Kap. 2 Rn. 171; Gieß!Lüke, JURA 1998, 70, 74 f.
C. Zusammenarbeit in der EU
179
Durch die Integration des Sehengen-Besitzstandes in den Rechtsrahmen der EU 49 (Rn. 68) wurde aus dem SIS ein Europäisches Informationssystem (EIS) . Dadurch wird auch den Nicht-Schengen-Vertragsparteien Großbritannien und Irland eine Teilnahme am SDÜ und somit auch am SIS ermöglicht. Damit ist ein einheitlicher europäischer Fahndungsraum mit einheitlichen für alle Polizeien zugänglichen Fahndungsdaten in unmittelbare Nähe gerückt. Das SIS gliedert sich in einen Zentralrechner in Straßburg (C.SIS = Central 50 Sehengen Information System) und in nationale Systeme der Anwenderstaaten (N.SIS = National Sehengen Information Syst emr". Von den N.SIS werden die Daten an das C.SIS übermittelt, das durch Steuerung der Abfrage- und Eingabedialoge und Betreiben einer Referenzdatenbank für die Synchronität der Daten sorgt und von dort die Daten an alle N.SIS verteilt , so dass nahezu ohne zeitliche Verzögerung nach Dateneingabe im N.SIS die Daten gleichzeitig allen Vertragsstaaten zur Verfugung stehen . Jeder am SIS teilnehmende Staat hat die Verpflichtung, eine Stelle zu bestimmen, die für den nationalen Teil des SIS zuständig ist. Diese Stellen werden SIRENE (Supplementary Information Reque st at the National Entry) genannt. Die deutsche SIRENE befindet sich beim Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden. Im SIS werden folgende Fahndungskategorien unterschieden:
51
- Fahndung nach Personen zur Festnahme zwecks Auslieferung (Art . 95 SDÜ) , - Fahndungen nach Drittau sländern, die zur Einreiseverweigerung bzw. Ausweisung/Abschiebung bei Antreffen im Schengen-Raum ausge schrieben sind (Art. 96 SDÜ), - Fahndungen zur Aufenthaltsermittlung (Vermisste) und zur Ingewahrsamnahme zwecks Gefahrenabwehr (z. B. Suizidgefahr) gemäß Art. 97 SDÜ, - Fahndungen zur Aufenthaltsermittlung für die Justiz (z. B. Angeklagte, Zeugen) gemäß Art. 98 SDÜ, - Fahndungen zur verdeckten Registrierung oder gezielten Kontrolle (Art . 99 SDÜ) , - Fahndungen nach gestohlenen, unterschlagenen oder sonst abhanden gekommenen Sachen gemäß Art. 100 SDÜ, allerdings gilt dies nur für Kraftfahrzeuge über 50 cm", Anhänger und Wohnwagen mit einem Leergewicht von mehr als 750 kg, Schusswaffen , Blankodokumente, ausgefLillte Identitätspapiere sowie Banknoten. Das SDÜ gewährt einen schengenweiten Rechtsschutz vor dem Gericht einer 52 Wahl des Betroffenen, wenn es um vom SIS berührte Datenschutzrechte des Betroffenen geht'".
67
68
Hackner u. a., Leitfaden IntRSt, Rn. 59; Sinn, EG, S.301 ff.; Wahl, Datenschutz, S. 79,971'1'. Baldus, Polizeiliche Zu sammenarbeit , S. 34, 51 ff.; Gleß/Lüke, JURA 2000, 400, 404 ; Wahl, Datenschutz, S. 79, 92 1'1'., 119 ff.
180
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
53 Fallbeispiel: F befürchtet, im SIS gern. Art. 99 SDÜ zur "verdeckten Registrierung" (gemeint ist damit "zur polizeilichen Beobachtung") ausgeschrieben zu sein. Diese Vorschrift erlaubt unter gewissen Voraussetzungen die Aufnahme von Personen- und Fahrzeugdaten zu Zwecken der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr. F möchte zunächst in Erfahrung bringen, ob das zutrifft, um dann ggf. die Rechtmäßigkeit dieser Ausschreibung überprüfen lassen. F steht gern. Art. 109 I SDÜ grundsätzlich ein Auskunftsanspruch zu, dessen Inhalt sich nach dem nationalen Recht des Vertragsstaates richtet, in dessen Hoheitsgebiet das Auskunftsrecht beansprucht wird69 . Nach Art. 110 SDÜ hat jed er das Recht, auf seine Person bezogenen unrichtige Daten berichtigen oder unrechtmäßig erhobene Daten löschen zu lassen. Falls zu seiner Person Daten im SIS gespeichert sind, hat F gern. Art. 114 11 SDÜ einen Anspruch darauf: dass die gern. Art. 114 I SDÜ eingerichteten nationalen Kontrollinstanzen die Rechtmäßigkeit der Datenspeicherung sowie deren Nutzung überprüfen. Erforderlichenfalls kann F von seiner in Art. 111 SDÜ niedergelegten Rechtsschutzgarantie Gebrauch machen. Art. III SDÜ gewährt jedem das Recht, im Hoheitsgebiet jeder Vertragspartei eine Klage wegen einer seine Person betreffenden Ausschreibung insbesondere auf Berichtigung, Löschung, Auskunftserteilung oder Schadenersatz vor dem nach nationalem Recht zuständigen Gericht oder der zuständigen Behörde zu erheben.
111. Die frühere 3. Säule der EU
1. Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI) 54 Erst mit dem Abschluss des am I. November 1993 in Kraft getretenen Vertrages von Maastricht wurden in der dadurch geschaffenen 3. Säule der EU gemeinsame Strukturen für eine staatenübergreifende Zusammenarbeit in Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse geschaffen, ohn e dass j edoch die Schengener Verträge in das institutionelle System der EU integriert worden wären. Durch die Überführung der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI) in den Rahmen des EUV wurde das Procedere für eine Zusammenarbeit aller EU-Mitgliedstaaten sowie die Art der möglichen Maßnahmen abschließend festgelegt". Die Eingliederung der ZBJI in den EUV rechtfertigte sich vorrangig aus der zunehm end grenzüberschreitenden Dimension vieler innen- und justizpolitischer Problemfelder. Zu den in Art. K.l EUV (i. d. F. des Maastrichter Vertrages) aufgeführten neun Politikbereichen, di e von den Mitgliedstaaten als "Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse" angesehen wurden, gehörte nunmehr die justizielle Zu sammenarbeit in Straf- und Zivilsachen, die Kooperation im Zollwe sen sowie die polizeiliche Zusammenarbeit zur Verhütung und Bekämpfung schwerer Formen der internationalen Kriminalität wie Terrorismus und Drogenhandel. Als Ziel der ZBJI wurde ausdrücklich auch der Aufbau eines unionsweiten Systems zum Austausch von Informationen im Rahmen eines Europäischen Polizeiamtes (Europol) genannt. Der Maastrichter Vertrag hat aber im Wesentlichen nur den Status quo der bis zu diesem Zeitpunkt völker- und europarechtlich nicht geregelten, je69
70
Zu den Einschränkungen gern. Art. 10911 SDÜ vgl. Gleß /Lzlke, JURA 2000 , 400, 404, dort Fn. 47. Vgl. hierzu Fisch er, EuZW 1994,747 ff. sowie MÜller-G rajJ(Hrsg.), Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, 1996, passim.
C. Zusammenarbeit in der EU
181
doch in Gestalt einer Vielzahl von Arbeitsgruppen praktizierten intergouvernementalen Zusammenarbeit auf eine völkervertragsrechtliche Grundlage gestellt und damit von einer informellen in eine institutionalisierte Kooperationsform berführt?" . Die TREVI-Arbeitsgruppen (Rn . 26 f.) sind nach Inkrafttreten des EUV formell im " Rat für Inneres und Justiz" aufgegangen. Zur Koordinierung des mitgliedstaatliehen Vorgehens im Bereich der ZBJI 55 stellte der damalige EUV folgende Instrumentarien zur Verfügung: ü-
- Unterrichtung und Konsultation der Mitgliedstaaten untereinander, - Gemeinsame Standpunkte, die im wesentlichen darauf abzielen, innerstaatliche Rechtsvorschriften oder Verwaltungspraktiken an gemeinsamen Maßstäben auszurichten, - Gemeinsame Maßnahmen, die das gemeinsame Vorgehen der zuständigen mitgliedstaatiichen Behörden betreffen, Übereinkommen, die der Rat den Mitgliedstaaten zur Annahme empfehlen kann . Die Übereinkommen haben sich im Hinblick auf das Ratifikationserfordemis als 56 schwerfälliges Instrument erwiesen. Von den auf der Basis des Maastrichter Vertrages getroffenen Konventionen sind lediglich das Europol-Übereinkommen (Rn . 59) und - nach siebenjähriger Ratifikationsphase in den Mitgliedstaaten - am 17. Oktober 2002 das Übereinkommen v. 26. Juli 1995 betreffend den Schutz der finanziellen Interessen der EG (PIF)72 nebst erstem Zp73 betreffend Bestechung und Bestechlichkeit sowie einem weiteren Protokoll?", das die Zuständigkeit des EuGH für die Auslegung der PIF-Konvention festlegt, in Kraft getreten.
2. European Drug Unit (EDU) Der Europäische Rat von Luxemburg hatte schon im Jahre 1991 beschlossen, ei- 57 nen Bericht über Möglichkeiten zur Einrichtung eines Europäischen Polizeiamtes zu erstellen. Daraufhin wurde aus der Arbeitsgruppe TREVI 111 (Schwerpunkt Bekämpfung der Drogenkriminalität) die .A d-hoc-Gruppe-Europol'' gebildet, welche die Eckpunkte für die Errichtung eines solchen Amtes erarbeitete. Schon bald war abzusehen, dass dieses Projekt unter dem Dach der EU kurzfristig nicht zu realisieren sein , sondern eine längere Vorlaufzeit benötigen würde. Im Hinblick auf den von allen Mitgli edstaaten bejahten dringenden Handlungsbedarf zur Bekämpfung der organisierten Drogenkriminalität und der damit verbundenen Geldwäsche beschlossen sie im Jahre 1993 , zunächst eine vorläufige Stell e einzurichten, die für eine Übergangszeit die für Europol vorgesehene Aufgaben wahrnehmen sollte. Die Mini ster schlossen zu diesem Zweck am 2. Juni 1993 eine Vereinbarung, die am 10. März 1995 als Gemeinsame Maßnahme im Rahmen der EU angenommen 71 72
73
74
Vgl. hierzu Gieß, EuR 1998, 748, 749; Ne/les, ZStW 109 (1997), S. 727, 734. ABlEG 1995 Nr. C 316, S. 49 (PIF=Protection des interets financiers). ABlEG 1996 Nr. C 313, S. 2. ABlEG 1997Nr. C 191 , S. I.
182
58
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
wurde": Auf dieser Grundlage hat die European Drug Unit (EDU) am 20 . März 1995 in Den Haag ihre Arbeit aufgenommen".
Zentrale Aufgabe der in der EDU zusammenwirkenden nationalen Verbindungsbeamten war es, die nationalen Ermittlungsbehörden durch den Austausch und die Analyse von Informationen (Lageberichte, Verbrechensanalysen) zu unterstützen . Der Zuständigkeitsbereich der EDU war nicht auf die Bekämpfung der Drogenkriminalität beschränkt. Nach einem Beschluss des Europäischen Rates aus dem Jahre 1994 wurde die Zuständigkeit auf die Bekämpfung von illegalem Handel mit radioaktiven Materialien, Schleuserkriminalität, Verschiebung von KfZ sowie der mit diesen Kriminalitätsfeldern zusammenhängenden Geldwäsche ausgedehnt. Später wurden auch die Bekämpfung des Menschenhandels" sowie von Straftaten im Zusammenhang mit terroristischen Handlungen'" und Geldfälschung/" in den Kompetenzkatalog aufgenommen. Von Anfang an war vorgesehen, dass die EDU in dem geplanten Europäischen Polizeiamt aufgehen sollte, sobald die Mitgliedstaaten ein solches einrichten.
3. Europol a) Organisatorische Strukturen und Kontrolle von Europol 59 Durch das Europol-Übereinkommen (EuropoIÜ) v. 26 . Juli 1995 wurde das Europäische Polizeiamt ("Europol")80 als internationale Organisation mit Sitz in Den Haag errichtet. Nach Abschluss der mit Verzögerungen behafteten Ratifikationen in den Mitgliedstaaten hat Europol am I . Juli 1999 seine Arbeit aufgenommen . Mit Wirkung ab I. Januar 20 I0 wurde das EuropolÜ durch den auf der Grundlage der ex-Art. 30 I Iit. b, 34 11 Iit. c EUV angenommenen Beschluss des Rates v. 6. April 2009 zur Errichtung des Europäischen Polizeiamtes'" (im Folgenden: Ratsbeschluss) ersetzt. Anlass für die Schaffung dieser neuen Rechtsgrundlage war vor allem das Bestreben, künftige Neufassungen nicht mehr im Wege einer zeitraubenden Ratifizierung von Änderungsprotokollen durch die Mitgliedstaaten vornehmen zu müssen . Auf der Grundlage des Vertrags von Lissabon sind zukünftige Rechtsgrundlagen über Aufbau, Arbeitsweise, Tätigkeitsbereich und Aufgaben von Europol gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Verordnung festzulegen (Art. 88 11 AEUV). Bis der der Ratsbeschluss in eine Verordnung überfuhrt ist, gilt er gern . Art . 9 des Protokolls über die Übergangsbestirnmungen'? fort . War Europol bisher eine auf der Grundlage eines völ75 76 77
78
79 80
81
82
ABlEG 1995 Nr. L 62, S. I. Gleß /Lüke , JURA 1998, 70, 76; Gieß, NStZ 2001 , 623. ABlEG 1996 Nr. L 342, S. 4. ABlEG 1999 Nr. C 26, S. 22. ABlEG 1999 Nr. C 149, S. 16. Übk. aufgrund von Art. K.3 des Vertrages über die Europäische Union über die Einrichtung eines Europäischen Polizeiamtes (Europol-Konvention); ABlEG 1995 Nr. C 316, S. I, 2 II (BGBI. 11 1997, S. 2154); in Kraft getreten am I. Oktober 1998. ABlEU 2009 Nr. L 121 , S. 37; vgl. hierzu Niemeier/Walter, Kriminalistik 2010, 17 ff ABlEU 2008 Nr. C 115, S. 322.
C. Zusammenarbeit in der EU
183
kerrechtlichen Vertrags geschaffene internationale Organisation mit der Besonderheit ihrer Einbindung in den Rahmen der 3. Säule der EU83, so handelt es sich bei dem Amt nunmehr um eine Agentur der Union . Damit ist Europol dem Personalstatut für EU-Institutionen unterworfen und seine Finanzierung wird aus dem Gesamtbudget der Union bestritten. Wie bereits nach ex-Art. 26 I EuropolÜ ist Europol mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattet (Art . 2 I Ratsbeschluss). Für die Agentur, die sich inzwischen zur zentralen Schaltstelle bei der Verbrechensbekämpfung in Europa entwickelt hat , sind insgesamt rund 600 Bedienstete, davon 100 von den nationalen Behörden abgeordnete Verbindungsbeamte aus über 30 Staaten tätig. Letztere nehmen die Interessen des Mitgli edstaates, der sie entsendet, im Einklang mit dem nationalen Recht dieses Mitgli edstaates und unter Einhaltung der für den Betrieb von Europol geltenden Bestimmungen wahr. Ein Immunitätenprotokoll (IP)84 ste llt die Mitglieder der Organe und das Personal von Europol von jeglicher Gerichtsbarkeit hinsichtlich der von ihnen in Ausübung ihres Amtes vorgenommenen mündlichen und schriftlichen Äußerungen sowie Handlungen weitgehend frei (Art. 51 I, 11 Ratsbe schluss iVm. Art . 8 I Iit. a IP)85. Geleitet wird Europol von einem Direktor, der für die laufende Verwaltung 60 zuständig ist und die Aufsicht über die Europol-Bediensteten führt . Grundsatzfragen werden von einem Verwaltungsrat, der sich aus einem Vertreter pro Mitgliedstaat zusammensetzt, ent schieden. Europol besitzt einen eigenen Finanzkontrolleur, der die Bindung und die Zahlung der Ausgaben sowie die Feststellung und die Einziehung der Einnahmen überprüft. Jeder Mitgliedstaat benennt eine nationale Kontrollinstanz, die sicherstellen soll , dass die Übermittlung der Daten von den Mitgliedstaaten an Europol und die datenverarbeitende Tätigkeit der abgeordneten nationalen Verbindungsbeamten rechtmäßig ist. Eine gemeinsame Kontrollinstanz, die sich aus Vertretern der nationalen Kontrollinstanzen zusammensetzt und ausdrücklich aus den Weisungsstrukturen der mitgliedstaatlichen Verwaltungsapparate herausgelöst ist, überprüft die Datenverarbeitung durch die Europol-Bediensteten. Zu diesem Zweck hat sie u. a. das Recht , von Europol Auskünfte zu verlangen, Einsicht in alle Akten sowie Zugriff auf alle dort gespeicherten Daten zu nehmen. Die gemeinsame Kontrollinstan z kann , wie auch die nationale Kontrollinstanz, auf Antrag einer Privatperson tätig werden'". Die parlamentarische Kontrolle von Europol ist vergleichsweise schwach 61 ausgeprägt" Der Rat muss das EP zu wichtigen Aspekten der Arbeit von Europol anhören und dessen Auffassung hinreichend berücksichtigen. Jährli ch wird dem 83 84 8S
86
87
Amb os, IntStR, § 13 Rn. 6 a. ABlEG 1997 N r. C 221, S. I, 2 ff. (BGBI. II 1998, 975) . Vgl. hierzu Ambos, IntStR, § 13 Rn. 14; Gieß , EuR 1998, 748, 75 I ff. ; Hölscheidt/Schotten, NJW 1999, 285 I f f.; Pe tri, Europol, S. 28 Ir ; ausführl. Degenhardt, Europol, S. 210 ff: und Voß, Europol, passim. Zur exekutivischen Kontrolle der Tätigkeit von Europol vgl. Degenhardt, Europol, S. 229 ff.; Gieß , EuR 1998, 748, 754 ff. Vgl. hierzu Baldus, Polizeiliche Zusammenarbeit, S. 34, 42 ff.; Gieß , EuR 1998, 748, 760 f.; Niemeier/Walter, Kriminalistik 2010 , 17, 18.
184
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
EP ein Sonderbericht über die Tätigkeit von Europol übermittelt. Die justizielle Kontrolle von Europol den EuGH beschränkt sich für die Übergangszeit von maximal 5 Jahren (ab I. Dezember 2009) auf die Auslegung oder Anwendung des Ratsbeschlusses im Wege der Vorabentscheidung nach ex-Art. 35 EUV88. Sofern der Ratsbeschluss durch eine Verordnung ersetzt wird , tritt insoweit die volle Justiziabilität gern . Art . 258 ff. AEUV ein'". Eine unmittelbare justizielle Überprüfung der Tätigkeit von Europol kann jedoch weder durch die europäische noch durch die mitgliedstaatliche Gerichtsbarkeit erfolgen. Die aus rechtsstaatlicher Sicht höchst defizitäre gerichtliche Kontrollm öglichkeit'" gibt dringend Anlass, über Lösungsmodelle nachzudenken, wie in Zukunft die Einbindung von Europol in ein System justizieller Verantwortlichkeit gewährleistet werden soll?' .
b) Aufgaben von Europol 62 Europol soll die Tätigkeit der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten sowie deren Zusammenarbeit bei der Prävention und Bekämpfung von OK, Terrorismus und anderen Formen schwerer Kriminalität (Rn . 63) unterstützen und verstärken, wenn zwei oder mehr Mitgliedstaaten betroffen sind (Art. 3 Ratsbeschluss) . Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt im Sammeln, Speichern, Verarbeiten, Analysieren und Austauschen von Informationen und Erkenntnissen ("lntelIigence-Arbeit") sowie in der Unterrichtung und Unterstützung der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten. Mit Hilfe von Europol sollen Spezialkenntnisse der nationalen Ermittlungsbehörden vertieft, Beratungen angeboten, strategische Erkenntnisse übermittelt und Gesamtberichte über den Stand der Arbeit verfasst werden . Zur Erfüllung seiner Aufgaben unterhält Europol ein automatisiertes Informationssystem (Art. II Ratsbeschluss), in das die Daten von den mitgliedstaatliehen SteIlen, Verbindungsbeamten und Europolbediensteten eingegeben und aus dem die Daten abgerufen werden (Art. 13 I Ratsbeschluss). Während das SIS eine reine Fahndungsdatei ist (Rn . 48 ff.), enthält das Europol-Informationssystem Daten, die polizeiliche Recherchen erm öglichen'". In diesem können personen- und nichtpersonenbezogene Daten gespeichert werden (Art . 12 Ratsbeschluss) . Europol hat für jede automatisierte Datei mit personenbezogenen Daten die Zustimmung des Verwaltungsrates zu der Errichtungsanordnung einzuholen. Unmittelbaren Zugriff auf die dort gespeicherten Daten haben nur die nationalen Stellen, die Verbindungsbeamten, der Direktor und die stellvertretenden Direktoren sowie die dazu ordnungsgemäß ermächtigten Europol-Bediensteten (Art. 13 I Ratsbeschluss). 88
89 90
91
92
Vgl. Art. 10 11 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen (Aßl EU 2008 Nr. C
115, S. 322) . Suhr , ZEuS 2009, 687 , 696 . Vgl. hierzu v. BubnojJ, ZEuS 2002, 185, 194 f.; Ostendorf. NJW 1997,3418,3420; Perron, ZStW 112 (2000), S. 202 , 209; Wolter, Kohlmann-FS, 2003 , S. 693 , 706 ff. Vgl. hierzu v. Arnauld, JA 2008, 332 Ir ; Gieß , ZStW 114 (2002), S. 636, 641 ff.; GleßIGrotelHeine (Hrsg.), Justizielle Einbindung und Kontrolle von Europol, 2001, passim; Schenke, AE Europol, S. 367 ff.; Petri, Europol, S. 199 ff. Vgl. hierzu Böse, Grundsatz der Verfügbarkeit, S. 34 f.; Degenhardt, Europol, S. 168 ff.; Mansk e, Kriminalistik 2001 , 105; Petri, Europol, S. 52 ff.; Sinn , EG, S. 331 ff.
C. Zusammenarbeitin der EU
185
Die Zuständigkeit von Europol ist in Art. 4 Ratbeschluss geregelt: Europol ist 63 demnach zuständig für die Prävention und Bekämpfung von Terrorismus und OK. Für sonstige Formen schwerer Kriminalität, die in einem Anhang zum Ratsbeschluss abschließend aufgeführt sind , ist Europol nur zuständig, wenn zwei oder mehr Mitgliedstaaten in einer Weise betroffen sind, die aufgrund des Umfangs, der Bedeutung und der Folgen der Straftaten ein gemeinsames Vorgehen der Mitgliedstaaten erfordert . Diese nach Kriminalitätsbereichen differenzierenden Vorgaben sind zu berücksichtigen , wenn man den folgenden Zuständigkeitskatalog liest: Terrorismus, Organisierte Kriminalität illegaler Handel mit Drogen, Geldwäschehandlungen, Kriminalität im Zusammenhang mit nuklearen und radioaktiven Sub stanzen, Schleuserkriminalität, Menschenhandel, Kraftfahrzeugkriminal ität, vors ätzliche Tötung, schwere Körperverletzung, illegaler Handel mit Organen und menschlichem Gewebe, Entführung, Freiheitsberaubung und Geiselnahme, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Raub in organi sierter Form , illegaler Handel mit Kulturgütern, einschließlich Antiquitäten und Kunstgegenständen, Betrugsdelikte, Erpressung und Schutzgelderpressung, Nachahmung und Produktpiraterie, Fälschung von amtlichen Dokumenten und Handel damit, Geldfälschung, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität, Korruption, illegaler Handel mit Waffen, Munition und Sprengstoffen, illegaler Handel mit bedrohten Tierarten, illegaler Handel mit bedrohten Pflanzen- und Baumarten, Umweltkriminalität, illegaler Handel mit Hormonen und Wachstumsförderem. Europol besitzt keine eigenen Exekutiv- oder Ermittlungsbefugn isse. Nach Art . 88 64 111 AEUV darf Europol "operative Maßnahmen" nur in Verbindung und in Absprache mit den Behörden der betroffenen Mitgliedstaaten ergreifen'". Die Anwendung von Zwangsmaßnahmen bleibt ausschließlich den zust ändigen einzeIstaatlichen Behörden vorbehalten. Faktisch ist Europol bereits seit längerem und 93
Amelung/Mittag, AE Europol, S. 233, 237 ff.
186
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
häufig an operativen Einsätzen nationaler Poli zei- und Zolldienststellen beteiligt, ohne dabei selbst eigenverantwortlich aktiv zu werden?'. Als Beispiele aus der Praxis sind zu nennen : die Koordinierung kontrolliert er Lieferungen (polizeilich überwachte Drogengeschäfte) quer durch Europa; unterstützende Einbindung in Taskforces der Ostseeanrainerstaaten gegen grenzüberschreitende Schwarzgeldbewegungen und KfZ-Verschiebungen; Aufdeckung und Unterstützung bei der Zerschlagung eines Schleusernetzes von Afrika nach Schweden ("Operation Tiger 1999") bzw. eines zwischen Litauen, Polen und Dänemark agierenden Menschenhändl errings ("Operation Lagos 2000") 95. Die unterstützende Teilnahme von Europol-Bediensteten an sog . "Joint Investigation Teams 4496 ("G emeinsame Ermittlungsgruppen") , ist in Art. 6 I Ratsbeschluss geregelt (künftig: Verordnung nach Art. 88 11 lit. b A EUV).
c) Datenschutz
65 Da das Schwergewicht der Tätigkeit von Europo l in der .Jntelligence-Arbeit",
d. h. in der Sammlung, Speicherung, Übermittlung und anal ytisch-systematischen Auswertung von Daten liegt, kommt dem Datenschutz besondere Bedeutung ZU97. Art . 29 I des Ratsbeschlusses geht grundsätzlich von einer zweigeteilten Verantwortung für die bei Europol verarbeiteten Daten aus . Auf die von einem Mitgliedstaat eingegeben oder übermittelten Daten findet nationales Datenschutzrecht Anwendung (z . B. das BDSG98). Die datenschutzrechtliche Verantwortung von Europol (u . a. für alle von ihm verarbeiteten Daten) richtet sich nach den Bestimmungen des Art . 29 I lit. b, li-V des Ratsbeschlusses. Im Übrigen sind die Regelungen des Europaratsübereinkommens über den Schutz des Men schen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten v. 28 . Januar 198199 anzuwenden (Art. 27 Ratsbeschluss). Über Beschwerden Einzelner gegen nicht stattgegebene Anträge auf Auskunft, Berichtigung und Löschung von Daten ent scheidet die gemeinsame Kontrollinstanz (Rn . 60) als Rechtsaufsichtsbehörde (Art. 32 Ratsbeschluss). Eine gerichtliche Überprüfung ihrer Entscheidung sieht der Ratsbeschluss nicht vor . Jeder Mitgliedstaat haftet gemäß seinem innerstaatlichen Recht fLir den einer Person entstandenen Schaden , der durch in rechtlicher oder sachlicher Hinsicht fehlerhafte Daten, die von Europol gespeichert oder verarbeitet wurden , verursacht worden ist (Art. 52 1 Ratsbeschluss).
94 95
96
97 98 99
v. BubnojJ, ZEuS 2002, 185, 193; Storbeck, DRiZ 2000, 481, 485 f. Vgl. hierzu und zu weiteren Aktivitäten die Jahresberichte (annual reports) von Europol, abrufbar unter http://www.europol.europa.eu. Vgl. hierzu Niemeier/Wa lter, Kriminalistik 2010, 17 f.; Riegel , eucrim 2009, 99 ff. Gusy, AE Europol, S. 265 Ir ; Weßlau, AE Europol, S. 318 ff. Bundesdatenschutzgesetz i. d. F. v. 14. Januar 2003 (BGBI. 12003 ,66). ETS Nr. 108; BGBI. 11 1985, 538 (in Deutschland in Kraft getreten am I. Oktober 1985; BGBI. 111985, 1134).
C. Zusammenarbeit in der EU
187
4. Europäisches Justizielles Netz (EJN) Ein wichtiger Schritt zur Erleichterung der justiziellen Zusammenarbeit im Rah- 66 men der ZBJI (Rn . 54) war die Einrichtung eines Europäischen Justiziellen Netzes (EJN) auf der Grundlage einer Gemeinsamen Maßnahme, die am 7. August 1998 in Kraft trat' ?". Sie wurde mittlerweile durch Ratsbeschluss v. 16. Dezember 2008 101 ersetzt. Das EJN soll als aktiver Vermittler für die Herstellung möglichst zweckdienlicher Direktkontakte bei der justiziellen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in Fällen schwerer Kriminalität fungieren . Darüber hinau s sollen Informationen über die örtlich zuständigen Justizbehörden vorgehalten werden, um die Vorbereitung von Kooperationsersuchen möglichst effizient zu gestalten'?". Zu diesem Zweck richtet das EJN ein Telekommunikationsnetz ein, welches eine unkomplizierte Kommunikation und den Informationsaustausch der nationalen KontaktsteIlen ermöglicht. Bei den mitgliedstaatliehen KontaktsteIlen sind Verbindungsrichter bzw . Verbindungsstaatsanwälte als Vertreter der nationalen Strafverfolgungsbehörden mit besonderen Sprachkenntnissen tätig . In Deutschland sind diese KontaktsteIlen bei den Generalstaatsanwaltschaften und beim Generalbundesanwalt ange siedelt. Aufgrund des Informationsaustausches haben die KontaktsteIlen ständig Zugang zu folgenden Informationen: - vollständige Angaben über alle mitgliedstaatliehen KontaktsteIlen und deren Zust ändigkeit, - Liste der Justizbehörden und Verzeichnis der örtlichen Behörden jedes Mitgliedstaates, - kurz gefasste Informationen über das Gerichtswesen und die Verfahrenspraxis in den Mitgliedstaaten, - Texte der einschlägigen Rechtsin strumente.
5. Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Mit dem am I. Mai 1999 in Kraft getretenen Vertrag von Amsterdam wurden 67 die Grundlagen für das neue Unionsziel der Schaffung eines "Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" festgelegt (ex-Art. 29 EUV) . Die ZBJI (Rn. 54) wurde durch den Vertrag von Amsterdam umstrukturiert und als Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) in die ex-Art. 29--42 EUV eingefügt. Die PJZS präzisierte und erweiterte die seit Maastricht praktizierte polizeiliche und justizielle Kooperation der Mitgliedstaaten und hob diese auf eine höhere Integrationsstufe. Der Ausbau der intergouvernementalen Polizei- und Justizkooperation in Strafsachen (§ 12 Rn. 5 ff.) wurde durch Schaffung gemeinsamer materiellrechtlicher Mindeststandards ergänzt (§ II Rn. 2, 10). Als vor100
101 102
Gemeinsame Maßnahme (98/428/11) v. 29. Jun i 1998 zur Einrichtung eines Europäischen Justiziellen Netzes (ABlEG 1998 Nr. L 191, S. 4). ABIEU 2008 Nr. L 348, S. 130. Fawzy , Eurojust, S. 95 ff. ; Kahlke, Euroju st, S. 76 ff. ; Nehm, DRiZ 2000, 355, 358 f.; Tschanett, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht , 29. Kap., Rn. 44.
188
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
dringliche Bereiche der PJZS , in denen gern . ex-Art. 29 EUV ein " ge me insames Vorgehen der Mitgliedstaaten" zu entwickeln war, wurden zum einen der strafrechtliche Schutz der EG-Finanzinteressen und zum anderen die Verhütung und Bekämpfung transnationaler Kriminalität wie Terrorismus, Menschenhandel, Straftaten gegenüber Kindern , illegaler Drogen- und Waffenhandel , Korruption, Geldwäsche und son stige Erscheinungsformen schwerer organisierter und nichtorganisierter Kriminalität angesehen'?". Allerdings mussten die Mitgliedstaaten beachten, dass der ex-EUV vom Primat des Gemeinschaftsrechts vor der PJZS ausging. Aufgrund des in ex-Art. 29 , 47 EUV verankerten Vorbehalts waren Rechtsakte des Rates (z . B. Rahmenbeschlüsse), die in die Harmonisierungskompetenz der EG eingreifen, untersagt' ?", Dadurch sollte verhindert werden, dass der in der I. Säule erreichte Integrationsstand und die einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch eine etwaige Rückverlagerung von Gemeinschaftskompetenzen in die intergouvernemental geprägte PJZS ausgehöhlt wird. 68 Eine wichtige Errungenschaft des Amsterdamer Vertrages war die Einbeziehung des sog . "Schengen-Acquis" (Besitzstandes)"?" in den Rahmen der EU106. Seit dem I . Mai 1999 erfolgte die Zusammenarbeit zwischen den Schengener Vertragsparteien in dem institutionellen und juristischen Rahmen der früheren 3. Säule der EU107. Hierfür standen die folgenden , gegenüber der früheren ZBJI erweiterten Handlungsformen des Rates zur Verfügung, die von diesem auf Vorschlag der Kommission oder eines Mitgliedstaates einstimmig anzunehmen waren : Gemeinsame Standpunkte, durch die das Vorgehen der EU in einer gegebenen Frage bestimmt wird (ex-Art. 34 11 Iit. a EUV), Rahmenbeschlüsse zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten (ex-Art. 34 11 lit. b EUV)108, Beschlüsse für jeden anderen Zweck, der mit den Zielen der PJZS in Einklang steht, mit Ausnahme von Maßnahmen zur Rechtsangleichung (ex-Art. 34 11 lit. c EUV), Erstellung von Übereinkommen, die der Rat den Mitgliedstaaten zur Annahme gemäß ihrer verfassungsrechtlichen Vorschriften empfiehlt (ex-Art. 34 11 lit. d EUV).
103 104 105
106
107 108
Dannecker, JURA 2006, 97, 98 f. EuGI-IE 2005, 7879 = JZ 2006, 307; EuGHE 2007, 9097 = NStZ 2008, 703. Der Schengen-ße sitzstand wird konstituiert durch die Schengener Abkommen v. 14. Juni 1985 (Schengen I) und v. 19. Juni 1990 (SDÜ), die späteren Beitrittsprotokolle und -übereinkommen weiterer EG-Mitgliedstaten hierzu, die Beschlüsse und Erklärungen des aufgrund des SDÜ eingesetzten Exekutivausschusse sowie die Rechtsakte zur Durchführung des Übereinkommens. Vgl. Protokoll zur Einbeziehung des Sehengen-Besitzstandes in den Rahmen der EU (ABlEG 1997 Nr. C 340, S. 93). Ambos, IntStR, § 12 Rn. 30. Vgl. zu diesem Instrument BaddenhausenlPietsch, DVB12005, 1562 ff.; GärditzlGusy, GA 2006, 225, 228 ff.; Husemann , wistra 2004, 447 ff.
C. Zusammenarbeitin der EU
189
Auf der Grundlage der in ex-Art. 34 EUV vorgesehenen Instrumentarien erließ der 69 Rat eine Vielzahl strafrechtsrelevanter Maßnahmen, namentlich Rechtsakte zur Bekämpfung von Terrorismus, OK, Geldfälschung, Drogenkriminalität, Geldwäsche, Menschenhandel , Schleuserkriminalität, Kinderpomographie und Cybercrime sowie über den Europäischen Haftbefehl, die Europäische Beweisanordnung und die gegenseitige Anerkennung von Sanktionen (§§ 11 _12)109. 6. Eurojust a) Organisatorische Strukturen von Eurojust
Zur Verstärkung der Bekämpfung schwerer organisierter Kriminalität haben die 70 Staats- und Regierungschefs auf dem EU-Sondergipfel in Tampere (Finnland) im Oktober 1999 die Einrichtung einer zentralen, ständigen Auskunfts-, Dokumentations- und ClearingsteIle (Eurojust) als justizielles Pendant zu Europol beschlossen. Mit Beschluss des Rates v. 14. Dezember 2000 wurde zunächst eine vorläufige Stelle zur justiziellen Zusammenarbeit eingerichtet (Pro-Eurojust), die am 1. März 2001 ihre Arbeit in Brüssel aufgenommen hat'! ''. Die Einrichtung von Eurojust wurde im Vertrag von Nizza erstmals primärrechtlich verankert (neue Rechtsgrundlage ist nunmehr Art. 85 AEUV). Seit dem 28. Februar 2002 wurde die grenzüberschreitende justizielle Koope- 71 ration durch die mit Ratsbeschluss 2002/187/JI vom gleichen Tage errichtete Koordinierungsstelle Euroj ust"!' mit Sitz in Den Haag verstärkt, deren Aufgabe vor allem darin besteht, juristische Informationen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten auszutauschen sowie transnationale Ermittlungsverfahren zu koordinieren und zu unterst ützen'F. Dieser Ratsbeschluss wurde durch Ratsbeschluss 2009/426/JI v. 16. Dezember 2008 in einigen Punkten geändert und neu gefasst'!". Nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon sind die Grundlagen von Euroj ust im ordentlichen Gesetzgebung sverfahren durch Verordnung festzulegen (Art. 85 11 AEUV). Euroj ust ist eine mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattete weisungsunabh ängige Agentur der EU (Art. 1, 30 Ratsbeschluss 2002/187/JI). Jeder Mitgliedstaat entsendet einen nationalen Richter, Staatsanwalt oder Polizeibeamten an die Dienststelle von Euroj ust. Der dienstrechtliehe Status der Euroj ust-Mitglieder richtet sich nach dem nationalen Recht 109 110
111
112
113
Schreiber, Strafrechtsharmonisierung, S. 13 Ir Schomburg, DRiZ 2000, 341 , 343 f.; Schulte-NoverIMahnken, StV2001 , 541 f. Beschluss 2002/187/J1 des Rates v. 28. Februar 2002 über die Errichtung von Eurojust
zur Verstärkung der Bekämpfung der schweren Kriminalität (ABlEG 2002 Nr. L 63, S. I ff.). In Deutschland wurde der Beschluss durch das Eurojust-Gesetz i. d. F. d. Bek. v. 12. Mai 2003 (BGB!. I 2004, 902)umgesetzt; vgl , hierzu EsserlHerbold, NJW2004, 2421 ,2422. Vg!. hierzu Ambos, IntStR, § 13 Rn. 19 Ir ; v. Bubnoff, ZEuS 2002, 185, 204 ff.; Dieckmann, NStZ 2001 , 617, 620; Esser, GA 2004, 711 , 713 Ir ; Fawzy , Eurojust, S. 31 ff. ; Kahlke, Eurojust, S. 138 ff.; Satzger, IntStR, § 10 Rn. 11 ff. ; Schomburg, NJW2002, 1629 ff., Tschanett, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 29. Kap. Rn. 46 f. ABIEU 2009Nr. L 138, S. 14.
190
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
ihres Entsendestaates, der zugleich die Dauer ihres Mandats sowie Art und Tragweite ihrer justiziellen Befugnisse festlegt. Die internen Zuständigkeiten und Arbeitsabläufe von Eurojust werden in einer vom Kollegium (Gesamtheit der nationalen Mitglieder) einstimmig angenommenen Ges chäftsordnung konkretisiert, die vom Rat mit qualifizierter Mehrheit gebilligt werden muss .
b) Aufgaben von Eurojust 72 Eurojust soll - gestützt auf Europol-Analysen und in enger Zusammenarbeit mit dem EJN - eine zweckdienliche und effektive Zusammenarbeit der nationalen Strafverfolgungsbehörden ermöglichen, die strafrecht lichen Ermittlungen in Fällen transnationaler Kriminalität erleichtern und die Erledigung von Rechtshilfeersuchen vereinfachen. Der Zuständigkeitsbereich von Eurojust erstreckt sich auf alle Kriminalitätsformen, die zum jeweiligen Zeitpunkt in die Zuständigkeit von Europol (Rn . 63) fallen"!". Auf Antrag einer zust ändigen Behörde eines Mitgliedstaats kann Eurojust auch bei anderen als den oben genannten Arten von Straftaten ergänzend Unterstützung leisten (Art . 4 11 Ratsbeschluss 2002/1 87/J1). 73 Art . 3 des Ratsbeschlusses 2002/187 IJI sieht vor, dass Eurojust im Rahmen von staatenübergreifenden Ermittlungen bzw. Strafverfolgungsmaßnahmen im Bereich der schweren und organisierten Kriminalität folgende Aufgaben wahrnehmen soll : - Förderung der Koordinierung der in den Mitgliedstaaten laufenden Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen zwischen den zuständigen nationalen Behörden, - Verbesserung ihrer Zusammenarbeit, insbesondere durch Erleichterung der internationalen Rechtshilfe und Erledigung von Auslieferungsersuchen, - Gewährleistung jedweder anderen Unterstützung der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten mit dem Ziel , die Wirksamkeit ihrer Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen zu erhöhen, - auf Antrag einer zuständigen Behörde eines Mitgliedstaates auch Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen zu unterstützen, die allein diesen Mitgli edstaat und ein en Drittstaat betreffen, sofern mit diesem Drittstaat bereits eine Vereinbarung über eine Zusammenarbeit geschlossen worden ist oder im Einzelfall ein wesentliches Interesse an der Unterstützung besteht.
74 Eurojust erledigt seine Aufgaben durch eines oder mehrere seiner nationalen Mitglieder oder als Kollegium!". Von welcher Handlungsform jeweils Gebrauch zu machen ist, regeln mehrere Artikel des Errichtungsaktes (Art. 5 I lit. a LV.m. Art . 6 bzw . Art . 5 I lit. b i. V. m. Art . 7 Ratsbeschluss 2002/187/JI). Die Mitglieder sind befugt, mit den zuständigen Behörden ihres Entsendestaates in direkten Kontakt zu treten . Euroj ust kann z. B. bei den zuständigen Behörden eines Mit114
115
Vgl. Art. 4 llit. a des Beschlusses 2002/1871J1 des Rates v. 28. Februar 2002 i. d. F. des Art. I Nr. 3 lit. a des Beschlusses 2009/4261J1 des Rates v. 16. Dezember 2008. Ambos, IntStR, § 13 Rn. 21; v. BubnojJ, ZEuS 2002, 185,208 ff.; Fawzy , Eurojust, S. 37 ff. ; Esser, GA 2004,711 ,714 ff.
C. Zusammenarbeitin der EU
191
gliedstaates anregen, zur Aufklärung eines strafrechtlich relevanten Sachverhaltes bestimmte Ermittlungen zu führen , die Strafverfolgung aufzunehmen bzw . der Übernahme der erforderlichen Ermittlungen oder Strafverfolgung durch einen anderen Mitgliedstaat zuzustimmen. Die Agentur unterstützt die Koordination mitgliedstaatlicher Ermittlungsmaßnahmen, hilft bei der Bildung gemeinsamer Ermittlungsteams nach Maßgabe der einschlägigen Kooperationsübereinkünfte, übermittelt Rechtshilfeersuchen und sorgt für den Austausch aller Informationen, die für eine optimale Aufgabenerfüllung zweckdienlich erscheinen. Die nationalen Mitglieder sorg en für die wechselseitige Unterrichtung der zuständigen Behörden der Mitgli edstaaten über die Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen, von den en Eurojust Kenntnis hat und die die Mitgliedstaaten betreffen. Zukünftig sollte sich die Agentur vor allem auch zu einer justiziellen Kontroll- 75 stelle für Datensammlungen durch Europol und andere europäische Einrichtungen entwickeln!". Eine justizelle Überwachung von Europol gehört aber auch nach Inkrafttreten des Reformvertrags von Lissabon (vgl. Art. 85 11 AEUV) nicht zu ihren Aufgaben. Eurojust wurde schon früher als mögliche Keimzelle für eine Europäische Staatsanwaltschaft betrachter!". Art . 86 I AEUV verleiht nunmehr dem Rat die Befugnis, durch eine auf der Grundlage eines einstimmigen Beschlusses nach Zustimmung des EP zu erlassende Verordnung "ausgehend von Euroj ust" eine Europäische Staatsanwaltschaft einzusetzen. Diese soll lediglich für die Bekämpfung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Intere ssen der Union zuständig sein . Art. 86 IV AEUV lässt aber eine Ausweitung ihrer Zuständigkeit auf die Bekämpfung schwerer gren züberschreitender Kriminalität zu. Kommt der für die Schaffung einer Europä ischen Staatsanwaltschaft erforderliche einstimmige Ratsbeschluss nicht zustande, hat eine Gruppe von mindestens neun Mitgliedstaaten die Option, eine solche Strafverfolgungsinstitution im Wege des erleichterten Zugangs zur Verst ärkten Zusammenarbeit zu schaffen (Art. 86 I UA 3 A EUV)118.
IV. PJZS in dem einheitlichen Rahmen des Unionsrechts Der Vertrag von Lissabon überführt die PJZS in den einheitlichen Rahmen des 76 Unionsrechts (Art. 67, 82-86, 87-89 AEUV)119. Infolge des Aufgehens der früheren 3. Säule in der ehemaligen I. Säul e löst der Reformvertrag die unterschiedlichen Rechtsregime des bisherigen Unions- bzw . Gemeinschaftsrechts zugunsten eines supranational geprägten Regimes auf. Anstelle der einstimmigen Entscheidungen im Rat gern . ex-Art. 34 11 EUV (Rn . 68) , bei der die Mitwirkung des EP auf eine bloße Anhörung beschränkt war (ex-Art. 39 I EUV), findet auf den Erlass von Recht sakt en der PJZS nunmehr grundsätzlich das ordentliche Gesetzgebungs-
116
117
118 119
Esser, GA 2004, 711, 720 ff.; Schomburg, Kriminalistik 2000, 13, 18 f.; Wolter, Kohlmann-FS,S.693 ,710 ff. So die deutsche Bundesregierung; vgl. BT-Drs. 14/4991 , S. 32, 43; vgl. hierzu auch Fawzy , Eurojust, S. 115 ff. Suhr, ZEuS 2009, 687, 70 I. Heger, ZIS 2009, 406 ff.; Suhr, ZEuS 2009, 687, 690 ff.; Zöller, ZIS 2009, 340, 343.
192
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
verfahren des Art . 294 AEUV Anwendung. Hierdurch wird die demokratische Legitimation der europäischen Justiz- und Innenpolitik deutlich verst ärkt 120, namentlich auf den Feldern Strafprozessrecht (Art. 82 11 AEUV) , materielles Strafrecht (Art . 83 I, 11 A EUV) , Kriminalprävention (Art . 84 AEUV), Grundlagen von Eurojust (Art . 85 11 AEUV) bzw . Europo l (Art. 88 11 AEUV) und polizeiliche Zusammenarbeit (Art. 87 11 A EUV) . Das Prinzip der gegenseitige Anerkennung justizieller Entscheidungen wird erstmal s im Primärrecht (Art. 82 I AEUV) verankert!" . Während nach ex-Art. 34 11 EUV ein Initiativrecht der Kommission und eines Mitgliedstaates bestand, bestimmt Art . 76 A EUV , dass Rechtsakte auf Vorschlag der Kommission oder auf Initiative eines Viertels der Mitgliedstaaten erlassen werden. Übereinkommen, gemeinsame Standpunkte und Rahmenbeschlüsse i. S. d. ex-Art. 34 11 EUV werden in der neuen EU-Gesetzgebung durch die einheitlichen Rechtsakte gern . Art. 288 AEUV (§ 4 Rn. 50 ff.) ersetzt. An die Stelle des Rahmenbeschlusses als wichtigstem Instrument der früheren PJZS tritt die Richtlinie . Zu beachten ist, das s die in der ehemaligen 3. Säule angenommenen Rechtsakte gern. Art . 9 des Protokolls über die Übergangsbestimmungenv" so lange rechtswirksam bleiben, bis sie in Anwendung der Verträge (EUV /A EUV) für nichtig erkl ärt oder geändert werden. Für die PJZS sieht der Reformvertrag einen sukzessiven Ausbau des Rechtsschutzes vor 123 • In Zukunft sind grundsätzlich alle aus dem früheren Gemeinschaftsrecht bekannten Klagearten nach Art . 258 ff. AEUV (§ 4 Rn. 36 ff.) anwendbar. Übergangsweise (für die Dauer von max . fünf Jahren) gilt das von einem "opt-in" der Mitgliedstaaten abhängige Vorabentscheidungsverfahren des ex-Art. 35 EUV für Rechtsakte der PJZS (z . 8. Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl) fort , die vor Inkrafttreten des Reformvertrages angenommen und danach nicht mehr verändert wurden (§ 4 Rn. 37).
D. Bilaterale Zusammenarbeit 77 Zu dem europäischen Netzwerk, in das die EU-Mitg liedstaaten im Bereich der grenzüberschreitenden Strafverfolgung eingebunden sind , gehören nicht zuletzt bilaterale Kooperationsformen mit Nicht-EU-Staaten (Drittstaaten). Exemplarisch hierfür steht der im Folgenden näher zu betrachtende deutsch-schweizerische Polizeivertrag''", der am I. März 2002 in Kraft getreten ist. Im Zuge des am I. März 2008 erfolgten Inkrafttretens und (davon zu unterscheidender) Inkraftsetzung des im Rahmen der " Bilateralen 11" geschlossenen Abkommens zwischen 120
121
122 123
124
Bauer, Politikfeld Inneres und Justiz, S. 111 ff.; Suhr, ZEuS 2009, 687, 692; Sieber, ZStW 121 (2009), S. 1,57 f.; Zimmermann , Jura 2009,844. Vgl. zur Diskussion über das nach wie vor bestehenden Demokratiedefizit auf Unionsebene BVerfG NJW 2009, 2267,2277 m. krit. Besprechung von Böse, ZIS 2010,76,82 ff Suhr, ZEuS 2009, 687, 697; Zimmermann, Jura 2009,844,845. ABIEU 2008 Nr. C 115, S. 322. Suhr, ZEuS 2009, 687, 695. Vertrag zwischen der BRD und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die polizeiliche undjustizielle Zusammenarbeit v. 27. April 1999 (BOBI. 11 2001,946).
D. Bilaterale Zusammen arbeit
193
der Schweiz , der EU und der EG über die Assoziierung dieses Staates bei der Umsetzung , Anwendung und Entwicklung des Sehengen-Besitzstands v. 26. Dezember 2004 wendet die Schweiz seit 12. Dezember 2008 (Landgrenzen) bzw. 29. März 2009 (Flughäfen) alle für die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen zentralen Bestimmungen des SDÜ (Rn. 30 ff.) an. Grundsätzlich gibt es daher bei der Einreise in die Schweiz keine verdachtsunabhängigen systematischen Personenkontrollen mehr. Da die Schweiz aber nicht Mitglied der EU-Zollunion ist, bleibt sie in Bezug auf die Grenzkontrollen ein Sonderfall : An den Schweizer Grenze führt das Schweizer Grenzwachtkorps weiterhin Zollkontrollen - etwa zur Abklärung der Herkunft und Destination von Waren - durch, bei denen auch weiterhin Personenkontrollen stattfind en. Der deutsch-schweizerische Polizeivertrag bleibt insoweit von Bedeutung, als er eine über den Sehengenstandard hinausgehende bilaterale Kooperation vorsieht''".
I. Wesentlicher Inhalt des deutsch-schweizerischen Polizeivertrages 1. Überblick In Kapitel I wird unter dem Titel "Abstimmung in grundsätzlichen Sicherheits- 78 fragen" eine über den Einzelfallbereich hinausgehende strategische Komponente eingefügt. Kapitel 11 regelt die allgemeine Zusammenarbeit der Polizeibehörden unter Einschluss des Austausches von Daten und sonstigen Informationen, der Zustellung von gerichtlichen und anderen behördlichen Schriftstücken sowie der Aus- und Fortbildung. Besondere Formen der Zusammenarbeit werden in Kapitel 111 des Polizeivertrags eingehend normiert , namentlich Observation, verdeckte Ermittlung und kontrollierte Lieferung, welche sowohl ausschließlich auf dem Gebiet eines Vertragsstaates als auch grenzüberschreitend durchgeführt werden können, sowie die Nacheile, die definitionsgemäß nur grenzüb erschreitend möglich ist. Der Vertrag versteht unter: - Observation: eine länger andauernde heimliche Beobachtung von Personen durch Polizeibehörden, wobei ein Kontakt zwischen der observierten Person und dem observierenden Beamten grundsätzlich nicht beabsichtigt ist, - verdeckter Ermittlung: der Einsatz von Beamten mit einer ihnen verliehenen veränderten Identität im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens, - kontrollierter Lieferung: die heimlich e polizeiliche Überwachung des Transports einer bestimmten (illegalen) Ware mit dem Ziel, an die Empfänger dieser Lieferung oder sonstige Hintermänner zu gelangen, - Nacheile: die Fortsetzung der polizeilichen Verfolgung von Personen auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Staates.
125
Vgl. hierzu Cremer, ZaöRV 2000, 103 ff.
194
§ 5 EU-Mitglied staaten im Netzwerk der Kooper ation in Strafsachen
79 Die bisherige grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit im Rahmen von Interpol (Rn. 3) umfasste nur den Austausch kriminalpolizeilicher Nachrichten. Das Fehlen operativer Kooperationsformen wurde aber von den Vertragsparteien oft als Mangel empfunden, da grenzüberschreitend begangene Delikte heute ohne solche Instrumente nicht mehr wirksam bekämpft werden können . Mit den in Kapitel 11I enthaltenen Bestimmungen ist es gelungen, diese Defizite zu beheben . Die in dem Übereinkommen vorgesehenen operativen Kooperationsformen weichen teilweise von den Regelungen des SDÜ ab. Dies erschien den Vertragsparteien geboten, um die neuen Instrumente möglichst optimal an die bilateralen Verhältnisse anzupassen. So wurde beispielsweise angesichts der Kleinräumigkeit der Schweiz mit häufig wechselnden Kantonsgrenzen sowie im Interesse einer praktikablen und effizienten Verbrechensbekämpfung in der Regel auf die räumlichen, zeitlichen und örtlichen Beschränkungen des SDÜ verzichtet. Insoweit geht der schweizerisch-deutsche Polizeivertrag also über die im SDÜ enthaltenen Regelungen grenzüberschreitender Kooperation hinaus . 80 Der Polizeivertrag geht davon aus, dass grundsätzlich eigene Beamte die Amtshandlungen in ihrem Hoheitsgebiet vornehmen sollen . Die Übergabe der Observation oder die Übernahme einer Nacheile an der Grenze soll demnach der Regelfall bleiben . Die Regelungen der Observation zur Strafverfolgung oder Strafvollstreckung (Art. 14) und zur Verhinderung von Straftaten von erheblicher Bedeutung (Art . 15), der Nacheile (Art. 16), der verdeckten Ermittlung zur Aufklärung von Straftaten (Art. 17) und zur Verhinderung von Straftaten von erheblicher Bedeutung (Art . 18) sowie der kontrollierten Lieferung (Art . 19) erlauben den zuständigen Polizei- und Zollbehörden jedoch, unter gewissen Voraussetzungen und in der Regel mit vorheriger Zustimmung der anderen Vertragspartei, auf deren Hoheitsgebiet tätig zu werden . 81 Als besondere Formen der Zusammenarbeit gelten ferner gemischte Streifen, gemischt besetzte Kontroll- , Observations- und Ermittlungsgruppen, Analyse- und sonstige Arbeitsgruppen (gemeinsame Einsatzformen) sowie grenzüberschreitende Fahndungsaktionen (Art . 20), der Austau sch von Beamten ohne und mit Wahrnehmung hoheitlicher Befugni sse (Art . 21 und 22), die Zusammenarbeit in gemeinsamen Zentren (Art . 23), die Hilfeleistung bei Großereignissen, Katastrophen und schweren Unglücksfällen (Art. 24) sowie der Einsatz von Luft- und Wasserfahrzeugen (Art . 25) .
2. Observation (Art. 14, 15) 82 Art. 14 regelt die grenzüberschreitende Fortsetzung einer Observation im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens oder mit dem Ziel der Sicherstellung der Strafvollstreckung. Als Vorbild diente Art. 40 SDÜ, welcher allerdings keine Observation zur Sicherstellung der Strafvollstreckung vorsieht. Außerdem lässt das SDÜ eine grenzüberschreitende Observation ohne vorh erige Zustimmung nur bei Vorliegen einer ausli eferungsfähigen und in der abschli eßenden Liste von Art. 40 VII SDÜ enthaltenen Straftat zu. Da sich diese Liste nach den Erfahrungen der Schengener Staaten als wenig praktikabel erwiesen hat, wurde im vorliegen-
D. Bilaterale Zusammen arbeit
195
den Vertrag darauf verzichtet. Mit der Beschränkung auf auslieferungsfähige Straftaten wird eine grenzüberschreitende Observation bei Bagatelldelikten ausgeschloss en. Beispiel: 1m Sinne des Polizeivertrages wird ein Ermittlungsverfahren nicht nur dadurch 83 geförd ert, dass ein mutmaßlicher Straftäter gren züberschreitend observiert wird. Auch andere Person en komm en als Observation ssubj ekte in Betracht, wenn ihre Beobachtung der Aufklärung einer Straftat dient. Zu denken ist etwa an den Fall, dass ein Erpressungsopfer auf sein em Weg von Stuttgart nach St. Gallen (Cl-I) bis zu dem Ort grenzüberschreitend observiert wird, wo nach der Forderung des Erpressers die Geldübergabe stattfinden so1l126.
Die Observation im Vorfeld einer Straftat ist im Rahmen der Schengener Ko- 84 operation nicht vorgesehen. Demgegenüber gelangten die Vertragsparteien Deutschland und Schweiz zu der gemeinsamen Überzeugung, dass in einem umfassenden Konzept der Sicherheitspartnerschaft im Interesse einer möglichst effizienten Kriminalitätsbekämpfung auf die Möglichkeit der Observation im Vorfeld einer Straftat nicht verzichtet werden könne . Da eine solche präventivpolizeiliche Observation (Art. 15) im Vergleich zu Art. 14 früher einsetzt, stellt der Vertrag weitere Zulässigkeitsvoraussetzungen auf: So kommen nur Straftaten von erheblicher Bedeutung in Betracht. Zu denken ist z. 8. an Fälle von Terrorismus, organisiertem Verbrechen , Entführungen und anderen schwer wiegenden Delikten. Die Observation zur Verhinderung von Straftaten von erheblicher Bedeutung ist ferner nur zulässig, soweit es das jeweilige innerstaatliche Recht zulässt. Kann ein Ersuchen nicht rechtzeitig gestellt werden oder sind die zuständigen Behörden des ersuchten Staats nicht in der Lage, die Observation rechtzeitig zu übernehmen , so erlaubt der Vertrag die grenzüberschreitende Fortsetzung der Observation . Die observierenden Beamten haben umgehend , in der Regel bereits vor Grenzübertritt, Kontakt mit der zuständigen Behörde des anderen Vertragsstaats aufzun ehmen. Auch hier ist ein begründetes Ersuchen nachzureichen , von dem die nationalen ZentralstelIen zwingend eine Kopie erhalten müssen . Wie in Art. 14 kann der ersuchte Staat jederzeit den Abbruch der Observation verlang en. Diese ist in jedem Fall einzustellen, wenn die Zustimmung nicht innerhalb von fünf Stunden nach Grenzübertritt erfolgt. Auch hier sind Grenzübertritte außerhalb zugelassener Grenzübergänge und festgelegter Verkehrsstunden erlaubt. Die Observation zur Verhinderung von Straftaten von erheblicher Bedeutung ist grundsätzlich auf die Grenzgebiete beschränkt. Nach Art. 14 111 sind die observi erenden Beamten an die Bestimmungen des 85 Rechts des Vertragsstaates gebunden , auf dessen Hoheitsgebiet sie auftreten . Es gelten für sie außerdem dieselben verkehrsrechtlichen Bestimmungen wie für die Beamten dieses Vertragsstaates. Art. 14 Ziff. 9 gewährt observierenden Beamten, die unter der Leitung des um Mitwirkung ersuchten Vertrag sstaats tätig sind, ein Festhalterecht, wenn die observierte Person auf frischer Tat bei der Begehung von oder der Teilnahme an einer im ersuchten Vertragsstaat auslieferungsfähigen Straftat betroffen oder wegen einer solchen Tat verfolgt wird. Diese Bestimmung
126
Cremer, ZaöRV 2000 , 103, 108.
196
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
geht über die Schengener Regelung hinau s (Verbot der Festnahme oder des Anhaltens in Art . 40 111 Iit. f SDÜ).
3. Nacheile (Art. 16) 86 Die Nacheile, welche definitionsgemäß grenzüberschreitend erfolgt, ist in Art. 16 geregelt. Nach Art . 16 I soll die Nacheile zum einen möglich sein , wenn jemand bei der Begehung oder Teilnahme an einer auslieferungsfähigen Straftat in tlagranti erwischt wird , zum anderen, wenn eine Person aus der Haft (Untersuchungs- oder Strafhaft), der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, der Sicherungsverwahrung oder aus amtlichem Gewahrsam getlohen ist. Die Auslieferungsfähigkeit richtet sich auch hier nach dem Recht des ersuchten Staates. Die nacheilenden Beamten haben unverzüglich, in der Regel noch vor dem Grenzübertritt, die zuständige örtliche Behörde zu unterrichten . In der Praxi s bedeutet dies , dass spätestens bei Grenzübertritt eine ent sprechende Meldung zu erfolgen hat. Die Behörden des ersuchten Staates können die Verfolgung übernehmen . Ist die Einholung einer Zustimmung auf Grund besonderer Dringlichkeit nicht möglich oder können die ausländischen Behörden die Verfolgung nicht rechtzeitig übernehmen, darf die Nacheile auch ohne vorherige Zustimmung erfolgen . Der Vertragsstaat, auf dessen Gebiet die Verfolgung stattfindet, kann jederzeit die Einste llung verlangen . Er ist auf Ersuchen der nacheilenden Beamten jedoch gehalten, die verfolgte Person zu ergreifen. 87 Nach Art . 16 11 haben die nacheilenden Beamten ein Festhalterecht, sofern die örtlichen Behörden nicht rechtzeitig herangezogen werden können . Art . 16 111 sieht vor , dass die Nacheile ohne räumliche und zeitliche Begrenzung ausgeübt werden darf. Die nacheilenden Beamten haben sich vor der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat bei den örtlich zuständigen Behörden zu melden und sind verpflichtet, sich bis zur Klärung des Sachverhaltes vor Ort bereitzuhalten. Dies gilt auch , wenn die verfolgte Person nicht festgenommen werden konnte. Eine schriftliche Berichterstattung nach der Rückkehr genügt hier also nicht. 88 Art . 16 VII gestattet - über Art . 41 SDÜ hinausgehend - die Nacheile, wenn sich eine Person einer Grenzkontrolle oder einer polizeilichen Kontrolle zum Zwecke der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität oder der Fahndung nach Straftätern innerhalb eines Gebietes von 30 Kilometern entlang der Grenze entzieht (sog. Schleierfahndung). Es wird hier eine aus konkretem Anl ass eingeleitete Fahndungs- oder Kontrollaktion vorausgesetzt, in deren Verlauf sich eine Person durch ihr Verhalten verd ächtig macht.
89 Beispiele: Deutsche oder Schweizer Polizeibeamte dürfen einem Täter, der sich nach einem in ihrem Hoheitsgebiet verübten Banküberfall auf der Flucht in den Nachbarstaat befindet, grenzüberschreitend nacheilen. Das gleiche gilt für entflohene Strafgefangene oder in einer psychiatrischen Klinik Untergebrachte. Ferner ist die grenzüberschreitende Nacheile zur Verfolgung von Personen zulässig, die sich einer Grenzkontrolle durch Flucht entzogen haben127.
127
Cremer, ZaöRV 2000,103,107.
D. Bilaterale Zusammenarbeit
197
4. Verdeckte Ermittlungen (Art. 17, 18) In Art . 17 wird eine vor allem im Bereich des organisierten Verbrechens immer mehr an Bedeutung gewinnende polizeitaktische Maßnahme - verdeckte Ermittlungen zur Aufklärung von Straftaten - geregelt. Eine verdeckte Ermittlung liegt vor, wenn ein Beamter des ersuchenden Staates, dem eine veränderte Identität verliehen worden ist, im ersuchten Staat tätig wird, um Informationen zu sammeln oder Kontakte zu bestimmten Personen herzustellent-". Auf Wunsch der Schweizer Delegation wurde hier ein strikter Vorbehalt des nationalen Rechts aufgenommen. Weil es sich um einen besonders sensiblen Bereich handelt, wurden zudem verschiedene Zulässigkeitsvoraussetzungen und Schranken eingebaut. So handelt es sich bei Art. 17 I nur um eine Kann-Bestimmung, die dem ersuchten Staat die Möglichkeit belässt, ein Ersuchen abzulehnen . Ferner wird das Vorliegen zureichender tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorausgesetzt, dass eine rechtshilfefähige Straftat vorliegt, für die nach dem jeweiligen innerstaatlichen Recht der Einsatz verdeckter Ermittier zugelassen ist. Des Weiteren muss die Aufklärung des Sachverhalts ohne die geplanten Ermittlungsmaßnahmen aussichtslos sein oder wesentlich erschwert werden . Art. 17 11 verlangt weiter, dass Ermittlungen sich auf einzelne Einsätze beschränken, die zeitlich begrenzt sind. Der verdeckte Ermittier des ausländischen Staates untersteht der Leitung eines Beamten des ersuchten Staates, dessen Tätigkeit vom ersuchten Staat jederzeit beendigt werden kann. Die Handlungen des verdeckten Ermittiers sind dem einsatzführenden Staat zuzurechnen. Nach Art. 17 111 werden die Voraussetzungen und Bedingungen der Einsätze und die Verwendung der Ermittlungsergebnisse vom ersuchten Staat nach seinem innerstaatlichen Recht festgelegt. Art. 17 IV verpflichtet den ersuchten Vertragsstaat zur Leistung notwendiger technischer und personeller Unterstützung. Bei besonderer Dringlichkeit braucht nach Art. 17 V keine vorherige Zustimmung beantragt zu werden. Bedingung dafür ist allerdings, dass die rechtlichen Voraussetzungen für den Einsatz verdeckter Ermittier im anderen Vertragsstaat vorliegen und andernfalls die Gefahr droht, dass die veränderte Identität aufgedeckt wird . Das Tätigwerden des verdeckten Ermittiers hat sich in diesen Fällen auf das zur Aufrechterhaltung der Legende unumgänglich notwendige Maß zu beschränken. Auch hier ist der Einsatz der zuständigen Behörde unverzüglich mitzuteilen und ein nachträgliches, begründetes Gesuch einzureichen (Art. 17 VI). Art. 17 VII sieht eine Pflicht zur Unterrichtung des Einsatzstaates vor. Diese hat unverzüglich nach Abschluss des Einsatzes schriftlich zu erfolgen . Nach Art. 17 VIII können die Vertragsstaaten einander verdeckte Ermittier zur Verfügung stellen. Den Einsatz verdeckter Ermittlungen zur Verhinderung von Straftaten von erheblicher Bedeutung regelt Art. 18. Wie die Observation zur Verhinderung von Straftaten von erheblicher Bedeutung (Art. 15) ist auch diese präventivpolizeiliche Variante der verdeckten Ermittlung an einschränkende Voraussetzungen geknüpft. Nur auslieferungsfähige Straftaten von erheblicher Bedeutung rechtfertigen eine
128
Cremer, ZaöRV 2000,103,109 f.
90
91
92
93
198
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
so lche Maßnahme. Außerdem ist eine verdeckte Ermittlung nur zuläss ig, wenn sie das jeweilige nationale Recht zum Zwecke der Prävention zul ässt.
5. Kontrollierte Lieferungen (Art. 19) 94 Die Bestimmung des Art . 19 über kontrollierte Lieferungen orientiert sich an Art . 73 SDÜ . Eine völkerrechtliche Verpflichtung, Maßnahmen zu treffen, welche die kontrollierte Lieferung auf internationaler Ebene ermöglichen, ist bereits in Art . I I UN-SuchtstoffÜbK (Rn . 8) enthalten. Beide Bestimmungen regeln die kontrollierte Lieferung jedoch nur auf dem Gebiet der Betäubungsmitteldelikte. Im deutsch-schweizerischen Polizeivertrag wurde eine weiter gehende Regelung getroffen, da es insbesondere in den in Art . 19 I aufgezählten Bereichen mit schwerwiegenden Straftaten (z . B. Waffen- und Sprengstoffdelikte, Falschgelddelikte, Diebstahl und Hehlerei, Geldwäsche) oftmals nicht möglich ist, auf andere Weise an Hinterleute und Organisatoren oder - bei dem in der Praxis häufigsten Fall des Drogenschmuggels - an die Großabnehmer heranzukommen . 95 Art . 19 I verlangt die Zustimmung des ersuchten Staates zu einer kontrollierten Lieferung. Diese wird nur dann gestattet, wenn nach Ansicht des ersuchenden Staates die Ermittlung von Hinterleuten und anderen Tatbeteiligten oder die Aufdeckung von Verteilerwegen ohne diese Operation aussichtslos erscheint oder wesentli ch erschwert würde. Die Lieferung kann zur Kontrolle abgefangen und dabei die (illegale) Ware in ihrem ursprünglichen Zustand belassen, entfernt oder durch eine Attrappe ersetzt werden. Die Zustimmung muss abgelehnt oder beschränkt werden, wenn von der Ware ein nicht vertretbares Risiko für die am Transport beteiligten Personen oder für die Allgemeinheit ausgeht. Gedacht wurde dabei insbesondere an Mass envernichtungswaffen oder Bestandteile für deren Herstellung sowie an Sondermüll oder radioaktive Stoffe. 96 Art . 19 11 normiert die Kontrollaufgaben des ersuchten Staates. Er muss sicherstellen, dass keine Unterbrechung der Kontrolle der Lieferung entsteht und dass jederzeit die Möglichkeit des Zugriffs auf den Täter oder die Ware gegeben ist. Beamte des ersuchenden Staates können auch im ersuchten Staat an der Begleitung der kontrollierten Lieferung beteiligt werden . In diesem Fall sind sie an das innerstaatliche Recht des ersuchten Staates und an die Weisungen von dessen Behörden gebunden . 97 Beispielsfall: Den deutschen Ermittlungsbehörden ist bekannt, dass in einem aus dem Landkreis Konstanz stammenden PKW, der sich auf der Fahrt in die Schweiz befindet, Drogen versteckt sind, die in Zürich abgesetzt werden sollen. Auf ein entsprechendes Ersuchen der deutschen Seite stimmen die Schweizer Stellen der Maßnahme einer kontrollierten Lieferung zu. Das bedeutet, dass der Drogenkurier mit der "heißen Ware" nicht bereits an dem schweizerischen Grenzübergang bei Ramsen (ClI) gestoppt, sondern "durchgewunken" wird. Der Kurier wird jedoch - je nach Absprache zwischen den Polizeibehörden von deutschen, schweizerischen oder gemischten Ermittlungsteams lückenlos, d. h. in einer Weise überwacht, dass im weiteren Verlauf jederzeit auf den Täter oder die Ware zugegriffen werden kann129. 129
Cremer, ZaöRV 2000, 103, 111 f.
D. Bilaterale Zusammenarbeit
199
6. Datenschutz (Art. 26-28) Die zwischenstaatliche Zusammenarbeit von Polizeibehörden geht in der Regel 98 auch mit dem Bearbeiten von Daten verdächtiger oder angeschuldigter Personen einher. So werden zum Beispiel Personendaten direkt ausgetauscht, an andere Stellen weitergegeben, bei grenzüberschreitender Nacheil e oder Observation beschafft und in Informationssystemen gespeichert. Kapitel IV regelt in drei umfangreichen Artikeln den Datenschutz einschließlich der Datenbearbeitung auf dem Hoheitsgebiet des anderen Vertragsstaates. In den Art. 26-28 wurden Regelungen getroffen, die die Zielsetzungen der polizeilichen Zusammenarbeit und diejenige des Persönlichkeitsschutzes miteinander in Einklang bringen sollen . Hierzu gehört vor allem der in Art. 26 festgeschriebene Zweckbindungsgrundsatz. Personendaten, die auf Grund des Polizeivertrages an eine Stelle übermittelt wurden , dürfen nur zu dem Zweck, der im Vertrag festgelegt ist, und zu den Bedingungen, die die übermittelnde Stelle im Einzelfall stellt, verwendet werden . In Art. 27 werden einheitliche Bedingungen im Zusammenhang mit der Bearbeitung von Personendaten aufgestellt, nämlich die Pflicht : - zur Einhaltung der datenschutzrechtliche Grund sätze der Richtigkeit und damit zusammenhängend - zur Berichtigung bzw. Vernichtung falsch er Daten, - zur Wahrung der Grunds ätze der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit der Datenübermittlung, - zur Gewährung des Auskunftsrechts, - zur Einhaltung von im geltenden nationalen Recht vorgesehenen Löschungsfristen durch den empfangenden Vertragspartner, - die Übermittlung und den Empfang der Daten aktenkundig zu machen sowie Datenübermittlungen im automatisierten Verfahren zu Zwecken der Überprüfung der Einhaltung der maßgeblichen Datenschutzbestimmungen zu protokollieren, - Maßnahmen zur Datensicherheit zu treffen .
7. Amtshandlungen im anderen Vertragsstaat Die Rechtsverhältnisse bei Vornahme von Amtshandlungen im anderen Vertrags- 99 staat werden in Kapitel V für den gesamten Polizeivertrag festgeschrieben . Hier finden sich Bestimmungen über Einreise und Aufenthalt (Art . 29), das Tragen von Uniformen und das Mitführen von Dienstwaffen (Art . 30), Fürsorge und Dienstverhältnisse (Art . 31) , die zivilrechtliche Haftung (Art . 32) sowie die RechtssteIlung der Beamten im Bereich des Strafrechts (Art. 33) . Das Tragen von Uniformen sowie das Mitführen von Dienstwaffen und sonstigen Zwangsmitteln (z. B. Handschellen, Schlagstöcke) wird nach Art. 30 I generell erlaubt, kann im Einzelfall jedoch eingeschränkt oder ganz untersagt werden . Der Gebrauch der Schusswaffe ist gern. Art. 30 111 nur in den Fällen der Notwehr und Nothilfe erlaubt. Art. 31 11 legt fest, dass die Beamten des anderen Vertragsstaates jeweils den dienstrechtlichen und haftungsrechtlichen Vorschriften ihres Heimat staates unterstellt
200
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
bleiben. Die Beamten unterstehen gern. Art . 33 in aktiver und passiver Hinsicht den strafrechtlichen Bestimmungen des Staates, auf dessen Hoheitsgebiet sie tätig werden (entspricht Art . 42 SDÜ). Werden Dritte durch Beamte des einen Vertragsstaates auf dem Hoheitsgebiet des anderen Vertragsstaates geschädigt, so haftet gern. Art . 32 111 der Staat , auf dessen Hoheitsgebiet der Schaden eingetreten ist (entspricht Art. 43 " SDÜ). Art. 32 IV regelt die Regressansprüche unter den Vertragsstaaten. Der entsendende Staat ist verpflichtet, den Gesamtbetrag des geleisteten Schadenersatzes zu erstatten (entspricht Art. 43 I SDÜ) .
11. Würdigung des Polizeivertrages 100 Der Polizeivertrag baut auf folgende Konstruktionsprinzipient'": - Der grenzüberschreitende Polizeieinsatz erfordert - außer bei besonderer Dringlichkeit - die Zustimmung des Gebietsstaates im konkreten Einzelfall. Die Zustimmung kann unter Auflagen erteilt werden oder Modalitäten des Einsatzes festlegen . - Die Beamten haben möglichst vor oder bei Grenzübertritt dem Gebietsstaat mitzuteilen, dass sie sein Hoheitsgebiet betreten. Auf Verlangen des Gebietsstaates ist der Einsatz einzustellen oder an Beamte des Gebietsstaates zu übergeben . - Die Beamten sind an das Recht des Gebietsstaates gebunden. 101 Man kann im Hinblick auf das Zustimmungserfordernis des ersuchten Staates von einem rechtshilfeähnlichen Charakter des Polizeivertrages sprechen. Eine erhebliche Erleichterung gegenüber der klassischen Rechtshilfe liegt freilich darin , dass der Kooperationsvorgang von der diplomatischen auf die behördliche Ebene verlagert ist ("kurzgeschlossener" Rechtshilfeverkehr). Über die klassische Rechtshilfe geht der Polizeivertrag auch insoweit hinaus , als er den grenzüberschreitend tätigen Beamten - in den vertraglich abgesteckten Grenzen - die "Mitnahme" und Ausübung hoheitlicher Befugnisse im Nachbarstaat gestattet!" . 102 Der deutsch-schweizerische Polizei vertrag belegt eindrucksvoll, dass auch die grenzüberschreitende polizeiliche Kooperation zwischen einem EU-Staat und einem Drittstaat sehr intensiv sein kann . Er bietet eine ausgezeichnete Grundlage für eine direkte und unbürokratische Kooperation im deutsch-schweizerischen Grenzgebiet und damit für eine effektive grenzübergreifende Sicherheitspartnerschaft bei der Länder. Insbesondere eröffnet er die Möglichkeit, Straftäter über die Grenze hinweg zu verfolgen und Fahndungsdaten auszutauschen . Der " Umweg", über das BKA schweizerische Dienststellen um Fahndungen oder Informationen zu ersuchen, entfällt weitgehend. Teilweise geht das bilaterale Abkommen sogar über den Kooperationsstandard des SDÜ hinaus. So können z. B. gemeinsame Einheiten der Polizeien ("gemischte Streifen") für Fahndungskontrollen, Observationen 130
131
Cremer, ZaöRV 2000,103, 113 ff. Cremer, ZaöRV 2000,103,127,136 ff.
E. Rechtsschutz gegen grenzüberschreitende Strafverfol gung
201
oder Ermittlungen eingesetzt werden , in denen unter bestimmten Voraussetzungen die jeweils ausländischen Kräfte auch hoheitliche Aufgaben auf dem Gebiet des anderen Vertragsstaates wahrnehmen. Auf räumliche, zeitliche und örtliche Beschränkungen, wie sie zwischen einigen EU-Mitgliedstaaten bestehen , wurde verzichtet. Während nach Art. 40 I SDÜ grenzüberschreitende Observationen nur im Rahmen eines konkreten Ermittlungsverfahrens und nur gegen Verdächtige möglich sind, sind sie nach dem deutsch-schweizerischen Polizeivertrag auch zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten mit erheblicher Bedeutung, d. h. ohne konkreten Tatverdacht, erlaubt. Das Instrum ent der "kontrollierten Lieferungen" ist nicht wie in Art. 73 SDÜ auf Betäubungsmittel beschr änkt. Mit dem Übereinkommen werden grenzüberschreitende verdeckte Ermittlungen erstmals in einem internationalen Abkommen verrechtlicht. Für den Einsatz von Polizeibeamten unter einer ihnen verliehenen veränderten Identität bedarf es danach nur "z ureichender tatsächlicher Anhaltspunkte". Die vorbildliche, von beiden Seiten angestrebte "strategische Sicherheitskooperation" umfasst unter anderem die gemeinsame Analyse der Sicherheitslage und die gegenseitige Unterrichtung über aktuelle Schwerpunkte der Kriminalitätsbekämpfung. Das deutsch-schweizerische Polizeiabkommen kann nach alledem als Modell für eine Erweiterung und Vertiefung der polizeilichen Kooperation zwischen den EU-Mitgliedstaaten herangezogen werden 132 •
E. Rechtsschutz gegen grenzüberschreitende Strafverfolgung Die Ausführungen in diesem Kapitel haben gezeigt, dass die grenzüberschreitende 103 Strafverfolgung in Europa inzwischen deutlich über die "klassische" intergouvernementale Zusammenarbeit hinau sgeht , wie sie beispielsweise in den Konventionen des Europarates zum Ausdruck gelangt. Der Aufbau eines unionsweiten Systems zur Erleichterung der Rechtshilfe, zum Austau sch ermittlungsrelevanter Informationen und zur Erstellung von Analysen im Rahmen eines Europäischen Polizeiamt es (Europol) , die Einr ichtung der juristischen Clearing- und Koordini erungsstelle Euroj ust, die PJZS, welche seit Inkrafttr eten des Amsterdamer Vertrages am I . Mai 1999 den Sehengen-Besitzstand (mit seinem Kernstück SIS) einschließt, aber auch bilaterale Übereinkommen führt en zu einer bedeutenden Erweiterung und Vertiefung der europ äischen Integration auf dem Feld der tran snationalen Kriminalitätsbek ämpfung und Strafrechtsptlege. Untrennbar mit der international-arbeitsteiiige Strafverfolgung in Europa ist jedoch das Problem des Rechtsschutzes für die von solchen Strafverfolgungsmaßnahmen betroffen en Personen verbund enl '" . Als problematisch erweist sich in diesem Zusammenhang vor allem, dass die nationalen Rechtsordnungen grunds ätzlich nur Rechtschutz gegen132
133
Cremer, ZaöRV 2000 , 103, 127, 146. Zu den Grundproblemen und Perspekti ven der künftigen Zusamme narbe it der Schweiz mit Europol vgl. Heine, Trechsel-F S, S. 237 . Vgl. hierzu Gleßll.uke, JURA 2000, 400 ff.
202
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
über Handlungen eigener Hoheitsträger gewähren, wie die nachfolgenden Fallbeispiele verdeutlichen: 104 Fall 1: A betreibt ein Geschäft im südbadischen Kehl, wohnt aber auf der anderen Rheinseite in Straßburg (F). Eine Streife der französischen Gendarmerie beobachtet eines Morgens, wie A an einer gren znah im Elsass gelegenen Tankstelle Benzin in seinen PKW füllt und ohne zu bezahlen wegfahrt. Die Gendarmerie verfolgt A über die Staatsgren ze hinweg bis zu seinem Geschäft in Kehl. Dort zwingen ihn die französischen Polizeibeamt en, mit erhobenen \-länden auszusteigen und eine Durchsuchung seines PKW zu dulden . Schließlich gelingt es A, den Sachverhalt aufzuklä ren: Zwischen A und dem Pächter der französischen Tankstelle bestand eine Absprache, die es ihm erlaubte, so zu verfahren wie geschehen. A will nicht glauben , dass ausländische Polizei beamte ihn in Deutschland festhalten und durch suchen dürfen . Er fragt, ob ein deutsches Gericht die Unzuläs sigkeit der getroffenen Maßnahmen feststellen kann, um eine Wiederholungsgefahr abzuwenden. Abwandlung: Wie wäre der Fall im deut sch-schwei zerischen Verhältnis zu beurteilen ? 105 Lösungshinweise zu Fall I : Bei der von der französischen Gendarmerie ergriffe-
nen Maßnahme handelt es sich um eine grenzüberschreitende Nacheile, da es darum ging , die polizeiliche Verfolgung einer - zumindest dem ersten Anschein nach - auf frischer Tat betroffenen Person auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Staates fortzusetzen . Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der grenzüberschreitenden Nacheile sind in Art. 41 SDÜ (Rn . 41 f.) geregelt. 106 Das SOÜ sieht jedoch keine besondere Rechtsschutzmöglichkeit für von einer grenzüberschreitenden Nacheile oder Observation betroffenen Person vor. Zwar sind die nacheilenden Beamten an das Recht der Vertragspartei gebunden, auf deren Hoheitsgebiet sie auftreten (Art . 41 V lit. a SDÜ) . Daraus folgt jedoch nicht zwangsläufig, dass sie der Gerichtsbarkeit dieses Staates unterworfen sind . 107 Es existiert auch kein Rechtsweg zum EuGH. Zwar wurde das SDÜ als Bestandteil des Sehengen-Besitzstandes durch ein Protokoll zu dem am I. Mai 1999 in Kraft getretenen Amsterdamer Vertrag in den Unionsvertrag integriert (Rn . 68). Dem EuGH werden in ex-Art. 35 I EUV (vgl. zu dessen Anwendbarkeit Rn. 76) jedoch nur begrenzte Kontrollkompetenzen zugewiesen. Die Handlungen einzelner Polizeibeamter, die im Rahmen grenzüberschreitender Observation oder Nacheile vorgenommen werden , unterliegen nicht der Jurisdiktion des EuGH . 108 Auch finden sich keine gesetzlichen Bestimmungen im deutschen Recht, die eine Überprüfung der von den französischen Gendarmen vorgenommenen Handlungen vor einem deutschen Gericht zulassen. Die deutsche Verfassung (Art. 19 IV GG) garantiert A die Er öffnung eines Rechtsweges zu einem deutschen Gericht, wenn er geltend machen kann , durch die deutsche öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt worden zu sein. Zu prüfen ist also , ob die französischen Gendarmen gegenüber A deutsche Hoheitsgewalt ausgeübt haben . Fremde Hoheitsträger sind grundsätzlich nicht in der Lage, deutsche Hoheitsgewalt auszuüben. Man könnte jedoch überlegen , ob das SDÜ den nacheilenden Beamten möglicherweise die Kompetenz überträgt, auf dem Hoheitsgebiet eines benachbarten Sehengenstaates dessen Hoheitsgewalt auszuüben . Eine ausdrückliche Regelung in diesem Sinne enthält das SDÜ jedoch nicht. Im Hinblick auf die völkervertragsrechtliche Natur des SDÜ sind für seine Interpretation die in Art. 31, 32
E. Recht sschutz gegen grenzüberschreitende Strafverfolgung
203
der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK)134 kodifizierten Auslegungsma ximen heranzuziehen. Dana ch ist ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit seiner gewöhnlichen, sein en Bestimmungen im Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Ziel es und Zweckes auszulegen. Die teleologische Auslegung des SDÜ ergibt, dass die grenzüberschreitend tätig werdenden Beamten keine Hoheitsgewalt des Ziel staates wahrnehmen, sondern vielmehr im Ziel staat Hoheitsgewalt ihres Entsendestaates aus üben' :". Die Vertragsparteien haben die Möglichkeit gren züberschreitender polizeilicher Zusammenarb eit geschaffen, um den mit dem Wegfall der Kontrollen an den Binnengrenzen befürchteten Sicherheitsverlust auszugleichen. Es sollte verh indert werden, dass Personen, die von den nat ionalen Behörden einer Vertragspartei verdächtigt werd en, eine Straftat begangen zu haben, sich durch eine ungehinderte Flucht über die offene Grenze den gegen sie gerichteten Ermittlungsmaßnahmen entziehen können. Durch das SDÜ soll der " nationa le Souveränit ätspanzer" aufgebrochen werden und die Ausübung originärer Hoheitsgewalt des Entsendestaates auch auf dem Hoheitsgebiet des angrenzenden Vertragsstaates ermöglicht werden . Demzufolge haben die franz ösischen Beamten französische Hoheitsgewalt ausgeübt, als sie A in Kehl anhielten und seine Wagen durchsuchten. Von einer völkerrechtlichen Organleihe kann nicht ausgegangen werden . Ei- 109 ne solche liegt vor, wenn ein Staat einzelne Organe einem anderen Staat unter Ausgliederung aus der eigenen Hoheitsgewalt zur Verfügung stellt. Eine völkerrechtliche Organleihe basiert stets auf einer vertraglichen Regelung. Voraussetzung ist, dass die "entl iehenen" Organe auf Weisung, im Namen und unter Kontrolle des .Entle iherstaates' ' tätig werden . Das SDÜ sieht jedoch gerade keine Weisungsbefugnis des Staates , auf dessen Hoheitsgebiet die nacheilenden Beamten des Entsendestaates tätig werden , gegenüber diesen Beamten vor 136. Im Ergebnis ist festzuh alten, dass die fran zösische Gendarmerie in Fall 1 keine 110 deutsche, sondern französische Staatsgewalt auf deutschem Gebiet ausübte. Da somit kein Akt der deut schen öffentliche Gewalt vorlag, greift die Recht sschutzgarantie des Art. 19 IV GG nicht ein . Folglich kann A vor keinem deutschen Gericht die Unzulä ssigkeit der polizeilichen Maßname feststell en lassen . Ob A in Frankreich den Rechtsweg mit dem Ziel beschreiten kann , die Unzu- 111 lässigkeit der gegen ihn ergriffenen Zwangsma ßnahmen festst ellen zu lassen , ist eine nach französis chem Recht zu beantwortende Frage . Als Vertragsp artei der EMRK (Art . 13 i. V. m. Art . 2 des 4. Zusatzprotokolls), des IPBPR (Art. 2 11I a i. V. m. Art . 12 I) ist Frankreich völk erre chtli ch verpfli chtet, A eine Beschwerdemöglichkeit zu gew ähren . Eine Pflicht zur Justi zgewährleistung besteht aber nicht , da Art . 6 EMRK bzw . Art. 14 IPBPR gerichtlichen Rechtsschutz für das Strafver134
135
136
Wiene r Übereinkomm en v. 23. Mai 1969 über das Recht der Vertr äge (BGBt. II 1985, 927) ; abgedruckt bei Schomburg/Lagodny/G leß/ Hackner, IRhSt, Anhan g 12. Die im WVK enthaltenen Auslegu ngskriterien werden als kod ifiziertes Völkergewohnh eitsrecht angesehen; vgl. hierzu BGH NStZ 1998, 149, 151; Dörr, DÖV 1993,696,702. Amb os, IntStR, § 12 Rn. 34; Baldus, Polizeil iche Zusammenarbe it, S. 34, 44; Gleß /Lüke, JU RA 2000 , 400, 403 ; Hecker, J., EuR 2001 ,826,842. Gleß/Lüke, JURA 2000 , 400, 403 .
204
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
fahren erst ab dem Zeitpunkt garantieren, ab welchem eine Person unter " Anklage" steht. Unter Anklage steht eine Person erst dann , wenn ihr von einer Behörde offiziell mitgeteilt wird, dass gegen sie eine Anschuldigung vorliegt. Die Maßnahmen der französischen Gendarmerie gegen A stellen lediglich Ermittlungen im Vorfeld einer etwaigen Anklage dar. 112 Lösungshinweise zu Fall I (Abwandlung): Im deutsch-schweizerischen Verhältnis greifen die Regelungen des deutsch-schweizerischen Polizeivertrages über grenzüberschreitende Observation und Nacheile ein , die den nacheilenden Beamten die Befugnis verleihen, fremde Hoheitsgewalt auf dem Territorium des Nachbarstaates auszuüben . Ein Rechtsschutz gegen Maßnahmen Schweizer Polizeibeamter durch deutsche Gerichte ist daher ausgeschlossenl37 . A ist auf die nach schweizerischem Recht bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten zu verweisen . 113 Fall 2: Der deut sche Autofahrer B wird im bayeri sch-österreichischen Grenzgebiet von ei-
ner Streifenbesatzung der deutschen Autobahnpolizei dabei beobachtet, wie er bei einem verbotenen Überholmanöver einen anderen Wagen seitlich rammt und sodann - ohne anzuhalten - seine Fahrt mit hoher Geschwindigkeit fortset zt. Die Zivilstreife verfolgt den B über die Staatsgrenze hinweg bis zu einem in Österreich gelegenen Parkplatz. Die Beamten zwingen B unter Anwendung des .Polizeigriffes", in ihren Wagen einzusteigen, um mit ihnen zu einer auf der deutschen Seite gelegenen Poli zeidienststelle zu fahren. Ein Mitglied der Streifenbesatzung überführt den Wagen des B nach Deutschland. Ist die Rechtmäßigkeit diese r Maßn ahmen von einem deutschen Gericht überprüfbar?
114 Lösungshinweise zu Fall 2: Nach Art. 19 IV GG hat Beinen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf die Eröffnung eines Rechtsweges zu einem deutschen Gericht, wenn er geltend machen kann , durch die deutsche öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt worden zu sein . Die im Rahmen der grenzüberschreitenden Nacheile (Art. 41 SDÜ) gegen B ergriffenen Maßnahmen sind zwar nicht auf deutschem Hoheitsgebiet vollzogen worden . Jedoch ergibt sich aus dem SDÜ , dass die deutschen Beamten auf dem Territorium eines anderen Vertragsstaates deutsche Hoheitsgewalt ausgeübt haben , als sie dem in Deutschland auf frischer Tat (vgl. §§ 315 c I Nr. 2 b, 142 I Nr. I, Nr. 2 StGB) betroffenen B über die Grenze nacheilten. B kann daher mit der Behauptung, die Beamten hätten ihn in seinen Rechten verletzt, ein deutsches Gericht anrufen, um die Rechtmäßigkeit der getroffenen Maßnahmen überprüfen zu lassenl'".
137
138
Cremer, ZaöRV 2000 , 103, 136 ff. Vgl. hierzu Baldus, Polizeiliche Zusammenarbeit, S. 34, 50 und zu einem Parallelfall GleßILüke, JURA 2000 , 400 , 403 f.
F. Literaturhinwe ise
205
F. Literaturhinweise Ambos, IntStR, 2. Aufl ., 2008 , § 12- I3 An droulakis, Die Globali sierun g der Korruptionsbekämpfung, 2007 , passim v. Arnauld, Die Europäisie rung des Recht s der inneren Sich erh eit, JA 2008, 327 Baldus, Europol und Demo krat iepri nzip, Z RP 1999, 263 ders., Polizeiliche Zu sam men arbeit im Raum der Freihe it, der Sicherheit und des Rechts Rechtliche Grundlagen, Ersche inun gsformen und Problernfelder, in: Pache (Hrsg .), Die Euro pä ische Un ion - ein Raum der Freiheit, der Sicherhe it und des Recht s", 2005 , S.34 Bauer, Organ isat ion und rechtlicher Rahm en des Politi kfeld s Inneres und Justiz nach dem Vertrag von Lissabon, in: Weid en feld (Hrsg.), Lissabon in der Anal yse, 2008, passim Böse, Der Grundsatz der Ve rfügb arkeit von Inform ationen in der stra frechtlichen Zu sammenarbeit der EU, 2007, passim ders., Die Entscheidung des BVerfG zu m Vert rag von Lissabon und ihre Bedeutung für die Europäisierung des Strafrech ts, Z IS 2010, 76 v. Bubnof], Institut ionelle Kriminalit ätsbekämp fung in der EU - Schritte au f dem Weg zu einem europäischen Ermittlungs- und Strafverfol gu ngsraum. ZE uS 2002 , 185 ders., Die Funktionsfähi gke it der vertrag lichen Na cheileregelungen über die Grenze und Ansätze für deren Verb esserung, ZRP 2000 , 60 Cremer, Der grenzüberschreitende Einsatz von Polizeibeamten nach dem deutsch-schweizerischen Pol izeivertrag, Zaö RV 2000, 117 Degenhardt, Europol und Strafpro zess - die Europäisierung des Ermittlungsverfahrens, 2003 , passim Esser, Der Beit rag von Euroj ust zur Bekämpfung des Terr orismus in Europa, GA 2004, 711 ders./Herb old, N eue Wege für die justizielle Zu sammenarbeit in Strafsa chen - Das Euro j ust-Gesetz, NJ W 2004, 2421 Fawzy, Die Errichtung von Euroj ust - Zw ische n Funktionalität und Recht sstaatl ichkeit, 2005 , passim Gieß, Rechtsschutz gegen grenz übe rschre itende Stra fverfol gu ng in Europa, JURA 2000, 400 dies., Europo l, NS tZ 2001 , 623 dies., Brauc hen neue Vollzugsräume neu e Kontrollformen? - Zur Ent-Rec htlichung euro päisch er Strafver folgun g, ZStW 114 (2002), S. 636 Gleß /Gr ote/Heine (Hrsg.), Justizielle Einbindung und Kontroll e von Europol, 2001 , passim Gleß/l. üke, Strafver folgun g über die Gren zen hin weg - Formen der Z usamme narbe it europäische r Länder zur Krimin alit ätsbekämpfung -, JURA 1998 , 70 Heger. Per spektiven des Euro päis chen Strafrechts nach dem Vertrag von Lissabon, ZI S 2009,406 Heine, Europol und Europäisie rung des Rechts - Gru ndprobleme und Perspekti ven, auch für die Sch weiz, Trec hse l-FS, 2002 , S. 237 Hölschei dtiSchotten, Immu nität für Europol-Be die nstete - Normalfall oder S ünden fall", NJW 1999,2851 Humm er, Der Ve rtrag von Pr üm - " Schengen III"?, EuR 2007 , 517 Kahlke, Eurojust - Auf dem Weg zu einer Euro päisc hen Staatsa nwa ltschaft? - Die Justizie lle Zusamme narbe it in Strafsachen innerhalb der Europäis chen Union, 2004 , passim Kühne, Strafprozessrecht, 8. Aufl., 201 0, Rn. 93-100.3
206
§ 5 EU-Mit gliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
Ligeti, Stra frecht und strafr echtli che Z usammenarbeit in der Europäischen Union, 2005 , S, 49-67; 197-218 Meyer, Der Grundsatz der Verfügbarkeit , NS tZ 2008 , 188 Nelles, Europäisierung des Stra fverfahrens - Stra fpro zessrecht für Europa?, ZStW 109 (1997), S. 727 Niemeier/Wa lter, Ne ue Recht sgrundlage für Europol, Kriminali stik, 201 0, 17 Perron, Auf dem Weg zu einem europäischen Ermittlungsverfahren , ZStW 112 (2000), S. 202 Petri, Europo l - Grenzüberschreitende polizeiliche Tätigkeit in Euro pa, 200 I, passim Riege l, Gemeinsam e Ermittlungsgruppen, eucrim 2009 , 99 Satzger, IntStR, 4. Aufl., 201 0, § 10 Sieber, Die Zukunft des Europäischen Strafrechts, ZStW 121 (2009), 1 Suhr, Die PJZ S in Strafsachen nach dem .Lissabon v-Urte il des BVerfG , ZEuS 2009 , 687 Taschke, Die Bekämpfu ng der Korruption in Europa auf Grundlage der OECD-Konvention, StV 2001 , 78 Voß, Europol - Polizei ohne Grenzen? - Stra frechtli che Immu nitätenregelu ngen und Kontroll e von Europol, 2003 , passim Wolter, Die polizeiliche und ju stizielle Z usammenarbeit in Strafsachen in der Europäischen Union, in Kohlm ann- FS, 2003 , S. 693 ders. (Hrsg.) , Alternativ-Entwurf Europo l und europäische r Daten schutz, 2008 , passim Ziege nhahn, Der Schutz der Menschenrechte bei der grenzüberschr eitenden Zu sammen arbeit in Strafsachen, 2002 , S. 48-118 Zimmermann, Die Auslegun g künftige r EU-Strafrechtskompetenzen nach dem LissabonUrteil des ßVerfG, Jura 2009 ,844 Zieschang, Das EU-Bestechungsgesetz und das Ges etz zur Bekämpfung intern ationaler Bestechung, NJW 1999, 105
G. Zusammenfassung von § 5 115 Die EU-Mitgliedstaaten sind in ein komplexes Netzwerk weltw eiter, europäischer und zwischenstaatlicher Kooperationsformen eingebunden, welche sich die international e Zusammenarbeit in Strafsachen zu einem Te il ihrer Aufgabengebiete gemacht haben . Zu den Institutionen, die im Bereich der internationalen Kriminalitätsbekämpfung und Strafrechtsptlege global tätig werden , gehören die Internationale Kriminalpoli zeiliche Organisation (Interpol), die Vereinten Nationen (UN) , die Organisation für Wirtsch aftliche Entwicklung und Zusamm enarbeit (O ECD) und die Gipfeltreffen der G7/G8-Staaten . Auf europ äisch er Ebene ist die Strafrechtsentwicklung maßg eblich durch die Aktivitäten des Europarates geprägt worden, der bei seiner Arbeit im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung zum einen auf die Instrumente des "soft law", aber auch auf die harmonisierende Wirkung völkerrechtlicher Übereinkommen setzt. In diesem Zusammenhang ist auf die Maßnahmen des Europarates zur Bekämpfung von Geldw äsche, Drogenkriminalität, Korruption und Cyber-Kriminalität hinzuwe isen, durch welch e entsprechende Aktivitäten der OECD, UN bzw. G7/8-Staaten ergänzt werd en.
G. Zusammenfassung von § 5
207
Die europäische Strafrechtsentwicklung wird heute maßgeblich von der poli- 116 zeilichen und justiziellen Zusammenarbeit (PJZS) der EU-Mitgliedstaaten geprägt, die durch den Reformvertrag von Lissabon in den einheitlichen Rahmen des Unionsrechts überführt wurde (Art . 67, 82-86, 87-89 AEUV). In Kapitel 5 werden die wesentlichen Entwicklungsschritte der anfänglich nur informellen Kooperation hin zu einer durch den Vertrag von Maastricht (1992) institutionalisierten, durch Sehengen I (1990) und 11 (1995) sowie den Vertrag von Amsterdam (1999) vertieften grenzüberschreitenden Justiz- und Innenpolitik nachgezeichnet, die seit Inkrafttreten des Reformvertrags (I . Dezember 2009) supranationale Züge trägt. Auf den Erlass von Rechtsakten der PJZS findet nunmehr grundsätzlich das ordentliche Gesetzgebungsverfahren des Art . 294 AEUV Anwendung, wodurch die demokratische Legitimation der europäischen Justiz- und Innenpolitik - namentlich auf den Feldern Strafprozessrecht, materielles Strafrecht, Kriminalprävention, Grundlagen von Eurojust. bzw. Europol und polizeiliche Zusammenarbeit - deutlich verstärkt wird . Die auf der Grundlage der in ex-Art. 34 EUV ergangenen Rechtsakte - etwa zur Bekämpfung von Terrorismus, OK, Geldfälschung, Drogenkriminalität, Geldwäsche, Menschenhandel, Schleuserkriminalität, Kinderpornographie und Cybercrime sowie über den Europäischen Haftbefehl, die Europäische Beweisanordnung und die gegenseitige Anerkennung von Sanktionen - behalten aber solange Rechtswirkung, bis sie in Anwendung der Verträge (EUV/AEUV) für nichtig erklärt oder geändert werden . Am Beispiel des deutsch-schweizerischen Polizeivertrages wurde gezeigt, dass 117 die grenzüberschreitende polizeiliche und justizielle Kooperation auch zwischen EU-Staaten und Drittstaaten sehr intensiv sein kann . Das bilaterale Übereinkommen geht teilweise sogar über den Kooperationsstandard des SDÜ hinaus . Die international-arbeitsteilige Strafverfolgung in Europa wirft das Problem des 118 Rechtsschutzes für die von grenzüberschreitenden Strafverfolgungsmaßnahmen betroffenen Personen auf, da in den einschlägigen multi- oder bilateralen Kooperationskonventionen - mit Ausnahme des Datenschutzbereiches - keine besonderen Rechtsschutzm öglichkeiten vorgesehen sind und die nationalen Rechtsordnungen grundsätzlich nur Rechtschutz gegenüber Handlungen eigener Hoheitsträger gewähren.
B. Hecker, Europäisches Strafrecht, DOI 10.1007/978-3-642-13127-1_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
210
§ 6 Zusammenarbeit zwischen EuGH und nationaler Strafgerichtsbarkeit
bindliehen Auslegung des gesamten Unionsrechts und zur Überprüfung der Gültigkeit von Sekundärrechtsakten zu. Dieses Auslegungs- und Verwerfungsmonopol des Gerichtshofs wird durch das in Art. 267 AEUV verankerte Kooperationsmodell gesichert. Das Vorabentscheidungsverfahren stellt das prozessuale Bindeglied zwischen der supranationalen Gerichtsbarkeit und den nationalen Gerichten dar" .
2. Individualschutzfunktion 3 Daneben tritt bei dem Vorabentscheidungsverfahren zunehmend auch die Individualschutzfunktion in den Vordergrunds, Die Bürger sind auf den innerstaatlich gewährten Rechtsschutz angewiesen, wenn es um die Durchsetzung ihrer aus dem Unionsrecht abgeleiteten subjektiv-öffentlichen Rechte geht. Das Vorabentscheidungsverfahren bietet ihnen somit die einzige Möglichkeit, sich gegen unionsrechtswidriges Verhalten ihres Mitgliedstaates zu wehren . Zu beachten ist jedoch, dass das von Art . 267 AEUV vorgeschriebene Procedere nicht als selbständiger kontradiktorischer Prozess, sondern als objektives Zwischenverfahren konzipiert ist, das als eine Art Kooperationsverfahren im Rahmen eines vor dem nationalen Gericht geführten Ausgangsprozesses durchgeführt wird. Sein Ablauf weist gewisse Parallelen zum Verfahren der konkreten Normenkontrolle gern. Art . 100 I GG auf. Art . 267 AEUV gewährt den Prozessbeteiligten daher keinen Anspruch auf Einholung einer Vorabentscheidung. Der Einzelne - ob als Partei im Zivilbzw . Verwaltungsprozess oder als Angeklagter im Strafverfahren - kann dementsprechend vor dem nationalen Gericht ein Vorlageverfahren immer nur anregen oder beantragen, aber nicht erzwingen. Über die vorläufige Aussetzung des nationalen Verfahrens zum Zwecke der Einholung einer Vorabentscheidung durch den EuGH entscheidet allein und von Amts wegen das nationale Gericht'. 4 Zwar stellt die Missachtung der Vorlagepflicht (Rn . 6) einen Unionsrechtsverstoß dar , der zu einem Vertragsverletzungsverfahren gegen den Mitgliedstaat führen kann , dessen Gericht den Verstoß zu verantworten hat. Das Vertragsverletzungsverfahren kann jedoch nicht von einem einzelnen Bürger betrieben werden . Nach deutschem Recht kommt die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde zum BVerfG in Betracht, da der EuGH "gesetzlicher Richter" i. S. d. Art. 10 I I 2 GG ist". Die Verletzung der Vorlagepflicht gern . Art . 267 AEUV verletzt den Einzelnen aber nur unter engen Voraussetzungen in seinem verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf den "gesetzlichen Richter". Denn das BVerfG verlangt für eine Verletzung des Art . 101 I 2 GG ein willkürliches Verhalten des Gerichts, also eine Rechtsanwendung, die bei verständiger Würdigung " nicht mehr verständJokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren , S. 171; Middeke , Europäischer Rechtsschutz, § 10 Rn. 5 f.; Roth, NVwZ 2009, 345 . Dannecker, Europäischer Rechtsschutz, § 38 Rn. 34 ; Esser, StV 2004, 221, 222 ; Jokisch , Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 171 f., 175 f.; Middeke , Europäischer Recht sschutz, § 10 Rn. 8. Middeke, Europäi scher Recht sschutz, § 10 Rn. 20. BVerfGE 73, 339 , 366 ; 82, 159, 195; NVwZ 2008 ,658,659; NJW 2010 , 1268.
A. Integration des Vora bentsc heidungsverfahrens in das Strafverfahren
211
lieh ersche int und offensichtlich unhaltbar ist'". Somit dürfte ein etwaiger Verstoß gegen Art. 267 UA 3 AEUV durch ein deutsches Geric ht nur in seltenen Fällen zu einer Verletzu ng des Art . 101 I 2 GG führen , z. B. bei grundsätzlicher Verken nung der Vorlageptlich t oder bei bewus stem Abweichen von der zutretfend erkannten Vorlagep tlich t mange ls Vorla gebere itschaft des zuständi gen Richters".
11. Vorlagebefugnis und Vorlagepflicht Bestehen im Rahmen e ines Straf- oder Bußgeldverfahrens Zwei fel an der Verein - 5 barkeit entsc he id u ngse r he b liche r inn erstaatlicher Vo rsc hr iften des materiel len Rechts bzw. des Verfahren srec hts mit Unionsrec ht oder an der Gü ltigkeit eines entsc he td u ngs rete va nten Se ku nd ärrechtsa ktes. so besteht nach Art. 267 VA 2 AEUV die Mög lichke it für das nationale Gericht , die entsprechende Frage dem EuGH zur Vorabe ntscheidung vorzulegen (fakultati ve Vora bentscheid ung) . Das BVerfG betont ein e Pflicht der Strafgerichte . in j ede m Stad iu m d es Verfah r ens mit besonderer Sorgfalt zu prüfen, ob eine Vor lage an den EuGH veranlass t ist6 . Will ein deutsches Gericht ei ne Vorabent sche idung herbe lführen. so setzt es das Strafverfahren durch Beschluss (analog § 262 11 StP0 9) aus, welcher nach h. M. unanfechtba r istt ''. Aussetz ung und Vorla ge ergehen in ei nem ei nheitlichen Beschluss, der - ähnlich wie e in Vorlagebeschlu ss nach Art . 100 GO - e iner Begründung bedarf. Insbesondere muss schlüssig dargelegt werden. weshalb d ie in Betracht gezogene Auslegung des Unionsrechts im konkre ten Fall entscheidungserheblich ist" . Art. 267 UA 3 AEUV sieht ein e Pflicht z ur Vorlage (obligato rische Vorabent- 6 sche id ung) vor, wenn die Entsche idungen des erkennenden Gerichts nicht mehr mit Rechtsmitteln angefoc hten werden könne n. Letzt instanzliches Stra fgerich t ist nicht etwa nur das formell an der Spitze der nation ale n Gerichtshierarchi e stehende Ge richt, sondern jedes Gericht, dessen Entscheidung im konkret en Fa ll nicht mehr mit Rechtsmitteln ange fochten werden kann". Verfassungsbeschwerd e und Wiederau fnahmeklage werd en nicht als Rechtsm ittel i. S. d. Art. 267 VA 3 AEUV angesehen. Folglich ist ein de utsches Amtsgericht, gegen dessen Entscheid ung in einer Bußgeldsach e z. B. wegen Unterschreitu ng der in § 79 I NT. I OWiG festgelegten Wertgre nze des angedro hten Bußgelds (weniger als € 250.-) kein e Rechtsbeschwerde eingelegt werden kann, nach Art. 267 UA 3 AEUV zur Vorla ge an
, n
"
BVcrfGE 29. 198.207; 3 1, 145. 169; 82.159. 192 rr. NVw Z 200 8, 658. 659; NJW 20 10. 1268. 1269; krit. hierzu Rolh. NVwZ 2009.345. 3.J.9 1T. sttddeke , Europäisch er Rechtsschutz. ~ 10 Rn. 67. BVcrlG NJ W 1989. 2464 . FO r d ie Annah me eines Aussetzu ngsgr undes ..sui gencris - plädiert Danne cker. Europäischer Rechtsschutz. § 38 Rn. 45 m. \\. N. Danne cker. Europäischer Rechtsschut z, § 38 Rn. 56; Jokisch. Gemeinschaftsrecht und Strafve rfahren. S. 197 lT. Jokisch; (j emein scha ft srecht und Strafverfahren. S. 181. Jokisch; Gemein scha ft srecht und Stra fverfahren, S. 173.
212
§ 6 Zusammen arbeit zwischen EuGH und nationaler Strafgerichtsbarkeit
den EuG H verpflichtet, wenn es für die zu treffende Sachentscheidung auf die Auslegung oder Gültigkeit von Unionsrecht ankommt. Eine Ausnahme von der Vorlageverpflichtung letztinstanzlicher Gerichte erkennt der EuG H an , wenn die Rechtsfrage bereits geklärt ist oder aber die richtige Antwort auf die Frage derart offenkundig ist, das s " keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel bleibt" (sog. .a cte-clair-Doktrin'') :". Es erscheint aber zweifelhaft, ob die erhöhten Anforderungen an die Rechtssicherheit im Strafrecht eine Berufung auf die se Doktrin zulassen!" . 7 Für nicht letztinstanzliehe Gerichte besteht grundsätzlich nur ein e Vorlagebefugnis, die sich j edoch nach der Rechtsprechung des EuG H zu einer Vorlagepflicht verdichtet, wenn diese Gerichte eine Sekundärrechtsnorm für ungültig halten und deshalb nicht anwenden wollen! ", Die Staatsanwaltschaften können nach der Judikatur des Gerichtshofs nicht den Gerichten gleich gestellt werden und sind daher generell nicht vorlageberechtigt" . Ebenfall s nicht vorlageberechtigt sind die für den Erlass von Bußgeldbescheiden zuständ igen Verwaltungsbeh örden! ".
111. Fallgruppen von Vorlagen im Strafprozess 8 Die wohl wichtigste Fallgruppe von Vorlagefragen im Strafprozess betrifft das materielle Strafrecht. Die vielfaltigen unmittelbaren und mittelbaren Einflüsse des Unionsrechts auf nationale Straf- und Bußgeldbestimmungen werfen nicht seiten Au slegungs- und Gültigkeitsfragen beim Strafrichter au f, die einer Klärung durch den EuG H bedürfen. So kann sich etwa bei der Verhandlung eines Anklagevorwurfes, der auf die Verletzung eines Blankettstrafgesetzes gestützt ist, weiches auf ein e EU-Verordnung verweist (§ 7 Rn. 78 , 83 ff.), die Frage nach deren Gültigkeit bzw . Auslegung stellen. Die Auslegung von Prim är- oder Sekundärrecht wird auch relevant, wenn zu beurteilen ist, ob ein deutsches Strafgesetz etwa aufgrund einer Kolli sion mit unmittelbar anwendbarem Unionsrecht unanwendbar bzw . unionsrechtskonform zu interpretieren ist". 9 Die zweite Gruppe von Vorlagen im Strafprozess, mit der nationale Gerichte eine für sie verbindliche Au slegung des Unionsrechts begehren, betrifft das nationale Strafprozessrecht'", Denkbar ist hier ein möglicher Konflikt inn erstaatli cher Verfahrensnormen mit den prim ärrechtlichen Grundfreiheiten, dem allgemeinen Diskriminierungsverbot (Art. 18 AEUV), aber auch mit (ausnahmsweise) unmittelbar anwe ndbarem Richtlinienrecht-" .
13 14 15
16 17 18
19
20
EuGHE 1982,3415,3430; 2005 , 8151, 8206 ; Roth, NVwZ 2009, 345, 346 f. Vgl. hierzu Satzger, Europäisierung, S. 663. EuGHE 1987,4199. EuGI-IE 1996,6609; Dannecker, Europäischer Rechtsschutz, § 38 Rn. 37 f., 48. König, in: Göhler, OWiG, § 3 Rn. 8a. Jokisch, Gemeinscha ftsrecht und Strafverfahren, S. 176 f.; Satzger, Europäisierung, S.662. Jokisc h, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 177. Vgl. hierzu EuGHE 2003, 3735 ; Esser, StV 2004, 221 ff.
A. Integration des Vorabentscheidungsverfahren s in das Strafverfahren
2 I3
Bei der Formulierung der Vorlagefrage(n) haben die nationalen Gerichte zu be- 10 achten, dass dem EuGH nicht die Kompetenz zusteht, über die Gültigkeit und Interpretation innerstaatlicher Rechtsnormen oder über deren Vereinbarkeit mit Unionsrecht zu entscheiden. Der EuGH befindet stets nur über die Gültigkeit und Auslegung von Unionsrecht" : Vorzulegen sind dem EuGH nur abstrakt gestellte Rechtsfragen . Diese können z. B. wie folgt lauten : (I) " Ist Art . 7 Absatz I der Richtlinie 89/397 /EWG des Rates v. 14. Juni 1989 11 über die amtliche Lebensmittelüberwachung dahingehend auszulegen, dass daraus für den Hersteller eines Erzeugnisses ein unmittelbar anwendbares Recht auf Einholung eines Gegengutachtens folgt , wenn staatliche Behörden von dem Erzeugnis des Herstellers im Einzelhandel eine Probe zu Analysezwecken entnehmen und diese Probe unter lebensmittelrechtlichen Aspekten beanstandet wird?"22 (2) "Stellt die grenzüberschreitende Versendung von Werbematerial für eine Lotterie, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig veranstaltet wird , eine Dienstleistung i. S. d. Art . 49 EGV dar? "23 (3) "Stellt es eine Beschränkung der in den Artikeln 43 und 47 des Vertrags von Rom verankerten Niederlassungsfreiheit dar, wenn von einer Person, die das Recht zur Ausübung des Tierarztberufs in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft durch die Verleihung der in Artikel 3 der Richtlinie 78/1 026 /EWG genannten Diplome erlangt und später die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates erworben hat, verlangt wird , dass sie entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats einer nationalen berufsständischen Kammer beitritt, um ihren Beruf ausüben zu können, obwohl die Frist von zwei Jahren für den Erlass der zur Durchführung der Richtlinien 78/1 026 /EWG und 78/1 027 /EWG erforderlichen Maßnahmen abgelaufen ist?"24 (4) "Gilt das Verbot des Art . 54 SDÜ , einen durch eine Vertragspartei rechtskräftig Abgeurteilten durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat zu verfolgen, auch dann , wenn die gegen ihn verh ängte Strafe nach dem Recht des Urteil sstaats nie vollstreckt werden konnte?" 25 Möglicher Gegenstand der Vorlage ist somit allein die im Ersuchen des Ge- 12 richt s abstrakt zu formulierende Frage nach der Gültigkeit oder Auslegung von Unionsrecht" . In der Praxis verfahrt der EuGH jedoch recht großzügig und formuliert ggf. unzulässige Fragestellungen um.
21 22
23 24 25
26
EuGH NJW 2003 , 3185 ; 2006, 2465 , 2466 ; EuZW 2008 , 177, 178; 2009, 83, 84. Vorlag ebeschlu ss des AG Schleswig in EuGHE 2003, 3735 . Vorlag ebeschlu ss des High Court of Justice in EuGHE 1994, 1039. Vorlag ebeschlu ss der Cour d 'appel Colmar in EuGHE 1983, 2727 . Vorlagebe schlu ss des LG Regensburg in EuGH NJW 2009 , 3149 = JuS 20 I0, 176 (Hecker) . Middeke, Europäischer Recht sschutz, § 10 Rn. 38.
214
§ 6 Zusammen arbeit zwischen EuGH und nationaler Strafgerichtsbarkeit
13 Muster für eine Vorlage zur Vorabentscheidung'" anhand eines Falles zum .F ührerscheintourismus'<" unter der Geltung der früheren 2. FührerscheinRL: Per Einschreiben an die Kanzlei des Ger ichtshofes der Europäischen Union L-2925 Luxemburg Vorabentsche idungsersuchen des OLG Stuttgart in der Strafsache gegen A (Akte nze ichen) (Gegen stand des Ersuche ns) Dieses Ersuche n ergeht im Rahmen eine s Strafv erfahrens gegen Herrn A, dem zur Last gelegt wird, am 2.10 .2005 und am 9.12.2005 ein fahrerl aubni sptl ichtig es Kra ftfahrzeug auf öffentli chen Straßen im deutschen Hohe itsgebiet ge führt zu haben, ohne im Besitz der dafür erforderlichen Fahrerlaubnis zu sein. § 21 Absatz 1 des Straßenverkehrsgesetzes - StVG - neugefasst durch Bekanntmachung vom 5.3.2003 (BGBI. I S. 310 ,919) bestimmt: " Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer ein Kraftfah rzeug fü hrt, obwohl er die dazu erforderliche Fahrerlaubnis nicht hat. " Das Vorabent sche idung sersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 91 /439/EWG des Rates vom 29.7.1991 über den Führersche in (ABl EG Nr. L 237 , S. I) in der durch die Vero rdnun g (EG) Nr. 1882/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 9. 2003 (ABl EG Nr. L 284, S. I) geänderte n Fassung. (Sachverh alt des Ausgangsverfahren s/Prozessgeschichte) A, der wegen fahrl ässiger Trunkenh eit im Verkehr (§ 316 11 StGB) zweimal bestraft und mit der Entziehung seiner deutschen Fahrerlaubnis sowie einer Sperrfrist belegt worden ist (§§ 69 I, 11 Nr. 2, 69 a I StG B), wurde am 5.8.2004 durch das AG Stuttgart wegen vorsätzlichen Fahrens ohn e Fahrerlaubnis zu Freihe itsstrafe mit Strafaus setzung zur Bewährung verurtei lt. Die Sperrfrist für die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis wurd e bis zum 4.8 .2005 bemessen. Seith er hat A, der deutsch er Staatsangehöriger mit festem Wohnsitz im Inland ist, keine neue deut sche Fahrerlaubni s erworben oder einen Antrag hierauf gestellt. Am 20.7.2005 - zwei Wochen vor Ablauf der Sperrfrist - ließ sich A in der Tschech ischen Republik eine EU-Fahrerlaubnis der Klasse B erteilen. Nach Ablauf der zuletzt bestimmten Sperrfrist führte er am 2.10 .2005 und am 9.12.2005 ein fahrerl aubni sptl ichtige s Kraftfahrzeug auf öffentlichen Stra ßen. Dabei war er nur im Besitz der in Tschechien ausgestellten EU-Fahrerlaubnis. Durch Urteil des AG Stuttgart vom 27.4 .2006 wurde A wege n zweie r Vergehen des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamt freiheits strafe von 6 Monat en verurteilt. Das LG Stuttgart sprach A auf seine Beru fung hin am 2.6.2006 aus rechtl ichen Gründ en frei. Hiergege n richtet sich die Revision der StA, die eine Verurteilung des A gern. § 21 I Nr. 1 StVG erstrebt. (Rechtlicher Rahmen des Ausgangsverfahren s) Die Anerkennung von Fahrerlaubni ssen aus Mitgliedstaaten der EU ist in § 28 Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) vom 18.8.1998 (BGBI. 27 28
Vgl. hierzu die praktischen Hinwe ise des EuGH in ABlEG 2005 Nr. C 143, S. I. Im Originalfall hat OLG Stuttgart NStZ-RR 2007, 271 kein Vorab ent scheidun gsersuchen gestellt, sondern eine eigene Auslegung der 2. FührerscheinRL entwicke lt. Ebenso sind OLG Nürnberg NStZ-RR 2007 , 269 und OLG Mün chen NJW 2007 , 1152 verfahren, die zu einer von OLG Stuttga rt abweichenden Auslegung der 2. FührerscheinRL gelangten. Einzig das AG Landau/l sar DAR 200 7, 409 legte die Frage in einer vergle ichbaren Fallkonstellation dem EuGH (NJW 2009 , 207) vor.
A. Integration des Vorabentscheidungsverfahren s in das Strafverfahren
2 I5
I S. 2214) geregelt. Nach § 28 I FeV dürfen Inhaber einer gültigen EU- oder EWRFahrerlaubnis, die ihren ordentlichen Wohn sitz im Sinne des § 7 Abs. I oder 2 in der Bundesrepublik Deutschland haben - vorbehaltlich der Einschränkungen nach den Absätzen 2 bis 4 - im Umfang ihrer Berechtigung Kraftfahrzeuge im Inland führen . Nach § 28 IV Nr . 3 FeV gilt die Berechtigung nach Absatz 1 gilt nicht für Inhaber einer EU- oder EWRFahrerlaubnis, denen die Fahrerl aubnis im Inland recht skräftig von einem Gericht entzogen worden ist. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts hängt die Strafbarke it von A gern. § 21 I Nr. I StVG von der Anwendbarkeit des § 28 IV Nr. 3 FeV ab. Da diese Bestimmung im Lichte der Richtlin ie 91/439 /EWG (im Folgenden RL) auszulegen ist, stellt sich für das vorlegende Gericht die Frage, ob die Art. I 11, 8 11 und 8 IV RL dah in auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht verwehren, die Anerkennung eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein s zu verwe igern , wenn sein Inhaber zum Zeitpunkt dieser Ausstellung im ersten Mitgliedstaat einer Sperrfrist für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis unterlag . Nach Art . I 11 RL werden die von den Mitglied staaten ausgestellten Führerscheine gegen seitig anerkannt. Art. 8 11 RL bestimmt, dass vorbehaltlich der Einhaltung des straf- und polizei rechtlichen Territorialitätsprinzips der Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes auf den Inhaber eine s von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein s seine innerstaatlieben Vorsch riften über Einschränkun g, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis anwenden und zu diesem Zweck den betreffenden Führerschein erforderlichenfalls umtauschen kann. Nach Art. 8 IV RL kann es ein Mitgliedstaat ablehnen, die Gültigkeit eines Führerscheins anzuerkennen, der von einem anderen Mitgliedstaat einer Person ausgestellt wurde, auf die in seinem Hoheitsgebiet eine der in Absatz 2 genannten Maßnahmen angewendet wurde. Dem Wortlaut des Art. 8 IV RL ist nicht eindeutig zu entnehmen, ob die Möglichkeit eines Mitgliedstaates, einer in einem anderen Mitglied staat erworbenen Fahrerlaubn is die Anerkennung zu versagen, auch dann besteht, wenn diese ausländische Fahrerl aubnis zwar während einer im Wohn sitzstaat des Fahrerlaubni sinhabers laufenden Sperrfrist erteilt wurde , dieser jedoch erst nach Ablauf die ser Sperrfrist im Wohn sitzstaat von ihr Gebrauch macht. Vor die sem Hintergrund stellt sich für das vorlegende Gericht die Frage, ob es für die Anerkennung einer ausländi schen EUFahrerlaubnis in der BRD auf den Zeitpunkt des Gebrauchmachens oder der Ausstellung der in einem anderen Mitgliedstaat erlangten Fahrerlaubnis ankommt. Wenn letzteres zutrifft, kann sich A nicht darau f berufen, dass er zum Tatzeitpunkt im Besitz einer gültigen ausländi schen EU-Fahrerlaubnis gewesen sei, die ihn im Inland zum Führen von Kraftfahrzeugen berechtigt habe. Dem Gerichtshof wird somit folgende Frage vorgelegt: (Vorlagefrage) "Sind die Art. I 11, 8 11 und 8 IV der Richtlinie 91/439 /EWG dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgl iedsta at nicht verwehren, die Anerkennung der Gült igkeit eines von einem anderen Mitgliedstaat ausge stellten Führe rsche ins zu verweigern, wenn sein Inhaber zum Zeitpunkt dieser Ausstellung im ersten Mitgliedstaat einer Sperrfrist für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis unterl ag?" Stuttgart, den ... VRiOLG Dr. P. Müller, RiOLG A. Mayer, Ri'inOLG G. Hämmerle
216
§ 6 Zusammen arbeit zwischen EuGH und nationaler Strafgerichtsbarkeit
14 Der EuGH29 entschied über die in einem einschlägigen Verfahren gestellte Vorlagefrage wie folgt (Leitsatz): " Die Art. I 11,811 und IV der Richtlinie 9 1/439/EWG des Rates vom 29 .7 .1991 über den Führerschein in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1882 /2003 des Europäischen Parlaments und des Rat es vom 29 . 9 . 2003 ge änderten Fassung sind dahin au szulegen, da ss sie es einem Mitgliedstaat nicht verwehren, es ab zul ehnen, die Gültigkeit eines von einem anderen Mitgliedstaat ausge stellten Führerscheins anzuerkennen, wenn sein Inhaber im ersten Mitgliedstaat zum Zeitpunkt die ser Ausstellung einer Sperrfrist für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis unterlag. Der Umstand, dass sich die Frage der Gültigkeit erst nach dem Ablauf dieser Sp errfrist stellt, hat hierauf ke inen Einfluss." 15 Nach Eingang der Vorabentscheidung best immt die Strafkammer Termin zur Hauptverhandlung, wobei sie zweckmäßigerweise den Verfahrensbeteiligten zugleich eine Ablichtung der Vorabentscheidung z ur Kenntnisnahme z uleitet. Die zur Entsc heid ung berufenen Richter wenden nunmehr das entscheidungsrelevante nationale Gesetz in einer der Richtlinienauslegung de s EuGH entsprechenden Weise an . Die s bedeutet im konkreten Fall, dass § 28 IV Nr. 3 FeV uneingeschränkt zur Anwendung gelangt mit der Folge, dass A den objektiven Tatbestand des § 21 I Nr . I StVG erfüllt hat. Hinweis: Die a m 19. Januar 2009 in Kraft getretene 3. FührerscheinRL 2006/126 (EG) des EP und des Rates v, 20. Januar 2006 30 bestimmt nunmehr in Art. II Nr . 4 S. 2, dass ein Mitgliedstaat die Anerkennung der Gültigkeit eines Führerscheins ablehnt, der von einem anderen Mitgliedstaat einer Person au sgestellt wurde, deren Führerschein im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats eingeschränkt, au sgesetzt oder entzogen worden ist" .
IV. Wirkungen der Vorabentscheidung 16 Die Wirkungen der Vorabentscheidung s ind im A EUV nicht geregelt. Sinn und
Zweck die ses Verfahrens, die Einheit lichkeit in der Au slegung und Anwendung des Unionsrechts z u sichern, erfordern aber z um indest die Bindung des vorlegenden nationalen Gerichts und aller mit der Sache befassten Instanzgerichte des Ausgangsverfahrens an die Entscheidung des EuG H32. Darüber hinaus entfaltet das Urteil eine fakt isch e Präjudizwirkung, indem jedes mit der gle ich en Frage befasste Gericht eines Mitgliedstaates der Vorabentscheidung Folge leist en oder - falls es hiervon abwe ichen will - erneut vorlegen muss. Hat der EuG H ein en Sekundärrechtsakt für ungültig erkl ärt , so stellt dies für jedes mitgliedstaatliche Gericht einen au sreichenden Grund dar, die sen ebenfalls als ungültig an zu seh en (faktische erga-omn es-Wirkung)". Eine entsprechende Vorabentscheidung kommt daher in ihrer Wirkung einer Nichtigerklärung nach Art. 264 A EUV nah e. 29 30 31
32 33
EuGI-I NJW 2009 , 207 (au f Vorlage des AG Landau/lsar, DAR 2007 ,409). ABIEU 2006 Nr. L 403, S. 18. Vgl. hierzu Jank er, DAR 2009 , 181; Mosbacher/Gräf e, NJW 2009, 801. Middeke, Europäischer Rechtsschutz, § 10 Rn. 87; Jokisc h, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 175; Middeke, Europäischer Rechtsschutz , § 10 Rn. 89; Satzger, Europäisierung, S. 664 .
B. Vorabentscheidungsverfahren und strafprozessuale Maximen
217
B. Vorabentscheidungsverfahren und strafprozessuale Maximen Wenn die Voraussetzungen zur Einholung einer fakultativen oder obligatorischen 17 Vorabentscheidung vorliegen, spielt das Verfahrensstadium, in dem sich das innerstaatliche Strafverfahren befindet, keine Rolle. Vorabentscheidungsverfahren kommen daher im Ermittlungs-, Zwischen- und Hauptverfahren in Betracht>'. Die primärrechtlich gebotene Integration des Vorabentscheidungsverfahrens in das Strafverfahren kann jedoch in allen Verfahrensstadien in ein lösungsbedürftiges Spannungsverhältnis zu strafprozessualen Maximen geraten.
I. Vorabentscheidung im Haupt- und Zwischenverfahren 1. Zulässigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens Im strafprozessualen Hauptverfahren (§§ 213-295 StPO) und insbesondere im 18 Rahmen seines Kernstücks - der Hauptverhandlung - ist die Einholung einer Vorabentscheidung durch das erkennende Gericht jederzeit möglich , da das Hauptverfahren keine prozessualen Besonderheiten gegenüber anderen nationalen Prozessarten aufweist. Dass eine Vorlage auch im Zwischenverfahren (§§ 199-21 I StPO) möglich sein muss, wird durch eine Entscheidung des BVerfG bestätigt, wonach die Strafgerichte in jedem Stadium des Strafverfahrens mit besonderer Sorgfalt zu prüfen haben, ob bei der Auslegung einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts Zweifel bestehen und die Vorlage an den EuGH erforderlich ist 35 . Da dem EuGH nur abstrakt formulierte Rechtsfragen über die Gültigkeit oder Auslegung von Unionsrecht vorgelegt werden dürfen , ist es nicht erforderlich, dass der zum Gegenstand einer Anklage gemachte Sachverhalt bereits abschließend geklärt ist36 • Aus Gründen der Prozessökonomie erscheint es freilich sachgerecht, das nationale Verfahren zunächst so weit zu fördern , dass eine hinreichend konkretisierte Vorlagetrage formuliert und deren Entscheidungsrelevanz aufgezeigt werden kann . Rein innerstaatliche Rechtsfragen sollten vor Stellung eines Vorabentscheidungsersuchens geklärt werden-" .
2. Vorlageermessen und Ermittlungsgrundsatz Das den nicht letztinstanzliehen Gerichten von Art. 267 UA 2 AEUV eingeräumte 19 freie Vorlageermessen kann in Konflikt mit dem strafprozessualen Ermittlungsgrundsatz geraten , der in den §§ 155 11, 160 11, 244 11 StPO seinen gesetzlichen Niederschlag findet. Danach haben die Strafverfolgungsorgane den Sachver34
35 36 37
EuGI-1E 1991, 3277 ; Dannecker , Europäischer Rechtsschutz, § 38 Rn. 42, 48 ; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 178, 184 ff: BVerfG NJW 1989, 2464 . EuGHE 1981, 735; Jokisch , Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren , S. 178. EuGHE 1992, 4871 , 4933 f.; Middeke , Europäi scher Rechtsschutz, § 10 Rn. 75.
218
§ 6 Zu sammenarbe it zw ischen EuGH und natio na ler Strafgerichts barkeit
halt von Amts wegen vollständig zu erforschen und aufzukl ären. Das hierau s abzuleitende Aufklärungsgebot der Strafgerichte erstreckt sich auch auf die Frage, ob das Verhalten des Angeklagten überhaupt mit Strafe bedroht ist, was zweifelhaft sein kann, wenn seine Strafbarkeit im konkreten Fall von der Gültigk eit oder einer bestimmten Auslegung des Unionsrechts abhängt. Aber auch die Art und Höhe einer im konkreten Fall in Betracht kommenden strafrechtlichen Sanktion kann vom Unionsrecht beeinflu sst sein, so dass sich in dieser Hinsicht ebenfalls ein gerichtlicher Aufklärungsbedarf ergibt. Das Spannungsverhältnis zwischen der innerstaatli chen Prozessm axim e und dem unionsrechtlich en Vorlageermessen lässt sich wegen des Vorranges des Unionsrechts nicht einfach dadurch lösen, dass man von einer Überlagerung des Vorlageermess ens durch den Aufklärungsgrundsatz ausgeht mit der Folge, dass die in Art. 267 UA 2 AEUV eingeräumte Vorlagebefugn is in eine Vorlagepfl icht umgedeutet wird'". Nationales Recht kann Unionsrecht nicht verdrängen" . Daher kann nur an die Gerichte appelliert werden, sich bei der Ausübung des ihnen einger äumten Vorlage ermessens von dem Ermittlungsgrund satz leiten zu lassen. Die Klärung entscheidungsrelevanter Rechtsfragen, die sich aus dem Unionsre chtsbezug des Verfahr engegenstandes ergeb en, sollte schon aus prozessökonom ischen Gründ en (Beschleunigungsgebot) möglichst frühzeitig erfolg en und nicht erst dem gern. Art. 267 UA 3 AEUV zur Vorlage verpflichteten letztinstan zliehen Gericht überlassen werden.
11. Vorabentscheidung im Ermittlungsverfahren
1. Zulässigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens 20 Das Ermittlungsverfahren (§§ 160-170 StPO) wird von der Staatsanwalt schaft geleit etet, die als weisungsgebundene Behörde kein Gericht i.S.d. Art. 267 AEUV und daher nicht zur Einholung einer Vorabents cheidung berechtigt ist (Rn. 7). Die Möglichkeit der Vorlage besteht jedoch für Gerichte, die im Ermittlungsverfahren Entscheidungen zu treffen und dabei unionsrechtliche Vorgaben zu beachten haben. Es handelt sich bei diesen Entscheidungen - z. 8. betreffend Durchsuchung (§§ 102 ff. StPO) , Beschlagnahme (§§ 94 ff. StPO) , Fernmeldeüberwachung (§ 100 aStPO) und Untersuchungshaft (§§ 112 ff. StPO) - stets nur um die Genehmigung oder Verlängerung von Grundrechtseingriffen, die nach deutschem Recht dem Richtervorbehalt unterliegen . Dass diese richterli chen Beschlüsse nicht in einem kontrad iktorischen Verfahren ergeh en, steht der Einholung einer Vorabent scheidung nicht entgegen, da nach der Judikatur des EuGH jedes Gericht unabhängig von der Verfahrensart zur Vorlage berechtigt isr' ". 38
39
40
Jokisc h, Gem einschaftsrecht und Strafverfahren, S. 183. Eine Begrenzun g des Vorlageermesse ns wird indes angeno mmen von Dannec ker, Europäischer Rech tsschutz, § 38 Rn. 43. EuG HE 1972 , 119, 136; 1986, 795, 806 ; 1995, 391 ; 1996, 6609; NJW 2005 , 2839, 2840; Dannecker, Euro pä ischer Rechtsschutz, § 38 Rn. 39, 48 ; Jokisch, Gemeinschaftsrec ht und Stra fverfahren, S. 184.
B. Vorabentsche idung sverfahren und strafprozess uale Maximen
219
2. Konflikt zwischen Vorlage und Funktion des Ermittlungsverfahrens Das Spannungsverhältnis zwischen Vorlageverfahren und innerstaatlichen 21 Prozessmaximen tritt im Ermittlungsverfahren noch deutlicher zutage als in den anderen Verfahrensabschnitten. Aufgrund der besonderen Eilbedürftigkeit ermittlungsrichterlicher Entsch eidungen gerät die unionsrechtliche Vorlagebefugnis bzw. Vorlagepflicht zwangsläufig mit dem aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Beschleunigungsgebot in Konflikt. Ermittlungsrichterlich anzuordnende Maßnahmen dulden in der Regel keinen Aufschub. Man denke nur an Hausdurchsuchung, Beschlagnahme wichtigen Beweismaterials, Telefonüberwachung oder Inhaftierung eine s dringend Tatverdächtigen wegen Fluchtgefahr. Wenn diese Maßnahmen ihre spezifische Funktion erfüllen sollen , können sie nicht einfach solange aufgeschoben werden, bis der EuGH über die ihm vorgelegte(n) Rechtsfrage(n) entschieden hat. Die Problemlage ist unter dem Gesichtpunkt der Eilbedürftigkeit vergleichbar mit der Situation anderer innerstaatlicher Verfahrensarten im Bereich des vorläufigen Rechtsschutzes, zumal auch das BVerfG die Einschaltung des Richters im Ermittlungsverfahren, konkret bei einer Durchsuchungsanordnung , als " summarisches und eilbedürftiges, dem Hauptverfahren vorgeschaltetes Eilverfahren?" einge stuft hat. Teilweise wird der Standpunkt vertreten, die Aussetzung von Eilverfahren sei 22 aufgrund ihrer Wesensart schlechthin unzul ässig'< Inzwischen hat sich jedoch nicht zuletzt unter dem Eindruck der Rechtsprechung des EuGH43 - die Auffassung durchgesetzt, dass weder die Dringlichkeit noch der vorl äufige Charakter eines Verfahrens die Befugni s der nationalen Gerichte zur Anrufung des EuGH in Frage stellen könne , wenn die Gültigkeit oder Auslegung des Unionsrechts entscheidungserheblich sei?", Diesem Grundsatz ist auch für das strafprozessuale Ermittlungsverfahren beizupflichten. Eine generelle Ablehnung der ermittlungsrichterlichen Vorlagebefugnis hätte zur Folge, dass zentrale Rechtsbereiche, die - wie z. B. das Haftrecht - im Hauptverfahren keine Rolle mehr spielen, vollständig aus dem Vorabentscheidungsverfahren ausgegliedert würden und damit nie auf ihre Vereinbarkeit mit Unionsrecht überprüft werden könnten. Eine derartig weitreichende Beschränkung der Vorlagebefugnis stünde nicht in Eink lang mit den Zielen des Vorabentscheidungsverfahrens, dessen Integration in das nationale Strafverfahren primärrechtlich geboten ist. Nur diese Beurteilung steht in Einklang mit Art. 267 UA 4 AEUV, der bestimmt: " Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren, das eine inhaftierte Person betrifft , bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, so entscheidet der Gerichtshof innerhalb kürzester Zeit. "
41
42
43 44
Vgl. hierzu BVerfG Beschl. v. 14. September 1992 - 2 BvR 1214/92 - (un veröffentlicht); Jokisch, Gemein schaftsrecht und Strafverfahren, S. 186 (Fn. 175). Redekerlvon Oertzen, VwGO, 14. Aufl. , 2004 , § 123 Rn. 18; OLG Frankfurt NJW 1985,2901 ,2903. EuGHE 1977,957,972; 1982,3723 ,3734. Dannecker, Europ äische r Recht sschutz, § 38 Rn. 50 ; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 186.
220
§ 6 Zusammenarbeit zwischen EuGH und nationaler Strafgerichtsbarkeit
23 Da nun einerseits die richterliche Vorlagebefugnis im Ermittlungsverfahren nicht ausgeschlossen werden darf und andererseits ein Abwarten der Entscheidung des EuGH aufgrund der besonderen Eilbedürftigkeit der in diesem Verfahrensstadium zu treffenden Maßnahmen regelmäßig nicht möglich ist, muss ein Kompromiss gefunden werden, der sowohl den Erfordernissen des Unionsrechts als auch den Verfahrenszielen des Ermittlungsverfahrens Rechnung trägt. Zustimmung verdient in diesem Zusammenhang der in jeder Hinsicht sachgerechte Lösungsvorschlag, wonach das nationale Gericht bei der Entscheidungsfindung zunächst seiner eigenen Auslegung des Unionsrechts folgen und ggf. die beantragte Zwangsmaßnahme anordnen bzw. bestätigen darf, ohne die Beantwortung der Vorlagefrage durch den EuGH abzuwarten". Falls eine nachträgliche Berücksichtigung der Entscheidung des EuGH im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht mehr möglich ist, muss das nachfolgende Hauptverfahren solange ausgesetzt werden, bis der EuGH über die Vorlagefrage(n) entschieden hat. Sollte sich aus der abzuwartenden Entscheidung des Gerichtshofs ergeben, dass die ermittlungsrichterliche Maßnahme gegen Unionsrecht verstößt, muss das für die Durchführung der Hauptverhandlung zuständige Gericht prüfen , welche Konsequenzen hieraus zu ziehen sind . Zu denken ist insbesondere an die Annahme eines Beweisverwertungsverbotes, wenn das Verfahren zur Erlangung des Beweisstücks nicht unionsrechtskonform erfolgte": Kann eine im Ermittlungsverfahren getroffene Zwangsmaßnahme, die sich im Nachhinein wegen Verstoßes gegen Unionsrecht als unzulässig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden , kommt immerhin die Gewährung einer finanziellen Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen nach §§ 2, 4 StrEG47 oder nach den Regeln der Staatshaftung in Betracht. Auch kann der Betroffene sein Rehabilitationsinteresse durchsetzen, indem er gern. § 304 StPO nachträglich die Rechtswidrigkeit des abgeschlossenen Grundrechtseingriffs - auch wenn dieser richterlich angeordnet wurde - gerichtlich feststellen lässt bzw. in analoger Anwendung des § 98 11 2 StPO die Art und Weise der DurchfLihrung rügr". Das dafür erforderliche besondere Rechtsschutzinteresse folgt in diesen Fällen unmittelbar aus dem Unionsrecht.
4S
46
47 48
Jokisch , Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 188 ff.; zust. Dannecker, Europäischer Recht sschutz, § 38 Rn. 50 ff. Vgl. hierzu EuGHE 2003 , 3735 mit ausführlicher Besprechung von Esser, StV 2004 , 221; vgl. auch die grundsätzlichen Ausführungen von Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 247 r Geset z über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen v. 8. März 1971 (BGBI. I, 157). BVerfGE 96, 27, 41; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 326 ff.; Jokisch , Gemein schaftsrecht und Strafverfahren, S. 189.
D. Recht sprechungshinweise
221
111. Auswirkung vorlagebedingter Verfahrensverzögerungen
Die durchschnittliche Dauer eines Vorabentscheidungsverfahrens betrug im Jahre 24 2007 noch 19,3 Monate". Ein Konflikt mit der im Strafprozessrecht bedeutsamen Beschleunigungsmaxime ist damit vorprogrammiert, wenngleich das im Jahre 2008 eingeführte Eilverfahren'? im Rahmen von Vorabentscheidungsersuchen zu einer gewissen Entspannung beigetragen hat'" . Gleichwohl darf wegen des Vorrangs des Unionsrechts die Vorlagebefugnis bzw. -pflicht der Gerichte nicht durch innerstaatliches Verfahrensrecht ausgeschlossen werden'< . Da das Vorabentscheidungsv erfahren als Inzidentverfahren Teil des national en Strafverfahrens ist, muss das nationale Gericht aus einer etwaigen Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes - also in Fällen überlanger Verfahrensdauer - die hieraus folgenden Konsequenzen ziehen . Dies umso mehr, als der Beschuldigte Verfahrensverzögerungen, die sich aus der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens ergeben, nicht zu vertreten hat 53 . Auf die menschenrechtliche Dimension der überlangen Verfahrensdauer wurde bereits an anderer Stelle hingewiesen (§ 3 Rn. 61 ff.).
C. Literaturhinweise Dann ecker, in: Rengelin g/M iddeke/Gellermann (Hrsg.), Handbuch des Recht sschutzes in der Europä ischen Union, 2. Aufl., 2003 , § 38 Rn. 34-81 Jok isch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, 2000 , S. 171-208 Kühn, Grund züge des neuen Eilverfahrens vor dem Ger ichtsho f der Europäischen Gemeinschaften im Rahm en von Vorab ents cheidungsersuch en, EuZ W 2008, 263 Middeke, in: Rengelin g/M iddeke/Gellermann (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschut zes in der Europäischen Union, 2. Aufl ., 2003 , § 10 Roth, Verfassung sgerichtliche Kontrolle der Vorl ageptl icht an den EuGH, NVwZ 2009, 345 Skouris, Stellung und Bede utung des Vorab ent scheidungsverfahrens im europäischen Recht sschutzsyst em, EuGRZ 2008, 343
D. Rechtsprechungshinweise EuGI-IE EuGHE EuGHE EuGHE 49 50 51
52 53
1982, 3415 ("acte-clair-Doktrin") 1987, 4199 (Vorl agepflicht nicht letztin stanzlicher Ger ichte) 1991,3277 (Zu lässigkeit einer Vorl age in allen Verfahren sstad ien) 1996, 6609 (Ke ine Vorl ageberechtigung der Staatsanwaltschaft)
Skouris, EuGRZ 2008 , 343 . Kühn, EuZW 2008 , 263. Skouris, EuGRZ 2008 , 343 ff Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Stra fverfahren, S. 196. BGH wistra 1998, 344 .
222
§ 6 Zusammenarbeit zwischen EuGH und nationaler Strafgerichtsbarkeit
BVerfG NJW 1989,2464 (Vorlage von Fragen an den EuGH im Strafverfahren) BVerfGE 82, 159 (EuGH als "gesetzlicher Richter" i. S. d. Art. 101 12 GG) BVerfG NVwZ 2008 , 658 (Verfa ssungsgerichtliche Kontrolle der Vorlagepflicht) BVerfG NJW 2010 , 1268 (Verlet zung des Art. 101 12 GG durch ein Bundesgericht wegen unionsrechtswidriger Nichtanrufung des EuGH) BGI-I wistra 1998,344 (Strafmilderung vorlagebedingter Verfahrensverzögerungen)
E. Zusammenfassung von § 6 25 Gegenstand dieses Kapitels ist die im Vorabentscheidungsverfahren nach Art . 267 AEUV angelegte Kooperation zwischen den justiziellen Akteuren des Europäischen Strafrechts, dem EuGH und den mitgliedstaatliehen Strafgerichten. Das Vorabentscheidungsverfahren stellt das prozessuale Bindeglied zwischen der supranationalen und nationalen Gerichtsbarkeit dar und sichert das Monopol des EuGH, über die Auslegung und Gültigkeit von Unionsrecht letztverbindlich zu entscheiden. Daneben ist auch die Individualschutzfunktion des Vorabentscheidungsverfahrens von Bedeutung, wenn es um die Durchsetzung von aus dem Unionsrecht abgeleiteten subjektiv-öffentlichen Rechten geht. Der Einzelne kann jedoch ein Vorlageverfahren immer nur anregen oder beantragen, niemals aber erzwingen. Über die vorläufige Aussetzung des nationalen Verfahrens zum Zwecke der Einholung einer Vorabentscheidung durch den EuGH entscheidet allein und von Amts wegen das nationale Gericht. 26 Die Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH ist in jedem Stadium des Strafverfahrens möglich . Letztinstanzliehe Gerichte sind nach Art. 267 UA 3 AEUV zur Vorlage verpflichtet. Möglicher Gegenstand der Vorlage ist allein die im Ersuchen des Gerichts abstrakt zu formulierende Frage nach der Gültigkeit oder Auslegung von Unionsrecht. Es ist Sache der mitgliedstaatliehen Gerichte, aus der nach einer Vorlage ergangenen Entscheidung die Konsequenzen für die Interpretation und Anwendung des nationalen Rechts zu ziehen. Aus der Funktion des Vorlageverfahrens, die Einheitlichkeit in der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts zu sichern, folgt die Bindung des vorlegenden nationalen Gerichts und aller mit der Sache befassten Instanzgerichte des Ausgangsverfahrens an die Entscheidung des EuGH . Darüber hinaus entfaltet die Vorabentscheidung eine faktische Präjudizwirkung, indem jedes mit der gleichen Frage befasste Gericht eines Mitgliedstaates der Vorabentscheidung Folge leisten oder - falls es hiervon abweichen will - erneut vorlegen muss. 27 Die primärrechtlich gebotene Integration des Vorabentscheidungsverfahrens in das nationale Strafverfahren kann in allen Verfahrensstadien - besonders im Ermittlungsverfahren im Hinblick auf die besondere Eilbedürftigkeit strafprozessualer Zwangsmaßnahmen - in Konflikt mit strafprozessualen Maximen und Verfahrenszielen geraten. Da ein vollständiger Ausschluss der richterlichen Vorlagebefugnis im Ermittlungsverfahren nicht zulässig ist, muss das Zusammenwirken zwischen nationalem Gericht und EuGH in einer Weise gestaltet werden, die sowohl den Erfordernissen des Unionsrechts als auch den Verfahrenszielen des Er-
E. Zusammenfassung von § 6
223
mittlungsverfahrens Rechnung trägt. Als sachgerechte Kompromisslösung bietet es sich an, dem nationalen Ermittlungsrichter zuzugestehen, dass er trotz Einholung einer Vorabentscheidung zunächst seiner eigenen Auslegung des Unionsrechts folgen und ggf. die beantragte Zwangsmaßnahme anordnen bzw. bestätigen darf, ohne die Beantwortung der Vorlagefrage durch den EuGH abzuwarten . Im nachfolgenden Hauptverfahren muss dann aber das Verfahren ausgesetzt und die Antwort des EuGH abgewartet werden . Falls im Lichte der Vorabentscheidung festgestellt wird, dass eine im Ermittlungsverfahren angeordnete Maßnahme gegen Unionsrecht verstößt, muss das für die Durchführung der Hauptverhandlung zuständige Gericht prüfen, welche Konsequenzen hieraus zu ziehen sind . In Betracht kommen die Annahme eines Beweisverwertungsverbots, die Gewährung einer Entschädigung oder die Feststellung der Rechtswidrigkeit des ermittlungsrichterlichen Handeins . Verfahrensverzögerungen, die sich aus der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens ergeben, hat der Beschuldigte nicht zu vertreten.
Teil 11I Die strafrechtsrelevanten Europäisierungsfaktoren
B. Hecker, Europäisches Strafrecht, DOI 10.1007/978-3-642-13127-1_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
228
§ 7 Assimilierungsprinzip
3 Eine spezielle Ausprägung des Loyalitätsgebots ist in Art. 325 11 AEUV (ex-Art. 280 11 EGV) normiert, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind , zur Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziell en Interessen der Union richten , bestimmte Maßnahmen zu ergreifen (Rn . 30). 4 Zu einer "automatischen" Anwendbarkeit nationaler Strafbestimmungen auf unionsrechtswidriges Verhalten fuhrt das Loyalitätsgebot freilich nicht , da dies gegen den auch im Union srecht geltenden Grundsatz .rrulla poena sine lege" verstoßen würd e. Es bleibt vielmehr Aufgabe und Pflicht der Mitgliedstaaten - sei es durch Legislativakte oder durch union srechtskonforme Auslegung - ihrer Schut zverpflichtung in gehöriger Weise nachzukommen. Notfalls können sie hierzu durch ein von der Kommission anzustrengendes Vertragsverletzungsverfahren gezwungen werden. S Ungeachtet der fehlenden Strafrechtssetzungskompetenz der Union existieren einige wenige union srechtliche Spezialregelungen, die den Schutzbereich der nationalen Strafrechtsordnungen unmittelbar ausdehnen . Diese Verweisungsnormen zielen darauf ab, bestimmte supranationale Recht sgüter mit entsprechenden nationalen Schutzgütern gleichzustellen und ihnen auf diesem Weg einen vergleichbaren strafrechtlichen Schutz angede ihen zu lassen ("Assimilierungsprinzip")3.
B. Assimilierung durch supranationale Verweisungen 6 Durch supranationale Assimilierungsbestimmungen entstehen neue , abgeleitete Strafrechtsnormen, die nach h. M. genuines Unionsstrafrecht (supranationales Kriminalstrafrecht) konstituieren" und insoweit eine Ausnahme von dem Grundsatz der fehlenden Strafrechtssetzungsgewalt der Union darstellen . Denn die in allen Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbaren Verweisungsnormen bilden zusammen mit dem nationalen Tatbestand, auf den sie verweisen, einen supranationalen Gesamttatbestand.
I. Primärrechtliche Verweisung auf nationale Straftatbestände 7 Die besteh end en primärrechtlichen Verweisungen auf nationales Stra frecht betreffen zum einen den Bereich der europäischen Rechtspflege, zum anderen die Wahrung von Geheimhaltungspflichten durch Bedienstete der EAG:
Ambos, IntStR , § 11 Rn. 16 ff.; Böse, Strafen und Sa nktionen, S. 107 ff.; Dannecker, JURA 1998, 79, 80; Satzger, IntStR, § 8 Rn. 11 ff. Böse, Strafen und Sanktionen, S. 107 ff.; Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 103; ders., BGH-Festgabe, S. 339, 349 ff. ; ders., JURA 200 6, 95, 99; Deutscher, Komp etenzen, S. 384 ff.; Johannes, EuR 1968, 69, 81; Jokisch, Gemeinscha ftsrecht und Strafve rfah ren, S. 87; Tiedemann, NJW 1993, 23, 25; a. A. MüKoStGßIAmbos, Vor §§ 3-7 Rn. 11; Rosenau, Z IS 2008 , 9; Satzger. Europäisierung, S. 196 ff.
B. Assimilierung durch supra nationa le Verweisungen
229
1. Aussagedelikte Fall I : Der vom EuGH nach Luxemburg gel adene Zeuge Z, ein Staatsbü rger der USA mit 8 ständigem Wohn sitz in Deutschl and , sagt in einer Verh andlung vor dem EuG H vor sätzlich falsch aus und bekräft igt nach ordnungsgem äße r Belehrung seine Falschaussage du rch Ableistung eine s Eide s. Kann Z in Deutschl and wege n Me ine ids (§ 154 StGB) stra frechtlich verfolgt und von einem deut schen Gericht abg eurt eilt we rde n?
Wenngleich die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen vor dem EuGH 9 in der Praxis keine große Rolle spielt, besteht auch für die supranationale Gerichtsbarkeit ein Bedürfnis, Falschaussagen durch die präventive Wirkung einer Strafandrohung zu verhindern und auf diese Weise die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege auf Unionsebene sicherzustellen. Das Unionsrecht trägt diesem Schutzbedürfnis - jedenfalls soweit es um die Strafandrohung für Meineide geht durch die auf primärrechtlicher Ebene angesiedelte Assimilierungsbestimmung des Art. 30 EuGH-Satzung Rechnung, welche bestimmt: "Jede r Mitgli edstaat behandelt die Eidesve rletzung e ines Zeuge n oder Sach verst ändigen wie eine vor seinen eigenen in Zivi lsachen zuständ igen Gerichten begangene Straftat. Auf An zeige des Ger ichtshofs verfolgt er den Tät er vor seinen zuständige n Gerichten."
Lösungshinweise zu Fall 1: Grundsätzlich schützen die §§ 153 ff. StGB nur die 10 innerstaatliche Rechtspflege". Der deutsche Gesetzgeber hat jedoch im Jahre 2008 den Schutzbereich der Aussagedelikte (§§ 153-161 StGB) durch den neuen § 162 I StGB ausdrücklich auf falsche Angaben in einem Verfahren vor einem internationalen Gericht, das durch einen für die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen Rechtsakt errichtet worden ist, ausgedehnt. Damit ist nunmehr klargestellt, dass auch die supranationale europäische Rechtspflege durch die Aussagedelikte geschützt wird". Dass der EuGH ein "Gericht" i. S. d. § 154 StGB ist, ließ sich bisher nur im Wege einer unionsrechtskonformen Auslegung des § 154 StGB begründen, die der Überlagerung des deutschen Straf- und Strafanwendungsrecht durch Art . 30 EuGH-Satzung Rechnung trägt? Die von § 162 I StG Bangeordnete Schutzbereichserweiterung vermag aber 11 noch nicht ohne weiteres die Anwendbarkeit deut schen Strafrechts auf im Ausland spie lende Sachverhalte herzustellen. Bejaht man mit der h. M. die unmittelbare Anwendbarkeit der nationalen Strafrechtsnorm auf den von der europäischen Verw eisungsnorm angeordneten Fall (Rn . 6), so kommt es auf die Aussagen des internationalen Strafrechts (§ 2) nicht mehr an - ein Effekt des "self-executing" des Unionsrechts. Allein das Primärr echt bestimmt demnach, unter welchen Voraussetzungen der unionsstrafrechtliche Gesamttatbestand zur Anwendung gelangt. Die aus der unionsrechtlichen Überlagerung resultierende Unanwendbarkeit des nationalen Strafanwendungsrechts hat zur Folge , dass Z - ein US-Amerikaner, der Fischer, StGß, Vor § 153 Rn. 2 m. w. N. Sinn , NJW 2008 , 3526 , 3527. M üKo-StGI3 /Ambos, Vor §§ 3-7 Rn. 16; ders ., IntStR, § 11 Rn. 16 ff.; Satzge r. Europäisierung, S. 387 ff..
230
§ 7 Assimilierungsprinzip
vor dem EuGH unter Eid falsch ausgesagt hat - kraft der Bestimmung des Art . 30 EuGH-Satzung in jedem EU-Mitgliedstaat nach den dort bestehenden Vorschriften strafrechtlich verfolgt werden kann, ohne dass weitere Voraussetzungen - wie etwa die der § 5 Nr. 10 StGB, § 6 Nr. 9 StGB oder § 7 11 Nr . 2 StGB - erfüllt sein müssen", Z kann daher von einem deutschen Gericht wegen Meineides abgeurteilt werden . 12 Weitere Hinweise: Art. 30 EuGH-Satzung überlässt es den mitgliedstaatliehen Gesetzgebern, die Reichweite des strafrechtlichen Schutzes der europäischen Rechtspflege gegen Eidesverletzungen festzulegen . So ist - anders als in Deutschland (§ 161 I StGB) - der fahrlässig begangene Meineid nicht in allen Mitgliedstaaten mit Strafe bedroht. Da die Verweisung des Art. 30 EuGH-Satzung auf die nationalen Strafbestimmungen über Eidesverletzungen beschränkt ist, ließ sich die Strafbarkeit einer vor dem EuGH begangenen uneidlichen Falschaussage vor Inkrafttreten des neuen § 162 I StGB nur im Wege einer unionsrechtskonformen Auslegung des § 153 StGB begründen".
2. Verletzung von Geheimhaltungspflichten 13 Der zweite Anwendungsfall der Assimilierung mittels primärrechtlicher Verweisungsnorm ist im Bereich der EAG (§ I Rn . 3) angesiedelt". Für das Funktionieren der EAG ist es unerlässlich, dass deren Bedienstete und Mitglieder zur Geheimhaltung ihres Wissens über interne Vorgänge sowie aller Informationen, Kenntnisse, Unterlagen oder sonstiger Gegenstände, die im Zusammenhang mit der Tätigkeit der EAG stehen, verpflichtet sind. Entsprechende Geheimhaltungspflichten sind in Art. 194 I I EAGV normiert und werden in dem nachfolgend zitierten Art. 194 I VA 2 EAGV11 auch strafrechtlich abgesichert: "Jeder Mitgliedstaat behandelt eine Verletzung dieser Verpflichtung als einen Verstoß gegen seine Geheimhaltungsvorschriften; er wendet dabei hinsichtlich des sachlichen Rechts und der Zuständigkeit seine Rechtsvorschriften über die Verletzung der Staatssicherheit oder die Preisgabe von Berufsgeheimnissen an. Er verfolgt jeden seiner Gerichtsbarkeit unterstehenden Urheber einer derartigen Verletzung auf Antrag eines beteiligten Mitgliedstaates oder der Kommission."
10
11
Vgl. hierzu Ambos, IntStR, § 11 Rn. 18; Satzger, Europäisierung, S. 195 ff.; ders., IntStR, § 8 Rn. 13 rr, der sich aber gegen eine unmittelbare Anwendbarkeit der Verweisungsnormen ausspricht. Satzger stützt die Ausdehnung der deutschen Strafgewalt auf im Ausland zu Lasten der supranationalen Gerichtsbarkeit begangene Meineide auf § 6 Nr. 9 StGB. Vgl. hierzu Satzger, IntStR, § 8 Rn. 15; Sinn, NJW 2008 , 3526, 3529 . Vgl. hierzu Ambos , IntStR, § 11 Rn. 21 ; Satzger , IntStR, § 8 Rn. 16. Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft v. 25. März 1957, zuletzt geändert durch Protokoll Nr. 2 zur Änderung des EAGV v. 13. Dezember 2007 (ABlEU 2007 Nr. C 306 , S. 197; ber. ABIEU 2009 Nr. L 290 , S. 1).
C. Assimilierung als Ausprägung der Schutzverptlichtung aus Art. 4 III EUV
23 1
Durch Art . 194 I UA 2 EAGV wird der strafrechtliche Schutz von Staats- und Be- 14 rufsgeheimnissen (vgl. §§ 93 ff., 203 , 353 b StGB) unter Erweiterung des Täterkreises (Bedienstete der europäischen Atomüberwachungsbehörde ) auf Geheimnisse der EAG erstreckt'<.
11. Sekundärrechtliche Verweisung auf nationale Straftatbestände Eine Assimi lierung nationaler Strafrechtsnormen zum Schutze von EU-Interessen 15 kann sich prinzipie ll auch aus Verordnungen ergeben": Aufgrund der von den Mitgliedstaaten erhobenen Bedenken, im Wege sekundärrechtlicher Assimi lierungsbestimmungen unmittelbar ge ltende Straftatbestände zu schaffen, hat bereits die frühere EG in den letzten Jahren vom Erlass solcher Verordnungen abgesehen . Die wenigen noch bestehenden Assimilierungsverordnungen sind im Lichte der bestehenden Kompetenzverteilung dahingehend auszulegen, dass sie lediglich eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten begründen, den Unionsinteressen den gleichen strafrechtlich Schutz angedeihen zu lassen wie den entsprechenden nationalen Interessen .
c. Assimilierung als Ausprägung der Schutzverpflichtung aus Art. 4 111 EUV I.
Befugnis der Mitgliedstaaten zur Sanktionierung von Verstößen gegen Unionsrech t
Auf das Dilemma der Union , mangels eigener Strafrechtssetzungskompetenz nicht 16 selbst für den kriminalstrafrechtlichen Schutz ihrer Interessen sorgen zu können , wurde bereits hingewiesen (Rn. I). Die EU ist auf die Bereitschaft der Mitgliedstaat en angewiesen, ihr nationales Strafrecht zum Schutze unionsrechtlicher Interessen zu funktionalisieren . Dass die Mitgliedstaaten jedenfalls berechtigt sind , ihr nationales Kriminalstrafrecht in den Dienst der Union zu stellen , um unionsrechtliche Ver- und Gebote strafrechtlich zu bewehren, steht nach heute herrschender und zutreffender Auffassung außer Frage!", Dem insoweit richtungswei senden Urteil des EuGH im Fall " Amsterdam Bulb 'ö> lag folgender Sachverhalt zugrunde:
12
13
14
15
BGHSt 17, 121; Dannecker, BGH-FG, S. 339, 350; Johannes, EuR 1968,69 ff., 81; Tiedemann, ZStW 116 (2004), S. 945, 950. Ambos, IntStR, § 11 Rn. 23; Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 105; ders., JURA 2006, 95, 100; GräblinghojJ, Verpfl ichtung des Strafgesetzgebers, S. 57 f.; Satzger, Europäisierung, S. 206 ff.; Tiedemann, NJW 1993, 23, 25. EuGI-IE 1977, 137 ff.; 1977, 1495; 1994,2479; 1996,4345 ; GräblinghojJ, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 9 ff.; Satzger, Europäisierung, S. 210 ff., 331 Ir EuGHE 1977, 137.
232
§ 7 Assimilierungsprinzip
17 Fall 2: Die Niederlande haben eine nationale Ausführungsverordnung erlassen, in welche r Übertretungen gegen die in versch iedene n EG-Vero rdnungen normierten Bestimmungen über die geme insame Marktorgani sation für lebende Pflanzen und Waren des Blumenhandels mit Strafe bedroht werden. Im Vorabentsche idungsverfahren vor dem EuGH stellte sich die zentr ale Frage, ob die Mitglied staaten auch ohne besonde re Ermächtigung durch eine EG-Verordnung berecht igt sind, Stra fnormen zu erlassen, um die Anwendun g von Gemein schafts- bzw. national em AusfLihrungsrccht zu sichern. Die Kläger in des Ausgangsverfahrens, die Fa. Amsterdam Bulb , bestritt dies. Sie stellte sich au f den Standpunkt, mit der Stratbewehrung würde der Regelungsgehalt der EG-Verordnung in unzulässiger Weise erwe itert und - entgegen dem Harmoni sieru ngsziel der Verordnu ng - eine Ung leichheit der Recht sanwendung in den Mitglied staaten gefördert.
18 Lösungshinweise zu Fall 2: Generalanwalt Capotorti führte demgegenüber aus, dass die nationale Strafandrohung die Tragweite einer EG-Verordnung nicht ändere" . Etwas anderes könne nur gelten , wenn der materiellrechtliche Inhalt der Verordnung durch nationales Recht abge ändert und damit verfälscht würde . Die Gefahr, dass Gemein schaftsregelungen in den Mitgliedstaaten unterschiedlich streng angewandt würden , weil einige Mitgliedstaaten Strafnormen einführten, andere nicht, sei hinzunehmen, da Art. 5 EGV (Vorl äuferbestimmung von ex-Art . 10 EGV; aktuell : Art. 4 11I EUV) es den Mitgliedstaaten überlasse , diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, die sie für sinnvoll erachteten, um die Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen. Der EuGH schloss sich dieser Argumentation an : " Art. 5 EGV, der den Mitgliedstaaten aufg ibt, alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen zu treff en, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben, überlässt dem einzelnen Staat auch die Wahl der sachgerechten Maßnahmen einschließ lich der Wahl der - auch strafrec htlichen - Sanktionen. Dem vorlegenden Gericht ist daher zu antworten, dass die Mitgliedstaaten dann, wenn die Gemeinschaft sregelung keine Vorschrift enthält, die für den Fall ihrer Verletzung durch den einzelnen bestimmte Sanktionen vorsieht, befugt sind, die Sanktionen zu wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen. " 17 19 Der Leitgedanke dieser auch heute noch maßgeblichen Rechtsprechung lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass die Befugni s der Mitgliedstaaten zur Strafbewehrung unionsrechtlicher Ver- und Gebote nur dann begrenzt ist, wenn die unionsrechtliche Regelung abschließenden Charakter hat". Ob dies der Fall ist, muss j eweils durch Auslegung des einschlägigen Unionsrechtsaktes ermittelt werden. Regelmäßig wird - im Lichte des Prinzips der Unionstreue (Art . 4 11I UA 2, 3 EUV) - davon auszugehen sein, dass den Mitgliedstaaten die Befugn is zum Erlass von Stratbestimmungen selbst dann zusteht, wenn bereits der Unionsrechtsakt punitiv e Sanktionen (§ 4 Rn. 61) vorsieht. So steht bspw . eine EU-Verordnung, die das Erschleichen von Subventionen mit einer Subventionssperre sanktioni ert, dem 16
17 18
Generalanwalt Capotorti, EuGI-I E 1977, 137, 152, 155. EuGI-IE 1977, 137, 150. Vgl. hierzu EuGHE 1999, 4883 ff.; Groblinghof]; Verpfl ichtun g des Stra fgesetzgebers. S. 21; Satzger, Europ äisierun g, S. 212.
C. Assimilierung als Ausprägung der Schutzverptlichtung aus Art . 4 III EUV
233
Erlass und der Anwendung nationaler Sanktionsnormen nicht entgegen, die dieses Verhalten mit Kriminalstrafe bedrohen. Die Befugnis der Mitgliedstaaten zur Sanktionierung von Verstößen gegen Unionsrecht besteht im Übrigen auch insoweit , als es um die Strafbewehrung von Ver- und Geboten geht , die aus Richtlinien abzuleiten sind! ",
11. Pflicht der Mitgliedstaaten zur Sanktionierung von Verstößen gegen Unionsrecht 1. Mindestanforderungen an Sanktionsnormen im Dienste des Unionsrechts Während in der Rechtssache "Amsterdam Bulb " noch die mitgliedstaatliche Be- 20 fugnis zur Sanktionierung von Verstößen gegen Gemeinschaftsrecht (Unionsrecht) im Vordergrund stand und die Wahlfreiheit der Mitgliedstaaten in Bezug auf Erlass und Ausgestaltung nationaler Sanktionsbestimmungen betont wurde , kam es in der Folgezeit zu einer bedeutsamen Relativierung dieser Rechtsprechung. Der EuGH stellte klar, dass die Mitgliedstaaten nicht nur befugt sind, supranationale Intere ssen strafrechtlich abzusichern . Sie sind hierzu auch verpflichtet und müssen dabei bestimmte gemeinschaftsrechtliche (unionsrechtliche) Mindestanforderungen einhalten . Am Ausgangspunkt dieser Judikatur steht das Urteil des EuGH in der Rechtssache " von Colson und Kamann "?", in dem es allerding s nur um Sanktionen zivilrechtlicher Natur ging : Fall 3: Im Rahm en eines Vorab entsch eidungsverfahrens stellt e sich die Frage , ob das deut- 21 sehe Recht mit den Vorgab en der Richtlini e 76/207/EWG zur Verw irkli chung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männ ern und Frauen hins ichtlich des Z ugangs zur Besch äftigung zur Beru fsbildung und zum beruflichen Au fstieg sowie in Bezug auf Arb eitsbed ingungen/" in Einklang stand. Die Kläge rinnen des Ausgangsv erfahrens waren wegen ihres Geschlechts bei der Besetzung von SozialarbeitersteIlen von einem öffe ntlichen Arbeitgeber richtlinienwid rig nicht berück sichti gt worden . Sie klagten deshalb vor dem zuständigen Arbeitsgericht auf Einstellung, hilfswei se Schade nsersatz . Nach der damaligen Fassung des § 611 a 11 BGB konnte im Fall von Diskrimin ierung bei der Einstellung nur der Vertrau ensschad en, also nur die Fahrt- und Bewerbun gskost en der Kläger innen, ersetzt werden.
Lösungshinweise zu Fall 3: Dem Vorbringen der Bundesregierung, dass die Be- 22 stimmung und Ausge staltung von Sanktionen im freien Ermessen der Mitgliedstaaten stehe, vermochte sich der EuGH nicht uneingeschränkt anzu schließen. Wie im Fall "Amsterdam Bulb " bestätigte der EuGH zwar im Grund satz ein legislatives Wahl- und Ausge staltungsermessen der Mitgliedstaaten, wenn es um den Erlass von Sanktionsnormen im Dienste des Gem einschaftsrechts (Unionsrechts) 19 20
EuGI-IE 1977, 1495; Satzger, Europäisierung, S. 332. EuGI-IE 1984, 1891; bestätigt durch EuGI-IE 1984, 1921 ; 1990, 3941; 1993, 4367;
1997,2195.
21
ABl EG 1976 Nr. L 39, S. 40.
234
§ 7 Assimilierungsprinzip
geht. Jedoch stellte er - freilich recht weite - Kriterien auf, denen diese Sanktionsnormen genügen müss en. Zwar überlasse es die hier in Rede stehende Richtlinie den Mitgliedstaaten, unter den gegebenen Möglichkeiten die Sanktion für einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot auszuwählen, die zur Verwirklichung der Ziele der Richtlin ie geeignet sind. Entscheide sich ein Mitgliedstaat jedoch dafür , als Sanktion für einen Verstoß gegen diese s Verbot eine Entschädigung zu gew ähren , so müsse diese jedenfalls, damit ihre Wirksamkeit und ihre abschreckende Wirkung gew ährleistet sind, in einem angemessenen Verhältnis stehen und somit über einen rein symboli schen Schadensersatz hinau sgehen . § 611 all BGB genüge diesen Mindestanforderungen nicht. 23 Die Judikatur des EuGH ist dahing ehend zu interpretieren, dass der Freiraum der Mitgliedstaaten bei der Wahl und Ausg estaltung der Sanktionsnormen zwar groß , aber keineswegs unbegrenzt ist. Zwar steht den Mitgliedstaaten ein breiter Beurteilungsspielraum zu, mit welchen rechtlichen Maßnahmen ein bestimmtes unionsrechtliches Interesse - wie der Schutz der Bewerber vor Diskriminierung durchzusetzen ist. Sanktionsnormen, welche die Einhaltung unionsrechtlicher Geund Verbot e sicherstellen sollen , müss en aber jedenfalls - unabhängig davon , ob sie zivil-, verwaltungs- oder strafrechtlicher Natur sind - eine hinreichende Abschreckungswirkung entfalten-".
2. Gleichstellungserfordernis und Mindesttrias a) Der Fall "Griechischer Mais" - ein .leadinq case " des Europäischen Strafrechts 24 In einer für die Entwicklung des Europäischen Strafrechts richtungsweisenden Entscheidung im Fall " Griechischer Mais "23 leitete der EuGH aus dem in Art. 4 111 UA 2,3 EUV (ex-Art. 10 EGV) verankerten Loyalitätsprinzip weitere wichtige und prägend e Grundsätze über die Verpflichtung der Mitgliedstaaten ab, ihr nationales Strafrecht in den Dienst der effektiven Durchs etzung gemeins chaftsrechtlicher (unionsrechtlicher) Interes sen zu stellen. Zum Sachverhalt: 25 Fall 4: Die Kommi ssion gelangte Ende 1986 zu der Überzeugung, dass zwei Schiffsladungen Mais, die im Mai 1986 durc h die Fa ITCO über die griechi schen Häfen Saloniki und Kevala nach Belgien ausgefüh rt und von den griechi schen Behörden offiziell als "g riechischer Mais" beze ichnet wurden, in Wirklic hke it aus dem Drittstaat Jugoslawien eingeführt worden waren. Aufgrund der offiziellen Angaben der griechischen Behö rden, welche die Echtheit und Richtigkeit der amtlich en Urkunden bestätigten, wurde n von den belg ischen Behörd en keine Agrarabsch öp fungen au f den "Nicht-EG-Mais" erhoben und der Mais in den freien Verkehr übe rführt. Nach Erkenntnisse n der Komm ission war diese Abgabenhinterziehung unter Mitwirkun g von griechischen Beamten begangen und später von mehreren hohen Beamte n durch falsche Urkunden und Erklärungen zu verschle iern versucht worden. Na ch Aufdeckung der Tatu mstände durc h die Komm ission ersuchte diese die griechi sche 22
23
Gräblinghoff, Verpfl ichtun g des Stra fgesetzgebers, S. 11; Satzger, Europäisie rung, S.334. EuGI-IE 1989, 2965 = EuZ W 1990, 99 mit Anm. v. Bleckmann, WuR 1991, 285 und Tiedemann, EuZW 1990, 100.
C. Assimilierung als Ausprägung der Schutzverptlichtung aus Art. 4 III EUV
235
Regierung ohne Erfolg, die Agrarabschöpfungen für die Einführung von jugoslawischem Mais mit Verzug szinsen zu zahlen, die unterschlagenen Summen bei den betreffenden Tätern einzuziehen sowie Straf- und Disziplinarve rfahren gegen alle Beteiligten einzuleiten. Die griechi sche Republik reichte in der ihr eingeräumten Frist keinen Schriftsatz ein. Daraufhin leitete die Kommission im Jahre 1987 ein Vertragsverletzung sverfahren ein.
Lösungshinweise zu Fall 4: Der EuGH stellte mit Urteil v. 21. September 1989 26 fest, dass die Griechische Republik gegen den in Art. 5 EGV (Vorläuferbestimmung von ex-Art . 10 EGV; aktuell : Art. 4 11I UA 2, 3 EUV) verankerten Grundsatz der Gemeinschaftstreue (Unionstreue) verstoßen hat, weil sie keine strafoder disziplinarrechtliehen Verfahren gegen die Personen eingeleitet hat, die an der Durchführung und Verschleierung der Abschöpfungshinterziehung beteiligt waren>'. Die Mitgliedstaaten haben nach Ansicht des EuGH Verstöß e gegen das Gemeinschaftsrecht (Unionsrecht) nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln zu verfolgen wie nach Art und Schwere vergleichbare Zuwid erhandlungen gegen nationales Recht (Gleichstellungserfordernis). Zwar verbleibe den Mitgliedstaaten die Wahl der Sanktionen . Die nationalen Stellen müssten aber bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht (Unionsrecht) mit derselben Sorgfalt vorgehen, die sie bei der Anwendung der entsprechenden nationalen Vorschriften walten ließen. Darüber hinaus müssten die angedrohten Sanktionen jedenfalls wirksam, verhältnismäßig und abschreckend ("Mindesttrias") sein. Diesen Anforderungen habe die Griechische Republik nicht Genüge getan, da die Verantwortlichen von den griechischen Behörden weder straf- noch disziplinarrechtlieh verfolgt worden seien. b) Bedeutung des "Mais-Urteils" Das " Mais-Urteil" stellt eine bedeutende Weiterentwicklung der EuGH-Recht- 27 sprechung zum strafrechtlichen Schutz der supranationalen Interessen der früheren EG (heute : EU) dar. In der Rechtssache " Amsterdam Bulb " (Rn. 17) hatte der Gerichtshof den Mitgliedstaaten noch ein uneingeschränktes Ermessen bei der Wahl der sachgerechten Maßnahmen zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts eingeräumt. Auch das in der Sache "von Colson und Kamann" (Rn. 21) aufgestellte Erfordernis der abschreckenden Wirkung von Sanktionsnormen im Dienste des Gemeinschaftsrechts überließ es dem freien Auswahlermessen der nationalen Gesetzgeber, ob sie sich hierbei zivil-, verwaltungs- oder strafrechtlicher Instrumente bedienen . Demgegenüber wandelt sich die in der vorangegangenen Rechtsprechung betonte Befugni s der Mitgliedstaaten, Sanktionen für Gemeinschaftsrechtsverletzungen vorzusehen, mit dem "Mais-Urteil" in eine Verpflichtung zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts (Unionsrechts) durch Ahndung von Verstößen hiergegen , wobei der verbleibende Ausgestaltungsspielraum für legislative Maßnahmen durch die aufgestellten Mindestanforderungen (justiziable Kriterien) deutlich eingegrenzt wird . Der EuGH leitet aus dem in Art. 4 11I UA 2, 3 EUV (ex-Art . 10 EGV) verankerten Prinzip der Gemeinschafstreue (Unionstreue) eine GarantensteIlung der Mitgliedstaaten ab, aus der sich die Pflicht ergibt , na24
EuGHE 1989,2965 ff. = EuZW 1990,99.
236
§ 7 Assimilierung sprinzip
tionales Strafrecht zum Schutze der Interessen und zur Durchsetzung der Ziele der EG (Union) zu funktionalisi eren . 28 Innovativ ist zum einen die Forderung, dass Verstöße gegen Unionsrecht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden müssen wie nach Art und Schw ere vergleichbare Verstöße gegen nationales Recht. Dieses Gleich stellungsgebot ist Ausdruck des Assimilierungsprinzips, denn es zielt darauf ab, den strafrechtlichen Schutz, den die mitgli edstaatliehen Rechtsordnungen für nationale Schutzgüter vorsehen, auf vergleichbare Schutzgüter der Union zu erstrecken> , Neu ist des Weiteren die Ausweitung der Erfordernisse Wirk samk eit, Verhältni smäßigk eit und abschreckenden Wirkung auf jede Sanktionsnorm, die Verstöße gegen Union srecht ahnden soll. Dies bedeutet zum einen , dass sich bestehende strafrechtliche Norm en an diesen Beurteilungskriterien messen lassen müss en. Zum anderen könn en sich die vom EuGH konkr etisierten Vorgaben im Einze lfall zu einer Pflicht zum Tätigw erden der national en Strafgesetzgeber, also zu einem Pönalisierungsgebot, verdichten" . Der Sache nach hand elt es sich bei dem Gleichstellungserfordernis und bei der Mind esttrias um besondere Ausprägungen des Diskriminierungsverbots bzw. des Effizienzgebots-". Die Einschätzungsfreiheit der Mitgliedstaaten, ob überhaupt eine strafrechtliche Regelung in den Dienst des Union srechts gestellt werden soll und wie die se ggf. inhaltlich auszugestalten ist, wird damit einge schränkt. 29 Das über das Gleichbehandlungserfordernis funktionalisierte Assimilierungsprinzip erm öglicht es den Mitgliedstaaten, neu zu scha ffende Tatbestände zum Schutze des Union srechts harmoni sch in die innerstaatliche Strafrecht sordnung einzufügen bzw. bestehende Tatbestände im Einklang mit der nationalen Dogmatik unionsrechtskonform zu interpretieren. Die Strafrechtssysteme werden auf diese Weise - ganz im Sinne des strafrechtsspezifischen Schonungsgebctes-" - vor Fremdkörpern bzw . System brüchen bewahrt. Freilich bewirkt das Assimilierungsprinzip noch keine wirkl iche Harmonisierung, sondern lediglich eine Europäisierung der mitgliedstaatliehen Strafrechtsordnungen. Denn die Assimilierung kann lediglich dazu beizutragen, das strafre chtliche Schutzgefälle zwischen nationalen und vergleichbaren unionsrechtlichen Interessen abzubauen, nicht aber einen unionsweit einh eitlichen Strafrechtsschutz hervorbringen . Immerhin entfaltet die das Gleich stellungsgebot ergän zende Forderung nach wirksamen , angemessenen und abschreckenden Sanktionen aber einen gewissen Druck auf die Mitgliedstaaten, einen bestimmten strafrechtl ichen Minde ststandard zum Schutze union srechtlicher Interessen zu etablieren. Eine weitergehende Harmonisierung des materiellen Strafrechts lässt sich nur auf der Grundlage der in Art . 83 I, " AEUV normierten Recht sangl eichungskompetenzen erzielen (§ 8; § I I). 25 26
27 28
Tiedemann , NJW 1993,23,25 ; ders., Roxin-FS, S. 1401, 1405. Bleckmann , WuR 1991, 285; GröblinghojJ, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 14; Satzger , Europäisierung, S. 336; Tiedemann, EuZW 1990, 100; Zuleeg, JZ 1992, 76 1, 767. Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 31; Satzger, Europäisierung, S. 342. Satzger, Europäisier ung, S. 166 Ir ; ders., IntStR, § 9 Rn. 9, 27. Das Schonungsgebot wird auch von BVerfG NJW 2009, 2267, 2274 aufgegriffen (Böse, ZIS 2010,76, 85).
C. Assimilierung als Ausprägung der Schutzverpflichtung aus Art. 4 III EUV
237
3. Gegenstand der strafrechtlichen Schutzverpflichtung Die Jud ikatur des EuGH im Fall "Griechischer Mais " (Rn. 24 ff.) spiegelt sich in 30 den durch den Vertrag von Maastricht (1992) eingeführten (deklaratorischen) Regelungen des Art . 209 a EGV (ex-Art. 280 EGV; aktuell : Art. 325 AEUV) über die Bekämpfung von Betrügereien und sonstigen gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft/Union gerichteten rechtswidrigen Handlungen wieder-". Das Effizienzgebot gelangt in Art . 325 I, 111, IV AEUV , das Gleichstellungsgebot in Art . 325 11 AEUV zum Ausdruck. Sämtliche Vorgaben der EuGH-Rechtsprechung zu ex-Art. 10 EGV lassen sich auf Art. 325 EGV übertragen, was namentlich bei der Frage einer aus Art. 325 IV AEUV (ex-Art. 280 IV S. I EGV) abzuleitenden strafrechtlichen Harmonisierungskompetenz der Union Bedeutung erlangt (§ 4 Rn. 81). Die "Mais-Judikatur" wirkte als Impuls für eine globale Betrugsbekämpfungsstrategie der Kommission, welche zu zahlreichen Gesetzgebungsinitiativen auf dem Gebiet des Straf- und Verwaltungsrechts führte . Die Bedeutung des Urteil s liegt nicht zuletzt in der darin zum Ausdruck gelan- 31 genden Anerkennung der strafrechtlichen Schutzbedürftigkeit und Schutzwürdigkeit unionsrechtlicher Interessen, dem die Mitgliedstaaten Rechnung tragen müssen . Nach zutreffender h. L. beschränkt sich die Aufgabe und Ptlicht der Mitglied staaten, ihr nationales Strafrecht in den Dienst der Union zu stellen, nicht auf den Schutz der El.I-Finanzinteressen' ". Die aus dem Grundsatz der Unionstreue abzuleitende Schutzverptlichtung der Mitgliedstaaten erstreckt sich vielmehr auf alle Rechtsgüter und rechtlich geschützten Interessen der Union, die für ihre Existenz und Funktionsfähigkeit sowie für die Durchsetzung ihrer Politiken von Bedeutung sind. Als Schutzgüter der Union kommen neben dem Finanzhaushalt vor allem die Unbestechlichkeit ihrer Beamten, Wahrung von Dienstgeheimnissen, europäische Rechtsptlege, Realisierung der Grundfreiheiten, aber auch die Durchsetzung der Unionspolitiken etwa auf den Gebieten Marktorganisation, Wettbewerb, Verbraucherschutz und Umweltschutz in Betracht. Man kann insoweit von supra nationa len europäischen Schutzgütern sprechen. In dem Fall " Französische Landwirte " 31 bestätigte der EuGH diese weit gezogene 32 strafrechtl iche Schutzverptlichtung der Mitgliedstaaten. Dem gegen die Französische Republik geführten Vertragsverletzungsverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde:
29
30
31
Fromm, Finanzinteressen der EG, S. 287 ff. ; Groblinghoff Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 151; Satzger , Europäisierung, S. 339 ; ders ., IntStR, § 9 Rn. 30. Amb os, IntStR, § 11 Rn. 34; Böse, Strafen und Sanktionen, S. 416 ; Dannecker, ZStW 117 (2005) , S. 697, 721 ff.; ders., JURA 2006, 95, 99 ff.; GröblinghofJ, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 38 ff.; Hugge r, Strafrechtl iche Anweisungen, S. 33; Satzger. Europäisierung, S. 347 ff.; Tiedemann, NJW 1993,23,27. EuGHE 1997,6959.
238
§ 7 Assimilierungsprinzip
33 Fall 5 : Seit dem Jahre 1985 kam es in Frankreich immer wieder zu gewalttätigen Protest-
aktionen franzö sischer Landwirte gegen die Einfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus anderen EG-Mitgliedstaaten . So wurden z. B. Lastwagenfahrer, die solche Güter tran sportierten, am Weiterfahren gehindert, bedroht oder sogar tätlich angegriffen. Teilweise wurde ihre Ladungen zerstört oder beschädigt. Auch wurden Drohungen ausgesprochen gegen französische Supermarktketten, die in ihrem Sortiment Obst und Gemüse aus anderen Mitgliedstaaten anboten. Wegen dieser Aktionen gingen zahlreiche Beschwerden bei der Kommission ein, mit denen die Untätigkeit der französischen Behörden bzw. deren unzulängliches Vorgehen gerügt wurden. Von Seiten der Kommission wurden die französischen Polizei- und Justizorgane mehrfach aufgefordert, die erforderl ichen prävent iven und repressiven Maßnahmen zu ergreifen, um gegen Gewaltakte und Vandalismus vorzugehen. Da diese Aktionen aber trotz entsprechender Zusagen der französischen Regierung, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen , fortdauerten , erhob die Kommis sion im Jahre 1995 Klage gegen die Franzö sische Republik . Die franzö sische Regierung machte geltend, dass alle polizeilichen und justi ziellen Möglichkeiten ausgeschöpft worden seien. Es sei nicht möglich, jegliches Risiko von Gewaltanwendungen auszuschließen. Es müsse den Polizeikräften im Einzelfall überlassen bleiben, darüber zu entscheiden, ob ein polizeiliches Eingreifen erforderlich sei oder nicht. Die französische Regierung wies ferner darauf hin, dass der Unmut der franzö sischen Bauern vor allem auf den Umstand zurückzuführen sei, dass verstärkt spanische Erzeugnisse zu Dumpingpreisen auf dem franzö sischem Markt angeboten würden .
34 Lösungshinweise zu Fall 5: Der EuGH stellte durch Urteil v. 9. Dezember 1997 fest, dass die Französische Republik gegen die ihr obliegenden gemeinschaftsrechtlichen Pflichten verstoßen habe . Es seien nicht alle erforderlichen und angemessenen Maßnahmen ergriffen worden, um sicherzustellen, dass der freie Warenverkehr nicht durch Handlungen Privater im Rahmen von Agrarblockaden behindert wird . In seiner Urteilsbegründung führte der EuGH aus, dass ex-Art. 28 EGV (aktuell : Art. 34 AEUV) den Mitgliedstaaten nicht nur die Vornahme eigener (hoheitlicher) Handlungen (etwa durch einen Akt der Gesetzgebung oder der Verwaltung) verbietet, die zu einem Handelshemmnis führen können , sondern sie in Verbindung mit ex-Art. 10 EGV (aktuell: Art . 4 III UA 2 EUV) auch dazu verpflichtet, alle erforderlichen und geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um auf ihrem Gebiet die Beachtung der Warenverkehrsfreiheit sicherzustellen. Zwar räumt der EuGH den Mitgliedstaaten ein weites Ermessen bei der Entscheidung darüber ein, welche Maßnahmen sie zu diesem Zweck zu ergreifen haben . Es sei jedoch Sache des Gerichthofes, unter Berücksichtigung dieses Ermessens zu prüfen, ob ein Mitgliedstaat die zur Sicherstellung des ungehinderten grenzüberschreitenden Warenverkehrs geeigneten und erforderlichen Maßnahmen ergriffen habe . Im Ausgangsfall gelangte der EuGH zu der Ansicht, dass die Maßnahmen der französischen Behörden angesichts der Häufigkeit und Schwere der von der Kommission aufgeführten Vorfälle offenkundig nicht ausreichten, um den freien innergemeinschaftlichen Handelsverkehr mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen in ihrem Gebiet dadurch zu gewährleisten, dass sie die Urheber der fraglichen Zuwiderhandlungen wirksam an deren Begehung und Wiederholung hinderten und sie davon abschreckten. Der Gerichtshof zog damit die Konsequenzen aus dem Befund, dass die von französischen Landwirten ausgehenden gewalttätigen Aktionen sich schon seit mehr als zehn Jahren fortsetzten und aus der Feststellung, dass die französi-
C. Assimilierung als Ausprägungder Schutzverptlichtung aus Art. 4 III EUV
239
sehe Polizei in einer Vielzahl von Fällen nicht zur Stelle war oder gegen gewaltsame Protestaktionen nicht eingeschritten ist. Obwohl einige Aktivisten den Justizbehörden namentlich bekannt waren , fand keine Strafverfolgung statt . In einer weiteren Entscheidung v. 12. Juni 2003 32, in der es um die Frage ging , ob 35 die Republik Österreich gegen die Grundfreiheit des freien Waren verkehrs verstoßen habe , weil sie eine 30-stündige Brennerblockade durch Umweltaktivisten nicht untersagt und damit Spediteure an der Überquerung der Alpen gehindert habe, bekräftigte der EuGH die aus ex-Art. 10 EGV (aktuell : Art . 4 111 UA 2 EUV) abzuleitende Pflicht der Mitgliedstaaten, alle erforderlichen und geeigneten Maßnahmen für die Durchsetzung der Grundfreiheiten zu ergreifen. Er führte aus, dass das Nichteinschreiten gegen Private eine staatliche Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Ein- und Ausfuhrbeschränkung (Art . 34 AEUV ; ex-Art. 28 EGV) darstellen kann. Im Ergebnis wurde jedoch eine Vertragsverletzung der Republik Österreich verneint, weil der Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses - hier : die von Österreich zu beachtenden Grundrechte der Demonstranten - gerechtfertigt war.
111. Unionsrechtlicher Rahmen für Strafgesetze im Dienste des Unionsrechts
1. Unionsrechtlich festgelegte Untergrenze Das zum Schutze von Unionsinteressen funktionalisierte Strafrecht der Mitglied- 36 staaten ist in einen unionsrechtlichen Rahmen eingebunden. Solange sich die mitgliedstaatliche Strafgesetzgebung und Judikatur innerhalb dieses Rahmens bewegt , ist sie hinsichtlich der Setzung, inhaltlichen Ausgestaltung und Anwendung strafrechtlicher Normen frei und nur den innerstaatlichen Vorgaben des Verfassungsrechts und der Strafrechtsdogmatik unterworfen . Die Untergrenze diese s Rahmensystems ergibt sich aus den in der "Mais-Rechtsprechung" (Rn . 24 ff.) entwickelten Mindestvorgaben (Gleichstellungserfordemis und Mindestrias), die für die mitgliedstaatliehen Strafgesetzgeber bei der EinfLihrung und Ausgestaltung von Sanktionsnormen im Dienste des Unionsrechts sowie für die nationalen Gerichte bei der Auslegung einschlägiger Tatbestände verbindlich sind und nicht unterschritten werden dürfen . Das Unterschreiten der Untergrenze stellt eine Vertragsverletzung in Form eines Verstoßes gegen das Handlungsgebot des Art . 4 111 UA 2 EUV dar.
32
EuGH NJW 2003, 3185 = EuZW 2003, 592.
240
§ 7 Assimilierungsprinzip
2. Präzisierung der Untergrenze der Sanktionierungspflicht 37 Zu einer weiteren Klärung der Reichweite der gesetzgeberischen Ermessensbin-
dung im Sinne einer unionsrechtlich vorgegebenen Untergrenze der Sanktionierungspflicht trägt das Urteil des EuGH in der Rechtssache "Strafverfahren gegen Paul Vandevenne u. a."33 bei, dem folgender Sachverhalt zugrunde liegt:
38 Fall 6: Der LKW-F ahrer Vandevenn e wurde überführt, die in einer EG-Verordnung vorgeschr iebenen Lenk- und Ruhezeiten nicht eingehalten zu hab en. Nach belgischem Recht konnt en nur der Fahrer und im Betrieb verantwortliche Person en strafrechtli ch haften, nicht j edo ch das Unternehmen, in dessen Auftra g der dort angestellte LKW-Fahrer fährt. Denn die belgisehe Rechtsordnung kennt (wie die deutsch e) keine strafrechtliche Verantwortlichkeit j uristischer Personen . In der ein schlägigen EG-Verordnung war bestimmt, dass "die Unternehmen" für die Einhaltung der vorgeschriebenen Lenk- und Ruheze iten zu sorgen haben . Das belgisehe Gericht legte dem EuGH die Frage vor, ob sich aus der betreffenden Vero rdnung eine Verpflichtung zur Einführung der Strafbarkeit juristischer Personen oder zu einer (verschuld ensunabh ängigen) obj ektiven strafrechtlichen Verant wortlichkeit ergebe.
39 Lösungshinweise zu Fall 6: Die Einhaltung der in einer Verordnung festgelegten
Lenk- und Ruhezeiten stellt ein unionsrechtliches Interesse dar, zu dessen Durchsetzung und Schut z die Mitgliedstaaten verpflichtet sind. Aus der Verordnung selbst (diese überlässt es den Mitglied staaten , die notwendigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zur Durchführung der Verordnung zu erlassen) und aus dem Loyalitätsgebot des Art. 4 111 UA 2, 3 EUV (ex-Art. 10 EGV) ergibt sich die grundsätzliche Verpfli chtung der Mitgliedstaaten, Zuwiderhandlungen gegen das sekund ärrechtlich begründete Gebot mit Sanktionsnormen zu begegnen , soweit dies zur effektiven Durchsetzung des Unionsrechts geboten ist. Der EuGH verweist in diesem Zusammenhang auf seine ständige Rechtsprechung , wonach den Mitgliedstaaten ein Ermessen hinsichtlich der Wahl der Sanktionen zusteht. Zugleich zitiert er sinngem äß die Passagen des " Mais-Urteils" zum Gleich stellungserfordernis und zur Minde sttrias, die dieses Ermessen einschränken . Eine Pflicht der Mitgliedstaaten, die Strafbarkeit juristischer Personen oder eine objektive strafrechtliche Verantwortlichkeit einzuführen, folge hieraus aber nicht. 40 Der EuGH präzisiert in der Entscheidung " Vandevenne " die Mindestanforderungen an mitglied staatliche Sanktionen zum Schutze unionsrechtlicher Interessen. Diesen werde ausreichend Rechnung getragen, wenn Zuwiderhandlungen gegen Unionsrecht durch die Anwendung von Bestimmungen des nationalen Rechts bestraft werden können , die mit den Grundprinzipien des nationalen Strafrechts in Einklang stehen, sofern die sich darau s ergebenden Sanktionen nur wirksam, verhältnism äßig und abschreckend sind. Damit stellt der EuGH - ganz im Sinne des strafrechtsspezifischen Schonungsgebotes (Rn . 29) - in begrüßenswerter Deutlichkeit klar, dass die Union Rücksicht zu nehmen hat auf die identitätspr ägenden Eigenheiten und Besonderheiten der nationalen Strafrechtsordnungen, wie sie in den gewachsenen Rechtsstrukturen zum Ausdruck gelangen.
33
EuGHE 1991 ,43 71.
C. Assimilierung als Ausprägung der Schutzverptlichtung aus Art . 4 III EUV
241
3. Unionsrechtlich festgelegte Obergrenze Die Obergrenze des unionsrechtlichen Rahmensystems wird durch die allgemei- 41 nen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts und die Grundfreiheiten abgesteckt". Nationales Strafrecht muss namentlich mit dem unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dem Gleichbehandlungsgebot (Diskriminierungsverbot) vereinbar sein und darf die Marktbürger nicht an der Inanspruchnahme einer primärrechtlichen Garantie hindern . Beispiele: (I) Im Fall "Casati"35 führte der EuGH aus, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz administrativen und strafrechtlichen Maßnahmen entgegenstehe, die über den Rahmen des unbedingt Erforderlichen hinausgehen. Insbesondere dürften an eine Verletzung des Gemeinschaftsrechts (Unionsrechts) keine Sanktionen geknüpft sein, die so außer Verhältnis zur Schwere der Tat stehen , dass sie sich als Behinderung einer Marktfreiheit erweisen. (2) In der Rechtssache .Drexl r'" hatte der EuGH über die Vereinbarkeit einer italienischen Sanktionsnorm mit dem Diskriminierungsverbot zu entscheiden. Die einschlägige Bestimmung sah für Verstöße gegen Vorschriften über die Mehrwertsteuer bei der Einfuhr von Waren erheblich empfindlichere Strafen vor als dies für vergleichbare Verstöße im Inlandsverkehr der Fall war. Der EuGH stufte diese Ungleichbehandlung vergleichbarer Verstöße als diskriminierende Maßnahme ein, die zu einer Beeinträchtigung des freien Warenverkehrs führe . (3) Um die Vereinbarkeit einer Vorschrift des französischen Strafverfahrensrechts mit dem Diskriminierungsverbot ging es in der Rechtssache " Cowan "37. Ein britischer Tourist war bei einem Aufenthalt in Paris tätlich angegriffen und schwer verletzt worden . Das franzö sische Strafverfahrensrecht gewährte für solche Fälle einen Entschädigungsanspruch des Opfers gegen den Staat, jedoch nur unter der Voraussetzung, dass das Opfer franzö sischer Staatsangehöriger, Inhaber einer Fremdenkarte oder Angehöriger eine s Staates ist, der mit Frankreich ein Gegen seitigkeitsabkommen geschlossen hat. Diese Vorau ssetzungen lagen im konkreten Fall nicht vor. Der EuGH erblickte in der französischen Regelung eine gemeinschaftsrechtswidrige Ungleichbehandlung: " Derartige Regelungen dürfen weder zu einer Diskriminierung von Personen führen, denen das Gemeinschaftsrecht einen Anspruch auf Gleichbehandlung verleiht, noch die vom Gemeinschafts recht garant ierten Grundfreiheiten beschränk en. "38 (4) Die strafbarkeitsbegrenzende Funktion des Unionsrechts wird auch in dem Fall " Skanavi "39 deutlich . In Deutschland wurde eine griechische Staatsbürgerin wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 I Nr. I StVG) strafrechtlich verfolgt, 34
3S
36
37 38
39
Gräblingho./J, Verpflichtung des St rafgesetzgebers. S. 16 1'.; Satzger, Europäisierung, S. 295 1'1'., 360 , 373 ; ders., IntStR, § 9 Rn. 11 1'1'. EuG HE 1981, 2595 1'1'. ; vg l. auch EuG HE 1976, 1921 ff. ("Don ckerwolcke") . EuG HE 1988, 12131'1'. EuGI-I E 1989, 195 ff EuGI-I E 1989, 195, 222 ; vgl. auch EuGHE 1999, 11,29; 1988, 1213, 1235; 1981, 2595 , 2618 ; Heise, Gem einschaftsrecht und Strafrecht , S. 19 Ir , 27 1'[ EuG HE 1996, 929 ff.; vgl. hierzu Satzger, Int StR, § 9 Rn. 11, 18 f.
42
43
44
45
242
§ 7 Assimilierungsprinzip
weil sie auf deutschen Straßen ein Fahrzeug geführt habe , ohne im Besitz eines deutschen Führerscheins zu sein . Die Angeklagte hatte es versäumt, ihren in Griechenland ausgestellten Führerschein in der vom innerstaatlichen Recht vorgesehenen Frist in einen deutschen umzutauscherr'". Der EuGH entschied, dass die Umtauschpflicht lediglich verwaltungstechnischen Erfordernissen entspreche und keine konstitutive Wirkung bezüglich der Berechtigung zum Führen eines Kraftfahrzeugs entfalte. Die gemeinschaftsweite Anerkennung der in einem Mitgliedstaat rechtmäßig erworbenen Fahrerlaubnis folge bereits aus den Vorschriften über die Freizügigkeit. Der Inhaber einer in Griechenland erteilten Fahrerlaubnis, der lediglich seiner Umtauschpflicht nicht nachgekommen und daher nicht im Besitz eines deutschen Führerscheins ist, dürfe mithin in Deutschland - im Lichte des Verhältnismäßigkeitsprinzips - nicht wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis strafrechtlich verfolgt werden . Die sanktionsrechtliche Gleichstellung der bloßen Verletzung der Führerscheinumtauschpflicht mit dem unberechtigten Führen eines Kfz stehe nicht in Einklang mit Gemeinschaftsrecht. Demgegenüber liegt nach Auffassung des EuGH kein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht vor, wenn infolge fehlenden Führerscheinumtausches die Strafverfolgung eines Drittstaatsangehörigen wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Rede steht. Da in einem solchen Fall der Anwendungsbereich der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten nicht eröffnet sei, entfalte die Ausstellung des nationalen Führerscheins konstitutive Wirkung" . 46 (5) Nationale Sanktionsnormen sind infolge des Anwendungsvorranges des Unionsrechts unanwendbar, wenn sie mit einer primärrechtlich gewährten Grundfreiheit kollidieren (§ 9 Rn. 9 ff.). Da der EuGH mittlerweile alle Grundfreiheiten nicht nur als Diskriminierungs-, sondern auch als Beschränkungsverbote auffasst , ist eine Behinderung der Marktfreiheiten durch mitgliedstaatliche Sanktionsregelungen nur noch in den vom Primärrecht gezogenen Grenzen zul ässig'< . Nationale Sanktionsregelungen, die die Ausübung einer Marktfreiheit behindern, sind nur dann europarechtskonform, wenn sie aus zwingenden Gründen des AIIgemeininteresses gerechtfertigt sind und das Diskriminierungsverbot sowie das Verhältnismäßigkeitsprinzip beachtet werderr". 47 Die unionsrechtliche Obergrenze bildet mithin eine Schranke, die von nationalen Strafnormen nicht überschritten werden darf. Jede unionsrechtswidrige Setzung , Aufrechterhaltung oder Anwendung nationalen Strafrechts stellt eine Vertragsverletzung in Form eines Verstoßes gegen das unionsrechtliche Loyalitätsgebot - in diesem Fall gegen das Unterlassungsgebot des Art . 4 111 UA 3 EUV - dar.
40
41 42
43
Seit dem I. Juli 1996 entfallt die Umtauschpflicht, da durch die I. FührerscheinRL 9 1/439/EG des Rates v. 29. Juli 1991 der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von in einem Mitgliedstaat rechtmäßig ausgestellten Füh rersche inen gilt. Dieser Grundsatz ist mittlerweile in der 3. FührerscheinRL 20061126 (EG) des EP und des Rate s v. 20. Janu ar 2006 (ABIEU 2006 Nr. L 403 , S. 18) verankert. EuGI-1E 1998,6781; vgl. hierzu Gieß, NZ V 1999,410,413. Vgl. hierzu die berühmte " Cassis-Rechtsprechung " zur Waren verkehrsfreiheit seit EuGI-1E 1979, 649; lehrreich hierzu Schütz, JURA 1998, 631. EuGHE 1995,4165 ff. (,.Gebhard "); Satzger, IntStR , § 9 Rn. 21.
C. Assimilierung als Ausprägung der Schutzverptlichtung aus Art. 4 III EUV
243
4. Präzisierung der Obergrenze strafrechtlicher Sanktionen Zu einer weiteren Klärung der vom Unionsrecht abgesteckten Obergrenze für mit- 48 gliedstaatliche Sanktionsbestimmungen trägt das Urteil des EuGH in der Rechtssache " Hansen "44 bei : Fall 7: Die dän ische Fa. Hansen wurde von nationalen Behörden mit einer Geldbuße be- 49 legt, weil einer ihrer Fahrer die durch eine EG-Verordnung festgelegte tägliche Lenkzeit überschritten hatte . Dem Arbeitgeber fiel nach den getro ffenen Feststellungen weder Vorsatz noch Fahrläss igkeit zur Last. Jedoch haftet er nach den einschlägigen dänischen Sanktionsbestimmungen verschuldensunabhängig. Die Fa. Hansen machte zum einen geltend, die nationale Regelung würde die EG-Verordnung erweitern (also inhaltlich abändern). Zum anderen würden durch die däni schen Sankt ionsbest immungen in Dänem ark angesiedelte Unternehmen in höherem Maße der Gefahr einer Bestrafung ausgesetzt als in anderen Mitgliedstaaten angesiedelte Konkurrenten, da nur Dänemark eine objektive Strafhaftung eingeführt habe . Dies führe zu einer Verzerrung des freien Wettbewerb s innerhalb des Gemeinsamen Markt es, was den Z ielen der einschlägigen Verordnung zuwiderlaufe. Das zuständige Gericht legte dem EuG H die Frage vor, ob die im dänischen Recht vorgesehene objektive strafrechtliche Verantwortlichkeit gegen Gemein schaftsrecht verstößt.
Lösungshinweise zu Fall 7: Mit ihrem Vorbringen, die dänischen Sanktionsbe- 50 stimmungen würden den Inhalt der Lenkzeitenverordnung in unzulässiger Weise erweitern, vermochte die Firma Hansen beim EuGH nicht durchzudringen . Bereits in der Sache " Amsterdam Bulb" (Rn . 16 ff.) hatte der Gerichtshof entschieden, dass den nationalen Gesetzgebern die Befugnis zusteht, Sanktionsbestimmungen zu erlassen, um die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts zu sichern . Auch die weiteren Argumente der Firma Hansen, mit denen der EuGH davon überzeugt werden sollte , dass die dänischen Bestimmungen zu streng seien und damit gleichsam eine gemeinschaftsrechtliche Höchstgrenze für Sanktionsnormen im Dienste des Gemeinschaftsrechts überschritten worden sei, teilte der Senat nicht. Die Einführung einer verschuldensunabhängigen Strafbarkeit stelle nicht ohne weiteres eine gemeinschaftsrechtswidrige Verzerrung der Wettbewerbsbedingungen dar. Der EuGH griff jedoch das Verhältnismäßigkeitskriterium als Obergrenze 51 auf, indem er ausführte: "Außerdem liegt die Verkehrssicherheit, die ...eines der Ziele der Verordnung ist, im Interesse der Allgemeinheit, das die Festsetzung einer objektiven strafrechtlichen Verantwortlichkeit rechtfertigen kann. Eine solche Sanktion, die der in Art. 5 EGV (aktuell: Art. 4 III EUV) verankerten Pflicht zur loyalen Zusamm enarbeit entspricht, ist deshalb gegenüber dem angestrebten Ziel nicht unverhältnismäß ig. " 45 Damit folgte der Gerichtshof im Ergebnis dem Schlussantrag von Generalanwalt van Gerven, welcher - noch deutlicher als der EuGH - dargelegt hatte , dass der Grundsatz "nuHa poena sine culpa" (keine Strafe ohne Schuld) im Gemeinschaftsrecht keine absolute Geltung beanspruchen, sondern unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips eing eschränkt werden könne (hier : Durchsetzung wichtiger Interessen des Allgemeinwohls und keine Androhung außergewöhnlich hoher Strafen). 44 4S
EuGI-I E 1990, 2911. EuGHE 1990,2911 (Rz. 19).
244
§ 7 Assimilierungsprinzip
5. Inhaltsbestimmung der unionsrechtlichen Rahmenbegriffe a) Konkretisierungsspielraum der Mitgliedstaaten 52 Die Zusammenschau der Rechtssachen" Vandevenne " (Rn. 37 ff.) zur Untergrenze der aus dem Loyalitätsgebot abgeleiteten strafrechtlichen Schutzverptlichtung und" Hansen " (Rn . 48 ff.) zur Obergrenze für innerstaatliche Sanktionsbestimmungen zum Schutze des Unionsrechts macht Folgendes deutlich : Einerseits sind die Mitgliedstaaten nicht zur Einführung einer Strafbarkeit juristischer Personen oder zur Schaffung einer verschuldensunabhängigen (objektiven) strafrechtlichen Verantwortlichkeit verpflichtet. Andererseits steht es ihnen frei, auf nationaler Ebene gerade diese strafrechtlichen Maßnahmen zu ergreifen. Der unionsrechtliche Rahmen , in den das mitgliedstaatliche Strafrecht eingebunden ist, belässt den Mitgliedstaaten also einen relativ breiten Spielraum für die inhaltliche Ausgestaltung von Sanktionsnormen im Dienste des Unionsrechts. 53 Bei den das unionsrechtliche Rahmensystem nach unten und oben eingrenzenden Schrankenbestimmungen handelt es sich um Termini des Unionsrechts, die der autonomen Interpretation des EuGH unterliegen". Die Zuständigkeit der supranationalen Gerichtsbarkeit stellt sicher, dass es nicht zu einer völlig uneinheitlichen Handhabung der Mindesterfordernisse und Obergrenzenkriterien in den Mitgliedstaaten kommt - eine Gefahr, die vorprogrammiert wäre , wenn jeder Mitgliedstaat nach eigenem Belieben den Rahmen für seine legislative Tätigkeit zum Schutze des Unionsrechts festlegen könnte . Andererseits betont der EuGH, dass den Mitgliedstaaten grundsätzlich die Wahl der Sanktionen zusteht". Den mitgliedstaatliehen Strafgesetzgebern und Gerichten verbleibt mithin bei der Auslegung und Anwendung der unionsrechtlichen Rahmenkriterien ein gewisser Konkretisierungsspielraum , dessen unionsrechtskonforme Ausübung jedoch einer Vertretbarkeitskontrolle durch den EuGH unterliegt. 54 Im Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) judiziert der Gerichtshof ohnehin nur über die Auslegung von Unionsrecht, nicht aber über den konkreten Sachverhalt des Ausgangsverfahrens oder die Anwendbarkeit einer nationalen Sanktionsnorm (§ 6 Rn. 10). Seine Aufgabe beschränkt sich vielmehr darauf, dem für die Entscheidung des Ausgangsfalles zuständigen Gericht erläuternde Hinweise hinsichtlich der Vorgaben des Unionsrechts zu geben , um diesem eine Beurteilung zu ermöglichen, ob die einschlägige Sanktionsnorm unionsrechtlichen Anforderungen genügt. Im Vertragsverletzungsverfahren (Art . 258 AEUV) ist der EuGH dazu berufen , festzustellen , ob eine konkrete mitgliedstaatliche Regelung mit Unionsrecht vereinbar ist. Aber auch in diesem Verfahren respektiert der EuGH aufgrund des von ihm in der Sache anerkannten strafrechtsspezifischen Schonungsgebotes (Rn . 29) den Einschätzungs- und Konkretisierungsspielraum der Mitgliedstaaten und beschränkt sich demgemäß auf eine Vertretbarkeitskontrolle". 46 47
48
Satzger, Europäisierung, S. 361 ff., 373 ff. EuGI-IE 1989,2965 (Rz. 24); 1990,2911 (Rz. 17); 1991,4371 (Rz. 11); 1994,2435 (Rz. 55); 1995,3573 (Rz. 20); 1997, 1111 (Rz. 35); EuGI-I EuZW 2010, 227 (Rz. 71). Satzger, Europäisierung, S. 375.
C. Assimilierung als Ausprägung der Schutzverptlichtung aus Art. 4 III EUV
245
b) Gleichstellungserfordernis Die Mitgliedstaaten sind aufgrund des Loyalitätsgebotes (Art. 4 111 UA 2, 3 EUV) verpflichtet, Verstöße gegen das Unionsrecht (Angriffe auf Unionsinteressen) durch ihr innerstaatliches Recht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln zu ahnden wie nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen nationale Schutzgüter (Rn . 26) . Das Gleichbehandlungserfordernis erstreckt sich auf die Setzung und Anwendung sowohl des materiellen Sanktionenrechts (Strafund Ordnungswidrigkeitenrecht) als auch des zu seiner Durchsetzung bestimmten Prozessrechts (Straf- und Bußgeldverfahrensrecht). In verfahrensrechtlicher Hinsicht müssen die mitgliedstaatliehen Stellen gegenüber Unionsrechtsverstößen mit derselben Sorgfalt vorgehen , die sie bei der Anwendung der entsprechenden nationalen Rechtsvorschriften walten lassen . Das Gleichstellungsgebot gelangt nur zur Anwendung, wenn es sich bei dem festgestellten Unionsrechtsverstoß um einen solchen handelt, der nach Art und Schwere einer Zuwiderhandlung gegen nationales Recht gleicht. Ob ein "gleichartiger" Verstoß vorliegt, ist anhand eines von dem nationalen Gesetzgeber oder Rechtsanwender (Gerichte und sonstige Behörden) vorzunehmenden Wertungsaktes zu beurteilen, welcher seinerseits lediglich einer Vertretbarkeitskontrolle durch den EuGH unterliegt (Rn . 53). "Gleicher Art" sind Verstöße dann, wenn sie identische oder zumindest vergleichbare Interessen ber ührerr'". Dies ist der Fall, wenn eine Norm des Unionsrechts verletzt wird, die dasselbe oder ein funktionell gleichwertiges Rechtsgut wie eine nationale Strafnorm schützt. Zu denken ist etwa an einen Verstoß gegen das unionsrechtliche Luftreinhalterecht, durch den das gleiche Rechtsgut (Reinheit der Luft in ihrer Funktion als natürliche Lebensgrundlage des Menschen) angegriffen wird, das auch der deutschen Stratbestimmung des § 325 StGB zugrunde liegt'". Als weitere Beispiele für Verstöße, die sich aus der Perspektive des Unionsrechts und des nationalen Strafrechts gegen vergleichbare Interessen richten , sind zu nennen : Angriffe auf den EU-Finanzhaushalt (z. B. in Form des Subventionsbetruges oder der Abgabenhinterziehung) sowie auf die Lauterkeit der Amtsführung von EU-Beamten. Der Finanzhaushalt eines Mitgliedstaates und die Lauterkeit der Amtsführung des nationalen öffentlichen Dienstes stellen funktional vergleichbare Interessen dar, die vom innerstaatlichen Strafrecht geschützt werden . Hieraus folgt in Anwendung des Gleichstellungsgebotes, dass die Mitgliedstaaten den genannten Unionsinteressen den gleichen materiellrechtlichen und prozessualen Schutz angedeihen lassen müssen wie den funktionsidentischen nationalen Interessen. Für den Schutz des EU-Finanzhaushalts wird das Gleichstellungserfordernis durch Art. 325 11 AEUV deklaratorisch festgeschrieben (Rn . 30). Von "gleicher Schwere" sind Verstöße gegen Unionsrecht, wenn der darin liegende Angriff auf das einschlägige Unionsinteresse eine Intensität aufweist, die vom nationalen Recht - unterstellt, es läge ein Angriff auf ein vergleichbares nati49 50
Gräblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 23; Satzger, Europäisierung, S.365. Vgl. hierzu Hecker, ZStW 115 (2003), S. 800, 895 1'1'.
55
56
57
58
246
§ 7 Assimilierungsprinzip
onales Rechtsgut vor - als strafbare (oder mit sonstigen repressiven Sanktionen belegbare) Handlung erfasst wird'" . Der nationale Gesetzgeber hat bei der Ausgestaltung des Rechtsgüterschutzes einen breiten Ausgestaltungsspielraum. Er kann Kriminalstrafrecht oder sonstiges Sanktionenrecht (Bußgeldrecht, Verwaltungssanktionen) einsetzen. Die Schutzintensität wird des Weiteren dadurch bestimmt, ob z. B. nur die Schädigung (Erfolgsdelikte) oder bereits die Gefährdung des Rechtsgutes strafbar ist (konkrete und abstrakte Gefährdungsdelikte). Weitere Faktoren der Schutzintensität bilden etwaige Qualifikationen, Strafzumessungsregeln (besonders schwere Fälle) sowie Schuldkomponenten (Vorsatz, Fahrlässigkeit, objektive strafrechtliche Verantwortlichkeit). Schließlich hängt der strafrechtliche Schutzstandard auch davon ab, ob und inwieweit bereits der Versuch oder bestimmte Vorbereitungshandlungen mit Strafe bedroht sind . 59 Das Gleichstellungserfordernis wäre z. B. verletzt, wenn das nationale Recht einen Verstoß gegen Unionsrecht lediglich im Falle der Schädigung des supranationalen Rechtsgutes (oder bei vorsätzlichem Handeln) mit Strafe bedroht, während das gleichartige nationale Schutzgut bereits vor einer bloßen Gefährdung (oder vor fahrlässigem Handeln) strafrechtlich geschützt wird . Unionsrechtswidrig wäre es auch, den Versuch der Bestechung nationaler Amtsträger im innerstaatlichen Recht unter Strafe zu stellen, bezüglich der Bestechung von EU-Beamten eine Strafandrohung aber nur für die vollendete Tat vorzusehen. Das Gleichstellungsgebot legt die Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten auf die Gewährleistung eines innerstaatlich gleichen Schutzstandards für Unionsinteressen und funktional vergleichbare nationale Schutzgüter fest.
c) Wirksamkeits- und Abschreckungserfordernis 60 Das aus dem Gleichbehandlungserfordernis abzuleitende Ptlicht der Mitgliedstaaten , Unionsinteressen im Wesentlichen den gleichen strafrechtlichen Schutz angedeihen zu lassen wie vergleichbaren nationalen Rechtsgütern, liefe gleichsam "ins Leere", wenn sich für ein schutzwürdiges Unionsinteresse kein nationales Äquivalent ausmachen oder in der innerstaatlichen Rechtsordnung kein vergleichbar schwerer Angriff feststellen ließe . Denkbar ist auch , dass ein Mitgliedstaat ein bestimmtes Rechtsgut strafrechtlich nicht oder nur unzureichend schützt. In diesen Fällen übernimmt die Mindesttrias als Substitut für das unanwendbare Gleichbehandlungsgebot die Funktion der unionsrechtlichen Untergrenze der strafrechtlichen Sanktionierungsverptlichtung und stellt sicher, dass das supranationale Rechtsgut in dem betreffenden Mitgliedstaat nicht (weitgehend) schutzlos gestellt ist. Die Bedeutung der Mindesttrias erschöpft sich aber nicht in dieser Auffangfunktion . Unabhängig davon , ob ein dem Unionsinteresse vergleichbares nationales Schutzgut existiert und ob sich ein gleichartiger Verstoß gegen nationales Recht ermitteln lässt, sind die vom EuGH aufgestellten Mindesterfordernisse einer wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden Sanktion von den Mitgliedstaaten zu gewährleisten. 51
Gräblinghoff, Verpflichtung des Strafgeset zgebers, S. 24; Satzger, Europäisierung, S.366.
C. Assim ilierung als Ausprägung der Schutzverptlichtung aus Art. 4 III EUV
247
Auch wenn der EuGH im Zusammenhang mit der Mindesttrias stets von " Sankti- 61 onen" spricht, so bedeutet dies nicht etwa, dass nur die Rechtsfolgen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssen. Unter "Sanktion" ist die gesamte Strafnorm, bestehend aus Tatbestand und Rechtsfolge zu verstehen'<. So bezeichnet der EuGH etwa im Fall "Hansen" (Rn . 48 ff.) das System der objektiven (verschuldensunabhängigen) strafrechtlichen Verantwortlichkeit als Sanktion. Die Bedeutung des Wirksamkeitskriteriums erschließt sich durch einen Blick 62 auf die Funktion der Sanktionen im Dienste des Unionsrechts. Diese sollen die Geltungskraft und Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleisten. Wirksam ist eine Sanktion also nur dann , wenn sie tatsächlich dazu beiträgt, das Unionsinteresse zu schützen bzw. die Ziele der unionsrechtlichen Regelung zu verwirklichen. Sie muss daher geeignet sein, die Allg emeinheit von Verstößen abzuhalten (negative Generalprävention) und den Täter von weiteren Verstößen abzuschrecken (negative Spezialpräventionj'" . Zugleich muss sie dazu beitragen können , das Vertrauen der Allgemeinheit in die Geltungskraft des Gemeinschaftsrechts bzw. des nationalen AusfLihrungsrechts zu bekräftigen (positive Generalprävention). An dieser Stelle wird deutlich, dass sich das Wirksamkeitskriterium mit dem Erfordernis der Abschreckung inhaltlich überschneidet. Das Wirk samkeits- und Abschreckungskriterium können daher als zusammengehörendes Gebot behandelt werden>'. Bei der Beurteilung der Frage , ob eine Sanktionsnorm wirksam und ab- 63 schreckend ist, bedarf es einer umfassenden Würdigung ihrer Präventionswirkung, die sich nicht nur aus der Reichweite ihres Tatbestandes bzw. aus der abstrakten Höhe der angedrohten Strafe , sondern auch aus Faktoren der "gelebten Recht sordnung", wie Häufigkeit und Intensität von Kontrollen, Verfolgungspraxis, Art und Weise des Vollzugs usw., ergibt. Den nationalen Gesetzgebern ist ein breiter, dem strafrechtsspezifischen Schonungsgebot (Rn. 29) Rechnung tragender Beurteilungs- und Konkretisierungsspielraum zu belassen. Verletzt ist das als unionsrechtliche Untergrenze der mitgliedstaatliehen Sanktionierungspflicht fungierende Wirksamkeits- und Abschreckungskriterium jedoch, wenn das nationale Recht für einen mit hoher krimineller Energie geführten Angriff auf Unionsinteressen oder für eine Tat , die zu einer grav ierenden Schädigung eines supran ationalen Recht sgute s geführt hat, lediglich eine Bagatellsanktion androht'". Zu denken ist etwa an das Extrembeispiel, dass das mitgliedstaatliche Recht für den Fall eines organi sierten Subventionsbetruges großen Ausmaßes lediglich die Verhängung eines Bußgelds oder einer Verwaltungssanktion vorsieht. Offen sichtlich ineffektive Maßnahmen oder lediglich "symbolische" Strafen genügen dem Gebot wirksamer und abschreckender Sanktionen nicht": 52 53 54
55
56
Gräblingho./J, Verpfli chtun g des Strafgesetzgebers, S. 25. Satzger, IntStR, § 9 Rn. 27. Satzger , Europäisierung, S. 368 ; a. A. Gräblingho./J, Verpfl ichtung des Strafgesetzgebers, S. 26 (Abschreckungskriterium als Ausdruck der negativen Generalprävention). Wenn der betreffend e Staat einem vergleichbaren national en Recht sgut einen intensiveren strafrechtli chen Schut z angedeihen lässt, liegt zugleich eine Verletzung des Gleichbehandlungsgebots vor. Satzger, Europäisierung, S. 369 ff
248
§ 7 Assimilierungsprinzip
64 Die Mitgliedstaaten müssen dem Wirksamkeitserfordernis nicht zuletzt durch eine effektive Ausgestaltung ihres Strafanwendungsrechts (§ 2) in Form eines europäischen Territorialitätsprinzips Rechnung tragen'", Es muss sichergestellt werden , dass die vom Territorium eines Mitgliedstaates aus begangenen Angriffe auf Unionsinteressen von den Strafgerichten jedes Mitgliedstaates nach dessen innerstaatlichem Recht abgeurteilt werden können (zu dem daraus resultierenden Problem konkurrierender nationaler Strafansprüche vgl. § 13). Einen Schritt in diese Richtung stellen § 6 Nr. 8 StGB und § 370 VII AO dar, die den Anwendungsbereich der Tatbestände des Subventionsbetrugs (§ 264 StGB) und der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) auf Taten erstrecken, die außerhalb der Bundesrepublik Deutschland begangen werden .
d) Verhältnismäßigkeit (Angemessenheit) der Sanktion 65 Der unionsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bildet - wie gezeigt - eine Obergrenze für mitgliedstaatliche Sanktionen (Rn . 41 ff.). Wenn der EuGH in den Fällen" von Colson und Kamann" (Rn. 20 ff.), " Griechischer Mais" (Rn . 24 ff.) und" Vandevenne " (Rn . 37 ff.) von dem Erfordernis verhältnismäßiger Sanktionen spricht, so versteht er die Verhältnismäßigkeit als Mindesterfordernis (Untergrenze der Sanktionierungsptlicht). Die Mitgliedstaaten dürfen also keine Maßnahmen treffen , die dem Grad und der Schwere des Angriffs auf das Unionsinteresse nicht angemessen Rechnung tragen . Das Verhältnismäßigkeitserfordernis bzw . - konkreter formuliert - das Gebot der Androhung angemessener Sanktionen - fordert den Mitgliedstaaten ab, diejenigen Maßnahmen zu treffen, die der Schwere und Intensität des Rechtsverstoßes entsprechen. Art (Strafnorm, Bußgeldnorm, zivilrechtliche Schadensausgleichsnorm) und inhaltliche Ausgestaltung der nationalen Sanktion (Tatbestand und Rechtsfolge) müssen dem Gewicht des Verstoßes gegen ein Unionsinteresse angemessen Rechnung tragen . Der den Mitgliedstaaten diesbezüglich eingeräumte Beurteilungsspielraum ist nicht unionsrechtskonform wahrgenommen, wenn der nationale Gesetzgeber die Bedeutung des zu schützenden Unionsinteresses oder die Bedeutung eines Unionsrechtsverstoßes verkennt (Vertretbarkeitskontrolle durch den EuGH) . 66 Der Fall einer - die Untergrenze der mitgliedstaatliehen Sanktionierungsptlicht unterschreitenden - unangemessen Sanktion ist z. 8. gegeben, wenn ein Mitgliedstaat die Beeinträchtigung eines gewichtigen Unionsinteresses (Finanzhaushalt, Lauterkeit der Amtsführung von EU-Beamten, Umweltschutz, Verbraucherschutz, Lebensmittelsicherheit usw.) wie eine bloße Verletzung von Ordnungsvorschriften ahndet. Dabei muss sich der Mitgliedstaat auch daran messen lassen, wie er vergleichbare Verstöße gegen nationale Schutzgüter sanktioniert. Unangemessen ist der Strafrechtsschutz bereits dann, wenn er für einen gleichartigen und gleichschweren Verstoß gegen ein Unionsinteresse systemfremd und ohne sachlichen Grund nach unten abweicht'".
57 58
Satzger, Europäisierung, S. 370. Satzger, Europäisierung, S. 373.
D. Ausprägungen des Assimilierungsprinzips im deutschen Strafrecht
249
Das Erfordernis der Angemessenheit der Sanktion erlangt als Element der Min- 67 desttrias eine eigenständige Funktion als Untergrenze der mitgliedstaatliehen Sanktionierungsverpflichtung, wenn das Gleichstellungsgebot mangels Existenz einer schutzzweckidentischen Sanktionsnorm ins Leere läuft .
D. Ausprägungen des Assimilierungsprinzips im deutschen Strafrecht I. Schutzbereichsausdehnung durch Gleichstellungsvorschriften Dem aus der Loyalitätspflicht (Art. 4 III EUV und - bezogen auf den Schutz der 68 EU-Finanzinteressen - aus Art . 325 II AEUV - abzuleitenden Assimilierungserfordernis kann prinzipiell auf zwei Wegen Rechnung getragen werden: zum einen durch unionsrechtskonforme Auslegung nationaler Strafrechtsnormen, soweit dies innerstaatliches Verfassungsrecht und Strafrechtsdogmatik zulassen, zum anderen durch Schaffung von Strafgesetzen, die zu einer Erstreckung des nationalen Strafrechtsschutzes auf Unionsinteressen fuhren. Eine in der deutschen Gesetzgebungspraxis übliche Technik ist die EinfLigung sog . "Gleichstellungsklauseln" in einschlägige Strafbestimmungen oder spezialgesetzliche Regelungen . So sorgt etwa die Gleichstellungsvorschrift des § 108 d StGB dafür, dass die den Schutz der Unverfälschtheit von Wahlen bezweckenden Strafbestimmungen der §§ 107-108 c StGB auch auf die Wahl der Abgeordneten des EP Anwendung finden . Die Bestechung von Abgeordneten des EP wird in § 108 e StGB in gleichem Maße unter Strafe gestellt wie die Bestechung von Mitgliedern nationaler Volksvertretungen. Auf Falschaussagen vor dem EuGH sind gern. § 162 I StGB die §§ 153-161 StGB anwendbar (Rn . 10). Weitere Beispiele für die Indienststellung deutscher Strafbestimmungen zum Schutze supranationaler Unionsinteressen finden sich im Subventions- und Korruptionsstrafrecht.
1. Gleichstellungsbestimmung des § 264 VII Nr. 2 StGB Fall 8: Der deutsche Unternehmer U bietet dem EU-Beamten B die Zahlung von € 25 000 .- 69 an, um mit dessen Hilfe ungerechtfertigt in den Genuss einer EG-Subvention zu gelangen . B nimmt das Geld an und sorgt durch die Weitergabe eines unrichti gen Prüfungsergebni sses an seinen für die Vergabe der Subvention allein zuständigen Dienststellenleiter dafür, dass diesem die unzutreffenden (für U vorteilhaften) Angab en des U nicht auffallen . Strafbarkeit von U und B?
§ 264 StGB schützt den Finanzhaushalt der Union , die als Rechtsnachfolgerin an 70 die Stelle der früheren EG getreten ist (Art. I UA 3 S. 3 EUV) , vor Angriffen in Form des vorsätzlich oder leichtfertig begangenen Subventionsbetruges. Nach § 264 VII Nr . 2 StGB unterfällt dem Subventionsbegriff auch "eine Leistung aus öffentlichen Mitteln nach dem Recht der Europäischen Gemeinschaften, die wenigstens zum Teil ohne marktmäßige Gegenleistung gewährt wird " .
250
§ 7 Assimilierungsprinzip
71 Erste Lösungshinweise zu Fall 8: (I) U ist wegen Subventionsbetruges in einem besonders schweren Fall gern. § 264 I Nr . 1,11 S. 2 Nr . 3, VII Nr . 2 StGB strafbar, weil er gegenüber dem Subventionsgeber unrichtige, für ihn vorteilhafte Angaben über subventionserhebliche Tatsachen gemacht und dabei die Mithilfe eines Amtsträgers ausgenutzt hat, der seine Stellung missbraucht. Ob es letztlich zu einer Auszahlung der Subvention an U kommt, ist unerheblich, da die Erfüllung des § 264 I Nr. I StGB nicht vom Vorliegen eines Vermögensschadens abhängt. (2) B hat sich durch die Weiterleitung eines unrichtigen Prüfungsergebnisses an den für die Vergabe der Subvention zuständigen Dienststellenleiter wegen Subventionsbetruges in einem besonders schweren Fall gern. § 264 I Nr. 1,11 S. 2 Nr. 2, VII Nr. 2 StGB strafbar gemacht, da er seine Stellung als Amtsträger missbraucht hat. Die Gleichstellung des Unionsbeamten B mit deutschen Amtsträgern folgt aus Art. 2 § I 11 Nr . I EUBestG (Rn. 73 ; § 5 Rn. 15) i. V. m. Art . I UA 3 S. 3 EUV . Dass B keinen unmittelbaren Nutzen aus der ungerechtfertigten Subventionsgewährung zieht und ziehen will, hindert die Annahme von Mittäterschaft nicht , denn § 264 I Nr. I StGB setzt objektiv keine Vorteilserlangung und subjektiv keine Bereicherungsabsicht voraus. Die Ausdehnung des Schutzbereichs des § 264 I Nr. I StGB auf EU-Subventionen folgt aus der Gleichstellungsklausel des § 264 VII Nr. 2 StGB i. V. m. Art. I UA 3 S. 3 EUV . Die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts ergibt sich aus § 6 Nr . 8 StGB (§ 2 Rn. 49). 72 Weitere Hinweise: Gäbe es die Legaldefinition in § 264 VII Nr. 2 StGB nicht, ließe sich eine Erstreckung des Schutzbereiches auf EU-Subventionen bereits mit Hilfe einer unionsrechtskonformen Auslegung des § 264 StGB im Lichte des Art. 325 11 AEUV begründen. Die Einbeziehung von Unionsbeamten als taugliche Täter eines Subventionsbetruges gern. § 264 I Nr. I , 11 S. 2 Nr. 2 StGB könnte hingegen nicht durch eine entsprechende Neuinterpretation des § 11 I Nr . 2 StGB erzielt werden, da die eindeutige Wortlautgrenze der Norm ("Amtsträger: wer nach deutschem Recht...") nicht überschritten werden darf. Insoweit bildet die Gleichstellungsvorschrift des Art . 2 § I 11 Nr . I EUBestG eine unersetzbare rechtliche Brücke für die Anwendbarkeit des § 264 StGB auftatbestandsmäßige Handlungen von Unionsbeamten.
2. Gleichstellungsbestimmung des EUBestG 73 Das Assimilierungsprinzip spielt auch im deutschen Korruptionsstrafrecht eine wichtige Rolle . Zur Eindämmung der grenzüberschreitenden Korruption hat der Gesetzgeber außerhalb des 8tGB eine Ausdehnung der nationalen Strafvorschriften über Bestechlichkeit und Bestechung (§§ 332 , 334-336, 338 StGB) durch die Gleichstellung von deutschen, mitgliedstaatlichen und EU-Amtsträgern (einschließlich Richtern) vorgenommen (Art. 2 § I I Nr. 1,2 EUBestG)59. Des Weiteren bewirkt Art. 2 § I 11 Nr. I, 2 EUBestG i. V. m. Art. I UA 3 S. 3 EUV eine Gleichstellung von Unionsbeamten und Kommissionsmitgliedern mit deutschen Amtsträgern im Hinblick auf die Begehung von Taten gern . §§ 263 11 S. 2 Nr. 4, 59
EU-Bestechungsgesetz v. 10. September 1998 (BGB!. 11 1998, 2340); abgedruckt bei Fischer, StGB, Anhang 21.
D. Ausprägungen des Assimilierungsprinzips im deutschen Strafrecht
251
264 11 S. 2 Nr. 2, 3 StGB sowie § 370 111 S. 2 Nr. 2, 3 AO . Mit dem Erlass des EUBestG hat der deutsche Gesetzgeber seine unionsrechtliche Verpflichtung aus dem 1. ZP zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften zur Bekämpfung der Korruption'? und dem Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der EU oder der Mitgliedstaaten beteiligt sind'" , erfüllt (§ 5 Rn. 15). Nach der zuvor geltenden Rechtslage war die Bestechung eines Beamten der Gemeinschaft bzw. eines Beamten eines anderen Mitgliedstaates nicht nach §§ 331 ff. StGB strafbar, weil die Definition des Amtsträgerbegriffs in § 11 I Nr. 2 StGB nur auf die nach deutschem Recht begründete Amtsträgereigenschaft abstellt. Abschließende Lösungshinweise zu Fall 8: (I) U hat sich wegen der Zahlung 74 von € 25 000 .- an den Unionsbeamten B mit dem Ziel , diesen zur Vornahme einer Diensthandlung zu veranlassen, durch welche B seine Dienstpflichten verletzen würde, der Bestechung gern. § 334 I StGB i. V. m. Art . 2 § I Nr. 2 b EUBestG schuldig gemacht. Das EUBestG sorgt für eine Ausdehnung des Schutzbereichs des deutschen Korruptionsstrafrechts auf Bestechungshandlungen, die gegenüber einem Gemeinschaftsbeamten (nunmehr .Llnionsbeamten''; vgl. Art . I UA 3 S. 3 EUV) i. S. d. Art. I des Protokolls v. 27. September 1996 zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften begangen werden. Falls U die Tat im Ausland begangen hat, findet gern . Art . 2 § 2 Nr. I a StGB deutsches Strafrecht Anwendung (aktives Personalitätsprinzip; § 2 Rn. 43 0 . (2) B hat sich durch die Annahme eines Vorteils als Gegenleistung für die Vornahme einer pflichtwidrigen Diensthandlung wegen Bestechlichkeit gern . § 332 I StGB i. V. m. Art . 2 § 1 Nr .2 b EUBestG strafbar gemacht. Die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts auf Auslandstaten von Unionsbeamten folgt aus Art . 2 § 2 Nr . I a EUBestG, falls er Deutscher ist und nach Maßgabe des Art . 2 § 2 Nr . I b) bb) EUBestG, falls er Ausländer ist. Weitere Hinweise: Die Bekämpfung der Korruption auf internationaler Ebene ist 75 auch ein Anliegen der OECD (§ 5 Rn. 15). Mit dem Gesetz zu dem Übereinkommen vom 17. Dezember 1997 über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr (IntBestG) v. 10. September 1998 , welches am 15. Februar 1999 in Kraft trat, wurde eine einschlägige OECD-Konvention in deutsches Recht umgesetzt. Gesetzestechnisch hat der deutsche Gesetzgeber auch hier das Assimilierungsprinzip funktionalisiert, indem er in Art. 2 § 1 IntBestG ausländische mit inländischen Amtsträgern gleichgestellt und in diesen Fällen die Anwendung der §§ 334, 335 , 336, 338 11 StGB vorgesehen hat. Das IntBestG beschränkt sich jedoch auf die Strafbarkeit der aktiven Bestechung von ausl ändischen Amtsträgern und Richtern und findet auf Auslandstaten nur Anwendung, wenn der Täter Deutscher ist (Art. 2 § 3 IntBestG).
60
61
ABlEG 1996 Nr. C 313, S. 1. ABlEG 1997 Nr. C 195, S. I; vgl. hierzu Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 54; ders., ZStW 117 (2005), S. 697, 730 f.
252
§ 7 Assimilierungsprinzip
11. Verweisung auf Unionsrecht durch Blankettstrafgesetze 1. Unionsrechtsakzessorisches Blankettstrafrecht 76 Eine weitere Möglichk eit, der aus Art. 4 111 UA 2, 3 EUV; ex-IO EGV) abzuleitenden Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Gewährleistung einer gleichartigen und gleichwertigen Straf- und Bußgeldbewehrung von unmittelbar geltenden Rechtsakt en der EG nachzukommen, besteht in der Setzung unionsrechtsakzessorischer Blankettgesetze'<, Diese vor allem im Nebenstraf- und Ordnungswidrigkeitenrecht vielfach genutzte Gesetzgebungstechnik ermöglicht eine Sanktionierung vorsätzlich oder fahrlässig begangener Zuwiderhandlungen gegen unmittelbar geltendes Unionsrecht. Der Blanketttatbestand beschr änkt sich auf eine Beschreibung der wesentlichen Stratbarkeits- bzw. Ahndungsvorau ssetzungen (benennt z. B. Art und Weise der Zuwiderhandlung) und ordnet eine bestimmte Rechtsfolge (Sanktion) an. Im Übrigen verweist er auf eine blankettausfüllende EU-Verordnung (bestehende EG-Verordnungen sind gern. Art. I UA 3 S. 3 EUV der Union zuzurechnen). Der vollständige Straftatbestand ergibt sich somit erst durch ein Zusammenlesen des Stratblanketts und der außerstrafrechtlichen Ausfüllungsnorm. Durch die Verknüpfung der tatbestandsm äßigen Handlung mit der in Bezug genommenen Verordnung entsteht ein unionsrechtsakzessorischer Tatbestand. 77 Soweit nationale Blankettstrafgesetze ausschließlich auf Zuwiderhandlungen gegen nationales Recht (Geset ze, Rechtsverordnungen) verweisen, handelt es sich um sog. "Binnenverweisungen" . Demgegenüber besteht die tatbestandsm äßige Handlung bei den hier interessierenden unionsrechtsakzessorischen Blankettgesetzen in einem Verstoß gegen unmittelbar geltendes Unionsrecht. Folglich haben wir es hier im Hinblick auf den supranationalen Ursprung des Verweisungsobjekts mit sog. "Außenverweisungen" zu tun. In der Literatur werden die unionsrechtsakzessorischen Straf- und Bußgeldblankette plastisch als "janusköpfige" Norm en beschrieben, weil eine Tatbe standsseite in Unionsrecht hineinreicht, während die andere ausschließlich vom nationalen Recht geprägt ist63 . Für den deutschen Normanwender bedeutet dies, dass er das von dem Blankett in Bezug genommene Verweisungsobjekt anhand unionsre chtlicher Auslegungsgrundsätze unter besonderer Berücksichtigung einschlägiger EuGH-Rechtsprechung zu interpreti eren hat. Neben der Unterscheidung der Blankettgesetze nach dem Normgeb er des Verweisungsobjekt s lässt sich mit dem Begriffspaar " statische" und "dynamische" Verweisung noch eine weitere Differenzierung treffen , die vor allem für die Diskussion ihrer Verfassungskonformität eine wichtige Rolle spielt.
62
63
Ambos, IntStR, § 11 Rn. 14 f., 24 ff.; Enderle, I31ankettstrafgesetze, S. 54 ff., 1981I, 265 ff.; Dannecker, JU RA 2006, 95, 10 I; Moll, ß1ankettstra fgesetzgebun g, S. 23 ff.; Satzger, Europäis ierung, S. 210 ff.; ders., IntStR , § 9 Rn. 54 ff. Ambos, Int StR, § 11 Rn. 26; Satzger, Europäisierun g, S. 233 m. w. N.
D. Ausprägungen des Assimilierungsprinzips im deutschen Strafrecht
253
Um eine "statische Verweisung" handelt es sich bei einer Blankettnorm, die auf 78 bereits bestehende Rechtsvorschriften in einer bestimmten Fassung verweist'". Sie folgt dem Muster : .Jvlit.,;wird bestraft/Ordnungswidrig handelt , wer gegen die Verordnung (EU) Nr. x verstößt, indem er vorsätzlich oder fahrlässig entgegen Artikel y folgende Zuwiderhandlung begeht..;".
Demgegenüber liegt eine "dynamische Verweisung" vor, wenn der Blanketttat- 79 bestand auf eine EU-Verordnung in der jeweils gültigen Fassung verweist und sich damit flexibel an etwaige Änderungen des Verweisungsobjekts anpasst". Von einer sog. "verdeckten dynamischen Verweisung" spricht man, wenn das statisch in Bezug genommene Verweisungsobjekt seinerseits einen dynamischen Verweis auf weitere Normen in ihrer jeweils gültigen Fassung enthält. Unionsrechtsakzessorische Blankettstrafgesetze müssen sich in allen ihren Be- 80 standteilen am Maßstab des deutschen Verfassungsrechts messen lassen. Dies gilt auch für die von dem Stratblankett in Bezug genommene EU-Verordnung in ihrer Funktion als blankettausfLillendes Verweisungsobjekt'". Denn durch die Inkorporation der Verordnungsvorschrift in ein innerstaatliches Blankettstrafgesetz wird sie formal zu deutschem Bundesrecht. Sollte sich eine blankettausfLillende EUVerordnung z. B. als mit dem Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 11 GG) unvereinbar erweisen , zöge dieser Befund lediglich die Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit des Blankettgesetzes nach sich. Davon unberührt bliebe im Hinblick auf den Vorrang des Unionsrechts die EU-Verordnung in ihrem originären Anwendungsbereich als Bestandteil des materiellen Unionsrechts. Mit Art. 103 11, 104 I GG sind unionsrechtsakzessorische Blankettstrafgesetze 81 nur vereinbar, wenn der nationale Gesetzgeber (Demokratieprinzip) die wesentlichen Voraussetzungen der Straf- bzw. Ahndbarkeit hinreichend genau festgelegt hat (Bestimmtheitsgrundsatz) und dem EG-Verordnungsgeber lediglich die nähere Spezifizierung des Tatbestandes überlassen bleibt (Parlamentsvorbehaltj'". Um eine "apokryphe Delegation" von Gesetzgebungsbefugnissen zu vermeiden und eine ausdrückliche Aufnahme des Verweisungsobjekts in den gesetzgeberischen Regelungswillen zu gewährleisten, fordern einige Oberlandesgerichte eine statische Verweisung, welche die EU-Verordnung nach Artikel , Absatz , Unterabsatz und Buchstabe zitieren muss'".
64 65 66 67
68
Satzger , IntStR, § 9 Rn. 58, 67. Enderle, Blankett strafgesetze, S. 11; Satzger, IntStR, § 9 Rn. 67. Krey , EWR 1981, 109, 152, 190 ff.; Moll, Blankettstrafgesetzgebung, S. 61 ff., 75 ff.; Satzger, IntStR, § 9 Rn. 63; a. A. Enderle, Blankett strafgesetze, S. 199. Diese Anford erungen entsprechen denjenigen, die auch für I31ankettverweisungen auf nationale Verwe isungsobjekte gelten ; vgl. ßVerfGE 32, 346, 363; 75, 329, 342; 78, 374,3821'.; ßVerfG NJW 1992,2624; Enderle, ßlankettstrafgeset ze, S. 198 ff., 266 . OLG Stuttg art NJW 1990, 657 f.; eben so Enderle, Blankettstrafge setze, S. 266 .
254
§ 7 Assimilierungsprinzip
2. Grundtypen unionsrechtsakzessorischer Blankettstrafgesetze 82 Im deutschen Recht lassen sich zumindest drei typische Gesetzeskonstruktionen (Modelle) unterscheiden, die auf eine Sanktionierung von Zuwiderhandlungen gegen unmittelbar geltendes Unionsrecht durch nationales Straf- und Bußgeldrecht abzielen .
a) Zuwiderhandlungen gegen bestimmte Ver- oder Gebote einer EU-Verordnung 83 Modell 1: Das deutsche Straf- bzw . Bußgeldblankett bedroht Zuwiderhandlungen gegen einen unmittelbar geltenden Rechtsakt der EG mit Strafe. Ein Bei spiel hierfür findet sich in § 95 I Nr. 11 AMG69, der folgendes bestimmt: "Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer entgegen Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 2377/90 einen Stoff einem dort genanten Tier verabreicht." 84 Blankettbestimmungen die ser Kategorie sind im Hinblick auf Art. 103 11, 104 I GG verfassungsrechtlich unbedenklich, da sie die in Bezug genommene Verordnung durch eine statische Verweisung (Rn . 78) genau bezeichnen und die Art des Verstoßes hinreichend deutlich beschreiben' P. Unter dem Gesichtpunkt des Demokratieprinzips macht es keinen Unterschied, ob die Ausfüllung des Straf- bzw. Bußgeldblanketts durch nationales oder unmittelbar geltendes Unionsrecht erfo lgt, da der nationale Gesetzgeber die Grundentscheidung getroffen hat, welche Verh altenswei sen (hier: die im Blankettgesetz beschriebene Zuwiderhandlung gegen ein bestimmtes Ge- oder Verbot einer genau be zeichneten Verordnung) straf- bzw . bußgeldrechtlich relevant se in sollen. Aus verfassungsrechtlicher Sicht problematischer sind Blankettbestimmungen, die sich einer extensionalen Verweisungstechnik bedienen. Lehrreiches Anschauungsmaterial für die verfassungsrechtl iche Diskussion bieten vor allem die unionsrechtsbezüglichen Straf- und Bußgeldblankette des Naturschutzstrafrechts. § 69 IV Nr . 3 BNatSchG 71 bestimmt: " Ordnungswidrig handelt, wer gegen die Verordnung (EG) Nr. 338/97 des Rates vom 9. Dezember 1996 über den Schutz von Exemplaren wildlebender Tier- und Ptlanzenarten durch Überwachung des Handels (ABI. L 61 vom 3.3.1997, S. I, L 100 vom 17.4.1997, S. 72, L 298 vom 1.11.1997, S. 70, L 113 vom 27.4.2006, S. 26), die zuletzt durch die Verordnung (EG) Nr. 318/2008 (AßI. L 95 vom 8. 4. 2008, S. 3) geändert worden ist, verstößt, indem er vorsätzlich oder fahrlässig entgegen Artikel 8 Absatz I, auch in Verbindung mit Absatz 5, ein Exemplar einer dort genannten Art kauft, zum Kauf anbietet, zu kommerziellen Zwecken erwirbt, zur Schau stellt oder verwendet oder ein Exemplar verkauft oder zu Verkaufszwecken vorrätig hält, anbietet oder befördert." 69
70
71
Arzneimittelgesetz i. d. F. d. Bekanntmachung v. 12. Dezember 2005 (BGBI. I 2005, 3394). Ambos, IntStR, § 11 Rn. 28; Enderle, ß lankettstrafgesetze, S. 270 ff.; Satzger, Europäisierun g, S. 276 f[ Bundesnaturschutzgesetz v. 29. Juli 2009 (BGBI. I 2009, 2542).
D. Ausprägungen des Assimilierungsprinzips im deutschen Strafrecht
255
An diese bußgeldbewehrten Handlungen knüpft die Stratbestimmung des § 71 " 85 BNatSchG an, nach der mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft wird , wer eine in § 69 IV Nr . 3 BNatSchG bezeichnete vorsätzliche Handlung begeht , die sich auf " ein Tier oder eine Pflanze einer streng geschützten Art" bezieht. "Streng geschützt" sind nach § 7 11 Nr. 14 BNatSchG besonders geschützte Arten , die im Anhang A der Verordnung (EG) Nr. 338/97 und in Anhang IV der Richtlinie 92/43/EWG des Rates v. 21. Mai 1992 (Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie) aufgeführt sind . Die §§ 69 IV Nr. 3, 71 11 BNatSchG knüpfen an die Verletzung der vo (EG) 86 Nr. 338/97 72 (Artenschutzverordnung) an. Der Geltungsbereich dieser Verordnung ergibt sich aus Art . 3, welcher auf vier Anhänge (A bis D) verweist. In Anhang A sind z. B. rund I 000 vom Aussterben bedrohte Tier- und Pflanzenarten aufgelistet, in Anhang B ca. 24 000 Tier- und Pflanzenarten. Aus Anhang A ergibt sich ebenso wie aus der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie die für die Anwendung des § 71 " BNatSchG bedeutsame Qualifikation von Tieren und Pflanzen als "besonders geschützte Arten " . Die Artenschutzverordnung wird ergänzt durch die Durchführungsverordnung EG Nr. 1808/0 I der Kommission v. 30 . August 2001 73 • Diese enthält u. a. Konkretisierungen der Artenschutzverordnung sowie Ausnahmen vom Vermarktungsverbot. Falls etwa ein Tourist ermitteln will, ob er sich gern. § 71 11 BNatSchG stratbar macht , wenn er ein bestimmtes "Souvenir" nach Deutschland einführt (das möglicherweise zu den "streng geschützten Arten" zählt) , so muss er eine lange Kette von Verweisungen im deutschen und europäischen Recht (Verordnungen oder Richtlinien) nebst Anhängen sowie Ausnahmebestimmungen nachvollziehen. Es darf bezweifelt werden, ob ein juristisch nicht geschulter Normadressat hierzu überhaupt in der Lage ist. Das Artenschutz- und Naturschutzstrafrecht wendet sich schließlich nicht nur an mit besonderem Fachwissen ausgestattete Experten. Der BGH schloss sich jedoch den in der Literatur?" gegen die strukturgleichen 87 Vorläuferbestimmungen (§§ 30 a, 30 I Nr. 3 BNatSchG a. F. i. V. m. vo (EWG) Nr. 3626 /82) erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken nicht an 75 • Allein das Bestehen einer langen Verweisungskette, die eine Mehrzahl von EinzeIvorschriften zusammenfasst, führe noch nicht zur Unbestimmtheit der Norm . Im Übrigen sei diese Regelungstechnik im Nebenstrafrecht üblich und diene der lückenlosen Erfassung komplexer Materien. Dem Demokratieprinzip (Parlamentsvorbehalt) werde dadurch Rechnung getragen, dass der deutsche Gesetzgeber die wesentlichen Voraussetzungen der Stratbarkeit in einem förmlichen Gesetz selbst festgelegt und dem europäischen Verordnungsgeber lediglich gewisse Spezifizierungen überlassen habe .
72
73
74
75
ABlEG Nr. L 61, S. I. ABlEG Nr. L 250, S. I . Vgl. nur Weber, Naturschutz mit den Mitteln des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts, 1991, S. 86 ff. ßGHSt 42, 219 ; ebenso OLG Stuttgart NStZ-RR 1999, 379 und Stegmann , Artenschutz-Strafrecht, S. 112 ff.; 119 ff.; krit. Hammer, DVBI1997 401,404.
256
§ 7 Assimilierungsprinzip
b) Strafbarkeitslücken durch Austausch des Verweisungsobjekts 88 Blankettgesetze, die in ihrem objektiven Tatbestand auf eine bestimmte EUVerordnung verweisen, laufen stets Gefahr, im Falle einer Änderung des Verweisungsobj ekts im wahrsten Sinne des Wortes " ins Leere" zu laufen?". Stratbarkeitsund Ahndungslücken drohen immer dann, wenn es dem deutschen Strafgesetzgeber nicht gelingt , die betroffenen Straf- bzw. Bußgeldbl ankette rechtzeitig an den geänderten EU-Rechtsakt anzupassen. 89 Beispielsfall: In einem vom BayObLG77 zu ent sche idenden Fall war dem Angeklagten vorg eworfen worden , mittel s eines Werbeschreibens den Tatbe stand der irrefü hrenden Werbun g ge rn. § 67 I Nr. 2 WeinG a. F. i. V. m. einer EG-Ve rordnung erfüllt zu hab en. Diese EG-Verordnung - sie war an d ie Stelle e iner früheren EG-Verordnung ge treten - galt bereits zum Tatzeitpunkt. Ob wohl feststand, dass der Ang ekla gte durch sein Verhalten sowohl gegen die alte als auch gegen d ie aktu elle EG-Verordnung verstoßen hatt e, sah sich das BayObLG mit Recht an einer Verurteilung des Angekl agten gehi ndert. Die Anpassung des inner staatlic hen Rechts an die neue EG-Vero rdnung war nämli ch erst nach der Begehun g der Tat in Kraft getreten. Eine Verurteilung des An geklagten auf der Grun dlage des Tatz eitrechts musste also ausscheiden, weil die alte EG-Vero rdnung von § 61 I N r. 2 WeinG a. F. zwar noch in Bezug ge nomme n wurde, aber zum Tatzei tpunkt nicht meh r galt. Der Verstoß gegen d ie zum Tatzeitpunkt bereits geltende neue EG-Verordnung konnte nicht bestra ft werde n, we il er zum Zeitpunkt der Tatbege hung noch nicht durch ein nat ionales Strafgesetz mit Stra fe bedroht war. Dem Umstand, dass die neue EG-Ve rordnung eine Bestimmun g enthielt, wonach Ver wei sungen auf die alte EG-Ve rordnun g - also auch die Verweisungen des deutschen Weinstrafrechts - als Verweisungen auf die neue EGVero rdnun g anzusehen seien, maß das BayObLG richti gerwe ise keine Bedeutung für das deut sche Strafrecht bei . Da die (frühe re) Gem einschaft über keine Rechtsetzu ngsko mpetenz im Be reich des Kriminal stra frechts verfügte, vermo chte die in der EG-Verordnung enthaltene Übe rgangs bes timmung kei ne verbindliche Anordnung über die An wendbarkeit einer deutschen Strafb estimmung zu treff en.
90 Das Problem der Entstehung von Stratbarkeits- und Ahndungslücken verschärft sich vor dem Hintergrund des Lex-mitior-Grundsatzes des § 2 III StGB (§ 4 III OWiG) , welcher folgendes besagt: " Wird das Gesetz, dass bei Been digung der Tat gi lt, vor der Entscheidung geän de rt, so ist das mild este Gesetz anzuw end en."
76
77
Die Entscheidungen BVe rfG E 81 , 132; BGH St 27, 181; OLG Hamburg NZV 2007 , 372; OLG Kobl en z NJW 2007, 2344; NStZ 1989, 188; OLG Köln NJW 1988,657; OL G Stuttgart NJ W 1990,657; OLG Stuttga rt NS tZ-RR 1999,3 79; LG Bad Keuzn ach ZLR 2001 , 899 ; AG Itzeh oe NZV 200 7, 373 vermitteln einen repräsentativen Überblick über die Probl em lage ; vgl. hierzu HarmslHeine, Ame lung-FS , S. 393 , 397 ; Moll, Blankettstrafgesetzge bung, S. 159 f f.; Satzger, IntStR, § 9 Rn. 7 I ff.; ders., JU RA 2006, 746 , 75 I f.; Schröder, Z LR 2004, 265 , 267 ff:; ders., Lebensmitte lstrafrecht, S. 79,81 ff. BayObLGSt 1992 , 121.
D. Au sprägungen des Assimilierungsprinzips im deutschen Strafrecht
257
Die mildeste aller Rechtslagen ist die Straflosigkeit". War die Handlung des Tä- 91 ters auch nur an einem Tag zwischen Tatbegehung und Urteilszeitpunkt straflos, so wirkt diese Straflosigkeit aufgrund des § 2 BI StGB zurück . Selbst wenn die Mitgliedstaaten Kenntnis von einer bevorstehenden Änderung strafrechtsrelevanter EU-Rechtsakte haben , ist es ihnen nicht immer möglich , mit dem relativ zeitaufwendigen parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren rechtzeitig zu reagieren . Stratbarkeitslücken dieser Art sind wegen des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots (Art . 103 B GG) irreparabel, soweit es um Taten geht , die im Zeitraum zwischen Aufhebung der früheren EU-Verordnung und lnkrafttreten eines auf die neue EU-Verordnung verweisenden Blankettstrafgesetzes begangen worden sind. Lediglich für Taten , die noch vor dem Eintritt des Straflosigkeitszustands begangen wurden (sog . .Altfälle"), kann durch ein nachträgliches Änderungsgesetz die Regelung des § 2 BI StGB (§ 4 BI OWiG) derogiert und die Anwendung des Tatzeitrechts angeordnet werden". Eine derartige Derogation ist verfassungsrechtlich unbedenklich, solange sie nicht als willkürlich einzustufen istso. Nicht zur Schließung von Stratbarkeitslücken infolge fehlender Blankettanpas- 92 sung geeignet sind die in neu gefassten EU-Verordnungen häufig enthaltenen Klauseln , wonach Verweisungen auf die Vorgängervorschrift - also auch die im nationalen Blankettstrafgesetz enthaltene Verweisung - als Verweisung auf die Nachfolgeregelung zu verstehen sind. Da die EU über keine Rechtsetzungskompetenz im Bereich des Kriminalstrafrechts verfügt (§ 4 Rn. 82), vermögen solche Überleitungsbestimmungen keine verbindliche Anordnung über die Anwendbarkeit eines deutschen Blankettstrafgesetzes zu treffen . Es ist also denkbar, dass ein sowohl zum Tatzeitpunkt als auch zum Urteilszeitpunkt mit Strafe bedrohter Verstoß gegen Unionsrecht nur deshalb straflos bleiben muss , weil es zwischenzeitlich infolge einer nicht rechtzeitig vorgenommenen Anpassung des nationalen Strafgesetzes an das geänderte Verweisungsobjekt (EU-Verordnung) eine Ahndungs lücke gab'" . Vor diesem Hintergrund erklärt sich das Bestreben des deut78
79
80
81
BGH NStZ 1992 , 535 , 536 ; Schönke/Sch röder-Eser/Hecker, § 2 Rn . 27 ; König, in: Göhl er, OW iG, § 4 Rn . 5 a. Vgl. z. B. § 8 111 FPersG (BGBI. 12007, 1270): " Ordnungswidrigkeiten gemäß § 8 des Fahrpersonalge setzes. die bis zum 10. Apr il 2007 unter Geltung der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 begangen wurden, werden abweich end von § 4 Abs . 3 de s Ge setzes über Ordnungswidrigke iten nach den zum Zeitpunkt der Tat geltenden Bestimmungen ge ahndet." BVerfGE 81, 132, 136f., NJW 2008, 3769; OLG Bamberg DAR 2008, 100; OLG Dresden DAR 2008,153 ; OLG Düsseldorf NJW 2008, 930, 931 ; OLG Koblen z NZ V 2008, 311 , 312 , OLG Stuttgart N StZ-RR 1999, 380 , Schönke/Schröder- EserIHecker , § 2 Rn. 14; Fischer, StGB, § 2 Rn. 12; vgl. aber Harms/Heine , Amelung-ES, S. 393, 40 I (Bedenken im Hinblick auf Art . 3 I GG) sowi e LK-Dannecker, § 2 Rn . 59 ff., Satzger, IntStR, § 9 Rn . 74 (Grundsatz de s Vertrauen sschutzes mu ss beachtet werden). Nicht gefolgt werden kann dem von Harms/Heine, Amelung-FS, S. 293 , 398 , 401 ff. unterbreiteten Vorschlag, unionsrechtsakzessorische Blankettstrafgeset ze gen erell als Zeitgese tze (§ 2 IV StGB) zu begr ei fen, um auch bei der en nicht recht zeit iger Anpassung an e ine neue Ausfüllungsnorm unerwünschte Strafbarkeitslücken zu vermeide n; vgl. hierzu Schönke/Schröder-Eser/Hecker, § 2 Rn. 35 m. w. N .
258
§ 7 Assimilierungsprinzip
schen Gesetzgebers, Regelungsmodelle anzuwenden, die es ermöglichen sollen, ohne Durchführung eines aufwendigen Gesetzgebungsverfahrens auf Änderungen der EU-Rechtslage zu reagieren und Sanktionierungslücken zu vermeiden (vgl. hierzu die nachfolgend beschriebenen Modelle 2 und 3).
c) Strafbewehrung von Unionsrecht durch Festlegungen des deutschen Verordnungsgebers 93 Modell 2: Der deutsche Verordnungsgeber wird gesetzlich ermächtigt, durch
Rückverweisung die Normen des Unionsrechts näher zu bezeichnen, deren Verletzung in einer vorgeformten Blankettnorm mit Bußgeld oder Strafe bedroht sind . 94 Blankettgesetze die ser Kategorie verweisen im Gegensatz zur erstgenannten nicht selbst auf die zu bewehrende EU-Verordnung, sondern überlassen dem nationalen Verordnungsgeber die Festlegung, welches unionsrechtliche Ge- oder Verbot bußgeld- oder strafbewehrt sein soll. Dabei bedient sich der Ges etzgeber sog . "Rückverweisungsklauseln". Der Gesetzgeber verfolgt mit die ser Gesetzgebungstechnik das Ziel, einem zeitaufwendigen formell en Gesetzgebungsverfahren zu entgehen, welches um der Verm eidung von Strafbarkeitslücken willen durchgeführt werden mü sste , wenn sich das Verweisungsobj ekt (EU-Verordnung) als zentra ler Bestandteil des Blankettgesetzes ände rt. Exemp larisch für Mod ell 2 stehen Straf- und Bußgeldblankette wie §§ 48 I N r. 3, 4, 49 Nr. 6, 7, 50 11 N r. 12 WeinG82jeweils i. V. m. § 51 WeinG ; §§ 58 11I Nr. 1,2,59 11I N r. 1,2 a, b, 60 IV Nr. I a, b LFGB83jeweils i. V. m. § 62 I N r. 1,2 a, b LFGB sowie §§ 26 I N r. 11 , 27 I N r. 3 ChemG84. 95 Anschauungsmaterial für die verfassungsrechtliche Diskussion soll im Folg enden das Strafblankett des § 49 Nr. 6 WeinG liefern . Die Bestimmung lautet: " Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer entgegen einer unm ittelb ar geltenden Vor schrift in Recht sakten der Europäischen Gemeinschaft ein Erzeugnis mit irrefüh renden Bezeichnungen, Hinwe isen, sonstigen Anga ben oder Aufmachunge n in den Verkehr bringt, einführt, ausführt oder zum Gegenstand der Werbun g macht, sowei t eine Rechtsvorschrift nach § 51 für einen bestimmten Tatbes tand auf diese Strafvorschr ift verweist."
96 Ergänzt wird die Strafbestimmung durch § 51 Nr. 1 WeinG : " Das Bunde sministerium für Verb rauche rschutz, Ernährun g und Landwirtschaft wird ermächt igt, durch Rechtsverordnung ohn e Zustimmung des Bundesrates, sowe it dies zur Durch setzung der Rechtsakte der Europäischen Gemeinscha ften erforderlich ist, die Tatbestände zu bezeichn en, die als Straftat nach § 48 I Nr. 3 oder 4 oder § 49 Nr. 6 oder 7 zu ahnd en sind."
82 83
84
Weingesetz i. d. F. d. Bekanntmachun g v. 16. Mai 2001 (13GB!. 12001 ,985). Lebensmittel- und Futter mittelgesetzbuch - LFGB - v. I. September 2005 (13G B!. I 2005 , S. 2618). Chemikaliengesetz i. d. F. v. 2. Juli 2008 (13GB I. 1 2008 , 1146).
D. Au sprägungen des Assimilierungsprinzip s im deut schen Strafrecht
259
Von dieser Ermächtigung hat der Verordnungsgeber in der Verordnung zur Durchsetzung des gemeinschaftlichen Weinrechts (Durchsv'Or" Gebrauch gemacht. In § 3 DurchsVO werden bestimmte vorsätzlich begangene Verstöße gegen dort bezeichnete Verordnungen dem Straftatbestand des § 49 I Nr. 6 WeinG unterstellt. Über § 49 Nr. 6 WeinG (und gleich strukturierte Straf- und Bußgeldblankette) dürfte aus mehreren Gründen das Verdikt der Verfassungswidrigkeit zu fällen sein'". Die Stratbestimmung überlässt die zentrale Grundentscheidung, das "Ob" der Stratbarkeit, dem Verordnungsgeber und unterläuft damit den von Art. 103 11, 104 I GG geforderten Parlamentsvorbehalt. Zwar beschreibt § 49 Nr. 6 WeinG bestimmte Tathandlungen ("Inverkehrbringen", " Einführen" usw.) und benennt die tauglichen Tatobjekte ("Erzeugnis mit irreführenden Bezeichnungen" usw .). Stratbares Unrecht stellen die genannten Verhaltensweisen jedoch nur dar, wenn sie gegen Unionsrecht verstoßen. § 49 Nr. 6 WeinG gibt die einschlägigen Verordnungen aber nicht selbst an, sondern begnügt sich insoweit lediglich mit einer pauschalen Verweisung auf alle unmittelbar geltenden Vorschriften in Rechtsakten der Gemeinschaft. Erst der Verordnungsgeber und nicht - wie vom Grundgesetz gefordert - das Parlament, legt durch die genaue Bezeichnung der Verordnung die wesentliche Stratbarkeitsbedingung fest, welche Unionsrechtsverstöße überhaupt tatbestandsrelevant sind . Etwas zugespitzt formuliert lassen sich derartige Verweisungen in ihrem sachlichen Gehalt auf folgende Tatbestandsfassung reduzieren, welche die glatte Aushebelung des Parlamentsvorbehalts deutlich werden lässt": " Stratbar bzw . ahndbar ist, wer gegen eine Vorschrift in unmittelbar geltenden Rechtsakten der Union verstößt, die nach Ansicht eines Verordnungsgebers straf- bzw. bußgeldbewehrt sein soll." Stratblankette dieser Art geraten regelmäßig auch in Konflikt mit Art . 80 I S. 2 GG, da sich erst aus der nationalen Rechtsverordnung, nicht aber schon aus dem Blankettgesetz vorhersehen lässt , welchen Inhalt die bewehrten Ge- und Verbote haben werden'". Schließlich verstoßen sie, soweit sie dynamische Verweisungen auf das jeweils geltende Unionsrecht enthalten, aus dem der Verordnungsgeber die zu bewehrenden EU-Rechtsakte erst noch auswählen und festlegen soll, gegen das von Art . 103 11 GG geforderte Gebot der Normenklarheit (Bestimmtheitsgebot)89. Art . 103 11 GG verlangt, dass die Voraussetzungen der Stratbarkeit und die Art der Strafe schon aufgrund des Gesetzes und nicht erst aufgrund der hierauf gestützten Rechtsverordnung vorhersehbar sind . Der Konflikt mit dem Parlamentsvorbehalt und dem Bestimmtheitsgebot tritt noch deutlicher zutage bei denjenigen Straf- und Bußgeldblanketten, die - wie §§ 48 I Nr. 4, 49 Nr. 7 WeinG ; §§ 58 III Nr. 2, 59 III Nr. 2, 60 IV Nr. 1,2 LFGB 8S 86
87 88
89
DurchsVO i. d. F. d. Bekanntmachung v. 7. August 2001 (BOB!. 12001 ,2159). Vg!. hierzu Enderle, Blankettstrafge setze, S. 265 ff. ; Moll, Blankettstrafge setzgebung, S.148 ff.; Satzger, Europäisierung, S. 281 f.; ders., IntStR, § 9 Rn. 70. Vg!. hierzu bereits Moll, ßlankettstrafgesetzgebung, S. 149. Satzger , IntStR , § 9 Rn. 70; Volkmann, Z RP 1995,220 ff:; Ziekow, JZ 1999,963,968. Ambos, IntStR , § II Rn. 28; Fischer, StOB , § 1 Rn. 5 a; Satzger, IntStR, § 9 Rn. 67; vg!. auch OLO Koblenz NStZ 1989 , 188 f.
97
98
99
100
260
§ 7 Assimilierungsprinzip
die Bewehrung des jeweils geltenden Unionsrechts von der Entscheidung des nationalen Verordnungsgebers darüber abhängig machen, ob die zu bewehrende EUVerordnung inha ltlich einer Regelung (nationale Rechtsverordnung) entspricht , zu deren Er lass das nationale Gesetz erm ächtigt (sog. " Entsp r ech ungskla usel" ). So bestimmt z. B. § 58 III Nr. 2 LFGB: " Ebenso (M it Freiheit sstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe) wird bestraft, wer eine r anderen als in Absatz 2 gen annten unm ittelbar geltenden Vo rschrift in Rechtsakten der Europäischen Gem einschaft zuwiderhandelt, die inhaltlic h eine r Regelun g entspricht, zu der die in Ab satz I Nr. 18 genannten Vorschriften ermächtige n, so weit eine Rechts verordnung nach § 62 Abs . I N r. I für eine n bestimmten Tatbes tand auf diese Vor schri ft verw eist."
101
Zu den in § 58 I Nr. 18 LFGB genannten Ermächtigungsnormen gehört § 13 I Nr.2 LFGB. Diese erm ächtigt den deutschen Verordnungsgeber zum Er lass einer Regelung (Rechtsverordnung), die für bestimmte Leben smittel besondere Anforderungen an das Her stellen, Behandeln oder Inverkehrbringen stellt. Damit wird dem Yerordnungsgeber bereits auf nationaler Ebene ein umfassender Spielraum zur Bewehrung überlassen, der sich jedoch auf gesetzlich vorgegebene Spezifizierungen beschränkt und daher den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots noch genügt. Durch die in § 62 I Nr. I LFGB erteilte Ermächt igung an den Yerordnungsgeber, diejenigen Vorschriften des Unionsrechts auszuwählen und zu bezeichnen, die einer nach § 13 I Nr . 2 LFGB erlassenen Rechtsverordnung inhaltlich entsprechen, wird die verfassungsrechtliche Grenze jedoch überschritten. Nicht der Gesetzgeber trifft hier die konstitutive Entscheidung über die Voraussetzungen der Strafbarkeit, sondern der Verordnungsgeber, dem sowohl die Auswahl bezüglich der Bezeichnung von Verhaltensweisen als auch deren normative Bewertung überlassen ist. Aus Sicht des Normadressaten ste llen Strafblankette die ser Art ein schier undurchdringliches " Yerwe isungsgestrüpp" dar, die dem Bestimmtheit sgebot nicht mehr gerecht werden90.
102 Modell 3 : Der deutsche Yerordnungsgeber wird gesetzlich ermächtigt, innerhalb eine s bestimmten Rahmens zur Absicherung und Durchsetzung unionsrechtlicher Ge- oder Verbote Bußgeld- oder Strafvorschriften zu erlassen . Exemplarisch für die ses Regelungsmodell steht das Bußgeldblankett des § 1 III Nr. 2 HandelsklassenG91 : " Soweit zur Dur ch führun g von Verordnungen des Rates od er der Kommi ssion der Europäi sche n Gemeinschaften übe r Quali tätsnorm en , Verkaufsno rmen oder ähnliche Vo rschriften , die einer Regelun g nach diesem Gesetz entspreche n, erforde rlich ist, kann da s Bundes minister ium im Einv ernehmen mit dem Bunde smin iste riu m für Wirtsch aft und Tec hnolo gie 90
91
Die Anna hme von Ve rfassungsw idrigkeit der §§ 58 111 Nr. I, 2, 59 111 Nr. 1, 2 a, b, 60 IV Nr. 1 a, b LFGB (§§ 56-5 9 LMB G a. F.) entspricht der h. L.; vgl. LK-Dannecker, § I Rn. 161; Enderle. Blankettstrafgesetze, S. 265 ff.; Kühne, Z LR 2001 ,379,387 ff.; Satzge r. Europ äisierung, S. 283 f.; MüKoStGB/Schmitz, § I Rn. 51 ; a. A. Schroder, Z LR 2004, 265 , 270 ff.; ders., Lebe nsmittelstra frecht, S. 79, 84 ff Handel sklassen ge setz i. d. F. v. 23 . N ovember 1973 (BG Bt. 11973,2201).
E. Literaturhinweise
261
mit Zustimmung des Bunde srates durch Rechtsverordnung das Zuwiderhandeln gegen bestimmte in den Verordnungen des Rates oder der Kommission enthaltene Gebote oder Verbote mit Geldbuße bis zu zehntausend Euro bedrohen ."
Den Anforderungen der Art. 103 11, 104 I GG kann diese Tatbestandskonstruktion 103 ebenso wenig gerecht werden wie die Mode" 2 zuzuordnenden Blankettbestimmungen . § I III Nr. 2 HandelsklassenG enthält eine Pauschalermächtigung des nationalen Verordnungsgebers, in dem von der Vorschrift relativ grob umrissenen Rahmen Ge- und Verbote des Unionsrechts zu sanktionieren. Es bleibt dem Verordnungsgeber erstens überlassen, zu entscheiden, welche Unionsrechtsakte über Qualitätsnormen, Verkaufsnormen oder "ähnliche Vorschriften" einer Regelung nach diesem Gesetz entsprechen und zweitens, aus den für einschlägig eingestuften Rechtsakten diejenigen auszuwählen, die bußgeldbewehrt sein sollen . Desweiteren dürfte § I III Nr. 2 HandelsklassenG auch gegen den Bestimmtheitsgrundsatz verstoßen, da er die Voraussetzungen der Ahndbarkeit im Hinblick auf die dynamische Verweisung auf jeweils geltendes Unionsrecht nicht bereits aus sich heraus hinreichend deutlich erkennen lässt'" .
3. Zusammenfassende Würdigung Die Bestandsaufnahme der in der deutschen Blankettgesetzgebung anzutreffenden 104 Regelungsmodelle fuhrt zu dem ernüchternden Ergebnis , dass eine Vielzahl von Straf- und Bußgeldblanketten, die der Durchsetzung unionsrechtlicher Ge- und Verbote dienen , mit den Vorgaben der Art. 10311, 104 I GG nicht in Einklang stehen . Verfassungsrechtlich unbedenklich sind nur statische Verweisungen auf bestimmte EU-Rechtsakte im förmlichen Strafgesetz (Modell 1). Diese laufen jedoch - wie gezeigt - stets Gefahr, infolge einer Änderung des Verweisungsobjekts ins Leere zu laufen . Sanktionslücken tun sich auf, wenn das nationale Strafgesetz nicht rechtzeitig an den geänderten EU-Rechtsakt angepasst wird . Aus verfassungsrechtlichen Gründen bietet die Einschaltung des Verordnungsgebers als .Anpassungsinstanz" (Modelle 2 und 3) keinen gangbaren Ausweg aus der Problemlage . Der rechtstechnisch einfachste Weg, eine zuverlässige und lückenlose Stratbewehrung des Unionsrechts zu erzielen, bestünde darin , der Union selbst die Sanktionsgewalt für Verstöße gegen EU-Rechtsakte zu übertragen .
E. Literaturhinweise Ambos, Internationales Strafrecht, 2. Aufl., 2008, § 11 Rn. 14-29 Bleckmann , Anmerkung zum Fall "Griechischer Mais", WUR 1991,285 Böse, Strafen und Sanktionen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1996, S. 409-424 Dannecker, Die Entwicklung des Strafrechts unter dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts, JURA 1998, 79
92
Satzger, Europäi sierung , S. 284 f.
262
§ 7 Assimilierungsprinzip
ders., in: Wabnitz/J anovsky (Hrsg.), Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 3. Aufl., 2007, 2. Kap. Rn. 103-108, 123 ders., Die Dynamik des materiellen Strafrechts unter dem Einfluss europäischer und internationaler Entwicklungen, ZStW 117 (2005), S. 697 ders., Das materielle Strafrecht im Spannungsfeld des Rechts der EU, JURA 2006, 95 Enderle, Blankettstrafgesetze, 2000, S. 54-58, 198-200,265-271 Gröblinghoff, Die Verpflichtung des deutschen Strafgesetzgebers zum Schutz der Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1996, S. 9-37 Harms/Heine, EG-Verordnung und Blankettgesetz, Amelung-FS, 2009, S. 393 Moll, Europäisches Strafrecht durch nationale Blankettstrafgesetzgebung?, 1998, passim Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, 2001, S. 188-290,210-290,328-392 ders., Internationales und Europäisches Strafrecht, 4. Aufl., 2010, § 9 ders., Die zeitliche Geltung des Strafgesetzes - ein Überblick über das .Jntertemporale Strafrecht", JURA 2006, 746. Schröder, Das Lebensmittelstrafrecht als konkretes Beispiel für die Europäisierung des nationalen Strafrechts: Über die Verknüpfung des Blankettstrafgesetzes mit der EGVerordnung und die Europäisierung der Fahrlässigkeits- und Unterlassungsdelikte, in: Sosnitza, Olaf (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen im deutschen und europäischen Lebensmittelsrecht, 2007, S. 79 Sinn, Die Einbeziehung der internationalen Rechtspflege in den Anwendungsbereich der Aussagedelikte, NJW 2008, 3526 Tiedemann, Anmerkung zum Fall "Griechischer Mais", EuZW 1990, 100
F. Rechtsprechungshinweise EuGHE 1977, 137 (" Amsterdam Bulb (( - Befugnis zur Sanktionierung von EG-Rechtsverstößen) EuGHE 1984, 1891 (" von Colson und Kamann (( - Diskriminierungsverbot) EuGHE 1989, 2965 ff. = EuZW 1990, 99 (" Griechischer Mais (( - Gleichstellungsgebot und .Jvlindesttrias") EuGHE 1990,2911 ("Hansen (( - verschuldensunabhängige Strafbarkeit) EuGHE 1991,4371 ("Strafverfahren gegen Paul Vandevenne u. a." - keine Pflicht zur Einführung einer strafrechtlichen Verbandshaftung) EuGHE 1997, 6959 (" Französische Landwirte (( - strafrechtliche Schutzverpflichtung der Mitgliedstaaten) EuGH NJW 2003, 3185 = EuZW 2003, 592 (" Brennerblockade (( - strafrechtliche Schutzverpflichtung der Mitgliedstaaten) EuGH EuZW 2010, 227 (Auslegung der Richtlinie über Insidergeschäfte - .Jvlindesttrias") BVerfG NJW 2008,3769 (Verfassungskonformität einer Derogation des § 4111 OWiG) BGHSt 17, 121 (Bedeutung der Verweisungsnorm des Art. 194 EAGV) BGHSt 42,219 (Verfassungskonformität von Blankettbestimmungen des BNatSchG) BayObLGSt 1992, 121 (Strafbarkeitslücken infolge Austausches des Verweisungsobjekts) OLG Koblenz NJW 2007,2344 (Ahndunglücken nach EU-Rechtsänderung)
G. Zusammenfassung von § 7
263
G. Zusammenfassung von § 7 Die Union ist - abgesehen von der durch § 325 IV AEUV eröffneten Handlungs- 105 kompetenz - mangels eigener Rechtssetzungsbefugnisse auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts nicht in der Lage, durch originäre europäische Strafgesetze selbst für den strafrechtlichen Schutz ihrer Rechtsgüter zu sorgen . Sie ist daher darauf angewiesen , dass die Mitgliedstaaten durch die Ausgestaltung und Anwendung ihres Strafrechts dafür Sorge tragen, strafwürdige und strafbedürftige Verstöße gegen Unionsrecht wirksam zu bekämpfen . Die Indienststellung nationaler Strafund Bußgeldnormen zum Schutze von Unionsinteressen bzw. zur Durchsetzung unionsrechtlicher Ge- und Verbote bezeichnet man als Assimilierung. In dem berühmten "Mais-Urteil", dem ein Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen die Griechische Republik zugrunde lag, postulierte der EuGH die Pflicht der Mitgliedstaaten, Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht (Unionsrecht) nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln zu verfolgen wie nach Art und Schwere vergleichbare Zuwiderhandlungen gegen nationales Recht (Gleichstellungserfordernis). Zwar verbleibe den Mitgliedstaaten die Wahl der Sanktionen. Die innerstaatlichen Stellen müssten aber bei Verstößen gegen Gemeinschaftsrecht (Unionsrecht) mit derselben Sorgfalt vorgehen , die sie bei der Anwendung der entsprechenden nationalen Vorschriften walten ließen. Darüber hinaus müssten die angedrohten Sanktionen wirksam , verhältnismäßig und abschreckend (sog. "Mindesttrias") sein. Als strafrechtlich zu schützende Unionsinteressen kommen neben dem EU-Finanzhaushalt vor allem die Unbestechlichkeit ihrer Beamten, die Wahrung von Dienstgeheimnissen, die europäische Rechtspflege und die Realisierung der Grundfreiheiten, aber auch die Durchsetzung der Unionspolitiken etwa auf den Gebieten Marktorganisation, Wettbewerb, Verbraucherschutz und Umweltschutz in Betracht. Das vom EuGH auf der Grundlage des Prinzips der Unionstreue (Art. 4 III 106 UA 2, 3 EUV; ex-Art . 10 EGV) ausgeformte unionsrechtliche Rahmensystem für mitgliedstaatliches Strafrecht im Dienste des Unionsrechts legt zum einen Untergrenzen für Sanktionierungspflichten fest, die nicht unterschritten werden dürfen. Mitgliedstaatliches Strafrecht darf zum anderen aber auch bestimmte Obergrenzen, die sich aus den Grundfreiheiten und allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts ergeben , nicht überschreiten. Der unionsrechtliche Rahmen , in den das Strafrecht eingebunden ist, belässt den Mitgliedstaaten jedoch einen relativ breiten Spielraum für die inhaltliche Ausgestaltung dieser Sanktionsnormen. Einerseits sind die Mitgliedstaaten nicht zur Einführung einer Strafbarkeit juristischer Personen oder zur Schaffung einer verschuldensunabhängigen (objektiven) strafrechtlichen Verantwortlichkeit verpflichtet. Andererseits steht es ihnen frei, auf nationaler Ebene genau diese strafrechtlichen Maßnahmen zu ergreifen . Dem aus der Loyalitätspflicht (Art. 4 III UA 2, 3 EUV) und - bezogen auf den 107 Schutz der EU-Finanzinteressen - aus Art. 325 II AEUV abzuleitenden Assimilierungserfordemis kann zum einen durch eine unionsrechtskonforme Auslegung nationaler Strafrechtsnormen Rechnung getragen werden , soweit dies das innerstaatliche Verfassungsrecht und die nationale Strafrechtsdogmatik zulassen . Eine wei-
264
§ 7 Assimilierungsprinzip
tere Methode, die zu einer Ausdehnung des Schutzbereiches deutscher Strafgesetze führt, ist die Schaffung von Gleichstellungsbestimmungen (z. B. §§ 108 d, 162 I, 264 VII S. 2 Nr. 2 StGB; Art. 2 § 1 EUBestG) sowie von unionsrechtsakzessorischen Straf- und Bußgeldblanketten. Diese Blanketttatbestände zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Zuwiderhandlung gegen eine blankettausfüllende EU-Verordnung, auf die sie verweisen, mit Strafe oder Bußgeld bedrohen. Verfassungsrechtlich unbedenklich sind jedoch nur statische Verweisungen auf bestimmte EU-Rechtsakte. Solche Blankettgesetze laufen jedoch Gefahr, infolge einer Änderung ihres Verweisungsobjekts ins Leere zu laufen mit der Folge, dass unerwünschte Ahndungslücken entstehen. Die in der deutschen Gesetzgebung verbreitete Regelungspraxis, die Bezeichnung des Verweisungsobjekts dem nationalen Verordnungsgeber zu überlassen, steht in Konflikt mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben der Art. 80 I S. 2, 103 11, 104 I GG.
B. Hecker, Europäisches Strafrecht, DOI 10.1007/978-3-642-13127-1_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
266
§ 8 Strafrechtliche Annexkompetenz der EU
b) die Verheimlichung oder Verschleierung der wahren Natur, Herkunft, Lage, Verfügung oder Bewegung von Vermögensgegenständen oder von Rechten oder Eigentum an Vermögensgegenständen in Kenntnis der Tatsache, dass diese Gegenstände aus einer kriminellen Tätigkeit oder aus der Teilnahme an einer solchen Tätigkeit stammen; c) der Erwerb, der Besitz oder die Verwendung von Vermögensgegenständen, wenn dem Betreffenden bei der Übernahme dieser Vermögensgegenstände bekannt war, dass diese Gegenstände aus einer kriminellen Tätigkeit oder aus der Teilnahme an einer solchen Tätigkeit stammen. d) die Beteiligung an einer der in den vorstehenden Buchstaben aufgeführten Handlungen, Zusammenschlüsse zur Ausführung einer solchen Handlung, Versuche einer solchen Handlung, Beihilfe, Anstiftung oder Beratung zur Ausführung einer solchen Handlung oder Erleichterung ihrer Ausführung." Der Begriff der "kriminellen Tätigkeit" wird in Art . 3 Nr . 4 und 5 definiert. Art . 39 bestimmt: "Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die dieser Richtlinie unterliegenden natürlichen und juristischen Personen für Verstöße gegen die nach dieser Richtlinie erlassenen nationalen Vorschriften verantwortlich gemacht werden können. Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein ." Frage 1: Vor welchem rechtspolitischen Hintergrund ist die Ablehnung des Kommi ssionsvorschl ags v. 23 . März 1990 zu sehen? (Vgl. hierzu Rn. 12-14?) Frage 2 : Bestanden gegen die in Art . 14 der I. GeldwRL enth altene Anweisung kompetenzrechtliche Bedenken? (Vgl. hierzu Rn. 15) Frage 3 : Bestehen gegen die in Art . 1 der 3. GeldwRL enthaltenen detaillierten Vorgaben zur Tatbestandsausgestaltung kompetenzrechtliche Bedenken? (Vgl. hierzu Rn. 17-20)
I. Anweisungskompetenz vor und nach "Lissabon" 2 In den 1990er Jahren unternahm die Kommission zahlreiche Anläufe , den Mitgliedstaaten im Wege von Richtlinien die Verpflichtung aufzuerlegen, nationale Strafbestimmungen zum Schutze bestimmter Gemeinschaftsinteressen zu erlasserr'. Anweisungen dieser Art wirken sich auf einen Gesetzgebungsbereich aus, der - auch nach Inkrafttreten des Reformvertrags von Lissabon - in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten fällt (§ 4 Rn. 67 ff., 82). Damit stellte sich aus europarechtlicher Sicht die vielfach diskutierte Grundsatzfrage, ob der früheren EG eine Anweisungskompetenz auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts zustand und wie weit diese ggf. reichte . Vereinzelt wurde der EG eine strafrechtliche Anweisungsbefugnis vor allem unter Hinweis auf die nationale Souveränität im Bereich der Kriminalstrafgesetzgebung schlechthin abgesprochen". Es wurde die Gefahr beschworen, dass der demokratisch legitimierte nationale Gesetzgeber Ambos, IntStR, § 11 Rn. 30 ff.; Dannecker, Jura 2006,95,97 f.; Hecker, JA 2002 , 723 , 726 f.; ders., JA 2007, 561 ff.; Hugger , Strafrechtliche Anw eisungen, S.48 ff.; Satzger , Europ äisierung, S. 393 ff. Braum, KritV 1998, 460 , 471 f.; Moll, Blankettstrafge setzgebung S. 207 ff., 215 ff., 224; Oehler, Jescheck-FS, S. 1399, 1408; Rüter, ZStW 105 (1993), S. 30, 42 .
A. Strafrechtsharmonisierung durch Richtlinien
267
die auf europäischer Ebene getroffenen strafrechtlichen Zielbestimmungen nur noch exekutiere. Daran war richtig, dass die fehlende Rechtssetzungskompetenz der EG auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts nicht umgangen werden durfte, indem solche Harmonisierungsmaßnahmen zugelassen werden, die im Ergebnis dens elben Effekt wie die Setzung von Kriminalstrafrecht hätten. Die Akzeptanz einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG stellte die Rechtssetzungskompetenz der Mitgliedstaaten aber jedenfalls dann nicht in Frage , wenn sie nicht so weit gefasst wurde, dass die Mitgliedstaaten eine " von Brüssel" in Tatbestand und Rechtsfolge detailliert ausformulierte Stratbestimmung ohne eigene gesetzgeberische Gestaltungsrechte umsetzen m üssen". Nach ganz überwiegend vertretener und zutreffender Auffassung im Schrifttum (Rn . 31) war eine strafrechtliche Anweisungsbefugnis der EG im Grundsatz anzuerkennen. Meinungsunterschiede bestanden nicht in der Frage des "Ob" einer strafrechtlichen Anweisungsbefugnis, sondern lediglich im Hinblick auf ihre Reichweite? In dem durch den Reformvertrag von Lissabon neu geschaffenen Art. 83 11 AEUV wird die strafrechtliche Anweisungskompetenz der Union als Rechtsnachfolgerin der EG auf eine eindeutige primärrechtliche Rechtsgrundlage gestellt. Diese Bestimmung normiert eine strafrechtliche Annexkompetenz der EU in harmonisierten Politikbereichen: "Erweist sich die Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften der Mitglied- 3 staaten als unerlässlich für die wirksame Durchführung der Politik der Union auf einem Gebiet, auf dem Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind, so können durch Richtlinien Mindestvorschriften für die Festlegung von Straftaten und Strafen auf dem betreffenden Gebiet festgelegt werden. Diese Richtlinien werden unbeschadet des Artikels 76 gemäß dem gleichen ordentlichen oder besonderen Gesetzgebungsverfahren wie die betreffenden Harmonisierungsmaßnahmen erlassen."
Die Bedeutung der nunmehr in Art. 83 11 AEUV verankerten strafrechtl ichen An- 4 nexkompetenz und der hieraus folgenden Anweisungsbefugnis der EU erschließt sich nur, wenn man die historische Entwicklung der EG-Harmonisierungspolitik auf dem Gebiet des Strafrechts nachvollzieht (Rn . 9 ff.). Diese war geprägt von dem anfänglichen Widerstand der Mitgliedstaaten geg en alle Versuche der Kommission, spezifisch kriminalstrafrechtliche Anweisungen in Richtlinien oder Verordnungen festzuschreiben'', Einen einschneidenden Wendepunkt für die Strafrechtsharmonisierung im Rahmen der früheren I. Säule der EU markieren die beid en Grundsatzurteile des EuG H aus den Jahren 2005 und 2007 (Rn . 30 f.). Die vorstehend beschriebenen Entwicklungsschritte lassen sich besonders deutlich anhand des Geldwäsche- (Rn . 11 -20), Geldfälschungs- (Rn. 21-24) und Umweltstrafrechts (Rn . 25 - 35) aufzeigen.
Satzger, Europä isierung, S. 452; Schröder, Richtl inien, S. 184 ff.; Tiedemann, NJ W 1993,23,26; Weigend, ZStW 105 (1993), S. 774 , 799. Ambos, IntStR, § 11 Rn. 30 Ir; Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 53 ff.; Satzger, Europäisierung, S. 403 ff.; ders. , IntStR, § 9 Rn. 39 . VgI. zu ge scheiterten Vorhaben der Kommi ssion Diebl ich, Schutz der Rechtsgüter der EG, S. 262 ff. und Hugger, Strafrechtl iche Anweisungen, S. 35 ff.
268
§ 8 Strafrechtliche Annexkompetenz der EU
5 Zentrale Voraussetzung für die Begründung einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz und einer damit korrelierenden Umsetzungsverpflichtung der Mitgliedstaaten war und ist - ausgehend von dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (§ 4 Rn. 45) - der Nachweis einer entsprechenden Rechtsgrundlage im Primärrecht. Dieses Erfordernis besteht auch nach Schaffung des Art. 83 11 AEUV fort, da eine Annexkompetenz zur Strafrechtsangleichung nur angenommen werden kann , wenn sie bereits in einer den betreffenden Politikbereich regelnden Vertragsbestimmung als .Lmplied power " enthalten ist. Art. 83 11 AEUV knüpft an diese strafrechtlichen Harmonisierungsbefugnisse der Union an und formt diese konkret aus (Rn . 36) . Die aus der strafrechtlichen Annexkompetenz resultierende Anweisungsbefugnis kann somit - anders als die originäre Strafrechtsangleichungskompetenz nach Art. 83 I AEUV (§ II Rn. 2) - nicht allein auf Art. 83 11 AEUV gestützt werden", sondern bedarf einer zusätzlichen Rechtsgrundlage im Primärrecht. So ist z. B. die Harmonisierung des Umweltstrafrechts künftig auf Art. 83 11 AEUV i. V. m. Art. 192 I AEUV zu stützen . Dabei ist die Anweisungskompetenz streng von der Rechtssetzungskompetenz zu unterscheiden, welche der Union im Bereich des Kriminalstrafrechts gerade nicht eingeräumt wurde . Die genannten Kompetenzarten unterscheiden sich im Hinblick auf ihren jeweiligen Regelungsgegenstand und ihr Regelungsziel. Eine Anweisung erzeugt keine unmittelbar geltenden Strafrechtsnormen, sondern beinhaltet lediglich eine an die Mitgliedstaaten adressierte gesetzgeberische Handlungsptlicht. Den nationalen Gesetzgebern wird im Ziel verbindlich vorgeschrieben, nationales Strafrecht zu schaffen. 6 Das typische Instrument der Anweisung ist - wie sich nunmehr auch explizit aus Art. 83 11 AEUV ergibt - die Richtlinie (§ 4 Rn. 52). Die Anweisung, Strafgesetze zu schaffen , kann aber auch in einer (unmittelbar in allen Mitgliedstaaten geltenden) Verordnung (§ 4 Rn. 51) enthalten sein, wenn diese vorschreibt, dass der Verstoß gegen ein Verordnungsgebot oder -verbot mit strafrechtlichen Mitteln zu sanktionieren ist!''. Eine solche Verordnung beinhaltet dann hinsichtlich der Sanktionierungsverptlichtung materiell eine richtliniengleiche - und insoweit mit Art. 83 11 AEUV vereinbare - Anweisung an die mitgliedstaatliehen Gesetzgeber, so dass insoweit ausnahmsweise eine Umsetzung der Verordnung durch einen nationalen Legislativakt erforderlich und zulässig ist. 7 Unmittelbar anwendbares Strafrecht vermag allein der nationale Gesetzgeber zu schaffen . Die Strafbarkeit des Einzelnen folgt also stets aus dem nationalen Strafgesetz, nicht etwa aus einer Richtlinie. Wenn eine Anweisung so detaillierte Vorgaben über Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgen enthält, dass dem nationalen Gesetzgeber praktisch überhaupt kein eigener inhaltlicher Ausgestaltungsspielraum mehr verbleibt, nähert sie sich bedenklich stark einem kompetenzrechtlich unzulässigen Rechtsetzungsakt an.
10
A. A. Satzger, IntStR, § 9 Rn. 38, 50. Hugger, Strafrechtliche Anwei sungen , S. 77 ff.; Satzger, Europäisierung, S. 394 .
A. Strafrechtsharmonisierung durch Richtlinien
269
Beispiel: Er und Rat erlassen eine Richtlinienbestimmung de s Inhalts " Die Mitgliedstaaten 8 stellen sicher, das s vor sätzliche und fahrl ässige Zuwiderhandlungen gegen die in Art . 1 der Verordnung (EU) xy genannten Ge- und Verbote mit Fre iheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft werden." - Eine derart konkrete Anweisung würde den nationalen Gesetzgebern keinerlei Um setzungsspielraum mehr belassen . Sie käme im Ergebnis einem supranationalen Strafgesetz in Form einer unmittelbar in allen Mitgliedstaaten anwendbaren Verordnung gle ich, welche bestimmt: " Wer vorsätzlich oder fahrlässig den in Art. 1 der Verordnung (EU) xy genannten Ge- oder Verboten zuwiderhandelt, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft." Anweisungen dieser Art stellen eine unzul ässige Umgehung der fehlenden Strafrechtssetzungskompetenz der EU dar .
11. Entwicklung der Harmonisierungspolitik
Während Kommission und EP schon seit jeher den Standpunkt vertraten, dass die 9 Gemeinschaft befugt sei, durch den Erlass von Sekundärrechtsakten auf die mitgliedstaatliehen Strafrechtssysteme Eintluss zu nehmen, standen die nationalen Regierungen einer solchen Anweisungskompetenz grundsätzlich ablehnend gegenüber. Auch die deutsche Bundesregierung lehnte eine Anweisungsbefugnis der EG auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts ab und pochte auf das Recht der Mitgliedstaaten, über die Setzung und Ausgestaltung strafrechtlicher Normen nach eigenem Ermessen zu bestimmen 11 . Dies bedeutete aber nicht , dass die Mitgliedstaaten nicht bereit gewesen wären , Strafvorschriften zum Schutze von Gemeinschaftsinteressen zu erlassen. Jedoch resultierten solche Rechtsetzungsakte aus ihrer Sicht nicht aus einer sekundärrechtlich begründeten Umsetzungsverptlichtung, sondern blieben Ausdruck einer souverän getroffenen einzelstaatlichen Entscheidung. Bestrebungen der Kommission, die Mitgliedstaaten auf die Ergreifung spezi- 10 fisch kriminalstrafrechtlicher Maßnahmen zum Schutz supranationaler Interessen festzulegen, waren angesichts der mitgliedstaatliehen Souveränitätsvorbehalte anfanglich nur von bescheidenem Erfolg gekrönt. Kompetenzrechtlich unstreitig waren sekundärrechtliche Anweisungen nur, soweit sie eine bereits aus dem Loyalitätsgebot (ex-Art. 10 EGV) abzuleitende Sanktionierungsptlicht (§ 7 Rn. 26 ff.) deklaratorisch wiedergaben bzw . konkretisierten'<. Charakteristisch für die frühere Sekundärrechtspraxis waren daher Anweisungen, die lediglich eine allgemein formulierte Forderung nach abschreckenden, wirksamen und verhältnismäßigen Sanktionen enthielten, ohne deren Art und inhaltliche Ausgestaltung im Einzelnen festzulegen . Insbesondere wurde in einschlägigen Rechtsakten die zurückhaltende Formulierung gewählt, die Mitgliedstaaten hätten "geeignete" oder "erforderliche" Maßnahmen zu treffen (Rn . I). Sekundärrechtsakte dieser Ausprägung überließen es den nationalen Gesetzgebern, nach eigenem ptlichtgemäßem Ermessen zu beurteilen, ob es zum Schutz supranationaler Interessen der Schaffung einer Strafnorm überhaupt bedarf, wie diese auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite zu gestalten und in das vorhandene Strafrechtssystem zu integrieren ist. 11 12
Satzger. Europäisierung, S. 400 ff.; vgl. auch BT-Drs. 14/4991 , S. 9. Eisele, JZ 2001 , 1157, 1158; Satzger. Europ äisierung, S. 395, 459.
270
§ 8 Strafrechtliche Annexkompetenz der EU
1. Geldwäschestrafrecht 11 Die 1. GeldwRL v. 10. Juni 1991 (Rn . I) wird häufig als praktischer Anwendungsfall für eine Richtlinienanweisung der früheren EG genannt, die zu einer strafrechtlichen Regelung auf nationaler Ebene geführt hat". Mit dem Terminus "Geldwäsche" werden gemeinhin Vorgänge bezeichnet, die darauf abzielen, die illegale Existenz, Quelle oder Verwendung von Geld oder geldwerten Gütern zu verbergen bzw . so zu bemänteln, dass sie aus einer legalen Herkunft herzurühren scheinen." Dies geschieht regelmäßig in der Weise , dass durch kriminelle Aktivitäten erlangte Vermögenswerte in den legalen Finanzkreislauf eingeschleust werden . Es liegt auf der Hand, dass die liberalisierten Wirtschafts- und Finanzstrukturen des zusammenwachsenden Europas kriminellen Wirtschaftsteilnehmern vielfältige Möglichkeiten eröffnen, "schmutzige" (d. h. aus illegalen Handlungen oder Geschäften wie z. B. Betäubungsmittelhandel herrührende) Vermögenswerte in den legalen Wirtschaftskreislauf des Binnenmarktes einzuschleusen, zu verwerten oder zu erneuten illegalen Aktivitäten zu nutzen . Das Phänomen "Geldwäsche" tritt daher in hohem Maße grenzüberschreitend aufs. Von der Überzeugung ausgehend, dass dem grenzüberschreitend operierenden organisierten Verbrechen nur dann wirksam entgegengetreten werden kann , wenn es gelingt, die Einschleusung von Straftatgewinnen in den legalen Wirtschaftsverkehr zu unterbinden, wurden seit Ende der 1980er Jahre auf internationaler und europäischer Ebene Maßnahmen ergriffen, die darauf abzielen, Straftaterträge verkehrsunfähig zu machen . In Deutschland wurde durch das OrgKG16 vom 15. Juli 1992 erstmalig ein Straftatbestand gegen Geldwäsche (§ 261 StGB) geschaffen. Der Gesetzgeber erfüllte damit die auch von Deutschland übernommenen Verpflichtungen aus dem UN-SuchtstoffÜbK vom 20 . Dezember 1988 (§ 5 Rn. 8), dem GeldwÜbK des Europarates vom 8. November 1990 (§ 3 Rn. 14) und der 1. GeldwRL v. 10. Juni 1991 (Rn . I) . Den vorgenannten Rechtsakten ist es zu verdanken, dass sich inzwischen ein welt- und europaweit angeglichenes Niveau der materiel1-rechtlichen Stratbarkeit der Geldwäsche herausbilden konnte.". Der unionsrechtliche Mindeststandard der Geldwäschestratbarkeit wird heute maßgeblich durch die 3. GeldwRL v. 26 . Oktober 2005 (Rn . I) vorgezeichnet". 13
14 15
16
17 18
Ambos, ZStW 114 (2002), S. 236 , 242 ff.; Braum , StV 2003 , 576 , 577 ; Dannecker, Jura 1998, 79, 83 ; Hecker, JA 2002, 723 , 726 ; Mehlhorn , Strafverteidiger als Geldwäscher, S. 188 Ir.; Vogel, Z StW 109 (1997), S. 335 ff: S/S-Stree/Hecker , § 261 Rn. 1 m. w. N. Zu den Gefahrdungspotentialen der Geldwäsche vgl. Gentzik, Europäisierung des Geldwäschestrafrechts, S. 30 ff.; Jacs6-Potyka, Geldwäscherei, S. 29 ff.; Ligeti, Strafrecht in der EU, S. 331 ff.; Herzog/Mülhausen/Vogt, Geldwäschebekämpfung, § I. Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (BGBI I 1992, S. 1302); vgl. hier zu Kreß, wistra 1998 , 121 ff. Ambos, ZStW 114,236 ff.; Hecker, Keuzer-FS, S. 216 ff., Vogel, ZStW 109, S. 335 ff. Vgl. hierzu BGHSt 50 , 347 ff = NJW 2006, 1297 ff.; Schroderllextor, GwG , 15 ff. vor § 261.
A. Strafrechtsharmonisierung durch Richtlinien
271
Lösungshinweise zu Frage 1: Gegen den von der Kommission am 23 . März 1990 12 vorgelegten ersten Vorschlag für den Erlass einer Richtlinie zur Bekämpfung der Geldwäsche in den Mitgliedstaaten (Rn . I) , der die Mitgliedstaaten in Art . 2 anwies , dafür zu sorgen, dass das Waschen von Erlösen aus schweren Straftaten nach ihren nationalen Rechtsvorschriften als stralbare Handlung gilt, äuß erte der Wirtschafts- und Sozialausschuss des Rates in seiner Stellungnahme v. 19. September 1990 nicht nur Bedenken gegen die von der Kommission angeführte Kompetenzgrundlage. Darüber hinaus bemerkte er, " ... dass die Ausweitung
der Befugnisse der Gemeinschaft aufdas Strafrecht juristische Einwände aufwirft, die einer KlarsteIlung bedürfen. " 19 Dennoch hielt die Kommission in dem geän-
derten Richtlinienvorschlag v. 30 . November 1990 an dem ursprünglichen Wortlaut des Art . 2 fest-". Auch das EP verlangte in seiner Stellungnahme v. 22 . Novemb er 1990 lediglich die Streichung des Adjektivs "schweren" vor dem Wort " Straftaten"21, was zugleich den grundsätzlichen Rechtsstandpunkt des EP in der Frag e einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG sichtbar werden ließ . Die in den Vorschlägen der Kommission und der befürwortenden Stellung- 13 nahm e des EP zum Ausdruck gelangende Forderung, die Mitgliedstaaten durch eine Richtlinienanweisung zur Setzung strafrechtlicher Normen zu verpflichten, scheiterte letztlich jedoch an den Souveränitätsvorbehalten der Mitgliedstaaten. Zu den Ratsmitgliedern, die eine Annahme des Kommissionsvorschlags verhinderten, gehörte insbesondere auch der deutsche Vertreter-". Bereits zuvor hatte der deutsche Bundesrat dem Kommissionsvorschlag in einer Stellungnahme entgegengehalten, die Gemeinschaft verfüge über keine Kompetenz, die Mitgliedstaaten zum Er lass von Strafvorschriften zu verpflichten>. In der schließlich am 10. Juni 1991 erlassenen 1. GeldwRL (Rn . I) wurde den Mitgliedstaaten in Art . 2 lediglich die recht vage formulierte Verpflichtung auferlegt, dafür zu sorgen, dass Geldwäsche im Sinne dieser Richtlinie untersagt wird. Wenn den Mitgliedstaaten in Art . 14 vorgegeben wird , "gee ignete Maßn ahmen" zu treffen, um die vollständige Anwendung aller Bestimmungen dieser Richtlinie sicherzustellen und insbe sondere festzulegen, wie Ver stöße gegen die aufgrund dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften " zu ahnden" sind , so brachte dies allenfalls eine politische Empfeh lung zum Ausdruck, die den Mitgliedstaaten nahe legt, kriminalstrafrechtliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Geldwäsche zu ergreifen. Eine notfalls im Wege eines Vertragsverletzungsverfahrens (§ 4 Rn. 38) durchsetzbare Verpflichtung zur Schaffung bestimmter Straftatbestände wurde damit jedoch nicht begründet.
19 20 21
22 23
ABlEG 1990 Nr. C 332, S. 86, 87 f. ABlEG 1990 Nr. C 319, S. 9. ABlEG 1990 Nr. C 324, S. 257, 259. Fülbier, wistra 1996, 49 (Fn. 5). BR-Drs. 288 /90 , S. 1 f.
272
§ 8 Strafrechtliche Annexkompetenz der EU
14 Zwar waren sich die im Rat vereinigten Regierungsvertreter darüber einig, dass Geldwäsche trotz der allgem ein gehaltenen Formulierung der Richtlinie mit strafrechtlichen Mitteln bekämpft werden sollte>'. Ihre diesbezügliche Übereinstimmung durft e aber nicht dahingehend interpretiert werden, dass sie eine entsprechende Verpflichtung kraft Sekundärrechtsanweisung akzeptiert hätten". Vielmehr ergab sich eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Einführung eines Kriminalstraftatbestandes bereits aus Art. 3 Nr. I und 4 lit. ades Ubl-Suchtstoffübk und aus Art. 6 Nr. I des GeldwÜbK des Europarates (Rn . 11). Der später durch das OrgKG v. 15. Juli 1992 (Rn . 11) geschaffene § 261 StGB beruhte somit zwar auch , aber eben nicht ausschließlich auf der I. GeldwRL2 6. Daher ist es zwar einerseit s zutreffend, darauf hin zuwei sen, das s § 261 StG B auf eine Gemeinschaftsinitiativ e zurückzufLihren ist. Es ist aber andererseits verfehlt, § 261 StGB als Beispiel für originär gemeinschaftsrechtsgezeugtes Strafrecht anzufLihren. 15 Lösungshinweise zu Frage 2 : Die in Art . 14 der I . GeldwRL enthaltenen Anweisung (Rn . I) ist komp etenzrechtlich unbedenklich, da sie lediglich eine aus dem Treueg ebot (Art . 4 111 UA 2 EUV; ex-Art. 10 EGV) abzuleitende Sanktionierungsverpflichtung konkretisiert (§ 7 Rn. 26 ff.).
16 Bereits durch die 2. GeldwRL27 wurde die I. GeldwRL mit dem Ziel geändert, einen weiterhin hohen Schutzstandard bei der Bekämpfung der Geldwäsche zu etablieren-" . Mit der Neufassung sollte der Finan zsektor so weit wie möglich in den Anwendungsbereich der Richtlinie einb ezogen werden. Darüber hinaus wurde der Vortatenkatalog auf ein über Drogenstraftaten deutlich hinausgehendes Deliktsspektrum ausgedehnt. Zudem wurden auch Not are , Rechtsanwälte-", Abschlussprüfer, externe Buchprüfer, Steuerberater und Immobilienmakler, Spielkasinobetreiber sowie Händler hochw ertiger Güter und Versteigerer grundsätzlich in den Adressatenkreis der von der Richtlinie statuierten Pflichten einbezogen, wobei den Mitgliedstaaten jedoch ein relativ breiter Umsetzungsspielraum verb lieb. Noch detailliertere strafrechtl iche Vorgaben enthält die 3. Geld wRL (Rn . I) . Das spezifi24
25 26
27
28 29
Vgl. den Wortlaut ihrer Erklärung in A BlEG 1991 Nr. L 166, S. 77, 83. Hugger, Strafrechtliche Anweisun gen , S. 45 f. Amb os, ZStW 114 (2002), S. 236 ff.; Hugger, Stra frec htliche Anweisungen, S. 43 ff.; MüK oStGB INeuheuser, 2003 , § 261 Rn. 22 ; Satzger , Europäisierung, S. 398 ; Vogel, ZStW 109 (199 7), S. 335 , 337; Schroderl'Iextor, GwG, Vor § 261 StG B Rn. 16 ff. RL 200 1l97/EG des EP und des Rates v. 4. Dezemb er 2001 zur Ände rung der RL 9 11308/EWG (ABl EG 2001 Nr. L 344 , S. 76 ft). Vgl. hierzu Ambos, ZStW 114 (2002), S. 236 , 238 . Zur Disku ssion über eine etwa erforderliche tele olo gische Reduktion des § 261 StG B in Fällen einer Annahme von Strafverteidigerhonora ren, die aus einer Katalogt at des Mandanten herr ühr en vgl. Fischer, § 261 Rn. 32 ff. Der BG H ist diesen Vor schl äge n nicht gefo lgt (BGI-ISt 47,68). Das BVerfG hat j edo ch am 30 . Mä rz 2004 entschieden, dass § 261 11 Nr. 1 StG B nur dann mit der Ver fassun g vere inbar ist, wenn der Strafverteidiger bei Annahm e des Hono rars sichere Kenntnis von dessen illegaler Herkunft aus einer Katalogtat habe (BVerfG E 110, 226 = NJW 2004 , 1305; vg l. auch BVerfG NJ W 2005 , 1707) .
A. Strafrechtsharmonisierung durch Richtlinien
273
sehe Gefahrdungspotential der Geldwäsche ergibt sich aus einem Täusch ungselement, nämlich dem Einsch leusen inkriminierter Gegenstände in den lega len Wirtschaftskreislauf als diesem entstammend. Diesen Ansatz aufgreifend, normiert Art. I 11 lit. a-c der 3. GeldwRL drei sich teilweise überschneidende Tatbe stände (Verschleierungs-, Absichts- und Vermögenshehlereitatbestand), in denen das geldwäschespezifische Täuschungselement in objektiver oder subjektiver Ausprägung in Erscheinung tritt". In dem Kata log des Art. 3 Nr. 5 lit. a-f führt die 3. GeldwRL diejenigen Handlungen auf, die von den Mitgliedstaaten zwingend als geldwäscherelevante Vortaten einz ustufen sind?' . Ergänzt wird die strafrechtliche Bekämpfung der Geldwäsche durch den auf ex-Art . 31 lit. a, c und e EUV gestützten Rahmenbeschluss des Rates v. 26. Juni 200 I über Geldwäsche sowie Ermittlung, Einfrieren, Besch lagnahme und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten'", der die Mitg liedstaaten verpflichtet, eine Wertersatzstrafe sowie für schwere Straftaten Mindesthöchststrafen von vier Jahren Freiheitsstrafe einzuführen'". Lösungsh inweise zu Frage 3: Die Frage, ob gegen detai llierte Anweisungen zur 17 Tatbestandsausgestaltung nach dem Muster des Art. I der 3. GeldwRL v. 26. Oktober 2005 (Rn . 1) kompetenzrechtliche Bedenken bestehen, ist im Lichte der einschlägigen primärrechtlichen Befugnisnormen zu beantworten. Gestützt wird die 3. GeldwRL auf zwei Kompetenzgrundlagen, deren Bezug zum Geldwäschestrafrecht nicht ohne weiteres zu erkennen ist, nämlich zum einen auf ex-Art. 47 11 EGV (Art. 53 I AEUV) , der die Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten zum Gegenstand hat, und zum anderen auf ex-Art . 95 EGV (Art . 114 AEUV) , wonach das EP und der Rat die Maßnahmen zur Angleichung der Rechts und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zu erlassen haben , welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben . Die herangezogenen Kompetenzgrundlagen eröffnen der EG/EU einen weiten 18 Harmonisierungsspielraum. Nach ex-Art . 47 11 EGV (Art . 53 I AEUV) dürfen Maßnahmen getroffen werden , die speziell die Ausübung des Finanzgewerbes betreffen, während ex-Art . 95 EGV (Art . 114 AEUV) eine Grundlage für alle Maßnahmen bildet , die zum Schutz des Binnenmarktes erforderlich sind. Der von den genannten Kompetenzgrundlagen jeweils umfasste Regelungsbereich wird ganz offensichtlich von Geldwäschehandlungen betroffen, wenn man sich die Gefahrdungspotentiale der Geldwäsche (Rn . 11) vergegenwärtigt>'.
30
31 32 33
34
Hecker, Kreuzer-FS, S. 216, 217 ff., Vogel, ZStW 109, S. 335, 339 ff. Vgl. hierzu BGHSt 50, 347, 355; Schroderl'Textor, GwG, Vor § 261 StGB Rn. 26, 30. ABlEG 2001 Nr. L 182, S. I. Nach Auffassung der Kommission muss dieser Rechtsakt im Lichte des Urteils des EuGI-I v. 13. September 2005 (EuGI-IE 2005, 7879 = JZ 2006, 307 = ZIS 2006, 179) auf eine primärrechtliche Kompetenzgrundlage (exArt. 47 11, 95 EGV) gestützt werden; vgl. KOM (2005) 583 endg., S. 7 (Anhang) . Gentzik, Europäisierung des Geldwäschestrafrechts , S. 47.
274
§ 8 Strafrechtliche Annexkompetenz der EU
19 Durch Einschleusung "schmutziger" Gelder in den Finanzkreislauf könnten kriminelle Vereinigungen wirtschaftliche Einflussrnacht und Kontrolle über Finanz institute und deren Gesch äftspolitik gewinnen. Zum Schutz des Finanzgewerbes erscheint daher eine Koordini erung der Geldwäschebekämpfung unerlässlich. Auch sind ungleiche Wettbewerbsbedingungen zu befürchten, wenn die Mitgli edstaaten den Finanzinstituten national divergierende Überwachungs- und Kontrollaufgaben vorschreiben. Finanzinstitute in Staaten mit hohem Schutzstandard müssten dann erhebliche Mehrkosten tragen , was zu Wettbewerbsverzerrungen und somit zur Gefahrdung des Binnenmarktzieles führen würde. Die 3. GeldwRL ist somit wie bereits ihre Vorl äuferrichtlinien als eine dem Schutz der legalen Wirtschaft und des Binnenmarkts dienende Maßnahme zu versteh en". 20 Art . I der 3. GeldwRL belässt den Mitgliedstaaten einen eigenständigen Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung. Die hier in Rede steh ende Anwe isung stellt keine unzulässige Umgehung der fehlenden Rechtssetzungskompetenz der EG/E U im Bereich des Kriminalstrafrechts dar . (Rn. 7-8) . Dennoch ist fraglich , ob die genannten Kompetenzgrundlagen auch derart umfangreiche und detailli erte Vorgaben zur Ausgestaltung nationaler Geldwäschetatbestände , wie sie in Art . I der 3. GeldwRL enthalten sind, zulassen" . Hierfür spricht vor allem der Effektivitätsgedanke . Eine wirkungsvolle Bekämpfung des gren züberschreitenden Phänomens Geldwäsche erfordert nicht nur eine union sweite Koordinierung der Geldwäschebekämpfung, sondern auch gemeinsame strafrechtliche Minde ststandards. Divergierende einzelstaatliche Regelungen zur Geldwäschebekämpfung sind nicht nur weniger geeignet, die vom Primärrecht vorgegebenen Ziele zu erreichen . Sie begründen sogar die Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen und konterkarieren damit geradezu das Binnenmarktziel. Die aus dem Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip (Art . 5 I, 111, IV EUV; ex-Art. 5 11, 111 EGV) abzuleitenden Kompetenzausübungsschranken (Rn . 48 ff.) standen und stehen daher nicht der Befugnis der EG bzw. EU entgegen, die Mitgliedstaaten im Wege einer Richtlinie anzuweisen, effektive Maßnahmen gegen Geldwäsche unter Einschluss kriminalstrafrechtlicher Mittel zu ergreifen'" . Hinweis: Der Vertrag von Lissabon überträgt der Union in Art . 83 I AEUV nunmehr eine originäre Strafrechtsangleichungskompetenz im Bereich der Geldwäsche (§ II Rn.3 f., 64) .
35 36
37
Dannecker, JZ 1996, 869, 874 . Vgl. hierzu SchräderlTextor, GwG, Vor § 261 StG B Rn. 24 m. w. N . Gentzik, Europäisierung des Geldwäschestrafrechts, S. 50; Hecker, Kreuze r-FS, S. 216,218 ff.; Vogel, ZStW 109 (1997) , S. 335 ,343,349. Dies wird auch zugestanden , wenn gle ich kritisiert von SchräderlTextor, GwG, Vor § 261 StGB Rn. 26.
A. Strafrechtsharmonisierung durch Richtlinien
275
2. Strafrechtlicher Schutz des Euro Die Kommission legte am 18. Dezember 1996 einen Vorschlag für den Erlass 21 einer Verordnung über die Einführung des Euro" vor, der in Art. 12 die Anweisung enthielt: "Die teilnehmenden Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Nachahmungen und Fälschungen von Banknoten und Münzen angemessen bestraft werden."
In den Erwägungsgründen der Verordnung sollte festgehalten werden , dass Bank- 22 noten und Münzen eines "angemessenen Schutzes vor Fälschungen" bedürfen . Vor diesem Hintergrund sollte nach dem Willen der Kommission eine ausdrückliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Schaffung entsprechender Strafbestimmungen statuiert werden . Die Verordnung (EG) Nr, 974/98 des Rates über die Einführung des Euro v. 3. Mai 199839 entsprach dem Vorschlag der Kommission aber nur insoweit , als in den Erwägungsgründen auf die Notwendigkeit eines "angeme ssenen Schutzes vor Fälschungen " hingewie sen wurde . Als Sanktionsregelung enthält die Verordnung gerade keine ausdrückliche strafrechtliche Anweisung, sondern begnügt sich in Art. 12 mit der "weichen" Formulierung: "Die teilnehmenden Mitgliedstaaten stellen sicher, dass es angemessene Sanktionen für Nachahmungen und Fälschungen von Euro-Banknoten und Euro-Münzen gibt."
Die Verordnung überlässt es mithin den Mitgliedstaaten, wie sie den strafrechtli- 23 chen Schutz des Euro sicherstellen. Den Erlass spezifisch kriminal strafrechtlicher Maßnahmen legt die Verordnung zwar nahe, schreibt sie aber nicht explizit vor. Letzteres wäre kompetenzrechtlich unbedenklich gewesen , da sich eine strafrechtliche Schutzverpflichtung der Mitgliedstaaten aus dem Loyalitätsgebot (Art. 4 111 UA 2 EUV; ex- Art. 10 EGV) ergibr'", Dass selbst eine rein deklaratorische Sanktionsverpflichtung keinen Eingang in die später erlassene Verordnung fand, bestätigt die Entschlossenheit der Mitgliedstaaten, ihre Souveränität auf dem Gebiet der Strafgesetzgebung zu verteidigen . Am 29. Mai 2000 verabschiedete der Rat außerhalb des Gemeinschaftsrechts , 24 nämlich auf der Grundlage des ex-Art . 31 lit. e EUV, einen Rahmenbeschluss über die Verstärkung des mit strafrechtlichen und anderen Sanktionen bewehrten Schutzes gegen Geldfälschung im Hinblick auf die Einführung des Euro, der am 30. Mai 2000 in Kraft getreten isr" . Durch diesen im Rahmen der früheren 3. Säule der EU erlassenen Rechtsakt werden alle EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, Fälschungshandlungen einschließlich des (grenzüberschreitenden) Inverkehrbringens strafrechtlich zu erfassen . Hinweis: Art. 83 I AEUV überträgt der Union nunmehr eine originäre Strafrechtsangleichungskompetenz im Bereich der Fälschung von Zahlungsmitteln (§ II Rn. 3). 38
39
40 41
ABlEG 1996 Nr. C 369, S. 10. ABlEG 1998 Nr. L 139, S. 1; vgl. hierzu Kilb, JuS 1999, 10 ff. Borries/Repplinger-Hach , NJW 1996, 3111, 3116 ; C. Schroder, NJW 1998, 3179 f. ABlEG 2000 Nr. L 140, S. I.
276
§ 8 Strafrechtliche Annexkompetenz der EU
3. Umweltstrafrecht 25 Vor dem Hintergrund regionaler und globaler Umweltprobleme hat sich in vielen Staaten der Welt die Einsicht durchgesetzt, dass die Umwelt nicht allein durch den Einsatz des Privat- und Verwaltungsrechts, sondern auch mit dem Instrument strafrechtlicher Repression zu schützen ist42 • Wie die rechtsvergleichende Forschung lehrt, gibt es heute in Europa keine Rechtsordnung mehr, die auf das Strafrecht als Mittel des Umweltschutzes gänzlich verzichtet". Von einem einheitlichen europäischen Umweltschutzstandard kann allerdings nicht die Rede sein. Angesichts der erheblichen juristischen und praktischen Probleme, vor die sich die Strafverfolger vor allem in Fällen grenzüberschreitender Umweltkriminalität gestellt seherr", erscheint die Forderung unabweisbar, einheitliche umweltstrafrechtliche Standards in den europäischen Staaten zu schaffen". Nur ein vereinheitlichtes europäisches Umweltstrafrecht vermag der Einsicht Rechnung zu tragen, dass die Bewahrung einer intakten Umwelt im Sinne der Erhaltung und des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen schon per se ein universelles und nicht nur ein nationales Interesse darstellt". Hinzu kommt , dass divergierende umweltstrafrechtliche Standards in den Mitgliedstaaten ein Strafrechtsgefälle schaffen , dass zu Wettbewerbsverzerrungen führen kann und damit das Binnenmarktziel konterkariert".
a) Konvention des Europarates zum Schutz der Umwelt durch Strafrecht 26 Das Ziel der Harmonisierung des Umweltstrafrechts in Europa wird bereits von der Konvention des Europarates zum Schutz der Umwelt durch Strafrecht v. 4. November 1998 verfolgt". In diesem - bisher nur von Estland ratifizierten Übereinkommen werden umweltstrafrechtliche Tatbestände formuliert , die von den beitretenden Staaten in nationales Recht umzusetzen sind . Bisher ist jedoch noch nicht einmal die für das Inkrafttreten der Konvention erforderliche Mindestzahl von 3 Ratifikationen zustande gekommen. Es besteht jedoch die begründete Aussicht, dass es in absehbarer Zeit gelingen wird, wenigstens in den 27 Mitgliedstaaten der EU einen einheitlichen umweltstrafrechtlichen Mindeststandard zu etablieren. 42 43
44 45
46 47
48
Heine, UPR 1987,281 ; ders., ZStW 101 (1989), S. 722 , 724 f[ Heine, Umweltstrafrecht in mittel- und südeuropäischen Ländern, 1997, pas sim ; Corni/siHeine, Umweltstrafrecht in den nordischen Ländern, 1994, pass im; EserlHeine (Hrsg.), Umweltstrafrecht in England und den USA , 1994, passim ; Knaut, Europäisierung de s Umweltstrafrechts, S. 145-238. Hecker, ZStW 115 (2003), S. 880 ff. m. w. N . Fromm, Z fW 2009, 157. Eisele, Harmon isierung des Umweltstrafrechts, S. 134, 140 f.; Höpfel, Triffterer-FS, 1996, S. 425 , 426 r. Dannecker/Streinz, EUDUR, § 8 Rn . 51 ff.; Knaut , Europäisierung des Umweltstrafrechts, S. 306 ; krit. hierzu Heger, Europäisierung, S. 93 ff. ETS Nr . 172. Vgl. hierzu Knaut, Europäisierung de s Umweltstrafrechts, S. 243 -295 .
A. Strafrechtsharmonisierung durch Richtlinien
277
b) Richtlinienvorschlag der Kommission v. 13. März 2001 Die Kommission legte am 13. März 200 I einen auf ex-Art. 175 EGV gestützten 27 Richtlinienvorschlag über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt vor'", Nach Auffassung der Kommission reichen die bestehenden Sanktionen der Mitgliedstaaten nicht aus, um die vollständige Einhaltung des gemeinschaftlichen Umweltrechts zu gewährleisten . Nach wie vor komme es oft zu ernsten Verstößen, die nicht mit hinreichend wirksamen und abschreckenden Sanktionen geahndet würden. Art. 3 des Richtlinienvorschlages sah deshalb eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten vor, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen , um bestimmte Tätigkeiten unter Strafandrohung zu stellen , wenn sie vorsätzlich oder grob fahrlässig begangen werden und die im einzelnen aufgelisteten Umweltschutzvorschriften der Gemein schaft und/oder Vorschriften der Mitgliedstaaten zur Umsetzung solcher Vorschriften der Gemeinschaft verletzen. In Art. 4 des Richtlinienvorschlages wurde den Mitgliedstaaten aufgegeben, sicherstellen, dass bei Straftaten gemäß Art. 3 sowie Beihilfe und Anstiftung zu diesen Straftaten wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen verhängt werden können . Genauere Vorgaben zur Ausgestaltung des Allgemeinen und des Besonderen Teils des Umweltstrafrechts sowie zur Rechtsfolgenseite enthielt der Richtlinienvorschlag nicht. Hinsichtlich natürlicher Personen sollten die Mitgliedstaaten strafrechtliche Sanktionen vorsehen, einschließlich des Freiheitsentzuges in schwerwiegenden Fällen . Juristische Personen sollten in angemessenen Fällen mit dem Ausschluss von öffentlichen Zuwendungen oder Hilfen, vorübergehenden oder ständigen Verboten von Handelstätigkeiten oder mit richterlicher Aufsicht beziehungsweise einer richterlich angeordneten Auflö sung bedroht werden . Der Richtlinienvorschlag überließ es den Justizbehörden der Mitgliedstaaten, zu entscheiden, ob die Straftaten nach Art. 3 in jedem Fall zu verfolgen sind, oder ob sie Möglichkeiten zum Absehen von Strafe in Fällen von geringer Bedeutung vorsehen, in denen die Auswirkungen auf die Umwelt vernachl ässigt werden können .
c) Rahmenbeschluss über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt Bereits in der Vergangenheit haben die im Rat vertretenen Mitgliedstaaten unter 28 Berufung auf ihre nationale Souveränität Richtlinienvorschläge mit kriminalstrafrechtlichen Anweisungen zurückgewiesen (Rn . 7 ff.). So auch in diesem Fall. Aufgrund bestehender Kompetenzvorbehalte der Mitglied staaten lehnte der Rat mit überwältigender Mehrheit die Annahme der von der Kommis sion vorge schlagenen Richtlinie ab . Stattdessen aktivierten die Mitgliedstaaten nach langen Verhandlungen das Instrumentarium der PJZS (§ 5 Rn. 67 ff.). Am 27. Januar 2003 verabschiedete der Rat der Europäischen Union einen Rahmenbeschluss über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht, der am 6. Februar 2003 in Kraft
49
KOM (2001) 139 endg. (ABlEG 2001 Nr. C 180 E, S. 238). Vgl. hierzu Eis ele, Harmonisierung des Umweltstrafrechts, S. 134, 142 ff.; Schmalenberg, Europäisches Umweltstrafrecht, passim.
278
§ 8 Strafrechtliche Annexkompetenz der EU
getreten ist 50 • Auch nach Auffassung der Mitgliedstaaten ist die Bekämpfung der Umweltkriminalität eine staatenübergreifende Angelegenheit, die abgestimmte strafrechtliche Maßnahmen erfordert. Der Rahmenbeschluss stellte unter Berücksichtigung des Richtlinienvorschlags der Kommission und der Europaratskonvention einen Katalog umweltkrimineller Handlungen auf, die - wenn sie vorsätzlich oder zumindest grob fahrlässig begangen werden - mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen zu bedrohen sind . Inhaltlich lehnte er sich weitgehend an das Übereinkommen des Europarates (Rn . 21) an, dessen Umsetzung in deutsches Recht im Hinblick auf die Verhandlungen auf EU-Ebene zurückgestellt worden war. Bemerkenswert sind vor allem die in dem Rahmenbeschluss vorgesehenen Eignungsdelikte im Bereich des Gewässer-, Luft- und Bodenschutzes sowie des Abfallstrafrechts. 29 Die Kommission stellte sich indes auf den Standpunkt, dass ein gemeinschaftsrechtlicher Besitzstand bei Umweltkriminalität nur durch das Gemeinschaftsrecht festgelegt werden könne und müsse. Dies gelte insbesondere für die Definition der umweltbelastenden Tätigkeiten, die strafbar sein sollen und die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, strafrechtliche Sanktionen vorzusehen. Insoweit bestehe kein Raum für die Annahme eines Rechtsaktes nach ex-Art. 34 EUV. Die Kommission reichte daher eine Klage auf Nichtigerklärung des Rahmenbeschlusses beim EuGH ein . Damit bestand für den EuGH Gelegenheit, erstmalig über die Frage der Existenz einer kriminalstrafrechtlichen Anweisungskompetenz zu entscheiden. Eine aus ex-Art. 29, 47 EUV abzuleitende Befugnis der Mitgliedstaaten, Maßnahmen im Rahmen der 3. Säule zu treffen, kommt nur in Betracht, wenn hierdurch nicht unzulässig eine Gemeinschaftskompetenz - hier in Form einer strafrechtlichen Anweisungsbefugnis - beschnitten wird'" .
d) Urteile des EuGH zur Anweisungskompetenz der EG 30 Mit Urteil v. 13. September 2005 erklärte der EuGH - dem Schlussantrag von Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer folgend - den Rahmenbeschluss über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht für nichtig 52 • Der EuGH hob hervor, dass die Kompetenzen der Gemeinschaft nach ex-Art. 29, 47 EUV durch die Bestimmungen des EUV unberührt bleiben, wie insbesondere im Wortlaut" Unbeschadet der Befugnisse der Europäischen Gemeinschaft " zum Ausdruck gelange. Der Umweltschutz sei eines der wesentlichen Ziele der Gemeinschaft. In Art . 2 EGV (Art. 3 111 UA I EUV) werde die Aufgabe der Gemeinschaft beschrieben, " ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität " zu för50
51
52
ABlEG 2003 Nr. L 29, S. 55; vgl. hierzu Eisele, Harmoni sierung des Umweltstrafrechts, S. 134, 146 ff. ; Knaut , Europäisierung des Umweltstrafrechts, S. 340 ff.; Mansdörfer , Jura 2004, 297 Ir vgl. hierzu Heger, Europäisierung , S. 118 ff.; Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 92 f.; Streinz, Otto-FS, 1029, 1040; Pohl, Z IS 2006, 213, 216 f. EuGHE 2005, 7879 = JZ 2006, 307 = ZIS 2006, 179; vgl. hierzu Böse, GA 2006, 211; Hefendehl, ZIS 2006, 161; Heger, JZ 2006, 310; Kubiciel , NStZ 2007, 136; Pohl, ZIS 2006 ,213; Schäfer, JA 2006, 342.
A. Strafrechtsharmonisierung durch Richtlinien
279
dem und Art . 3 I lit. I EGV (Art. 4 11 lit. e AEUV) sehe zu diesem Zweck " eine Politik auf dem Gebiet der Umwelt " vor. Darüber hinaus müssten nach Art . 6 EGV (Art. II AEUV) " die Erfordernisse des Umweltschutzes bei der Festlegung
und Durchführung der Gemeinschaftspolitiken und -maßnahmen einbezogen werden ", was den Querschnittscharakter und die grundlegende Bedeutung dieses Zie-
les verdeutliche. Die Art . 174-176 EGV (Art. 191-193 AEUV) stellen - so der EuGH - grundsätzlich den Rahmen dar, in dem die gemeinschaftliche Umweltpolitik durchzuführen sei . Art . 174 EGV (Art. 191 AEUV) führe die Ziele der Umweltpolitik auf und Art . 175 EGV (Art. 192 AEUV) lege das Verfahren zur Erreichung dieser Ziele fest. Grundsätzlich falle das Strafrecht ebenso wie das Strafprozessrecht nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft. Dies könne den Gemeinschaftsgesetzgeb er jedoch nicht daran hindern , Maßnahmen in Bezug auf das Strafrecht der Mitgliedstaaten zu ergreifen, die erforderlich sind , um die volle Wirksamkeit der von ihm zum Schutz der Umwelt erlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten, wenn die Anwendung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen durch die zuständigen nationalen Behörden eine zur Bekämpfung schwerer Beeinträchtigungen der Umwelt unerlässliche Maßnahme darstellt. Die in ex-Art. 135 S. 2 EGV bzw . ex-Art. 280 IV S. 2 EGV enthaltenen Vorbehaltsklauseln (" Die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege bleiben unberührt. ") stünden der Annahme einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG jedenfalls im Bereich der Umweltpolitik nicht entgegen. Nach die sen Darlegungen des EuGH stand somit fest , dass der Rahmenbeschluss des Rates über den Schutz der Umwelt durch Strafrecht in unzul ässiger Weise in die Kompetenz der EG übergreift und daher für nichtig zu erklären war. Von einigen Stimmen ist die Entscheidung des EuGH sehr kritisch bewertet 31 worden'P, was angesichts der schon seit jeher geäußerten Vorbehalte gegen Strafrechtskompetenzen der EG kaum zu überraschen vermag. Nach hier vertretener Ansicht verdient das Urteil im Ergeb nis Beifall>. Der EuG H bestätigte die überzeugende h. L., da ss sich aus den Kompetenzgrundlagen des ex- EGV (hier: exArt . 175 EGV) ungeachtet der fehlenden Zuständigkeit der EG auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts eine Rechtsangleichungsbefugnis in Form einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz ableiten lässt'" . Der Wortlaut der primärrechtlichen Harmonisierungsgrundlagen schließt ihre Heranziehung zur Begründung strafrechtlicher Anweisungskompetenzen nicht aus 56 • Zudem wurde in der Lite53
54
55
56
f-Ief endehl, ZIS 2006, 161 ff.; Heger, JZ 2006, 310 ff.; Kaiafa-Gb andi , ZIS 2006, 521, 523 ff.; Pohl, ZIS 2006, 213 ff.; WegeneriGreena walt, ZUR 2005, 585 ff. Zust. auch Diehm, wistra 2006, 366, 368 ff.; Kubiciel, NStZ 2007, 136 ff.; Schäfer, JA 2006, 342 ff. und Böse, GA 2006, 211 ff., der weitergehend als EuGH und h. L. sogar eine Strafrechtsetzungsbefugnis der EG bejaht. Ambos, IntStR, § 11 Rn. 30 Ir ; Böse, Strafen und Sanktionen, S. 61 ff.; Dannecker, Jura 2006,95,97 f.; ders. , Jura 1998, 79, 81 ff.; GröblinghoJJ, Verpflichtun g des Strafgesetzgebers, S. 91 ff.; Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 54; 62 ff.; Satzger , Europäisierung, S. 407 ff. Böse, Strafen und Sanktionen, S. 78; Satzger, Europäisierung, S. 470.
280
§ 8 Strafrechtliche Annexkompetenz der EU
ratur'" überzeugend nachgewiesen, dass sich aus Gemeinschaftsrecht kein ungeschriebener Rechtsgrundsatz ableiten lässt, nach dem das Strafrecht dem Anwendungsbereich der primärrechtlichen Harmonisierungsgrundlagen von vornherein entzogen wäre . Auch wenn allein die Mitgliedstaaten zur Setzung von Kriminalstrafrecht befugt sind , so bedingt doch die final und dynamisch konzipierte sowie auf Effektivität angelegte Kompetenzverteilung zwischen EG und Mitgliedstaaten, dass kein Bereich des nationalen Rechts von vornherein den Harmonisierungsbefugnissen der EG entzogen sein kann . Das Strafrecht befindet sich somit nicht in einer gemeinschaftsrechtlichen Tabuzone. Bekräftigt wurde dieser Standpunkt durch das Urteil des EuGH v. 23. Oktober 200758 , mit welcher der Rahmenbeschluss des Rates vom 12. Juli 2005 zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens zur Bekämpfung der Versehrnutzung durch Schiffe'" für nichtig erklärt wurde. Nach Ansicht des EuGH hätten die Vorschriften des Rahmenbeschlusses auf der Grundlage der Bestimmungen über die gemeinsame Verkehrspolitik (ex-Art. 70 ff. EGV ; Art . 90 ff. AEUV) erlassen werden können. Es handelt sich bei den vorgenannten Urteilen um Grundsatzentscheidungen, die nicht nur auf die konkret behandelten Bereiche des Umweltschutzes bzw . der Verkehrspolitik, sondern darüber hinaus auch auf alle sonstigen Gemeinschaftspolitiken und Grundfreiheiten ausstrahlen. Die nicht ganz frei von Polemik geäußerte Befürchtung, hiermit werde der Weg für eine "Tota lharmonisierung des Strafrechts'"? geebnet und der nationale Gesetzgeber zum .Brüsseler Lakaien?" degradiert, ging an der Rechtswirklichkeit vorbei und übersah die vom Gemeinschaftsrecht (Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz) abgesteckten Grenzen, die der Angleichung mitgliedstaatliehen Strafrechts bereits im Rahmen der früheren I. Säule gesetzt waren und nach Inkrafttreten des Reformvertrags fortgelten (Rn . 49 ff.).
e) Richtlinie 2008/99/EG über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt 32 Unter dem Eindruck des Urteils des EuGH v. 13. September 2005 zog die Kommission ihren ursprünglichen Richtlinienvorschlag (Rn . 24) zurück und legte am 9. Februar 2007 einen neuen Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt vor62 • Nach jahrelangen Kompetenzstreitigkeiten trat schließlich am 26 . Dezember 2008 die Richtlinie 2008/99/EG des EP und des Rates v. 19. November 2008 über 57
58
59 60
61
62
f-1ugger , Strafrechtliche Anw eisungen, S. 54; 62 ff.; ihm folgend Böse, Strafen und Sanktionen , S. 81,94 und Satzger, Europ äisierung, S. 470 . EuGHE 2007 , 9097 = N StZ 2008 , 703 ; vgl. hierzu Eisele, JZ 2008 , 248 ff.; Fromm , Z UR 2008 , 301 ff.; Kubiciel , NStZ 2007 , 136 ff; Satzger, KritV 2008 ,17,22 ff.; Zimmermann, NStZ 2008, 662 ff.; Zöller, Z IS 2009 , 340 , 345 I: AB IEU 2005 Nr. L 255, S. 164. Hefendehl, Z IS 2006 , 161, 166, 167 ("Brüsseler Krake "); Wegener/Greenawalt, ZU R 2005 , 585, 588 . Hefendehl, ZIS 2006 , 161, 167 im An schlu ss an Schiinemann , StV 2003 , 531 . KOM (2007), 51 endg .; vgl. hierzu Heger, Harmonisierung, S. 275 ff.
A Srrafrechtsharmonisie rung durc h Richtlinien
2RI
d en st r a f r ec h tl ic he n Sc h u t z d er U m w e lt 63 in Kra ft . D ie au f e x-A n . 175 J EGV (A rt. J9J AEUV ) gest ützte Richtlin ie legt st ra fre cht liche M aß na h men fest , d ie e ine m wirksa me re n U m w e ltsc h utz dienen so llen. Di e M itg lied sta a te n w er de n ve rp fli chtet, in ihre n na t io na le n Rech tsvorsc hri fte n strafre c ht liche Sa nkt io ne n für sch we re Ve rstöße gegen d as ge mei nsc haft liche Um weltsch ut zrec ht vo rzuse he n. Z u di e sem Zwec k listet Art. 3 in e ine m Ka tal og fo lge nd e um w e ltsc häd lic he recht sw id r ige (R n. 3 0) Ha nd lung en auf, d ie unt er Stra fe ge ste llt w erden m üs se n, w en n s ie vorsätzl ich od e r zu m ind e st gro b fah r läss ig begange n we rd e n: (a) die Einle itung. Abgabe oder Einbringung einer Menge von Stoffen oder ionisie render Strahlung in die Lul1. de n Boden oder das Was ser, die den Tod oder eine schwere Körpcrvcrlctvung von Personen oder crhchlic hc Sch äden hinsichtlich der 1.1I1l. , Hod en. oder Wasserqualität oder an Tieren oder Pflanzen verursacht oder verursachen kann; (b) die Sammlung. Beförderung. Verwertu ng und Beseitigung von Abfälle n. einsc hließlieh der betriebli chen Überwachung dieser Verfahren und der Nachsorge von Bese itigu ngsanlagen sow ie der Hand lungen, die von Händlern oder Maklern übernommen werden (Bewirtsc haftung von Abfa ll). die den Tod oder eine schwere Körperverletzung von Personen oder erhebliche Schäden hinsichtlich der Lutt-. Boden- ode r Wasserqualität oder an Tieren oder Pflanzen verursacht oder verursachen kann; (c) d ie Verbring ung von Abfä llen. so fern diese Tätigkeit unter Artikel 2 Nummer 35 der Verordnung (EG) NT. 101312006 des EP und des Rates vom 14. Juni 2006 über die Verbringung von Abl1lllen64 fäl lt und in nicht unerheblicher Menge erfolgt, unabhängig davon. ob es sich bei der Verbringung um eine e inzige Verbringung oder um mehrere. o lle nsichtlich zusam menhänge nde Vcrbringungcn handelt (d) der Betrieb einer Anlage. in der e ine gefähr liche Tätigkeit ausgeübt wird oder in der gefährl iche Stoffe oder Zube reitu ngen gelage rt oder verwendet werden, wodurch außerhalb dieser Anlage der Tod oder eine schwere Körperverletzung von Personen oder erhe bliche Schäden hinsichtlich der LuH-, Boden- oder Wasserqual ität oder an Tieren oder Pflanzen verursacht werden oder verursacht werden können: {e] die Herstellung, Bearbeitung, Handhabung, Verwendu ng, der Besitz. d ie Lagerung, der Transpo rt, die Einfuhr, Ausfu hr oder Beseitigung von Kernmarerial oder andere n gcfährfich cn radioakt iven Stoffen. die den Tod oder eine schwere Körperverletzung von Persone n oder erheblic he Schäden hinsichtlic h der l.uü-, Boden- oder Wasserqualität oder an Tieren oder Pflanze n verursacht oder verursachen kann; (I) die Tötung. die Zerstörung, der Besitz oder die Entnahme von Exemplaren geschützter. wildlebender T ier- oder Pflanzenarten. mit Ausnahme der Fälle, in denen die Handlung eine unerhebliche Menge d ieser Exemplare betr ifll und unerhebliche Auswirkungen auf den Erha ltungszusta nd der Art hat: (g) der Handel mit gesch ützten wildlebenden Tier- ode r Pflanzenarten. Teilen ode r Erzeugnissen davon, mit Ausnahme der Fälle. in denen d ie I landlung eine uner hebliche Menge dieser Exemplare betrifft und unerhebl iche Auswirkungen auf den Erhaltungszustand der Art hat: (h}jedes Verhalten. das eine erhebliche Schädigung eines Lebensraums innerhalb eines gesc hützten Gebiets verursac ht: ( i) die Produkt ion. Einfuhr. Ausfuhr, das Invcrkchrbringcn oder die Verwendung von Stoffen, d ie zum Abbau der Ozonsc hicht beitragen. ABi EU 2008 NI'. L 328, S. 2R. vgl. hierzu Fromm, ZIW 2009, 157 Ir : Zimmermann, Z R!' 2009, 74 Ir ABiE U 2006 NI'. L 190, S. I.
282
§ RStrafrechtliche Annexkompetenz der EU
33 Als "rechtsw idrig" definiert Art . 2 lit. a Verstöße gegen d ie in Anhang A aufge-
führten Rechtsak te der Gemeinscha ft" oder gege n nat ional e Gesetze , ver waltungs rechtliche Vorschriften oder Entsc heidunge n ei ner zustä ndigen Behörde e ines Mitgliedstaat s, d ie der Umsetzun g der vorgenan nte n Rech tsakt e d ienen. Die Richtl inie bringt damit d ie euro parechtsakzessorische Tatbestandsstrukt ur des europä isc hen Umweltstra frecht s zum Ausdruck" . 3~ Art . 4 ordnet an, dass Anstift ung und Beihi lfe zu de n in Art. 3 genannte n vor sätzl ichen Hand lungen unter Strafandro hung ges te llt werde n. Art . 5 verlangt den Mitgliedstaat en d ie Einfü hrun g w irksam er, angemessener und absch reckend er Sanktionen ab. Hierd urch werden led iglich d ie nach den Rechtvo rschriften der Mitgliedstaat en anw endb aren Strafen einander angenähert, nicht aber die tatsächlieh zu verhängend en Strafen (vg L hierzu 10. Erwäg ungsgru nd) . Insoweit sind der Rechtsangleichu ng d urch das Prinz ip der Tat- und Sch uldangem essenheit der Strafe und aufgrund der Unabhäng igke it der Gerichte von vom herein Grenzen gesetzt. Ano rdnun gen über d ie Haftung juristischer Per sonen (Art. 2 lit. d) ergeben sich aus Art . 6 und 7, wobe i auch die Androhung nic htkriminalstrafrecht licher Sa nktionen als ausreichend erachtet w ird. Mitgl iedstaat en, die in ihre r Rechtsord nung die strafrechtl iche Verantwortlic hkeit j uristischer Personen nicht anerkennen, sind also nicht verpflichtet, ihr nationales System zu ände m'". 35 Da die Mitgl iedstaat en verp flicht et sind, die Richtlinie bis zum 26. Dezem ber 20 10 in natio nale s Recht umzuset zen (Art. 8 I), ste llt sich fllr den de utschen Gesetzge ber die Aufga be, einen etwaige n legislatorischen Anpa ssungsbedarf zu prüfen 68 .
. '
Diese betreffen namentlich die Bereiche Gcwässcr-, Luft- und Bodenreinhaltung. Abfallbescitigung. Artenschutz, Schutz der Ozonschicht und umwehrelevamer Anlagenbetrieb [vgl. ABI 2008 Nr. L 328. S. 32 11:). Heger. Europäislcrung.S. 296 11: Fromm. ZIW 2009. 157. 161: Zimmermann: ZRP 2009.74.75. Vgl. hierzu Heger; Europäisierung, S. 275 11: : S/S/lleine. Rn. 7 e vor §* 324 11 : Zimmermann. ZR!' 2009. 74. 7611:
B. Strafrechtsangleichung in harmonisierten Politikbereichen
283
B. Strafrechtsangleichung in harmonisierten Politikbereichen I. Grundlagen und Funktionen der Strafrechtsangleichung nach Art. 83 11 AEUV Die Befugnis zur Strafrechtsangleichung im Bereich der 1. Säule der EU war - 36 wie gezeigt - bereits vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon aus den allgemeinen oder speziellen Harmonisierungsgrundlagen abzuleiten, die nunmehr im AEUV enthalten sind. Der neu geschaffene Art. 83 11 AEUV knüpft an die strafrechtliche Annexkompetenz an, die diesen Harmonisierungsgrundlagen immanent ist, wobei er als zwingende Voraussetzung für ihre Ausübung festlegt , dass sich die Angleichung strafrechtlicher Rechtsvorschriften als unerl ässlich'" für die wirksame Durchführung der Unionspolitik auf einem Gebiet erweist, auf dem Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind (Rn. 48). Bemerkenswert ist, dass nach Art. 83 11 AEUV nicht nur die Stratbarkeitsvoraussetzungen, sondern auch die Strafen einer Mindestangleichung zugänglich sind". Die früher im Bereich der Strafrechtsangleichung praktizierte "doppeigleisige" Gesetzgebung (Richtlinie der EG plus Rahmenbeschluss des Rates) gehört damit der Vergangenheit an. Wenn von einer Harmonisierung des Strafrechts gesprochen wird, so ist damit 37 die inhaltliche Angleichung nationaler Strafrechtsnormen auf der Tatbestands- und Rechtsfolgenseite auf der Grundlage unionsrechtlich definierter und verbindlicher Standards gemeint?" . Von der Strafrechtsangleichung strikt zu trennen ist die Schaffung supranationaler Straftatbestände, für die - mit einer Ausnahme (§ 4 Rn. 81) - auch der Vertrag von Lissabon keine Kompetenztitel bereitstellt. Angesichts der begrenzten Reichweite strafrechtsrelevanter Kompetenzzuschreibungen im AEUV (Rn. 40 ff.) bewirkt die Strafrechtsharmonisierung innerhalb der Union keine Totalvereinheitlichung mitgliedstaatlicher Strafrechtsnormen, sondern wie auch Art. 83 11 AEUV zu entnehmen ist - lediglich eine Mindestangleichung. Zu den Maßnahmen, die auf eine Angleichung des materiellen Strafrechts der 38 Mitgliedstaaten in harmonisierten Politikbereichen abzielen , gehört der Erlass von Mindestvorschriften zur Ausgestaltung der einschlägigen Tatbestände des Besonderen Teils . Diese können in einer gemeinsamen Definition enthalten sein, in welcher die zentralen objektiven und subjektiven Merkmale der zu inkriminierenden Handlung beschrieben werden , z. B. "Geldwäsche" (Rn. I), "kriminelle Tätigkeit" (Rn . I) bzw . " umweltschädliche Handlung" (Rn . 32), und durch die detailliertere oder weitergehende Begriffsbestimmungen des nationalen Rechts 69
70
71
Vgl. zu diesem Kriterium I3VerfG NJW 2009, 2267, 2288; Böse, ZIS 2010, 76, 87; Kretschmer, EVV, Art. 111-271 Rn. 21; Kubiciel, GA 2010, 99, 105; ReilingiReschke, wistra 2010,47,49 f.; Zimmermann, NStZ 2008, 662, 664; ders., Jura 2009,844,847. Anders noch EuGHE 2007, 9097 = NStZ 2008, 703 hins. der Anweisungskompetenz der EG; vgl. hierzu Heger, ZIS 2009, 406, 413; Zimmermann , NStZ 2008, 662, 665. Hecker, JA 2007,561 ,562; Vogel, GA 2003,314,315 f.
284
§ 8 Strafrechtliche Annexkompetenz der EU
nicht ausgeschlossen werden . Den Mitgliedstaaten steht es demnach frei, darüber hinaus auch weitere Verhaltensweisen unter Strafandrohung zu stellen . Es ist ihnen jedoch verwehrt, die Mindestvorschriften der in einer Richtlinie definierten strafbaren Handlung zu unterschreiten, indem sie zusätzliche Strafbarkeitsvoraussetzungen aufstellen. Die strafrechtliche Annexkompetenz umfasst auch Maßnahmen, die sich auf die Anwendung von Bestimmungen des Allgemeinen Teils beziehen, soweit dies für eine wirksame Bekämpfung der jeweiligen Kriminalitätsbereiche erforderlich ist und hierdurch nicht in die Grundstruktur der nationalen Strafrechtssysteme eingegriffen wird . Unproblematisch sind z. 8. bereichsspezifische Vorgaben, durch die sichergestellt werden soll, dass der Versuch einer bestimmten Straftat und die Teilnahme (Anstiftung, Beihilfe) mit Strafe bedroht werden (Rn . 34) . Nicht gestattet sind jedoch über die Festlegung von Mindestvorschriften hinausgehende Definitionen des Versuchs, der Täterschaft und Teilnahme oder sonstiger Elemente des Allgemeinen Teils . Regelungsvorgaben zur Verantwortlichkeit juristischer Personen sind nur zulässig, wenn den Mitgliedstaaten ein weiter Umsetzungsspielraum belassen wird, der auch die Möglichkeit einer Beschränkung auf nichtstrafrechtliche Sanktionen zulässt. Einer Mindestangleichung zugänglich sind schließlich die Strafen, die z. 8. in Form von Mindesthöchststrafen vorgegeben werden können. Letztere legen das Mindestmaß einer im nationalen Strafrecht vorzusehenden Höchststrafandrohung fest. Zu beachten ist, dass hierdurch lediglich die nach den Rechtvorschriften der Mitgliedstaaten anwendbaren Strafen einander angeglichen werden , nicht aber die tatsächlich zu verhängenden Strafen. Insoweit sind der Rechtsangleichung durch das Prinzip der Tat- und Schuldangemessenheit der Strafe und aufgrund der Unabhängigkeit der Gerichte Grenzen gesetzt. Auch Regelungsvorgaben über erschwerende bzw . strafmildernde Umstände können auf Art. 83 11 AEUV gestützt werden . 39 Der Strafrechtsangleichung nach Art. 83 11 AEUV kommt zentrale Bedeutung für einen gleichmäßigen Schutz der Rechtsgüter der Union und eine effektive Durchsetzung der Unionspolitiken zu. Unterschiede zwischen den nationalen Strafrechtsordnungen - zu denken ist etwa an das Wirtschafts-, Umwelt- und Lebensmittelstrafrecht - können nachteilige Auswirkungen auf den Binnenmarkt entfalten" . Werden gleichartige Wettbewerbshandlungen in einem Mitgliedstaat mit Kriminalstrafe bedroht, in einem anderen als bloßes Ordnungsunrecht eingestuft und im dritten als nicht sanktionierbare Tätigkeit gewertet, so entsteht hierdurch ein Strafrechtsgefälle, das territorial unterschiedliche Zugangsbedingungen für die Marktteilnehmer schafft. Hieraus können sich dysfunktionale Folgen für die internationale Wettbewerbssituation ergeben, die das Unionsziel der Herstellung eines einheitlichen Binnenmarktes (Art. 26 AEUV) konterkarieren".
72
73
Böse, Strafen und Sanktionen, S. 71; Gröblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 99 Ir; Hecker, Produktwerbung, S. 424 ; Kerl, Lebensmittelstrafrecht, S. 482 ; Knaul , Europäisierung des Umweltstrafrecht s, S. 322. Vgl. hierzu Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn 197; ders., Jura 2006 ,95,97; Sieber, JZ 1997,369,374.
B. Strafrecht sangleichung in harmonisierten Politikbereichen
285
11. Strafrechtsrelevante Harmonisierungsbefugnisse im AEUV 1. Spezielle und allgemeine Harmonisierungsbefugnisse Art. 83 II AEUV normiert die Voraussetzungen und die Reichweite der in den 40 Harmonisierungsgrundlagen des AEUV angelegten Befugnis der Union zur Angleichung mitgliedstaatliehen Strafrechts, soweit dieses sich als Annex zu einem bereits harmonisierten Politikbereich darstellt. Die Tätigkeitsbereiche der Union sind in Art. 3, 6 AEUV (ausschließliche Zuständigkeit) und Art. 4, 5 AEUV (geteilte Zuständigkeit) im Einzelnen festgeschrieben . Zur Verwirklichung dieser Aufgaben stellt der AEUV eine Reihe spezieller Kompetenzvorschriften bereit , die eine sachbereichsspezifische Rechtsangleichung ermöglichen (Rn. 41--46). Daneben enthält der Vertrag allgemeine Kompetenzgrundlagen (Rn. 47), die nicht auf bestimmte sachliche Materien begrenzt sind, sondern die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben . Für das Verhältnis dieser Kompetenzgrundlagen zueinander gilt grundsätzlich, dass die Spezialermächtigungen den allgemeinen Befugnisnormen vorgehen. Soweit eine Harmonisierungsmaßnahme nicht auf erstere gestützt werden kann, ist die allgemeine Befugnisnorm des Art. 114 AEUV (ex-Art. 95 EGV) zu prüfen , welche wiederum gegenüber Art. 115 AEUV (ex-Art. 94 EGV) vorrangig zur Anwendung gelangt. Höchst subsidiär ist Art. 352 AEUV (ex-Art. 308 EGV) anwendbar, nämlich nur dann, wenn ein Tätigwerden der Union im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche erforderlich erscheint, um eines ihrer Ziele zu verwirklichen, jedoch die hierfür erforderlichen Befugnisse in den Verträgen nicht vorgesehen sind. Im Folgenden soll der Blick auf einige exemplarisch ausgewählte Politikbereiche gerichtet werden , in denen strafrechtliche Rechtsangleichungsmaßnahmen nach Maßgabe des Art. 83 II AEUV in Betracht kommen . Im Anschluss daran sind die unionsrechtlichen Grenzen aufzuzeigen, die jeder Harmonisierung im Bereich der Strafen und Sanktionen gesetzt sind. Diese Schranken stecken zugleich die Reichweite der strafrechtlichen Annexkompetenz ab.
2. Spezialermächtigungen im Bereich der gemeinsamen Politiken
a) Gemeinsame Agrarpolitik (Art. 38-44 AEUV) Im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik, deren Ziele in Art. 39 AEUV (ex-Art. 41 33 EGV) beschrieben werden , sind nach Art. 40 I AEUV (ex-Art. 34 I EGV) gemeinsame Marktorganisationen zu errichten. Nach Art. 40 II AEUV (ex-Art. 34 II EGV) schließt die gemeinsame Marktorganisation alle zur Durchführung des Art. 39 AEUV "erforderlichen" Maßnahmen ein. Wie die Erfahrung der vergangenen Jahre lehrt, ist der Agrarsektor für Betrügereien und Unregelmäßigkeiten besonders anfällig (§ 14 Rn. 8 ff.)?", Vorfälle dieser Art konterkarieren die Maßnahmen der Union zur Stabilisierung der Agrarmärkte, Stützung der Lebenshaltung der Landwirte, Preispolitik und zum Verbraucherschutz. Daher dient die Bekämpfung dieser Betrügereien und Unregelmäßigkeiten auch der Verfol74
Dannecker, ZStW 108 (1996), S. 577 ff.
286
§ 8 Strafrechtliche Annexkompetenz der EU
gung der in Art. 39 AEUV genannten Ziele": Vor diesem Hintergrund ist die Kompetenznorm des Art. 40 Abs . 2 AEUV dahingehend auszulegen, dass sie der Union auch die Befugnis verleiht, die Mitgliedstaaten anzuweisen, Verstöße gegen Gemeinschaftsmaßnahmen, welche die effektive Durchführung der gemeinsamen Marktorganisation behindern, mit strafrechtlichen Sanktionen zu ahnden . Für die Erforderlichkeit einer richtliniengesteuerten Harmonisierung des mitgliedstaatlichen Strafrechts spricht auch , dass divergierende mitgliedstaatliche Maßnahmen zu Wettbewerbsverzerrungen fuhren , welche die in Art. 39 AEUV genannten Ziele gefahrden (Rn . 38). Zu beachten ist, dass Art. 83 11 AEUV die Wahrnehmung der in Art. 40 11 AEUV angelegten strafrechtliche Annexkompetenz unter die Voraussetzung stellt, dass sie sich als unerlässlich für die wirksame Durchführung der gemeinsamen Agrarpolitik erweist (Rn . 48).
b) Gemeinsame Verkehrspolitik (Art. 90-100 AEUV) 42 Art. 91 I lit. c AEUV (ex-Art. 71 Abs. I lit. c EGV) verleiht der Union im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik die Befugnis, " Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit" zu erlassen. Das Ziel der Verbesserung der Verkehrsicherheit steht somit nicht nur im Zusammenhang mit der Realisierung wirtschaftpolitischer (binnenmarktbezogener) Ziele , sondern stellt ein eigenständiges Unionsinteresse dar . Die Befugnisnorm des Art. 91 I Iit. c AEUV ermächtigt z. B. zum Erlass von Rechtsakten über die technische Überwachung von Kraftfahrzeugen und Gefahrguttransporten sowie Maßnahmen zur Regelung des Verhaltens von Verkehrsteilnehmern (z. B. Gurtanlegeptlicht; Lenkzeiten). Damit ist die Möglichkeit, weite Teile des Straßenverkehrsrechts und der damit zusammen hängenden Straf- und Bußgeldbestimmungen zu harmonisieren, prinzipiell eröffnet". Zu denken wäre etwa an eine einheitliche Ausgestaltung der Trunkenheitsdelikte" (vgl. aber Rn. 51). Ein praktisches Anwendungsbeispiel für strafrechtliche Harmonisierungsmaßnahmen im Bereich der gemeinsamen Verkehrspolitik bildet die Anweisung zur EinfLihrung strafrechtlicher Sanktionen zur Bekämpfung der Meeresverschmutzung durch Schiffe." (Art . 10011 AEUV ; ex-Art. 80 11 EGV) . c) Umweltschutz (Art. 191-193 AEUV) 43 Bereits seit Anfang der 1970er Jahre setzte die frühere Gemeinschaft europäisches Umweltrecht auf der Grundlage einer dynamischen Handhabung des Vertrages, insbesondere einer extensiven Interpretation der in ex-Art. 94 EGV und ex-Art. 308 EGV enthaltenen Harmonisierungskompetenzen. Eine bedeutsame Aufwertung erfuhr der gemeinschaftliche Umweltschutz mit dem Inkrafttreten der EEA im Jahre 1987 durch EinfLigung eines besonderen Umweltkapitels in den ex-EGV , 75 76
77
78
Böse, Strafen und Sanktionen, S. 63; Satzger, Europäisierung, S. 471. Böse, Strafen und Sanktionen, S. 66; Gröblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 93; Satzger, Europäisierung, S. 413 f. Bislang existiert nur eine Empfehlung der Kommission betr. den für Kraftfah rzeugfahrer höchsten zulässigen Blutalkoholgehalt (ABlEG 200 I Nr. L 43) . RL 2009!123 /EG v. 21. Oktober 2009 (ABlEU 2009 Nr. L 280, S. 52).
B. Strafrechtsangleichung in harmonisierten Politikbereichen
287
welches später durch die Verträge von Maastricht und Amsterdam weiterentwickelt wurde . Auch heute wird der Umweltschutz maßgeblich durch die Umweltpolitik der Union geprägt. Diese dient nach der Zielsetzung des Art. 191 I AEUV (ex-Art. 174 I EGV) der Erhaltung und dem Schutz der Umwelt sowie einer Verbesserung ihrer Qualität, dem Schutz der menschlichen Gesundheit, der umsichtigen und rationellen Verwendung der natürlichen Ressourcen und der Förderung von Maßnahmen auf internationaler Ebene zur Bewältigung regionaler oder globaler Umweltprobleme. Sie hat sich an einem "hohen Schutzniveau" zu orientieren (Art. 191 11 AEUV ; ex-Art. 174 11 EGV) . Schwerpunkte der bisherigen Harmonisierungsaktivitäten bildeten die Bereiche Luftreinhaltung, Lärmbekämpfung, Abfallwirtschaft, Chemikaliensicherheit, Gewässer-, Natur- und Klimaschutz. Damit ist bereits vorgezeichnet, welche Bestimmungen des mitgliedstaatliehen Strafrechts von einer Rechtsangleichung nach Maßgabe des Art. 83 11 AEUV erfasst sein können . Zu denken ist in diesem Zusammenhang vor allem auch an die Lösung der bei grenzüberschreitenden Umweltverst ößen auftretenden Rechtsprobleme". Art. 192 I AEUV (ex-Art. 175 I EGV) bietet eine Kompetenzgrundlage, die es der Union gestattet, die Mitgliedstaaten zur Ergreifung strafrechtlicher Maßnahmen gegen gravierende Umweltrechtsverstöße zu verpflichten und damit zu einem wirksamen Schutz der Umwelt beizutragen. Ergänzend kann auf Art. 114 AEUV (ex-Art. 95 EGV) rekurriert werden , da divergierende umweltstrafrechtliche Standards in den Mitgliedstaaten zu Wettbewerbsverzerrungen führen können (Rn. 25) . Auf die am 26. Dezember 2008 in Kraft getretene Richtlinie 2008/99/EG des EP und des Rates v. 19. November 2008 über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt wurde bereits hingewiesen (Rn . 32 ff.).
d) Schutz der EU-Finanzinteressen (Art. 325 IV AEUV) Fall 2: Die Kommission nahm bereits vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon eine 44 strafrechtliche Anweisungskompetenz der EG in Anspruch, wie in dem von ihr vorgelegten Vorschlag für eine Richtlinie des EP und des Rates über den strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft v. 23. Mai 2001 80 zum Ausdruck gelangt'" . Rechtspolitischer Hintergrund dieses Richtlinienvorschlags war die aus Sicht der Kommi ssion allzu zögerliche Ratifikation des im Rahmen der 3. Säule geschlossenen Übereinkommens über den Schutz der finanz iellen Intere ssen der Gemein schaften v. 26. Jul i 1995 nebst den beiden Zusatzprotokollen. Die Kommi ssion erblickte in ex-Art. 280 IV EGV eine passende Recht sgrundlage für die Annäherung des materiellen Strafrechts in Bezug auf die Definition von Betrug, Korruption und Geldwäsche zum Nachteil der Gemeinschaft sowie die strafrechtliche Verantwortlichkeit und die Strafen . Nach dem Willen der Kommission sollen in der Richtlinie definitorische Vorgaben zu bestimmten, von den Mitgliedstaaten zu erlassenden Straftatbeständen gemacht werden . Ferner sollen die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet werden , dass die den Vorgaben entsprechenden Handlungen (Straftaten) durch wirksame, angemessene und abschreckende Strafen geahndet werden können , die zumindest in schweren Betrugsfällen auch Freiheitsstrafen umfassen . Die vorge schlagenen Be79 80 81
Vgl. hierzu Hecker, ZStW 115 (2003) , S. 880, 901 ff: KOM (200 I) 272 endg . Vgl. die überarbeitete Fassung des Richtlinienvorschlags v. 16. Oktober 2002 ; KOM (2002), 577 endg .
288
§ 8 Strafrechtliche Annexkompetenz der EU
stimmungen gehen also deutlich über eine bloße Konkret isierung der bereits aus ex-Art . 10 EGV abzuleitenden Sanktionierungsgebote zum Schutz der finanziellen Interessen hinaus. Frage I : War der Richtlinienvorschlag von ex-Art. 280 IV EGV gedeckt? (Vgl. Rn. 45) Frage 2: Kann ein entsprechender Richtlinienvorschlag auf Art. 325 IV AEUV i. V. m. Art. 83 11 AEUV gestützt werden? (Vgl. Rn. 46)
45 Lösungshinweise zu Frage I : Der durch den Amsterdamer Vertrag geschaffene ex-Art. 280 IV EGV wurde schon bei der Diskussion einer etwaigen Strafrechtssetzungskompetenz der früheren EG einer näheren Betrachtung unterzogen (§ 4 Rn. 80 f.). Nach hier vertretener, aber umstrittener Ansicht ließ sich aus ex-Art. 280 IV S. 1 EGV zwar keine supranationale Strafgesetzgebungskompetenz, wohl aber eine Befugnis zur Angleichung mitgliedstaatliehen Strafrechts ableiten, soweit dies zur Erreichung des spezifischen Schutzzwecks (Bekämpfung von Betrügereien zum Nachteil der EG) erforderlich war (§ 4 Rn. 81). Allerdings fiel nach Auffassung des EuGH82 (Rn. 31) die Bestimmung von Art und Maß der anzuwendenden strafrechtlichen Sanktionen nicht in die Zuständigkeit der EG, sodass der Richtlinienvorschlag der Kommission bezüglich der Anweisung, in schweren Fällen auch Freiheitsstrafen vorzusehen, nicht von ex-Art. 280 IV EGV gedeckt war . 46 Lösungshinweise zu Frage 2: Der durch den Vertrag von Lissabon neu gefasste Art . 325 IV AEUV verzichtet auf die in ex-Art. 280 IV S. 2 EGV enthaltene Vorbehaltsklausel (" Die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege bleibt unberührt. H), wodurch streiterledigend klargestellt wird , dass im Bereich des Schutzes der EU-Finanzinteressen eine Strafrechtsharmonisierung durch Richtlinien nach Maßgabe des an diese Annexkompetenz anknüpfenden Art . 83 " AEUV möglich ist83. Angleichungsfähig sind sowohl die Straftaten (Tatbestandsmerkmale) als auch die Strafen (Rechtsfolgen). Auf die gestellte Frage ist daher zu antworten, dass der Erlass einer Richtlinie zur strafrechtlichen Bekämpfung des EU-Betrugs, wie ihn der Kommissionsvorschlag v. 23 . Mai 2001 vorsah , auf Art . 325 IV AEUV i. V. m. Art . 83 " AEUV gestützt werden kann . Allerdings müssen - wie in allen Fällen der Ausübung einer strafrechtlichen Annexkompetenz - die vom Unionsrecht abgesteckten Harmonisierungsgrenzen (Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz) beachtet werden (Rn . 48 ff.).
3. Allgemeine Harmonisierungsbefugnisse (Art. 114, 115 AEUV) 47 Die Harmonisierungsbefugnisse der Art . 114, 115 AEUV (ex-Art. 95 , 94 EGV) sind nicht auf bestimmte Sachbereiche begrenzt, sondern funktional (zielgerichtet) konzipiert'". Harmonisierungsmaßnahmen können auf Art . 115 AEUV (ex-Art. 94 EGV) nur gestützt werden, wenn sie sich auf Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten beziehen, die sich auf die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarktes auswirken. Der Binnenmarkt beschränkt sich aber nicht auf die ausdrücklich in Art . 26" AEUV (ex-Art. 14" EGV) genannten Elemente, 82 83 84
EuGHE 2007, 9097 = NStZ 2008, 703. Satzger, KritV 2008, 25 ff.; ders., IntStR, § 9 Rn. 50. Kahl, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EU-lEG-Vertrag, Art. 94 EGV Rn. 3.
B. Strafrechtsangleichung in harmonisierten Politikbereichen
289
sondern erstreckt sich im Rahmen der Grundfreiheiten auf ein System unverfälschten Wettbewerbs. Im Anwendungsbereich des Art . 114 AEUV liegen somit grundsätzlich alle Vorschriften - einschließlich Sanktionsbestimmungen - , die den freien Wettbewerb im Binnenmarkt beeinträchtigen können und deren Harmonisierung der Herstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen dient". Art . 114 AEUV ermächtigt z. B. zu strafrechtlichen Harmonisierungsmaßnahmen in den Bereichen Geldwäsche (Rn . 17 ff.), Insiderhandel'" und Schutz des geistigen Eigentums'". Auch die früher im Rahmen der PJZS ergriffenen Maßnahmen (Rahmenbeschlüsse) zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln'", Bestechung im privaten Sektor'" und Angriffen auf Informationssysteme'" können auf Art . 114 AEUV i. V. m. Art . 83 Abs . 2 AEUV gestützt werden.
111. Grenzen der strafrechtlichen Anweisungskompetenz Die Kompetenzausübungsbefugnis der Union wird durch die Grundsätze der Sub- 48 sidiarität (Art. 5 I S. 2, III UA 1 EUV) und Verhältnismäßigkeit (Art. 5 I S. 2, IV UA 1 EUV) begrenzt?" . Art . 83 II AEUV bestimmt, dass die Union von ihrer auf Annexkompetenz beruhenden strafrechtlichen Anweisungsbefugnis nur Gebrauch machen darf, wenn sich die Angleichung strafrechtlicher Rechtsvorschriften für die wirksame Durchführung der Unionspolitik in einem harmonisierten Bereich als "unerlässlich" erweist. Dieses der Judikatur des EuGH zur strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG (Rn . 30, 31) entstammende Kriterium ist als Ausprägung des Subsidiaritätsgrundsatzes (Rn . 49 ff.) zu begreifen. Problematisch erscheint die Ausdeutung, nach der das Unerlässlichkeitserfordernis den Beurteilungsspielraum des europäischen Gesetzgebers dahingehend einschränke, dass eine Strafrechtsangleichung erstens nur bei (empirischem) Nachweis eines gravierenden Vollzugsdefizits erfolgen dürfe, welches zweitens nur durch Strafandrohung beseitigt werden k önne'". Dem Unionsgesetzgeber kann nicht abver-
8S 86
87
88
89 90 91
92
Kahl, in: Call iess/Ruffert (Hrsg.), EU-lEG-Vertrag, Art . 94 EGV Rn. 17. Vgl. RL 2003 /6/EG des EP und des Rates über Insider-Geschäfte und Marktmanipul ation v. 28. Januar 2003 (ABlEU 2003 Nr . L 96, S. 16; zuletzt geändert durch Art . 1 RL 2008 /26 /EG v. 11. Mär z 2008 (AB IEU 2008 Nr. L 81, S. 42); vgl. hierzu Park, NStZ 2007,369 ff. Vgl. den Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des EP und des Rates über strafrechtliche Maßnahmen zur Durch setzung der Rechte des ge istigen Eigentums v. 26. Juni 2006 (KOM [2006] 168 endg .). ABIEU 2001 Nr . L 149, S. I. AB IEU 2003 Nr. L 192, S. 54. AB IEU 2005 Nr. L 69, S. 67. Vgl. hierzu Kubiciel, NStZ 2007 , 136, 138 ff., der zutreffend auf die freiheitssichernde Dimen sion der kompetenzrechtlichen Regulative hinwe ist. So aber BVerfG NJW 2009,2267,2288; zust. Satzger, IntStR, § 9 Rn. 41; Zimmermann, Jura 2009 , 844 , 850 .
290
§ 8 Strafrechtliche Annexkompetenz der EU
langt werden, was auch auf nationaler Ebene kaum jemals zu leisten ist93 . Wegen des Vorrangs des Unionsrechts (§ 9 Rn. 2) können sich die rechtlichen Grenzen, die der Strafrechtsangleichung in harmonisierten Politikbereichen ges etzt sind , nur aus dem Unionsrecht selbst ergeben. Aus unionsrechtlicher Sicht dient die an bereits harmonisierte Politikbereiche anknüpfende strafrechtliche Annexkompetenz dem Schutz von Unionsinteressen und der effektiven Durch setzung des Unionsrecht s?' . Dieser aus dem Prinzip der Union streue (Art. 4 III UA 2 EUV) abzuleitende Schutzauftrag (§ 7 Rn. 2, 24 ff.) darf - ungeachtet der Anerkennung eines strafrechtl ichen Schonungsgebotes (Rn . 55) - nicht durch die Errichtung einer zu restriktiven Kompetenzausübungsschranke konterkariert werd en'". Bei funktionaler Betrachtung ist den nation alen Souveränit ätsinteressen im Anwendungsfeld der Strafrechtsharmonisierung aufgrund Ann exkompetenz grundsätzlich ein geringeres Gewicht beizumessen als bei der Strafrechtsangleichung nach Art . 83 I AEUV (§ 11), zuma l die Harmonisierung i. R. d. Art . 83 11 AEUV in der Regel Bereiche betrifft, die weniger stark von nationalen Wertvorstellungen geprägt sind'". Verfehlt ist daher auch der Vorschlag, die strafrechtliche Annexkompetenz in Analogie zu Art. 83 I AEUV auf den Bereich schwerer Kriminalität zu beschränken '" .
1. Subsidiaritätsprinzip 49 Eine Komp etenzausübungsschranke ergibt sich zunächst aus dem in Art . 5 I S. 2, III UA I EUV verankerten Subsidiarit ätsprinzip, wonach die Union in den Bereichen , die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen , nur tätig werd en darf, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßn ahm en von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können , sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Union seben e besser zu verwirklichen sind. Das Sub sidiaritätsprinzip soll einer ausufernden Inanspruchnahme der unionsrechtlichen Regelungsgewalt entgegenwirken. Es handelt sich dabei nicht um einen bloß en Programmsatz, sond ern um eine rechtlich verbindliche und justiziable Komp etenzausübungsregel. Nach Art . 3 AEUV gehören zur ausschließlichen Zust ändigkeit der Union lediglich die Politikbereiche Zollunion, Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln, Währungspolitik in der Eurozone, Erhaltung der biologischen Meeresschätze und Handelspolitik. Im Regelfall besteht also lediglich eine geteilte Zust änd igkeit der Union (Art . 4 11 AEUV) mit der Folge , dass strafrechtliche Harmonisierungsmaßnahmen nur unter strikter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips zulässig sind.
93 94 95
96 97
Kubiciel, GA 2010, 99, 105; krit. auch Reiling/Resch ke, wistra 2010,47,50 I: Meyer, NStZ 2009, 657, 662. Mansdörf er, I-IRRS 2010, 11, 18. Böse, ZIS 2010, 76, 87. So aber Bacigalup o, ZStW 116 (2004), 326, 329; Walter, ZStW 117 (2005), 912, 929; dagegen zutr. Böse, ZIS 2010, 76, 87.
B. Strafrechtsangleichung in harmonisierten Politikbereichen
291
Die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips liegt vor allem darin, dass es den an der 50 Rechtsetzung auf Unionsebene beteiligten Organen besondere Rechtfertigungsund Begründungslasten auferlegt, die vor dem Ergreifen von Maßnahmen zu prüfen sind'". Die Organe der Union wenden das Subsidiaritätsprinzip nach dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit an (Art . 5 11I UA 2 S. 1 EUV), in dem die aus Art. 5 11I UA 1 EUV abzuleitenden Kriterien der Subsidiaritätsprüfung konkretisiert werden . Mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar sind im Ergebnis nur Maßnahmen, die das Erforderlichkeits- und das Effizienzkriterium erfüllen'". Die Erforderlichkeit ist zu bejahen, wenn ein Unionsziel nur durch das Tätigwerden der Union erreicht werden kann. Kann dieses Ziel bereits durch Maßnahmen der Mitgliedstaaten in ausreichender Weise verwirklicht werden, so steht dieser Befund der Erforderlichkeit einer Unionsmaßnahme entgegen. Bei der Prognose , ob die Mitgliedstaaten in der Lage sind, das Ziel bereits durch Maßnahmen auf nationaler Ebene in ausreichender Weise zu erreichen, sind deren wirtschaftliche und organisatorische Leistungsfähigkeit sowie deren rechtliche Handlungsmöglichkeiten einer Gesamtbewertung zu unterziehen. Die Erforderlichkeit von Harmonisierungsmaßnahmen wird am ehesten in grenzüberschreitenden Bereichen der gemeinsamen Politiken (z. B. Umwelt, Verbraucherschutz, Wettbewerb) zu bejahen sein, in denen die Verwirklichung der Unionsziele die Überwindung divergierender nationaler Schutzstandards und Wettbewerbsbedingungen erfordert. Erst recht ist ein Tätigwerden der Union erforderlich, wenn zumindest ein Mitgliedstaat " von sich aus" voraussichtlich keine hinreichenden Aktivit äten zur Erreichung des Unionsziels entfalten wird 10o • Nachdem die Erforderlichkeit einer Unionsmaßnahme bejaht wurde , bleibt für das Effizienzkriterium ("Mehrwert-Test") nur noch ein geringer Anwendungsspielraum. Nur wenn die EU ebenso wenig wie die Mitgliedstaaten in der Lage ist, ausreichende Maßnahmen zur Zielerreichung zu treffen , steht dies der Ausübung einer Unionskompetenz entgegen'?' . Nach alledem dürfte das Subsidiaritätsprinzip der Ausübung strafrechtli- 51 cher Harmonisierungsbefugnisse auf den Gebieten der Gemeinsamen Politiken in weiten Bereichen entgegenstehen, da die Mitgliedstaaten regelmäßig in der Lage sein dürften , hinreichende strafrechtliche Maßnahmen zu ergreifen , um die Realisierung der gemeinsamen Politiken zu gewährleisten. Dies trifft vor allem auf das Verkehrsstrafrecht zu. Das Unionsziel der Verkehrssicherheit (Art. 91 Abs. I lit. c AEUV ; Rn. 42) erfordert zwar effektive Sanktionen gegen gravierende Verkehrsverstöße wie z. B. Trunkenheitsfahrten. Diese Maßnahmen können jedoch bereits auf mitgliedstaatlicher Ebene wirkungsvoll ergriffen werden . Anders ist im Bereich des Umweltstrafrechts zu entscheiden. Nach zutreffender und auch vom EuGH (Rn. 30) bestätigter Auffassung ist die Erforderlichkeit einer Angleichung umweltstrafrechtlicher Haftungsprinzipien und die Schaffung eines 98 99
Vgl. hier zu Satzger , Europäisierung, S. 441, 445. Groblinghof]. Verptlichtung des Strafgesetzgebers, S. 138 f.; Satzger, Europäisierung, S. 446 f.
100
101
Satzger, Europäisierung, S. 447 . Satzger, Europäisierung, S. 447 f.
292
§ 8 Strafrechtliche Annexkompetenz der EU
umweltstrafrechtlichen Mindeststandards zu bejahen , weil nur so das Phänomen der grenzüberschreitenden Umweltkriminalität wirksam bekämpft und das Unionszi el eines effektiven Umweltschutzes realisiert werden kann 102 • Das Subsidiaritätsprinzip steht auch strafre chtlichen Anweisungen nach Art. 325 IV AEUV, die auf den Schutz der EU-Finanzinteressen abzielen, nicht entgegen, da sich gerade die Uneinheitlichkeit des mitgliedstaatliehen Strafrechtsschutzes als Hindernis für eine wirksame Bekämpfung von Betrügereien und Unregelmäßigkeiten zu Lasten des EU-Haushalts erweist. Auch den im Anwendungsfeld der allgemeinen Harmonisierungsbefugnisse (Art . 114, 115 AEUV) liegenden Maßnahmen zur Realisierung des Binnenmarktes - ein Beispiel hierfür ist die Geldwäschebekämpfung - steht das Subsidiaritätsprinzip nicht entgegen, soweit ihre transnationale Dimension die Erforderlichkeit supranationalen Handeins indiziert 103 •
2. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 52 Flankiert wird das Subsidiaritätsprinzip von dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der durch Art. 5 IV UA I EUV auf das Verhältnis der Union zu den Mitgliedstaaten ausgedehnt wird . Die Mitglied staaten werden im Kontext dieser Norm wie belastete Einzelne betrachtet, denen gegenüber eine Maßnahme nur dann als rechtmäßig erscheint, wenn sie zur Erreichung des mit ihr angestrebten Unionsziels geeignet, erforderlich und angemessen ist. Als denkbare Belastungen für die Mitgliedstaaten können sich z. B. die in der Maßnahme vorge sehene Regelungsdichte, ihre finanziellen Auswirkungen, die von ihr erzwungene Abkehr von eingespielten Verfahren oder die systemwidrige Durchbre chung nationaler Rechtsstrukturen erweisen . Die Organe der Union wend en den Grund satz der Verhältnismäßigk eit nach dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit an (Art . 5 IV UA 2 EUV). 53 Beispiel für eine unverhältnismäßige Anweisung: Würde den Mitgliedstaaten von einer Richtlini e vorgeschri eben , den (in der Richtlinie näher definierten) Kapitalanlagebetrug mit einer erhöhten Minde ststrafe zu bedrohen, so führte dies zu erheblichen Friktionen mit bestehenden national en Stratbestimmungen, die den Kapitalanlagebetrug als Vorfeldtatbestand gegenüber dem " klassischen" Betrug ausgestaltet haben . So entstünde bei einer Umsetzung dieser Vorgabe in deutsches Recht ein systemimmanenter Wertungswiderspruch , weil § 264 a StGB als gegenüber § 263 StGB subsidiärer Tatbestand eine höhere Mindeststrafe aufweisen würde als für eine Tat nach § 263 StGB vorgesehen ist. Die gleichzeitige Anhebung des Mindeststrafrahmens beim Betrugstatbestand würde zwar den Wertungswiderspruch zwischen § 263 StGB und § 264 a StGB beseitigen, j edoch neue
102
103
Hecker, ZStW 115 (2003), S. 880, 901 Ir ; Dannecker, JZ 1996,869,879; ders., Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 199; Knaut, Europäisierung des Umweltstrafrechts, S. 320 ff. Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 195 ff. ; Satzger, Europäisierung, S. 449.
B. Strafrechtsa ngleichung in harmoni sierten Politikbereichen
293
Friktion en mit § 242 StGB hervorrufen, welcher bislang den selben Strafrahmen aufwei st wie § 263 StGB104. Wenn mehrere geeignete Unionsmaßnahmen für die Zielerreichung zur Aus- 54 wahl stehen, muss die für die Mitgliedstaaten am wenigsten belastende gewählt werden. Ferner müssen die auferl egten Belastung en in einem angemessenen Verhältnis zu den angestrebt en Zielen stehen. Art. 5 IV UA 1 EUV betrifft im Gegen satz zu Art. 5 111 UA 1 EUV nicht das "Ob" , sondern das "Wie" der Kompetenzausübung der Union und gilt auch für Maßnahmen, die in deren ausschli eßlichen Zuständigkeitsbereich fallen . In den Fällen , in denen nicht bereits das Subsidiarit ätsprin zip der Ausüb ung einer strafrechtlichen Harmonisierungskompetenz der EU entgegensteht, bewirkt der Verhältnismäßigk eitsgrundsatz, dass die Unionsmaßnahme nicht über das zur Zielerreichung notwendige Interventionsminimum hinausg eht.
3. Reichweite der strafrechtlichen Anweisungsbefugnis der EU In der Zusammenschau der nach Art . 4 11 EUV zu achtenden nation alen Identit ät 55 der Mitgliedstaaten sowi e der in Art . 5 EUV verank erten Kompetenzausübung sschranken lässt sich - wie bereits im früheren Gemeinschaftsrecht - ein strafrechtsspezifisches Schonungsgebot'?" postulieren . Danach sind die Harmonisierungsbefugnisse der Union im Rahm en ihrer originären Strafrechtsangl eichungskompetenz (Art . 83 I AE UV; vgl. hierzu § 11) und hinsichtlich der Anne xkompetenz (Art . 83 11 AEUV) nach Maßgab e folgend er Grundsätze beschränkt: (1) Die Union darf keine unmittelbar anwendbaren Strafnormen - auch nicht im Gewande einer Harmonisierungsmaßnahme - erlassen. (2) Richtlinien dürfen die von den Mitgliedstaaten zu erlassende(n) Sanktionsnorm(en) weder auf der Tatbestands- noch auf der Rechtsfolgenseite detailliert vorgeben. Es ist also unzulässig, in einer Richtlinie den Erlass konkret ausformulierter Straftatbestände - wie sie sich z. B. im deutschen StGB finden - vorzuschreiben. (3) Die Richtlinie mu ss den Mitgliedstaaten so viel Umsetz ungsspielr a um bela ssen , dass es die sen möglich ist, die zu schaffende(n) Sanktionsnorm(en) unter Wahrung der Koh ärenz ihres Sa nkt ionensyste ms in die nationale Rechtsordnung zu integrieren 106. Dem nationalen Gesetzgeber mu ss deshalb eine Auswahlmöglichkeit zwischen mehreren a nnä her nd gleichwertigen Umsetzu ngsmaß na h men eingeräumt werden.
104 105
106
Eisele , JZ 2001 , 1157, 1163. Böse, ZIS 2010 , 76,85 ; Eiseie, JZ 2001 , 1157, 1163; Satzger, Europäis ierung, S. 166 ff.; ders., IntStR, § 9 Rn. 9, 27. Vgl. zu dem Aspek t, die au f europäischer Ebene bestehenden Einzelermächtigungen in eine r die mitgliedstaatlieh en Zuständigkeiten schonenden Weise wahrzunehmen BVerfG NJW 200 9, 2267, 2280 . Auch die Kommission hebt das Kohärenzgebot als zentrales Element der Strafrechtspoliti k der Union hervor; vgl. KOM (2005) 583 endg., S. 5.
294
§ 8 Strafrechtliche Annexkompetenz der EU
IV. Verfahrensrechtliche Notbremse (Art. 83 111 AEUV) 56 Der Vertrag von Lissabon hat eine verfahrensrechtliche "Notbremse" eingeführt, die - wenn der ein Veto einlegende Mitgli edstaat nicht umgestimmt werden kann - einer Angleichung strafrechtlicher Rechtsvorschrift en nach Art . 83 I oder 11 AEUV entgegensteht'?". Art . 83 111 AEUV bestimmt: "Ist ein Mitglied des Rates der Auffassung, dass der Entwurf einer Richtlinie nach den Abs ätzen I oder 2 grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung berühren würde, so kann es beantragen, dass der Europäische Rat befasst wird. In diesem Fall wird das ordentliche Gesetzgebungsverfahren ausgesetzt. Nach einer Aussprache verweist der Europäische Rat im Falle eines Einvernehmens den Entwurf binnen vier Monaten nach Aussetzung des Verfahrens an den Rat zurück, wodurch die Aussetzung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens beendet wird. Sofern kein Einvernehmen erzielt wird, mindestens neun Mitgliedstaaten aber eine Verstärkte Zusammenarbeit auf der Grundlage des betreffenden Entwurfs einer Richtlinie begründen möchten, teilen diese Mitgliedstaaten dies binnen derselben Frist dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission mit. In diesem Fall gilt die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit nach Artikel 20 Absatz 2 EUV und Artikel 329 Absatz I dieses Vertrags als erteilt, und die Bestimmungen über die Verstärkte Zusammenarbeit finden Anwendung."
57 Ein Mitgliedstaat, der durch den Erlass einer der Strafrechtsharmon isierung dienenden Richtlinie grundlegende Aspekte se iner Strafrecht sordnung berührt sieht, kann nach Art . 83 111 AEUV das ordentliche Gesetzgebungsverfahren (§ 4 Rn. 7) blocki eren und sich einer Recht sangl eichung entz iehen. Die übrigen Mitgli edstaaten können die Richtlin ie jedoch im Wege einer Verstärkten Zusammenarbeit erlassen, so dass sie nur ihnen gegenüber Wirkung entfaltet. "Grundlegende Aspekte der Strafrechtsordnung", die nicht nur aus deuts cher Sicht geg en den Erlass einer Richtlin ie geltend gemacht werd en könnten, sind Z.B. in folgenden verfassungsrechtlichen, strafrechtsdogmatischen und kriminalpolitischen Zusammenhängen denkbarl'": Rechtsgutsprin zip, Schuldprinzip Rückw irkun gsve rbot Bestimmtheitsgebot (Wortlautschranke) Ultima-Ratio-Prinzip Strafbarkeit juristischer Personen Fahrlässigkeitshaftung bei Eigentums- und Vermögensdelikten 107
108
Vgl. hierzu Heger, ZIS 2009, 406, 413 ff.; Mansdörfer, I-IRRS 2010, 11,20; Satzger, KritV 2008, 17,26 f., 37; ders., IntStR, § 9 Rn. 46 ; Sieber, ZStW 121 (2009), 1,56; Zimmermann, Jura 2009, 844, 848. Heger, ZIS 2009, 406, 414 f.; vgl. hierzu auch Satzger, KritV 2008, 17,34 ff sowie das von der internationalen Wissenschaftlergruppe .European Criminal Policy Initiative" erarbeitete Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik , ZIS 2009 , 697 ff.
C. Literat urhinweise
295
Stimmigkeit der Strafrahmen und Strafzumessungskonzepte Bereichsspezifische AT-Vorgaben zum Umwelt- und Wirtschaftsstrafrecht Täterschaft und Teilnahme, Vorsatzkonzeptionen, Rücktritt, tätige Reue Verwaltungsakzessorietät im Umweltstrafrecht Abgrenzung von Verwaltungssanktionen und Kriminalstrafrecht Drogenpolitik, Sterbehilfe'?", Abtreibung Dass andere Mitgliedstaaten oder Unionsorgane die Auffa ssung des Veto einle- 58 genden Staates teilen , ist nicht erforderlich. Art. 83 III AEUV gesteht diesem eine nicht überprüfbare Einschätzungsprärogative zu. Auch ein ohne nachvollziehbare Begründung eingelegtes Veto bringt daher grunds ätzlich einen von der erforderlichen Mehrheit im Rat getragenen Rechtsakt auf dem Gebiet des Strafrechts zu Fall. Etwas anderes dürfte nur gelten , wenn der betreffende Staat sein Veto missbräuchlich , d. h. allein aus anderen als den in Art. 83 III AEUV genannten Gründen einlegt'!". Da hierin eine Verletzung der Treuepflicht (Art . 4 III EUV) zu sehen ist, steht zu erwarten, dass die Kommi ssion das Vertragsverletzungsverfahren (§ 4 Rn. 38) als Instrument der Missbrauchskontrolle nutzen wird!" .
C. Literaturhinweise Ambos, Intern ationales Strafrecht, 2. Aufl., 2008, § 11 Rn. 30-32 a Böse, Strafen und Sanktionen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1996, S. 6 I- 78 ders., Die Zuständigkeit der EG für das Strafrecht, GA 2006 , 21 I ders., Die Entscheidung des BVerfG zum Vertrag von Lissabon und ihre Bedeutung für die Europäisie rung des Strafrechts, ZIS 2010, 76 Dannec ker, Strafrecht in der EG, JZ 1996, 869, 873 ders., Die Entwicklung des Strafrechts unter dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts, Jura 1998,79 ders., Das materielle Strafrecht im Spannungsfeld des Rechts der Europäischen Union, Jura 2006,95 ders., in: Wabnitz/Jano vsky (I-Irsg.), Handbuch des Wirtschaft s- und Steuerstrafrechts, 3. Aufl ., 2007, Kap. 2 Rn. 70-72, 194-199 Diehm, Die "sa fe-harbour"-Verordnung und das Urteil des EuGH zum Rahmenbeschlu ss über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht - Erste Konturen einer europ äischen Strafrechtskompetenz? -, wistra 2006 , 366 Eiseie, Einflussnahme auf nationales Strafrecht durch Richtliniengebung der Europäischen Gemeinscha ft, JZ 2001, 1157 ders., Harmonisierung des Umweltstrafrechts in der Europäischen Union, in: Pache (Hrsg.), Die Europäische Union - ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts?, 2005 , S. 134 109
110 111
Vgl. hierzu Hilgendorf, Sterbehilfe in Europa, in: Joerden/Swarc z (Hrsg.), Europäisierung des Strafrechts in Deutschland und Polen, 2007, S. 173 ff. Heger, ZIS 2009, 406, 414 . Zimmermann, Jura 2009, 844, 848.
296
§ 8 Strafrechtliche Annexkompetenz der EU
Frenz/Wübbenhorst, Die Europäisie rung des Strafrechts nach der Lissabon-E ntsche idung des BVe rfG, wistra 2009,449 Groblinghoff Die Verpflichtung des deutschen Strafgesetzgebers zum Schutz der Intere ssen der Europäischen Gemein schaften, 1996, S. 83-142 Hecker, Europäisches Strafrecht als Ant wort auftransnat ional e Kriminalität", JA 2002 , 723 ders., Sind d ie nat ional en Gren zen des Strafrecht s überw indbar? - Die Harmonisierun g des materiellen Strafrechts in der Europäis chen Union, JA 2007 , 561 ders., Die gemeinsch aftsrechtlichen Strukturen der Geldwäsche strafbarkeit, Kreuzer-F S, 2008 , S.216 Hefendehl, Europäischer Umwe ltschutz: Demokratiespritze für Europa oder Brüsse ler Puts ch?, Z IS 2006, 161 Heger, Anm erkun g zu EuGH v. 13. Septemb er 2005 , JZ 2006,310 ders., Perspektiven des Eur opäischen Stra frec hts nach dem Vertrag von Lissabon , ZI S 2009,406 Hugger, Strafrechtliche Anweisun gen der EG, 2000, passim Kaiafa-Gb andi , Aktu elle Strafrechtsentwicklun g in der EU und rechts staatl iche Defi zite, Z IS 2006 , 521 Kerl, Lebe nsmittelstra fre cht in Spannungsfeld des Gem einschaftsrechts, 2004 , S. 488 ff. Knaul, Die Europ äisierung des Umweltstra frechts, 2005 , S. 320 ff. Kubiciel, Grund und Grenze n strafrechtlicher Anweis ungs kompetenz der EG, NStZ 2007 , 136 ders., Das .Lissabonv-Urte il und sein e Folge n für das Europäische Strafrecht , GA 20 I0,99 Mansdorfer, Das Europäische Strafrecht nach dem Vert rag von Lissabon - oder Europäisierung des Strafrechts unter national staatliche r M itverantwortung, HRRS 20 I0, 11 Meye r, Die Lissabon- Ent scheidung des BVerfG und das Stra frecht, NS tZ 2009 , 657 Pohl , Ve rfassungsvertrag durch Richterspruch - Die Ent sche idun g des EuG H zu Kompetenzen der Geme insch aft im Umweltstra frecht, ZI S 2006, 213 Reili ng/Reschke, Die Auswirkun gen der Lissabon-Entscheidun g des ßVerfG auf die Europäisierun g des Umwe ltstrafrechts, wistra 20 I0,47 Rosenau , Z ur Europäisie rung im Strafrecht - Vom Schutz finan zieller Interessen der EG zu einem gem eineuropäis chen Strafgesetzbuch?, ZI S 2008, 9 Satzger . Die Europäisierun g des Strafrechts, 200 I, S. 393--473 ders., Intern ationale s und Europäisches Strafrecht, 4. Aufl., 20 I0, § 9 Rn. 31-53 Schm alenberg , Europäisches Urnwcltstra frecht, 2004 , passim Schräder, Europäische Richtlini en und deutsches Strafrecht , 2002 , S. 179-196 Spannowsky , Wettbewerbsverzerrende Defizite des gem einschaftsrechtl ichen San ktion sund Voll strec kun gssystem s, JZ 1994, 326 Vogel, Wege zu europäisch-e inheitlichen Regelungen im Allgemeinen Teil des Stra frechts, JZ 1995,331 ders., Geldwäsche - ein europaweit harmoni siert er Straftatbestand?, ZStW 109 (1997), S. 335 Wegener/Greenawalt, (Umwelt- )Strafrecht in europäischer Komp eten z - zugleich eine Anmerkung zu EuG H, Urteil v. 13. September 2005 , ZUR 2005 ,585 Zimmermann, Die Aus legung künft iger EU-Strafrechtskompetenzen nach dem Lissabo nUrteil des BVe rfG, Jura 2009,844 Zäller, Europäische Strafgesetzgebung, Z IS 2009, 340
E. Zu sammenfassung von § 8
297
D. Rechtsprechungshinweise EuGHE 2005 , 7879 = JZ 2006 , 307 = ZIS 2006, 179 (Anwe isung sko mpete nz der EG auf dem Gebiet des UmweItstrafrechts) EuGI-I 2007 , 9097 = NStZ 2008 , 703 (An weisungs kompetenz der EG auf dem Geb iet des Verkehrsstrafr echts - Meeresverschmutzung dur ch Schiffsverkehr) BVerfG NJW 2009 , 2267 (Re striktive Interp retation der strafrechtlichen Annexkompetenz)
E. Zusammenfassung von § 8 Die Bedeutung der nunmehr in Art. 83 11 AEUV verank erten strafrechtlichen 59 Annexkompetenz der Union in harmonisierten Politikbereichen erschließt sich nur vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung der EG-Harmonisierungspolitik auf dem Gebiet des Strafrechts. Diese war - wie am Beispiel des Geldw äsche-, Geldfäl schungs- und Umweltstrafrechts aufge zeigt werden kann - zunächst geprägt von dem Widerstand der im Rat versammelten Regierungsvertreter gegen alle Versuche der Kommis sion, spezifisch kriminal strafrechtliche Anweisungen sekundärrechtlich festzuschreiben. Einen einschneidenden Wendepunkt für die Strafrechtsharmonisierung im Rahmen der früheren I. Säule der EU markieren die beiden Grundsatzurteile des EuGH aus den Jahren 2005 (Umweltstrafrecht) und 2007 (strafrechtlicher Schutz des Meeres vor Verschmutzung durch Schiffe) . Der EuGH bestätigte, dass das Kriminalstrafrecht grundsätzlich einer Rechtsangleichung nach Maßgabe der im ex-EGV enthaltenen Harmonisierungsbefugnisse zugänglich ist. In dem durch den Reformvertrag von Lissabon geschaffenen Art. 83 11 AEUV 60 wird die vom EuGH bereits zuvor anerkannte Kompetenz der Union, die Mitgliedstaaten durch Richtlinien zum Erlass oder zur Änderung von Strafvorschriften anzuweisen, auf eine eindeutige Rechtsgrundlage gestellt . Zentrale Vorau ssetzung für die Begründung einer strafrechtl ichen Anweisungskompetenz und einer damit korrelierenden Verpflichtung der Mitglied staaten ist - ausgehend von dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (§ 4 Rn. 45) - der Nach weis einer entsprechenden Harmon isierungsbefugnis im Primärrech t. Dieses Erfordernis besteht auch nach Schaffung des Art . 83 11 AEUV fort, da eine Annexkompetenz zur Strafrechtsangleichung nur angenommen werden kann, wenn sie bereits in einer den betreffenden Politikbereich regelnden Vertragsbestimmung enthalten ist. Potentielle Felder für strafrechtliche Rechtsangleichungsmaßnahmen sind die Bereiche Binnenmarkt, Verbraucherschutz , Umweltschutz, Verkehr, Lebensmittelsicherheit sowie Schut z der EU-Finanzinteressen. Art. 83 11 AEUV knüpft an bestehende Harmoni sierungsbefugnisse der EU (strafrechtliche Annexkompetenzen) an und formt diese konkret aus. Angleichungsfähig sind sowohl die Straftaten (Tatbe standsmerkmale) als auch die Strafen (Rechtsfolgen). Art. 83 11 AEUV bestimmt, dass die Union von ihrer strafrechtlichen Annexkompetenz nur Gebrauch machen darf, wenn sich die Angl eichung strafrechtli cher Rechtsvorschriften für die wirksame DurchfLihrung der Unionspolitik in einem harmonisierten Bereich
298
§ 8 Strafrechtliche Annexkompetenz der EU
als "unerlässlich" erweist. Dieses der Judikatur des EuGH zur strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG entstammende Kriterium ist als Ausprägung des Subsidiaritätsgrundsatzes (Art . 5 I S. 2, 111 UA I EUV) zu begreifen. 61 Das als Kompetenzausübungsschranke wirkende Subsidiaritätsprinzip bestimmt, dass die Union in den nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallenden Bereichen nur tätig werden darf, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können , sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind. Die Organe der Union wenden das Subsidiaritätsprinzip nach dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit an (Art . 5 111 UA 2 S. I EUV), in dem die aus Art. 5 111 UA I EUV abzuleitenden Kriterien der Subsidiaritätsprüfung konkretisiert werden . Die Erforderlichkeit von Harmonisierungsmaßnahmen wird am ehesten in grenzüberschreitenden Bereichen der gemeinsamen Politiken (z. B. Umwelt, Verbraucherschutz, Wettbewerb) zu bejahen sein, in denen die Verwirklichung der Unionsziele die Überwindung divergierender nationaler Schutzstandards und Wettbewerbsbedingungen erfordert. 62 Flankiert wird das Subsidiaritätsprinzip von dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der durch Art. 5 IV UA I EUV auf das Verhältnis der Union zu den Mitgliedstaaten ausgedehnt wird. Die Mitgliedstaaten werden im Kontext dieser Vertragsbestimmung wie belastete Einzelne betrachtet, denen gegenüber eine Maßnahme nur dann als rechtmäßig erscheint, wenn sie zur Erreichung des mit ihr angestrebten Unionsziels geeignet, erforderlich und angemessen ist. Als denkbare Belastungen für die Mitgliedstaaten können sich z. B. die in der Maßnahme vorgesehene Regelungsdichte, ihre finanziellen Auswirkungen, die von ihr erzwungene Abkehr von eingespielten Verfahren oder die systemwidrige Durchbrechung nationaler Rechtsstrukturen erweisen. Die Organe der Union wenden den Grundsatz der Verhäitnismäßigkeit nach dem Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit an (Art . 5 IV UA 2 EUV) . Art. 5 IV UA I EUV betrifft im Gegensatz zu Art. 5 111 UA I EUV nicht das "Ob", sondern das " Wie" der Kompetenzausübung der Union und gilt auch für Maßnahmen, die in deren ausschließlichen Zuständigkeitsbereich fallen . In den Fällen, in denen nicht bereits das Subsidiaritätsprinzip der Ausübung einer strafrechtlichen Harmonisierungskompetenz der EU entgegensteht, bewirkt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass die Unionsmaßnahme nicht über das zur Zielerreichung notwendige Interventionsminimum hinausgeht. In der Zusammenschau der nach Art. 4 11 EUV zu achtenden nationalen Identität der Mitgliedstaaten sowie der in Art. 5 EUV verankerten Kompetenzausübungsschranken lässt sich ein strafrechtsspezifisches Schonungsgebot postulieren, das die Harmonisierungsbefugnisse der Union beschränkt. 63 Im Übrigen hat der Reformvertrag eine verfahrensrechtliche "Notbremse" eingeführt, die - wenn der ein Veto einlegende Mitgliedstaat nicht umgestimmt werden kann - einer Angleichung strafrechtlicher Rechtsvorschriften nach Art. 83 I oder 11 AEUV entgegensteht. Ein Mitgliedstaat, der durch den Erlass einer Richtlinie grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung berührt sieht, kann nach
E. Zusammenfassung von § 8
299
Art. 83 111 AEUV das ordentliche Gesetzgebungsverfahren blockieren. Die übrigen Mitgliedstaaten können die Richtlinie jedoch im Wege einer Verstärkten Zusammenarbeit erlassen, so dass sie nur ihnen gegenüber Wirkung entfaltet. Falls ein Staat sein Veto missbräuchlich, d. h. allein aus anderen als den in Art. 83 111 AEUV genannten Gründen einlegt, kann die Kommi ssion die hierin liegende Verletzung des Art. 4 111 EUV im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens rügen .
B. Hecker, Europäisches Strafrecht, DOI 10.1007/978-3-642-13127-1_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
302
§ 9 Vorrang des Unionsrechts
11. Vorranggrundsatz 1. EuGH - Unbeschränkter Vorrang des Unionsrechts 3 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH setzt sich unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht uneingeschränkt gegen entgegenstehendes nationales Recht, sogar gegen Verfassungsrecht, durchs , Dieser Vorranggrundsatz besteht nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon fort und ist demgemäß auf das Verhältnis des Unionsrechts zum nationalen Recht übertragbar. Das Primat des Unionsrechts resultiert aus dem Befund, dass durch die europäischen Verträge eine eigenständige supranationale Rechtsordnung geschaffen wurde und die Mitgliedstaaten durch Übertragung von Hoheitsrechten auf die Union ihre Souveränität beschränkt haben . Hinzu kommt , dass Art. 4 III UA 2,3 EUV (ex-Art. 10 EGV) die Mitgliedstaaten zu unionstreuern Verhalten und somit zur loyalen Mitwirkung bei der Durchsetzung des Unionsrechts verpflichtet''. In der bereits erwähnten Entscheidung "Costa/ENEL" (Rn . I) führte der Gerichtshof aus, " ... dass dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht... keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll. "4 4 Diese Aussage des EuGH gilt auch im reformierten Unionsrecht. Der Geltungsanspruch des Unionsrechts würde konterkariert, wenn sich ein Mitgliedstaat außerhalb einer besonderen vertraglichen Ermächtigung auf abweichendes nationales Recht berufen könnte . Auch stehen die unionsrechtlichen Pflichten der Mitgliedstaaten unter keinem Vorbehalt zugunsten der nationalen Rechtsordnungen .
2. BVerfG - Begrenzter Vorrang des Unionsrechts 5 Das BVerfG hat sich bereits im Jahre 1971 für den uneingeschränkten Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem einfachen Gesetzesrecht ausgesprochenund dies in ständiger Rechtsprechung bestätigt. Indessen erkannte das BVerfG dem Gemeinschaftsrecht lediglich einen begrenzten Vorrang zu, wenn dessen Vereinbarkeit mit deutschem Verfassungs recht in Frage stand . In seiner .Lissabon"-Entscheidung führte das BVerfG aus, dass an diesem Grundsatz auch im Verhältnis zum Unionsrecht festzuhalten sei".
Wegweisend insoweit EuGHE 1964, 1251, 1269 ff:; 1978,629 Ir ; 1979,2729 Ir ; vgl. hierzu Kreis, Grundfreiheiten, S. 13 Ir; Satzger, Europäisierung, S. 42 Ir EuGI-IE 1990, 2433. EuGHE 1964, 1251, 1270. BVerfGE 31, 145, 173 ff.; bestätigt von BVerfGE 52, 187; 75, 223, 240 f. BVerfG NJW 2009 , 2267 , 2284 ff
A. Unionsrecht und nationales Recht
303
In seinem sog. "Sola nge I- Beschlu ss" ? bejahte das BVerfG die verfassungsge- 6 richtliche Überprüfbarkeit von unmittelbar in allen Mitgliedstaaten geltendem Gemeinschaftsrecht am Maßstab der deutsc hen Grundrechte im Rahmen eines Normenkontro llverfahrens nach Art. 100 GG, indem es EG-Verordnungen nachkonstitutionellen Gesetzen gleichste llte. Sola nge der Integrationsprozess der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten sei, dass das Gemeinschaftsrecht auch einen vom Parlament beschlossenen und in Gelt ung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthalte, der dem Grundrechtskatalog des GG adäquat sei, sei eine Überprüfung des Gemeinschaftsrechts auf seine Vereinbarkeit mit den Grundrechten des Grundgesetzes möglich . Nach zwei vorbereitenden Besch lüssen" ge langte das BVerfG schließlich im "Sola nge Il-Besch luss''? zu einer Umkehrung der "Solange I-Formel" bei gleichzeitiger Abschwächung ihrer Voraussetzungen. Wenn der verfassungsgerichtliche Rechtsschutz hinsichtlich der Hoheitsgewalt einer zwischenstaatlichen Einrichtung entfallen solle, so müsse statt dessen eine Grundrechtsgeltung gewährleistet sein, die nach Inhalt und Wirksamkeit dem Grundrechtsschutz, wie er nach dem Grundgesetz unabdingbar sei, im Wesentlichen gleichkomme. Auf die Voraussetzung eines dem Grundgesetz adäquaten Grundrechtskatalogs hat das BVerfG ebenso verzichtet wie auf dessen Kodifikation und demokratische Legitimation durch Parlamentsbeschluss. Diese (gegenüber "Solange-I") verminderten Voraussetzungen sah das BVerfG mittler weile als erfüllt an : " ... solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofes der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das BVerfG seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht ... nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen; entsprechende Vorlagen nach Art. / 00 / GG sind somit unzulässig. " 10 Das BVerfG zieht sich somit auf eine "genereIle Gewährleistung des unabding- 7 baren Grundrechtsstandards" zur ück" und akzeptiert ein .Kooperationsverhältnis" zum EuGH, dem vorrangig die Aufgabe zukommt, den Grundrechtsschutz für das gesamte Gebiet der EG zu garantieren. Hierin liegt kein völlige Aufgabe, sondern nur eine Zurücknahme der Überprüfungskompetenz des BVerfG . Die latent weiter bestehende Überprüfungskompetenz des BVerfG könnte dann wieder aktuell werden, wenn die Rechtsprechung des EuGH in einem wichtigen Grundrechtssektor von dem aus deutscher Sicht unabdingbaren Grundrechtsstandard dramatisch abweichen sollte . Nationaler Grundrechtsschutz wird demnach nur in Ausnahrnefäl-
10 11
BVerfGE 37, 271. ßVerfGE 52,187; ßVerfG NJW 1983, 1258. ßVerfGE 73, 223, 339 = NJW 1987,577; bestätigt in ßVerfGE 89, 155, 174 f.; 102, 162,164. BVerfGE 73, 339, 387 = NJW 1987,577. BVerfGE 89, 155, 175 = NJW 1993,3047; BVerfGE 102, 147, 162 f. = NJW 2000, 3124; BVerfGE 118, 79 = NVwZ 2007, 937; BVerfG NJW 2009,2267,2285.
304
§ 9 Vorrang des Unionsrechts
len erforderlich. Die Position des BVerfG zur Vorrangfrage lässt sich zusammenfassend dahingehend charakterisieren, dass ein beschränkter, nach den obigen Grundsätzen relativierter Vorrang des Unionsrechts gegenüber nationalem Verfassungsrecht anerkannt wirdt-. Im Hinblick auf den mittlerweile erreichten Grundrechtsstandard auf Unionsebene, über dessen Einhaltung der EuGH wacht, steht freilich nicht zu erwarten, dass den verfassungsrechtlichen Vorbehalten des BVerfG große praktische Bedeutung zukommen wird .
3. Anwendungs- versus Geltungsvorrang 8 Die radikalste Schlussfolgerung, die aus dem Vorrang des Unionsrechts gegenüber dem mitgliedstaatliehen Recht gezogen werden könnte, wäre das Brechen des nationalen Rechts im föderalen Sinne (vgl. Art . 31 GG) mit der Folge der Nichtigkeit des nachrangigen Rechts". Der Gerichthof hat sich indessen für einen behutsameren Umgang mit dem nationalen Recht entschieden. Nach Auffassung des EuGH14 sowie der deutschen Rechtsprechung", die in der Sache mit der h. L.16 übereinstimmt, genießt das Unionsrecht wie das frühere Gemeinschaftsrecht gegenüber dem nationalen Recht keinen Geltungsvorrang, sondern lediglich einen Anwendungsvorrang. In besonders deutlicher Weise führte der EuGH aus :
9
"Darüber hinaus haben nach dem Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts die Vertragsbestimmungen und die unmittelbar geltenden Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane in ihrem Verhältnis zum internen Recht der Mitgliedstaaten nicht nur zur Folge, dass allein durch ihr Inkrafttretenjede entgegenstehende Bestimmung des geltenden staatlichen Rechts ohne weiteres unanwendbar wird, sondern auch - da diese Bestimmungen vorrangiger Bestandteil der im Gebiet eines jeden Mitgliedstaates bestehenden Rechtsordnung sind -, dass ein wirksames Zustandekommen neuer staatlicher Gesetzgebungsakte insoweit verhindert wird, als diese mit Gemeinschaftsnormen unvereinbar wären... "17 Dem mit Unionsrecht kollidierenden nationalen Recht wird also nicht die Wirksamkeit abgesprochen - es ist lediglich unanwendbar. Demgegenüber würde bei Annahme der Geltungsvorrangregel jede Kollision des nationalen Rechts mit entgegenstehendem Unionsrecht automatisch zur Nichtigkeit der betroffenen Rechtsvorschrift fuhren . Die Gründe, die für eine Kollisionsregel sprechen, weiche lediglich die Unanwendbarkeit unionsrechtswidriger Rechtsvorschriften vorsieht , sind überzeugend. Neben dem rechtspolitischen Argument der Rücksicht12 13
14 15
16
17
Vgl. hierzu BVerfG NJW 2009, 2267, 2285 . Dies war u. a. der Vorschlag von Grabitz , Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht , 1966, S. 98 1'1'., I 13 1'1'. EuGHE 1978,629 ff.; 1984,483 ; 1991,297,321 ; NJW 1999,2355 ; NJW 2007 ,1515 . BVerfGE 75, 223, 244 ; 85,191,204; NJW 2009, 2267, 2284 f.; 13GHSt 37,168,175; 46,380 II; BVerwGE 87,15 ; OLG München NJW 2006,3588,3591; 2008 , 3151 f.; BeckRS 2009, 11745. Ambos , IntStR, § 11 Rn. 37 ; Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 109 ff.; Kreis, Grundfreiheiten, S. 181'1'. ; Satzger, IntStR , § 9 Rn. 77. EuGHE 1978, 629, 644 ("SimmenthallI").
B. Anwendungsvorrang und nationales Strafrecht
305
nahme auf nationale Empfindlichkeiten sind es vor allem kompetenzrechtliche Erwägungen, die gegen die Geltungsvorrangthese sprechen": Durch die Anordnung der Nichtigkeitsfolge würde die Union die ihr von den europäischen Verträgen zugeschriebenen Kompet enzen überschreiten, soweit hierdurch die Normgeltung in rein innerstaatlichen Regelungszusammenhängen berührt würde . Im Übrigen ist die Annahme eines Geltungsvorranges auch gar nicht erforderlich, um dem Unionsrecht gegenüber kollidierendem nationalen Recht zur Durchsetzung zu verhelfen . Dem Primat des Unionsrechts wird bereits dadurch Genüge getan , dass kollidierende nationale Rechtsvorschriften schlicht unangewendet bleiben , ohne deren Geltung (Wirksamkeit) im rein innerstaatlichen Bereich in Frage zu stellen.
B. Anwendungsvorrang und nationales Strafrecht I. Neutralisierung mitgliedstaatlicher Strafvorschriften Das Strafrecht kann nicht etwa eine Sonderrolle für sich in Anspruch nehmen , die 10 eine Durchbrechung der allgemeinen Grundsätze zum Verhältnis zwischen Unionsrecht und nationalem Recht rechtfertigen könnte". Gesetzgeber, Gerichte und Behörden der Mitgliedstaaten müssen dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts auch im Bereich des Strafrechts Rechnung tragen . Kollidiert eine Strafnorm mit unmittelbar anwendbarem Unionsrecht, so darf sie nicht angewendet werden. Derartige Kollisionskonstellationen können sich ergeben , wenn nationales Recht Verhaltensweisen unter Strafandrohung stellt, die vom Primärrecht, einer Verordnung oder einer Richtlinienbestimmung gestattet sind, soweit letztere (ausnahmsweise) unmittelbare Wirkung entfaltet (§ 4 Rn. 53). Im Falle einer (echten) Kollision zwischen mitgliedstaatlichem Strafrecht und unmittelbar geltendem Union srecht bewirkt die Vorrangregel eine Neutralisierung der Sanktionsvorschrift-". Infolge der sich aus der Vorrangregel ergebenden Neutralisierungswirkung sind II die nationalen Strafverfolgungsorgane daran gehindert, eine Strafrechtsnorm anzuwenden, die ein vom Unionsrecht erlaubtes Verhalten pönalisiert. Wie der vom Unionsrecht geforderte Anwendungsvorrang erreicht wird, bestimmt das nationale Recht. Fraglich ist, mit welcher dogmatischen Rechtsfigur die Unanwendbarkeit einer deutschen Strafnorm begründet werden kann . Diese Frage ist relativ einfach zu beantworten bei Blankettstrafgesetzen, die an eine innerstaatliche Ausfüllungsnorm anknüpfen, indem sie auf die Zuwiderhandlung gegen ein außerstrafrechtliches Ge- oder Verbot abstellen (§ 7 Rn. 77). Aufgrund dieser besonderen 18 19
20
Vgl. hierzu auch BVerfG NJW 2009 ,2267,2284 f. Vgl. hierzu nur Satzger . Europäisierung, S. 492 unter Hinweis auf EuGI-I E 1977, 1495 (Koll ision von Strafb estimmungen des AuslG mit dem Freizügigkeitsrecht). OLG Münch en NJW 2006 , 3588 , 3591 ; 2008 , 3151 1'.; ßeckRS 2009,11745 ; Ambos, IntStR , § 11 Rn. 37 f.; Dannecker, JURA 2006 , 173 f.; Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht , S. 12 II ; Kreis, Grundfreiheiten, S. 89; Satzger, Europ äisierung, S. 478 ; ders., IntStR , § 9 Rn. 77.
306
§ 9 Vor rang des Unionsrechts
Tatbestandskonstruktion ist bereits eine Tatbestandserfüllung ausge schlo ssen, wenn das vom Strafbl ankett in Bezug genommene Ge- oder Verbot infolge des Anwendungsvorranges des Unionsre chts unanwendbar ist" . Nach zutreffender Ansicht bewirkt der Neutralisierungseffekt der Vorrangregel aber auch bei einem vollständigen Strafgesetz den Ausschluss des objektiven Tatbestandes> . Begründen lässt sich dies damit , dass jedem Strafgesetz eine (geschriebene oder ungeschriebene) Verhaltensnorm in Form eines Ge- oder Verbots zugrunde liegt-". Ein Verstoß gegen diese Verhaltensnorm ist mithin unabdingbare Vorau ssetzung j eder Bestrafung. Kollidiert die Verhalt ensnorm mit Unionsrecht, so darf sie im konkr eten Fall nicht angewandt werden . Damit steht zugle ich fest, dass das im obj ektiven Tatb estand des j eweiligen Strafgesetzes vertypte Unrecht nicht verwirklicht werden kann>'. 12 Ein Teil der Literatur zieht die Möglichkeit in Betracht, aus unmitt elbar anwendbaren Rechtssätzen des Union srecht s strafrechtliche Rechtfertigungsgründe abzuleiten > . Gegen die Bildung unionsrecht sgezeugter Rechtfertigungsgründe spricht aber, dass jedenfalls nach deutscher Strafrechtsdogmatik jeder Rechtfertigungsgrund ein subj ektives Rechtfertigungselement vorauss etzt, um seine rechtfertig ende Wirkung voll entfalten zu können-". Damit hinge die Straflosigkeit eines Täters , dessen Verhalten durch ein vom Unionsrecht gew ährtes subj ektives Recht gebill igt wird, davon ab, dass er in Kenntn is und unter bewusster Inanspruchnahme dieses Rechts handelte. Dies aber wäre mit dem Vorranganspruch des Unionsrechts nicht vereinbar, das sich unabhängig vom Willen des Einzelnen in jedem Fall einer Kollision durchsetzen muss" . 13 Reichhaltiges Anschauungsmaterial für die Neutral isierung von Strafnormen findet sich im Lebensmittelstrafrecht" . Ein (n icht gesundheitsschädliches) Lebensmittel , das in einem Mitgliedstaat rechtmäß ig hergest ellt wurd e, darf im lichte der Rechtsprechung des EuGH zur Warenverkehrsfreiheit (Art. 34 AEUV ; ex21
22
23
24
25
26 27
28
Vgl. hierzu Garcia Marqui s, Gemeinschaftstreue, S. 174 ff.; Kert, Leben smittelstrafrecht, S. 274 Ir ; Satzger, Europäisierung, S. 225 . Garcia Marquis, Gemeinschaftstreue, S. 184 f f.; Kert, Lebensmitte lstrafrecht, S. 274 ff:; Satzger, Europäisie rung, S. 506 Ir ; ders., IntStR, § 9 Rn. 77; Schroder, Richtli nien, S. 287 . Vgl. hierzu die normtheoretischen Ausfüh rungen von Satzger , Europäisieru ng, S. 220 ff., 489 ff. m. w , N . Z u der noch wenig gek lärten Frage, wie sich ein Irrtum des Täters über die strafbefreiende Wirkung des Unions rechts auswirkt vgl. Kert, Lebe nsmitte lstrafrecht, S. 278 ff.; Kreis, Grund freiheiten, S. 91 ff: Kreis, Grundfre iheiten, S. 170 ff. ; Weigend, ZStW 105 (1993), 774, 78 1. W essels/Beulke, AT, Rn. 275 ff. ; Schönke/Schröder/Lenckner/Sternberg-Lieben, Vor §§ 32 Rn. 13 ff.; Roxin , AT Teil I, § 14 Rn. 96 ff. Garcia Marqui s, Gemeinscha ftstreue, S. 187; Kert, Lebensmittelstrafrec ht, S. 278 ; Satzger, Europäisierung, S. 509 . Zu den Gründen, die gege n eine Einordnung der Ne utralisie rung als Strafausschließungsgrund spreche n vgl. Sehroder. Richtlin ien, S. 279 ff. Zur Europäisi erung des deut schen bzw. österreichischen Lebensmittelstrafrechts vgl. Hecker, Produktwerbung, S. 58 ff. bzw. Kert, Leben smittelstrafrecht, S. 119 ff.
B. Anwendungsvorrang und nationale s Strafrecht
307
Art. 28 ff. EGV) auch in jedem anderen Mitgliedstaat in Verkehr gebracht werden , selbst wenn es in seiner stofflichen Zusammensetzung oder äußeren Darbietung nicht den innerstaatlichen Bestimmungen des Lebensmittelrechts (und damit der nationalen Verbrauchererwartung) entspricht-", Es gilt also das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. So darf z. B. bei entsprechender Kennzeichnung (Etikettierung) in Deutschland Bier in Verkehr gebracht werden , das nicht nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut wurde". Das gleiche gilt für Saucen, die nicht den deutschen Rezepturen entsprechen'" . Der italienische Gesetzgeber darf nicht die Vermarktung von Essig untersagen, der innerstaatlichen Rezeptur- bzw . Bezeichnungsvorstellungen nicht entspricht'<. Eine deutsche weinrechtliche Vorschrift, die die Verw endung der Bocksbeutelflasche nur Qualitätsweinen aus bestimmten deutschen Anbaugebieten vorbehält, darf nicht der Einfuhr von Weinen mit Ursprung in einem anderen Mitgliedstaat entgegengehalten werden , die dort nach herkömmlicher Übung in Flaschen identischer oder ähnlicher Form abgefüllt sind . Auch hier weist der EuGH daraufhin, dass Verwechslungen im Hinblick auf die Herkunft des Weines bereits durch eine angemessene Etikettierung vermieden werden können" . In allen oben genannten Fällen würde die straf- und bußgeldrechtliche Sanktionierung der Lebensmittelvermarktung gegen die primärrechtliche Garantie der Warenverkehrsfreiheit verstoßen . Entsprechende Bestimmungen des nationalen Strafrechts müssen nach der Vorrangregel unangewendet bleiben.
11. Überlagerung strafverfahrensrechtlicher Bestimmungen Der Judikatur des EuGH ist zu entnehmen, dass auch das Strafprozessrecht der 14 Mitgliedstaaten unionsrechtlichen Begrenzungen unterliegt bzw. den Bestimmungen des Unionsrechts nicht zuwiderlaufen darf. Mitgliedstaatlichen Strafverfolgungsbehörden und Gerichten ist es daher verwehrt, nach Maßgabe einer strafprozessualen Bestimmung zu verfahren, deren Anwendung zu einer unzulässigen Beeinträchtigung einer unionsrechtlich begründeten Rechtsposition fuhren würde" . So wurde bereits entschieden, dass der Verstoß gegen eine unmittelbar anwendbare Richtlinienbestimmung ein Beweisverwertungsverbot nach sich ziehen kann" . Besondere Bedeutung kommt dem auch im Strafverfahren zu beachtenden Diskriminierungsverbot zu, soweit es dem personalen Anwendungsbereich des Unionsre chts unterfällt" . EU-Ausländer dürfen deshalb in keinem mitgli edstaatliehen Strafprozess allein aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit ohne sachlich vertretbaren 29 30 31 32
33 34
35 36
St. Rspr. seit EuGHE 1979, 649, 664 ("Cassis de Dijon") ; Schütz, Jura 1998, 631 ff. EuGHE 1987, 1227, 1262 ff. EuGHE 1995,3599,3617 ff. EuGI-IE 1980,2071; EuGI-IE 1981,3019. EuGI-IE 1984, 1299, 1322 II Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 143 f.; Kühne, Strafpro zessrecht, Rn. 56 ff. EuGHE 2003, 3735 mit ausführlicher Besprechung von Esser, StV 2004, 221 ff EuGHE 1989, 195; 1996, 161; Zuleeg, JZ 1992,761 ,762.
308
§ 9 Vorrang des Unionsrechts
Grund anders behandelt werden als Inländer. Exemplarisch sei auf das vor einem italienischen Gericht geführte Strafverfahren gegen Bickel und Franz hingewiesen" . Der EuGH stellte im Vorabentscheidungsverfahren klar, dass sich Strafverfahrensregelungen des nationalen Rechts am Diskriminierungsverbot des Art . 18 AEUV (ex-Art. 12 EGV) messen lassen müssen , wenn es um die Verfolgung von Personen geht , die sich in einer unionsrechtlich geregelten Situation in einem anderen Mitgliedstaat befinden. Im konkreten Fall bedeutete dies , dass eine verfahrensrechtliche Regelung, die an sich nur der deutschsprachigen Bevölkerung in Bozen das Recht auf eine Gerichtsverhandlung in deutscher Sprache einräumte, auch zugunsten von Angeklagten deutscher und österreichischer Staatsangehörigkeit anzuwenden war.
111. Kollisionskonstellationen 1. Echte und unechte (scheinbare) Kollision 15 Zu einer die Neutralisierungswirkung auslösenden Kollision zwischen nationaler Strafnorm und Unionsrecht kann es nur kommen, wenn die Anwendung der Strafnorm im konkreten Einzelfall zwangsläufig gegen unmittelbar geltendes Unionsrecht verstößt (echter Kollisionsfall). Dies setzt auf der Seite des Unionsrechts die Existenz einer hinreichend klaren und abschließenden Regelungsaltemative voraus , die den Mitgliedstaaten keinerlei Gestaltungs- und Konkretisierungsspielraum belässt (Rn . 19). Nur ein scheinbarer Kollisionsfall liegt demgegenüber vor, wenn nationales Strafrecht den Zielvorgaben einer nicht unmittelbar anwendbaren Richtlinienbestimmung zuwiderl äuft". Da das Unionsrecht für diese Fallkonstellation keine Kollisionsregel bereithält, kommt eine Neutralisierung der Strafnorm nicht in Betracht. Zwar ist in diesen Fällen zu prüfen , ob im Hinblick auf Art . 4 UA 2, 3 EUV (ex-l O EGV) eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung der nationalen Strafuorm besteht. Doch ändert dies nichts daran , dass für die rechtliche Würdigung des in Rede stehenden Sachverhalts ausschließlich das innerstaatliche Recht heranzuziehen ist, solange die Richtlinie nicht in nationales Recht umgesetzt ist. Die praktische Bedeutung der zutreffenden Abgrenzung zwischen echter und scheinbarer Kollision kann anhand des folgenden Falles studiert werden , der Gegenstand eines Vorabentscheidungsverfahrens war : 16
Fall 1 (EuGHE 2005, 3565): Im Rahm en der gegen den ehemaligen italien ischen Mini sterpräsidenten Berlusconi und we itere Ang eklagte wegen des Vorwurfs der Bilanzfälschung geführten Strafverfahren beriefen sich die Angeklagten auf ein nach (mutmaßlicher) Tatbe gehung erlassene s dec retro legislativo Nr. 6 112002, dessen Anwendung zur Folge hätte, dass die ursprünglich als Verbrechen nach Art . 2621 Codice civile (Ce) a. F. geahndeten Taten nicht meh r strafrechtlich verfolgt werden könnten. Die vorlegenden Gerichte wiesen darauf hin, das s die einschl ägigen Straftatbe stände durch Einfügung von zus ätzlichen Tat37 38
EuGH EuZW 1999 , 82.
Satzger, Europ äisierung, S. 478 ff.; ders., IntStR, § 9 Rn. 77; Schröder, Richtlinien, S. 89 ff.; ders., GwG , Vo r § 261 StGB Rn. 29 .
B. Anwendungsvorrang und nationales Strafrecht
309
bestandsmerkmalen , Geringfügigkeit sklauseln, Strafantragserfordemissen sowie Verkürzung der Verjährungsfristen wesentlich ent schärft worden seien, so dass bei Anwendung des neuen (milderen) Recht s keine Strafbarkeit mehr gegeben sei oder zumindest Verjährung eintreten würde . Allerdings hatten die vorlegenden Gerichte Zweifel , ob die ent schärften Strafvo rschriften noch mit den ein schlägigen Richtlinienbestimmungen zum Gesellschaftsrecht im Einklang stehen, won ach die Mitgl iedstaaten "geeignete Sanktionen" für den Fall androhen müssen, dass die vorgeschriebene Offenlegung der Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung unterbl eibt. Zweifel an der Vereinbarkeit der neuen italienischen Strafbestimmungen ergaben sich nach Auffassung der vorlegenden Gerichte ferner im Hinblick auf ex-Art. 10 EGV, demzufolge nach ständiger Rechtsprechung des EuGI-I das national e Recht bei Verstößen gegen Gemeinschaftsrecht wirksame, abschreckend e und verhältnismäßige Sanktionen vorzusehen habe . Vor diesem Hintergrund stellte sich insbesondere die Frage, ob der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetze s auch dann gilt, wenn dieses gegen Gemein schaftsrecht verstößt. Die italienischen Gerichte initiierten desh alb ein Vorabent sche idung sverfahren .
Lösungshinweise zu Fall 1: Nach Auffassung von Generalanwältin Kokott laufen 17 die neuen (milderen) italienischen Stratbestimmungen den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts zuwider. Sie kommt in ihren Schlussanträgen zu dem Ergebnis , dass aufgrund des Anwendungsvorranges des Gemeinschaftsrechts weiterhin die frühere strafrechtliche Regelung (Art. 2621 Ce a. F.) anwendbar sej39. Der Lexmitior-Grundsatz, demzufolge bei einer Gesetzesänderung nach Tatbegehung nur das mildere Strafgesetz Anwendung findet, komme nicht zum Tragen , wenn dieses den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an eine "geeignete Sanktion " nicht genüge . In Fällen mit gemeinschaftsrechtlichem Bezug rechtfertige sich die rückwirkende Anwendung des milderen Strafgesetzes nur dann, wenn der Vorrang des Gemein schaftsrechts gewahrt bleibe . Es sei nicht ersichtlich, weshalb dem Einzelnen rückwirkend die veränderte rechtliche Bewertung des nationalen Gesetzgebers über die Strafwürdigkeit seines Verhaltens zugute kommen soll, wenn diese den unverändert fortbestehenden gemeinschaftsrechtlichen Regelungsvorgaben zuwiderlaufe'P. Ein nachträglich erlassenes gemeinschaftsrechtswidriges Strafgesetz stelle mithin kein anwendbares Strafgesetz dar. Nach Auffassung der Generalanwältin folgt aus der Unanwendbarkeit des neuen (milderen) Strafgesetzes, dass auch dessen derogierende (das alte Strafgesetz außer Kraft setzende) Wirkung entfallt (vgl. hierzu Rn. 20) . Daher sei für die Aburteilung der Angeklagten die zum Tatzeitpunkt geltende Stratbestimmung heranzuziehen. Der EuGH gelangt zu einem entgegengesetzten Ergebnis . Der Grundsatz der 18 rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes sei als Bestandteil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts anzusehen , die der nationale Richter zu beachten habe, wenn er das zur Durchführung des Gemeinschaftsrechts erlassene nationale Recht anwende!' . Dabei stelle sich allerdings die 39 40 41
Schlussanträge v. 14. Oktober 2004 , Rn. 165. Schlussanträge v. 14. Oktober 2004 , Rn. 162. EuGI-IE 2005 , 3565 = JZ 2005 , 997 = EuZW 2005 , 369 (Rz. 69) im Anschluss an Generalanwältin Kokott, Schlus santr äge, Rn. 157; anders noch EuGHE 1998, 6784 (Rz. 31 1'.); vgl. hierzu Dannecker, ZIS 2006 , 309, 314 1'1'.; ders., ZStW 117 (2005), S.697, 739 1'1'.
3 10
§ 9 Vorrang des Unionsrechts
Frage, ob der Lex-mitior-Grundsatz auch gelte , wenn das mildere Strafgesetz gegen Gemeinschaftsrecht verstoße. Der EuGH lässt die von ihm selbst gestellte Frage jedoch unbeantwortet, weil die hier interessierende Gemeinschaftsregel in einer Richtlinie enthalten sei. Er sieht offenkundig die Gefahr, dass die vorlegenden Gerichte unter Berufung auf Richtlinienrecht das nicht richtlinienkonforme mildere Strafgesetz unangewandt lassen und stattdessen das zum Tatzeitpunkt geltende schärfere Strafgesetz heranziehen könnten . Dies aber würde dem vom Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung vertretenen Grundsatz widersprechen, wonach eine Richtlinie nicht dazu führen dürfe , die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Angeklagten festzulegen oder zu verschärfen". Folgt man der Urteilsbegründung des EuGH, ist eine Aburteilung der Angeklagten nach der zum Tatzeitpunkt geltenden (schärferen) Strafbestimmung ausgeschlossen. 19 Die von Generalanwältin Kokott und vom EuGH entwickelten Lösungswege sind in der Literatur" auf berechtigte Kritik gestoßen. Beide verstricken sich in den widerstreitenden Prinzipien des früheren Gemeinschafts- bzw . heutigen Unionsrechts (Vorrangprinzip, Lex-mitior-Grundsatz und Verbot strafbegründender bzw. -schärfender Wirkung von Richtlinien) und erreichen einen Ausgleich nur unter völliger Preisgabe eines der Prinzipien". Die Überzeugungskraft beider Argumentationsstränge leidet bereits daran , dass sie übereinstimmend von einer unzutreffenden Grundannahme, nämlich der Anwendbarkeit des Vorrangprinzips, ausgehen . Damit wird verkannt, dass die eine Neutralisierungswirkung auslösende Vorrangregel nur dann zum Zuge kommt, wenn eine echte Kollisionslage zwischen nationalem Recht und Unionsrecht vorliegt. Dies setzt notwendig voraus , dass sich verbindliche Regelungen aus der nationalen Rechtsordnung und der Unionsrechtsordnung widerstreitend gegenüberstehen, was immer nur dann denkbar ist, wenn das in Rede stehende Unionsrecht unmittelbar anwendbar isr". Weder die hier einschlägige Richtlinienbestimmung, die sich in der Zielvorgabe der Androhung "geeigneter Sanktionen" erschöpft, noch das aus Art. 4 UA 2, 3 EUV (exArt. 10 EGV) abzuleitende Gebot, für Verstöße gegen Unionsrecht wirksame, abschreckende und verhältnismäßige Sanktionen vorzusehen (§ 7 Rn. 26), stellen eine hinreichend präzise bzw . abschließende Regelungsalternative zum nationalen Recht dar. Eine echte Kollision liegt nur dann vor, wenn das nationale Recht eine Sanktionierung von Verstößen gegen Unionsrecht gänzlich ausschließen würde , was auf die hier interessierenden Bestimmungen des italienischen Ce nicht zutrifft . Mangels Vorliegens einer echten Kollisionslage zwischen nationalem Recht und Unionsrecht stellte sich somit das von Generalanwältin und EuGH erörterte Problem der strafbarkeitsbegründenden Wirkung der Richtlinien bzw. der Anwendbarkeit des Lex-mitior-Grundsatzes gar nicht. Die italienischen Gerichte 42
43
44 4S
EuGHE 2005, 3565 = JZ 2005, 997 = EuZW 2005, 369 (Rz. 73); vgl. hierzu bereits EuGI-IE 1987,3969,3985. Dannecker, ZIS 2006, 309, 311 ff.; Gross, EuZW 2005, 371 ff.; Satzger, JZ 2005, 998 ff; ders., IntStR, § 9 Rn. 85. Satzger, JZ 2005, 998, 1000. Satzger, Europäisierung, S. 479; ders., JZ 2005, 998, 1000; ihm folgend Dannecker, ZIS 2006, 309, 312.
B. Anwendungsvorrang und nationales Strafrecht
311
müssen daher die für die Angeklagten günstigeren Neuregelungen des Ce anwenden. Sollten bei der Anwendung der neuen Vorschriften Auslegungsspielräume bestehen , sind diese unionsrechtskonform auszufüllen (vgl. hierzu § 10 Rn. 38 ff.). Weiterführende Hinweise: Die Ausführungen von Generalanwältin Kokott zu 20 dem ihrer Auffassung nach möglichen Wiederaufleben der zum Tatzeitpunkt geltenden Stratbestimmungen des italienischen Rechts (Rn. 17) werfen die Grundsatzfrage nach der Reichweite des Vorrangprinzips auf. Die Generalanwältin misst diesem eine zweifache Wirkung zu. Das unionsrechtswidrige (mildere) Strafgesetz soll unanwendbar sein und das ursprüngliche (schärfere) Strafgesetz fortgehen". Damit wird der Union gleichsam die Befugnis zuerkannt, die Fortgeltung aufgehobener Strafgesetze für unionsrechtlich relevante Fälle anzuordnen . Dies aber käme einer Strafgesetzgebungskompetenz der EU gleich, die von der ganz h. M. zutreffend abgelehnt wird (§ 4 Rn. 67 ff., 82). Die Erstreckung des Vorrangprinzips auf die derogierende (das alte Strafgesetz außer Kraft setzende) Funktion eines Strafgesetzes wäre allenfalls auf der Basis der Anerkennung eines Geltungsvorrangs des Unionsrechts begründbar. Eine so weitreichende Wirkung des Unionsrechts hat der EuGH jedoch stets abgelehnt (Rn . 8 f.). Das Prinzip des Anwendungsvorranges ist von vornherein nicht darauf gerichtet, die durch Unanwendbarkeit nationalen Rechts entstehende Lücke durch hinzugedachtes nationales Recht zu füllen . Abschließend bleibt daher festzuhalten, dass auch eine echte Kollision zwischen nationaler Strafnorm und unmittelbar anwendbarem Unionsrecht niemals zum Ausschluss des Derogationseffekts führt. Ein Wiederaufleben des (unionsrechtswidrig) ersatzlos aufgehobenen oder durch ein milderes Gesetz ersetzten nationalen Strafgesetzes ist daher ausgeschlosserr".
2. Direkte und indirekte Kollision Echte Kollisionen sind wiederum möglich im Rahmen einer direkten oder einer 21 indirekten Kollisionskonstellation: Von einer direkten Kollision zwischen mitgliedstaatlichem Strafrecht und Unionsrecht spricht man, wenn die nationale Sanktionsvorschrift und die unmittelbar geltende unionsrechtliche Norm dieselbe Materie inhaltlich unterschiedlich regelrr". Charakteristisch für diese Kollisionskonstellation ist, dass der Rechtsanwender sich in einer Situation befindet, in der er zwischen zwei inhaltlich divergierenden Regelungsalternativen auswählen muss , wobei eine dem nationalen Recht, die andere dem Unionsrecht entstammt. Ein typischer Fall der direkten Kollision liegt vor, wenn das nationale Strafrecht ein Verhalten verbietet, das vom Unionsrecht gestattet wird . Beispielhaft hierfür stehen die oben aufgeführten Fälle der Kollision deutschen Lebensmittelstrafrechts mit der primärrechtlichen Garantie der Warenverkehrsfreiheit (Rn . 13).
46 47 48
Insoweit wohl der Linie der Generalanwältin folgend Grass, EuZW 2005, 371, 373. Dannecker, ZIS 2006, 309, 313 f.; Satzger, JZ 2005, 998, 1000. Jokisch , Gemeinsch aftsrecht und Strafverfahren, S. 45 ff. ; Satzger, Europäisierung, S. 491 ff.
3 12
§ 9 Vorrang de s Unionsrechts
22 Eine echte Kollision kann aber auch eintreten, wenn eine nationale Vorschrift und eine Unionsrechtsnorm zwar unterschiedliche Regelungsziele verfolgen, jedoch durch die Anwendung der innerstaatlichen Bestimmung die Durchsetzung und praktische Wirksamkeit des Unionsrechts mittelbar beeinträchtigt würde. Man kann insoweit von einer indirekten Kollision sprecherr". Die Ursache für die Entstehung indirekter Kollisionslagen ist in der kompetenzbedingten Unvollständigkeit der Unionsrechtsordnung zu suchen. Die vom Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung geprägte Kompetenzverteilung fuhrt dazu , dass die Unionsrechtsordnung und die nationale Rechtsordnung nicht dergestalt nebeneinander stehen, dass bestimmte Sachverhalte vollständig nach Unionsrecht, andere vollständig nach nationalem Recht geregelt werden können . Das Unionsrecht bleibt vielmehr dort , wo sein Zuständigkeitsbereich endet, auf eine Kooperation mit dem innerstaatlichen Recht angewiesen. Besonders deutlich wird dies in Regelungszusammenhängen, in denen es um den Vollzug materiellen Unionsrechts durch nationales Verfahrensrecht geht. Die mitgliedstaatliehen Behörden und Gerichte verfahren nach innerstaatlichem Verfahrensrecht, das nicht immer speziell auf unionsrechtliche Belange zugeschnitten ist. Zu denken ist beispielsweise an eine Bestimmung des Verwaltungsverfahrensrechts, die eine Ausschlussfrist für die Geltendmachung eines unionsrechtlich begründeten Rückerstattungsanspruchs wegen zu Unrecht erhobener Einfuhrgebühren vorsieht. Ist die vom nationalen Recht gesetzte Frist verstrichen, so ist der Rückerstattungsanspruch nicht mehr durchsetzbar, was in Widerspruch zu dem Effektivitäts- und Vollzugsanspruch des Unionsrechts geraten kann . 23 Indirekte Kollisionskonstellationen können aber auch im Verhältnis zwischen Strafrecht und Unionsrecht auftreten . Bereits an anderer Stelle wurde dargelegt, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind , ihr Strafrecht in den Dienst des Schutzes unionsrechtlicher Interessen zu stellen (§ 7 Rn. 26 ff.). Zu einer mittelbaren Beeinträchtigung unionsrechtlicher Regelungsziele kann es kommen, wenn eine der Durchsetzung des Unionsrechts dienende Stratbestimmung letztlich nicht zur Anwendung gelangt, weil z. B. ein Rechtfertigungsgrund eingreift oder die Strafverfolgungsbehörde von ihrer Möglichkeit Gebrauch macht, das Strafverfahren aus Opportunitätsgründen einzustellen (vgl. §§ 153 ff. StPO)50. Die Lösung dieser indirekten Kollisionskonstellationen gestaltet sich erheblich schwieriger als dies beim Aufeinandertreffen direkt kollidierender Regelungen des innerstaatlichen und des supranationalen Rechts der Fall ist. Eine automatische Anwendung der Vorrangregel mit der Folge der Unanwendbarkeit des innerstaatlichen Rechts kommt jedenfalls schon mit Rücksicht auf die nationale Rechtsgestaltungsautonomie nicht in Betracht. Vielmehr ist eine flexible und einzelfallbezogene Lösung geboten, welche die widerstreitenden Rechtspositionen und Interessen in Ausgleich bringt. Insoweit bietet sich eine unionsrechtskonforme Auslegung der nationalen Bestimmungen an (§ 10). 49
Jokisch, Gem einschaftsrecht und Strafverfahren, S. 50 Ir; Satzger, Europäisierung,
50
S. 4991'1'. Vgl. hierzu Jokisch, Gemeinsch aft srecht und Strafverfahren, S. 50 1'1'.; 154 ff.; Satzger, Europäisie rung, S. 504 1'1'.
B. Anwendungsvorrang und nationale s Strafrecht
313
IV. Fallbeispiele aus Praxis und Literatur 1. Unbefugte Ausübung einer veterinärmedizinischen Tätigkeit ("Auer'~
Fall 2 (EuGHE 1983,2727): Der aus Österreich stammende französische Staatsangehörige 24
A ll er absolvierte in Italien sein Examen im Fach Veterinärmedizin. Anschließend wollte er
sich als Tierarzt im Elsass niederlas sen. Wegen des fehlenden französischen Diplom s wurde ihm jedoch von der zuständ igen Tierärztekammer die Approb ation verweigert. Aller ließ sich dennoch nieder und übte den Beruf des Tierarztes aus. Die franzö sische Anklagebehörde warf ihm vor, den Straftatbestand der unbefugten Ausübun g der Tiermed izin erfüllt zu haben . Eine zum Tatzeitpunkt trotz Ablaufs der Umsetzungsfrist noch nicht in französisches Recht transform ierte Richtlinie ordnete die gegen seitige Anerkennung der in den Mitglied staaten erworbenen tierärztlichen Diplome an.
Lösungshinweise zu Fall 2: Im Hinblick auf eine denkbare Kollision des ein- 25 schlägigen franzö sischen Straftatbestandes mit der primärrechtlichen Garantie der Niederlassungsfreiheit (Art . 49 ff. AEUV ; ex-Art. 43 ff. EGV) machte das französische Strafgericht von der Möglichkeit der Einholung einer Vorabentscheidung durch den EuGH Gebrauch (§ 6). Die Besonderheit des Falles lag darin , dass eine zum Tatzeitpunkt trotz Ablaufs der Umsetzungsfrist noch nicht in französisches Recht transformierte Richtlinie die Gleichwertigkeit und gegenseitige Anerkennung der in den Mitgliedstaaten erworbenen tierärztlichen Diplome vorsah . Der EuGH sah in der Ablehnung des Aufnahmeantrags durch die zuständige Veterinärkammer einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit und insbesondere gegen die Richtlinie Nr. 78/ I026/EWG51 . Die Richtlinie enthalte für jeden Mitgliedstaat klare, vollständige, genaue und unbedingte Verpflichtungen, die für eine Ermessensausübung keinen Raum lassen. Unter diesen Voraussetzungen könne sich ein Einzelner nach Ablauf der Umsetzungsfrist gegenüber den Gerichten und Behörden des Mitgliedstaats auf die nicht umgesetzte Richtlinie berufen. Die französische Veterinärkammer hätte demnach die Aufnahme des Tierarztes Auer jedenfalls nicht wegen fehlender Gleichwertigkeit des in Italien erworbenen Diplom s ablehnen dürfen . Rechtsvorschriften, die Straf- und Verwaltungsmaßnahmen gegen einen Tierarzt vorsehen , der seinen Beruf ausübt , ohne Mitglied der berufsständischen Kammer zu sein, seien insoweit mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar, als die Aufnahme des Betroffenen in die Kammer unter Verletzung des gemeinschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgebots abgelehnt worden sei. Nach Auffassung des EuGH ist daher der Umstand , dass Auer zum Tatzeitpunkt keiner nationalen Tierärztekammer angehörte, nicht geeignet, ein Strafverfahren wegen unzulässiger Berufsausübung zu rechtfertigen. Das französische Gericht wird diese Vorabentscheidung des EuGH zum Anlass nehmen müssen , den einschlägigen Straftatbestand unangewendet zu lassen. Da Auer zum Tatzeitpunkt kraft unmittelbar anwendbaren Unionsrechts zur Ausübung des Tierarztberufs in Frankreich berechtigt war, lag kein Verstoß gegen das von der Strafnorm bewehrte Verhaltensgebot vor. 51
EuGHE 1983, 2727 ff.
3 14
§ 9 Vorrang des Unionsrechts
2. Verstoß gegen nationale Kennzeichnungsvorschriften ("Ratti") 26 Fall 3 (EuGHE 1979, 1629) : Herrn Ratti, dem Leiter eines Unternehmens, das Lösungsmittel und Lacke herstellte und in Verkehr brachte , wurde von einem italienischen Strafgericht vorgeworfen, gegen strafbewehrte Kennzeichnungsvorschriften des Gesetzes Nr. 245 v. 5. März 1963 über die Etikettierung von Lösemitteln verstoßen zu haben . Bei isolierter Betrachtung des italienischen Rechts hat der Angeklagte den Straftatbestand erfüllt. Der Angeklagte wies aber in der Sache zutreffend darauf hin, dass er die hinreichend klaren Kennzeichnungsvorschriften beachtet hatte, welche die RL 73/173 des Rates insoweit aufstellte . Nach den Bestimmungen dieser Richtlinie war es demnach erlaubt, die Produkte entsprechend der vom Angeklagten veranlassten Kennzeichnung zu vermarkten. Die Richtlinie war jedoch trotz Ablaufs der Umsetzungs frist weder zum Tatzeitpunkt noch zum Urteilszeitpunkt in nationales Recht umgeset zt worden . Fallvariante: Der Angeklagte hat Lösemittel und Lacke in den Verkehr gebracht, deren Kennzeichnung weder den italienischen Vorschriften noch den Bestimmungen der RL 73/173 entsprechen.
27 Lösungshinweise zu Fall 3: Der italienische Straftatbestand knüpft an die Verlet-
zung einer innerstaatlichen Kennzeichnungsvorschrift an, die dem Rechtsadressaten strengere Pflichten auferlegt als die mit dem gleichen sachlichen Regelungsziel erlassene Richtlinie. Da der Angeklagte die Vorgaben der Richtlinie eingehalten hat, kommt es für die strafrechtliche Lösung des Falles entscheidend darauf an, ob er sich im konkreten Fall auf die ihn begünstigende, aber noch nicht umgesetzte Richtlinie berufen darf. Der EuGH52 führte hierzu aus: " ... Sonach ist auf die erste Frage zu antworten, dass ein Mitgliedstaat nach dem Ablaufder für die Durchführung einer Richtlinie gesetzten Frist sein dieser Richtlinie noch nicht angepasstes innerstaatliches Recht - auch wenn es Strafsanktionen enthält - nicht auf eine Person anwenden kann, die den Vorschriften der Richtlinie nachgekommen ist". 28 Dem gingen folgende grundsätzliche Feststellungen voraus : " ... Mit der den Richtlinien durch Art. 189 III EGV (aktuell Art. 288 VA 3 AEVV) zuerkannten verbindlichen Wirkung wäre es unvereinbar, grundsätzlich auszuschließen, dass sich betroffene Personen auf die durch die Richtlinie auferlegte Verpflichtung berufen können. Insbesondere in den Fällen, in denen etwa die Gemeinschaflsbehörden die Mitgliedstaaten durch Richtlinien zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, würde die praktische Wirksamkeit einer solchen Maßnahme abgeschwächt, wenn die Einzelnen sich hierauf nicht berufen und die staatlichen Gerichte sie nicht als Bestandteil des Gemeinschaflsrechts berücksichtigen könnten. Daher kann ein Mitgliedstaat, der die in der Richtlinie vorgeschrieben Durchführungsmaßnahmen nicht fristgerecht erlassen hat, den Einzelnen nicht entgegenhalten, dass er - der Staat - die aus der Richtlinie erwachsene Verpflichtung nicht erfüllt hat. Hieraus folgt, dass das nationale Gericht, bei dem ein Rechtsburger. der den Vorschriften der Richtlinie nachgekommen ist, die Nichtanwendung einer mit dieser noch nicht in die innerstaatliche Rechtsordnung des säumigen Staates übernommenen Richtlinie unvereinbaren nationalen Bestimmung beantragt hat, diesem Antrag stattgeben muss, sofern die in Frage stehende Verpflichtung unbedingt und hinreichend genau ist. " 52
EuGHE 1979, 1629, 1642.
B. Anwendungsvorrang und nationales Strafrecht
315
Da sich der Angeklagte somit auf die unmittelbar anwendbare Richtlinie beru- 29 fen kann, deren Vorschriften er eingehalten hat, wird das entgegenstehende (strengere) innerstaatliche Kennzeichnungsrecht verdrängt mit der Folge, dass der hieran anknüpfende Straftatbestand neutralisiert wird . Das nationale Gericht kann aus dieser Rechtslage nur die Konsequenz ziehen , den Angeklagten vom Vorwurf eines strafbaren Kennzeichnungsverstoßes freizusprechen . Lösungshinweise zu Fall 3 (Variante): Die Feststellung, dass die einschlägige 30 Kennzeichnungsrichtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist unmittelbare Wirkung entfaltet, könnte zu der Annahme führen, dass das hiermit kollidierende nationale Recht nunmehr schlechthin unanwendbar, also auch die das italienische Kennzeichnungsgebot bewehrende Strafnorm generell gesperrt sei 53 . Dies hätte zur Folge, dass der Angeklagte straflos bleibt, obwohl er Produkte in den Verkehr gebracht hat, die weder den Kennzeichnungsvorschriften des innerstaatlichen Rechts noch des Unionsrechts entsprechen. Über den konkreten Einzelfall hinaus würde dieser Rechtsstandpunkt, der von einer generellen Unanwendbarkeit der innerstaatlichen Strafnorm ausgeht, ein Rechtsvakuum entstehen lassen. Verstöße gegen nationales Kennzeichnungs- und Richtlinienrecht blieben solange straflos, bis der nationale Gesetzgeber die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt und eine neue Strafnorm geschaffen hat. Nach der Rechtsprechung des EuGH verlangt das aus Art. 4 UA 2, 3 EUV (ex-Art. 10 EGV) abzuleitende Gebot der effektiven Durchsetzung des Unionsrechts jedoch keine derart weitreichende Verdrängung des nationalen (Straf-)Rechts. Wie die oben (Rn . 28) zitierte Passage aus der Urteilsbegründung in der Rechtssache" Ratti ' belegt , macht der EuGH die unmittelbare Anwendung der nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinie von der Bedingung abhängig, dass sich derjenige, der sich auf sie beruft, auch richtliniengetreu verhalten hat 54 • Folglich bleibt ein Verhalten, das weder mit innerstaatlichem noch mit unmittelbar anwendbarem Richtlinienrecht in Einklang steht , weiterhin aus dem nicht verdrängten nationalen Straftatbestand strafbar. Der Täter kann also nicht etwa abstrakt vorhandene Inkongruenzen zwischen nationalem Recht und Richtlinienrecht für sich reklamieren, wenn er sich selbst nicht an die nach beiden Rechtsquellen einschlägigen Bestimmungen gehalten hat.
3. Grenzüberschreitende Veranstaltung einer Lotterie oder Werbung hierfür Fall 4: Ein niederländischer Anbieter A wirbt gren züberschreitend für die Teilnahme an 31 seiner Lotterieveranstaltung, indem er u. a. Werbeprospekte, Aufnahmeformulare und Lose an deutsche Verbraucher übersendet. Da ihm hierfür von deutschen Behörden keine Erlaubnis erteilt wurde , stellt sich die Frage , ob er nach deutschem Recht gern. § 287 I, 11 StGB strafbar ist55 .
53 54
55
So die Auffassung von Satzger, Europäisierung, S. 491 f. Zutr. gesehen und eingehend begründet von Schroder, Richtlinien, S. 275 ff. Vgl. hierzu auch Satzger, Europäisierung, S. 493 f.; ders., IntStR , § 9 Rn. 80 f.
3 16
§ 9 Vorrang de s Unionsrechts
32 Lösungshinweise zu Fall 4: Die Veranstaltung einer grenzüberschreitenden Lotterie und die Werbung hierfür unterfallen grundsätzlich dem Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit gern. Art . 56 AEUV (ex-Art. 49 EGV)56. Insoweit genießt die Tätigkeit des Veranstalters nicht nur Schutz vor Diskriminierung, sondern auch vor einer unverhältnismäßigen Beschränkung durch mitgliedstaatliches Recht. Allerdings lässt sich - auf der Basis der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache" Schindler's' - das stratbewehrte Lotterieverbot letztlich nicht beanstanden, da es durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. Der EuGH erkennt in dieser Entscheidung an, dass die Mitgliedstaaten eine Reihe achtenswerter Gründe und Erwägungen sittlicher, religiöser, kultureller, sozialer und verbraucherschutzpolitischer Art anführen können, die gegen eine völlige Liberalisierung des Glücksspiels ins Feld geführt werden können. Zu denken ist in diesem Zusammenhang an die schädlichen wirtschaftlichen und sozialen Folgen, die dem Glücksspiel verfallene Verbraucher zu gewärtigen haben. Deshalb gesteht der Gerichtshof den Mitgliedstaaten ein Ermessen bei der Beurteilung und Reglementierung von Lotterieveranstaltungen zu, was auch nichtdiskriminierende Beschränkungen, bis hin zu einem grundsätzlichen Verbot, rechtfertigen kann . Übertragen auf die deutsche Rechtslage bedeutet dies , dass der durch § 287 I, 11 StGB strafrechtlich bewehrte Genehmigungsvorbehalt jedenfalls dann nicht gegen die Garantie des freien Dienstleistungsverkehrs verstößt, wenn er diskriminierungslos gehandhabt wird'". In der Rechtssache "Gambelli" gibt der EuGH allerdings zu bedenken, dass die Berufung eines Mitgliedstaates auf "zwingende Gründe des Allgemeininteresses" zweifelhaft sei , wenn die staatliche Politik auf eine starke Ausweitung des Spielens und Wettens zum Zweck der Einnahmeerzielung aus genehmigten Glücksspielen ausgerichtet sei 59. Für den Bereich der Sportwetten hat das BVerfG entschieden, dass ein staatliches Wettmonopol mit Art . 12 GG unvereinbar ist, wenn es eine effektive Suchtbekämpfung, die den Ausschluss privater Veranstalter und Vermittler rechtfertigen könnte, nicht sicherstellt'".
56
57
58
59
60
Vgl. hier zu EuG H NJW 2007, 1515, 1517 = JuS 2007, 1040 (Streinz) ; NJW 2009, 3221, 3223 = JuS 2010, 460 (Streinz). EuG I-IE 1994 , 1039, 1096 = EuZ W 1994 , 311; bestätigt durch EuG HE 1999, 6067 = EuZW 2000, 148 und EuGHE 1999 , 7289 = EuZW 2000, 151. Aus dem gleichen Grund ver stößt die Ahndbarkeit einer Person gern . § 8 1 Nr . 1 Rechtsberatungsgesetz , die von einem anderen Mitgliedstaat aus eine unbefugte Rechtsberatung in Deutschland betreibt, nicht gegen ex-Art. 49 EGV (OLG Köln NJW 2004, 2684, 2685). EuG I-I NJW 2004, 139; zu dem hiernach verbleibenden staatlichen Reglementierungsspielraum S/S IEserlHeine, § 284 Rn . 1 a; Hein e, Glücksspiel , S. 9 ff.; vgl. auch OLG München NJW 2006, 3588 ff. (Unanwendbarkeit des § 284 I StGB). BVerfGE 115,276 ff. = NJW 2006, 1261 ff
B. Anwendungsvorrang und nationales Strafrecht
317
4. Übertreibende Produktanpreisung in grenzüberschreitender Werbekampagne Fall 5: Der von Österreich aus agierende P verbreitet im Rahmen einer internationa- 33 len Werbekampagne eine bestimmte Werbebotschaft, durch die er in anderen Mitgliedstaaten - darunter auch in Deutschland - seine Produkte in einem Prospekt mit folgenden Versprechungen anpreist: " ...Unser neuartiges und weltweit einzigartiges Produkt "Haarverdicker-Doppelhaar" verdoppelt das Haar bereits nach einer Anwendung binnen zehn Minuten mit 100%iger Garantie..." 61. Nach den von BGH und h. L. entwickelten Grundsätzen erfüllt P durch die Verbreitung dieser Werbebotschaft zumindest den Straftatbestand des § 16 I UWG und - falls ein Vermögensschaden eintritt - des § 263 I StGB 62 .
Lösungshinweise zu Fall 5: Der Rechtsanwender hat bei der strafrechtlichen 34 Würdigung solcher Fallkonstellationen zu beachten, dass die nach deutschem Wettbewerbs- oder Betrugsstrafrecht tatbestandsmäßige Verhaltensweise - das Verbreiten einer produktbezogenen Werbebotschaft - in den Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit einbezogen ist63 . Aus der Sicht des Unionsrechts handelt es sich bei den Werbeverboten des nationalen Wirtschaftsstrafrechts um "Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen" i. S. d. Art. 34, 35 AEUV (ex-Art. 28, 29 EGV). Sie müssen sich daher an den im Rahmen der "Cassis-Rechtsprechungv'" des EuGH entwickelten Vorgaben der Warenverkehrsfreiheit messen lassen, wenn ihre Anwendung auf eine grenzüberschreitende Produktvermarktung in Betracht kommt'". Freilich erkennt auch das Unionsrecht den Schutz der Verbraucher vor Täuschung prinzipiell als schutzwürdiges Interesse an, indem der Verbraucherschutz zu den "zwingenden Erfordernissen" gerechnet wird, die als immanente Schranken die Warenverkehrsfreiheit begrenzen. Bei der Beurteilung der Täuschungsgefahr stellt der EuGH auf das Leitbild eines aufmerksamen und verständigen Verbrauchers ab, der willens und in der Lage ist, Informationen zur Kenntnis zu nehmen (§ 10 Rn. 17 ff.). Es ist somit zu prüfen, ob die tatgegenständliche Werbebotschaft überhaupt geeignet ist, einen diesem Verbraucherleitbild entsprechenden Werbeadressaten in die Irre zu führen'". Da dies im vorliegenden Fall zu verneinen ist, genießt die Werbekampagne den Schutz der primärrechtlichen Warenverkehrsfreiheit und darf nicht durch die Anwendung nationaler Strafrechtsbestimmungen untersagt werden. Das Prinzip des Anwendungsvorranges des Unionsrechts führt somit zur Unanwendbarkeit der §§ 16 I UWG, 263 I StGB. 61 62
63
64 65
66
Vgl. zu diesem Fall Hecker, Produktwerbung, S. 284 ff. BGHSt 34, 199 ("Haarverdicker"); vgl. auch OLGSt § 263, S. 126 ("Wunderbürstenfall"). EuGHE 1974,837 ("Dassonville-Formel"). EuGHE 1979,649,664. Dannecker, Jura 2006, 174, 175; Hecker, Produktwerbung, S. 61 ff.; Kert, Lebensmittelstrafrecht, S. 272 ff.; Kreis, Grundfreiheiten, S. 44 ff.; SSW-Satzger, § 263 Rn. 66 jew. m. w. N. Dannecker, ZStW 117 (2005), S. 697, 711; ders., Jura 2006, 174, 175; Kreis, Grundfreiheiten, S. 70; Rengier, Lauterkeitsrecht, § 16 UWG Rn. 77 m. w. N.
318
§ 9 Vorrang des Unionsrechts
35 Die nationale Strafrechtsdogmatik trägt der Vorrangregel dadurch Rechnung, dass bereits der objektive Tatbestand der in Rede stehenden Strafbestimmungen als unerfüllt betrachtet wird (Rn. 11). Während im Bereich des Wettbewerbsstrafrechts spätestens nach der UWG-Reform im Jahre 2004 67 anerkannt wird, dass das Irreführungsmerkmal des § 16 I UWG nunmehr auch in rein inländischen Fallkonstellationen anhand des europäischen Verbraucherleitbildes zu bestimmen ist 68 , stellt sich im Bereich des Betrugstrafrechts weiterhin die Frage, ob eine Zweispurigkeit des strafrechtlichen Schutzes vermieden werden sollte, indem das europäische Verbraucherleitbild auch in rein nationalen Fällen angewandt wird. Denkbar wäre, das unionsrechtlich etablierte Täuschungsschutzniveau im Wege einer Neubestimmung des Täuschungsmerkmals in den objektiven Tatbestand des § 263 I StGB zu implementieren'", Hierfür würde insbesondere die Herstellung einer Wertungskongruenz zwischen Betrugsstrafrecht und (europäisiertem) Wettbewerbsstrafrecht und die Vermeidung einer Inländerdiskriminierung sprechen. Diese resultiert daraus, dass ein und dasselbe Verhalten bei grenzüberschreitender Begehung wegen des Anwendungsvorranges des Unionsrechts straflos bleibt, während es im innerstaatlichen Bereich als Straftat gewertet wird?", In der Literatur" werden gegen die hier befürwortete Entwicklung einer auf den Bereich der Publikumswerbung zugeschnittenen betrugsstrafrechtlichen Sonderdogmatik Einwände erhoben, die der weiteren Diskussion bedürfen. Im Hinblick auf die durch die Richtlinie 2005/29/EG72 (UPG-RL) erzielte Harmonisierung des Täuschungsschutzstandards gegen unlautere Geschäftspraktiken verdient der Vorschlag Beachtung, durch eine Anpassung des Betrugstatbestandes an das europäische Verbraucherleitbild eine generelle Korrektur des betrugsstrafrechtlichen Täuschungsschutzes zu erzielen?", Klärungsbedürftig bleibt die Frage, inwieweit das nationale Recht nach Art. 5 II lit. b, III UPG-RL einen strengeren Täuschungsschutzmaßstab anlegen darf, wenn es darum geht, besonders empfindliche Verbrauchergruppen (z. B. Kinder, Jugendliche, Senioren) zu schützen. Den nationalen Gerichten ist insoweit zu empfehlen, die Auslegung der UPG-RL dem EuGH zur Vorabentscheidung (§ 6) vorzulegen.
67
68
69
70 71 72
73
Vgl. hierzu Rengier, Lauterkeitsrecht, § 16 UWG Rn. 2 ff.; Ruhs, Strafbare Werbung, S.144ff. Bornkamm, in: Hefermehl u. a., UWG, § 5 Rn. 2.87; Dannecker, ZStW 117 (2005), S. 697, 710 ff.; ders., JURA 2006, 174, 175; Rengier, Lauterkeitsrecht, § 16 UWG Rn. 77; Ruhs, Strafbare Werbung, S. 161 ff.; Sosnitza, WRP 2008, 1014, 1028 f. Hecker, Produktwerbung, S. 320 ff., SSW-Satzger, § 263 Rn. 66 ff.; ders., IntStR, § 9 Rn. 102; Scheinfeld, wistra 2008, 167, 172; Soyka, wistra 2007, 127 ff. Dannecker, ZStW 117 (2005), S. 697, 712; Hecker, Produktwerbung, S. 335 f. Jung, ZStW 116 (2004), 475,500; Vergho, Verbraucherschutzstrafrecht, S. 297 ff. RL 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmern und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinien 84/450/EWG und 98/27/EG (ABlEG 2005 Nr. L 149, S. 22). Scheinfeld, wistra 2008, 167, 172; Soyka, wistra 2007, 127, 132 f.
B. An wendungsvorrang und nationale s Strafrecht
319
5. Abtreibungstourismus Fall 6: In der 16. Woche ihrer Schwa ngerschaft ent schließt sich S, ohne vor herige Inan- 36 spruc hnahm e einer Beratung (§ 219 StG B) in einer niederländi schen Klinik eine Abtreibun g ihrer Leibesfru cht vorneh men zu lassen. Arzt A nimmt den Eing riff nach Maßg abe niederländ ische n Recht s legal vor. Bei A und S handelt es sich um de utsche Staa tsbürger, die ihren ständig en Wohnsitz in Deutschland haben. A pendelt jeden Tag über die Grenze, um in der niederländisch en Klin ik einer selbständige n Tä tigke it als Arzt nach zugehen. Nach deut schem Recht hab en sich, da die in § 218 a StGB norm iert en Vo raussetzun gen nicht gegeben sind, sowoh l A (§ 218 I StGB ) als auch S (§ 218 I, III StG B) strafbar gemach t. Die Anwe ndbarkeit deut schen Strafrecht s folgt fü r beide Strafa nsprüc he jeweils aus § 5 Nr. 9 StG B (vgl. hie rzu § 2 Rn. 24 ff.).
Lösungshinweise zu Fall 6:
a) Unionsrechtsbezug des Falles Im Hinblick auf den - freil ich nicht ohne weiteres auf den ersten Blick erkennba- 37 ren - Unionsrechtsbezug dieser Fallkonstellation besteht Anlass , die einschlägigen deutschen Strafrechtsbestimmungen auf ihre Vereinba rkeit mit Unionsrecht zu überprüfen . Die in Art. 56 AEUV (ex-A rt. 49 EGV) garantierte Grundfreiheit beinhaltet in ihrer Ausp rägung als sog. "passive Dienstle istungsfr eiheit" das Recht der Marktbürger, in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Heimatstaat Dienstleistungen in Empfang zu nehmen , ohne durch Beschränkungen daran gehind ert zu werd en?". Wie der EuGH in der Rechtssach e "Society for the protection of unborn children/Grogan u. a." ausgeführt hat, stellt auch der ärztliche Schwangerschaftsabbruch, der im Einklang mit dem Recht des Staates steht, in dem er vorgenomm en wird, eine unionsrechtlich geschützte Dienstleistung dar". Etwaige moralische Bedenken, die im Hinblick auf die Vernichtung menschlichen Leben s erhoben werden könnten , müssen nach Auffassung des EuGH bei der Vertrag sausl egung außer Betracht ble iben, da es nicht Sache des Gerichtshofes sei, die Beurteilung , die vom Gesetzgeb er in den Mitgliedstaaten vorgenommen worden sei, durch seine eigene zu ersetzen. Ein deutsch er Arzt mit Wohnsitz in einer deutsch-niederländ ischen Gren zre- 38 gion , der seinen persönlichen bzw. familiären Lebensmittelpunkt im Inland behält, j edoch täglich in die benachbarten Niederlande pendelt, um dort einer dauerhaft angelegten Berufst ätigkeit in einer Abtr eibungsklinik nachzugehen, kann sich auf die Garanti e der Niederlassungsfreiheit (Art . 49 ff. AEUV ; ex-Art . 43 ff. EGV) berufen . Diese Garantie stellt sicher, dass die grenzüberschreitende Erbringung einer Dienstlei stung in einem Mitgliedstaat unter den gleichen Vorausset zungen ermöglicht wird, welche dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt (Art. 49 11 AEUV; ex-Art. 43 11 EGVye .
74
7S 76
EuGI-I E 1989, 195, 222; 1999, 11, 28; NJW 2009, 3221, 3223 = Ju S 2010, 460 (Streinz ); Kluth, in: Ca lliess/Ruffert, EUV/EG V, Art. 49 EGV Rn. 27. EuG HE 1991,4685,4733,4739; vgl. hierzu O'Leary, ELR 1993,138,143 ff. EuG HE 1995,41 65; Brohmer, in: Ca lliess/Ruffert, EUV/EG V, Art. 43 EGV Rn. 22 ff.
320
§ 9 Vorrang des Unionsrecht s
39 Zunächst ist festzustellen , dass das deutsche Strafrecht in unionsrechtlich gewährleistete Grundfreiheiten eingreift, indem es bestimmte, im Zusammenhang mit dem Abtreibungstourismus stehende Handlungen deutscher Staatsbürger bei Strafe verbietet. Die auf § 218 I, 111 StGB i. V. m. § 5 Nr . 9 StGB beruhende Strafandrohung ist geeignet, deutsche Patientinnen davon abzuhalten, einen Schwangerschaftsabbruch im Ausland durchfuhren zu lassen? Der nationale Strafanspruch behindert auf diese Weise die grenzüberschreitende Inanspruchnahme einer in einem anderen Mitgliedstaat legal angebotenen medizinischen Dienstleistung und stört damit den freien Dienstleistungsverkehr innerhalb des europäischen Binnenmarktes. Soweit das deutsche Strafrecht den im Ausland praktizierenden deutschen Arzt gern. § 218 I StGB i. V. m. § 5 Nr. 9 StGB mit Strafe bedroht, berührt dies seine Niederlassungsfreiheit. Er wird in der Ausübung seiner selbständigen Erwerbstätigkeit behindert, weil er bei der Erbringung einer medizinischen Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat nicht nur die dort geltenden Bestimmungen, sondern auch die deutschen Strafvorschriften einhalten muss.
b) Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote 40 Die Vertragsbestimmungen über die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit enthalten zunächst ein das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV (ex-Art. 12 EGV) konkretisierendes Verbot ungleicher Behandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit". Die von § 5 Nr . 9 StGB angeordnete Unterwerfung deutscher Staatsbürger unter den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts stellt indes keine unionsrechtlich verbotene Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit dar. Zwar bewirkt § 5 Nr. 9 StGB in den Fällen des Abtreibungstourismus , dass deutsche Staatsangehörige nicht im gleichen Umfang wie Ausländer eine medizinische Dienstleistung erbringen bzw . empfangen dürfen . Diese faktische SchlechtersteIlung von Inländern gegenüber Ausländern resultiert aber letztlich daraus , dass das Abtreibungsstrafrecht zu den nicht harmonisierten Regelungsmaterien der nationalen Rechtsordnungen gehört mit der Folge, dass der strafrechtliche Schutz des ungeborenen Lebens in den Mitgliedstaaten zwangsläufig unterschiedlich ausgestaltet ist. Auf Unterschiede dieser Art, die sich als Resultat eines Gefälles autonomer Rechtsordnungen darstellen , sind die unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote nicht anwendbar".
77
78 79
Satzger, Europäisierung, S. 416. Brohnter. in: Calliess/Ruffert , EUV/EGV, Art. 43 EGV Rn. 20 ff m. w. N. Brohnter. in: Calliess/Ruffert , EUV/EGV, Art. 43 EGV Rn. 33; Nachbaur, Niederl assungsfre iheit, 1999, S. 105 f. m. w. N.
B. Anwendungsvorrang und nationale s Strafrecht
321
c) Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote Die Gewährleistung der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit beinhal- 41 tet aber nicht nur ein bloßes Diskriminierungsverbot, sondern auch ein allgemeines Beschr änkungsverbot'" . Nach ständiger Rechtsprechung des EuG H dürfen die Grundfreiheiten nur beschränkt werden durch Regelungen, die aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind. Diese Regelungen müssen ferner verh ältnismäßig, d. h. geeignet sein , die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist'" . Der EuG H hatte bislang keine Gelegenheit, sich zu der Frage zu äußern, ob die Grundfreiheiten nationalen Vorschriften entgegenstehen, die den von einem inländischen Staatsangehörigen im Ausland legal vorgenommenen Schwangerschaftsabbruch mit Strafe bedrohen. Deutsche Gerichte, deren Entscheidung nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden können, müssen deshalb in einschlägigen Fällen eine Vorabentscheidung durch den EuG H herbeiführen (§ 6 Rn. 7) . In der Rechtssache "Society for the protection of unborn children/Grogan 42 u. a."82 ging es lediglich um die Frage, ob eine unzulässige Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit darin zu sehen ist, dass ein Mitgliedstaat (hier: Irland) einer Studentenvereinigung verbietet, im Inland Informationen über Kliniken eines anderen Mitgliedstaates (hier: Großbritannien) zu verbreiten, in denen Schwangerschaftsabbrüche legal praktiziert werden. Den Ausführungen des Generalanwaltes van Gerverr", der aus den Vertragsbestimmungen über die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs auch das Recht abl eitet, im eig enen Mitgliedstaat ungehindert Informationen über die in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Erbringer von Dienstleistungen zu verbreiten, vermochte sich der EuG H nicht anzuschließen . Da die Informationen nicht im Auftrag eines in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Wirtschaftsteilnehmers verbreitet worden seien, könne in dem Informationsverbot schon keine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit gesehen werden'". Folglich musste der EuGH auch nicht darüber entscheiden, ob das Informationsverbot möglicherweise aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses verhängt werden durfte.
d) Schutz des ungeborenen Lebens als zwingender Grund des Allgemeininteresses Im Ausgangspunkt steht außer Frage, dass die den Abtreibungstourismus mit Stra- 43 fe bedrohenden Bestimmungen de s deutschen Rechts einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses zu dienen bestimmt sind - dem Schutz des ungeborenen 80
81 82 83 84
EuGHE 1993, 1663 ; 1996,703 ; 1999, 11,29; 2004, 9761 ; 2005, 3177 ; Brohm er, in: Calliess/Ruffert, EUVl EG V, Art. 43 EGV Rn. 23 ff.; Everling, Das Niederlassungsrecht in der EG als Beschr änkung sverbot . Knobbe-Keuk-GS, 1997, passim. Brohmer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 43 EGV Rn. 28 m. w. N. EuGHE 1991,4685,47331'1'. Vgl. den Schlussantrag des Generalanwaltes van Gerven EuGHE 1991,4685,4712 f. EuGHE 1991,4685,4740.
322
§ 9 Vorrang des Unionsrecht s
Lebens , der in der deutschen Rechtsordnung mit Verfassungsrang ausgestattet ist 85 . Aber auch die zur Wahrung eines zwingenden Grundes des Allgemeininteresses bestimmten Regelungen müssen sich an den Kriterien des unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes messen lassen .
e) Strafbarkeit der Schwangeren und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 44 In diesem Zusammenhang sind die Ausführungen des Generalanwaltes äußerst interessant. Van Gerven legte zunächst dar, dass eine nationale Regelung, die es verbietet, schwangeren Frauen Informationen über ausländische Kliniken zu geben, in denen ein legaler Schwangerschaftsabbruch praktiziert werden kann, im Hinblick auf das hohe Schutzgut des ungeborenen Lebens nicht unverhältnismäßig und daher zulässig erscheine. Als Maßnahmen, die unverhältnismäßig wären , da sie den Dienstleistungsverkehr zu stark behindern würden, nennt er indes : "das an schwangere Frauen gerichtet e Verbot, sich ins Ausland zu begeben oder eine Regelung, nach der sie sich bei ihrer Rückkehr aus dem Ausland unerwünschten Untersuchungen unterziehen müssten. " 86 45 Überträgt man die soeben dargelegte Wertung des Generalanwaltes auf die hier interessierende Fallkonstellation des Abtreibungstourismus, so könnte man zu der Ansicht gelangen, dass die deutschen Stratbestimmungen (§§ 218 I, 111, 5 Nr. 9 StGB) schon deshalb als mit dem unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unvereinbar eingestuft werden müssten , weil sie Abtreibungstouristinnen dem Risiko einer Strafverfolgung aussetzen . Die hierdurch geschaffene Barriere für die Inanspruchnahme einer im Ausland legal angebotenen medizinischen Dienstleistung wirke sich - so könnte man argumentieren - faktisch wie ein Verbot aus, sich zum Zwecke eines Schwangerschaftsabbruches ins Ausland zu begeben. Letztlich hängt die Entscheidung, ob die genannten Strafvorschriften den Anforderungen des unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ausreichend Rechnung tragen , von einer Abwägung der Auswirkungen dieser Regelungen auf die Binnenmarktordnung einerseits und den Interessen des Mitgliedstaates an der Ausdehnung seiner Strafgewalt andererseits ab. Unverhältnismäßig wäre es demnach, wenn deutschen Staatsangehörigen schlechthin untersagt würde, sich zum Zwecke eines Schwangerschaftsabbruches in einen Mitgliedstaat zu begeben, in dem dieser Eingriff als legale ärztliche Dienstleistung angeboten wird . Denn von der passiven Dienstleistungsfreiheit der Schwangeren bliebe dann nichts übrig . Der im deutschen Recht vorgesehene strafrechtliche Schutz des ungeborenen Lebens beinhaltet indes gerade kein absolutes Verbot, im Ausland einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu lassen . Für die Schwangere bleibt der innerhalb der 22 . Woche seit der Empfängnis durch einen Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch - falls nicht ohnehin bereits die Voraussetzungen der § 218 a 1-111 StGB vorliegen - gern. § 218 a IV S. I StGB straflos, wenn sie zuvor eine Bera85
86
ßVerfGE 39, I; 88, 203. Auch Generalanwalt van Gerven sieht im Schutz des ungeborenen Lebens einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses (EuGHE 1991,4685, 4715 ff.). EuGHE 1991,4685,4721.
B. Anwendungsvorrang und nationale s Strafrecht
323
tung durch eine anerkannte Beratungsstelle (§ 219 StGB) in Anspruch genommen hat. Die genannten Strafbestimmungen tragen auf diese Weise dem legitimen Interesse der deutschen Rechtsordnung Rechnung, einen mit Verfassungsrang ausgestatteten Grundwert zu schützen, ohne hierdurch die unionsrechtlich garantierte Dienstleistungsfreiheit abtreibungswiIliger Frauen vollständig auszuhöhlen . Es erscheint nicht unverhältnismäßig, wenn ein Staat seinen Angehörigen, die ihre Lebensgrundlage im Inland haben , zumutet, dass sie die im Inland geltenden Bestimmungen zum Schutze des ungeborenen Lebens auch im Ausland beachten, sofern ihnen noch ein ausreichender Raum für die Wahrnehmung ihrer Grundfreiheiten verbleibt. Im Ergebnis steh en somit die deutschen Regelungen zur Strafbarkeit des Abtreibungstourismus von Schwangeren (§§ 2 I8 I, III StGB i. V. m. § 5 Nr. 9 StGB) im Einklang mit Unionsrechr".
f) Strafbarkeit des Arztes und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Anders zu beurteilen ist hingegen die unionsrechtliche Zulässigkeit der in § 2 I8 I 46 StGB i. V. m. § 5 Nr. 9 StGB vorgesehenen Strafandrohung gegenüber einem in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen oder vorübergehend tätigen deutschen Arzt, der im Rahmen seiner gewöhnlichen Berufstätigkeit Schwangerschaftsabbrüche vornimmt. Zunächst muss man sehen , dass seine Nieder\assungsbzw. aktive Dienstleistungsfreiheit hierdurch in wesentlich intensiverem Maße beschränkt wird als die passive Dienstleistungsfreiheit der Schwangeren. Die Abtreibungstouristin begibt sich schließlich nur in einer singulären Ausnahmesituation ins Ausland, um dort als Dienstleistungsempfängerin eine Abtreibung ihrer Leibesfrucht vornehmen zu lassen . Demgegenüber stellt die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen für den in einer Abtreibungsklinik praktizierenden Arzt eine hauptberufliche Tätigkeit dar, aus der er sein regelmäßiges Erwerbseinkommen bezieht. Die deut schen Strafbestimmungen zwingen ihn, bei jedem medizinischen Eingriff - gleich, ob es sich bei sein er Patientin um eine deutsche oder um eine ausländische Staatsangehörige handelt - das deutsche Abtreibungsstrafrecht zu beachten'". Gerad e von nichtdeutschen Patientinnen wird man nun aber schwerlich erwarten dürfen , dass sie die vom deutschen Recht in § 2 I8 a StGB statuierten Verfahrens- und Fristbestimmungen einhalten. Dies aber bedeutet für den Arzt, dass er eine Vielzahl von Einriffen nicht durchfuhren darf, sei es, weil die Zwölfwochenfrist (§ 218 a I Nr. 3 StGB) verstrichen ist oder weil seine Patientin keine Beratung bei einer nach deutschem Recht anerkannten Beratungsstelle in Anspruch genommen hat. Die von § 5 Nr. 9 StGB angeordnete Unterw erfung des im Ausland praktizie- 47 renden deutschen Arzt es unter deutsches Abtreibungsstrafrecht stellt damit eine unverhältnismäßige Beschränkung seiner Niederlassungsfreiheit dar89 . Zwar sind 87 88
89
Diesem Lösungsvorschlag zustimmend Kreis, Grundfreiheiten, S. 72. Dies wird verkannt von Kreis, Grundfr eiheiten, S. 73, dessen Lösungsvorschlag (Strafandrohung gegenüber A ist unionsrecht skonform) daher nicht zu überzeugen vermag. Diesem Lösungsvorschlag zustimmend Amb os, IntStR, § 3 Rn. 59; Dannecker, ZStW 117 (2005) , S. 697, 716; a. A. Kreis, Grundfreiheiten , S. 72 f.
324
§ 9 Vorrang des Unionsrechts
die den Arzt betreffenden Strafbestimmungen geeignet, den Schutz des ungeborenen Lebens - ein zwingender Grund des Allgemeininteresses - zu sichern . Sie sind jedoch nicht erforderlich, weil diesem Ziel bereits die den medizinischen Dienstleistungsbereich reglementierenden Vorschriften des Niederlassungsstaates , in dem der Arzt praktiziert, Rechnung tragen . Im Bereich der medizinischen Berufe ist die Unionsrechtssetzung bereits sehr weit fortgeschritten . In zahlreichen Richtlinien wird etwa die Anerkennung der im Heimatstaat erworbenen Abschlüsse und Befähigungsnachweise geregelt, um die grenzüberschreitende Mobilität der betroffenen Berufsgruppen zu fördern und den Übergang von einem Mitgliedstaat zum anderen zu erleichtern'". Das in diesen Richtlinien zum Ausdruck kommende Prinzip der gegenseitigen Anerkennung muss deshalb zum Tragen kommen , wenn es um nationale Reglementierungen medizinischer Dienstleistungen geht. Angesichts des in diesem Regelungsbereich erzielten Harmonisierungsgrades muss das in einem Mitgliedstaat bestehende Schutzniveau von den anderen Mitgliedstaaten prinzipiell als ausreichend betrachtet werden . Das deutsche Recht konterkariert hingegen mit seiner Strafandrohung gegenüber dem Arzt, der in einem anderen Mitgliedstaat legal einen Schwangerschaftsabbruch durchführt, die von der Unionsrechtsordnung intendierte Liberalisierung des Niederlassungs- und Dienstleistungsverkehrs im Bereich der medizinischen Berufe . 48 Folgt man der hier getroffenen Wertung, so verstößt das deutsche Recht insoweit gegen Unionsrecht, als es gern. § 218 I StGB i. V. m. § 5 Nr. 9 StGB einen Arzt mit Strafe bedroht, der im Ausland einen legalen Schwangerschaftsabbruch durchführt. Die nationale Strafnorm darf infolge ihrer direkten Kollision mit Unionsrecht nach dem Prinzip des Anwendungsvorranges nicht angewendet werden .
6. Lebenslange Ausweisung als strafrechtliche Nebenfolge ("Calfa'? 49
Fall 7 (EuGHE 1999, 11): Frau Calfa, eine italienische Staatsan gehör ige, wurde während ihres Urlaube s in Griechenland im Besitz von Betäubungsmitteln aufgegriffen . Ein griechisches Gericht verurteilte die Angeklagte deshalb zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten und verfügte als strafrechtliche Nebenfolge - wie dies die einschlägigen Bestimmungen des griech ischen Rechts vorsahen - ihre lebenslange Ausweisung aus Griechenland. Gegen diese Ausweisungsverfügung richtete sich das Rechtsmittel der Angeklagten.
50 Lösungshinweise zu Fall 7: Es bestehen Zweifel , ob die lebenslange Ausweisung der Bürgerin eines Mitgliedstaates, die sich als Touristin in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, mit der Garantie der (passiven) Dienstleistungsfreiheit (Art . 56 AEUV ; ex-Art . 49 EGV) vereinbar ist. Das für die strafrechtliche Aburteilung der Angeklagten zuständige griechische Gericht setzte das Verfahren daher aus und legte dem EuGH die Frage vor, ob eine nationale Vorschrift, die dem Gericht im Falle eines Schuldspruches wegen Verstoßes gegen Betäubungsmittelstrafrecht die lebenslange Ausweisung des Verurteilten vorschreibe, mit Gemeinschaftsrecht vereinbar sei. Der EuGH verneinte dies mit Recht. Er verwies zunächst auf die primärrechtlichen Vorschriften über den Dienstleistungsverkehr, welche nach 90
Kluth, in: Calliess/Ruffert , EUV/EGV , Art. 52 EGV Rn. 15 ff. m. w. N.
C. Literat urhinweise
325
ständiger Rechtsprechung auch die Freiheit des Dienstlei stung sempfängers einschließen, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleitung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, ohne durch Beschränkungen daran gehindert zu werden?" . Touristen seien als Empfänger von Dienstleistungen anzusehen. Zwar können die Freizügigkeitsrechte durch die Mitgliedstaaten aus Gründen der öffentlichen Ordnung beschränkt werden ("Ordre-public-Vorbehalt") . Da Frau Calfa die Drogen aber lediglich zum Eigenkonsum und nicht zum illegal en Handeltreiben besessen habe , liege hierin keine so schwerwiegende Gefahrdung der Gesellschaft, dass ihre lebenslange Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung ausnahmsweise gerechtfertigt ersche ine'<. Da der EuGH nur über die Auslegung des Unionsrechts entscheidet (§ 6 Rn. 10), bleibt es dem nationalen Gericht überlassen, die sich aus der Vorabentscheidung des Gerichtshofs für das nationale Strafrecht ergebenden Konsequen zen zu ziehen. Im Lichte der Vorrangregel kann dies im vorliegenden Fall nur darauf hinauslaufen , die innerstaatliche Bestimmung, auf weiche die lebenslange Auswei sung der Angeklagten gestützt wurde , unangewendet zu lassen. Dem Rechtsmittel der Angeklagten kann somit der Erfolg nicht versagt bleiben .
C. Literaturhinweise Amb os, Internationales Strafrecht, 2. Aufl., 2008, § 11 Rn. 37--41 Dann ecker, in: Wabnit zJJanovsky (Hrsg.), Handbu ch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 3. Aufl., 2007, 2. Kap. Rn. 109-116 ders., Der zeitliche GeItungsbereich von Strafgesetzen und der Vorrang des Gemeinscha ftsrechts, ZIS 2006, 309 ders., Das materielle Strafrecht im Spannungsfeld des Rechts der Europäischen Union, JURA 2006 , 173 ders. Die Dynamik des materiellen Strafrechts unter dem Einfl uss europäischer und internationaler Entwicklungen, ZStW 117 (2005) , S. 697 Eisele, Einführung in das Europäische Strafrecht, JA 2000 , 896 Esser, Europäische Vorgaben für die amtlich e Lebensmittelüberwachung - Auf dem Weg zu einem europäischen Beweisverwertungsverbot, StV 2004, 221 Grass , Anmerkung zu dem Urteil des EuGH v. 3. Mai 2005 ("Berlusconi") , EuZW 2005, 371 Hecker, Strafbare Produktwerbung im Lichte des Gerneinschaftsrechts, 2001, S.58--65, 282-287 ders., Europäisches Strafrecht als Antwort auf transnationale Kriminalität", JA 2002, 723 Heise, Europäisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, 1998, S. 5--4I Jo kisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, 2000, S. 44--60 Kert , Leben smittelstrafrecht im Spannungsfeld des Gemeinschaftsrechts, 2004 , S. 105-1 10; 274-278 91
92
EuGHE 1999, 11,28. Vgl. hierzu auch EuGH NJW 2009 ,3221 ,3223 (Streinz) ; Kluth, in: Calliess/Ruffe rt, EUV/EGV, Art. 49 EGV Rn. 27. EuGHE 1999, I I, 29 ff.
=
JuS 2010, 460
326
§ 9 Vor rang des Unionsrechts
Kreis, Die verbrechenssys tematische Einordnung der EG-Grundfreihe iten, 2008 Satzger , Die Europäisi erung des Strafrechts, 200 I, S. 36-56, 475-517 ders., Intern ation ales und Europäisches Strafrecht, 4. Aufl., 20 I0, § 9 Rn. 75-85 ders., Anm erkun g zu dem Urteil des EuGH v. 3. Mai 2005 (" Berlusconi 'n, JZ 2005, 998 Schein/ eid, Betru g dur ch unternehm erisches Werben?, wistra 2008, 167-173 Schröder, Europäische Richtlin ien und deutsches Strafrecht, 2002, S. 56-102, 249-319 Soyka, Einschränkungen des Betrugstatbe stand s durch sekundäres Gemeinschaftsrecht am Beispiel der Richtlinie 2005/29/EG über unlaute re Geschäftspraktiken, wistra 2007, 127-133 Vergho, Der Maß stab der Verbrau chererwartun g im Verbraucherschutzstrafrecht, 2009, S. 161 ff.; 289 ff:
D. Rechtsprechungshinweise EuGI-IE 1964, 1251 (" Costa/ENE L " - Verhältn is der Gemeinschaftsrechtsordnung zu den mitgliedstaatliehen Recht sordnungen) EuGHE 1977, 1495 (Strafverfahre n gegen Sagulo - Freizügigkeitsrecht und AuslG) EuGHE 1978,629 (" Simmenthal /I " - Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts) EuGI-IE 1979, 1629 (Strafverfahren gegen Ratti - Vorrang einer unm ittelbar anwendbaren Richtlin ienbestimmung) EuGI-IE 1983, 2727 (Strafverfahren gegen Auer - Vorrang einer unm ittelbar anwendbaren Richtlinienbe stimmun g) EuGHE 1991,4685 (" Society for the protection ofunborn children/Grogan u. a. " - legaler ärztlicher Schwa ngerschaftsa bbruch und Dien stlei stungsfreiheit) EuGI-IE 1994, 1039 (Strafver fahren gege n Schindler - Dienstl eistungsfreiheit und stra fbewehrt es Verbot ungenehm igter Lotterieve ranstaltungen) EuGI-IE 1999, 11 (St rafverfahren gege n Calfa - lebenslange Aus weisung als Verstoß gegen passive Dienstlei stun gsfreiheit) EuGH EuZW 1999, 82 (Strafverfahren gegen Bickel und Franz - Diskriminierun gsverbot im Stra fverfahren) EuGI-IE 2003, 3735 (Bußgeldverfahren gegen StejJensen - Beweisverwertun gsverbot) EuGI-IE 2005, 3565 = JZ 2005, 997 = EuZ W 2005, 369 (Strafverfahren gege n Berlusconi u. a. - Konfli kt zwischen rück wirkender Anw endung eines mild eren Strafgesetzes und Gemeinschaftsrecht) EuGH NJW 2007,1515 (Strafverfahren gegen Placanica u. a. - Glücksspielstrafrecht und Dien stlei stungsfreiheit) BVerfG E 31, 145 (uneingeschr änkt er Vorrang des Gemeinschaftsrecht s gege nübe r deutschem Gesetzesrecht) BVerfG E 73, 339 ("Solange ll- Beschluss " - relat ivierter Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber nation alem Verfassung srecht) BVerfGE 75, 223 (une ingeschr änkte r Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber deutschem Gesetzesrecht) BVerfG NJW 2009, 2267 (" Vertrag von Lissabon" - Festhalten an den Grundsätzen zur verfassungsge richtliche n Prüfungs komp etenz) BGI-ISt 37, 168 (Steu erstra frecht - An wendungsvorran g e iner unm ittelbar an wendbaren Richtlinie)
E. Zu sammenfassung von § 9
327
OLG Mün chen NJW 2006, 3588 (Pr ivate Sportwetten verrnittlung - Strafbarkeit gern. § 284 StG B und Anwendungsv orrang des Gemeinschaftsr echts) OL G München NJW 2008, 3151 (Gewerbliche Vermittlung von Wetten - Strafba rkeit gern . § 284 StG ß und Anw endungsvorran g des Gernein schaftsrechts) OLG Mün chen ßeckRS 2009, 11745 (V erstoß gegen das A WG - Strafbarkeit ge rn. § 284 StG ß und Anwendungs vorrang des Gerneinschaftsrechts)
E. Zusammenfassung von § 9 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH setzt sich unmittelbar geltendes Uni- 51 onsre cht uneingeschränkt gegen entgegenstehendes nationales Recht (einschließlich Verfassungsrecht) durch. Das BVerfG bestätigt zwar den uneinges chränkten Vorrang des Unionsrechts gegenüber deuts chem Gesetzesrecht, relativi ert das Vorrangprinzip jedoch, wenn die Vereinbarkeit von sekundärem Unionsrecht mit national em Verfas sungsrecht in Frage steht. In seinem "Solange ll-Beschlus s" (BVerfG E 73, 339) legte das BVerfG dar, dass es seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgel eitetem Gemeinschaftsrecht nicht mehr ausüben werde , solange die Rechtsprechung des EuGH einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleistet, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist. An dieser Grundposition hält das BVerfG auch in seinem " Lissabon-Urteil" (NJW 2009 , 2267) fest. Nach zutreffender h. M. genießt das Unionsrecht gegenüber dem nationalen 52 Recht keinen Geltungsvorrang, sondern lediglich einen Anwendungsvorrang. Dem mit Unionsrecht kollidierenden nationalen Recht wird also nicht die Wirksamkeit abgesprochen - es ist lediglich unanwendbar. Im Falle einer direkten Kollision zwischen mitgliedstaatlichem Strafrecht und unmittelbar geltendem Unionsrecht bewirkt diese Vorrangregel eine Neutralisierung der betroffenen Sanktionsvorschrift. Die Neutralisierungswirkung schlägt sich strafrechtsdogmatisch in einem Tatbestandsausschluss nieder. Nicht möglich ist das Wiederautleben eines nationalen Strafgesetzes, welches durch ein an seine Stelle tretendes milderes gegen Unionsrecht verstoßendes - Gesetz aufgehobenen wurde . Das Vorrangprinzip ist nämlich von vornherein nicht darauf gerichtet, die durch Unanwendbarkeit nationalen Rechts entstehende Lücke durch hinzugedachtes nationales Recht zu füllen . Auch eine nicht fristgerecht umgesetzte Richtlinie kann strafbarkeitsbegrenzende Wirkung entfalten, wenn sie ohne einen Umset zungsakt durch den nationalen Gesetzgeber bereits aus sich heraus klare, vollständige , genaue und unbedingte Regelungen enthält (Fall "Auer H) . Nach der Rechtsprechung des EuGH besteht aber kein unionsrechtliches Gebot , nach dem unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte die Anwendung eines Strafgesetzes generell sperren . Wie der Fall .Raiti ' lehrt, kann sich ein Angeklagter nur dann auf ihn begünstigendes Richtlinienrecht berufen (mit der Folge der Unanwendbarkeit der Strafuorm) , wenn er sich selbst richtliniengetreu verhalten hat.
328
§ 9 Vorrang des Unionsrechts
53 Anhand von Fällen einer grenzüberschreitenden Dienstleistung ("ungenehmigte Lotterieveranstaltung") und Produktvermarktung ("irreführende Werbung") sowie am Beispiel des nach deutschem Recht strafbaren .A btreibungstourismus" wurde aufgezeigt, ob und inwiew eit nationale Strafbestimmungen wegen Verstoßes gegen Primärrecht unangewendet bleiben müssen . Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache " Calfa " macht deutlich , dass auch strafrechtliche Sanktionen auf dem Prüfstand des Unionsrechts stehen.
B. Hecker, Europäisches Strafrecht, DOI 10.1007/978-3-642-13127-1_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
330
§ 10 Unionsrechtskonforme Auslegung
akt" darstellt, der sich nicht nur auf eine reine Richtlinienexegese beschränken
darf, sondern auch das vorrangige Primärrecht zu berücksichtigen hat (Rn . 22) . Bei der praktischen Rechtsanwendung tritt die Richtlinie regelmäßig insoweit in den Hintergrund, als innerstaatliches Recht die Ziele der Richtlinie umfassend verwirklicht. Sie bleibt aber Orientierungsmaßstab für die ihr konforme Auslegung nationalen Rechts , kann Anlass zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens geben oder wird möglicherweise selbst zum unmittelbar anwendbaren, entscheidungserheblichen Rechtssatz (§ 4 Rn. 53)5.
11. Begründung und Inhalt der Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung
1. Leitentscheidungen des EuGH ("von Co/son und Kamann"; "Harz'? 3 Als wegweisend für die Begründung einer Pflicht zur unionsrechtskonformen (seinerzeit "gemeinschaftsrechtskonformen") Auslegung gelten die Entscheidungen des EuGH in den Fällen "von Colson und Kamann " 6 (§ 7 Rn. 21 ff.) und "Harz " 7. Hintergrund beider Entscheidungen war die Frage , ob das deutsche Recht mit den Vorgaben der Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207 /EWG8 in Einklang steht. Nach § 611 a 11 BGB a. F. stand dem von einem Arbeitgeber richtlinienwidrig diskriminierten Bewerber nur Ersatz des Vertrauensschadens, also Erstattung der Fahrt- und Bewerbungskosten, zu. Eine Sanktionierung des richtlinienwidrigen Verhaltens in Form einer lediglich symbolischen Entschädigung trägt nach Auffassung des EuGH dem Erfordernis einer wirksamen Umsetzung der Richtlinie nicht ausreichend Rechnung. Das Problem des Falles bestand darin , dass einerseits die Beschränkung des nationalen Rechts auf bloßen Ersatz der Bewerbungskosten nicht als gemeinschaftsrechtskonform eingestuft werden konnte, andererseits die Richtlinie keinerlei konkrete Inhalte hinsichtlich der an einen Verstoß zu knüpfenden Rechtsfolgen vorsah . Sie konnte folglich gegenüber einem Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes nicht unmittelbar angewendet werden . Die Bundesregierung äußerte im Verlauf des Vorabentscheidungsverfahrens die Auffassung, die Gewährung von Schadensersatz sei auf der Grundlage des § 611 a 11 BGB a. F. bzw . § 823 11 i. V. m. § 611 all BGB a. F. nicht ausgeschlossen". Diese Stellungnahme diente dem Gerichtshof als Anknüpfungspunkt, um eine gemeinschaftsrechtsfreundliche Lösung zu präsentieren".
10
Schröder, Richtlinien, S. 408 ff., 451 ff. Klein, Everl ing-Fe stschrift, S. 641 , 650 . EuGHE 1984, 1891. EuGI-I E 1984, 1921. AB lEG 1976 Nr. L 39, S. 40 . EuGI-I E 1984, 1891, 1901, 1908; 1984, 1921, 1935, 1942. Schröder, Richtlinien, S. 332 f. m. w. N .
A. Das Rechtsinstitut der unionsrechtskonformen Auslegung
331
Zwar war es dem EuGH verwehrt, selbst eine richtlinienkonforme Auslegung des 4 § 611 all BGB a. F. vorzunehmen, denn die Auslegung des nationalen Rechts ist ausschließlich Aufgabe der vorlegenden Gerichte (§ 6 Rn. 13). Der Gerichtshof stellte jedoch klar, dass alle Träger öffentlicher Gewalt und somit auch die mitgliedstaatliehen Gerichte verpflichtet sind, alle zur Verwirklichung des Richtlinienziel erforderlichen Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu ergreifen. Daraus folge , dass die Gerichte insbesondere ein speziell zur Umsetzung einer Richtlinie erlassenes Gesetz im Lichte ihres Wortlautes und Zwecks auszulegen haben , um das in ex-249 111 EGV (Art . 288 UA 3 AEUV) genannte Ziel zu erreichen!' . Den nationalen Gerichten obliege mithin die Pflicht, das zur Durchführung einer Richtlinie erlassene Gesetz unter voller Ausschöpfung des ihnen vom nationalen Recht eingeräumten Beurteilungsspielraums in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden". Wie weit die Entscheidung des EuGH in den Fällen" von Colsen und Kamann " 5 und "Harz" fortgewirkt hat, zeigen die Reaktionen des Bundesarbeitsgerichts (BAG). Das BAG befand zunächst, § 611 a 11 BGB a. F. könne auch im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung nicht über seinen Wortlaut hinaus und gegen den Willen des Gesetzgebers als Grundlage eines den Vertrauensschaden übersteigenden Anspruchs auf Schadensersatz herangezogen werdenl". Jedoch stufte das Gericht die geschlechtsspezifische Diskriminierung beim Zugang zum Beruf als allgemeine Persönlichkeitsrechtsverletzung ein, die grundsätzlich einen auf § 823 I BGB gestützten Schadensersatzanspruch in Höhe von - im Regelfall - einem Monatsgehalt begründen könne. Im Lichte der Gleichbehandlungsrichtlinie sei bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot eine Sanktion zu verlangen, die über einen rein symbolischen Schadensersatz hinausgehe. Die Problematik dieser Judikatur bestand darin , dass sie mit der tradierten deliktsrechtlichen Dogmatik brach . Nach § 253 I BGB setzt ein Anspruch auf Schadensersatz für immaterielle Schäden eine gesetzliche Anordnung voraus , an der es gerade fehlte . Ein Schadensersatzanspruch konnte nach der bis dahin maßgebenden Rechtsentwicklung nur bei schweren Persönlichkeitsrechtsverletzungen bejaht werden . Demgegenüber bejahte das BAG einen Schadensersatzanspruch bereits für den Regelfall der Benachteiligung im Einstellungsverfahren, was die enorme Sprengkraft des Prinzips der richtlinienkonformen Auslegung aufzeigt.
2. Unionsrechtliche Grundlagen des Auslegungsgebotes Der Gerichtshof setzte seine in den vorgenannten Entscheidungen begründete Ju- 6 dikatur in der Folgezeit fort und verlangte mit mehr oder weniger gleichlautenden Begründungsformeln unter Berufung auf das Loyalitätsgebot des Art. 4 111 UA 2, 3 EUV (ex-Art. 10 EGV) und die Umsetzungsverpflichtung des Art . 288 UA 3 AEUV (ex-Art. 249 111 EGV) eine richtlinienkonforme Auslegung desjenigen na-
11 12 13
EuG I-1E 1984, 1891 , 1909 (R z. 26) ; EuG HE 1984 , 1921, 1942 (R z. 26) . EuG I-1E 1984 , 1891 , 1909 (R z. 27 f.); EuG HE 1984 , 1921 , 1942 (R z. 27 f.). BAGE 61 , 219 , 222 ff = NJW 1990,65 ff.
332
§ 10 Unionsrechtskonforme Auslegung
tionalen Rechts, welches der Umsetzung einer Richtlinie dient". Im deutschen Schrifttum15 und in der höchstrichterlichen deutschen Judikatur" stößt dieser Begründungsansatz des EuGH auf breite Zustimmung. Nur vereinzelt wird die Annahme einer Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung prinzipiell abgelehnt". Einige Vertreter der Literatur führen - bei grundsätzlicher Akzeptanz eines im Unionsrecht wurzelnden Interpretationsgebotes - teilweise abweichende oder ergänzende Begründungselemente an. Für manche Autoren folgt die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung allein schon aus der Zielverbindlichkeit der umzusetzenden Richtlinienbestimmung. Daher sei das Gebot primär auf die gegenüber Art . 4 111 UA 2, 3 EUV speziellere Vorschrift des Art . 288 UA 3 AEUV zu stützen": Es wird jedoch auch genau umgekehrt argumentiert und die Auffassung vertreten, Art . 288 UA 3 AEUV könne zwar den Rechtsakten der Union bestimmte Wirkungen zuschreiben, nicht aber den Umgang mit kollidierendem nationalen Recht regeln . Da Fragen der Auslegungsregeln bzw. der Methodenwahl jenseits des Regelungsbereichs des Art. 288 UA 3 AEUV lägen, finde auch das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung seine unionsrechtliche Grundlage nur in Art . 4 111 UA 2, 3 EUV19. 7 Die Mitgliedstaaten sind zur Durchsetzung des Unionsrechts verpflichtet (Art . 4 111 UA 2 EUV) und müssen alle Maßnahmen unterlassen, welche die Verwirklichung der Ziele des EGV gefahrden könnten (Art . 4 111 UA 3 EUV) . Vor diesem Hintergrund erscheint es im Ansatz überzeugend, das Interpretationsgebot als Konkretisierung des allgemeinen Loyalitätsgebots zu begreifen. Aber auch die Berufung auf Art. 288 UA 3 AEUV überzeugt, denn die Inpflichtnahme der in dieser Bestimmung ausdrücklich genannten " innerstaatlichen Stellen ", also auch der zur Rechtsanwendung berufenen staatlichen Organe, ist notwendiger Bestandteil der Umsetzungsverpflichtung. Würde sich diese nur auf die Verpflichtung zur Setzung richtlinienkonformer Rechtsvorschriften beschränken, also nur den Gesetzgeber binden , bestünde die Gefahr, dass bei der konkret-individuellen Rechtsanwendung
14
15
16
17
18
19
EuG I-1E 1986, 1651, 1690; 1987,3969,3986; 1988,4635,4662; 1992, 131, 148;2004, 8835; EuG H NJW 2006 , 2465, 2467; NJW 2010, 427, 429. Vgl. nur Ambos, IntStR, § 11 Rn. 42 II ; Dannecker, JURA 2006 , 173, 175; Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 92 ff.; Satzger, Europäisierung, S. 527 ff.; ders ., IntStR, § 9 Rn . 88; Schröder, Richtlinien, S. 336 ff.; Veelken, JuS 1993,271 ; a. A. Dänzer-Vanotti, StVj 1991, 1,4 ff.; Ehrick e, Rabel sZ 59, (1995) , 598, 613 f. und Jarass, EuR 1991, S. 211, 216, die lediglich eine richtlinienkonforme Auslegung kraft innerstaatlichen Interpretationsgebotes annehmen wollen. ßVerfGE 75, 223, 237; ßVerfG NJW 1988,2173; ßGI-I NJW 1998,2208,2210; NJW 1998, 3561, 3562 ; NJW 1999, 948, 949; NJW 2002 , 133, 135; NJW 2006 , 497 ; NJW 2009,427,428; BAG 61, 209, 216; BVerwGE 89, 320, 323 f. Di Fabio , NJW 1990,947,953 ; restriktiv auch Scherzb erg , JURA 1993,225,232; vgl. hierzu die zutreffende Gegenargumentation von Schröder, Richtlinien, S. 336 II Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 265 ff.; Böse, Strafen und Sanktionen, S. 426; Rüffler, ÖJ Z 1997, 121, 123. Nettesheim , AöR 119 (1994) , S. 261, 268.
A. Das Rechtsinstitut der un ion srechtskonformen Auslegung
333
(Gerichtsurteile, Verwaltungsakte) auseinanderdivergiert, was durch einen abstrakt-generellen Rechtssatz harmonisiert worden ist-" . Zusammenfassend lässt sich damit feststellen, dass eine Pflicht zur unions- 8 rechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts aus Art. 4 111 UA 2, 3 EUV und - wenn es um die Umsetzung von Richtlinien geht - zusätzlich aus Art . 288 UA 3 AEUV abzuleiten ist. Gebunden sind durch dieses Interpretationsgebot alle Träger öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten, also auch Gerichte, Staatsanwaltschaften und Verwaltungsbehörden.
3. Nationale Rechtsgrundlagen einer unionsrechtsfreundlichen Auslegung Allgemein anerkannt ist, dass das Unionsrecht bereits im Rahmen der klassischen 9 nationalen Auslegungskriterien Berücksichtigung finden kann (sog . " unionsrechtsfreundliche Auslegung"). Dient eine nationale Vorschrift der Umsetzung einer Richtlinie, so fuhren bereits der historische und teleologische Interpretationsansatz zur Implementierung der unionsrechtlichen Wertungsvorgaben. Da der Rechtsanwender davon ausgehen darf, dass der Gesetzgeber die Richtlinie korrekt umsetzen wollte, ist die Umsetzungsvorschrift nach ihrem Sinn und Zweck im Lichte des Unionsrechts auszulegen-" , In der Literatur wird das Phänomen, dass die unionsrechtskonforme Auslegung auch eine Grundlage im nationalen Recht findet, als Verdoppelung des rechtlichen Grundes bezeichnet". Die unionsrechtliche Fundierung des Instituts der unionsrechtskonformen Auslegung ist jedoch schon deshalb unverzichtbar, weil nur auf ihrer Grundlage ein für die innerstaatlichen Stellen verbindliches Interpretationsgebot begründet werden kann . Beruhte die unionsrechtskonforme Auslegung nur auf nationalen Interpretationsmaximen, so wäre eine solche Auslegung stets nur zul ässig, aber nicht geboten 23 • Auch ist zumindest zweifelhaft, ob sich eine unionsrechtskonforme Auslegung der zeitlich vor einer Richtlinie erlassenen oder nicht der Umsetzung einer Richtlinie dienenden nationalen Vorschriften auf der Basi s rein innerstaatlicher Interpretationsmaximen überhaupt begründen lässt.
20
21
22 23
Brechmann, Richtlinienkonforme Au slegun g, S. 256 ; Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 83 ff.; Rüffler, ÖJZ 1997,121 ,125 f.; Schröder, Richtlinien, S. 339 f. Jarass, EuR 1991,211 ,217; Köhne, Richtlin ienkonforme Au slegung im Umweltstrafrecht , S. 145 f.; Satzger, IntStR, § 9 Rn. 88 ; Schröder , Richtlinien, S. 338. GelIermann, Beeinflussung, S. 105. Satzger, Europäisierung, S. 526 .
334
§ 10 Unionsrechtskonforme Auslegung
111. Gegenstand der unionsrechtskonformen Auslegung 1. Umsetzungsrecht und sonstiges nationales Recht
("Marleasing'~
10 Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung erstreckt sich zunächst auf das nationale Umsetzungsrecht, also diejenigen Vorschriften, die von den Mitgliedstaaten speziell zur Durchführung einer Richtlinie erlassen worden sind. Darüber hinaus ist jedoch nach zutreffender h. M. auch das sonstige nationale Recht selbst dann richtlinienkonform auszulegen, wenn es sich um Vorschriften handelt, die vor oder unabhängig vom Erlass der Richtlinie ergangen sind>'. Bereits in den Urteilen "von Co/san und Kamann " und "Harz " klingt durch die einleitende Wendung " insbesondere" (Rn . 4) an, dass der EuGH das nationale Umsetzungsrecht zwar hervorheben, jedoch darüber hinaus den gesamten innerstaatlichen Rechtsbestand als Gegenstand einer richtlinienkonformen Auslegung in Betracht ziehen will-" . Ausdrücklich bestätigt wird diese Rechtskonzeption in der vielfach zitierten Entscheidung des Gerichtshofs im Fall " Marleasing " 26. ll In dem Ausgangsverfahren vor einem spanischen Zivilgericht ging es um die Klage einer spanischen Gesellschaft (" Marleasing SA "), die das Ziel verfolgte, den Gesellschaftsvertrag einer anderen Gesell schaft für nichtig zu erkl ären . Die Klägerin trug vor, dass diese Gesellschaft nur mit dem Zweck gegründet worden sei, um ihr - der Klägerin - den Zugriff auf das Vermögen einer weiteren Gesellschaft zu entziehen. Sie stützte ihren Antrag auf Vorschriften des spanischen Rechts , wonach Vertr äge ohne rechtlichen Grund oder mit einem unerl aubten Grund unwirksam sind . Zum Zeitpunkt der Klageerhebung hatte Spanien die Richtlinie 68/151 I EW G zur Koordinierung der Schutzbestimmungen für Gesellschafter und Gläubiger noch nicht umge setzt. Deren Art . I1 zählte die Nichtigkeitsgründe abschließend auf, ohne die von der Klägerin vorgetragenen Gründe explizit zu nennen . Die im Vorlageverfahren von dem spanischen Gericht gestellte Frage nach der unmittelbaren Wirkung des Art . 11 verneinte der EuGH unter Hinweis auf seine ständige Rechtsprechung, nach der eine Richtlinienbestimmung nicht selbst Verpfli chtungen für den Einzelnen begründen könne . Er stellte jedoch klar, dass ein nationales Gericht die Ausl egung des innerstaatlichen Rechts - unabhängig vom Zeitpunkt seines Erlasses - so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten müsse , um das mit ihr verfolgte Ziel zu erreichen und auf diesem Weg Art . 249 I11 EGV nachzukommen" . Das Erfordernis der richtlinienkonformen Rechtsanwendung schließe es aus, die Nichtigkeit einer Aktiengesellschaft aus anderen als den in Art . 11 der Richtlinie abschließend aufgezählten Gründen auszusprechen-",
24
25 26
27 28
Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 118; Gellermann, Beeinflussung, S. 106; Hauck , NStZ 2007, 222; Kohler-Gehr ig , JA 1998,807,811 ; Roth , EWS 2005, 385, 388; Schroder , Richtlinien , S. 339 f.; Soy ka, wistra 2007, 127, 128. Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 83. EuGI-IE 1990,4135. EuGI-IE 1990,4135,4159. Krit. hierzu Schroder, Richtlinien, S. 343.
A. Das Rechtsinstitut der unionsrechtskonformen Auslegung
335
Die Entscheidung bestätigt, dass das gesamte nationale Recht, unabhängig da- 12 von, ob es der Umsetzung einer Richtlinie dient und gleichgültig, ob es zeitlich vor oder nach der Richtlinie erlassen wurde, richtlinienkonform auszulegen ist29 . Auf diese Weise dürften auch keine Wertungswidersprüche entstehen, wenn der nationale Gesetzgeber nicht tätig wird (und nicht tätig werden muss) , weil bereits die bestehenden Rechtsvorschriften den Richtlinienvorgaben genügen (Rn . 15).
2. Richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts ohne vorangegangene Transformationsgesetzgebung a) Richtlinie und nationales Recht Richtlinien sind gern. Art . 288 UA 3 AEUV an die Mitgliedstaaten gerichtet. Um 13 unmittelbare Wirkung für die Bürger zu entfalten, bedürfen sie prinzipiell der Umsetzung in das nationale Recht der Mitgliedstaaten (§ 4 Rn. 52). Die Mitgliedstaaten müssen dabei jene Formen und Mittel wählen , " die sich zur Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit (sog. "effet utile "] der Richtlinie unter Berücksichtigung des mit ihr verfolgten Zwecks am besten eignen "30. Die Verpflichtung zu einer den Zielsetzungen der Richtlinie entsprechenden Ausgestaltung bzw . Anpassung des nationalen Rechts führt regelm äßig zu besonderen Legislativakten der Mitgliedstaaten in Form eine s Gesetzes oder einer Rechtsverordnung'" . Inhalt und Ausmaß der erforderlichen Recht sumgestaltung hängen davon ab, inwieweit das nationale Recht bereits den inhaltlichen Vorgaben der Richtlinie entspricht. Damit die Umsetzungsnorm ihre spezifische Funktion, dem materiellen Rege- 14 lungsgehalt der Richtlinie innerstaatliche Geltung zu vers chaffen, erfüllen kann, muss zum einen ihre tatbestandliehe Fassung richtlinien kongruent ausgestaltet sein . Dies geschieht entweder durch eine wörtliche Übernahme der in der Richtlinie enthaltenen Recht ssätze oder zumindest durch Verwendung einer dem Sinngehalt der Richtlinie entsprechenden Formulierung. Nach ständiger Recht sprechung des EuGH erfordert die Umsetzung einer Richtlinie aber nicht notwendigerweise, dass ihre Bestimmungen förmlich oder wörtlich in die nationale Rechtsordnung übernommen werden'F. Die rechtstechnischen Möglichkeiten der Transformation von Richtlinien in nationales Strafrecht können etwa am Beispiel des § 261 StGB studiert werden ". Die Notwendigkeit einer speziellen Transformationsgesetzgebung entfällt, so- 15 weit die nationale Rechtsordnung bereits ein dem sachlichen Regelungsziel der Richtlinie entsprechendes Recht sinstrumentarium bereithält. In diesem Fall kommt der richtlinienkonformen Auslegung die Funktion zu, eine schon vor In29 30 31
32
33
Vgl. auch EuGHE 1993,6911 ,6932; 1994,3325,3357; NJW 2006, 2465, 2467; NJW 2010,427,429. EuGHE 1976,497,51 7 (Rz. 69, 73). Zu verbleibenden Entscheidungsspielräumen vgl. Brechmann , Richtlinienkonforme Auslegung, S. 10 f f.; GeIlermann, Beeinflussung, S. 15 ff; Scherzberg, Jura 1992, 572, 576 ff. Vgl. nur EuGHE 1991,2607,2631 (Rz. 18); EuGHE 1992,3265,3309 (Rz. 17). Hecker, Kreuzer-FS , S. 216 ff.; Vogel, ZStW 109 (1997), S. 335, 342 ff.
336
§ 10 Union srechtskonforme Auslegung
krafttreten der Richtlinie existierende mitgliedstaatliche Norm, die durch eine möglicherweise schon lange währende Rechtspraxis geprägt wurde, in den unionsrechtlichen Kontext zu stellen und anhand der sich hieraus ergebenden Vorgaben neu zu interpretieren. Auf diese Weise wird ohne Zutun des Gesetzgebers - durch bloße Interpretationsakte - europäisiertes nationales (Strat)Recht in den Mitgliedstaaten erzeugt. Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet das lebensmittelrechtliche Irrefü h ru ngsverbot: 16 § 11 I LFGB34 verbietet das Inverkehrbringen von Lebensmitteln unter irrefuhrender Aufmachung bzw. das Werben für Lebensmittel mit irrefLihrenden Aussagen . Vorsätzliche Zuwiderhandlungen sind mit Strafe, fahrlässige Verstöße mit Bußgeld bedroht (vgl. §§ 59 I Nr. 7, 60 I LFGB). Das lebensmittelrechtliche IrrefLihrungsverbot existierte als zentraler Pfeiler des deutschen Lebensmittel(stra1)rechts schon lange vor dem Inkrafttreten der am 18. Dezember 1978 erlassenen Richtlinie 79/112/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür (Etikettierungsk l.j". Die genannte RL schreibt den Mitgliedstaaten u. a. vor, den Schutz der Endverbraucher vor irrefLihrungsgeeigneter Etikettierung bzw. Aufmachung von Lebensmitteln und Werbung sicherzustellen. Da die RL und die deutsche Bestimmung das gleiche Regelungsziel (Schutz der Verbraucher vor Täuschung) verfolgen, ist § II I LFGB wie schon seine Vorläuferbestimmung (§ 17 I Nr. 5 LMBG36) als eine Vorschrift zu behandeln, die der Umsetzung der EtikettierungsRL in deutsches Recht dient. Zu Recht wird daher in der lebensmittelrechtlichen Literatur einhellig erkannt, dass das Verbot irrefuhrender Lebensmittelwerbung und darstellungsbezogener Täuschung im Lebensmittelverkehr zum harmonisierten Bereich des Lebensmittelrechts gehört. Daher ist das IrrefLihrungsverbot richtlinienkonform auszulegen". 17 Der lebensmittelrechtliche Zentralbegriff der IrrefLihrung unterliegt somit der Definitionsmacht des EuGH und nicht (mehr) den unterschiedlichen Vorstellungen der mitgliedstaatliehen Gerichte. Folglich sind bei der Auslegung des § 11 I LFBG die vom Gerichtshof entwickelten Maßstäbe zugrunde zu legen . Bei der täuschungsrechtlichen Beurteilung einer bestimmten Lebensmitteldarbietung muss mithin von dem Leitbild eines verständigen, informierten und an Informationen interessierten Verbrauchers ausgegangen werden": Demgegenüber 34
35
36
37
38
Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch v. 1. September 2005 (BGB!. 1 2005 , S.2618). ABlEG 1978 Nr. L 33, S. I; konsolidiert durch RL 2000 /13/EG (ABl EG 2000 Nr. L 109, S. 29). Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz i. d. F. d. Bek. v. 9. September 1997 (BGB!. 11997, S. 2296) . Dannecker , WiVerw 1996, 190, 199; Hecker, Produktwerbung. S. 102 ff.; Herbst, Irreftihrung sverbot, S. 43 ff., 171 ff.; Zipfel!Rathke, LFGB , § 11 Rn. 32 ff.; Schröder, Richtlinien, S. 418 f.; Vergho, Verbraucherschutzstrafrecht, S. 220 ff EuGI-I E 1990,4827; 1995, 1923, 1944; 1998,4657; 1999,513; 2000,117; 2000 , 2297 ; vg!. hierzu Dannecker , ZStW 117 (2005), S. 697, 705 ff.; ders., JURA 2006 ,173,174; Hecker , Produktwerbung, S. 50 ff.; Vergho , Verbraucherschutzstrafrecht, S. 226 ff.
A. Das Rechtsinstitut der union srechtskonformen Auslegung
337
unterfällt der dem traditionellen Leitbild des deutschen Lebensmittelrechts zugrunde liegende "flüchtige Verbraucher" nicht (mehr) dem Schutzbereich der Verbotsnorm. Eine Lebensmittelpräsentation, die zwar geeignet sein mag, bei unaufmerksamen, nicht aber bei verständigen Verbrauchern eine Fehlvorstellung hervorzurufen, darf somit von dem nationalen Lebensmittelrecht nicht (mehr) untersagt oder gern. §§ 59 I Nr. 7, 60 I LFGB mit Strafe oder Bußgeld bedroht werden .
b) Fallbeispiel .Nostalqiewerbunq" für Lebensmittel Fall I (OLG Koblenz LRE 20, 277): Lebensm ittelhersteller L macht auf dem Etikett der 18 verm arkteten Flei scherzeugn isse, die unter Ve rwendung de s zugel assenen Zu satz stoffes N itritpöke lsalz herg estellt word en sind, die Angaben: " ... Feine Kalbsl eberwurst I a" ... wie Anno damals... Wurstmachen hat bei A. Tradi tion - 100 Jahre - und Tradition heißt, die Wur st zu mach en wie die alten Metzger. .., "ge macht mit Zutaten wie früh er" . N ach Au ffa ssung des Wirtschaftskontrolldienst es (WKD) führt diese Werbung bei den Verbrauchern zu der Vor stellung, das so beworbene Fleischerzeugnis werd e mit den vor 100 Jahren üb liche n Zutaten hergestellt. Dies tre ffe jedoch au f die Verwendung von N itritpöke lsalz nicht zu. Dass der Her steller in einer auf der Vorderseite der Packung angebrachten Zut atenliste auf die Ve rwendung von Nitritpökelsalz hinwei se, sei nicht geei gnet, die Abweichung der Besch affenheit der Ware von der Ve rkehrsauffassung ausreichend kenntlich zu machen. Frage: Kann gegen L ein Bußgeld gern . §§ 59 I Nr. 7, 60 I LFGB i. V. m. § ll I LFGB verh ängt werden?
Lösungshinweise zu Fall I : Der Bußgeldtatbestand ist erfüllt, wenn die vom 19 WKD beanstandete No stalgiewerbung zur Irreführung der Verbraucher geeignet ist. Beurteilungsmaßstab für die se Frage ist die Verkehrsauffassung , die wiederum maßgeblich von dem zugrunde gelegten Verbraucherleitbild geprägt wird'". Die deutschen Strafgerichte legen bei der Beurteilung beanstandeter Produktbezeichnungen bzw. Werbeslogans traditionell einen äußerst strengen Irreführungsmaßstab zugrunde'P, Sie orientieren sich dab ei an dem Leitbild des "unkundigen", " flüchtigen" und " leichtgläubigen" Verbrauchers. Von diesem Ansatz aus beziehen die Gerichte auch den Verbraucher in den Schutzbereich des § ll I LFGB ein, der Angaben auf der Verpackung allenfalls oberflächlich liest, eventuellen Risiken des beworbenen Produkts eher unkritisch gegenübersteht und nur allzu leicht an die ihm durch die Werbung suggerierten Eigenschaften bzw . Wirkungen eines Produkts glaubt. Von diesem Standpunkt aus bestätigte das OLG Koblenz die Argumentation des WKD und somit die Ahndbarkeit des L41 . Diese Rechtsprechung missachtet das unionsrechtliche Gebot richtlinienkonfor- 20 mer Auslegung und gerät dadurch in Widerspruch zu der wesentlich liberaleren Täuschungsschutzkonzeption des Unionsrechts. Das straf- und bußgeldbewehrte Irreführungsverbot des § 11 I LFGB entspricht in seinem materiellen Regelungs39
40 41
Vgl. hierzu Hecker, Produktwerbung, S. 33 ff.; Hohmann , Die Verkehrsauffassung im deutschen und europäische n Leb en sm ittelrecht, 1994, S. 35 . Vgl. Hecker , Produktwerbung, S. 104 ff., 120 ff m .w. N . OLG Koblenz LRE 20 , 277 ff. (zu § 17 I Nr . 5 LMB G a. F.).
338
§ 10 Unionsrechtskonforme Auslegung
gehalt den in Art. 2 EtikettierungsRL festgelegten Vorgaben. Nach Art. 2 I lit. a EtikettierungsRL darf die Etikettierung und die Art und Weise, in der sie erfolgt, nicht geeignet sein, den Käufer irrezuführen. Um die korrekte Unterrichtung und den Schutz des Verbrauchers vor Irreführung sicherzustellen, schreibt Art. 3 I EtikettierungsRL die Verwendung bestimmter Kennzeichnungselemente vor, die bei vorverpackten Lebensmitteln auf der Verpackung oder auf einem mit ihr verbundenen Etikett anzubringen sind . Zu den obligatorischen Kennzeichnungselementen gehört u. a. neben der Verkehrsbezeichnung ein Zutatenverzeichnis. § II I LFGB ist wie eine die EtikettierungsRL in nationales Recht umsetzende Norm zu behandeln . Es handelt sich insoweit um harmonisiertes Recht, auch wenn das nationale Irreführungsverbot (§ 17 I Nr . 5 LMBG a. F.) bereits vor Erlass der Richtlinie existierte . Als solches muss die Verbotsbestimmung von den Rechtsanwendern richtlinienkonform ausgelegt werden, d. h., es ist eine sinnidentische Interpretation der in der Richtlinie und in der Umsetzungsnorm enthaltenen Regelung vorzunehmen . Nach der EtikettierungsRL reicht ein inhaltlich korrektes und vollständiges Zutatenverzeichnis grundsätzlich aus, um die Verbraucher vor Täuschung zu schützen. Mit der lapidaren Behauptung, der Hinweis auf die verwendeten Zusatzstoffe in der Zutatenliste sei nicht geeignet, die Irreführungsgefahr der beanstandeten Nostalgiebezeichnungen zu beseitigen, dürfen sich die nationalen Überwachungsbehörden und Gerichte also nicht begnügen. 21 Wie der EuGH in vielen Urteilen bestätigte, geht das Unionsrecht bei der Auslegung des IrrefLihrungsbegriffs von dem Leitbild eines "durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbrauchers" aus, der gewillt und fähig ist, die ihm durch die Produktkennzeichnung und in der Werbung unterbreiteten Informationen kritisch aufzunehmen und zu verarbeiten. Der Schutz dieses Maßstabsverbrauchers vor Täuschung ist regelmäßig bereits durch eine den Anforderungen der EtikettierungsRL entsprechende Etikettierung gewährleistet. Wohl nicht zuletzt unter dem Eindruck des bahnbrechenden "becel"-Urteils des BVerwG v. 23 . Januar 199242 haben die deutschen Verwaltungsgerichte inzwischen erkannt, dass das Unionsrecht eine einschneidende Änderung des Verbraucherleitbildes und damit eine Neubestimmung des lebensmittelrechtlichen IrrefLihrungsverbots bewirkt har". So stellte z. B. das VG Koblenz" fest, dass Wurstkonserven unter den Bezeichnungen "Bauern-Leberwurst nach alter Hausschlachtungsart", "Original Hunsrücker Bauern-Schwartenmagen nach Original Familienrezept" oder "Bauern-Mettwurst" in den Verkehr gebracht werden dürfen , obwohl diese Produkte mit Zusatzstoffen wie Stabilisatoren, Emulgatoren und Geschmacksverstärkern hergestellt werden . Die Verbrauchererwartung gehe nicht dahin , aus Nostalgiebezeichnungen auf vollständige "Chemiefreiheit" des Erzeugnisses zu schließen. Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung wurde 42 43
44
BVerwGE 89, 320 ff. = ZLR 1992 , 528 ff. (zu § 171 Nr. 5 LMBG a. P.). BayVGH LRE 32 , 123, 127 ff.; OVG NRW LRE 33 , 400, 404 ff. = ZLR 1997 , 81, 84 ff.; OVG RhPI: LRE 33 , 406 fl:; ßayVGH LR E 38 , 400, 401 ; VG Koblen z LRE 32 , 144 f.; VG Neustadt LRE 33 , 439 ff.; VG Stuttgart LR E 34 ,157,160 I: (jew. zu § 17 I Nr. 5 LMBG a. F.). VG Koblenz LRE 32 , 144 f. (zu § 171 Nr . 5 LMBG a. F.).
A. Das Rechtsinstitut der unionsrechtsko nformen A uslegung
339
vom OVG Rheinland-Pfalz als unb egründet verworfen". Der Senat wies in seiner Urteil sbegründung zutreffend darauf hin , dass bei der Interpretation des lebensmittelrechtlichen Irreführungsverbotes das Unionsrecht nicht außer Acht gelassen werden dürfe. Unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben sei hiernach auf den " vernünftigen und informationsfähigen" Verbraucher abzustellen, der seine Kaufentscheidung anhand der im Zutatenverzeichnis aufgefLihrten Angaben über die Zusammensetzung des Lebensmittels treffe. Da die Etikettierung der beanstandeten Produkte den Anforderungen des Art . 3 EtikettierungsRL entspreche, sei ein ausreichend er Schutz des Verbrauchers vor Irreführung gewährleistet. Die Verwendung von Nostalgiebezeichnungen führe somit nicht zu einer rechtlich relevanten Irreführung, die ein entsprechend es Bezeichnungsverbot rechtfertigen könne. Lösungsvorschlag: Gegen L kann nach zutreffender Ansicht keine Geldbuße gern . §§ 59 I Nr. 7, 60 I LFGB i. V . m. § II I LFGB verhängt werden .
IV. Richtlinienkonforme Auslegung als mehrphasiger Interpretationsakt Die Lösungshinweise zu Fall I machen deutlich, dass es sich bei der richtlinien- 22 konformen Auslegung regelmäßig um einen mehrphasigen Interpretationsakt handelt". Zumeist kann es mit der isolierten Analyse des Richtlinientextes nicht sein Bewenden haben. Denn das primäre Unionsrecht - namentlich die Grundfreiheiten und die allgemeinen Rechtsgrundsätze - überlagern das nationale Recht und das Sekundärrecht. So kann z. B. der in der Etikett ierungs RL enthaltene Begriff der " Irreführung" nur im Lichte der sog. " Cassis-Rechtsprechung" 47 (§ 9 Rn. 34) zur Warenverkehrsfreiheit unionsrechtskonform konkretisiert werden. Der gesamte Auslegungsvorgang, also die Ausdeutung der nationalen Vorschrift und der Richtlinie muss den primärrechtlichen Hintergrund reflektieren, weil andernfalls nicht in jedem Fall die Unionsrechtskonformität des Au slegungsergebnisse s gewährleistet wird . Die Notwendigkeit einer mehrphasigen Prüfung zeigt sich insbesondere in den 23 Fällen, in denen eine Richtlinie ausdrücklich strengere nationale Vorschriften zulässt , jedoch der höhere nationale Schutzstandard seinerseits eine Begrenzung in den Grundfreiheiten des EGV findet. Ein Beispiel hierfür bietet das deutsche Wettbewerbsstrafrecht, das in § 16 I UWG u. a. an die "Eignung zur Irreführung" anknüpft. Die Richtlinie 2006/114/EG über irreführende und vergleichende Werbung v. 12. Dezember 200648verpflichtet die Mitgliedstaaten u. a. zum Erlass geeigneter und wirksamer Rechtsvorschriften zur Bek ämpfung irreführender Werbung. Art . 3 lit. a-c führt in einem nicht ab schließenden Katalog einige zentrale Kriterien auf, die bei der Beurteilung der Frage, ob eine Werbung irreführend i. S. 45 46
47 48
OVG RhP [ LRE 33 , 406 ff. (zu § 17 I Nr. 5 LMB G a. F.). Schröder, Richtlinien, S. 408 ff., 451 f[ EuG I-1E 1979, 649, 664 . ABlEG 2006 Nr. L 376 , S. 21.
340
§ 10 Unionsrechtskonforme Auslegung
d. Richtlinie ist, zu beachten sind. Nach Art. 8 I steht es den Mitgliedstaaten jedoch frei, innerstaatliche Bestimmungen aufrechtzuerhalten oder zu erlassen, die einen weiter reichenden Schutz vor irreführender Produktwerbung gewährleisten. Das nationale Wettbewerbsstrafrecht scheint somit keine Begrenzung durch das Unionsrecht zu erfahren. Doch dieser Schein trügt , denn die Anwendung des nationalen Verschärfungsvorbehalts wird durch die primärrechtlichen Vorgaben des Art. 34 AEUV (ex-Art. 28 EGV begrenzt. Bei grenzüberschreitenden Werbekampagnen ist mithin der (liberalere) IrrefLihrungsmaßstab anzulegen, der vom EuGH anhand der Warenverkehrsfreiheit entwickelt wurde.".
V. Verhältnis der unionsrechtskonformen Auslegung zu nationalen Auslegungsmethoden 24 Im Grundsatz wird die Pflicht zu unionsrechtskonformer Auslegung des nationalen Rechts zwar allgemein anerkannt. Das Verhältnis dieses Interpretationsgebotes zu den Kriterien der nationalen Auslegungsmethoden ist jedoch von einer " überbordenden Vorrangdtskussion' geprägt. Dabei dreht sich der Hauptstreitpunkt um die Frage, ob der unionsrechtskonformen Auslegung gegenüber der grammatischen , teleologischen, historischen und systematischen Interpretation ein absoluter Vorrang zukomme (Vorrangigkeitsthesej'" oder ob Inhalt und Zielsetzung der Richtlinie grundsätzlich nur als eines von mehreren gleichrangigen Auslegungskriterien zu berücksichtigen seien (Cleichranglgkeitsthesej'". 25 Die Vertreter der Vorrangigkeitsthese stufen das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung als "ranghöchstes Normauslegungsprinzip" ein . Nach ihrer Auffassung beansprucht das Resultat einer unionsrechtskonformen Auslegung daher uneingeschränkten Vorrang vor den nach der tradierten Interpretationsmethode gewonnenen Auslegungsergebnissen. Folgerichtig müssten nach dieser Lehre auch Auslegungsresultate akzeptiert werden , welche unter Zugrundelegung der nationalen Interpretationskriterien unvertretbar erschienen. Um einer nicht unmittelbar geltenden Richtlinie zu innerstaatlicher Durchsetzung gegenüber nationalen Vorschriften zu verhelfen, ist nach einer Ansicht sogar eine Rechtsfortbildung contra legern in Kauf zu nehmen'< . Aus spezifisch strafrechtlicher Sicht wird jedoch zu Recht geltend gemacht, dass - selbst bei grundsätzlicher Anerkennung der Vor49 50 51
52
53
Vgl. hierzu Hecker, Produktwerbung, S. 298 ff.; Schroder, Richtlinien, S. 414 f. Brechmann, Richtlini enkonforme Ausl egung, S. 131 Ir Im Grundsatz vertreten von Böse, Stra fen und Sankt ionen , S. 425 Ir ; Franzheim/Kreß, JR 1991, 402 , 403; GÖlz, NJW 1992, 1849, 1854; Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht , S. 100; Lutter, JZ 1992, 593, 604 ; Spe lz/er, RIW 1991, 579, 580. Im Grundsatz vert reten von Ambos, IntStR , § 11 Rn. 46 ; Brechmann , Richtlinienkonforme Auslegung, S. 213 ff., 247 ff.; Classen, EuZW 1993, 83, 87 ; GelIermann, Beeinflussung , S. 112 f.; Jarass, Grundfragen, S. 93 ff.; Kohne , Richtlinienkonforme Ausl egung im Urnweltstrafrecht, S. 93 ff., 137; Satzge r, Europäisie rung, S. 531 f.; Schroder, Richtlinien, S. 351 ff. Lutter, JZ 1992, 593, 607 .
A. Das Rechtsinstitut der unionsrechtskonforme n Auslegung
341
rangigkeitsthese - die Pflicht zu unionsrechtskonformer Auslegung von Straf- und Bußgeldnormen auf unionsrechtliche Grenzen (allgemeine Rechtsgrundsätze) stößt'". Fundamentale Strafrechtsprinzipien wie das Rückwirkungs- und Analogieverbot dürfen also keinesfalls verletzt werden (Rn . 33 ff.). Der Vorrangigkeitsthese kann nicht gefolgt werden . Soweit sich diese Lehre 26 auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Recht beruft , wird verkannt, dass es sich hierbei um eine Kollisionsregel handelt, die nur im Falle eines Widerspruchs zwischen unmittelbar geltendem Unionsrecht und nationalem Recht zum Zuge kommt (§ 9 Rn. 15). Außerhalb dieser Konstellation lässt sich aus dieser Kollisionsregel kein "methodenbrechendes", andere Auslegungskriterien überspielendes Interpr etationsgebot able iten'" . Die Thes e vom absoluten Vorrang des Gebotes unionsrechtskonformer Auslegung findet auch in der Rechtsprechung des EuGH keine Grundlage. Der Gerichtshof verlangt lediglich, dass die nationalen Gerichte das in Rede stehende Interpretationsgebot im Rahmen des ihnen durch das innerstaatliche Recht eingeräumten Beurteilungsspielraumes anwenden' ". Das bedeutet, ihre Pflicht zu unionsrechtskonformer Auslegung wird durch die Auslegungsregeln der innerstaatlichen Dogmatik und den verfassungsrechtlich abgesteckten Rahmen begrenzt. Nach den Darlegungen des EuGH kommt eine unionsrechtskonforme Auslegung nur insoweit in Betracht, als das nation ale Recht dem Gesetzesanwender einen Spielraum einräumt. Dementsprechend ist der Gerichtshof in der Rechtssache" F orster " allein auf die unmittelbare Wirkung der in Rede stehenden Richtlinie eingegangen, weil eine richtlinienkonforme Auslegung nach Auffa ssung des vorlegenden Gerichts nicht möglich war'". Indem er von der Auslegungsfähigkeit und -bedürftigkeit innerstaatlicher Rechtsvorschriften ausgeht und die nationalen Gerichte als hierfür allein zuständige Interpretationsinstanzen anerkennt, stellt er zugleich sicher , dass bedenkliche Kompetenzübergriffe der Judikative in den Bereich der Legislative im Zuge der unionsrechtskonformen Auslegung vermieden werden'". Die Ablehnung der Vorrangigkeitsthese bedeutet nicht, dass der union srechts- 27 konformen Auslegung keine hervorgehobene Stellung innerhalb des nationalen Auslegungskanons zukommen könnte . Vergleichbar der verfassungs- oder völkerrechtskonformen Auslegung ist dem Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung Genüge getan , wenn von mehreren nach nationaler Dogmatik und Verfassungsrecht vertretbaren Auslegungsergebnissen dasjenige gewählt wird, welch es der etwa in einer Richtlinie zum Ausdruck gelangenden - unionsrechtlichen Wertungsvorgabe am besten entspricht. Damit nimmt die unionsre chtskonforme Inter54
55
56 57
58
Böse, Strafen und Sanktionen, S. 431 ff.; Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 106 ff.; Rüffler , ÖJZ 1997, 121, 129. Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 147 ff., 247 ff.; GeIlermann, Beeinflussung, S. 104; Köhne, Richtlin ienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 93; Satzger , Europäisierung, S. 531; Schröder, Richtlinien, S. 352. Vgl. nur EuGHE 1990,4135,4159; NJW 2006 , 2465, 2467 ; NJW 2010 , 427, 429. EuGI-I E 1990, 3313, 3343, 3346; vgl. hierzu Jarass, Grundfragen, S. 94; Schröder, Richtlin ien, S. 359. Satzger, Europäisierung, S. 531; Schröder, Richtlinien, S. 353.
342
§ 10 Union srechtskonforme Auslegung
pretation zwar nur den gleichen Rang wie die klassischen Auslegungskriterien ein. Jedoch genießt sie innerhalb dieses Auslegungskanons als "primus inter pares" einen relativen Vorrang, den man treffend mit dem Begriff einer Vorzugsregel beschreiben kann'".
VI. Beginn der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung 28 Vor dem Hintergrund, dass Richtlinien den Mitgliedstaaten regelmäßig eine Frist zur Umsetzung einräumen, stellt sich die Frage, ab welchem Zeitpunkt die innerstaatlichen Stellen verpflichtet sind, nationales Recht richtlinienkonform auszulegen. Einigkeit besteht darüber, dass die Richtlinie jedenfalls bei der Interpretation solcher Vorschriften zu berücksichtigen ist, die vor Ablauf der Umsetzungsfrist zu dem Zweck erlassen worden sind, die Vorgaben der Richtlinie in nationales Recht zu transferieren. Die Beachtlichkeit der Richtlinie für die Ausdeutung des Umsetzungsrechts folgt hier bereits aus den Auslegungsregeln des nationalen Rechts (historische und teleologische Interpretation), da davon auszugehen ist, dass der Gesetzgeber die Richtlinie korrekt umsetzen wollte (Rn. 9)60. 29 Ob auch ohne vorangegangene Transformationsgesetzgebung bereits vor Ablauf der Umsetzungs frist eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung besteht, wird streitig diskutiert. In der Rechtssache" Kolpinghuis Nijmegen " 61 (Rn. 39 ff.) scheint der EuGH der Ansicht zuzuneigen , dass die innerstaatlichen Gerichte und Behörden bereits ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Richtlinie (Art. 297 AEUV ; ex-Art . 254 I EGV) eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung treffe. Ein Teil der Literatur'F stimmt dieser Auffassung zu und beruft sich zur Untermauerung dieser These auf ein weiteres Urteil, in dem der EuGH im Wesentlichen Folgendes forderte : Bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist sind die Mitgliedstaaten gehalten , keine Vorschriften zu erlassen , die geeignet sind, die Erreichung des in der Richtlinie vorgeschriebenen Zieles bei Ablauf der Umsetzungsfrist ernstlich in Frage zu stellen'".
59
60
61
62 63
Ambos , IntStR, § 11 Rn. 46 ; Ehricke, Rabel sZ 59 (1995), 598 , 623 ; Satzger , Europäisierung, S. 532 ; Schroder , Richtlinien, S. 353 f.; ders., GwG , Vor § 261 StGB Rn. 29. Gellermann, Europäischer Rechtsschutz, § 33 Rn. 53; ders., Beeinflussung, S. 109 f.; Langen/eid, DÖV 1992,955,964; RüjJler, ÖJZ 1997,121 ,125 ; Schröder , Richtlinien, S.462. EuGHE 1987, 3969 , 3987. Die Entsche idung lässt die sbezüglich jedoch einen großen Interpretationsspieiraum offen und wird dementsprechend unterschiedlich gedeutet; vgl. Götz, NJW 1992 , 1849, 1854; Rüffler, ÖJZ 1997, 121, 125; Satzger, Europäisierung , S. 536 ; Schröder , Richtlinien, S. 462. Lenz, DVBi 1990,903,908; Schilling, Zaö RV 48 (1988), S. 637 , 648 ; Satzger , Europäisierung, S. 535 Ir EuGHE 1997,7411 ,7450 f. (Rz . 50) ; eben so EuGH NJW 2006,2465,2468 (Rz . 121).
A. Das Rechtsinstitut der un ionsrechtskonformen Auslegung
343
Aus der hiernach bestehenden Vorwirkung einer erlassenen, aber noch nicht um- 30 gesetzten Richtlinie lässt sich jedoch keine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts vor Ablauf der Umsetzungsfrist ableiten . Der Sache nach postuliert der EuGH nicht mehr als ein Vereitelungs- oder Frustrationsverbot'", wie es auch im Recht der völkerrechtlichen Verträge bekannt ist, während die richtlinienkonforme Auslegung (positiv) auf die materielle Verwirklichung der Richtlinienvorgaben gerichtet ist. Ein dahingehendes Interpretationsgebot vermag aber - wie die h. L. zutreffend erkennt - erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist zur Entstehung gelangen'". Der EuGH hat sich dieser Ansicht inzwischen ausdrücklich angeschlossen'". Da die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung u. a. aus der Umsetzungsverpflichtung des Art . 288 UA 3 AEUV abzuleiten ist (Rn . 6 ff.), kann eine Bindung der innerstaatlichen Stellen an dieses Interpretationsgebot auch erst mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist in Betracht kommen. Erst ab diesem Zeitpunkt will das Unionsrecht einen der jeweiligen Richtlinie entsprechenden Rechtszustand gesichert wissen . Auch würde es nicht überzeugen, durch eine bereits vor Fristablauf einsetzende Inpflichtnahme der nationalen Gerichte in den legislativen Entscheidungsspielraum des mitgliedstaatliehen Gesetzgebers über Form und Mittel der Umsetzung einzugreifen. Da das Richtlinienrecht grundsätzlich ein innerstaatliches Gesetzgebungsverfahren durchlaufen muss, bei dem erhebliche Ermessensspielräume gegeben sein können, dürfen die Gerichte vor Ablauf der Umsetzungsfrist nicht in die Rolle eines .Ersarzgesetzgebers" gedrängt werden . Erst dann , wenn der Mitgliedstaat seinen Umsetzungsauftrag nicht fristgerecht erfüllt, besteht Anlass, dem Richtlinienrecht mittels richtlinienkonformer Auslegung des nationalen Rechts oder durch Anerkennung einer unmittelbaren Wirkung der Richtlinie zum Durchbruch zu verhelfen . Die Verwerfung einer Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung vor Ablauf 31 der Umsetzungsfrist steht jedoch der Zuerkennung einer entsprechenden Interpretationsbefugnis der Gerichte nicht entgegen, soweit nationale Rechtsdogmatik und Verfassungsrecht eine richtlinienkonforme Ausdeutung innerstaatlicher Vorschriften zulassen. So hat der BGH seine frühere Rechtsprechung, die von einem grundsätzlichen Verbot der vergleichenden Werbung ausging, noch vor Umsetzung der Richtlinie 97/55/EG67 (ÄnderungsRL) geändert, indem er die große Generalklausel des § I UWG a. F. richtlinienkonform interpretiertes". Obwohl sich der BGH vor Ablauf der Umsetzungsfrist nicht zu einer richtlinienkonformen 64
65
66
67
68
Weiß, DVBI 1998, 572 ff. Ambos, IntStR, § 11 Rn. 45 ; Böse, Strafen und Sanktionen, S. 427; Brechmann , Richtlinienkonforme Auslegung, S. 264 f.; Ehricke, EuZ W 1999, 553; GelIermann, Europäischer Rechtsschutz, § 33 Rn. 52 ; Götz, NJW 1992, 1949, 1854; Klein, Everling-FS, S. 641,646; König, in: Göhler, OWiG, § 3 Rn . 8 a; Roth, EWS 2005 , 385 , 387 ; Schroder , Richtlinien, S. 461 ff.; Rüffler, ÖJZ 1997, 121, 125. EuGH NJW 2006, 2465, 2468 (Rz . 124) . Richtlinie 97/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 6. Oktober 1997 zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG über irreführende Werbung zwecks Einbeziehung der vergleichenden Werbung (AI3lEG 1997 Nr. L 290, S. 18). BGHZ 138, 55, 64 = NJW 1998 , 2208, 2210 ff.; BGH NJW 1998, 3561 ff.
344
§ 10 Unionsrechtskonforme Auslegung
Auslegung verpflichtet sah, scheute er mit feinem Gespür davor zurück, ein richtliniengemäßes Verhalten von Wettbewerbsteilnehmem bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist als sittenwidrig i. S. d. § I UWG a. F. zu tadeln , um es nach Fristablauf als rechtskonform zu bewerten. Ein unzulässiger Übergriff der Judikative in den legislativen Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers war hierin nicht zu erblicken, da die wettbewerbsrechtliche Generalklausel gerade dazu dient , eine rasche Anpassung des nationalen Wettbewerbsrechts an aktuelle Entwicklungen zu ermöglichen. Im Übrigen waren die Vorgaben der ÄnderungRL so eindeutig gefasst , dass der Gesetzgeber ohnehin nur eine Umsetzungsregelung treffen konnte , die mit der vom BGH "vorweg hergestellten" Rechtslage inhaltlich übereinstimmt. 32 Zusammenfassend lässt sich festhalten : Eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung besteht erst nach Ablauf der in einer Richtlinie vorgesehenen Umsetzungsfrist. Zuvor besteht jedoch eine Befugnis der mitgliedstaatliehen Gerichte, bestehende Interpretationsspielräume des innerstaatlichen Rechts nach Maßgabe der nationalen Rechtsdogmatik und innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen richtlinienkonform auszufüllen.
VII. Grenzen des Gebots unionsrechtskonformer Auslegung 33 Der sachliche Gehalt von (Strat)Gesetzen wird durch Auslegung in die praktische Rechtsanwendung umge setzt. Die Vielfalt der Lebenssachverhalte und der rechtstatsächliche Wandel werfen immer wieder die Frage auf, ob ein konkretes Geschehen noch unter den abstrakt formulierten Rechtssatz subsumiert werden kann . Nach deutschem Methoden- und Verfassungsverständnis ist davon auszugehen, dass für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung der in der Norm zum Ausdruck gelangende Wille des Gesetzgebers maßgeblich ist, wie er sich aus dem Wortlaut und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den die Norm hineingestellt ist69 . Im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht kommt der grammatikalischen Auslegung eine besondere Bedeutung zu, weil der mögliche Wortsinn einer Vorschrift der Auslegung mit Blick auf das in Art . 103 11 GG verankerte Analogieverbot eine Grenze zieht , die nicht überschritten werden darf?". 34 Würde das Gebot zur unionsrechtskonformen Auslegung unbegrenzt gelten , so folgte hieraus eine Pflicht der innerstaatlichen Stellen, den Anw endungsbereich einer Strafbestimmung erforderlichenfalls auch über ihren äußersten möglichen Wortsinn hinaus auszudehnen, wenn nur auf diese Weise dem Unionsrecht zur Durchsetzung verholfen werden könnte . Dies aber käme der Schaffung neuen Strafrechts, mithin der Anmaßung einer Strafrechtssetzungskompetenz der Union
69 70
BVerfGE 11, 126, 132; 105, 135, 157; NJW 2004 , 1305, 1306. ßVerfG E 85, 69, 73; 105, 135, 157; NJW 2007 , 1666; NJW 2008 , 3627; ßGH NJW 2007 , 524, 525 ; S/S- EserlJ-lecker, § I Rn. 25 ff:; König , in: Göhl er, OW iG, § 3 Rn. 8a; KK-OWiGlRogall, § 3 Rn. 51 ff:; SchejJler, J URA 1996, 505 ff; MüKoStGß/Schmüz, § 1 Rn. 55 ff.; Schröder , Richtlinien, S. 355 ff.
A. Das Rechtsinstitut der unionsrechtskonformen A uslegung
345
gleich 71 . Die Pflicht zur unionsrechtskonform en Auslegung findet j edoch ihre Grenzen sowohl im nationalen Recht als auch im Unionsrecht. Ein Konflikt zwischen diesen kumulativ nebene inander stehenden Schranken ist von vornherein ausgeschlossen, da die unionsrechtskonforme Interpretation innerstaatlicher Vorschriften nach der Rechtsprechung des EuGH ohnehin nur im Rahmen des nach nationalem Recht bestehenden Auslegungsspielraumes vorzunehmen ist (Rn. 26) . Folglich stellen insbesondere die im nationalen Verfassungsrecht verankerten Bindungen eine auch vom Unionsrecht akzeptierte Auslegungsgrenze dar" . Der Judiaktur des EuGH ist zu entnehmen, dass die praktische Anwendung die- 35 ses Interpretationsgebotes ungeachtet seines (relativen) Vorranges gegenüber den nationalen Auslegungskriterien (Rn. 27) stets im Einklang mit dem nationalen Recht stehen muss : " ... Diese Verpflichtung des innerstaatlichen Gerichts, bei der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen seines nationalen Rechts auf den Inhalt der Richtlinie abzustellen, findet j edoch ihre Grenzen in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die Teil des Gemeinschaftsrechts sind, und insbesondere in dem Grundsatz der Rechtssicherheit und im Rückwirkungsverbot. " 73 In seiner Entscheidung im Fall " Telekom Italia" zitierte der EuGH sogar expli- 36 zit das in Art. 7 I EMRK normierte Gesetzlichkeitsprinzip (Rn. 50), um darzulegen, dass sich die Einleitung einer Strafverfolgung wegen eines Verhaltens verbiete, dessen Strafbarkeit sich nicht eindeutig aus dem Gesetz ergebe . Mit dieser Schranke zieht der EuGH die logische Konsequenz aus der Verankerung des Interpretationsgebotes im Primärrecht (Rn. 6 ff.). Denn auch die allgemeinen Rechtsgrunds ätze gehören dem primärrechtlichen Unionsrecht an, so dass die einander gegenüberstehenden, gleichrangigen Prinzipien im Wege der praktischen Konkordanz zum Ausgleich gebracht werden müssen?". Zusammenfassend kann festgehalten werden , dass die Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen (Straf)Rechts ihre Grenzen sowohl im nationalen Verfassungsrecht als auch in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts findet. Ein praktisches Beispiel, in dem die Grenzen der unionsrechtskonformen Aus- 37 legung sichtbar werden, bildet der Straftatbestand der Falschbeurkundung im Amt (§ 348 StGB) . Das Assimilierungsprinzip (§ 7 Rn. 26 ff.) fordert, dass Falschbeurkundungen von EU-Beamten ebenso mit Strafe bedroht werden wie gleich gelagerte Handlungen deutscher Amtsträger (Gleich stellungserfordernis). Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 348 StGB sind taugliche Täter einer Falschbeurkundung im Amt aber nur deutsche Amtsträger (vgl. § II I Nr. 2 StGB) . Folglich ist 71
72
73
74
Groblinghof]; Verpfli chtung des Strafgesetzgeb ers, S. 64 ff.; unzutreffend Thomas, NJW 1991 ,2233,2237, wonach d ie verfassungsrechtlichen Au slegungsgr enzen durch da s Gem einschaftsrecht gesprengt werde n könn en. Dann ecker, JUR A 2006, 173, 176; GeIlermann, Beei nflu ssun g, S. 108; Jara ss, Gru ndfragen , S. 93 ff.; Roth , EWS 2005, 385, 392 ff.; Satzger, Eur opäisierung, S. 533 ff.; ders. , IntStR, § 9 Rn . 89; Schröder , Richtl inien, S. 355 ff. EuG I-1E 1987,3969,3986 (R z. 13); vg l. au ch EuG I-I E 1996,6609, 6636 (Rz. 24); EuG I-IE 1996,4705,4730 (R z. 42); EuG H NJW 2006, 2465, 2467 (Rz. 110). Rüffler, ÖJZ 1997, 121 , 129; Satzger . Europäisierung, S. 535; Sehroder. Richtlinien, S. 360 ff.
346
§ 10 Union srechtskonforme Auslegung
dieser Tatbestand keiner Auslegung zugänglich, die Falschbeurkundungen von EU-Beamten erfasst". Eine gegen Art . 103 11 GG verstoßende Interpretation contra legern wird - wie oben dargelegt - auch vom Unionsrecht nicht gefordert. Hier liegt somit ein Versäumnis des nationalen Gesetzgebers vor , das durch eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht ausgeglichen werden kann . Der Gesetzgeber ist gefordert, durch eine Gleichstellungsbestimmung - etwa nach dem Vorbild des EUBestG (§ 7 Rn. 73) - sicher zu stellen , dass Falschbeurkundungen von EUBeamten nach deutschem Recht strafbar sind .
B. Unionsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht I. Aussagen des EuGH 38 Die Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung erstreckt sich auf alle Rechtsbereiche einschließlich des Strafrechts und bezieht sowohl das Umsetzungsrecht als auch das vor oder unabhängig vom Erlass einer Richtlinie ergangene nationale Recht ein . In den nachfolgend behandelten Leitentscheidungen des EuGH - allesamt .J eading cases" des Europäischen Strafrechts - finden sich zentrale Aussagen zur unionsrechtskonformen Auslegung im Strafrecht, deren Quintessenz lautet , dass jedenfalls im strafrechtlichen Kontext ein restriktiver Umgang mit diesem Interpretationsgebot zu fordern ist76 .
1. Strafrechtliche Verantwortlichkeit und Richtlinienrecht im Falle einer zum Tatzeitpunkt nicht umgesetzten Richtlinie ("Kolpinghuis Nijmegen U ) 39 Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache .Kolpinghuis Nijmegen " (Fall 2) ist für die unionsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht von grundlegender Bedeutung, da ihre Interpretation nahezu alle Stellungnahmen zu diesem Problemkreis prägt". Ihr liegt folgender Sachverhalt zugrunde: 40
Fall 2 (EuGHE 1987,3969): Gegen die Kolpinghuis Nijmegen BV wurde in den Niederlanden Anklage erhoben, weil sie im August 1984 ein Getränk - mit Kohlensäure verset ztes Leitungswasser - unter der Bezeichnung " Mineralwasser" zum Verkauf anbot. Laut Anklage verstieß die Angeklagte damit gegen eine niederländische Verordnung, welche es verbietet, für den menschlichen Genuss bestimmte Waren, die aufgrund ihrer Zusammensetzung fehlerh aft sind, zum Verk auf und zur Lieferung vorrätig zu halten , wobe i der Begriff "fehlerhaft" nicht näher defin iert ist. Der unionsrechtliche Hintergrund des Falles ergibt sich aus einer Richtlinie v. 15. Juli 198078 , die festlegt , unter welchen Voraussetzungen ein 75 76 77
78
S/S/Cramer/Heine, § 271 Rn. I ; Satzger, Europäi sierung, S. 582 . Schröder , Richtlinien, S. 380 , 388. Vgl. nur Satzger , Europäisierung, S. 538 ff.; Schröder, Richtlinien , S. 16 ff., 380 ff. Richtlinie 801777/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften über Gewinnung von und den Handel mit natü rlichen Mineralwässern (ABlEG 1980 Nr. L 229 , S. I) .
B. Unionsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht
347
Getränk als " Mineralwasser" vertrieben werden darf. Nach Art. 4 der Richtlinie muss Mineralwasser aus einer Quelle gewonnen werden und darf bis auf den Entzug oder die Zufügung von Kohlensäure nicht weiter behandelt worden sein. Für die Umsetzung der Richtlinie sah Art. 15 eine Frist von vier Jahren vor (Ablauf: Juli 1984). Der zum Gegen stand der Ankl age gemachte Sachverhalt spielte sich also nach Ablauf der Urnsetzungsfrist, aber noch vor Umsetzung der Richtlinie in niederländisches Recht ab. In dem Vorabentscheidungsverfahren stellten sich somit die Fragen , ob die Richtlin ie nach Ablauf der Umsetzungs/r ist unmittelbar anwendbar ist und sich die Anklagebehörde infolgedessen zu Lasten der Angeklagten auf die Richtlinienbestimmung des Art. 4 berufen könne. Des Weiteren war zu klären , ob der im niederländischen Recht enthaltene, aber nicht näher definierte Begriff der .Fehlerhaüigkcit" der Ware im Lichte der Richtlinie ausgedeutet werden kann.
Lösungshinweise zu Fall 2: Im Hinblick auf eine unmittelbare Wirkung der nicht 41 fristgerecht umgesetzten Richtlinie bestätigte der EuGH seine frühere Rechtsprechung , wonach eine Richtlinienbestimmung nicht aus sich heraus , also ohne Umsetzung in nationales Recht , Verpflichtungen für den Einzelnen begründen könne . Mithin antwortete er auf die beiden ersten Vorlagefragen, dass sich eine innerstaatliche Behörde nicht zu Lasten des Einzelnen auf eine Richtlinie berufen könne, deren erforderliche Umsetzung in nationales Recht noch nicht erfolgt sei?". Der Gerichtshof hat damit eine belastende, die Stratbarkeit begründende Wirkung einer nicht fristgemäß umgesetzten Richtlinie im Verhältnis des Staates zum Bürger (sog . umgekehrt vertikales Verhältnis) abgelehnt'", Die dritte Vorlegungsfrage führt vor Augen , dass eine belastende Wirkung der 42 Richtlinie auch in Form einer richtlinienkonformen Auslegung eintreten kann, da der in der niederländischen Stratbestimmung enthaltene Begriff der Fehlerhaftigkeit der Ware mittels der Richtlinienwertung ausgefüllt werden könnte . Der Gerichtshof verweist zunächst auf seine frühere Rechtsprechung, aus der sich ein Gebot zur richtlinienkonformen Auslegung ergibt, und bestätigt damit, dass dieses Institut auch für den Bereich des Strafrechts bedeutsam ist. Sodann verweist er jedoch darauf, dass dieses Interpretationsgebot durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die Teil des Unionsrechts sind, insbesondere durch den Grundsatz der Rechtssicherheit und des Rückwirkungsverbots begrenzt wird'" , Wie Generalanwalt Mischo überzeugend ausführte, darf ein nationales Gericht 43 auch die nicht umgesetzte Richtlinie berücksichtigen, um eine Auslegung des nationalen Rechts zu bestätigen'<. Gemeint ist damit , dass bei Vorliegen mehrerer nach nationalem Recht vertretbarer Auslegungsmöglichkeiten die Richtlinienvorgabe ausschlaggebende Bedeutung erlangen kann . Auch der Gerichtshof postulierte kein grundsätzliches Verbot , nicht umgesetzte Richtlinien bei der Ausdeutung von Stratbestimmungen in den Interpretationsvorgang einfließen zu lassen. 79 80
81 82
EuGHE 1987,3969,3985 - Hervorhebungen durch den Verfasser. So auch die h. L; vgl. Bach , JZ 1990, 1108, 1115; Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 160; Kähn e, Richtlin ienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 65 ff.; Satzger. Europäisierung, S. 538 ff:; teilweise a. A. Mansdorfer, JURA 2004 , 297, 303; Schroder, Richtlinien, S. 5 rr, 209 ff:; ders ., DVB1 2002 , 157 ff: EuGI-IE 1987,3969,3986 (Rz. 13). EuGHE 1987,3969,3979 - Hervorhebung im Original.
348
§ 10 Union srechtskonforme Auslegung
Durch seinen Hinweis auf die unionsrechtlichen Grenzen des Interpretationsgebotes stellte er jedoch klar, dass es sich verbietet, die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Einzelnen auf einen unbestimmten Tatbestand zu stützen , der erst durch die Heranziehung von Richtlinienbestimmungen eine hinreichend bestimmte Beschreibung der Verbotsmaterie erlangt. Dies käme in der Tat einer " verkappten" unmittelbaren Wirkung der Richtlinie zu Lasten des Einzelnen gleich, die nach ständiger Rechtsprechung des EuGH unzulässig ist. Der Gerichtshof hat somit dem Versuch der niederländischen Anklagebehörde eine Absage erteilt, die nicht umgesetzte Richtlinienbestimmung als .Einfallstor'' für die Konkretisierung eines unbestimmten Strafgesetzes zu funktionalisieren'" .
2. Strafrechtliche Verantwortlichkeit und Richtlinienrecht im Falle einer zum Tatzeitpunkt fehlerhaft umgesetzten Richtlinie ("Arcaro") 44
In der Rechtssache " Arcaro " (Fall 3) ging es um die unmittelbare Wirkung von fehlerhaft umgesetzten Richtlinien sowie um die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Umweltstrafrechts.
45
Fall 3 (EuGHE 1996, 4705) : Italien hatte umweltrelevante Richtlinien fehlerhaft umgesetzt. Im nationalen Recht fehlte eine von den Richtlinien geforderte Genehmigungsptlicht zur Ableitung von Cadmium, die ihrerseits strafrechtlich relevant war. Gegenstand des Strafverfahrens war eine zum Tatzeitpunkt nicht genehmigte und damit richtlinienwidrige Ableitung von Cadmium durch den von Herrn Arcaro geleiteten Betrieb . Frage: Kommt eine unmittelbare Anwendung der Richtlinien oder eine richtlin ienkonforme Auslegung des nationalen Rechts zu Lasten des Angeklagten in Betracht?
46 Lösungshinweise zu Fall 3: Rechtstheoretisch ließe sich argumentieren, bei einer lediglich fehlerhaften Transformation einer Richtlinie sei im Gegensatz zu dem Fall einer fehlenden Umsetzung eine unmittelbare Wirkung zu Lasten des Einzelnen zuzulassen, da aus der Umsetzungsaktivität des Mitgliedstaates regelmäßig ein Wille zur Herbeiführung eines unionsrechtskonformen Rechtszustandes herzuleiten sei. Etwaige Umsetzungsdefizite könnten durch Heranziehung der entsprechenden Richtlinieninhalte geheilt werden'". Der Umstand, dass im vorliegenden Fall - anders als in dem Fall .K olpinghuis Nijmegen " (Rn . 39 ff.) - nationale Umsetzungsnormen ergangen waren , veranlasste den Gerichtshof aber nicht zu einer abweichenden Gesamtwürdigung. Der EuGH prüfte nicht einmal , ob die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung der einschlägigen Richtlinienbestimmungen gegeben sind, sondern verwies auf seine Rechtsprechung, nach der die Richtlinie selbst Verpflichtungen des Einzelnen nicht begründen und auch eine strafrechtliche Verantwortung nicht festlegen oder verschärfen kann'". Was die Pflicht zu einer richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts anbelangt, wiederholte der EuGH zunächst seine "so weit wie möglichv-Formel aus dem Urteil " Marleasing" (Rn. 10 ff.). Sodann umschrieb er die Grenzen dieses Interpre83 84 85
Satzger , Europäisierung, S. 541; Schröder, Richtlinien, S. 19, 382. Schröder , Richtlinien, S. 20. EuGHE 1996,4705,4729 f.
B. Unionsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht
349
tationsgebots noch wesentlich prägnant er als dies in seiner Entscheidung im Fall .Kolpinghuis Nijmegen " ges chehen war : " ... Diese Verpflichtung des nationalen Gerichts, bei der Auslegung der einschlägige n Bestimmungen seines nationalen Rechts auf den Inhalt der Richtlinie abzustellen, findet jedoch ihre Grenzen, wenn eine solche Auslegung dazu f ührt, dass einem Einzelnen eine in einer nicht umgesetzten Richtlinie vorgesehene Verpflichtung entgeg engehalten wird, und erst Recht dann, wenn sie dazu führt, dass auf der Grundlage der Richtlin ie und in Ermangelun g eines zu ihrer Umsetzung erlassenen Gesetzes die straf rechtliche Verantwortlichkeit derjenigen verschärft wird, die gegen die Richtlin ienbestimmungen verstoßen. "86 Für die konkr ete Falllösung hätte es der Gerichtshof bei dem Hinweis belassen 47 können, dass dem Einze lnen j edenfall s keine Verpflichtungen aus einer nicht umgesetzten Richtlinie entgegengehalten werden können . Mit seiner "erst Recht"Formel bringt der EuGH jedoch seine Zurückhaltung gegenüber einer strafrechtlichen Belastung durch das Richtlin ienrecht sowohl in Gestalt der unmitt elbaren Wirkung als auch im Weg e der richtlinienkonformen Auslegung zum Ausdruck'". Als greifb ares und zentrales Ergebnis dieser Entsche idung bleibt mithin die Schlussfolgerung, dass der Gerichtshof eine dem Fall" Marleasing" (Rn. 10 ff.) vergleichbare extensive Auslegung des nationalen Rechts im Bereich des Strafrechts nicht fordert und auch nicht billigt.
3. Erfordernis der Bestimmtheit von Richtlinie und Strafgesetz t; Telecom ltetie") Was in der Entscheidung "Arcaro " (Rn. 44 ff.) zu Umfang und Grenzen der richt- 48 linienkonformen Auslegung im Strafrecht mit der "E rst Rechr-Formel bereit s anklang, wird in der Rechtssache " Telecom Italia" (Fall 4) noch we iter präzisiert: Fall 4 (EuGHE 1996, 6609): Ausgangspunkt war ein von italienischen Strafverfolgungs- 49 organen geführtes Strafverfahren gege n Unbekannt. Italien hatt e die EG-ßi ldschirm-richtlinie88 durch ein Dekret ("d ecreto Iegislat ivo") umgesetzt, das die Einhaltung des national en Umsetzungsrechts mit Strafnorm en flankierte. Der italienische Ermittlungs richter hatte au f Antrag der Staatsanwalt schaft über die Einholung eines Sachve rständigeng utachtens zu entscheiden, welches Aufschluss darüber geben sollt e, ob die Arbeitsbedi ngungen bei der Telecom Italia diesen Arbeitssc hutzvorschriften ent sprechen . Um diesen Antrag besche iden zu können , stellten sich dem Ermittlungsr ichter Auslegungsfragen, die er dem EuGH zur Vorabentsche idung vorlegte. Das italieni sche Umsetzungsrecht hatte zwar die Vorg aben der EG-Bildschinnrichtlinie konkret isiert, doch aus Sicht des vorlegenden Richters ergab sich aus dem einschlägigen Dekret nic ht eindeuti g, welche Arbeitnehmer den Schutzvorschrifte n unterfallen. Nach Art. 2 c der Richtlin ie ist darauf abzustellen, ob der Arbeitnehmer "gewöhnlich bei eine m nicht unwesentlichen Tei l seiner normal en Arb eit ein Bildschirmgerät benutzt".
86 87 88
EuGI-IE 1996,4705,4730 - I-Iervorhebung durch den Verfasser. Satzger. Europäisierung, S. 543 ; Schröder, Richtlini en, S. 383 ff. RL 90/270 /EWG v. 29. Mai 1990 über Mindestvorschri ften bezgl. Sicherheit und Gesundheitsschutzes bei der Ar beit an Bild schirmgeräten (ABl EG 1990 Nr. L 156, S. 14).
350
§ 10 Unionsrechtskonforme Auslegung
50 Lösungshinweise zu Fall 4: Der EuGH nahm dieses Verfahren zum Anlass, seine Rechtsprechung zur richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht weiter zu vertiefen . Zun ächst rief er seine bereits bekannten Leitsätze zu den Grenzen des unionsrechtlichen Interpretationsgebots in Erinnerung. Hierauf folgen Ausführungen, die in ihrer Aussagekraft über seine Judikatur in den Fällen" Kolpinghuis Nijmegen " (Rn . 39 ff.) und "A rcaro" (Rn . 44 ff.) hinausreichen und deshalb der wörtlichen Wiedergabe bedürfen: " ... Insbesondere in Bezug auf einen Fall wie den des
Ausgangsverfahrens, in dem es um den Umf ang der strafrechtlichen Verantwortlichkeit geht, die sich speziell zur Durchführung einer Richtlinie erlassenen Rechtsvorschriften ergibt, ist fe stzustellen, dass der Grundsatz, wonach ein Strafgesetz nicht zum Nachteil des Betroffenen extensiv angewandt werden darf, der aus dem Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit von strafbaren Handlungen und Strafen, und, allgemeiner, dem Grundsatz der Rechtssicherheit folgt, es verbietet, die Strafverfolgung wegen eines Verhaltens einzuleiten, dessen Strafbarkeit sich nicht eindeutig aus dem Gesetz ergibt. Dieser Grundsatz, der zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört, die den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zugrunde liegen, ist auch in verschiedenen internationalen Verträgen verankert, u. a. in Art. 7 EMRK (...). Daher ist es Aufgabe des vorlegenden Gerichts, bei der Auslegung des zur Durchführung der Richtlinie erlassenen nationalen Rechts unter Berücksichtigung des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie für die Einhaltung dieses Grundsatzes zu sorgen. " 89 51
52
Das Erfordernis der gesetzlichen Bestimmtheit von Strafnormen ist damit vom EuGH als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts eingestuft worden?'. Als wegweisend muss das nun folgende Vorgehen des Gerichtshofs eingestuft werden. Er verweigerte unter Berufung auf den Bestimmtheitsgrundsatz dem vorlegenden Gericht kurzerhand die Beantwortung der Vorlagefrage, die auf eine konkretisierende Ausdeutung des Arbeitnehmerbegriffes des Art . 2 c EGBildschirmrichtlinie abzielte. Grundlegend formulierte der Gerichtshof wie folgt:
" ...In Anbetracht des vagen Charakters des fraglich en Ausdrucks ist den Mitgliedstaaten beim Erlass dieser Umsetzungsmaßnahmen ein weites Ermessen zuzuerkennen, das im Hinblick auf den oben (...) genannten Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit von strafbaren Handlungen und Strafen die zuständigen nationalen Behörden jedenfalls daran hindert, aufdie einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie Bezug zu nehmen, wenn sie auf dem von der Richtlinie erfassten Gebiet Strafverfahren einleiten wollen. Unter diesen Umständen braucht diese Frage nicht beantwortet zu werden (...). "91 Der Gerichtshof bekräftigt damit, dass er den Grundsatz nulla poena si ne lege auch im Rahmen der unionsrechtskonformen Auslegung nationalen Umsetzungsrechts gewahrt wissen will. Darüber hinaus versagt er den Mitgliedstaaten die Berufung auf unbestimmte Formulierungen einer Richtlinie ,j edenfalls" dann , wenn die Auslegung unter strafrechtlichen Gesichtspunkten erfolgt. Er stellt damit eine
89 90
91
EuGI-1E 1996,6609,6637. Hammer-Strnad, ß estimmth eitsgebot, S. 71 f.; Satzger, Europäisierung, S. 544; Schröder, Richtlinien, S. 33, 386. EuGHE 1996, 6609, 6638.
B. Unionsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht
351
für die Zulässigkeit der richtlinienkonfomen Auslegung im Strafrecht geltende Voraussetzung auf. Die Richtlinie darf nur dann zur Ausdeutung eines nationalen Strafgesetzes herangezogen werden , wenn sie ihrerseits hinreichend bestimmt ist. Da demnach einer unbestimmten Richtlinie für das Strafverfahren keine Bedeutung zukommt, war es nur konsequent, dass der EuGH im Fall" Telecom Italia " von einer weiteren Auslegung der EG-Bildschirmrichtlinie absah und die diesbezügliche Vorlagefrage des nationalen Gerichts unbeantwortet ließ. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der EuGH zum einen die 53 strikte Beachtung des Bestimmtheitsgrundsatzes bei der Auslegung nationaler Strafrechtsnormen einfordert und zum anderen die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung für das Strafrecht enger zieht, indem er verlangt , dass die zur Ausdeutung nationaler Strafbestimmungen herangezogene Richtlinie ihrerseits hinreichend bestimmt sein muss'". Hinzuweisen ist an dieser Stelle auf das Phänomen der sog. richtlinienbeding- 54 ten Normspaltung'". Durch eine rechtsgebietsspezifisch unterschiedliche Auslegung von Strafvorschriften und außerstrafrechtlichen Normen kann sich die Situation ergeben , dass ein der Umsetzung einer Richtlinie dienendes Ge- oder Verbot , welches von einer Blankettstrafbestimmung (§ 7 Rn. 76) in Bezug genommen wird, im strafrechtlichen Kontext - unter Beachtung des Bestimmtheitsgrundsatzes - enger ausgelegt werden muss als im rein außerstrafrechtlichen Zusammenhang. Es mag auf den ersten Blick befremdlich wirken , wenn ein und dieselbe Norm unterschiedlich ausgelegt wird, je nachdem , ob sie in einem Straf- oder einem Zivil- bzw . Verwaltungsverfahren zur Anwendung gelangt. Jedoch führt die Normspaltung jedenfalls nicht zu rechtslogischen Widersprüchen, da nicht jedes rechtswidrige Verhalten auch bestraft werden muss?",
11. Aussagen des BGH ("Pyrolyse-Urteil") Die unionsrechtskonforme (richtlinienkonforme) Auslegung einer deutschen Straf- 55 rechtsnorm wurde vom BGH erstmals in seinem viel diskutierten'" " Pyrolyse-Urteil" v. 26. Februar 1991 praktiziert'", in dem es um die Ausdeutung des Tatbestandsmerkmals "Abfall" i. S. d. § 326 I StGB ging. Dieser in enger Anlehnung an den verwaltungsrechtlichen Kontext zu bestimmende Begriff umfasst sowohl Stoffe, derer sich der Besitzer entledigen will ("gewillkürter Abfall "; subjektiver Ab92
93 94 95
96
Schräder, Richtlinien, S. 387 f. Satzger , Europäisierung, S. 560 ff.; Schroder , Richtlinien, S. 390 ff jew. m. w. N. Satzger , Europäisierung, S. 563 . Vgl. Breuer, Im- und Export von Abfällen, S. 68 ff.; FranzheimlKreß, JR 1991,402 ff.; Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 167 ff.; Hugger, NStZ 1983, 421; Sack, JR 1991, 338 ff; Mansdorfer, JURA 2004 , 297, 300 ff.; Satzger, Europäisierung, S. 545 ff.; Schroder, Richtlinien, S. 322 ff. ßGHSt 37, 333. In ßGHSt 43, 219, 224 ff: wird die Frage der richtlinienkonformen Auslegung als nicht entscheidungserheblich betrachtet; vgl. hier zu Schall, NStZ-RR 1998, 353, 355.
352
§ 10 Unionsrechtskonforme Auslegung
fallbegrift), als auch Stoffe , deren geordnete Entsorgung zur Wahrung des Gemeinwohls, insbesondere zum Schutz der Umwelt , geboten ist ("Zwangsabfall" ; objektiver Abfallbegriffj". 56 Das Landgericht hatte zunächst das Vorliegen von Zwangsabfall verneint. Auch erachtete die Vorinstanz den subjektiven Abfallbegriff als nicht gegeben, da die Angeklagten den fraglichen Stoff, bei dem es sich um in Tankwagen abgefüllte und kontaminierte Öle handelte, der Wiederverwertung zuführen wollten . Nach Auffassung der Vorinstanz stand die Möglichkeit der Wiederverwendung und Weiterverwertung dieser Stoffe ihrer Qualifizierung als "Abfall" entgegen. Vielmehr seien sie als Wirtschaftsgut einzustufen. Der BGH trat dieser Wertung, die durchaus im Einklang mit der damals h. M. stand, entgegen. Zutreffend erkannte der Senat , dass der Abfallbegriff durch zwei Abfallrichtlinien unionsrechtlich besetzt war. Der EuGH hatte hierzu entschieden, dass diesen Richtlinien eine nationale Regelung widerspricht, wenn sie Stoffe oder Gegenstände von dem Abfallbegriff ausnimmt, die einer wirtschaftlichen Wiederverwertung zugeführt werden können'". In einer zweiten Entscheidung vertrat der Gerichtshof die Ansicht, die Anwendung des Richtlinienrechts könne nicht von den Vorstellungen des Besitzers der Stoffe im Hinblick auf ihre Wiederverwertung abh ängen'". 57 Methodisch ging der BGH so vor, dass er zunächst auf § I I AbfG a. F. abstellte , der unter .Abfallverwertung" auch das Gewinnen von Stoffen oder Energie verstand. Hieraus leitete der Senat ab, dass als Abfall nicht nur anzusehen sei, was "reif für die Schutthalde" sei, sondern dass auch solche Stoffe dazu zählen könnten, die nach ihrer Wiederaufarbeitung ein Wirtschaftsgut darstellen. Entscheidend sei demnach nicht die Vorstellung des Besitzers über die Möglichkeit der Wiederverwertung, sondern nur , ob er sich des Stoffes als für ihn wertlos geworden entledigen will, um ihn der Entsorgung zuzuführen oder zuführen zu Iassen'?". Bis zu diesem Punkt beschränkte sich der BGH auf eine rein national ausgerichtete Auslegung des Abfallbegriffs. Erst nachdem er festgestellt hatte , dass das innerstaatliche Recht eine Qualifizierung der tatgegenständlichen Stoffe als Abfall zulässt, referierte er den unionsrechtlichen Hintergrund, den er sodann als Bestätigung seines nach nationalen Auslegungskriterien entwickelten Auslegungsergebnisses heranzog"?' . Ohne weitere Begründung führte der BGH nur in einem Satz aus, dass die nationalen Verwaltungen und Gerichte diese Rechtsprechung (gemeint sind die Urteile des EuGH zur Auslegung der Abfallrichtlinien) bei ihrer Rechtsanwendung zu berücksichtigen haben . Der in einem Klammerzusatz erfolgte Hinweis auf BGHSt 37, 168 ist jedoch zumindest missverständlich, da es in der zitierten Entscheidung nicht um eine richtlinienkonforme Auslegung, sondern um die unmittelbare Wirkung einer Richtlinie ging .
97 98 99 100 101
BGHSt 37,21 ,24; 37, 333, 334; S/S-Heine, § 326 Rn. 2 b-f. EuGI-IE 1990, 1509, 15181I EuGI-IE 1990, 1461, 1474 II ßGHSt 37,333,335. BGHSt 37,333,336.
B. Unionsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht
353
Der BGH praktizierte damit eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen 58 Strafrechts, ohne diese explizit als solche zu benennen oder näher zu begründen. In der Literatur wurde das Urteil daher nur als "erster vorsichtiger Schritt" der Strafgerichtsbarkeit gewürdigt, mit dem sie sich der Problematik des Einflusses von Richtlinien wenigstens genähert habe . Das Urteil sei mithin symptomatisch für die Unsicherheit, die häufig beim Aufeinandertreffen strafrechtlicher und europarechtlicher Erwägungen herrsche'<. Jedenfalls kann festgehalten werden, dass der BGH mit seinem " Pyro lyse-Urte il" die unionsrechtskonforme Auslegung in den Kanon der strafrechtsrelevanten Auslegungsmethoden aufgenommen hat 103 . Hiervon zeugen auch Urteile des BGH, in denen er die Strafvorschriften des Wertpapierhandelsgesetzes auf ihren unionsrechtlichen Ursprung zurückführt und richtlinienkonform auslegt'?", Desweiteren bestimmt der BGH das Verhältnis zwischen (leichtfertiger) Geldwäsche und Hehlerei unter Einbeziehung der Vorgaben der 3. Geldwäscherichtlinie (§ 8 Rn. I, I I ff.)1°5.
111. Zur sog. "strafbarkeitserweiternden" Auslegung Einige Stimmen in der Literatur halten mit unterschiedlichen Begründungsansät- 59 zen eine sog . "strafbarkeitserweitemde" unionsrechtskonforme Auslegung, also die im Lichte des Unionsrechts vorgenommene Neuinterpretation eines Strafgesetzes, die zu Ungunsten des Beschuldigten von der bisherigen nationalen Auslegungspraxis abweicht, für schlechthin unzulässig. Sie erblicken hierin entweder einen Verstoß gegen Art . 103 11 GG, da sich der Strafanspruch nicht mehr allein auf die deutsche Strafvorschrift, sondern auf Unionsrecht gr ündeP" oder eine Missachtung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes der Rechtssicherheit, da diese Rechtsanwendung im Ergebnis einer faktischen unmittelbaren Anwendung des Unionsrechts zu Lasten des Einzelnen gleichkornmet'". Bei genauerer Betrachtung erweist sich das von diesen Autoren diskutierte 60 Verbot einer strafrechtserweiternden unionsrechtskonformen Auslegung jedoch als bloßes Scheinproblem. Bereits die Verwendung des Schlagworts " Strafbarkeitserweiterung" ist im Zusammenhang mit Interpretationsvorgängen verfehlt, zumindest aber missverständlich. Nach ganz h. M. vermag eine frühere Auslegungspraxis, die für einen Beschuldigten günstiger gewesen sein mag, die Gerichte nicht zu binden. Grundlage der Strafbarkeit ist immer nur das Gesetz. Eine
102
103
104
105 106 107
Satzger , Europäisierung, S. 547; ihm folgend Ambos, IntStR , § 11 Rn. 43 ; vgl. aber auch Schroder, Richtlinien, S. 325, der eine mögliche Erklärung für die zurückhaltende Begründung des BGH bietet. Dannecker , BGH-Festgabe, S. 339, 366 . BGH NStZ 2004 , 285 ; zust. Vogel, NStZ 2004 , 252 ; krit. Gaede/Mühlbauer, wistra 2005 ,9, 10 ff.; Pananis, NStZ 2004 , 287 ff.; vgl. auch BGH NStZ 2010 , 339 , 340 . BGHSt 50, 347, 355 . Hugger , NStZ 1993,421,423. Brechmann , Richtlinienkonforme Auslegung, S. 275; Kähne, Richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 107.
354
§ 10 Unionsrechtskonforme Auslegung
Rechtsprechungsänderung, die sich unter Beachtung der innerstaatlichen Verfassungsvorgaben für eine nach national en Auslegungskriterien vertretbare Auslegungsvariante entscheidet, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht unproblematisch, mag die gewählte Auslegung im konkreten Fall für den Beschuldigten auch ungünstiger sein als die verworfene Auslegungsvariante. Das Vertrauen in den Fortbestand einer bestimmten Auslegungspraxis wird nicht geschützt, da Vertrauensgrundlage allein das nationale Gesetz ist, das der Bürger allein zu kennen braucht. Zu Recht geht die h. M. daher davon aus, dass ein Rechtsprechungswandel nicht dem Rückwirkungsverbot unterliegtt'". Wenn es somit schon kein Gebot einer starren , in sich verharrenden Interpretation strafrechtlicher Normen gibt, so überzeugt es nicht , eine unionsrechtskonforme Auslegung, die zu einer für den Beschuldigten gegenüber der früheren Rechtsprechung ungünstigeren Ausdeutung des Strafgesetzes fuhrt, generell für unzulässig zu halten . Ändert sich eine für den Täter günstige Auslegungspraxis, ohne dass er dies bei der Tat wissen konnte, kann diesem Umstand durch Annahme eines unvermeidbaren Verbotsirrturns (§ 17 StGB) Rechnung getragen werden . 61 Aber auch die vom EuGH im Zusammenhang mit der richtlinienkonformen Auslegung von Strafgesetzen herangezogenen allgemeinen Rechtsgrundsätze , insbesondere das Prinzip der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot, stehen einer unionsrechtskonformen Auslegung zu Ungunsten des Beschuldigten nicht entgegen . Der Gerichtshof will nur sichergestellt wissen , dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Einzelnen nicht allein auf eine Richtlinie, sondern stets auf ein nationales Strafgesetz gestützt wird . Solange nur eine unionsrechtskonforme Auslegungsvariante gewählt wird, die sich innerhalb des nach nationalem Recht möglichen Interpretationsspielraumes bewegt, also keine Auslegung contra legern darstellt, schließen die allgemeinen Rechtsgrundsätze eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht aus' ?". In diesem Rahmen ist es dem innerstaatlichen Gericht insbesondere erlaubt, eine Richtlinie als Bestätigung des aus dem nationalen Recht gewonnenen Auslegungsergebnisses heranzuziehen, wie dies z. 8. der BGH (Rn . 55 ff.) im Hinblick auf den strafrechtlichen Abfallbegriff getan hat. Zusammenfassend lässt sich somit festhalten : Weder Verfas sungs- noch Uni62 onsrecht stehen einer unionsrechtskonformen Neuinterpretation eines Strafge setzes entgegen, die für den Angeklagten ungünstiger ist als eine früher vertret ene Ausdeutung, solang e das Auslegungsergebnis nicht die vom Wortlaut der Norm gezogene Grenze überschreitet. Dem Vertrauen des Angeklagten in den Fortbestand einer für ihn günstigen Rechtsanwendungspraxis kann bei der Prüfung der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrturns (§ 17 StGB) Rechung getragen werden . 108
109
ß VerfGE 18,224,240; NJW 2000 ,1480; ßGHSt 41 ,101 ,111 ; ßayOb LG NJW 1990, 2833; Amb os, IntStR, § 11 Rn. 45; LK-Dannecker, § I Rn. 444 ; S/S-Eser/Hecker, § I Rn. 7; Heise, Gemein schaftsrecht und Strafrecht, S. 116 ff.; LacknerlKühl , § I Rn. 4; Rengier AT, § 4 Rn. 17 f.; Satzger, IntStR, § 9 Rn. 91 f.; a. A. MüKoStGBI Schmitz, § I Rn. 33 ff.; für analoge Anw endung des Art. 103 11 GG Neumann. ZStW 103 (1991), S. 331 , 336. Böse, Strafen und Sankt ionen, S. 432 f.; RüjJler, ÖJZ 1997, 121, 129; Satzger , Europäisierung, S. 557 ff.; Schröder, Richtlinien, S. 382 .
B. Un ion srechtskonforme Auslegung im Strafrecht
355
IV. Anwendungsfelder der unionsrechtskonformen Auslegung im Strafrecht Im Folgenden sollen anhand einiger exemplarisch ausgewählter Straftatbestände, 63 mögliche Anwendungsfelder der unionsrechtskonformen Auslegung aufgezeigt werden"!",
1. Amtsanmaßung (§ 132 StGB)
§ 132 StG B schützt die Autorität des Staates und seiner Organe als Voraussetzung 64 für die Funktionsfähigkeit der staatlichen Verwaltung und Rechtsprechung!" . Es stellt sich die Frage, ob auch die Autorität der supranationalen Organe der EU vom Schutzbereich dieser Strafnorm erfasst wird . Ein Teil der Rechtsprechung und Literatur steht auf dem Standpunkt, ein "öffentliches Amt" könne nur ein inländisches sein 112 • Für diese Ansicht spricht die systematische Interpretation des § 132 StGB. Öffentliche Ämter werden von .Amtsträgern" wahrgenommen und bei diesen handelt es sich nach der Legaldefinition § 11 I Nr. 2 StGB um nach deutschem Recht bestellte Funktionsträger. Jedoch ist der Wortlaut des § 132 I StGB für eine weitere Ausdeutung offen, da unter einem "öffentl ichen Amt " auch Ämter der EU - als Trägerin supranationaler Hoheitsgewalt - verstanden werden können. § 132 StGB ist somit ein der unionsrechtskonformen Auslegung prinzipiell zugänglicher Tatbestand!". Angesichts der vielfältigen Verwaltungskompetenzen der EU könnte ein Vertrauensverlust bei den Bürgern durch unberechtigte Inanspruchnahme hoheitlicher Funktionen zu schwerwiegenden Störungen bei der Aufgabenerfüllung der Union führen . Die EU bedarf daher ebenso des strafrechtlichen Schutzes wie ihn § 132 StGB im innerstaatlichen Bereich gewährleistet. Das aus Art . 4 111 UA 2. 3 EUV abzuleitende Assimilierungsgebot legt den Mitgliedstaaten u. a. die Pflicht auf, den Unionsinteressen einen gleichwertigen strafrechtlichen Schutz angedeihen zu lassen wie den entsprechenden nationalen Schutzgütern (§ 7 Rn. 26 ff.). Der für eine unionsrechtskonforme Auslegung offene Tatbestand des § 132 StGB ist daher im Lichte des Loyalitätsgebotes dahinge-
110
111 112
113
Vgl. hierzu grdl. Satzger , Europäisierung, S. 571--641 ; Schröder , Richtlin ien, S. 410465 ; zur unionsrechtskonformen Auslegung des § 112 Il Nr. 2 8tPO vgl. Gercke, StV 2004 ,675 ff.; § 266 a I 8tGB vgl. BGHSt 51, 124; Hauck, NStZ 2007 , 221 ff., Zimmermann, Z IS 2007, 407 ff.; Wettbewerbs- und Betrugsstrafrechts vgl. Scheinfeld, wistra 2008, 172 ff.; Soyka, wistra 2007, 127 ff.; Markenstrafrechts vgl. Schutz, Markenstrafrecht, S. 59 ff., 63 f f.; Geldwäschestrafrechts SGHSt 50, 347, 354 Ir; Glücksspielstrafrechts OLG München NJW 2006, 3588; NJW 2008, 3151 ; Heine, Amelung-FS, S. 413 ff. sowie des WpHG BGH NStZ 2004, 285 ; NStZ 2010,339. BGHSt 40, 8, 12; S/S-St ernberg-Lieben, § 132 Rn. I; Fischer, § 132 Rn. 2. OLG Stuttgart NSt Z 2007, 527 , 528; S/S-Sternberg-Lieben, § 132 Rn. 1; Fischer, § 132 Rn. 4. A.A. LK-v. BubnoJJ, 11. Autl ., § 132 Rn. 10 und Vormbaum, Schutz der Rechtsgüter, S. 155, die hierin einen Verstoß gegen das Analogieverbot sehen.
356
§ 10 Unionsrechtskonforme Auslegung
hend auszulegen, dass er auch "öffentl iche Ämter der EU" erfasst!". Der Sinn des § 132 StGB wird durch diese weite , aber innerhalb der Wortlautgrenze liegende Ausdeutung nicht verfälscht oder in sein Gegenteil verkehrt. Eine entsprechende KlarsteIlung durch den Gesetzgeber - etwa in Form einer Gleichstellungsklausel wäre angesichts des Streitstandes in der Literatur jedoch wünschenswert!". 65 Beispielsfall: Pr ivatdetektiv A gibt sich zu Unrecht als Mitarbeiter der Europäischen Be-
trugsbekämpfungsbehörde OLAF au s und nimmt in einem Betrieb Handlungen vor , zu denen nach der Verordnung Nr . 2185 /96 de s Rate s v. 11. November 1996 betreffend die Kontrollen und Überprüfung vor Ort durch die Kommission zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vor Betrug und anderen Unregelmäßigkeiten 116 nur OLAF-Bedienstete befugt sind (§ 4 Rn. 20) . Nach hier vertretener Auffassung hat sich A gern. § 132 I, 1. Alt. StGB strafbar gemacht. Falls A im Ausland gehandelt hat , ergibt sich die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts aus § 6 Nr. 9 StGB, der als internationalstrafrechtliche .Auffangnorm" sicherstellt, dass deutsche Strafbestimmungen. die dem Schutz von Unionsinteressen dienen, auf extraterritoriale Taten anwendbar sindl"? (§ 2 Rn. 51) .
2. Verwahrungsbruch (§ 133 StGB) 66 § 133 StGB schützt die staatliche Gewalt über Sachen in dienstlichem Verwahrungsbesitz und das Vertrauen in deren sichere Aufbewahrungt'", Wie bei § 132 StGB spricht auch bei § 133 StGB der systematische Zusammenhang mit der Aufgabenerfüllung des öffentlichen Dienstes für eine Schutzzweckbeschränkung auf inländische Rechtsgüter!". Da der Wortlaut der Norm jedoch keine Beschränkung auf solche Sachen vorsieht, deren Verwahrung auf deutsche Hoheitsgewalt zurückzufuhren ist, kommt auch hier prinzipiell eine unionsrechtskonforme Auslegung des Tatbestandes dahingehend in Betracht, dass auch solche Sachen dem Schutzbereich unterfallen, deren Verwahrung auf die Ausübung von Unionsgewalt zurückgeht. Dem unionsrechtlichen Loyalitätsgebot des Art. 4 111 UA 2, 3 EUV folgend, muss sichergestellt werden, dass die dienstliche Verfügungsgewalt von Unionsbehörden den gleichen strafrechtlichen Schutz genießt wie die von deutschen Behörden (§ 7 Rn. 26 ff.). § 133 StGB ist daher unionsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass unter "dienstl icher Verwahrung" auch eine solche fällt, die sich auf unionsrechtliche Hoheitsgewalt zurückfuhren lässt'?" .
114
115 116 117 118 119 120
Lackner/ Kühl, § 132 Rn. 4; SK-Rudolphi/Stein , § 132 Rn. 5; Satzger. IntStR, § 9 Rn. 98. Eine (aus seiner Sicht kon stitutive) gesetzliche Regelung fordert Fischer, § 132 Rn . 4. ABlEG 1996 Nr . L 292 , S. 2. MüKoStGB/Ambos , Vor §§ 3-7 Rn . 16. BGHSt 38,381,386; Fischer, § 133 Rn. 2; Lackner/Kühl , § 133 Rn. 1. S/S-Sternberg-Lieben, § 133 Rn. 2a; Fischer, Vor § 3 Rn. 9. Groblinghof]; Verpflichtung des Strafgesetzgebers. S. 42, 71 ; Lackner/ Kühl, § 133 Rn . 3; Satzger, IntStR, § 9 Rn. 99 .
B. Un ion srechtskonforme Auslegung im Strafrecht
357
Beispielsfall: A nutzt einen Aufenthalt in den Räumlichkeiten von OLAF, um Schriftstücke 67 (oder andere bewegliche Sachen), die sich in dienstlicher Verwahrung der Europäischen Betrugsbekämpfungsbehörde befinden, an sich zu nehmen und zu vern ichten. Nach hier vertretener Auffassung ist er gern . §§ 133 1,6 Nr . 9 StGB strafbar.
3. Urkundendelikte (§§ 267,271,274,348 StGB) Wie bereits dargelegt (Rn . 37) , ist der Tatbestand der Falschbeurkundung im Amt 68 (§ 348 StGB) nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm keiner Auslegung zugänglich, welche die Falschbeurkundung durch EU-Beamte erfasst. Diese Tat kann nur von einem deutschen Amtsträger begangen werden (vgl. § II I Nr. 2 StGB). Demgegenüber ist der Tatbestand der Urkundenfälschung (§ 267 StGB) von 69 seinem Wortlaut her offen für eine unionsrechtskonforme Auslegung. Diese Bestimmung schützt die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Beweisverkehrs mit Urkunden!" . Nach zutreffender Auffassung wird damit nicht nur der inländische, sondern auch der ausländische oder supranationale Rechtsverkehr gesch ützt'V (z. B. Vorlage einer unechten oder verfälschten Urkunde bei einer europäischen Institution). Entsprechendes gilt für § 274 StGB. Schwieriger zu beurteilen ist die Frage , ob § 271 StGB einer unionsrechtskon- 70 formen Auslegung zugänglich ist. Unter "öffentlichen Urkunden" könnten auch solche Urkunden zu verstehen sein, die von einer EU-Behörde oder von einer ausländischen Stelle im Rahmen der Durchführung von Unionsrecht ausgestellt werden 123 • Gegen diese Auslegung könnte aber das systematische Argument sprechen, dass § 271 StGB nur der Schließung einer Lücke diene , die daraus resultiert, dass § 348 StGB nur von deutschen Amtsträgern begehbar ist 124 • Ohne die Regelung des § 271 StGB wären Handlungen, die darauf abzielen, einen Amtsträger zur Herstellung einer falschen Urkunde zu veranlassen, nicht strafbar, da die allgemeinen Grundsätzen der mittelbaren Täterschaft nicht eingreifen. Da § 271 StGB also nur eine Strafbarkeitslücke schließt, ließe sich argumentieren, dass der Anwendungsbereich des § 271 StGB im Hinblick auf seine Tatobjekte (falsche öffentliche Urkunden deutscher Amtsträger) nicht über den des § 348 StGB hinausgehen kann 125 • Der Wortlaut der Norm lässt indes eine weitergehende Auslegung zu, ohne hierdurch den Sinn der Strafbestimmung zu verfälschen. Im Hinblick auf das aus Art . 4 111 UA 2, 3 EUV abzuleitende Gleichstellungsgebot (§ 7 Rn. 26 ff.) sollte § 271 StGB daher unionsrechtskonform dahingehend ausgelegt werden , dass auch die öffentliche Beweiskraft von Urkunden mit EU-Bezug geschützt wird 126 •
121 122
123 124 125 126
ßGHSt 9,44,45; Fischer, § 267 Rn. I ; LacknerlKühl, S/S- Cramer/Heine, § 267 Rn. 1b; Lacknerl Kühl, § 267 S. 579 ; Vormbaum, Schutz der Rechtsgüter, S. 124. Satzger. Europäisierung, S. 581. S/S-Cramer/Hein e, § 271 Rn. I. So im Ergebnis Vormbaum, Schutz der Rechtsgüter, S. S/S-Cramer/Hein e, § 271 Rn. I; LacknerlKühl , § 271 S. 580 ff.
§ 267 Rn. I. Rn. I; Satzger, Europ äisierung,
138. Rn. 5; Satzger. Europäisierung,
358
§ 10 Unionsrechtskonforme Auslegung
4. Umweltdelikte (§§ 324
a I, 325 I, 11, 325 a I, 11 StGB)
71 Fraglich ist, ob bei verwaltungsakzessorisch ausgestalteten Umweltdelikten, die wie §§ 324 a I, 325 I, 11,325 a I, 11 StGB - an die " Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten" (vgl. § 330 d Nr. 4 StGB) anknüpfen, nur Verstöße gegen deutsches Verwaltungsrecht tatbestandsrelevant sind 127. Demnach wäre z. B. eine Strafbarkeit gern. § 325 I, 11 StGB wegen grenzüberschreitender Luftverunreinigung durch eine im Ausland betriebene Anlage ausge schlossen, wenn hierdurch zwar gegen ausländi sches , nicht aber gegen deutsches Verwaltungsrecht verstoßen wird (vgl. hierzu § 2 Rn. 37 ff.). Richtigerweise ist aber davon auszugehen, dass eine Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten auch darin liegen kann, dass der Täter gegen unmittelbar geltendes Unionsrecht oder gegen harmonisiertes nationales Umweltrecht verst ößtr". 72 Der Umweltschutz wird maßgeblich durch die Umweltpolitik der EU geprägt. Zum Schutz und zur Erhaltung der Umwelt wurden in den zurückliegenden vierzig Jahren einige hundert Rechtsakte erlassen. Bereits seit Anfang der I970er Jahre setzte die Gemeinschaft europäisches Umweltrecht auf der Grundlage einer dynamischen Handhabung des ex-EGV129. Eine bedeutsame Aufwertung erfuhr der gemeinschaftliche Umwelt schutz mit dem Inkrafttreten der EEA im Jahre 1987 durch die Einfügung eines besonderen Umweltkapitels in den EGV (ex-Art. 130 r-t EGV), welches später durch die Verträge von Maastricht und Amsterdam weiterentwickelt wurde (ex-Art. 175 ff. EGV; aktuell Art. 191 ff. AEUV) . Fortan stellte der Umweltschutz nicht mehr ein bloßes Mittel zur Verwirklichung des Binnenmarktes, sondern ein eigen ständiges Vertragsziel dar 130. 73 Vor dem Hintergrund der Entwicklung des europäischen Umwelt schutzrechts kann es keinem Zweifel unterliegen, dass den Mitgliedstaaten im Lichte des Gebote s der Unionstreue (Art. 4 111 UA 2, 3 EUV) die Verpflichtung obliegt, ihr nationales Sanktionensystem zum Zwecke einer effektiven Durchsetzung des umweltschutzrelevanten Unionsrechts zu funktionalisieren . Dies bedeutet konkret, dass die Anwendbarkeit von Tatbeständen des deutschen Umweltstrafrechts, die an die Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten anknüpfen, auch in den Fällen sichergestellt sein muss, in denen der Täter gegen ein im Unionsrecht wurzelndes Gebot verstößt. Denkbar ist in diesem Zusammenhang die Schaffung einer Gleichstellungsklausel nach dem Vorbild des § 264 VII Nr. 2 StGB , durch die klargestellt wird, dass auch dem Verstoß gegen unionsrechtlich begründete Pflichten Tatbestandsrelevanz zukommt. Zum gleichen Ergebnis führt aber bereits eine unionsrechtskonforme Auslegung des Merkmals "verwaltungsrechtliche Pflichten". Diese Tatbestandsformulierung ist in Befolgung des unionsrechtlichen Assimilierungsgebotes so auszulegen, dass die nach der Legaldefinition des § 330 d 127 128 129
130
So die Auffassung von Fischer, Vor § 3 Rn. 9; Wimmer, zrw 1991, 140, 146. Vgl. hierzu und zum Nachfol genden Hecker, ZStW 115 (2003), S. 880, 898 ff. Hailbr onner, EuGRZ 1989, 101, 103; Nicklas, Implementation sprobleme des EGUmweltrechts unter besond erer Berücksicht igung der Luftreinhalterichtlinien, 1997, S. 23 Ir ; Scheuing , EuR 1989, 153 ff. Vgl. zum Umwe ltschutz au f europäischer Ebe ne Epiney, Umweltrecht in der EU, S. 10 ff., 93 ff., 113 ff.
B. Unionsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht
359
Nr. 4 StGB tatbestandsrelevanten .Rechtsvorschriften" nicht nur deutsche Umweltgesetze, sondern auch EU-Verordnungen sowie das gesamte harmonisierte Umweltverwaltungsrecht des Staates erfassen, auf dessen Territorium die tatbestandsmäßige Handlung begangen wirdl'" . Die Legaldefinition des § 330 d Nr . 4 StGB verwandelt sich durch diese Auslegung pro communitate in eine Gleichstellungsklausel und die betroffenen Stratbestimmungen in europarechtsakzessorische Tatbestände, die dem europäischen Umweltstrafrecht zuzuordnen sind . Durch die hier vorgeschlagene unionsrechtskonforme Auslegung wird auch der am 26. Dezember 2008 in Kraft getretenen Richtlinie 2008/99/EG des EP und des Rates v, 19. November 2008 über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt (§ 8 Rn. 32) Rechung getragen. Diese Richtlinie geht von einer europarechtsakzessorischen Struktur der Umweltdelikte aus , indem sie den Mitgliedstaaten abverlangt, dass Verstöße gegen die in Anhang A aufgeführten Rechtsakte der Union oder der Umsetzung dieser Rechtsakte dienenden nationalen Gesetze, Verwaltungsvorschriften oder Entscheidungen einer zuständigen Behörde als "rechtswidrige" Verhaltensweise zu erfassen sind (Art. 2 lit. a).
5. Fahrlässigkeitsdelikte Unionsrecht kann sich auch auf die Auslegung generalklauselartiger Tatbestands- 74 merkmale auswirken'F. Ein Hauptanwendungsfall sind die Fahrlässigkeitsdelikte, die eine fahrlässig begangene Handlung (z. B. § 59 I Nr. 7, 60 I LFGB i. V. m. § 11 I LFGB) oder das fahrlässige Verursachen eines Erfolgs (z. B. §§ 222 , 229 , 306 d I StGB) mit Strafe bedrohen. Das Fahrlässigkeitsmerkmal knüpft an die Verletzung einer Sorgfaltsptlicht an. 75 Inhalt der Sorgfaltsptlicht ist es, die aus dem konkreten Verhalten erwachsenen Gefahren für das geschützte Rechtsgut zu erkennen und sich darauf richtig einzustellen, also die gefährliche Handlung nur unter ausreichenden Sicherheitsvorkehrungen vorzunehmen oder ganz zu unterlassen. Art und Maß der anzuwenden Sorgfalt ergeben sich nach h. M. aus den Anforderungen, die bei einer Betrachtung der Gefahrenlage ex ante an einen besonnenen Menschen in der konkreten Lage und in der sozialen Rolle des Handelnden zu stellen sind 133 • In zahlreichen Lebens- und Arbeitsbereichen kann der Rechtsanwender bei der Ausfüllung der Sorgfaltsptlicht auf sog . Sondernormen zurückgreifen. Dabei handelt es sich um außerstrafrechtliche (nicht notwendigerweise gesetzliche) Verhaltensvorschriften oder allgemeine Erfahrungssätze, die zum Ausdruck bringen, wie sich der Einzelne in einer konkreten Situation zu verhalten hat (z. B. Verkehrsregeln, Unfallverhütungsvorschriften, Sport- und Wettkampfregeln, anerkannte Regeln der Technik, Produktsicherheitsbestimmungen, ärztliche Kunstregeln etc .)!>'. Wenn sich der Täter an eine rechtlich verbindliche Sondernorm gehalten hat, wird man 131 132 133
134
Zutr. S/S-Heine, § 330 d Rn. 12. Satzger, Europäisierung, S. 606 ff.; ders. , IntStR , § 9 Rn. 104 f[ ßGHSt 7, 307 , 309; 20, 315 , 321; 37, 184, 187 ff.; ßGI-I NJW 2000 , 2754, 2758; WesselslBeulke, AT, Rn. 669; LacknerlKühl, § 15 Rn. 37; KKOWiG-Rengier, § 10 Rn. 18. Vgl. hierzu nur Bohnert, JR 1982,6; Lackner/Kiihl , § 15 Rn. 39 .
360
§ 10 Unionsr echtskonforme Auslegung
ein sorgfaltswidriges Verhalten regelm äßig ausschli eßen müssen (Aspekt des erlaubten Risikosjt '". Der RückgriffaufSondernormen bildet das dogmatische "E infallstor" zur unionsre chtskonformen Auslegung von Fahrl ässigkeitstatbeständen. Unionsrechtliche Sondernormen können sich aus unm ittelb ar anwendbaren Verordnungen oder - weitaus häufig er - aus Richtlinien ergeben':". 76 Beispiel : Die RL 2009/48/EG des EP und des Rates v. 18. Juni 200 9 zur Ang leich ung von Rechtsvorschriften der M itgliedstaaten über die Sicherheit von Spielzeug 137 bestimmt, dass die Mitgliedstaaten alle zweckdienlichen Maßnahmen treffen , damit Spielzeug nur in den Ve rkehr gebrac ht werde n kann , wenn es den in Anhan g 11 angegebenen besonderen Sicherheitsanforderung en ent sprich t. Dieser An hang enth ält teilweise äußerst konkrete Siche rhe itsa nforde rungen, wie z. B. die Festsetzung von Höc hs tme nge n bestimmter ges undheitsgefäh rdend er Sto ffe in Kinde rspie lze ug. Diese Richtlin ien vorgab en sind so konk ret, da ss sie zumindest als Indiz für die anzu wend end e Sorgfalt heran gezogen wer de n können138. Hält der Hersteller die unionsrecht lich festgelegten Gren zwer te ei n, so bewegt er sich in Bezug au f die Gesundheitsgefährdun g der mit dem Spi elzeug unter vor he rsehbaren und normal en Umstän de n in Kont akt kommende n Kinder im Bereic h des erlaubten Risiko s. Freilich mu ss du rch Auslegung der Richtlinie ermittelt werde n, ob diese nur eine n bestimm ten Minde ststand ard ode r eine n Höch ststand ard herbe iführen wi1l 139 . So llte sich hierbe i ergeben , dass die Richtli nie nur auf die Her stellung eines unionsweite n M indeststandards abzielt, so steht es den Mitgliedstaaten frei, im inner staatli chen Recht streng ere Sicherheitsanforderung en zu stellen, deren Verletzung in eine stra frechtliche Fah rlä ssigkeitshaftung münden kann.
v. Rahmenbeschlusskonforme Auslegung nationalen Strafrechts 77 Rahmenbeschlü sse bildeten die wohl wichtigste Handlungsform der früheren 3. Sä ule der EU (§ 5 Rn. 67 ff.; § ll Rn. 10 ff.)140. Obwohl die PJZS eine vom supranationalen Gemeinschaftsrecht zu trennende intergouvernementale Kooperationsform darstellte!" , glich der EuGH in sein er wegweisenden Entscheidung" Pup ino "142 die Funktion von Rahmenbeschlüssen weitgehend derjenigen von Richtlinien an, indem er eine über das Postulat völkerrechtsfreundl icher Auslegung hinausgeh ende , unmittelbar auf Unionsrecht beruhende Pflicht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung statui erte. Die Pflicht der innerstaatlichen Stell en, 135 136
137
138
139 140 141
142
Satzger , Europäisierung, S. 609 ff .; v. Schaumann-Werder, Produkthaftu ng, S. 172 ff. Satzger . Europ äisierung, S. 6 12 ff.; Schroder, NS tZ 200 6, 67 0 ff.; ders ., Lebensmittelstrafrecht , S. 79 , 88 Ir ABIEU 2009 N r. L 170, S. I ff Satzger. IntStR, § 8 Rn. 117; Schroder, N StZ 2006, 670 Ir ; vgl. zum Einfluss der EGProduktsicher heit srichtlinie auf die sog. .K ettenverantwortlichkeit" im Lebensmittelstra frecht Hecker, Produktwerbung, S. 20 6 ff.; Satzger . Euro pä isierung, S. 623 ff. Vgl. zur Method ik der Auslegun g von EG-Richtlini en Sehroder. Richtli nien, S. 397 ff. Vgl. hierzu nur Baddenhau senll' ietsch, DV13l 2005, 1562 Ir ; Streinz, JuS 2005 , 1023. Vgl. hierzu nur Fetzer/Groß , EuZW 2005 , 550 Ir ; GärditzlGusy, GA 2006, 225; Herrmann. EuZW 2005,437,438. EuG HE 2005 , 52 85 = NJW 2005 , 283 9 = JuS 2005, 1023 (Streinz).
B. Un ionsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht
361
ihr gesamtes nationales Recht (nicht nur Umsetzungsrecht) so weit wie möglich an Wortlaut und Zweck des Rahmenbeschlusses auszurichten, ließ sich aus der wechselseitigen Loyalitäts- und Treuepflicht der Mitgliedstaaten (Unionstreuepflicht) sowie dem Umsetzungsgebot des ex-Art. 34 11 Iit. b S. I EUV ableiten. Dieses unionsrechtliche Interpretationsgebot setzte eine unmittelbare Wirkung des Rahmenbeschlusses gerade nicht voraus, so dass deren Ausschluss gern. ex-Art. 34 11 lit. b S. 2 EUV insoweit irrelevant war143 • Der Einwand, die Annahme einer Pflicht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung nationalen Rechts käme faktisch einer unmittelbaren Anwendbarkeit von Rahmenbeschlüssen gleichk äme':", ist unbegründet. Zwar mag die Rezeption unionsrechtlicher Zielvorgaben dazu führen, dass sich einzelstaatliche Normen von dem Inhalt lösen, der ihrer bisherigen, unter Umständen schon lange zurückreichenden nationalen Auslegungstradition entspricht. Da die rahmenbeschlusskonforme Interpretation innerstaatlicher Vorschriften aber nur innerhalb der Grenzen des nach nationalem Recht bestehenden Auslegungsspielraumes vorzunehmen ist, bleibt die vom EuGH ausdrücklich anerkannte mitgliedstaatliche Rechtssetzungszuständigkeit in Strafsachen unberührtv". Der EuGH fordert zwar von den nationalen Gerichten, dass sie bestehende Auslegungsspielräume des nationalen Rechts ausschöpfen, verlangt aber keine Gesetzesanwendung contra legern. Das unionsrechtliche Interpretationsgebot findet seine Grenzen sowohl im nationalen Verfassungsrecht, in den menschenrechtliehen Garantien der EMRK als auch in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Die Bedeutung der" Pupino "-Entscheidung liegt darin, dass der EuGH hiermit 78 erstmalig eine aus Unionsrecht abgeleitete Befugnis und Verpflichtung mitgliedstaatlicher Gerichte statuierte, nationales Recht rahmenbeschlusskonform auszudeuten. Der Gerichtshof löste die europarechtskonforme Auslegung damit aus dem supranationalen Bereich des Gemeinschaftsrechts heraus und weitete sie auf die intergouvernementalen Handlungsformen der PJZS aus!": Damit bestätigte er den besonderen, über eine klassische völkerrechtliche Kooperationsform signifikant hinausreichenden Charakter der justiziellen Zusammenarbeit in der Union!". In der Anerkennung der prinzipiellen Parallelität von Richtlinien und Rahmenbeschlüssen lag eine bedeutsame Fortentwicklung des Unionsrechts, das bereits vor Inkrafttreten des Lissabonner Reformvertrages auf eine zunehmende europäische Integration angelegt war und sich immer stärker den Strukturen des Gemeinschaftsrechts annäherte. In der deutschen Literatur stieß das Urteil, obwohl es eine Vielzahl interpretationsbedürftiger Passagen beinhaltete und einige klärungsbe143 144
145 146
147
Egger, EuZ W 2005 , 652 , 653 ; Satzger , IntStR, § 9 Rn. 112. Hillgruber, JZ 2005, 841, 842; Kaiafa-Gbandi, ZIS 2006, 521, 534; Tinkl, StV 2006, 36, 39 ; dies., Rechtsstellung des Einzelnen nach RbEuHbf, 118; v. Unger; NVwZ 2006, 46, 48 ; Weißer, ZIS 2006, 562 ff. Zutr. Lagodny/Wiederin/WinklerlSchroeder, S. 56 f. Adam, EuZ W 2005, 558 , 561; GärditzlGusy , GA 2006, 225, 232 ; v. Unger, NVwZ 2006, 46, 48 . GärditzlGusy, GA 2006, 225 , 236; Masing, NJW 2006, 264, 266 ; Suhr , in: Calliess/Ruffert, EUV IEGV, Art . 34 EUV Rn. 19; a. A. Hillgruber , JZ 2005 ,841 f.
362
§ 10 Union srechtskonforme Auslegung
dürftige Fragen offen ließ, zumindest im Ergebnis mit Recht auf überwiegende Zustimmungt". Auch das BVerfG ging unter Hinweis auf die Judikatur des EuGH davon aus, dass sich die innerstaatlichen Stellen bei der Auslegung und Anwendung nationalen Rechts (hier : das IRG betreffend) an den Zielvorgaben eines Rahmenbeschlusses (hier : den Europäischen Haftbefehl betreffend) orientieren müssen , soweit dies nach innerstaatlichem Recht zulässig ist149 • 79 Durch den Vertrag von Lissabon wurde die PJZS in den einheitlichen Rahmen des Unionsrechts (Art. 67, 82-86, 87-89 AEUV) überfuhrt (§ 5 Rn. 76). Die in der ehemaligen 3. Säule angenommenen Rechtsakte bleiben jedoch gern. Art. 9 des Protokolls über die Übergangsbestimmungeni' " so lange rechtswirksam, bis sie in Anwendung der Verträge (EUV/AEUV) für nichtig erklärt oder geändert werden . Folglich besteht auch das Institut der rahmenbeschlusskonformen Auslegung nationalen Strafrechts - als Unterfall der unionsrechtskonformen Auslegung - solange fort, bis alle Rahmenbeschlüsse durch Richtlinien ersetzt oder geändert worden sind . Das entsprechende Auslegungsgebot folgt nunmehr aus dem in Art. 4 111 UA 2, 3 EUV niedergelegten Grundsatz der Unionstreue sowie der Umsetzungsverpflichtung analog Art. 288 UA 3 AEUV (ex-Art. 34 11 Iit. b S. I EUV). Für den Beginn der Pflicht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung gelten die für die richtlinienkonforme Auslegung entwickelten Grundsätze entsprechend (Rn. 28 ff.). 80 Angesichts der Vielzahl der erlassenen Rahmenbeschlüsse liegt die hohe Praxisrelevanz der rahmenbeschlusskonformen Auslegung auf der Hand 151 • So verneinte der BGH eine rechtsstaatswidrige Verzögerung infolge Gewährung von Akteneinsicht für einen Geschädigtenanwalt nach § 406 e StPO unter Hinweis darauf, dass die Beachtung der Opferbelange Teil der zentralen Aufgaben des Strafverfahrens sei und bemerkte in diesem Zusammenhang - ganz im Sinne einer rahmenbeschlusskonformen Gesetzesinterpretation - , dass auch der Rahmenbeschlusses des Rates über die Stellung des Opfers im Strafverfahren den Informationsanspruch des Opfers hervorhebe'<. In der Literatur wurde bereits zutreffend festgestellt, dass die deutsche StPO spätestens seit dem Inkrafttreten des Opferrechtsreforrngesetzes'<' einen Opferschutz gewährleistet, der den europäischen Zielvorgaben sogar überobligatorisch Rechnung trägtl'". Der Rahmenbeschluss über Angriffe auf Informationssysteme (§ II Rn. 99 ff.) ist bei der Auslegung der
148
149
I SO 151
152 153 154
Adam , EuZW 2005 , 558 ff.; Egger, EuZW 2005 , 652 ff.; FetzerlGroß , EuZW 2005 , 550 Ir; GärditzlGusy, GA 2006, 225 ff.; Herrmann, EuZW 2005 , 436 ff.; Skouris , ZE uS 2005, 463 , 476; Streinz , JuS 2005, 1023 ff.; abI. Hillgruber, JZ 2005, 841 Ir; Tinkl, StV 2006 , 36 Ir; v. Unger; NVwZ 2006, 46 ff. BVerfG StV 2006 , 541. ABIEU 2008 Nr . C 115, S. 322 . OLG Stuttgart NJW 2007 , 613 ; Hauck, JR 2009 , 141, 143 ff.; Herrmann , EuZW 2005 , 436,438; Tinkl, StV 2006 , 36, 41. ßGH wistra 2006 , 35 = ßeckRS 2005 , 10778. ßGßI. 12004, S. 1354. Wehnert, NJW 2005 , 3760, 3761 ff.
C. Literaturhi nwei se
363
Computerdelikte (§§ 202 a, 303 a, b StGB) zu beachtenl'". Dies umso mehr, als § 202 a StGB durch das 41. StrÄG den europäischen Vorgaben angepasst wurde, um Fälle des "Hacking" in Form eines unbefugten Eindringens in fremde Dateien oder Datenübermittlungsvorgänge zu erfassen, dessen ausschließlicher Zw eck in der Überwindung einer Zugangssicherung bestehtl '". Weitere Anwendungsfelder für eine rahmenbeschlusskonforme Auslegung deut schen Strafrechts bilden im Hinblick auf den Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekämpfung (§ I I Rn. 12 ff.) die Vereinigungsdelikte (§§ 129 ff. StGB)157, im Hinblick auf den Rahmenbeschluss zur Bekämpfung der sexuellen Ausb eutung von Kindern und der Kind erpornographie (§ 11 Rn. 35 ff.) die Sexualdelikte'" und vor dem Hintergrund des Rahmenbeschlusses zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels (§ 11 Rn. 52 ff.) die Betäubungsmitteldelikte (§ 29 ff. BtMG)159. Im Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen müs sen - wie auch vom BVerfG (Rn. 78) anerkannt wurde - die Bestimmungen des IRG so ausgelegt werden, dass sie im Einklang mit dem Rahmenbeschluss über den Europä ischen Haftbefehl (§ 12 Rn. 20 ff.) stehen'w,
C. Literaturhinweise Ambos. Intern ation ale s Stra frecht, 2. Aufl ., 2008 , § 11 Rn. 42--46 Dan necker, in: Wabn itz/Janovsky (Hrsg.), Handbuch des Wirtschaft s- und Steuerstrafrechts , 3. Aufl., 2007 , 2. Kap. Rn. 117-122 ders., Das mater ielle Strafrecht im Spannungsfeld des Rech ts der EU, JURA 2006, 173 Garditz/G usy, Zu r Wirkun g europ äische r Rahmenbeschlüsse im innerstaa tlichen Recht, GA 2006, 225 Hauck, Richterlicher Anpassungs bedar f du rch den EU-RahmenbeschIuss zur Ane rkennung stra fgerichtlicher Entsc he idungen in Abwesenh eit des Angeklagten", JR 2009, 141 Hecker, Die Strafbarkeit grenzübe rschreitende r Luft verunre inig ungen im deut schen und europäischen Umwel tstrafrech t, ZStW 115 (2003), S. 880 ders., Die geme insch aftsrechtlichen Strukturen der Geldw äschestrafbar keit, Kreuzer-F S, 2008 , S.216-230 Heintschel-He inegg, Gemeinschaftsr ec htskonforme Ausleg ung des Verei nigun gsbegriffs in den §§ 129 rr. StGß, Schroeder- FS, S. 799 Heise, Europäisches Gem einschaftsrecht und national es Strafrecht , 1998, S. 42-207
155 156 157
158
159 160
S/S -Stree/Hecker, § 303 a Rn. I, § 303 b Rn. 7 m. w N. S/S -Lenckner/Eisele, § 202 a Rn. I, 10 m. w. N . Altvater, NS tZ 2003 , 179, 184; v. Heintschel-Heinegg , Schroeder-FS, S. 799, 805 ff.; Kreß, JA 2005 , 220 , 223 ff.; Zöller, JZ 2007 , 764 f.; abI. ß GI-I NStZ 2008 , 146, 148 f. Böse, Schro eder-PS, S. 751 ff:; Hörnle, NJW 2008, 3521 ff: ß GH St 50, 252 , 256 ; Weber, ß tMG, 3. Aufl. , 2008, § 29 Rn. 170 Ahlbrecht , StV 2005 , 40, 46 ; Böse, IRG, Vor § 78 Rn. 6, 13.
364
§ 10 Unionsrechtskonforme Auslegung
Herrmann/Mic hl, Wirkungen von EU-Richtlinien, JuS 2009 , 1065 Masing , Vorrang des Europarechts bei umsetzun gsgebu ndenen Recht sakten , NJW 200 6, 264 Nettes heim. Auslegung und Fortbildung des national en Recht s im Lichte des Gemeinschaftsrechts, AöR 119 (1994) , 261 Roth, Die richtlinienkonforme Auslegung, EWS 2005 , 385 Satzger, Die Europäisi erung des Strafrechts, 200 I, S. 518-642 ders. , Intern ation ales und Europäisches Strafrecht, 4. Aufl., 2010 , § 9 Rn. 90-112 v. Schaumann-Werder, Strafrechtliche Produkth aftung im Europäischen Binnenm arkt, 2008 ,S. 172-206 Schräder, Europäische Richtlin ien und deutsch es Strafrecht, 2002 , S. 321-465 ders., Zur Europäisie rung der Fahrlässig keits- und Untcrlassungsdelikte, NStZ 2006 , 670 ders., Das Leben smittel strafrecht als konkrete s Beispiel für die Europäisieru ng des nationalen Strafrechts : Über die Verknüpfurig des Blankett strafgesetzes mit der EG-Verordnu ng und die Europäisierung der Fahrläss igkeits- und Unterlassungsdelikte, in: Sosn itza, Olaf (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen im deutschen und europäische n Lebensmittelsrecht, 2007 , S. 79 Streinz, Schleichende oder offen e Europäisierung des Stra frechts", Otto- FS, 2007 , S. 1029 Unger V. , Pupino: Der EuGH vergemei nschaftet das intergouvernementale Recht, NVwZ 2006,46 Vogel, Geldwäsc he - ein europ aweit harmoni sierte r Straftatbestand?, ZStW 109 (199 7), 335 Vormbaum, Schut z der Rechtsgüter von EU-Staaten durch das deut sche Strafr echt, 2005 , S. 116-158 Weißer, Die Wirkun gen von EU-Rahmenbeschlüssen auf das mitgliedstaatliche Recht, ZIS 2006,562
D. Rechtsprechungshinweise EuGI-1E 1984, 1891 (" von Colson und Kama nn " - Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Umsetzungsrechts) EuGI-1E 1984, 1921 (" Harz " - Pflicht zur ge meinschaftsrechtskon formen Auslegung des nationalen Umsetzungsrechts) EuGHE 1987, 3969 (" Kolpingh uis Nijmegen " - Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht) EuGI-1E 1990, 4135 (" Marleasing " - Pflicht zur ge meinschaftsrechtskonformen Auslegung des sonstigen nationalen Rechts) EuGI-1E 1996, 4705 (" Arcaro" - Grenzen der richti inienkonformen Auslegun g im Stra frecht) EuGHE 1996, 6609 (" Telecom Italia " - Erfordernis der Bestimmtheit von Richtl inie und Strafgesetz) EuGI-1E 2005 , 5285 = NJW 2005 , 2839 (" Pupino" - Pflicht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegun g national en Strafr echt s) EuGI-I NJW 2006 , 2465 C,Adeneler u. a./EL OG" - Pflicht zur richtli nienkon formen Auslegung ab Ablauf der Umsetzungsfrist)
E. Zusammenfassung von § 10
365
ßGI-ISt37,333 (Richtlinienkonforme Auslegung des § 326 I StGß) BGH NStZ 2004, 285 (Richtlinienkonforme Auslegung der Strafvorschriften des WpHG) BGHSt 50, 252 (Rahmenbeschlusskonforme Auslegung des § 29 BtMG) ßGI-ISt50, 347 (Richtlinienkonforme Auslegung des § 261 StGß) ßGI-I NStZ 2008, 146 (Restriktive Auslegung des Vereinigungsbegriffs des § 129 a StGB) ßGI-I NStZ 2010, 339 (Richtlinienkonforme Auslegung der Strafvorschriften des WpI-lG) OLG Stuttgart NJW 2007, 613 (Rahmenbeschlusskonforme Auslegung des Begriffs .Fluchtgefahr" i. S. d. § 151 Nr. IIRG bei Vorliegen eines Europäischen Haftbefehls)
E. Zusammenfassung von § 10 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind die Träger öffentlicher Gewalt in 81 den Mitgliedstaaten (Gerichte, Staatsanwaltschaften und Verwaltungsbehörden) nach Art . 4111 UA 2, 3 EUV (ex-Art. 10 EGV) i. V. m. Art . 288 UA 3 AEUV (exArt . 249 111 EGV) verpflichtet, insbesondere die der Umsetzung von Richtlinien dienenden Tran sformationsvorschriften, aber auch das sonstige nationale Recht so weit wie möglich unionsrechts- bzw. richtlinienkonform auszulegen. Die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung setzt erst mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist ein . Jedoch sind die innerstaatlichen Stellen nicht daran gehindert , bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist eine Ausdeutung nationaler Vorschriften pro communitate vorzunehmen, wenn nationales Verfassungsrecht dies zulässt und hierdurch nicht dem gesetzgeberischen Gestaltungsermessen bei der Umsetzung der Richtlinie vorgegriffen wird . Der unionsrechtskonformen Auslegung kommt innerhalb de s nationalen Au sle- 82 gungskanons keine absolute, sondern nur eine relative Vorrangstellung zu . Dem Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung ist Genüge getan, wenn von mehreren nach nationaler Dogmatik und Verfassungsrecht vertretbaren Auslegungsergebnissen dasjenige gewählt wird , welches der - etwa in einer Richtlinie zum Ausdruck gelangenden - unionsrechtlichen Wertungsvorgabe am besten entspricht. Das Interpretationsgebot findet seine Grenzen sowohl im nationalen Verfassungsrecht (Art. 103 11 GG) als auch in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts, insbesondere im Grundsatz der Rechtssicherheit (Be stimmtheitsgebot) und des Rückwirkungsverbots. Der EuG H fordert im strafrechtlichen Kontext einen restriktiven Umgang mit der unionsrechtskonformen Auslegung. So lehnte er in seinen Entscheidungen .Kolpinghuis Nijmegen" und " Arcaro " nicht nur eine belastende, die Strafbarkeit begründende (unmittelbare) Wirkung einer nicht fristgemäß umgesetzten Richtlinie im Verhältnis des Staates zum Bürger ab , sondern versagte den innerstaatlichen Stellen auch die Möglichkeit, unbestimmte Strafgesetze durch Heranziehung von Richtlinienrecht zu konkretisieren . Darüber hinaus ste llte der Gerichtshof in der Rechtssache" Telecom Italia '' klar, das s eine Richtlinie nur dann zur Ausdeutung eines nationalen Strafgesetzes herangezogen werden darf, wenn sie ihrerseits hinei chend best immt ist.
366
§ 10 Unionsrechtskonforme Auslegung
83 Die vom Gerichtshof im Zusammenhang mit der richtlinienkonformen Auslegung von Strafgesetzen herangezogenen Rechtsgrundsätze stehen der unionsrechtskonformen Auslegung zu Ungunsten des Beschuldigten nicht entgegen. Der EuGH will nur sichergestellt wissen , dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Einzelnen nicht allein auf eine Richtlinie, sondern stets auf ein nationales Strafgesetz gestützt wird . Wenn sich das innerstaatliche Gericht für eine unionsrechtskonforme Auslegungsvariante entscheidet, die sich innerhalb des nach nationalem Recht möglichen Interpretationsspielraumes bewegt, begegnet dies keinen verfassungsoder unionsrechtlichen Bedenken. In diesen Grenzen ist es dem Gericht insbesondere erlaubt, eine Richtlinie als Bestätigung des aus dem nationalen Recht gewonnenen Auslegungsergebnisses heranzuziehen, wie dies der BGH in seinem " Pyrolyse-Urteil" im Hinblick auf den strafrechtlichen Abfallbegriff getan hat. Dem Vertrauen des Angeklagten in den Fortbestand einer früheren , für ihn günstigen Rechtsanwendungspraxis kann bei der Prüfung der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums (§ 17 StGB) Rechung getragen werden . 84 In seiner wegweisenden Entscheidung in der Rechtssache" Pupino " statuierte der EuGH eine unmittelbar aus dem früheren Unionsrecht abgeleitete Befugnis und Verpflichtung mitgliedstaatlicher Gerichte, nationales Recht rahmen beschlusskonform auszulegen. Der Gerichtshof löste damit die europarechtskonforme Auslegung aus dem supranationalen Bereich des Gemeinschaftsrechts heraus und weitete sie auf die intergouvernemental-völkerrechtlichen Handlungsformen der ehemaligen 3. Säule der EU (PJZS) aus. Nach inzwischen erfolgten Überführung der PJZS in den Rahmen des supranationalen Unionsrechts durch den Lissabonner Reformvertrag besteht das Institut der rahmenbeschlusskonformen Auslegung als Unterfall der unionsrechtskonformen Auslegung solange fort, bis alle Rahmenbeschlüsse durch Richtlinien ersetzt oder geändert worden sind. Die für die richtlinienkonforme Auslegung bestehenden Grundsätze sind entsprechend heranzuziehen.
B. Hecker, Europäisches Strafrecht, DOI 10.1007/978-3-642-13127-1_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
3M
*I1 Ori gin äre Kompetenz der EU zu r Strafrcc htsha rmo nisie rung
Politik der inneren Sicherhe it durch die in Art. 67 111 AEUV niederge legte Programmattks: Die Union wirkt dara uf hin, durch Maßnahmen zur ( I) Verhütung und Bekämpfung von Krimina lität, (2) Koordinierung und Zusammenarbeit von Organen der Strafrechtsptlege, (3) gegenseitigen Anerkennung strafrechtlic her Entscheidungen und (4) erforderliche nfa lls d urc h die Anglcichu ng der st ra frechtl ichen Rech tsvorschri ften ein hohes Maß an Sicherhe it zu gewährleisten. Im Einze lnen werden die strateg ischen Le itlinien der europäischen Kriminalpol itik gern. Art. 68 AEUV d urch den Europäische n Rat (§ 4 Rn. 3) festgelegt.
11. Strafrechtsangleichung vor und nach lissabon 2 Bereits auf der Gr undlage des ex-Art . 3 1 1 lit. e EUV war eine schrittweise Annahme von Maß nahmen zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen vorgesehen, allerdings dem Wortlaut nach begrenzt auf die Bereiche o rg a nisie rte Kr iminali tä t, Terror ismu s und illegaler Drogenh andel. Nach zutreffe nder Auffass ung war die sprach liche Fassung dieser Vertragsbest immung missglückt und musste weiter verstanden werden " Darauf de utete bereits die Bestimmung in ex-A rt. 29 II EUV hin, die die Bekämpfung der - organisierte n und nichtorganisierten - Kriminalität, insbesondere des Terrorismus, des Menschenhandels und der Straftate n gegenüber Kindern, des illegalen Drogen- und Waffenhandels, der Bestechung und Bestechlichke it sowie des Betrugs als Unionszie l formulierte. Eine enge Auslegung hätte zudem einen offensichtlich nicht beabsichtigten Rückfall hinter den bere its unter der Geltung des Maastrichter Vertrages gesc haffene n ,.acquis communauralre'' mit sich gebracht. Auch in der europä ischen Gesetzgebungsprax is wurde eine weite Auslegung des ex-An . 31 [ lit. e EUV zugrunde gelegt. So bezog der ER von Tampere in seiner Schlussfolgerung Nr. 48 u. a. auch die sexue lle Ausbeutung von Kindern sowie die Co mputerkriminalität in die Bereiche e in, auf die sich se iner Überzeugung nach die Bemühungen zur Vereinbarung gemeinsamer Definitionen, Tatbestandsmerkmale und Sanktione n konzentrieren sollen. Der ER ging somit auch nach Unterzeichnung des Amsterdarner Vertrages davon aus, dass eine Strafrechtsang leichung in allen Bereichen zulässig ist, in denen die EU bere its eine gemeinsame Politik entwickelt hat oder die von grenz übergre ifender Dimension sind. Aus systematischen und teleologischen Gründen war die in ex-Art. 3 1 EUV entha ltene Eingangsformulierung " Das geme insame Vorgehen ... schließt ein..." mithin so zu verstehen , dass die unter lit. e aufgefü hrten Kriminalitätsbereiche nicht abschließend gemeint, sondern nur exe mplarisch hervorgehoben sind. Zentrales Handlungsinstrument der Rechtsangleichung in der früheren 3. Säule der EU war bis zum Inkrafttreten des Reformvertrags der dem Einstimmigkeitsprinz ip unterfallende Rahm en beschlu ss (ex-Art. 34 ll lit. b S. 1 EUVf. Vgl. hie rzu Kretschmer, EVV , Art. [11-25 7 Rn. 10: Monsd örfer. IIRRS 2010. 11, 1211 Ambos. [niS IR. § 12 Rn. 9: Zimmermann. Jura 2009. 844 . 846 ; a. A. Schün ema lln. GA 2002 , 50 I. 504; Suhr; ZEuS 2009. 687 , 699. Gärdi1:1Gusy . GA 2006 . 225 , 228 ff.; Hutemann. wis tra 2004. 447 11 : l.orenzmeier, ZI5 2006, 576 Ir.: Schreiber, St raftec htsha rmonisierung, passim .
A. Einführ ung
369
Mit der Auflösung der Dreisäulenstruktur der EU sind die auf eine intergouver- 3 nementale Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zugeschnittenen Instrumente obsolet geworden. Art . 83 I A EUV überträgt der Union nunmehr eine originäre Strafrechtsangleichungsbefugnis in Form einer Richtlinienkompetenz für die Schaffung von Mindeststandards bei Straftaten und Strafen in Fällen besonders schwerer Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension, wodurch die P1ZS auf supranationale Rechtssetzungsverfahren und Handlungsformen umgestellt wird >. Richtlinien werden von Rat und EP gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren auf Vors chlag der Kommission erlassen (Art . 289 I, 294 AEUV) . Die hierm it eröffnete Mitentscheidung des EP führt zu einer Stärkung der demokratischen Legitimation im Bereich des EU-Stra frechts (§ 4 Rn. 7, 30) . Der Kommi ssion wird die Aufgabe zugewiesen , im Bereich der EU-Kriminalpolitik über die gehörige Umsetzung erlassener Richtlinien zu wachen und ggf. von dem Vertragsverletzungsverfah ren (§ 4 Rn. 38) Gebrauch zu mach en". Der Bildung eines gemeinsamen Besitzstandes im Bereich des materiellen Strafrechts kommt nicht zuletzt erhebliche Bedeutung für die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung zu (§ 12 Rn. 50 ff.). Nach diesem von Rat, Komm ission und EP als "E ckstein" der justiziellen Zusammenarbeit bezeichn eten und nunmehr in Art . 82 I AEUV verankerten Strukturprinzip des Europäi schen Strafrechts sollen Entscheidungen der nation alen lustizbehörd en grundsätzlich in allen anderen Mitgliedstaaten Gültigkeit bean spruchen und Wirksamkeit entfalten könn en? Die Umsetzbarkeit dieser Zielsetzung hängt maßgeblich davon ab, inwieweit die Strafrecht sordnungen der Mitgliedstaaten einander angegl ichen sind". Die früher auf der Basis des ex-Art. 31 lit. e EUV prakti zierte Harmonisierungspolitik wird nach Inkrafttreten des Refo rmv ertr ags im Rahmen der Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (JZS) gern . Art. 83 I AEUV fortgesetzt, der folgendes bestimmt: " Das Europäische Parlament und der Rat können gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Richtlinien Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität festlegen, die aufgrund der Art oder der Auswirkungen der Straftaten oder aufgrund einer besonderen Notwendigkeit, sie auf einer gemeinsamen Grundlage zu bekämpfen, eine grenzüberschreitende Dimen sion haben. Derartige Kriminalitätsbereiche sind: Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche , Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität. Je nach Entwicklung der Kriminalität kann der Rat einen Beschluss erlassen, in dem andere Kriminalitätsbereiche bestimmt werden, die die Kriterien dieses Absatzes erfüllen. Er beschließt einstimmig nach Zu stimmung des Europäischen Parlaments." Heger, ZIS 2009, 406, 411 f.; Suhr, ZE uS 2009, 687, 698 f.; Meyer, NStZ 2009, 657, 658; Zimmermann, Jura 2009,844,846 f.; Zöller, ZIS 2009, 340, 343. Müller-Graf]; EuR 2009, 105, 120; Zimmermann, Jura 2009,844. Gieß, IRhSt, Vor 111 Rn. 5, 86; Heger, ZIS 2009, 406, 410. Böse, Gegenseitige Anerkennung, S. 233, 249; Gieß, ZStW 11 6 (2004), S. 353, 358 ff.; Perron, Küper-FS, S. 429, 436 f.; Vogel, GA 2003, 314, 319, 333.
370
*11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrcchtsharmonisierung
B. Angleichung des materiellen Strafrechts im Rahmen derJZS I. Rechtlicher Rahmen der Strafrechtsangleichung
t, Harmonisierungsfiihige Kriminalitätsbereiche 4 Die in Art. 83 I AEUV verankerte originäre Strafrechtsang leichungs kompete nz der Union ist auf d ie Festle gung von Mindestv orschrirten über die Straftaten und Strafen in best immten Kriminalitätsbereich en beschränkt. Einer Mindestangleichung zugänglich sind nur Delik te, d ie der besonders sc h we ren Kriminali tät zuzuordnen sind und e ine gren züberschreit ende Dim en sion aufweisen. Art. 83 I UA 2 AEUV benennt a bsc hließ end diejenigen Kriminalitätsbereic he, d ie diese Anforderungen erfllilen (Rn . 3). Dass es sich bei die sem Katalog um ei ne abschl ießende Aufzähl ung handelt, ergibt sich daraus, dass seine Erweiterung nach Art. 83 I UA 3 AEU V nur durch einstimmigen Beschl uss des Rates nach Zu stimmung des EP erfo lgen darf". Der von ex-An. 29 11 EUV noch explizit ge· nannte Betrug findet sich nicht mehr in Art. 83 I AEUV, da mit Art. 325 IV AEUV eine spezielle Recht sgrund lage für die Harmonisie rung der Strafvorsc hriften zur Bekämpfung des E lf- Bet r uges zur Verfügung steht (§ 8 Rn. 46). Demgegenüber ist der früher im Rahmen der strafrec htlichen Annexkompe tenz der EG har monisierte Bereich der Geld wä sc he (§ 8 Rn. 16 ff.) nunme hr auch Ge gensta nd der originären Strafrechtsangleichungs kompetenz der Un ion (Rn. 63). Da der Kriminalitätsbere ich " Rassismus und F remd en feind lichke il" in Art. 83 I UA 2 AEUV nicht aufgefü hrt wird, könnte man zu dem mer kwürdigen Erge bnis gelangen, dass der auf ex-An. 31 I Iit. e EUV ges tützte Rahmenbeschluss des Rates zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und A usdruc ksweisen von Rassismus und Fremden feind lich ke it v. 28. November 2008' 0 nach dem Inkrafttreten des Lissa bonner Vert rages ke ine Grundlage mehr hättet'. Dagegen spricht aber , dass es nach Art. 67 III AE UV zu den Aufgaben der Union gehört , Maßnahmen zur Verhü tung und " Bekämpfung" von Rassismus und Frem denfeind lichke it, und zwar " erf orderlichenf alls durch die Ang leich urig der strafrechtlichen Rechtsvorschritten" zu treffen. Nac h hier vertretener Ansicht lässt sich aus dieser Aufgabenzuschreibung e ine origi näre Harmonisierungskompetenz der Union in dem betreffe nden Kriminalitätsbereich ableiten". Eine Änderung des gena nnten Rahmenbeschfusses, der gem. Art. 9 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen 13 e instwe ilen rechtswirksam bleibt, ist somit im Wege der Richtliniensetzung zuläss ig.
"u
Böse. Z l5 2010. 76. 82; Heg er. ZIS 2009. 406. 41 2; Kretschmer. EVV. Art . 111-271 Rn. 5: Mansd örfe r, IIRR S 2010. 11. 16; Zimm ermann, Jura 2009. 844. 846. ABl EU 2008 Nr. L 328. S. 55; vgt. hierzu Zimm ermann. ZIS 2009. I, 6lT. So die Auffassu ng von Suhr. Z EuS 2009. 687. 699; ebe nso Satzge r. lntSIR. § 9 Rn. 34. Kretschm er. EVV, Art . ][[-271 Rn. 20 bejaht eine strafrechtliche Annexkompetenz der
Union.
ABl EU 2008 Nr. C 11 5, S. 322.
B. Angleichungdes materiellen Strafrechts im Rahmen der JZS
371
2. Gemeinsame Definitionen Zu den Maßnahmen, die auf eine Angleichung des materiellen Strafrechts der 5 Mitgliedstaaten in den von Art . 83 I AEUV erfassten Kriminalitätsbereichen abzielen , gehört zunächst der Erlass von Mindestvorschriften zur Ausgestaltung der einschlägigen Tatbestände des Besonderen Teils. Diese können z. B. in einer gemeinsamen Definition enthalten sein , in welcher die zentralen objektiven und subjektiven Merkmale der zu inkriminierenden Handlung beschrieben werden (z. B. "terroristische Straftat" ; .Jllegaler Drogenhandel"; " Menschenhande l" usw.) und durch die detailliertere oder weitergehende Begriffsbestimmungen des nationalen Rechts nicht ausgeschlossen werden . Die Mitgliedstaaten bleiben demnach frei , darüber hinaus auch weitere Verhaltensweisen unter Strafandrohung zu steIlen. Es ist ihnen jedoch verwehrt, die Mindestvorschriften der in einem Rechtsakt definierten strafbaren Handlung zu unterschreiten, indem sie zusätzliche Strafbarkeitsvoraussetzungen aufstellen. Von der Harmonisierungskompetenz des Art. 83 I AEUV umfasst sind auch 6 Anweisungen, die sich auf die Anwendung von Bestimmungen des Allgemeinen Teils beziehen, soweit dies für eine wirksame Bekämpfung der jeweiligen Kriminalitätsbereiche erforderlich ist und hierdurch nicht in die Grundstruktur der nationalen Strafrechtssysteme eingegriffen wird . Unproblematisch sind z. B. bereichsspezifische Vorgaben, durch die sichergestellt werden soll , dass der Versuch einer bestimmten Straftat und die Teilnahme (Anstiftung, Beihilfe) mit Strafe bedroht werden!". Nicht gedeckt von Art. 83 I AEUV sind jedoch über die Festlegung von Mindestvorschriften hinausgehende Definitionen des Versuchs oder der Täterschaft und Teilnahme. Vorgaben zur Verantwortlichkeit juristischer Personen sind nur zulässig, wenn den Mitgliedstaaten ein weiter Umsetzungsspielraum belassen wird , der auch eine Beschränkung auf nichtstrafrechtliche Sanktionen zulässt.
3. Festlegung von Strafen Einer Mindestangleichung zugänglich sind auch die Strafen in den einschlägigen 7 Kriminalitätsbereichen, welche z. B. in Form der Vorgabe sog . Mindesthöchststrafen erfolgen kann . Diese legen das Mindestmaß einer im nationalen Strafrecht vorzusehenden Höchststrafandrohung fest. Hierdurch werden lediglich die nach den Rechtvorschriften der Mitgliedstaaten anwendbaren Strafen einander angenähert, nicht aber die tatsächlich zu verhängenden Strafen. Insoweit sind der Rechtsangleichung durch das Prinzip der tat- und schuldangemessenen Strafe und aufgrund der Unabhängigkeit der Gerichte von vornherein Grenzen gesetzt. Freilich steht zu erwarten, dass sich aus der Angleichung der gesetzlichen Sanktionsvorgaben mittelbar auch gewisse Angleichungseffekte in der mitgliedstaatliehen Sanktionspraxis ergeben. Auch bereichsspezifische Vorgaben über erschwerende oder strafmildernde Umstände sowie über das Strafanwendungsrecht ("Internationales Strafrecht") können auf Art . 83 I AEUV gestützt werden . 14
Heger, ZIS 2009, 406, 412 .
372
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung
11. Grenzen der Strafrechtsangleichung 8 Auch im Anwendungsfeld des Art . 83 I AEUV wird die Kompetenzausübungsbefugnis der Union durch die Grundsätze der Subsidiarität (Art. 5 I S. 2, III UA I EUV) und Verhältnismäßigkeit (Art. 5 I S. 2, IV UA I EUV) begrenzt. Insoweit kann auf die entsprechend heranzuziehenden Ausführungen zu den Grenzen der strafrechtlichen Annexkompetenz der Union verwiesen werden (§ 8 Rn. 49 ff., 52 ff.) . Die genannten Kompetenzausübungsschranken gelangen auch in der Formulierung des Art . 67 III AEUV zum Ausdruck, wonach von dem Mittel der Strafrechtsangleichung nur " erforderlichenfalls" Gebrauch zu machen ist. Des Weiteren sichern die Kriterien des Art . 83 II UA I AEUV die Beachtung des Subsidiaritätsgrundsatzes ab, indem sie diesem im sensiblen Bereich der Strafrechtsharmonisierung einen klaren Gehalt verleihen": Praktische Bedeutung entfalten die Kompetenzausübungsschranken bereits im Diskussions- und Planungsstadium von strafrechtlichen Harmonisierungsmaßnahmen, da sie die beteiligten Akteure (Kommission, EP, Rat) zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung über die zur Zielerreichung erforderlichen Schritte und ggf. zu einer gewissen Abstimmung ihrer Politiken zwingen. In seinem "Lissabon-Urteil" fordert das BVerfG eine restriktive Handhabung der strafrechtlichen Harmonisierungskompetenzen, die von den im Rat tätigen deutschen Regierungsvertretern zu beachten ist". 9 Falls ein Mitglied des Rates der Auffassung ist, dass der Entwurf einer Richtlinie nach Art . 83 I AEUV grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung berühren würde, kann von der durch den Lissabonner Reformvertrag eingefLihrten verfahrensrechtliche "Notbremse" (Art . 83 III AEUV) Gebrauch gemacht werden . Dieses Instrument steht der Angleichung strafrechtlicher Rechtsvorschriften entgegen, wenn der ein Veto einlegende Mitgliedstaat nicht umgestimmt werden kann . Die übrigen Mitgliedstaaten können die Richtlinie jedoch im Wege einer Verstärkten Zusammenarbeit erlassen, so dass sie nur ihnen gegenüber Wirkung entfaltet (Art. 83 III UA 2 AEUV). Auf die entsprechend heranzuziehenden Ausführurigen in § 8 Rn. 56 ff. wird verwiesen .
c. Felder der
Strafrechtsangleichung in der Union
I. Überblick: Rahmenbeschlüsse mit materiellstrafrechtlichem Bezug 10 Die nachfolgend aufgeführten, im Rahmen des Titels VI EUV a. F. angenommenen Rahmenbeschlüsse gelten gern. Art . 9 des dem Lissabonner Vertrag beigefügten Protokolls über die Übergangsbestimmungen' ? fort, solange sie nicht aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert werden: 15 16
17
Zimmermann, Jura 2009,844,847. BVerfG NJW 2009,2267,2287 ff.; vgl. hierzu Ambos/Rackow, ZIS 2009, 397, 401 ff.; Böse, ZIS 2010, 76, 85 ff.; Zimmermann , Jura 2009, 844, 849 ff ABIEU 2008 Nr. C 115, S. 322.
C. Felder der Strafrechtsangleichung in der Union
373
- Rahmenbeschluss des Rates (200 1/4 I 3/JI) zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln v. 28. Mai 2001, in Kraft getreten am 3. Juni 2001 18 ; - Rahmenbeschluss (2001/888/JI) des Rates v. 6. Dezember 2001 zur Änderung des Rahmenbeschlusses (2000 /383/JI) über die Verstärkung des mit strafrechtlichen und anderen Sanktionen bewehrten Schutzes gegen Geldflilschung im Hinblick auf die Einführung des Euro, in Kraft getreten am 14. Dezember 2001 19 ; - Rahmenbeschluss des Rates (2002/629/JI) zur Bekämpfung des Menschenhandels v. 29. Juli 2002, in Kraft getreten am 2. August 2002 2°; - Rahmenbeschluss des Rates (2002 /946/JI) betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Einund Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt v. 28. November 2002 , in Kraft getreten am 6. Dezember 2002 21 ; - Rahmenbeschluss des Rates (2003 /568/JI) zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor v. 22. Juli 2003 ; in Kraft getreten am I . August 2003 22 ; - Rahmenbeschluss des Rates (2004 /68/JI) zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie v. 22. Dezember 2003 , in Kraft getreten am 21. Januar 2004 23 ; - Rahmenbeschluss des Rates (2004/757/JI) zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels v. 25. Oktober 2004, in Kraft getreten am 12. November 2004 24 ; - Rahmenbeschluss des Rates (2005 /222/JI) über Angriffe auf Informationssysteme v. 24. Februar 2005, in Kraft getreten am 16. März 2005 25 ; - Rahmenbeschluss des Rates (2008 /841/J1) zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität v. 24. Oktober 2008 , in Kraft getreten am 11. November 2008 26 ; - Rahmenbes chluss des Rates (2008 /9 19/JI) v. 28. November 2008 zur Änderung des Rahmenbeschlusses (2002 /475/JI) zur Terrorismusbekämpfung, in Kraft getreten am 9. Dezember 2008 27 ; 18 19
20
21
22 23
24 25
26 27
ABIEU 2001 N r. L 149, S. I. ABIEU 2001 Nr. L 329, S. 3; vgl. hierzu Vogel, ZRP 2002 , 7 ff. ABIEU 2002 Nr . L 203 , S. I; vgl. hierzu Demko, MRM 200 7, 5, 12 ff.; Post, Kampf gegen den Menschenhandel im Kont ext des europäischen Menschenrechts schu tzes, 2008 , passim. A BIEU 2002 Nr. L 328, S. I. ABI EU 2003 N r. L 192, S. 54. ABIEU 2004 Nr. L 13, S. 44; vgl. hierzu Böse, Schroeder-FS, 2006, 75 1 ff.; Hörnle, NJW 2008 , 3521 ff. AB IEU 2004 Nr. L 335, S. 8. A BIEU 2005 Nr. L 69, S. 67. AB IEU 2008 Nr. L 300, S. 42. ABIEU 2008 Nr. L 330 , S. 21 ; vgl. hierzu Weber, Europäische Ter ror ismu sbek ämpfung - das Strafrecht als Integ rationsdime nsion der EU, 2008 , passim; Zimmermann, ZIS 2009 , 1 ff.; Zöller, Terr orismu sstrafrecht, 2009 , passim.
374 -
*11 Originäre Kompetenz de r EU zur Strafrcchtsharmonisierung
Rahmenbeschl uss des Rates (2008/9 13/JI) zur strafrecht liche n Bek ämpfung bestimmter Formen und Au sdrucksw eisen von Ra ssismus und Fremden feindlichkeit v , 28. November 20 08 , in Kra ft ge treten am 6. Dezem ber 20 08 28
11. Terrorismus
t , Anwendungsbereich 11 Art. 83 1 UA 2 A EUV be nen nt als ungle ichungsfähigen Krimin alit ätsbereic h an erst er Stelle den T errorismus. Eine prä zise De finition d ieses Terminus erweis t sich sc hon deshal b al s schw ierig, we il sich in den Mitglied staaten bi slan g ke in einheitlich es Be gr iffsverständ nis herausgeb ildet hat und nu r wen ige Rechtso rdnunge n eine n spez iell auf Terrorismus zugeschn itte nen Straftatbestand kennenw. Unter dem Eindruc k der Terroransch läge au f da s World T rade Cente r in New York am 11. Septembe r 200 1 erhielt d ie Terrorism usbekämpfung in den EU- Mitgliedstaaten eine neue Dyn amik" . Es bestand Einigkeit darilber, das s der massiven Bedroh ung der internatio nalen Gemeinsch aft durc h stärke r aufei na nder abgestimmte strafrechtliche Maßna hmen entgege nz uwirke n se i. Der ER ste llte am 2 1. Se ptembe r 200 1 ein en Aktionsp lan auf, der einen Maßnahmenkatal og zur Verbesseru ng der (damalige n) PJZ S und zur Fina nzieru ng der Terrorismusbekämpfu ng bein haltete-t . Noch im Dezember 200 1 nahm der Rat eine n gemei nsa men Stand punkt Ober die Bekä mpfung des Terrorism usv an und ein igte sich auf der Basis eine s Komm lsslo ns vorschla gess-, der auch Defi nitionsansätze des Vö lkerr ech ts berücksichtigte, am 6. Dezem ber 200 1 auf einen Rahmenbeschluss zur T errorismu sb ek ämpfung (Rn. 12). Die in Art. I de s Rah me nbe schlus ses en thalte ne Defi nitio n des Begriffs "Te rrorismus" (Rn. 15) bietet als Ausd ruck e iner ge me insa me n Rechtsüber zeugung e ine wesen tlich e Auslegungshilfe für die Bestimmung des An we ndun gsbereiches de s Art. 83 [ AE UV (ex-An . 3 1 lit. e EUV)34.
2. Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekämpfung 12 Der am 23. Juni 2002 in Kraft getreten e, auf ex- Art. 31 lit. e EUV ges tützte Rahmenbeschluss zur T errorismusb ekämpfun g v , 13. Juni 20 0235 b ildet auch in der du rch den am 9 . Dezem ber 20 08 in Kraft ge tretenen Rahmenbeschlu ss v, 28,
ra
"
ABlEU 2008 Nr. L 328. S. 55; vgl. hierzu Zimmermann; ZIS 2009. 1, 6 11 Vgl. hierzu die Begründung zum Vorsc hlag der Kommission für einen Rahmen beschluss zur Bekämpfung des Terrorismus; KOM (200 1) 5 12 1 cndg., S. 6 11 sowie v. lJubnoff. NJW 2002. 2672 und Zöller. JZ 2007, 76311 l' . Bubnoff. NJW 2002. 2672 11; GIISy, GA 2005. 2 15 1 1 Ratsdokument SI (200 I) 990. vgl. hierzu GIISy, GA 2005, 2 15 11 ABlEG 200 1 Nr. L 344. S. 90. KOM (2001) 5 12\ endg.. S. 3 11 Kretschmer. EVV, Art . 11I -271 Rn, 8. ABiEU 2002 Nr. L 164. S. 3.
C. Felder der Strafrechtsangleichung in der Union
375
November 2008 36 geänderten Fassung die zentrale Grundlage der EU-Politik zur Bekämpfung des Terrorismus. Dieser stellt nach der gemeinsamen Auffassung der Mitgliedstaaten einen der schwersten Verstöß e gegen die universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität, der Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten dar, auf die sich die EU gründet. Außerdem wird er als einer der schwer sten Angriffe auf die Grund sätze der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit eingestuft.
a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses Ziel des Rahmenbeschlusses ist es, einen einheitlichen strafrechtlichen Besitz- 13 stand zur Bekämpfung des Terrorismus zu schaffen, der die Bildung "sicherer Häfen" für Terroristen ausschließt. Der Rahmenbeschluss zielt daher auf eine Angleichung der mitgliedstaatlichen Strafbestimmungen ab, indem er Mindestvorschriften über die Tatbest andsmerkmale terroristischer Handlungen und die anzudrohenden Strafen festlegt , welche die Schwere dieser Straftaten widerspiegeln. Er findet Anwendung auf terroristische Straftaten , - die in einem Mitgliedstaat begangen oder vorbereitet wurden , - die von einem Staatsangehörigen eines Mitglied staates oder zu Gunsten einer juristischen Person, die ihren Sitz in einem Mitglied staat hat, begangen wurden oder die gegen die Institutionen oder die Bevölkerung eines Mitgliedstaats begangen wurden .
b) Wesentlicher Inhalt Der Rahmenbe schluss erlegt den Mitglied staaten umfangreiche Pönalisierungs- 14 pflichten auf: (I) Nach Art. I hat jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass die unter Iit. a-i aufgeführten, nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften als Straftaten definierten vorsätzlichen Handlungen, die durch die Art ihrer Begehung oder den jeweiligen Kontext ein Land oder eine internationale Organisation ernsthaft schädigen können , als terroristische Straftaten einge stuft werden , wenn sie mit dem Ziel begangen werden , die Bevölkerung auf schwerwiegende Weise einzuschüchtern, öffentliche Stellen oder eine internationale Organi sation rechtswidrig zu einem Tun oder Unterlassen zu zwingen oder die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Landes oder einer internationalen Organisation ernsthaft zu destabilisieren oder zu zerstören : a) Angriffe auf das Leben einer Person, die zum Tode führen können, b) Angriffe auf die körperliche Unversehrtheit einer Person, c) Entführung oder Geiselnahm e,
36
ABIEU 2008 Nr. L 330, S. 21; vgl. hierzu Weber, Europäische Terrorismusbekämpfung - das Strafrecht als Integrationsdimension der EU, 2008, passim; Zimmermann, ZIS 2009, 1 ff.; Zöller, Terrorismusstrafrecht, 2009, passim.
376
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung
d) schwerwiegende Zerstörungen an einer Regierungseinrichtung oder einer öffentlichen Einrichtung, einem Verkehrsmittel, einer Infrastruktur einschließlich eines Informatiksystems, einer festen Plattform, die sich auf dem Festlandsockel befindet, einem allgemein zugänglichen Ort oder einem Privateigentum, die Menschenleben gefahrden oder zu erheblichen wirtschaftlichen Verlusten führen können, e) Kapern von Luft- und Wasserfahrzeugen oder von anderen öffentlichen Verkehrs- bzw . Gütertransportmitteln, f) Herstellung, Besitz, Erwerb, Beförderung, Bereitstellung oder Verwendung von Schusswaffen, Sprengstoffen, atomaren, biologischen und chemischen Waffen sowie die Forschung und Entwicklung im Zusammenhang mit biologischen und chemischen Waffen, g) Freisetzung gefährlicher Stoffe, Herbeiführen von Bränden, Überschwemmungen oder Explosionen, wenn dadurch das Leben von Menschen gefährdet wird , h) Störung oder Unterbrechung der Versorgung mit Wasser, Strom oder anderen lebenswichtigen natürlichen Ressourcen, wenn dadurch das Leben von Menschen gefährdet wird, i) Drohung, eine der in Iit. a-h genannten Straftaten zu begehen. 15 Als terroristische Straftaten geahndet werden somit Straftaten, die mit dem Vorsatz begangen werden, die Bevölkerung einzuschüchtern und die politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Strukturen dieses Landes ernsthaft zu schädigen oder zu zerstören (namentlich Mord , Körperverletzung, Geiselnahme, Erpressung , Herstellung von Waffen, Anschläge, Anführen einer terroristischen Vereinigung usw .). Die vorgenannten Straftaten können von einer Einzelperson oder einer Vereinigung begangen werden und gegen ein Land oder mehrere Länder gerichtet sein . 16 (2) Nach Art . 2 II muss jeder Mitgliedstaat die nachstehenden vorsätzlichen Handlungen unter Strafe stellen: a) Anführen einer terroristischen Vereinigung, b) Beteiligung an den Handlungen einer terroristischen Vereinigung einschließlich Bereitstellung von Informationen oder materiellen Mitteln oder durch jegliche Art der Finanzierung ihrer Tätigkeit mit dem Wissen, dass diese Beteiligung zu den strafbaren Handlungen der terroristischen Vereinigung beiträgt. 17 In Art. 2 I wird eine "terroristische Vereinigung" definiert als einen auf längere Dauer angelegten organisierten Zusammenschluss von mehr als zwei Personen, die zusammenwirken, um terroristische Straftaten zu begehen. "Organisierter Zusammenschluss" meint einen solchen, der nicht nur zufällig zur unmittelbaren Begehung einer strafbaren Handlung gebildet wird und der nicht notwendigerweise förmlich festgelegte Rollen für seine Mitglieder, eine kontinuierliche Zusammensetzung oder eine ausgeprägte Struktur hat.
C. Felder der Strafrechtsangleichung in der Union
377
(3) Bestimmte vorsätzliche Handlungen (Öffentliche Aufforderung zur Begehung 18 einer Straftat, Anwerbung bzw . Ausbildung für terroristische Zwecke, schwerer Diebstahl, Erpressung, Urkundendelikte), die mit dem Ziel einer terroristischen Aktivität begangen werd en, sind nach Art . 3 II lit. a-f unter Strafandrohung zu stellen . In Art. 3 I a-c werden die vorgenannten Handlungen zum Teil näher definiert . Ferner muss gem . Art . 4 die Strafbarkeit der Anstiftung, der Beihilfe und des Versuchs gewährleistet werden . (4) Nach Art . 5 I sind die Mitgliedstaaten zur Festlegung bestimmter Sankti- 19 onen verpflichtet. Straftaten nach Art. 1--4 müssen mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen bedroht werden, die zu einer Auslieferung führen können. Terroristische Straftaten i. S. d. Art . I I und i. S. d. Art . 4, soweit sie sich auf terroristische Straftaten beziehen, müss en nach Art. 5 II mit höheren Freiheitsstrafen bestraft werden können, als nach dem innerstaatlichen Recht für solche Straftaten ohne den nach Art. I I erforderlichen besonderen Vorsatz vorgesehen sind, es sei denn, die vorgesehenen Strafen stellen bereits die nach innerstaatlichem Recht möglichen Höchststrafen dar. (5) Darüber hinaus muss nach Art . 7, 8 jeder Mitgliedstaat gew ährleisten, dass 20 auch juristische Personen für eine der in Art . 1--4 genannten Straftaten verantwortlich gemacht werden können und gegen diese ggf. wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen (auch nichtstrafrechtliche Geldsanktionen und andere Sanktionen) verh ängt werden können, z. B. - Maßnahmen des Ausschlu sses von öffentlichen Zuwendungen oder Hilfen, - Maßnahmen des vorübergehenden oder ständigen Verbots der Ausübung einer Handelstätigkeit, - richterliche Aufsicht, - richterlich angeordnete Auflösung, - vorübergehende oder endgültige Schließung von Einrichtungen, die zur Begehung der Straftat genutzt wurden. (6) Spezielle Regelungen zur Gerichtsbarkeit und Strafverfolgung sind in Art. 9 21 enthalten. Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um : - ihre gerichtliche Zust ändigkeit im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten zu begründen, - ihre gerichtliche Zust ändigkeit zu begründen, wenn sie sich weigern, eigene Staatsangehörige auszuliefern, - ihr Vorgehen zu koordinieren, wenn mehrere Mitgliedstaaten zuständig sind, - sachdienliche Hinwei se auszutauschen (hier zu sind entsprechende operationelle AnlaufsteIlen zu benennen).
378
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung
c) Deutsches Strafrecht 22 Die deutsche Strafrechtsordnung kennt zahlreiche Straftatbestände, die auf terroristische Handlungen der in Art . I I des Rahmenbeschlusses beschriebenen Art Anwendung finden und den von Art . 5 vorgeschriebenen Sanktionierungspflichten Rechnung tragen. Zu denken ist vor allem an Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art . 6, 7 VStGB), Kriegsverbrechen (Art . 8-12 VStGB), Tötungs- und Körperverletzungsdelikte (§§ 211 , 212 , 221 , 223, 224 , 226 , 227 StGB), Freiheitsdelikte (§§ 239 I, IV, 239 a, 239 b StGB), gemeingefährliche Delikte (§§306-306 c, 306 f-311 , 313 , 314 , 315-315 b, 316 b-318, 330 , 330 a StGB), Delikte gegen den Bestand oder die Sicherheit des Staates (§§ 81-83 , 87, 88 StGB), Verstöße gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz (vgl. insb. die Verbrechenstatbestände der §§ 19-20 a KWKG) sowie gegen das Waffen- und Sprengstoffrecht (§§ 51-52 WaffG , §§ 40, 42 SprengG). Mit dem Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten v, 30. Juli 200937 wurden mit §§ 89 a, 89 b, 91 StGB neue Staatsschutzdelikte geschaffen, die als abstrakte Gefahrdungsdelikte im Vorfeld terroristischer Gewaltaktionen bereits die Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten, die Kontaktaufnahme zwecks Unterweisung in der Begehung von Gewalttaten sowie die Verbreitung von entsprechenden Anleitungen erfassen. 23 Das von Art. 2 11 aufgestellte Pönalisierungsgebot (Organisationsdelikte) wird von §§ 129 a, 129 b StGB erfüllt". Durch das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates v, 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung v. 22 . Dezember 2003 39 wurde § 129 a StGB neu gefasst, erweitert und mit rahmenbeschlusskonformen (angehobenen) Strafandrohungen versehen . Diese Tatbestände ermöglichen Zugriffe der Strafverfolgungsbehörden im Vor- und logistischen Umfeld terroristischer Straftaten, also unabhängig von deren konkreter Ausführung". Für kriminelle oder terroristische Vereinigungen, die zumindest eine Teilorganisation innerhalb eines EU-Mitgliedstaates aufweisen, gelten die §§ 129, 129 a StGB gern. § 129 bIS. I StGB uneingeschränkt. Auf Vereinigungen außerhalb der EU sind die §§ 129, 129 a StGB nur dann anzuwenden , wenn die Beteiligungstat entweder im Inland begangen wird , wenn der Täter oder das Opfer Deutscher ist oder sich Täter oder Opfer im Inland befinden". Gegen Vereine, deren Zwecke oder Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen und die daher nach § 3 VereinsG verboten sind, ist von der zuständigen Behörde (Bundes- oder Landesinnenminister) eine Verbots- und AuflösungsverfLigung zu treffen. 37
38
39 40 41
BGBI. I 2009, 2437 ; vgl. hier zu Bader, NJW 2009, 2853 ff.; DeckerslHeusel, Z RP 2008 , 169 ff... Gazeasl Gros se- Wilde/Ki eßling, NStZ 2009 , 593 ff.; Heinrich, ZStW 121 (2009), S. 94 ff.; S. Kauder, ZRP 2009, 20 ff.; Sie ber, N StZ 2009, 353 ff.; Weißer, ZStW 121 (2009), S. 131 ff. Vgl. zur rahm enbeschlusskonformen Ausl egung des Vereinigungsbegriffs i. S. d. §§ 129 ff. StGB v. Heintschel-Heinegg, Schroeder- FS, S. 799 , 805 ff.; Kreß , JA 2005 , 220 ,223 ff.; Zöller, JZ 2007 ,764 f.; abI. BGI-I NStZ 2008 , 146, 148 r. BGB!. I 2003 , 2836. v. BubnojJ, NJW 2002, 2672 , 2673 , 2675 ff. Krit. hierzu Fischer, § 129 b Rn. 7 ff.; Kreß, JA 2005 ,220,226 ff.
C. Felder der Strafrechtsangleichung in der Union
379
111. Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern
1. Anwendungsbereich Im engeren Sinne lässt sich der vom Menschenschmuggel ("Schleuser- bzw. 24 Schlepperkriminalität") abzugrenzende Menschenhandel als das Verbringen einer Person gegen ihren Willen unter Anwendung von Gewalt oder Drohung, Ausnutzen eines Abhängigkeitsverhältnisses oder Täuschung umschreiben'F . Als besonders praxisrelevante Erscheinungsformen des Men schenhandels sind der Prostitutionstourismus, organisierte Heiratshandel , Organhandel und Adoptionskinderhandel zu nennen. Kriminologische Studien benennen als Hauptursachen für den Menschenhandel das Wohl standsgefalle zwischen den Herkunfts- und Ziel staaten, die Feminisierung der Migration, mitunter sogar die Einwanderungspolitik der Zielstaaten sowie die von der organisierten Kriminalität ausgenutzte Nachfrage der Sexindustrie . Wichtigste internationale Grundlage der strafrechtlichen Bekämpfung des Menschenhandels ist das auch von der damaligen EG unterzeichnete Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandel s, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels, zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die gren züberschreitende organisierte Kriminalität vom 15. November 2000 4 3 • Weitere internationale Verpflichtungen sind im Fakultativprotokoll vom 25 . Mai 2000 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20 . November 1989 über die Rechte des Kindes betreffend den Verkauf von Kindern , die Kinderprostitution und die Kinderpornographie enthalten . Auf der Eben e des Europarates zielt das Europäisches Übereinkommen gegen Menschenhandel v. 16. Mai 2005 44 auf eine effektive Strafverfolgung ab . Eine umfassende Definition des hier intere ssierenden Kriminalitätsbereiches findet sich im Anhang des Beschluss des Rate s v. 6. April 2009 zur Errichtung des Europäischen Polizeiamtes" (§ 5 Rn. 59), nämlich : "d ie Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Personen durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderen Formen der Nötigung, durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit oder durch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur Erlangung des Einverst ändnisses einer Person, die Gewalt über eine andere Person hat, zum Zweck der Ausbeutung. Ausbeutung umfasst mindesten s die Ausnutzung der Prostitution anderer oder andere Formen sex ueller Ausbeutung, die Herstellung, den Verkauf oder den Vertrieb kinderpornografischen Materials, Zwangsarbeit oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder sklavereiähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von Organen.
42 43 44
4S
Vgl. hierzu und zum Nachfolgenden Zimmerman n, Menschenhandel, S. I Ir BT-Drs. 15/5150 (Anlage 1); vgl. hierzu S/S -Eisele, § 232 Rn. 3 m. w. N. ETS Nr. 197 ; vgl. hierzu Post und Zimmermann , Menschenhandel, passim. ABIEU 2009 Nr. L 121 , S. 37; vgl. hierzu Niemeier/Walter, Kriminalistik 2010, 17 ff.
380
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung
2. Rahmenbeschluss zur Bekämpfung des Menschenhandels 25 Am 29. Juli 2002 hat der Rat auf der Grundlage des ex-Art. 31 lit. e EUV einen Rahmenbeschluss zur Bekämpfung des Menschenhandels angenommen, der am 2. August 2002 in Kraft getreten ist" . Hinweis: Der Verbesserung des Opferschutzes dient auch die Richtlinie 2004 /81/EG des Rates vom 29. April 2004 über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet wurde und die mit den zuständigen Behörden kooperieren".
a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses 26 Menschenhandel stellt nach Auffassung der Mitgliedstaaten einen schweren Verstoß gegen grundlegende Menschenrechte und die Menschenwürde dar. Sie halten es daher für erforderlich, dem schweren Straftatbestand Menschenhandel durch ein umfassendes Konzept zu begegnen, in dem die Definition der allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundelemente des Strafrechts, darunter wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen, einen festen Bestandteil bildet. b) Wesentlicher Inhalt 27 (I) Der Rahmenb eschluss legt den Mitgliedstaaten bestimmte Pönalisierungspflichten auf. Jeder Mitgliedstaat trifft nach Art. I I die erford erlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass folgende Handlungen (einschließlich Anstiftung, Beihilfe und Versuch) unter Strafe gestellt werden : Anwerbung, Beförderung, Weitergabe, Beherbergung und spätere Aufnahme einer Person , einschließlich Tausch der Kontrolle oder Weitergabe der Kontrolle über sie, wenn eine der folgenden Voraussetzungen gegeben ist: a) Anwendung oder Androhung von Gewalt oder anderen Formen der Nötigung , einschli eßlich Entführung, b) arglistige Täuschung oder Betrug, c) Missbrauch einer Machtstellung oder Ausnutzung einer Position der Schwäche, in einer Weise, dass die betroffene Person keine wirkliche und für sie annehmbare andere Möglichkeit hat, als sich dem Missbrauch zu beugen oder d) Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vergünstigungen mit dem Ziel, das Einverst ändnis einer Person zu erhalten , die die Kontrolle über eine andere Person hat, zum Zwecke der Ausbeutung der Person durch Arbeiten oder Dienstleistungen, mindestens einschließlich unter Zwang geleisteter Arbeiten oder Dienstleistungen, Sklaverei oder der Sklaverei oder der Knechtschaft ähnlichen Verhältnissen, oder zum Zwecke der Ausbeutung einer Person mittels Prostitution oder anderer Formen der sexuellen Ausbeutung einschließlich Pornographie. Nach Art. I 11 ist das Einverständnis eines Opfers von Menschenhandel zur beabsichtigten oder tatsäch46 47
ABlEG 2002 Nr. L 203, S. 1. ABlEG 2004 Nr. L 261, S. 19.
C. Felder der Strafrecht sangleichung in der Union
381
lieh vorliegenden Ausbeutung unerheblich, wenn eine der in Abs . I aufgeführten Voraussetzungen gegeben ist. Betrifft die Handlung nach Abs . I ein Kind (definiert als Person unter 18 Jahre), so ist sie auch dann als Menschenhandel unter Strafe zu stellen, wenn keine der in Art . I I lit. a-d aufgefLihrten Voraussetzungen gegeben ist (Art. 1 111). Die Strafbarkeit hängt nicht von einer grenzüberschreitenden Tatbegehung ab . (2) Nach Art . 4 hat jeder Mitgliedstaat zu gewährleisten, dass eine juristische 28 Person für eine Straftat nach Art . I und 2 verantwortlich gemacht werden kann , die zu ihren Gunsten von einer Person begangen wurde, die entweder allein oder als Teil eines Organs der juristischen Person gehandelt hat und die eine Führungsposition innerhalb der juristischen Person innehat. (3) Des Weiteren sind die Mitgliedstaaten nach Art . 3 zur Festlegung be- 29 stimmter Sanktionen verpflichtet. Jeder Mitgliedstaat hat die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass Straftaten nach den Art . I und 2 mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen geahndet werden, die zu einer Auslieferung fuhren können . Jeder Mitgliedstaat muss gewährleisten, dass Straftaten nach Art. 1 mit Freiheitsstrafen im Höchstmaß von mindestens acht Jahren geahndet werden, wenn sie unter einem der folgenden Umstände begangen wurden : a) durch die Straftat wurde das Leben des Opfers vorsätzlich oder leichtfertig gefährdet, b) Opfer der Straftat wurde eine Person, die besonders schutzbedürftig war. Eine besondere Schutzbedürftigkeit liegt auf jeden Fall vor, wenn das Opfer das Alter der sexuellen Selbstbestimmung nach nationalem Recht noch nicht erreicht hatte und die Straftat zum Zweck der Ausbeutung einer Person mittels Prostitution oder anderer Formen der sexuellen Ausbeutung einschließlich Pornographie begangen wurde, c) die Straftat wurde unter Anwendung schwerer Gewalt begangen oder dem Opfer wurde durch die Straftat ein besonders schwerer Schaden zugefügt, d) die Straftat wurde im Rahmen einer kriminellen Vereinigung gemäß der Definition in der Gemeinsamen Maßnahme 98/733/JI48 begangen.
(4) Die Mitgliedstaaten müssen nach Art . 5 dafür sorgen, dass gegen verant- 30 wortliehe juristische Person wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen verhängt werden können, zu denen strafrechtliche oder nicht strafrechtliche Geldsanktionen gehören und andere Sanktionen gehören können. (5) Für die Gerichtsbarkeit bestimmt Art . 6, dass jeder Mitgliedstaat die erfor- 31 derliehen Maßnahmen ergreift, um seine Gerichtsbarkeit in Bezug auf eine Straftat nach den Art . I und 2 in den Fällen zu begründen, in denen a) die Straftat ganz oder teilweise in seinem Hoheitsgebiet begangen wurde, b) es sich bei dem Täter um einen seiner Staatsangehörigen handelt oder c) die Straftat zugunsten einer im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats niedergelassenen juristischen Person begangen wurde.
48
ABlEG 1998 Nr. L 351, S. I.
382
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung
32 Ein Mitgliedstaat kann beschließen, dass er die Gerichtsbarkeitsbestimmungen in Art. 6 I Iit. bund c nicht oder nur in bestimmten Fällen oder unter bestimmten Umständen anwendet, wenn die Straftat außerhalb seines Hoheitsgebiets begangen wurde . Falls ein Mitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften eigene Staatsangehörige nicht ausliefert, trifft er die erforderlichen Maßnahmen, um seine Gerichtsbarkeit in Bezug auf eine Straftat nach den Art. I und 2 zu begründen und gegebenenfalls die Strafverfolgung einzuleiten, sofern die Straftat von einem seiner Staatsangehörigen außerhalb seines Hoheitsgebiets begangen wurde . Die Mitgliedstaaten müssen festlegen, dass die strafrechtlichen Ermittlungen oder die Strafverfolgung in Bezug auf Straftaten , die unter diesen Rahmenbeschluss fallen, zumindest in den Fällen, die von Art. 6 I Iit. a erfasst werden (Straftat wurde ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet begangen), nicht von einer Anzeigeerstattung des Opfers abhängen (Art . 7 I).
c) Reformbestrebungen auf Unionsebene 33 Die Kommission hat am 29. März 20 I0 einen auf Art. 82 11, 83 I AEUV gestützten Vorschlag für den Erlass einer Richtlinie zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Opferschutz sowie zur Aufhebung des Rahmenbeschluss 2002/629/JI des Rates'" vorgelegt. Um jüngsten Entwicklungen des Menschenhandels Rechnung zu tragen , soll der Begriff "Menschenhandel" weiter gefasst werden als im genannten Rahmenbeschluss. Der Richtlinienvorschlag erfasst daher zusätzliche Formen der Ausbeutung wie namentlich Betteltätigkeiten als eine Form der Zwangsarbeit oder erzwungenen Dienstleistung. Der Ausdruck "Ausnutzung strafbarer Handlungen" soll als Ausnutzung einer Person zur Begehung unter anderem von Taschendiebstahl, Ladendiebstahl und sonstigen ähnlichen Handlungen verstanden werden . Des Weiteren umfasst die Definition auch den zum Zwecke der Organentnahme begangenen Menschenhandel, der mit dem Organhandel in Zusammenhang steht. Unter Berücksichtigung der Schwere der Straftat zielt der Richtlinienvorschlag auch auf eine stärkere Angleichung der Strafen der Mitgliedstaaten und ein höheres Strafmaß ab. Ist das Opfer der Straftat beispielsweise besonders schutzwürdig und wurde die Straftat unter bestimmten Umständen begangen , soll eine strenge Strafe verhängt werden . Als besonders schutzbedürftige Personen werden zumindest alle Kinder sowie bestimmte erwachsene Personen eingestuft (Schwangere, Behinderte, Kranke) . Die Opfer von Menschenhandel sollen vor strafrechtlicher Verfolgung wegen strafbarer Handlungen wie der Verwendung falscher Dokumente oder Verstößen gegen die Prostitutions- oder Einwanderungsgesetze geschützt werden , zu denen sie als unmittelbare Folge dessen gezwungen wurden , dass sie dem Menschenhandel ausgesetzt waren .
49
KOM (2010) 95 endg .
C. Felder der Strafrechtsangleichung in der Union
383
d) Deutsches Strafrecht Im deutschen Strafgesetzbuch finden sich namentlich in §§ 232-233a, 234, 236 34 StGB einschlägige Strafbestimmungen, durch welche die von dem Rahmenbeschluss beschriebenen Handlungen (einschließlich Anstiftung, Beihilfe und Versuch) als weltweit verfolgbare Offizialdelikte erfasst werden (§ 6 Nr. 4 StGB bzgl. §§ 232-233a StGB)5o. Des Weiteren werden bestimmte Formen des Menschenhandels von § 7 I Nr. 3, 4, 7 Iit. a, 9 VStGB als Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Strafe gestellt, für die ebenfalls der Weltrechtsgrundsatz gilt (§ I VStGB). Gegen juristische Personen kann nach § 30 I OWiG eine Geldbuße verhängt werden , was nach Art . 5 des Rahmenbeschlu sses ausreicht. Falls festgestellt wird, dass für die Begehung des Menschenhandels die Einrichtung eine s Verein s genutzt wird , dessen Zwecke oder Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen, erfolgt nach § 3 VereinsG eine Verbots- und AuflösungsverfLigung durch die zuständige Behörde (Bundes- oder Landesinnenminister).
3. Rahmenbeschluss zur Bekämpfung der Kinderpornographie Der auf ex-Art. 31 lit. e EUV gestützte Rahmenbeschluss des Rates v. 22. De- 35 zember 2003 zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie'", der am 21 . Januar 2004 in Kraft getreten ist, trägt der Forderung nach Ergreifung legislativer Maßnahmen zur Bekämpfung bestimmter Formen der gegen Kinder gerichteten Kriminalität Rechnung, die im Aktionsplan des Rates und der Kommission zur bestmöglichen Umsetzung der Bestimmungen des Amsterdamer Vertrags über den Aufbau eines Raums der Freiheit , der Sicherheit und des Rechts , in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere und in der Entschließung des EP v. 11 . April 2000 erhoben wurde . Die Mitglied staaten sind sich darüber einig, dass die sexuelle Ausbeutung von Kindern und die Kinderpornographie schwere Verstöße gegen die Menschenrechte und das Grundrecht des Kindes auf eine harmoni sche Erziehung und Entwicklung darstellen. Sie halten es daher für erforderlich, der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie durch ein umfassendes Konzept zu begegnen, in dem die allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundelemente des Strafrechts mit einer möglichst breiten justiziellen Zusammenarbeit einen festen Bestandteil bilden .
a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses Der Rahmenbeschluss verpfli chtet die Mitgliedstaaten zum Erlass strafrechtlicher 36 Bestimmungen zur Bekämpfung der sexuellen Ausb eutung von Kindern und der Kinderpornographie und legt zu diesem Zweck gemeinsame Definitionen, Tatbestandsmerkmale und Sanktionen fest52.
50
51
52
Vgl. zur Umsetzung der internationalen und europarechtlichen Vorgaben in deutsches Recht S/S-Eisele, § 232 Rn. 2 ff sowie Zimmermann, Men schenh andel , passim. ABlEG 2004 Nr. L 13, S. 44. Vgl. hierzu ausführlich Böse, Schroeder-PS, S. 751 ff.
384
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung
b) Wesentlicher Inhalt 37 (I) Art. I des Rahmenbeschlusses definiert die Begriffe a) "Kind": jede Person unter achtzehn Jahren , b) "Kinderpornographie" : pornographisches Material mit bildliehen Darstellungen aa) echter Kinder , die an einer eindeutig sexuellen Handlung aktiv oder passiv beteiligt sind, einschließlich aufreizendem Zur-Schau-Stellen der Genitalien oder der Schamgegend von Kindern , bb) von echten Personen mit kindlichem Erscheinungsbild, die aktiv oder passiv an der genannten Handlung beteiligt sind, oder cc) von realistisch dargestellten, nicht echten Kindern , die aktiv oder passiv an der genannten Handlung beteiligt sind. 38 (2) Art. 2 legt den Mitgliedstaaten die Pflicht auf, Straftatbestände gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern zu schaffen. Folgende vorsätzliche Handlungen sind unter Strafe zu stellen: a) Nötigung von Kindern zur Prostitution oder zur Mitwirkung an pornographischen Darbietungen oder Gewinnerzielung durch Kinder oder sonstige Ausbeutung von Kindern zu solchen Zwecken, b) Anwerbung von Kindern zur Prostitution oder zur Mitwirkung an pornographischen Darbietungen, c) Vornahme sexueller Handlungen mit einem Kind, soweit aa) Nötigung, Gewalt oder Drohungen angewendet werden , bb) Geld oder sonstige Vergütungen oder Gegenleistungen dafür geboten werden , dass sich das Kind an den sexuellen Handlungen beteiligt, oder cc) eine anerkannte Stellung des Vertrauens, der Macht oder des Einflusses auf das Kind missbraucht wird . 39 (3) Nach Art. 3 I sind Straftatbestände gegen Kinderpomographie zu schaffen, welche folgende , widerrechtlich vorgenommene vorsätzliche Handlungen mit Strafe bedrohen, unabhängig davon , ob diese unter Verwendung eines EDV-Systems begangen wurden: a) Herstellung von Kinderpornographie, b) Vertrieb, Verbreitung und Weitergabe von Kinderpornographie, c) Anbieten oder sonstiges Zugänglichmachen von Kinderpornographie oder d) Erwerb oder Besitz von Kinderpornographie. 40 (4) Art. 3 11 eröffnet den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, festzulegen , dass die nachstehenden Handlungen im Zusammenhang mit Kinderpornographie keinen Straftatbestand erfüllen : a) Handlungen nach Art. I lit. b Ziff. bb) (betrifft echte Personen mit kindlichem Erscheinungsbild) in den Fällen, in denen die echte Person mit kindlichem Erscheinungsbild zum Zeitpunkt der Abbildung in Wirklichkeit 18 Jahre alt oder älter war, b) Handlungen nach Art. I lit. b Ziff. aa) und bb) in Fällen der Herstellung und des Besitzes , in denen die abgebildeten Kinder die sexuelle Mündigkeit er-
C. Felder der Strafrechtsangleichung in der Union
385
reicht, ihre Zustimmung zu der Herstellung und dem Besitz der Bilder gegeben haben sowie die Bilder ausschließlich zu ihrer persönlichen Verwendung bestimmt sind . Eine Zustimmung wird auch dann, wenn sie nachweislich erteilt wurde , nicht als gültig betrachtet, wenn beispielsweise höheres Alter, Reife, Stellung, Status, Erfahrung oder Abhängigkeit des Opfers vom Täter zur Einholung der Zustimmung missbraucht worden sind, c) Handlungen nach Art. I lit. b Ziff. cc) (betrifft realistisch dargestellte, nicht echte Kinder) in den Fällen, in denen feststeht , dass das pornographische Material vom Hersteller ausschließlich zu seiner persönlichen Verwendung hergestellt worden ist und sich ausschließlich zu diesem Zweck in seinem Besitz befindet, soweit zu seiner Herstellung kein pornographisches Material i. S. v. Art. I lit. b Ziff. aa) und bb) verwendet wurde und sofern mit der Handlung keine Gefahr der Verbreitung des Materials verbunden ist. (5) Nach Art. 4 I hat jeder Mitgliedstaat sicherzustellen, dass die Anstiftung oder Beihilfe zur Begehung einer Straftat nach den Art. 2 und 3 unter Strafe gesteilt wird. Des Weiteren ist gem . Art. 4 11 bereits der Versuch der Begehung einer Handlung nach Art. 2 und Art. 3 I Iit. a und b mit Strafe zu bedrohen . (6) Nach der in Art. 5 I niedergelegten Sanktionsverptlichtung hat vorbehaltlieh des Abs. 4 jeder Mitgliedstaat sicherzustellen, dass Straftaten nach den Art. 2, 3 und 4 mit Freiheitsstrafen im Höchstmaß von mindestens einem bis drei Jahren (Mindesthöchststrafen) bedroht werden . Art. 5 11 legt einen umfangreichen Katalog erschwerender Umstände dar, bei deren Vorliegen gesetzliche Mindesthöchststrafen von fünf bis zehn Jahren angedroht werden müssen . Als erschwerende Umstände nennt der Rahmenbeschluss - differenzierend nach bestimmten Taten - u. a. die Anwendung von Nötigung, Gewalt oder Drohungen, die vorsätzliche oder rücksichtIose Gefährdung des Tatopfers oder die Tatbegehung im Rahmen einer kriminellen Vereinigung. Nach Art. 5 111 müssen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass eine natürliche Person, die wegen einer Straftat nach den Art. 2, 3 oder 4 verurteilt wurde, vorübergehend oder dauerhaft daran gehindert werden kann, eine die Beaufsichtigung von Kindern einschließende berufliche Tätigkeit auszuüben. (7) Die Verantwortlichkeit juristischer Personen für die in Art. 2, 3 und 4 genannten Straftaten ist nach Maßgabe des Art. 6 sicherzustellen. Die Mitgliedstaaten haben gem . Art. 7 zu gewährleisten, dass gegen eine verantwortliche juristische Person wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Strafen verhängt werden können, die Geldstrafen und andere Sanktionen einschließen. (8) Jeder Mitgliedstaat ergreift nach Art. 8 I die erforderlichen Maßnahmen, um seine Gerichtsbarkeit in Bezug auf die im Rahmenbeschluss genannten Straftaten zu begründen , wenn diese a) ganz oder teilweise in seinem Hoheitsgebiet, b) von einem seiner Staatsangehörigen oder c) zugunsten einer in seinem Hoheitsgebiet niedergelassenen juristischen Person begangen wurden .
41
42
43
44
386
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung
45 Des Weiteren sind in Art. 8 III Maßnahmen zur Sicherstellung der Strafverfolgung bei Nichtauslieferung von Staatsangehörigen durch die Mitgliedstaaten und in Art . 9 Bestimmungen über den Schutz und die Unterstützung der Opfer vorgesehen . Die Mitgliedstaaten müssen den sich aus dem Rahmenbeschluss ergebenden Verpflichtungen bis spätestens 20. Januar 2006 nachkommen (Art. 121).
c) Reformbestrebungen auf Unionsebene 46 Die Kommission hat am 29. März 20 I 0 einen auf Art . 82 11, 83 I AEUV gestützten Vorschlag für den Erlass einer Richtlinie zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornographie und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI53 vorgelegt. Schwere Formen des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern, die derzeit nicht von den EU-Rechtsvorschriften erfasst sind , sollen unter Strafe gestellt werden. Dazu gehören die Organisation von Reisen , die mit dem Ziel der Begehung sexuellen Missbrauchs von Kindern durchgeführt werden, aber auch neue Formen des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung, die durch Informationstechnologie erleichtert werden . Die Definition der Kinderpornografie soll präzisiert und stärker an die in internationalen Instrumenten verwendete Begriffsbestimmung angeglichen werden . Das Strafmaß soll so erhöht werden, dass die Strafen verhältnismäßig, wirksam und abschreckend sind . Die Bestimmungen über die gerichtliche Zuständigkeit sollen so gefasst werden, dass Straftäter aus der EU - sowohl Staatsangehörige eines Mitgliedstaats als auch Personen mit gewöhnlichem Wohnsitz in einem Mitgliedstaat - auch dann verfolgt werden können, wenn sie die im Rahmen des sog . Kinder-Sex-Tourismus begangene Straftat außerhalb der EU begehen. Neue Opferschutzbestimmungen sollen gewährleisten, dass die Opfer von einschlägigen Straftaten leichten Zugang zu Rechtsbehelfen haben und ihre Teilnahme an Strafverfahren ihnen nicht zum Nachteil gerät. Der Richtlinienvorschlag beinhaltet auch Maßnahmen zur Unterstützung, Betreuung und zum Schutz von Opfern bei strafrechtlichen Ermittlungen und Verfahren . Die Prävention von Straftaten wie sexueller Missbrauch und sexuelle Ausbeutung von Kindern soll ausgebaut werden. Ziel des vorgeschlagenen Maßnahmenpakets ist es, Wiederholungstaten früherer Straftäter zu verhindern und den Zugang zu Kinderpomografie im Internet zu beschränken. d) Deutsches Strafrecht 47 Mit dem Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der EU zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornografle'" wurden die unionsrechtlichen Pönalisierungsverpflichtungen in deutsches Recht transferiert'". Zwar beziehen sich die §§ 176-176 b StGB, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zum Gegenstand haben , auf Personen unter 14 Jahren, während der Rahmenbeschluss den Schutz von "Kindern" auf alle Personen unter 53 54
55
KOM (2010) 94 endg . BT-Drs . 16/3439 . Vgl. hierzu S/S-Perron/Eisete , Vor §§ 174 ff. Rn. 11; Hörnte , NJW 2008, 3521 ff.
C. Felder der Strafrechtsangleichung in der Union
387
18 Jahren erstreckt (Art. I lit. a). Jedoch enthält das deutsche StGB zahlreiche Tatbestände zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, die nicht auf das Alter des Opfers abstellen (z. B. §§ 174 a-174 c, 177-179,232, 233a StGB). Für den Schutz von Personen unter 18 bzw . 16 Jahren sind ferner §§ 174, 180, 182 StGB einschlägig. Auf im Ausland von Deutschen im Rahmen des sog. Sex-Tourismus begangene Straftaten gern . §§ 176-176 b StGB und § 182 StGB findet deut sche s Strafrecht Anwendung (§ 5 Nr. 8 b StGB). Bestimmungen gegen Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographi scher bzw . jugendpornographischer Schriften sind in den umfangreichen Tatbestandskatalogen der §§ 184 b, 184 c StGB entha lten'<.
IV. Illegaler Drogenhandel
1. Anwendungsbereich Die strafrechtliche Bek ämpfung des illegalen Drogenhandels gehört seit jeher zu 48 den zentralen Zielen der Union . Bereits am 17. Dezember 1996 nahm der Rat im Rahmen der ZBJI aufgrund von Art. K.3 EUV (i . d. F. des Vertrags von Maastricht) die Gemeinsame Maßnahme 96/750 /JI betreffend die Angleichung der Recht svorschriften und der Verfahren der Mitgliedstaaten der EU zur Bekämpfung der Drogenabhäng igkeit und zur Verhütung und Bekämpfung des illegalen Drogenhandels'" an. Nach Art . I der Gemeinsamen Maßnahme " bemühen sich (die Mitgliedstaaten), ihre Rechtsvorschriften einander anzugle ichen, um sie aufeinander abzustimmen, soweit dies zur Verhütung und Bekämpfung des illegalen Drogenhandels in der Europä ischen Union erforderlich ist" . Nach Maßgabe von Art. 4 tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass " im Rahmen ihrer Rechtsordnungen die Sanktionen für schwere Delikte im Bereich des Drogenhandels zu den strengsten Strafen für vergleichbar schwere Straftaten gehören" . Des Weiteren verabs chiedete der Rat mit der Entschließung v. 20 . Dezember 49 1996 über die Ahndung von schweren Straftaten im Bereich des unerlaubten Drogenh and els'" ein weit eres Rechtsinstrument, in dem die Mitgliedstaaten aufgefordert werd en, sicherzustellen, dass "ihre nationalen Recht svorschriften für schwere Drogendelikte die Möglichkeit von Freiheitsstrafen vorsehen , die im Bereich der höchsten Freiheitsstrafen liegen , die das nationale Strafrecht für vergleichbar schwere Verbrechen vorsieht" . In ex-Art. 29 EUV wurd e die Verhütung und Bekämpfung des illegalen Dro- 50 genhandels als zentrales Unionsziel hervorgehoben . Nach ex-Art. 31 Iit. e EUV umfasst e das gemeinsame Vorgehen der Mitgli edstaaten im Bereich der PJZS auch die schrittweise Annahme von Maßnahmen zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkm ale strafbarer Handlungen und die Strafen in 56
57 58
Mit § 184 c StGß wurde dem aus dem .Kind v-Begr iff des Rahmenbeschlusses resultierenden Umsetzungsbedarf Rechung getragen; vgl. hierzu S/S-P erron/ Eisele, § 184 c Rn. I. ABlEG 1996 Nr. L 342, S. 6. ABlEG 1997 Nr. C 10, S. 3.
388
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung
dem Bereich des illegalen Drogenhandels. Demgemäß hat der Rat am 25. Oktober 2004 einen Rahmenbeschluss zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels angenornmen'", Dort findet sich eine konsensfähige Ausdeutung des Begriffs " illegaler Drogenhandel", die wesentliche Elemente der in dem UN-SuchtstoffÜbK v. 20. Dezember 198860 und in einzelstaatlichen Vorschriften enthaltenen Begriffsbestimmungen aufnimmt. Diese kann als wichtiger Ansatz zur Bestimmung des Anwendungsbereiches des Art. 81 I AEUV (ex-Art. 31 Iit. e EUV) herangezogen werden?' . 51 Dem Kriminalitätsbereich "illegaler Drogenhandel" zuzuordnen sind gern. Art. 2 I RB folgende vorsätzliche Handlungen, wenn sie ohne Berechtigung vorgenommen werden : - Gewinnen, Herstellen , Ausziehen, Zubereiten, Anbieten , Feilhalten , Verteilen, Verkaufen, Liefern - gleich zu welchen Bedingungen - , Vermitteln, Versenden - auch im Transit - , Befördern, Einfuhren oder Ausfuhren von Drogen (lit. a); - Anbauen des Opiummohns, des Kokastrauchs oder der Cannabispflanze (lit. b); - Besitzen oder Kaufen von Drogen mit dem Ziel, eine der unter Iit. a aufgeführten Handlungen vorzunehmen (lit. c); - Das Herstellen , Befördern oder Verteilen von Grundstoffen in der Kenntnis, dass sie der illegalen Erzeugung oder Herstellung von Drogen dienen (lit. d).
2. Rahmenbeschluss zur Bekämpfung des illegalen Drogenhandels 52 Der am 12. November 2004 in Kraft getretene Rahmenbeschluss zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels'< fügt sich in das von der EU seit 1990 verfolgte Konzept eines umfassenden, multidisziplinär ausgerichteten und integrierten Vorgehens zur Drogenbekämpfung ein, das sich auf vier Grundpfeiler stützt: Nachfragereduzierung, Verringerung des Angebots und Bekämpfung des illegalen Handels, internationale Zusammenarbeit sowie Koordinierung auf einzelstaatlicher und Unionsebene'".
a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses 53 Der Rahmenbeschluss beinhaltet Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale der aus Sicht des Rates strafwürdigen Handlungen im Bereich des illegalen Handels mit Drogen und Grund stoffen , um einen gemeinsamen Ansatz der strafrechtlichen Bekämpfung auf EU-Ebene zu ermöglichen. Der nunmehr angenom59 60
61
62 63
ABlEG 2004 Nr. L 335, S. 8. Vgl. das deutsche Ratifikation sgesetz v. 22. Juli 1993; BGBI. 11 1993, 1136. Vgl. hierzu Kretschmer, EVV, Art. II1-271 Rn. 10. ABlEG 2004 Nr. L 335, S. 8. Vgl. hierzu die aktualisierte Drogenbekämpfungsstrategie (2005-2012) und den hierauf beruhenden Drogenaktionsplan (2005-2008); ABlEU 2005 Nr. C 168, S. I.
C. Felder der Strafrecht sangleichung in der Union
389
mene Rechtsakt geht in seinen Pönalisierungsvorgaben inhaltlich über die Entschließung des Rates v. 20 . Dezember 1996 über die Ahndung von schweren Straftaten im Bereich des unerlaubten Drogenhandels hinaus . Dieser ist mit der Annahme des Rahmenbeschlusses obsolet geworden. Nicht hinfällig wird hingegen die Gemeinsame Maßnahme 96/750/11 v. 17. Dezember 1996 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften und der Verfahren der Mitgliedstaaten der EU zur Bekämpfung der Drogenabhängigkeit und zur Verhütung und Bekämpfung des illegalen Drogenhandels. Letztere enthält nämlich zahlreiche weiterhin bedeutsame Vorgaben für eine verst ärkte Zusammenarbeit der Poliz ei-, Zoll- und Justizbeh örden bei der Bekämpfung des illegalen Drogenhandels.
b) Wesentlicher Inhalt (I) In Art . I werden einige Zentralbegriffe des Rahmenbeschlusses ("Drogen", 54 "Grundstoffe", juristische Person ") definiert. Diese Begriffsbestimmungen schließen detailliertere Definitionen in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften nicht aus. Die Kommission hatte vorge schlagen, dass der Rahmenbeschluss keine Anwendung finden sollte auf einen Konsumenten, der Drogen zum persönlichen Gebrauch illegal produziert, erwirbt oder besitzt und den Konsumenten, der Drogen ohne Gewinnerzielungsabsicht weitergibt'". Der Rat folgte diesem Vor schlag nur insoweit, als er in Art . 2 11 best immt, dass Handlungen nach Art . 2 I Iit. a (Rn . 49) nicht in den Anwendungsbereich dieses Rahmenbeschlusses fallen , wenn die Täter sie ausschließlich für ihren persönlichen Konsum im Sinne des nationalen Rechts begangen haben . Dies stellt aber - wie in Erwägungsgrund 4 ausgeführt wird - keine Leitlinie des Rates dafür dar , wie die Mitgliedstaaten solche Fälle regeln sollen. Als tauglicher Täter erfa sst wird von dem in Art. 2 I lit. a normierten Pönali sierungsgebot somit auch , wer ohne Gewinnerzielungsabsicht Drogen an andere abgibt. Des Weiteren wird der lokale Drogenhändler erfas st, der über ein Netz von vor Ort agie renden Dealern verfügt oder an Personen verkauft, welche auf eigene Rechnung weiterverkaufen. Der Rahmenbeschluss bezieht insbesondere den grenzüberschreitenden Drog enhandel ein . Da die eingesetzten Kommunikation smittel nicht präzisiert werden (z. B. Telefon , Fax, Internet), wird auch der über die neuen Informations- und Kommunikationstechniken laufende Hand el einb ezogen. (2) Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die in Art . 2 lit. a-d beschriebenen 55 Handlungen (Rn . 49) einschli eßlich Anstiftung und Beihilfe hierzu sowi e den Versuch unter Strafe zu stellen (Art . 3 1). Von einer Pönalisierung des Versuchs des Anbietens , Zubereitens sowie des Erwerbs von Drogen könn en die Mitgliedstaaten nach eigenem Ermessen absehen (Art . 3 11). (3) Die Mitgliedstaaten haben nach Art . 4 I sicherzustellen , dass die in 56 den Art . 2 und 3 genannten Straftaten mit wirk samen , verh ältni smäßigen und abschreckenden strafrechtl ichen Sanktionen bedroht sind. Straftaten i. S. d. Art. 2 sind mit Freiheitsstrafen im Höchstmaß von mindestens einem bis drei Jahren zu ahnden . Für Straftaten i. S. d. Art . 2, die eine große Menge von Drogen oder 64
ABlEG 2001 Nr. C 304 E, S. 172 ff.
390
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung
die gesundheitsschädlichsten Drogen betreffen oder bei mehreren Personen zu schweren Gesundheitsschäden geführt haben , muss im nationalen Recht eine Mindesthöchststrafe von fünf bis zehn Jahren angedroht werden (Art . 4 11). Werden die genannten Straftaten im Rahmen einer kriminellen Vereinigung gemäß der Definition in der GM 98/733 /JI v. 21 . Dezember 199865 begangen, sind Mindesthöchststrafen von zehn Jahren vorzusehen (Art . 4 111). Ferner muss die Einziehung der Substanzen, die Gegenstand des illegalen Drogenhandels waren , der Tatwerkzeuge und Vermögensgegenstände sowie der direkt oder indirekt durch den Handel erzielten Erträge oder Vorteile ermöglicht werden (Art . 4 V). 57 (4) Nach Art . 5 können die die erforderlichen Maßnahmen zu treffen , um die in Art . 4 genannten Strafen zu mildern, wenn sich der Straftäter von seinen kriminellen Aktivitäten lossagt und den zuständigen Behörden zu Ermittlungs- oder Beweiserhebungszwecken sachdienliche Hinweise über die Identität anderer Straftäter liefert oder zur Identifizierung von Drogennetzen beiträgt. 58 (5) Die Verantwortlichkeit juristischer Personen für die in Art. 2 und 3 genannten Straftaten ist nach Maßgabe der Art. 6 und 7 sicherzustellen. Die Mitgliedstaaten haben zu gewährleisten, dass gegen eine verantwortliche juristische Person wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Strafen verhängt werden können , die Geldstrafen und andere, insbesondere folgende Sanktionen einschließen : a) Ausschluss von steuerlichen oder sonstigen Vorteilen oder öffentlichen Zuwendungen, b) vorübergehendes oder ständiges Verbot der Ausübung einer gewerblichen Tätigkeit, c) richterliche Aufsicht, d) richterlich angeordnete Auflösung, e) vorübergehende oder endgültige Schließung von Einrichtungen, die zur Begehung der Straftat genutzt wurden, 1) Einziehung von Vermögensgegenständen, die der Straftat entstammen, sowie von Erträgen und Vorteilen, die direkt oder indirekt durch die Straftat erzielt werden .
59
(6) Jeder Mitgliedstaat ergreift nach Art . 8 I die erforderlichen Maßnahmen, um seine Gerichtsbarkeit in Bezug auf die in Art . 2 und 3 genannten Straftaten zu begründen, wenn diese a) ganz oder teilweise in seinem Hoheitsgebiet, b) von einem seiner Staatsangehörigen oder c) zugunsten einer in seinem Hoheitsgebiet niedergelassenen juristischen Person begangen wurden .
65
ABlEG 1998Nr. L 351, S. I.
C. Felder der Strafrechtsangleichung in der Union
391
c) Deutsches Strafrecht Den in Art. 2--4 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Mindestbestrafungsver- 60 ptlichtungen trägt das geltende deutsche Strafrecht vollumfänglich Rechnung. Der umfangreiche Tatkatalog der §§ 29-30a BtMG66 ermöglicht eine tlächendeckende und lückenlose Erfassung der verschiedensten Tatbegehungsweisen'". So wird in § 29 I Nr. I BtMG - dem Grundtatbestand des deutschen Betäubungsmittelstrafrechts - der unerlaubte Verkauf und Handel mit Drogen unter Strafandrohung gesteilt. Qualifikationen (Verbrechenstatbestände) sind in §§ 29 a I, 30 I, 30 a I, 11 BtMG normiert. Anbau , Produktion, Herstellung, Einfuhr, Ausfuhr, Verteilung, Anbieten und Verbringung von Drogen ohne Genehmigung werden von § 29 I Nr. I BtMG , besonders schwere Fälle dieser Tathandlungen von § 29 111 Nr. I, 2 BtMG erfasst. Ebenfalls strafbar gern. § 29 I Nr. I BtmG sind der ungenehmigte Empfang oder Kauf von Betäubungsmitteln ("Erwerben" oder "Sichverschaffen in sonstiger Weise"). Der bloße Besitz von Betäubungsmitteln stellt - ohne dass eine Absicht zur Gewinnerzielung oder Weitergabe vorliegen muss - gern. § 29 I Nr. 3 BtMG eine Straftat dar, wenn der Besitzer über keine schriftliche Erlaubnis für den Erwerb von Betäubungsmitteln verfugt. Der Versuch von Taten gern. § 29 I Nr. I BtMG ist gern. § 29 11 BtMG strafbar ("versuchter Besitz" ist als " versuchtes Erwerben oder Sichverschaffen" von §§ 29 I Nr. I, 11 BtMG erfasst). Für Täterschaft und Teilnahme gelten die allgemeinen Regeln (§§ 25-27 StGB). Die im Katalog des § 29 I Nr . 1-14 BtMG geregelten Handlungen sind mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bedroht, was mit den Rahmenbeschlussvorgaben des Art . 4 lohne weiteres vereinbar ist. Auch den in Art . 4 li-IV des Rahmenbeschlusses aufgeführten erschwerenden 61 Umständen, die mit einer erhöhten Mindesthöchststrafe von fünf bis zehn Jahre Freiheitsstrafe zu bedrohen sind , trägt das geltende deutsche Strafrecht Rechnung: Fälle, in denen ein Bezug zur organisierten Kriminalität besteht, werden von §§ 30 I Nr . I, 30 a I BtMG erfasst. Ergänzend ist auf § 129 StGB , § 30 b BtMG hinzuweisen. Wenn die Straftat unter Anwendung von Gewalt begangen wurde, liegt ein besonders schwerer Fall gern. § 29 111 S. I BtMG vor (vgl. auch § 29 111 S. 2 Nr. 2 BtMG). Bei Einsatz von Schusswaffen oder gefährlichen Gegenständen greift § 30 a 11 Nr. 2 BtMG ein. Wenn in die Straftat Minderjährige oder Personen , die nicht ihren Willen ausüben können involviert werden , liegt zumindest ein besonders schwerer Fall gern. § 29 111 S. I BtMG vor, wenn nicht sogar §§ 29 a I Nr. I, 30 a 11 Nr. I BtMG Anwendung finden'". Wird die Straftat innerhalb oder in der Nähe von Schulen, Aufenthaltsorten und Freizeiteinrichtungen für Jugendliche oder Einrichtungen zur Behandlung und Wiedereingliederung von Drogenabhängigen begangen, ist ein besonders schwerer Fall gern. § 29 111 I BtMG anzunehmen'". Das Gleiche gilt , wenn es sich bei den Tätern um Ärzte, Apotheker, Justiz-, Polizei- oder Zollbeamte, Beamte von Justizvollzugsanstalten oder Diensten zur 66
67 68
69
Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln i. d. F. v. I. März 1994 (ßGB!. I 1994,358. Vg!. hierzu die umfassende Kommentierung von Körner, ßtMG. Körner, ßtMG, § 29 Rn. 1570. Körner, ßtMG, § 29 Rn. 1563.
392
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung
sozialen Wiedereingliederung, Lehrer, Erzieher oder um in Bildungseinrichtungen tätige Personen, die sich ihre berufliche Stellung zur Begehung der Straftat zunutze gemacht haben?". Wenn der Täter im Ausland wegen einer oder mehrerer vergleichbarerer Straftaten rechtskräftig verurteilt wurde, so stellt dies einen von dem Tatgericht nach § 46 11 StGB zu berücksichtigenden, strafschärfend ins Gewicht fallenden Strafzumessungsgrund dar" . 62 Der nach Art . 5 RB vorzusehenden Strafmilderungsmöglichkeit für "kooperative Täter" trägt das deutsche Recht zum einen durch § 31 BtMG Rechnung, der bei bestimmten Taten gern. § 29 BtMG unter gewissen Voraussetzungen ein Absehen von Strafe oder eine Strafmilderung erlaubt". Aber auch wenn die Voraussetzungen des § 31 BtMG nicht vorliegen, kann die Aufklärungsbereitschaft des Täters bei der Strafzumessung zugunsten des Täters ins Gewicht fallen" . 63 Nach Maßgabe des § 33 I BtMG sind die Bestimmungen über den erweiterten Verfall (§ 73 d StGB) anzuwenden . Somit sind etwaige Gewinne, die im Rahmen der Betäubungsmittelkriminalität erzielt wurden, abzusch öpfen". Die bußgeldrechtliche Haftungjuristischer Personen folgt aus § 30 OWiG.
V. Geldwäsche 1. Anwendungsbereich 64 Art . 83 I AEUV weist der Union eine originäre Strafrechtsangleichungskompetenz in dem Bereich der Geldwäschekriminalität zu . Diese tritt neben die strafrechtliche Annexkompetenz (Art . 83 11 AEUV), von der die frühere EG bereits mehrfach Gebrauch gemacht hat (§ 8 Rn. 11 ff.) . Der unionsrechtliche Mindeststandard der Geldwäschestratbarkeit wird maßgeblich durch die 3. GeldwRL v. 26 . Oktober 2005 (§ 8 Rn. I, 17 ff.) vorgezeichnet.
2. Rahmenbeschluss zur Bekämpfung der Geldwäsche 65 Mit einer Reihe weiterer Initiativen verfolgten die Mitgliedstaaten das Ziel , dem organisierten Verbrechen seinen größten Anreiz, die Erzielung von Erträgen , zu nehmen . Die Gemeinsame Maßnahme v, 3. Dezember 1998 über Geldwäsche, die Ermittlung, das Einfrieren, die Beschlagnahme und die Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten beschränkte die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Vorbehalte zu bestimmten Vorschriften des Geldwäscheübereinkommens geltend zu machen und verbessert die Zusammenarbeit bei der Einziehung von Vermögensgegenständen. Der am 6. Juli 2001 in Kraft getretene Rahmenbeschluss des Rates v, 26. Juni 2001 über Geldwäsche sowie Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme und Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträ70 71 72
73
74
Körner , ßtMG, § 29 Fischer, § 46 Rn. 38 Körner, BtMG , § 31 Fischer, § 46 Rn. 65 Körner, BtMG , § 33
Rn. 1569. a. Rn. 8 ff., 43 ff. m. w. N. Rn. 61 m. w. N .
C. Felder der Strafrecht sangleichung in der Union
393
gen aus Straftaten" reformierte und effektivierte diese Maßnahme. Des Weiteren enthält das am 16. Oktober 2001 verabschiedete Protokoll zum EU-Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen v, 29. Mai 200076 spezifische Regelungen zur Erleichterung der Rechtshilfe bei der Bekämpfung der Geldwäschekriminalität. Hierzu gehört insbesondere die Bearbeitung von Auskunftsersuchen zu Bankkonten und Bankgeschäften zwischen den Mitgliedstaaten. Das Protokoll sieht vor, dass Rechtshilfe nicht mehr unter Berufung auf das Bankgeheimnis oder auf die fiskalische bzw . politi sche Natur eines Delikts verweigert werden darf. Mangels Ratifikation durch alle Mitgli edstaaten noch nicht in Kraft getreten ist das am 19. Juni 1997 beschlossene Zweite Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der EG zur Bekämpfung der Geldw äsche " , dem die Bundesrepublik Deutschland durch das Vertragsgesetz v. 21 . Oktober 2002 78 zugestimmt hat.
a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses Die Geldwäsche als " Herzstück der organisierten Kriminalität" soll von den Mit- 66 gliedstaaten mit aller Entschlossenhe it bekämpft werden . In den Erwägungsgründen des Rahmenbeschusses ruft der Europä ische Rat die Mitgliedstaaten deshalb dazu auf, die materiellen und die formellen Strafrechtsbestimmungen zur Geldwäsche (insbesondere zum Einziehen von Vermögensgegenständen) einander anzunähern. Vor allem soll das Spektrum der kriminellen Aktivitäten , die als Vortaten strafbarer Geldwäsche angesehen werden, in allen Mitgliedstaaten einheitlich und hinreichend weit gefasst sein . Die Regelungen des Rahmenbeschlusses knüpfen an die strafrechtl ichen Vorgaben des Geldwäscheübereinkommens des Europarats v. 8. November 1990 an und zielen darauf ab, die in den Mitgliedstaaten bereits ergriffenen Umsetzungsmaßnahmen zu effektivieren" : b) Wesentlicher Inhalt (I) Das Recht der Mitgliedstaaten, Vorbehalte zu den strafrechtl ichen Vorgaben 67 des Geldwäscheübereinkommens von 1990 geltend zu machen oder aufrecht zu erhalten, wird nach Art. 1 noch weiter eingeschränkt als die s in der Gemeinsamen Maßnahme v. 3. Dezember 1998 geregelt ist. (2) Nach Art . 2 hat jeder Mitgliedstaat in Kohärenz mit seinem Strafensystem 68 die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen , dass die in Art . 6 I Iit. a und b des GeldwÜbk von 1990 genannten schweren Straftaten, wie sie sich aus Art . I lit. b diese s Rahmenbeschlusses ergeben, mit Freiheitsstrafen belegt werden können , die im Höchstmaß nicht unter vier Jahren liegen dürfen . 75
76 77
78 79
ABlEG 2001 Nr. L 182, S. I. ABlEG 200 I Nr. C 326, S. I. ABlEG 1997 Nr. C 221, S. 12. BGB!. 2002 11 ,2722. Vg!. hierzu die rechtsvergleichenden Ausführungen zur Geldwäschestrafbarkeit in den EU-Mitgliedstaaten von Ambos, ZStW 114 (2002), S. 236, 240 ff. sowie Gentzik, Europäisierung des Geldwäschestrafrechts, S. 59 ff.
394
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung
69 (3) Art. 3 fuhrt die sog. "Wertersatzstrafe" ein. Jeder Mitgliedstaat muss gewährleisten, dass seine Rechts- und Verfahrensvorschriften über die Einziehung von Erträgen aus Straftaten, mindestens in den Fällen, in denen ein Zugriff auf diese Erträge nicht möglich ist, auch die Einziehung von Vermögensgegenständen ermöglichen, deren Wert dem Wert dieser Erträge entspricht. Dies gilt sowohl in rein innerstaatlichen Verfahren als auch in Verfahren, die auf Ersuchen eines anderen Mitgliedstaats einschließlich der Ersuchen um Vollstreckung ausländischer Einziehungsentscheidungen eingeleitet werden . Die Mitgliedstaaten können jedoch die Einziehung von Vermögensgegenständen, deren Wert den Erträgen aus Straftaten entspricht, in den Fällen ausnehmen, in denen dieser Wert unter € 4 000 .- liegen würde.
c) Deutsches Strafrecht 70 In Erfüllung der von Deutschland übernommenen Verpflichtungen aus dem UNSuchtstoffÜbK v. 20. Dezember 1988 (§ 5 Rn. 8), dem GeldwÜbK des Europarats v. 8. November 1990 (§ 3 Rn. 14) und der I. GeldwRL v. 10. Juni 1991 (§ 8 Rn. I) schuf der deutsche Gesetzgeber durch das Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität v. 15. Juli 199280 den Straftatbestand der Geldwäsche (§ 261 StGB) . Seitdem wurde der Tatbestand - im Wesentlichen bedingt durch die Erweiterung des Vortatenkatalogs als auch durch dessen Anpassung an geänderte Bezugsstraftatbestände - mehrfach geändert" . § 261 StGB zielt darauf ab, das Einschleusen von Vermögensgegenständen aus organisierter Kriminalität (OK) und verwandten Erscheinungsformen in den legalen Finanz- und Wirtschaftskreislauf zum Zwecke der Tarnung zu verhindern" . Die Strafverfolgungsbehörden sollen in die Lage versetzt werden , die "Geld- bzw. Papierspur" (paper-trail) illegaler Finanzströme aufnehmen, in die Strukturen der OK eindringen und deren Nerv durch Entziehung ihrer Gewinne treffen zu können . Obwohl die Bekämpfung der OK Anlass zur Schaffung des Geldwäschetatbestandes war, reicht der in § 261 StGB enthaltene Katalog geldwäscherelevanter Vortaten inzwischen weit über die Straftaten hinaus , die der OK zuzurechnen sind. Ergänzt wird § 261 StGB durch das Gesetz über das Aufspüren von Gewinnen aus schweren Straftaten (GwG) v. 13. August 2008 83 • Es statuiert u. a. für Kredit- und Finanzinstitute, Rechtsanwälte, Notare , Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Immobilienmakler bei Begründung einer Geschäftsbeziehung sowie bei außerhalb einer solchen durchgeführten Finanztransaktionen ab € 15000 .-, für Spielbanken beim Kauf oder Verkauf von Spielmarken ab € 2000.- Identifizierungs-, Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflichten. Bei geldwäscheverdächtigen Transaktionen besteht eine von der Höhe der Transaktionssumme losgelöste Identifizierungs- und Anzeigepflicht. Außerdem müssen bestimmte Unternehmen interne Sicherungsvorkehrungen treffen, um 80 81
82 83
BGB!. 1 1992, 1302. Fisch er, § 261 Rn. I; MüKoStGBINeuh euser, § 261 Rn. 17 ff. BT-Drs . 12/989 , S. 26; BGHSt 50,347,354; S/S-Stree/H ecker , § 261 Rn.2. BGB!. I 2008 , 1690.
C. Felder der Strafrecht sangleichung in der Union
395
nicht zur Geldwäsche missbraucht werden zu können . Der Geldwäschetatbestand ist auch in Zusammenschau mit den Vorschriften über den erweiterten Verfall (§§ 261 VII S. 2, 73 d StGB) zu sehen . Die Verfallsvorschriften dienen der Abschöpfung illegal en Vermögens aus dem Wirtschaftskreislauf. Ist der Verfall eines bestimmten Gegenstandes nach der Tat ganz oder teilweise unmöglich geworden, ordnet das Gericht den Verfall eines Geldbetrages an, der dem Wert des Erlangten entspricht (vgl. §§ 73 d 11, 73 a, 73 b StGB)84 Damit erfüllt das deutsche Recht auch die in Art. 3 des Rahmenbeschlu sses niedergelegte Forderung nach Einführung einer " Wertersatzstrafe".
VI. Korruption
1. Anwendungsbereich Aktivitäten zur Korruptionsbekämpfung stehen bereits seit vielen Jahren auf der 71 Agenda internationaler Organisationen (vgl. zu den Maßnahmen der UN, OECD, des Europarates und der früheren 3. Säule der EU § 5 Rn. 6, 13 ff., 22, 67). In Anlehnung an die Begriffsbestimmungen des Europaratsübereinkommens gegen Korruption'" umfasst das Kriminalitätsphänomen "Korruption" folgende vorsätzliche Handlungen, die zur Konkretisierung der in Art. 83 I AEUV enthaltenen Strafrechtsangleichungskompetenz herangezogen werden können : (I) Amtsträgerbestechung: das Versprechen, Anbieten oder Gewähren eines ungerechtfertigten Vorteils an einen in- oder ausländischen Amtsträger (einschließlich "internationaler Beamter") für diesen selbst oder für einen Dritten als Gegenlei stung dafür , dass er bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben eine Handlung vornimmt oder unterlässt; (2) Amtsträgerbestechlichkeit: das Fordern oder Annehmen eines ungerechtfertigten Vorteil s oder das Annehmen des Angebots oder Versprechens eines solchen Vorteil s durch einen in- oder ausländischen Amtsträger (einschließlich "internationaler Beamter") für ihn selbst oder einen Dritten als Gegenleistung dafür , dass er bei der Wahrn ehmung seiner Aufgaben eine Handlung vorn immt oder unterlässt ; (3) Bestechung im privaten Sektor: das im Rahmen einer Gesch äftstätigkeit erfolgende Versprechen, Anbieten oder Gewähren eines ungerechtfertigten Vorteils an eine Person, die ein Unternehmen im privat en Sektor leitet oder für ein solches tätig ist, für diese selbst oder für einen Dritten als Gegenleistung dafür , dass sie unter Verletzung ihrer Pflichten eine Handlung vornimmt oder unterlässt ; (4) Bestechlichkeit im privaten Sektor: Das im Rahmen einer Geschäftstätigkeit erfolgende Fordern oder Annehmen eines ungerechtfertigten Vorteils oder das Annehmen des Angebots oder Versprechens eines solchen Vorte ils durch eine Person, die ein Unternehmen im privaten Sektor leitet oder für ein solche s tätig ist, für sie selbst oder einen Dritten als Gegenleistung dafür , dass sie unter Verletzung ihrer Pflichten eine Handlung vornimmt oder unterlässt. 84 85
Vgl. hierzu Podolsky, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 26. Kap. Rn. 46 ff. ETS Nr. 173 mit seinem Zusatzprotokoll v. 15. Mai 2003 (ETS Nr. 191).
396
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung
2. Rahmenbeschluss zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor 72 Ex-Art. 29 EUV erklärte die Verhütung und Bekämpfung von Bestechung und Bestechlichkeit ausdrücklich zu einem Ziel der EU86. Durch den am 1. August 2003 in Kraft getretenen Rahmenbeschluss des Rates v. 22. Juli 2003 zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor"? wurden die bisher auf internationaler Ebene eingesetzten Instrumente ergänzt. Der Rahmenbeschluss ersetzt die Gemeinsame Maßnahme 98/42/J1 v. 22 . Dezember 1998 (ZB1I) betreffend die Bestechung im privaten Sektor" .
a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses 73
Nach Auffassung des Rates gefährdet die Bestechung im öffentlichen und privaten Bereich die Rechtstreue der Gesellschaft, verzerrt den Wettbewerb im Zusammenhang mit der Beschaffung von Waren oder gewerblichen Leistungen und hemmt eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung. Mit dem Rahmenbeschluss soll insbesondere sichergestellt werden, dass die Korruption im privaten Sektor in allen Mitgliedstaaten unter Strafe gestellt wird, juristische Personen für diese Straftaten haftbar gemacht werden können und die zu verhängenden Strafen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sind .
b) Wesentlicher Inhalt 74 (I) Art . I definiert die Begriffe ,juristische Person" und " Pflichtverletzung". In Art . 2 und 3 werden den Mitgliedstaaten Pönalisierungspflichten auferlegt. Jeder Mitgliedstaat muss sicherstellen, dass folgende vorsätzliche Handlungen (einschließlich Beihilfe und Anstiftung) Straftaten darstellen, wenn sie im Rahmen von Geschäftsvorgängen ausgeführt werden : a) Handlungen, bei denen jemand unmittelbar oder über einen Mittelsmann einer Person, die für ein Unternehmen im privaten Sektor in leitender oder sonstiger Stellung tätig ist, einen unbilligen Vorteil für diese Person selbst oder für einen Dritten verspricht, anbietet oder gewährt, damit diese Person unter Verletzung ihrer Pflichten eine Handlung vornimmt oder unterlässt (Bestechung im privaten Sektor), b) Handlungen, bei denen jemand, der in einem Unternehmen im privaten Sektor in leitender oder sonstiger Stellung tätig ist, unmittelbar oder über einen Mittelsmann für sich oder einen Dritten einen unbilligen Vorteil als Gegenleistung dafür fordert, annimmt oder sich versprechen lässt, dass er unter Verletzung seiner Pflichten eine Handlung vornimmt oder unterlässt (Bestechlichkeit im privaten Sektor).
86 87
88
Hetzer , NJW 2004, 3746 ff. ; Wolf, NJW 2006, 2735 ff. ABlEG 2003 Nr. L 192, S. 54; vgl. hierzu Ligeti, Strafrecht in der EU, S. 319 ff. ABlEG 1998 Nr. L 358, 2.
C. Felder der Strafrecht sangleichung in der Union
397
Diese Verpflichtung gilt für Geschäftsvorgänge in Unternehmen mit oder ohne 75 Erwerbszweck (Art . 2 11). Den Mitgliedstaaten wird gestattet, dass sie den Geltungsbereich von Art. 2 I auf Handlungen beschränken, die im Zusammenhang mit der Beschaffung von Waren oder gewerblichen Leistungen eine Wettbewerbsverzerrung zur Folge haben oder haben können (Art. 2 111). (2) Nach Art. 4 I muss jeder Mitgliedstaat gewährleisten, dass die in Art. 2 76 und 3 genannten Handlungen mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen geahndet werden . Die in Art. 2 genannten Handlungen sind mit einer Mindesthöchststrafe zwischen einem Jahr und drei Jahren Freiheitsstrafe zu bedrohen (Art. 4 11). Des Weiteren hat nach Art. 4 111 jeder Mitgliedstaat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften und Grundsätzen die erforderlichen Maßnahmen zu treffen , um sicherzustellen, dass einer natürlichen Person, die im Zusammenhang mit einer bestimmten Geschäftstätigkeit wegen der in Art. 2 genannten Handlungen verurteilt worden ist, - zumindest dann, wenn sie im Rahmen der betreffenden Geschäftstätigkeit in einem Unternehmen eine Führungsposition innehatte - die weitere Ausübung dieser oder einer vergleichbaren Geschäftstätigkeit in einer ähnlichen Position oder Eigenschaft vorübergehend untersagt werden kann, wenn der festgestellte Sachverhalt eindeutig auf das Risiko schließen lässt, dass die betreffende Person ihre Position oder Tätigkeit für Bestechung oder Bestechlichkeit missbrauchen könnte . Die Verantwortlichkeit juristischer Personen und ihre Sanktionierung richten sich nach Art. 5 und 6. (3) Jeder Mitgliedstaat trifft nach Art. 7 die erforderlichen Maßnahmen, um 77 seine Zuständigkeit für die stratbaren Handlungen nach den Art. 2 und 3 in den Fällen zu begründen, in denen die Straftat a) ganz oder teilweise in seinem Hoheitsgebiet begangen wurde , b) von einem seiner Staatsangehörigen begangen wurde oder c) zugunsten einer juristischen Person begangen wurde , die ihren Sitz im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats hat.
c) Deutsches Strafrecht Den sich aus dem Rahmenbeschluss ergebenden Pönalisierungs- und Sanktionie- 78 rungsverpflichtungen trägt das deutsche Recht vollumfänglich Rechnung. Die durch Art. 1 Nr. 3 des KorrBG v. 13. August 199789 geschaffene Stratbestimmung des § 299 StGB erfasst die Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr. Eine Erweiterung ihres tatbestandliehen Anwendungsbereiches auf Handlungen im ausländischen Wettbewerb (§ 299 111 StGB) erfolgte durch Gesetz v. 22. August 2002 zur AusfLihrung der Gemeinsamen Maßnahme betreffend die Bestechung im privaten Sektor v. 22. Dezember 19989 § 299 StGB beschränkt die Stratbarkeit - nach Art. 2 111 rahmenbeschlusskonform - auf Handlungen, die im Zusammenhang mit der Beschaffung von Waren oder gewerblichen Leistungen eine Wettbewerbsverzerrung zur Folge haben oder haben können .
°.
89 90
Korruption sbekämpfungsgesetz (KorrB G) v. 13. August 1997 (BGB!. I 1997,2038). BGB!. I 2002, 3387.
398
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung
VII. Fälschung von Zahlungsmitteln 1. Anwendungsbereich 79 Gegenstand möglicher Harmonisierungsmaßnahmen ist nach Art . 83 I AEUV der mit "Fälschung von Zahlungsmitteln" umschriebene Kriminalitätsbereich . Erfasst sind somit insbesondere betrügerische Angriffe auf den Zahlungsverkehr. " Ge ld" ist im Lichte des Genfer Abkommens zur Bekämpfung der Falschmünzerei v, 20. April 1929 jedes vom Staat oder einer von ihm ermächtigten Stelle'" als Wertträger beglaubigte und zum Umlauf im öffentlichen Verkehr bestimmte Zahlungsmittel (Banknoten und Münzen), ohne Rücksicht auf einen allgemeinen Annahrnezwang'<, "Sonstige Zahlungsinstrumente" sind solche, die aufgrund ihrer besonderen Beschaffenheit allein oder in Verbindung mit einem anderen Zahlungsinstrument den Inhaber/Benutzer in die Lage versetzen, Geld oder einen monetären Wert zu übertragen (Rn . 91) .
2. Rahmenbeschluss I zum strafrechtlichen Schutz des Euro 80 Bereits an anderer Stelle wurde darauf hingewiesen, dass der Rat mit seiner Ver-
ordnung (EG) Nr. 974 /98 v. 3. Mai 1998 über die Einführung des Euro'" lediglich auf die Notwendigkeit eines " angemessenen Schutzes des Euro vor Fälschungen" hingewiesen und den von der Kommission geforderten kriminalstrafrechtlichen Anweisungen eine Absage erteilt hat (§ 8 Rn. 21 ff.). Der Rat zog es vor, von dem Instrument des Rahmenbeschlusses Gebrauch zu machen . Durch den auf der Grundlage des ex-Art. 31 Iit. e EUV angenommenen Rahmenbeschluss des Rates v. 29. Mai 2000 über die Verstärkung des mit strafrechtlichen und anderen Sanktionen bewehrten Schutzes gegen Geldflilschung im Hinblick auf die Einführung des Euro?', der am 30. Mai 2000 in Kraft trat, wurden die Mitgliedstaaten verpflichtet, alle Fälschungshandlungen einschließlich des (grenzüberschreitenden) Inverkehrbringens strafrechtlich zu erfassen'".
a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses 81 Durch eine Angleichung der mitgliedstaatliehen Straftatbestände soll gewährleistet werden, dass der Euro in allen Mitgliedstaaten (auch in denjenigen, in denen der Euro nicht eingefLihrt wurde) wirksam geschützt wird.
91 92
93 94 95
Beim Euro ist dies die EZB. S/S-Sternberg-Lieben , § 146 Rn. 2 m. w. N. ABlEG 1998 Nr. L 139, S. 1. ABl EG 2000 Nr. L 140, S. 1. Vgl. hierzu v. BubnojJ, ZEuS 2001,165,175 .
C. Felder der Strafrechtsangleichung in der Union
399
b) Wesentlicher Inhalt (I) Nach Art. 3 sind folgenden Verhaltensweisen (einschließlich der Anstiftung 82 und mit Ausnahme von Buchstabe d des Versuchs) mit Strafe zu bedrohen : a) betrügerische Fälschung oder Verfälschung von Geld , b) betrügerisches Inumlaufbringen von falschem oder verfälschtem Geld , c) Einführen, Ausführen, Transportieren, Annehmen oder Sichverschaffen vonfalschem oder verfälschtem Geld in Kenntnis der Fälschung und in der Absicht , es in Umlaufzu bringen, d) betrügerisches Anfertigen, Annehmen, Sichverschaffen oder Besitzen von Gerätschaften, Gegenständen, Computerprogrammen und anderen Mitteln , die ihrer Beschaffenheit nach zur Fälschung oder Verfälschung von Geld besonders geeignet sind bzw. von Hologrammen oder anderen der Sicherung gegen Fälschung dienenden Bestandteilen von Geld . (2) Die Geldfälschungsdelikte sind nach Art . 6 mit wirksamen, angemessenen 83 und abschreckenden strafrechtlichen Sanktionen zu bedrohen, die auch Freiheitsstrafen umfassen, welche zu einer Auslieferung führen können . Das betrügerische Fälschen oder Vermischen von Geld i. S. d. Art . 3 I lit. a ist mit Freiheitsstrafe zu bedrohen, die im Höchstmaß mindestens acht Jahre beträgt. (3) Die Verantwortlichkeit juristischer Personen und die vorzu sehenden 84 Sanktionen sind in Art . 8 und 9 des Rahmenbeschlusses geregelt. (4) Nach den in Art . 7 enthaltenen Regelungen zur Gerichtsbarkeit und Straf- 85 verfolgung sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um ihre gerichtliche Zuständigkeit zu begründen, wenn die Falschgelddelikte ganz oder teilwei se in ihrem Hoheit sgebiet begangen wurden . Zumindest die Mitgliedstaaten, in denen der Euro eingeführt worden ist, treffen geeignete Maßnahmen, um sicherzustellen , dass zumindest die Fälschung des Euro unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Straftäters und vom Tatort verfolgt werden kann . Steht mehreren Mitgliedstaaten die Gerichtsbarkeit zu und haben sie die Möglichkeit, eine Straftat, die auf denselben Tatsachen beruht, wirksam zu verfolgen , so arbeiten die betreffenden Mitgliedstaaten zusammen, um darüber zu entscheiden, welcher von ihnen den oder die Straftäter verfolgt, um die Strafverfolgung nach Möglichkeit in einem einzigen Mitgliedstaat zu kon zentrieren.
c) Deutsches Strafrecht Die deut sche Rechtsordnung trägt den Strafbarkeits- und Sanktionsvorgaben des 86 Rahmenbeschlu sses durch die auf den strafrechtl ichen Schutz des Euro anwendbaren §§ 146, 147, 149 StGB vollumfänglich Rechnung'". Einer Gesetze sänderung bedurfte es hierfür nicht , da die bestehenden Strafgesetze einer union srechtskonformen Auslegung zugänglich sind, die der bereits aus dem Loyalitätsgebot (Art . 4 II1 EU; ex-Art. 10 EGV) abzuleitenden Pflicht Rechnung trägt, den Schutz des Euro durch wirksame, abschreckende und verh ältnismäßige Sanktionsandrohungen
96
Vgl. hierzu MüK oStGB /Erb, Vor §§ 146 ff. Rn. 23; Vogel, ZRP 2002 ,7 ff.
400
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung
zu schützen. Die deutsche Strafgewalt erstreckt sich gern . § 6 Nr. 7 StGB auch auf Geldfälschungen, die im Ausland begangen werden .
3. Rahmenbeschluss 11 und Beschluss über den Schutz des Euro vor Fälschungen 87 Durch den Rahmenbeschluss des Rates v. 6. Dezember 2001 zur Änderung des Rahmenbeschlusses 2000/383/JI über die Verstärkung des mit strafrechtlichen und anderen Sanktionen bewehrten Schutzes gegen Geldfälschung im Hinblick auf die Einführung des Euro (Rahmenbeschluss 11)97 wird der oben (Rn . 80 ff.) behandelte Rahmenbeschluss I um eine Vorschrift über die Rückfälligkeit von Straftätern ergänzt, die bereits in einem anderen Mitgliedstaat wegen eines Geldfälschungsdelikts rechtskräftig abgeurteilt worden sind . 88 Der Rahmenbeschluss 11 bestimmt, dass in Rahmenbeschluss I folgender Art . 9 a einzufügen ist: "Jeder Mitgliedstaat erkennt den Grundsatz der Rückfälligkeit gemäß seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften an und erkennt gemäß seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften an, dass Rückfälligkeit gegeben ist, wenn wegen einer der Straftatbestände nach den Art . 3-5 dieses Rahmenbeschlusses oder wegen einer der Straftatbestände nach Art . 3 des Abkommens bereits rechtskräftige Urteile in einem anderen Mitgliedstaat ergangen sind , und zwar unabhängig davon , welche Währung gefälscht wurde." Diese Regelung kann sich z. B. dahingehend auswirken, dass ein bereits in einem anderen Mitgliedstaat wegen Geldfälschung rechtskräftig verurteilter Straftäter, der sich wegen einer in Deutschland erstmalig begangen Tat gern. § 146 StGB vor einem deutschen Gericht zu verantworten hat , als Rückfalltäter i. S. d. Art . 9 a Rahmenbeschluss I strenger zu bestrafen ist als ein Ersttäter. Zu denken ist aber auch an die Möglichkeit des Widerrufs einer in Deutschland verhängten Bewährungsstrafe, wenn der Verurteilte in einem anderen Mitgliedstaat in einschlägiger Weise straffällig geworden und damit auch in Deutschland als Rückfalltäter anzusehen ist.
4. Rahmenbeschluss zum strafrechtlichen Schutz bargeldloser Zahlungsmittel 89 Mit dem am 3. Juni 200 I in Kraft getretenen Rahmenbeschluss v. 28. Mai 2001 zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln'" ergänzt der Rat entsprechende Aktivitäten verschiedener internationaler Organisationen.
a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses 90 Nach Auffassung des Rates erfordern die Schwere und wachsende Bedeutung bestimmter Formen des Betrugs mit unbaren Zahlungsmitteln unionsweite strafrechtliche Maßnahmen. Der Rahmenbeschluss soll deshalb den strafrechtlichen 97 98
ABlEG 2001 Nr. L 329, S. 3. ABlEG 2001 Nr. L 149, S. 4.
C. Felder der Strafrechtsangleichung in der Union
401
Schutz sog. "Zahlungsinstrumente" in allen Mitgliedstaaten gewährleisten. Der Begriff des .Z ahlungsinstruments'' wird in Art. I des Rahmenbeschlusses definiert als ein körperliches Instrument, das aufgrund seiner besonderen Beschaffenheit allein oder in Verbindung mit einem anderen Zahlungsinstrument den Inhaber/Benutzer in die Lage versetzt, Geld oder einen monetären Wert zu übertragen, wie bspw . Kreditkarten, Euroscheckkarten oder andere von Finanzinstituten herausgegebene Karten, Reiseschecks, Euroschecks, andere Schecks und Wechsel, die beispielsweise durch ihr Design , eine Kodierung oder eine Unterschrift gegen Fälschung oder betrügerische Verwendung geschützt sind.
b) Wesentlicher Inhalt (I) Der Rahmenbeschlusses erstellt in Art. 2 einen Katalog verschiedener Verhal- 91 tensweisen, die in allen Mitgliedstaaten als Straftaten einzustufen sind . Bei den Handlungen wird danach unterschieden, ob sie das Zahlungs instrument selbst betreffen oder die Herstellung desselben, ob sich die Tat auf ein Zahlungsgeschäft oder mehrere Zahlungsgeschäfte richtet oder aber auf die Schritte der Auftragserteilung, der Einziehung des Betrags , der Bearbeitung, Verrechnung und Leistung der Zahlung. Im Einzelnen geht es um folgende vorsätzliche Verhaltensweisen, die zumindest hinsichtlich Kreditkarten, Euroscheckkarten, andere von Finanzinstituten herausgegebene Karten, Reiseschecks, Euroschecks, andere Schecks und Wechsel unter Strafe gestellt werden müssen : a) Diebstahl oder eine andere widerrechtliche Aneignung eines Zahlungsinstruments, b) Fälschung oder Verfäl schung eines Zahlungsinstruments zum Zwecke betrügerischer Verwendung, c) Annehmen, Sichverschaffen, Tran sportieren, Verkauf oder Weitergabe an eine andere Person oder Besitz von gestohlenen oder in anderer Weise widerrechtlich angee igneten oder ge- oder verfälschten Zahlungsinstrumenten zum Zwecke betrügerischer Verwendung, d) betrügerische Verwendung von gestohlenen oder in anderer Weise widerrechtli ch ange eigneten oder ge- oder verfälschten Zahlungsinstrumenten.
(2) Von der Pönalisierungsptlicht erfas st werden nach Art. 3 auch die Ausführung 92 oder Veranlassung einer Übertragung von Geld oder monetären Werten , durch die einer anderen Person ein unzulässiger Vermögensverlust entsteht, mit der Absicht, dem Zuwiderhandelnden oder einem Dritten einen unzulässigen Vermögensvorteil zu verschaffen durch : a) unrechtm äßige Eingabe, Veränderung , Löschung oder Unterdrückung von Computerdaten, insbesondere von Identifikationsdaten oder b) unrechtmäßiges Eingreifen in den Ablauf eines Computerprogramms oder den Betrieb eines Computersystem s. (3) Ferner hat jeder Mitgliedstaat nach Art. 4 sicherzustellen, dass die folgenden 93 Verhaltensweisen Straftaten darstellen, wenn sie vorsätzlich begangen wurden : betrügerisches Anfertigen, Annehmen, Sichverschaffen, Verkaufen, Weitergeben
402
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung
an eine andere Person oder Besitzen von Gerätschaften, Gegenständen, Computerprogrammen und anderen Mitteln , die ihrer Beschaffenheit nach zur Begehung der in Art. 2 Iit. b beschriebenen Straftaten besonders geeignet sind bzw. von Computerprogrammen, deren Zweck die Begehung einer in Art. 3 beschriebenen Straftaten ist. Es handelt sich hierbei um typische Vorbereitungshandlungen zu den in Art. 2 lit. bund 3 aufgeführten Tathandlungen. 94 (4) Die Teilnahme an oder die Anstiftung zu den in Art. 2, 3 und 4 genannten Handlungen oder der Versuch zur Begehung der in Art. 2 lit. a, bund d und in Art. 3 genannten Handlungen ist unter Strafandrohung zu stellen . 95 (5) Die Mitgliedstaaten haben nach Art. 6-8 für diese Straftaten wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen gegen natürliche bzw. juristische Personen vorzusehen, die zumindest in schweren Fällen auch Freiheitsstrafen einschließen. Regelungen über die Gerichtsbarkeit finden sich in Art. 9 I.
c) Deutsches Strafrecht 96 Alle in Art. 2--4 des Rahmenbeschlusses bezeichneten Handlungen sind nach deutschem Recht unter Strafe gestellt und mit rahmenbeschlusskonformen Sanktionen bedroht" . Der Umsetzung des Rahmenbeschlusses dienen insbesondere die neu gefassten §§ 152 a, 152 b StGBlOo. In Betracht kommen §§ 242 ff., 246 StGB für Handlungen nach Art. 2 lit. a (Diebstahl oder andere widerrechtliche Aneignung eines Zahlungsinstruments); §§ 267 ff. StGB , § 151 Nr. 5 StGB i. V. m. §§ 146, 147, 149 StGB , §§ 152 a I Nr. I, 152 b StGB für Handlungen nach Art. 2 Iit. b (Fälschung oder Verfälschung eines Zahlungsinstruments zum Zwecke betrügerischer Verwendung); §§ 259 ff., 152 a I Nr. 2 StGB für Handlungen nach Art. 2 lit. c (Annehmen, Sichverschaffen, Transportieren, Verkauf oder Weitergabe an eine andere Person oder Besitz von gestohlenen oder in anderer Weise widerrechtlich angeeigneten oder ge- oder verfälschten Zahlungsinstrumenten zum Zwecke betrügerischer Verwendung); §§ 263 , 263 a, 152 a I Nr. 2, 266 b StGB für Handlungen nach Art. 2 Iit. d (betrügerische Verwendung von gestohlenen oder in anderer Weise widerrechtlich angeeigneten oder ge- oder verfälschten Zahlungsinstrumenten). Die in Art. 3 genannten Handlungen (Datenmanipulationen und Einwirken auf den Ablauf eines Computerprogramms) werden von §§ 263 a, 303 a, 303 b, 269 , 274 I Nr. 2 StGB erfasst. Vorbereitungshandlungen der in Art. 4 beschriebenen Art (betrügerisches Anfertigen, Annehmen, Sichverschaffen , Verkaufen, Weitergeben an eine andere Person oder Besitzen von Gerätschaften, Gegenständen, Computerprogrammen und anderen Mitteln , die ihrer Beschaffenheit nach zur Begehung der in Art. 2 Iit. b beschriebenen Straftaten besonders geeignet sind) können nach § 152 a I Nr. 2 StGB i. V. m. § 149 I StGB sowie als strafbare Beihilfe zu den oben aufgefLihrten Urkunden-, Fälschungs- und Computerdelikten strafbar sein. Gegen juristische Personen kann nach Maßgabe des § 30 OWiG ein Bußgeld verhängt werden . 99 100
Vgl. hierzu Husemann , NJW 2004, 104 ff. 35. StÄO v. 22. Dezember 2003 (ßOßI. I 2003, S. 2838); vgl. hierzu Heger, ZIS 2008, 496 ff. ; S/S-Sternberg-Li eben, § 152 a Rn. 1.
C. Felder der Strafrechtsangleichung in der Union
403
VIII. Computerkriminalität 1. Anwendungsbereich Die Entwicklung der Computer- und Informationstechnologie hat in den letzten 97 Jahrzehnten zu grundlegenden Veränderungen in Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft und im privaten Bereich geführt'?' . Elektronische Kommunikationsnetze und Informationssysteme sind mittlerweile ein fester Bestandteil des Alltags der Bürger und zudem von grundlegender Bedeutung für den nationalen und internationalen Geschäftsverkehr. Netze und Informationssysteme wachsen zusammen und werden immer enger miteinander verknüpft. Neben zahlreichen Vorteilen bieten die eingesetzten Informationssysteme zugleich eine vielfältige und breite Angriffsfläche für Manipulationen und schädliche Einwirkungen aller Art. Zur Computerkrimin alität ("Cyber Crime") gehören alle Kriminalitätsph änomene, die unmittelbar oder mittelbar im Zusammenhang mit der elektronischen Datenverarbeitung stehen und unter Einbeziehung einer EDV-Anlage (als Tatmittel und/oder Tatobjekt) begangen werden' ?". Hierzu zählen namentlich die folgenden Erscheinungsformen : Computerspionage: unberechtigtes Eindringen in fremde Rechner und Ausforschung fremder Daten ("Hacking"), Computersabotage: Beschädigung oder Vernichtung von Daten; Computermanipulation : Datenveränderung mit dem Ziel, das Ergebnis eines Datenverarbeitungsvorganges zu beeinflussen, Unberechtigte Nutzung von Computern, Programmen, Datenübertragungseinrichtungen und unbefugte Verwertung von Programmen. Da elektronische Informationen in Sekundenbruchteilen jederzeit von einem Ort 98 der Welt an einen beliebigen anderen übertragen werden können , ist die Schaffung eines international einheitlichen Mindeststandards zum Schutz der offenen Informationsgesellschaft unverzichtbar. Unterschiedliche nationale Gesetzgebungen zur Bekämpfung der Computerkriminalität führen unweigerlich zur Bildung "sicherer Häfen", von denen aus strafwürdige Praktiken ohne Stratbarkeitsrisiko begangen werden können . Bestrebungen einer internationalen Harmonisierung des Informationsrechts gibt es bereit s auf der Ebene der UN, G8-Staaten, OECD, des Europarats und der EG. So beschreibt die Cyber-Crime-Konvention des Europarats v. 23. November 2001 103 einige Tathandlungen, die innerstaatlich unter Strafe gestellt werd en sollen und regelt zugleich einig e strafprozessuale Fragen.
101 102
103
Vgl. hierzu Bär, Wirtschafts- und Steu erstrafrecht , 12. Kap. Rn. I. Vgl. hierzu Bär, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht , 12. Kap. Rn. 6; v. Bubnofl, ZE uS 2001, 165, 185 f.; Dannecker, BB 1996, 1285; f1ilgendorj, JuS 1996,509 C; Sieber, CR 1995, 100. ETS Nr. 185; vgl. hierzu Ambos, Int StR , § 10 Rn. 71; Hilgendorf. Harmonisierung de s Intemetstrafrechts, S. 257, 268 ff
404
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung
2. Rahmenbeschluss über Angriffe auf Informationssysteme 99 Nach Auffassung des Rates bedrohen Angriffe auf Informationssysteme das Ziel des Aufbaus einer sichereren Informationsgesellschaft und eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Es fänden nachweislich - insbesondere im Rahmen der organisierten Kriminalität - Angriffe auf Informationssysteme statt und es wachse die Furcht vor Terroranschlägen auf Informationssysteme, die Teil der kritischen Infrastruktur der Mitgliedstaaten seien. Die Bekämpfung der organisierten Kriminalität und des Terrorismus würden durch beträchtliche Unterschiede und Diskrepanzen zwi schen den einschlägigen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten behindert, was eine wirksame polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit erschwere. Da Angriffe auf Informationssysteme häufig eine grenzüberschreitende Dimension annehmen würden , bestehe ein dringender Bedarf an Maßnahmen zur Angleichung der einschlägigen Strafrechtsvorschriften. Der Rat hat vor dem Hintergrund dieser Lageeinschätzung am 24 . Februar 2005 den Rahmenbeschluss über Angriffe auf Informationssysteme'?" angenommen . Der am 16. März 2005 in Kraft getretene Rahmenbeschluss geht zu weiten Teilen über die Cyber-CrimeKonvention des Europarats hinaus.
a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses 100 Mit dem vorliegenden Rahmenbeschluss so" innerhalb der EU eine stärkere Recht sangleichung herbeigeführt werden , als dies bisher in anderen internationalen Foren möglich war. Die von internationalen Organisationen und insbesondere vom Europarat geleisteten Arbeiten zur Angleichung des Strafrechts sowie die Arbeiten der G8-Staaten zum Thema grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Bereich der High-Tech-Kriminalität sollen durch einen gemeinsamen Ansatz der EU für diesen Bereich ergänzt werden. Durch eine Mindestangleichung des materiellen Rechts im Bereich der Computerkriminalität soll sichergestellt werden , dass alle Formen schwerwiegender Angriffe auf Informationssysteme mit Hilfe der nach dem Strafrecht verfügbaren Techniken und Methoden aufgeklärt, verfolgt und geahndet werden können . Auf diese Weise soll eine hohe Abschreckungswirkung erzielt und die für die internationale Rechtshilfe erforderliche beiderseitige Straf- und Verfolgbarkeit gewährleistet werdent'". b) Wesentlicher Inhalt 101 (I) Art . I des Rahmenbeschlusses präzisiert durch Definitionen zentrale Begriffe des Rechtsaktes. Der Terminus "Informationssystem" (Art . I lit. a) wird weit gefasst , um dem Zusammenwachsen der elektronischen Netze und der unterschiedlichen über sie verbundenen Systeme Rechnung zu tragen . Er umfas st daher Personal Computer (PC) und elektronische Kommunikationsnetze ("Internet") sowie die von ihnen zum Zweck des Betriebs, der Nutzung, des Schutzes und der Pflege gespeicherten, verarbeiteten oder übertragenen Computerdaten. 104 105
AB1EU 2005 Nr. L 69, S. 67. Vgl. hierzu Hilgendorf. Harmon isierung des Intemetstrafrecht s, S. 257, 271 ff.
C. Felder der Strafrechtsangleichung in der Union
405
(2) Nach Art. 2 I ("rechtswidriger Zugang zu Informationssystemen") haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass der vorsätzliche und unbefugte Zugang zu einem Informationssystem oder einem Teil eines Informationssystems zumindest dann unter Strafe gestellt wird, wenn kein leichter Fall vorliegt. Auch die Beihilfe bzw . Anstiftung zur Begehung einer solchen Tat sowie der Versuch sind strafrechtlich zu erfa ssen (Art . 5 I, 11). Die mitgliedstaatliche Pönali sierungsptlicht wird jedoch wie folgt relativiert. Art. 2 11 gestattet den Mitgliedstaaten zu bestimmen , dass Handlungen nach Art . 2 I nur geahndet werden , sofern sie durch eine Verletzung von Sicherheitsrnaßnahmen erfolgen. Auch darf nach Art . 5 III jeder Mitgliedstaat davon absehen, den Versuch einer in Art. 2 I beschri ebenen Tat unter Strafe zu stellen . Zu den typischen Angriffsformen, auf deren strafrechtliche Bekämpfung Art. 2 I abzielt, gehört das ,,Hacking''1 06. Hierunter versteht man Handlungen, die darauf gerichtet sind, sich unberechtigt Zugang zu einem Computer oder einem Computernetz zu verschaffen. Hacking kann auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen, z. B. durch bloße Ausnutzung von Insider-Informationen oder Abfangen von Passwörtern. Häufig geschieht dies in der böswilligen Absicht, Daten zu kopieren, zu verändern oder zu zerstören. Der unbefugte Zugriff kann auch darauf abzielen, Webseiten zu korrumpieren oder sich unentgeltlich Zugang zu zugangskontrollierten Diensten zu verschaffen . Zuweilen geht es dem Hacker aber auch nur darum , durch bloßes " Knacken" eines Codes seine technischen Fertigkeiten unter Beweis zu stellen , ohne weitergehende Ziele (unbefugte Datenverwendung) zu verfolgen . (3) Nach Art. 3 ("rechtswidriger Systemeingriff') sind die nachstehenden vorsätzlichen und unbefugten Handlungen (gern . Art . 5 I, 11 einschließlich Beihilfe, Anstiftung und Versuch) zumindest dann unter Strafe zu stellen , wenn kein leichter Fall vorliegt: schwere Behinderung oder Störung des Betriebs eines Informationssystems durch Eingeben, Übermitteln, Besch ädigen , Löschen , Verstümmeln, Verändern , Unterdrücken oder Unzug änglichmachen von Computerdaten . (4) Nach Art. 4 ("rechtswidriger Eingriff in Daten") ist das vorsätzliche und unbefugte Löschen , Verstümmeln, Ver ändern , Unterdrücken oder Unzugänglichmachen von Computerdaten eines Informationssystem s (gern . Art . 5 I, 11 einschließlich Beihilfe , Anstiftung und Versuch) zumindest dann unter Strafe zu steilen, wenn kein leichter Fall vorliegt. Die Möglichkeiten, Informationssysteme durch böswill ige Angriffe zu stören , sind äußerst vielfältig'?", Eine der bekanntesten Möglichkeiten, die im Intern et angebotenen Dienste zu blockieren oder anzugreifen, ist der "DeniaI of Service"Angriff (vergleichbar mit einer Blockade eines Faxgerätes durch lange , wiederholte Nachrichten). Mit .Denial of Service"-Attacken wird versucht, Web-Server oder Anbieter von Internetdiensten (ISP) mit automati sch erzeugten Nachrichten zu überlasten. Andere Angriffsformen sind beispielsweise die Störung von Servern, die das System der Bereichsnamen (DNS) betreiben, und Angriffe auf Router . Eine weit verbreitete Form der Computersabotage ist der Einsatz von Soft106 107
Vgl. hierzu Schnabi, wistra 2004 , 211, 212 . Vgl. hierzu Bä r , Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 12. Kap. Rn. 58 ff.
102
103
104
105
406
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung
ware, die Daten verändert oder zerstört ("Computerviren" bzw. "Computerwür-
mer"), Einige Programme (häufig als .Jogische Bomben" bezeichnet) "schlum-
mern" so lange, bis sie durch ein Ereignis (wie etwa ein bestimmtes Datum) aktiviert werden und dann Daten verändern oder löschen. Andere , auf den ersten Blick gutartige Programme lösen bei Aufruf bösartige Angriffe aus (daher die Bezeichnung "Troj anische Pferde") . Eine weitere Variante sind (häufig als "Würmer" bezeichnete) Programme, die im Gegensatz zu einem Virus nicht andere Programme infizieren , sondern sich selbst kopieren . Die Kopien kopieren sich immer weiter und überschwemmen so letztendlich das gesamte System mit nicht selten schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgeschäden für die hiervon betroffenen Betreiber des Informationssystems. 106 (5) Die Mitgliedstaaten sind nach Art. 6 I verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die in Art. 2 bis 5 beschriebenen Straftaten mit wirksamen , verhältnismäßigen und abschreckenden Strafen bedrohen zu können . Für Straftaten i. S. d. Art. 3 und 4 sind gern. Art. 6 11 Freiheitsstrafen im Höchstmaß von mindestens einem bis drei Jahren vorzusehen . Wenn Handlungen i. S. d. Art. 2 11,3 und 4 im Rahmen einer kriminellen Vereinigung gemäß der Definition in der Gemeinsamen Maßnahme 98/733/JI v. 21. Dezember 1998 betreffend die Strafbarkeit der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union'P" begangen wurden , ist dies gern. Art. 7 I als erschwerender Umstand zu werten, für den Mindesthöchststrafen von zwei bis fünf Jahren anzudrohen sind . Nach Art. 7 11 können die Mitgliedstaaten eine entsprechend erhöhte Strafandrohung auch für solche Straftaten i. S. d. Art. 2 11, 3 und 4 anordnen , durch die schwere Schäden verursacht oder wesentliche Interessen beeinträchtigt wurden . Zu denken ist in diesem Zusammenhang insbesondere an Fälle, in denen einer natürlichen Person direkt oder indirekt ein erheblicher wirtschaftlicher Verlust zugefügt oder ein Teil der kritischen Infrastruktur des Mitgliedstaates erheblich beschädigt wurde . 107 (6) Art. 8 und 9 regeln die Verantwortlichkeit und Sanktionierung von juristischen Personen. Jeder Mitgliedstaat muss nach Art. 10 I dafür sorgen , dass seine Verfolgungszuständigkeit für strafbare Handlungen nach den Art. 2 bis 5 in den Fällen begründet ist, sofern diese a) ganz oder teilweise in seinem Hoheitsgebiet oder b) von einem seiner eigenen Staatsangehörigen oder c) zugunsten einer juristischen Personen, deren Hauptsitz sich im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaates befindet, begangen wurden . Bei der Begründung der Zuständigkeit gemäß Art. 10 I lit. a muss jeder Mitgliedstaat sicherstellen, dass sich diese auch auf Fälle erstreckt, in denen : a) der Täter die Straftat begeht, während er sich physisch im Hoheitsgebiet dieses Staates aufhält , unabhängig davon , ob sich die Straftat gegen ein Informationssystem in seinem Hoheitsgebiet richtet, oder
108
ABlEG 1998 Nr. L 351, S. I.
C. Felder der Strafrechtsangleichung in der Union
407
b) sich die Straftat gegen ein Informationssystem in seinem Hoheitsgebiet richtet, unabhängig davon, ob der Täter die Straftat begeht, während er sich physisch im Hoheitsgebiet dieses Staates aufhält. Art. 10 IV gibt den Mitgliedstaaten im Falle einer Mehrfachverfolgungszustän- 108 digkeit auf, gemeinsam zu entscheiden, welcher von ihnen die Strafverfolgung gegen den Täter vornimmt, um das Verfahren nach Möglichkeit auf einen Mitgliedstaat zu konzentrieren . Diese Regelung zielt darauf ab, Jurisdiktionskontlikte zu vermeiden.
c) Deutsches Strafrecht Spezielle Straftatbestände zur Bekämpfung der Computerkriminalität wurden in 109 der Bundesrepublik Deutschland bereits im Jahre 1986 durch das Zweite Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (2. WiKG)109 geschaffen (insbesondere §§ 202 a, 263 a, 269 , 270 , 271 , 303 a, 303 b, 348 StGB) . Der Gesetzgeber zog damit die legislatorischen Konsequenzen aus der Erkenntnis, dass die "klassischen " Straftatbestände (z. B. §§ 267 , 263, 303 StGB) nicht ausreichen, um die neuen Kriminalitätsphänomene angemessen zu bek ämpfen'!". Der von dem Rahmenbeschluss in Art . 2-5 geforderten Pönalisierung des rechtswidrigen Zugangs zu bzw. Eingriffs in Informationssysteme(n) und Daten trägt das deutsche Strafrecht bei kursorischer Betrachtung vollumfänglich Rechnung!" , zumal § 202 a StGB ("Ausspähen von Daten") durch das 41. StrÄG den unionsrechtlichen Vorgaben angepasst wurde, um Fälle des "Hacking" in Form eines unbefugten Eindringens in fremde Dateien oder Datenübermittlungsvorgänge zu erfassen, dessen ausschließlicher Zweck in der Überwindung einer Zugangssicherung besteht'F. § 202 b StGB erfasst das unbefugte Kopieren von Daten oder Programmen so- 110 wie die Ausbeutung von Datenbeständen durch Spionage ("Datendiebstahl")113. Daten wirtschaftlicher Unternehmen sind im Übrigen , soweit es sich um Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse handelt, von § 17 11 Nr. I UWG114 gesch ütztr". § 17111 UWG stellt auch - wie von Art . 5 I gefordert - den Versuch unter Strafe . Sabotagehandlungen der in Art . 3 und 4 ("rechtswidriger Eingriff in Informa- lll tionssysteme bzw. in Daten") umschriebenen Art werden von mehreren einschlägigen Straftatbeständen erfasst!". Das rechtswidrige Löschen , Unterdrücken, Unbrauchbarmachen oder Verändern von Daten (Software) ist strafbar gern. § 303 a StGB. Richtet sich diese Tat gegen eine Datenverarbeitung, die für einen anderen Zweites Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität - 2. WiKG - v. 15. Mai 1986 (BGBI. I 1986, 721) . 110 Vgl. hierzu Möhrenschlager, wistra 1986, 128 ff.; Tiedemann , JZ 1986, 865, 867 f. 111 Vgl. hierzu den Überblick über typ ische Tathandlungen und die hierauf anwendbaren Straftatbestände bei Bär, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 12. Kap . Rn. 6 f. 112 Fischer, § 202 a Rn. 10 ff.; 5/5- Lenckner/Eisele , § 202 a Rn. I, 10. 113 5/5- Eisele, § 202 b Rn. 7; Fischer, § 202 b Rn. 5. 114 Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb i. d. F. v. 3. März 20 I0 (BGBI. I 2010, 254). 115 Vgl. hierzu Bär, Wirt schafts- und Steuerstrafrecht, 12. Kap . Rn. 95 ff., 99 ff. 116 Vgl. hierzu Bär, Wirt schafts- und Steuerstrafrecht, 12. Kap . Rn. 56 ff. 109
408
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung
bzw. einen fremden Betrieb, ein fremdes Unternehmen oder eine Behörde von wesentlicher Bedeutung ist, so greift als Qualifikationstatbestand § 303 b I Nr. I , 11 StGB ein . Bei Zerstörung oder Beschädigung von Hardware kommt ein qualifizierter Fall der Sachbeschädigung gern . § 303 b I Nr. 2 StGB in Betracht. Daneben können Manipulationen bei der Dateneingabe - je nach Fallgestaltung - gern . §§ 263 a, 269 , 270 , 274 I Nr. 2 StGB stratbar sein!". Werden Computerdelikte der oben beschriebenen Art aus einer kriminellen Vereinigung heraus begangen, findet § 129 I StGB Anwendung. Die Haftung und Sanktionierungjuristischer Personen ergibt sich aus § 30 OWiG.
IX. Organisierte Kriminalität
1. Anwendungsbereich 112 Als Gegenstand einer möglichen Strafrechtsangleichung benennt Art . 83 I UA 2 AEUV wie bereits ex-Art. 31 Iit. e EUV explizit den Bereich der "Organisierten Kriminalität" (OK). Zwar fehlt es bislang an einer allseits anerkannten Definition dieses Begriffes. Gewisse Konturen erhält er jedoch dadurch, dass es sich bei den der OK zuzurechnenden Taten jedenfalls um solche handeln muss , die typischerweise planvoll und arbeitsteilig von mehreren organisatorisch verbundenen Personen begangen werden . Als Interpretationshilfe für die Bestimmung des Organisationsgrades kann die Gemeinsame Maßnahme betreffend die Strafbarkeit der kriminellen Vereinigung v. 21. Dezember 1998 118 herangezogen werden, an dem sich auch der am 11. November 2008 in Kraft getretene Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität v. 24 . Oktober 2008 orientiert (Rn . 113). Zu den nach Art . 83 I AEUV unter dem Aspekt der Zugehörigkeit zur OK artgleichungsfähigen Delikten gehören neben den Organisations- und Bandendelikten im engeren Sinne auch solche Stratbestimmungen, bei denen ein organisiertes Zusammenwirken mehrerer Täter zwar kein Tatbestandsmerkmal ist, die jedoch typischerweise in organisierter Form begangen werden . Beispiele hierfür sind das Herstellen und Inverkehrbringen von Falschgeld, der Menschenhandel, die Geldwäsche sowie die Schleuserkriminalität - alles Straftaten, die in der Regel unter Einsatz technischer, logistischer, finanzieller und personeller Mittel im Rahmen einer arbeitsteilig agierenden Organisation begangen werden . In den drei erstgenannten Kriminalitätsbereichen besteht, da sie in Art . 83 I UA 2 AEUV explizit aufgeführt werden, ohnehin eine originäre Strafrechtsangleichungskompetenz der Union .
117 118
Vgl. hierzu Bär , Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 12. Kap. Rn. 15 ff., 31 ff. ; 40 ff ABlEG 1998 Nr. L 351, S. I.
C. Felder der Strafrechtsangleichung in der Union
409
2. Rahmenbeschluss zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität Am 11 . November 2008 ist der auf der Grundlage des ex- Art . 31 lit. e EUV erlas- 113 sene Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität v. 24 . Oktober 2008 in Kraft getreten!",
a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses Der Rahmenbeschluss zielt auf eine Angleichung der Definitionen der Straftaten 114 ab, die im Zusammenhang mit der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung begangen werden . Hierdurch soll die gegenseitige Anerkennung von Urteilen und gerichtlichen Entsche idungen sowie die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit erleichtert werden . b) Wesentlicher Inhalt (I) Unter einer kriminellen Vereinigung ist gern. Art . I Nr. 1 ein auf längere 115 Dauer angelegter Zusammenschluss von mehr als zwe i Personen zu verstehen, die mit dem Ziel der Erlangung materieller Vorteile in Verabredung handeln, um Straftaten zu begehen, die mit einer Mindesthöchststrafe von vier Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind . (2) Nach Art . 2 trifft jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßn ahm en, um ei- 116 ne oder beide der folgenden Verhaltensweisen im Zusammenhang mit einer kriminellen Vereinigung als Straftatbestände zu bewerten: a) das Verhalten einer Person , die sich vorsätzlich und in Kenntnis entweder des Ziels und der allgemeinen Tätigkeit der kriminellen Vereinigung oder der Absicht der Vereinigung, die betreffenden Straftaten zu begehen, aktiv an den krimin ellen Tätigkeiten der Vereinigung beteiligt, einschließlich durch Bereitstellung von Informationen oder materiellen Mitteln, Anwerbung neuer Mitglieder oder durch jegliche Art der Finanzierung der Tätigkeiten der Vereinigung, und sich bewusst ist, dass diese Beteiligung zur Durchführung der kriminellen Tätigkeiten der Vereinigung beiträgt ; b) das Verhalten einer Person, das darin besteht, mit einer oder mehreren Personen eine Vereinbarung über die Ausübung einer Tätigkeit zu treffen, die, falls durchgeführt, der Begehung von in Artikel I genannten Straftaten gleichkäme - auch wenn diese Person nicht an der tats ächlichen Durchführung der Tätigkeit beteiligt ist. (3) Art . 3 I fordert, dass die in Art . 2 genannten Straftaten mit einer Freiheits- 117 strafe im Höchstmaß von mindestens zwei bis fünf Jahren bedroht werden . Nach Art . 3 11 haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass die Tatsache, dass die von diesem Mitgliedstaat festgelegten Straftaten nach Artikel 2 im Rahmen einer kriminellen Vereinigung begangen wurden, als erschwerender Umstand betrachtet werden kann . 119
ABIEU 2008 Nr. L 300, S. 42.
410
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung
118 (4) Art. 5 und 6 regelt die Verantwortlichkeit und Sanktionierung von juristischen Personen. Bestimmungen zur Gerichtszuständigkeit und Koordinierung der Strafverfolgung finden sich in Art. 7 I-IV.
c) Deutsches Strafrecht 119 Der Pönalisierungsvorgabe des Art. 2 lit. b trägt das deutsche Recht in § 129 StGB (Bildung krimineller Vereinigungen) Rechnung. Verhaltensweisen i. S. d. Art. 2 lit. a werden von den Bandendelikten (z. B. 244 I Nr. 2, 244 a, 250 I Nr. 2, 260 I Nr. 2, 260 a, 261 I, IV, 267 I, III Nr. I StGB) erfasst, für die rahmenbeschlusskonforme Strafen vorgesehen sind . Die Beteiligung an diesen Delikten ist nach den allgemeinen Regeln (§§ 26, 27 StGB) strafbar.
3. Rahmenbeschluss zur Bekämpfung der Schleuserkriminalität 120 Durch den auf ex-Art . 31 lit. e EUV gestützten Rahmenbeschluss v. 28. November 2002 betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt'?", der am 6. Dezember 2002 in Kraft getreten ist, werden die Gemeinsamen Maßnahmen gegen Menschenhandel durch spezifische Maßnahmen gegen Schleuserkriminalität ergänzt. Der Rahmenbeschluss füllt die in der Richtlinie 2002 /90/EG des Rates v. 28. November 2002 zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt'" enthaltenen Vorgaben zur Sanktionierung der dort näher beschriebenen Erscheinungsformen des Schleuserwesens aus. Nach Art. I I S. 3 der Richtlinie 2002 /90/EG hat jeder Mitgliedstaat wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen für Täter festzulegen, die a) einer Person, die nicht Angehörige eines Mitgliedstaates ist, vorsätzlich dabei helfen, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates über die Einreise oder die Durchreise von Ausländern einzureisen oder durch dessen Hoheitsgebiet zu reisen, b) einer Person, die nicht Angehörige eines Mitgliedstaats ist, zu Gewinnzwecken vorsätzlich dabei helfen , sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates über den Aufenthalt von Ausländern aufzuhalten. 121 Auch die Anstiftung und Beihilfe zu diesen Taten sowie der Versuch einer solchen Tat sind unter Sanktionsandrohung zu stellen (Art . 2). Jeder Mitgliedstaat kann beschließen, wegen der in Art. I I lit. a beschriebenen Handlungen in Anwendung seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften und Rechtspraktiken keine Sanktionen zu verhängen, wenn das Ziel der Handlungen die humanitäre Unterstützung der betroffenen Person ist (Art . I 11). 120 121
ABlEG 2002 Nr. L 328, S. 1. ABlEG 2002 Nr. L 328, S. 17.
C. Felder der Strafrecht sangleichung in der Union
411
a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses Der Rahmenbeschluss legt die Mitgliedstaaten darauf fest, die in Art. 1 I S. 2 der 122 Richtlinie 2002 /90/EG definierten Formen der Schleuserkriminalität (Beihilfe zur illegalen Einwanderung) mit kriminalstrafrechtlichen Mitteln zu bekämpfen , wenn diese den unerlaubten Grenzübertritt im engeren Sinne betrifft oder wenn ein Netzwerk zur Ausbeutung von Menschen unterhalten wird . b) Wesentlicher Inhalt (I) Nach Art. I I des Rahmenbeschlusses hat jeder Mitgliedstaat sicherzustellen, 123 dass die in den Art. I und 2 der Richtlinie 2002 /90/EG beschriebenen Handlungen mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen bedroht sind, die zu einer Auslieferung fuhren können . Gegebenenfalls können neben den in Art. 1 I genannten Strafen noch folgende Maßnahmen ergriffen werden : - Einziehung des Verkehrsmittels, das zur Begehung der strafbaren Handlung benutzt wurde , - Verbot , unmittelbar oder über Dritte die berufliche Tätigkeit auszuüben, in deren Rahmen die strafbare Handlung begangen wurde , - Abschiebung. (2) Jeder Mitglied staat muss nach Art. 1 111 darüber hinaus gew ährlei sten, dass die 124 Handlungen nach Art. I lit. a der Richtlinie 2002 /90/EG und, soweit relevant, die Handlungen nach Art. 2 lit. a, sofern sie zu Gewinnzwecken begangen werden , mit Freiheitsstrafen im Höchstmaß von mindestens acht Jahren bedroht sind, wenn sie unter einem der folgenden Umstände begangen wurden : a) die strafbare Handlung wurde als Handlung einer kriminellen Vereinigung begangen , wie sie in der Gemeinsamen Maßnahme 98/733/JI 122 definiert ist oder b) bei der Begehung der strafbaren Handlung wurde das Leben der Personen gefährdet, auf die sich die strafbare Handlung bezog . (3) Bestimmungen über die Verantwortlichkeit juristischer Personen und die 125 Sanktionen sind in Art. 2 und 3 enthalten. Jed er Mitgliedstaat ergreift nach Art. 4 I die erford erlichen Maßnahmen, um seine Gerichtsbarkeit in Bezug auf die Handlungen nach Art. I I zu begründen, wenn diese a) ganz oder teilweise in seinem Hoheitsgebiet, b) von einem seiner Staatsangehörigen oder c) zugunsten einer in seinem Hoheitsgebiet niedergelassenen juristischen Person begangen wurden .
122
ABlEG 1998 Nr. L 351, S. I.
412
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsh armoni sierung
c) Deutsches Strafrecht 126 Das AufenthG 123 enthält einschlägige Straftatbestände, die den Pönalisierungsvorgaben des Rahmenbeschlusses entsprechen 124. Nach § 96 I AufenthG wird das Einschleusen von Ausländern - hierzu gehören auch die Anstiftung und das Hilfeleisten zu einer illegalen Einreise - mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft, wenn der Täter dafür einen Vermögensvorteil erhält oder sich versprechen lässt bzw . wenn er wiederholt oder zugunsten von mehreren Ausländern handelt. Der Strafrahmen erhöht sich nach § 96 11 AufenthG auf eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zehn Jahren, wenn der Täter gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande handelt, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Taten verbunden hat. Der Versuch ist strafbar (§ 96 [[[ AufenthG). Als mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bedrohtes Verbrechen wird das gewerbs- und bandenmäßige Einschleusen von Ausländern eingestuft (§ 97 11 AufenthG). Nach Art . 97 IV AufenthG sind die Bestimmungen über den erweiterten Verfall (§ 73 d StGB) anzuwenden, d. h., die Strafverfolgungsbehörden können auf etwaige Gewinne zugreifen, die im Rahmen organisierter Schleusertätigkeit erzielt wurden .
X. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit 1. Anwendungsbereich 127 Nach hier vertretener Ansicht ist der mit den Begriffen " Rassismus und Fremdenfeindlichkeit" beschriebene Kriminalitätsbereich gern. Art . 67 [[[ AEUV einer Rechtsangleichung zugänglich (Rn. 4). Harmonisierungsfähig sind mithin rassistisch oder fremdenfeindlich motivierte Verhaltensweisen , bei denen Personen zw. Personengruppen etwa wegen ihrer Hautfarbe, Abstammung, ethnischen Herkunft oder Religionszugehörigkeit Zielobjekt bestimmter Angriffe sind . Bereits in der aufgrund von ex-Art. K.3 des EUV erla ssenen Gemeinsamen Maßnahme v. 15. Juli 1996 125 wurden die Mitgliedstaaten aufgefordert, einige näher bezeichnete Handlungen unter Strafandrohung zu stellen oder, wenn dies nicht getan wird, bei diesen Verhaltensweisen bis zur Schaffung der erforderlichen Bestimmungen von dem (auslieferungsrechtlichen) Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit abzusehen. Vorgesehen waren ferner die Beschlagnahme und Einziehung von rassistischem und fremdenfeindlichem Schrift- und Bildmaterial sowie ein zwischenstaatlicher Informationsaustausch. Im Jahre 1998 wurde ein erster Bericht über die DurchfLihrung der Gemeinsamen Maßnahme erstellt. In den Schlussfolgerungen wurde dargelegt, dass die Mitgliedstaaten die Bestimmungen zwar sehr weitgehend umge setzt hätten , jedoch immer noch Raum für weitere Verbe sserungen bestehe . In diesem Zusammenhang wurde vor allem die Bekämpfung rassistischer 123
124
125
Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet i. d. F. v. 25. Februar 2008 ( BGB!. I 2008, S. 162 f[). Vg!. zur strafre chtlichen Relevanz ausländerrechtlich er Erlaubnisse BGHSt 50, 105 = JuS 2005, 1055 (Kudli ch) . Gemeinsame Maßnahme betreffend die Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (ABlEG 1996 Nr. L 185, S. 5).
C. Felder der Strafrechtsangleichung in der Union
413
und fremdenfeindlicher Inhalte im Internet hervorgehoben . Das EP forderte in seiner Entschließung v. 2 I. September 2000 126 die Ersetzung der Gemeinsamen Maßnahme v. 15. Juli 1996 durch einen Rahmenbeschluss. Die Kommission legte am 28 . November 200 I einen auf ex-Art. 29 EUV gestützten Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit"? vor.
2. Rahmenbeschluss zur Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit Am 6. Dezember 2008 trat der Rahmenbeschluss des Rates zur Bekämpfung be- 128 stimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit v. 28 . Nov emb er 2008 128 in Kraft . Dies er ersetzt die Gemeinsame Maßnahme v. 15. Juli 1996 (Rn . 127).
a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses Der Rahmenbeschluss soll gew ährleisten, dass rassistisch oder fremdenfeindlich 129 motivierte Straftaten in allen Mitgliedstaaten mit wirk samen, angemessenen und abschreckenden Strafen geahndet werden, die eine Auslieferung oder Übergabe nach sich ziehen können . Insbesondere soll die Verbreitung rassistischer und fremdenfeindlicher Inhalte im Internet in allen Mitgliedstaaten strafbar sein . Durch die im Rahmenbeschlussvorschlag vorgesehenen gemeinsamen Definitionen und Strafen soll die justizielle Zusammenarbeit und Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten erleichtert werden . b) Wesentlicher Inhalt (I) Der Rahm enbeschluss statuiert in Art . I I Iit. a-d eine Verpflichtung der Mit- 130 gliedstaaten, die nachfolgend aufgeführten vorsätzlichen Handlungen unter Strafandrohung zu stellen: a) die öffentliche Aufstachelung zu Gewalt oder Hass gegen eine nach den Kriterien der Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder nationale oder ethnische Herkunft definierte Gruppe von Personen oder gegen ein Mitglied einer solchen Gruppe; b) die Begehung einer der in Buchstabe a genannten Handlungen durch öffentliche Verbreitung oder Verteilung von Schriften, Bild- oder sonstigem Material; c) das öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen von Völk ermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen im Sinne der Artikel 6, 7 und 8 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs, das gegen eine Gruppe von Personen oder gegen ein Mitglied einer solchen Gruppe gerichtet ist, die nach den Kriterien der Rasse , Hautfarbe, Religion, Abstammung oder nation ale oder ethnische Herkunft definiert werden, wenn die Hand126 127 128
ABIEU 2001 Nr. C 146, S. 110. KOM (200I) 664 endg. ABIEU 2008 Nr. L 328, S. 55.
414
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung
lung in einer Weise begangen wird, die wahrscheinlich zu Gewalt oder Hass gegen solch eine Gruppe oder gegen ein Mitglied solch einer Gruppe aufstachelt; d) das öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen von Verbrechen nach Artikel 6 der Charta des Internationalen Militärgerichtshofs im Anhang zum Londoner Abkommen vom 8. August 1945 gegenüber einer Gruppe von Personen oder einem Mitglied einer solchen Gruppe, die nach den Kriterien der Rasse , Hautfarbe, Religion, Abstammung oder nationale oder ethnische Herkunft definiert werden, wenn die Handlung in einer Weise begangen wird, die wahrscheinlich zu Gewalt oder Hass gegen solch eine Gruppe oder gegen ein Mitglied solch einer Gruppe aufstachelt. 131 Für die Zwecke von Art. I I steht es den Mitgliedstaaten frei , nur Handlungen unter Strafe zu stellen, die in einer Weise begangen werden, die geeignet ist, die öffentliche Ordnung zu stören, oder die Drohungen, Beschimpfungen oder Beleidigungen darstellen (Art. I 11). Der Verweis auf Religion soll mindestens Handlungsweisen erfassen, die als Vorwand für die Begehung von Handlungen gegen eine nach Rasse , Hautfarbe, Abstammung oder nationale oder ethnische Herkunft definierte Gruppe oder ein Mitglied einer solchen Gruppe dienen (Art . I 111). 132 (2) Jeder Mitgliedstaat trifft die Maßnahmen, die erforderlich sind , um sicherzustellen, dass die Anstiftung zu den in Art. I I Lit. c und d) genannten Handlungen unter Strafe gestellt ist (Art. 2 1). Ferner ist die Beihilfe zur Begehung der in Art . 1 genannten Handlungen mit Strafe zu bedrohen (Art. 2 11). 133 (3) Die Mitgliedstaat müssen sicherstellen, dass die in den Art . I und 2 genannten Handlungen mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden strafrechtlichen Sanktionen bedroht sind (Art . 3 1). Für die in Art . I genannten Handlungen sind Freiheitsstrafen im Höchstmaß von mindestens zwischen einem und drei Jahren vorzusehen (Art. 3 11). 134 (4) Nach Art. 4 haben die Mitgliedstaaten dafür Sorge zu tragen, dass rassistische oder fremdenfeindliche Beweggründe auch bei anderen als in den Art . I und 2 genannten Straftaten - zu denken ist etwa an Tötungs- oder Körperverletzungsdelikte - als erschwerender Umstand gewertet werden können . Die Verantwortlichkeit juristischer Personen und ihre Sanktionierung ist nach Maßgabe der Art . 5 und 6zu gewährleisten. 135 (5) Regelungen über die strafrechtliche Verfolgung und gerichtliche Zuständigkeit sind in Art. 8-9 enthalten.
c) Deutsches Strafrecht 136 Das deutsche Recht kennt zahlreiche Straftatbestände, die auf vorsätzliche Handlungen der in Art. I beschriebenen Art (Rn . 130) Anwendung finden . Zu denken ist insbesondere an die in § 130 1-111 StG B normierten Tatbestände der Volksverhetzung. Daneben können auch §§ 111, 140, 185-189 StGB sowie die gegen den Gedanken der Völkerverständigung gerichteten Vereinigungs- und Propagandadelikte gern. §§ 85-86 a StGB einschlägig sein . Aus internationalstraf-
D. Literatur hinweise
415
rechtlicher Sicht ist auf die Recht spr echung des BGH hin zuw eisen , wonach deutsches Strafrecht (hier: § 130111 StGB) gem. §§ 3, 9 1,3 . Var. StG B auch auf eine n Täter Anwendung findet , de r von ihm verfasste volksverhetzend e Äußerungen auf einem ausl änd ischen Server in das Internet ste llt und auf diese Weise Intern etnutzern in Deutschland zugä nglich machtl -? (§ 2 Rn. 3 1 ff.). Die nach deutschem Recht ang edrohten Sanktionen tragen den Vorgaben des Rahm enb eschlussvorschlages vollumfänglich Rechnung. Auch besteht nach §§ 74, 74 b-76 a StGB d ie Mögl ichk eit der Einz iehung von Schriften oder and eren Tatwerkzeugen .
D. Literaturhinweise Am bos, Internationalisierung des Strafrechts : das Beispiel "Geldwäsche", ZStW 114 (2002 ), S. 236 ders., IntStR , 2. Aufl., 2008, § 12 Rn. 5-1 8 Ambos/Rackow, Erste Übe rleg unge n zu den Konsequ enzen des Lissabon-Urte ils des Bundesver fassun gsger ichts für das Europä ische Strafrecht , ZIS 2009 , 397 Böse, Die Entscheidung des I3 VerfG zum Vert rag von Lissabon und ihre Bede utung für d ie Europäisierung des Strafrechts, ZIS 20 I0, 76 Gusy, Möglichkeiten und Grenzen einer europ äische n Antiterrorpolitik, GA 2005, 215 Hecker, Sind die nation alen Grenzen des Stra frechts überwindbar? - Die Harmoni sier ung des mate riellen Strafrech ts in der Europäischen Union, JA 200 7, 561 Heger, Perspektiven des Europäischen Strafrechts nach dem Vert rag von Lissabon, ZIS 2009 ,406 Heintschel-He inegg, Gemeinsc haftsre chtskonforme Aus legung des Verei nigungsbegriffs in den §§ 129 ff. StG B, Schroeder-FS, S. 799 Hetzer, Korr uption sbekämpfu ng in Euro pa, NJW 2004 , 3746 Husemann, Die Beeinflussung des deut schen Wirtschaftstrafrechts durch Rahmenbeschlüsse der Europäischen Unio n, wistra 2004 , 44 7 Knebelsberger, Die inne rstaatliche Wirkungsweise von EU-Rahmenbeschlüsse n und ihre gerichtliche Überprüfb arkeit, 20 I0 Kreß , Das Stra frecht in der Europä ischen Union vor der Herausforderung durch organisierte Krim inalität und Terror ismu s, JA 2005 , 220 Mans dorfer, Das Europäische Strafrecht nach dem Vertrag von Lissabon - oder Europäisierung des Strafrechts unter nationalstaatli cher Mitve rantwortung, I-I RRS 201 0, 11 Meye r, Die Lissabon-Entsche idung des BVe rfG und das Strafrecht, NS tZ 2009 ,657 Satzger, Die Europäisierun g des Strafrechts, 200 1, S. 465-4 70 ders. , Rechtspolitische Möglichkeiten zur Realisierung der Tatbestand svorschl äge der " Europa-D elikte", in: Tiedem ann (Hr sg.), Wirtsch aftsstrafrecht in der Europäischen Union,2002, S. 7 1 ders., IntStR, 4. Aufl ., 2010 , § 9 Rn. 31-3 7 Schreiber, Strafrechtsharmonisierung durch europäische Rahrnenbeschl üsse, 2008 Weigend, Der Entw urf einer Europä ischen Verfassung und das Strafrecht, ZStW 116 (2004), S. 275
129
BGHSt 46, 212
=
NJW 200 I, 624.
416
§ 11 Originäre Kompetenz der EU zur Strafrechtsharmonisierung
Zimmermann, Die Auslegung künftiger EU-Strafrechtskompetenzen nach dem LissabonUrteil des BVerfG, Jura 2009 ,844 ders., Tendenzen der Strafrechtsangleichung in der EU - dargestellt anhand der Bestrebungen zur Bekämpfung des Terrorismus, Rassismus und illegaler Beschäftigung, ZIS 2009, I Zöller, Europäische Strafgeset zgebung, ZIS 2009, 340
E. Zusammenfassung von § 11 137 Bereits vor Inkrafttreten des Lissabonner Reformvertrages erwies sich das gemeinsame Vorgehen der EU-Mitgliedstaaten im Bereich der früheren PJZS als zentraler und herausragender Faktor der Europäisierung der intemational-arbeitsteiligen Strafrechtspflege Mit der Auflösung der Dreisäulenstruktur der EU sind die auf eine intergouvernementale Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zugeschnittenen Instrumente obsolet geworden . Art . 83 I AEUV überträgt der Union nunmehr eine originäre Strafrechtsangleichungsbefugnis in Form einer Richtlinienkompetenz für die Schaffung von Mindeststandards bei Straftaten und Strafen in Fällen besonders schwerer Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension, wodurch die PJZS auf supranationale Rechtssetzungsverfahren und Handlungsformen umgestellt wird. Harmonisierungsfähig sind ausweislich des abschließenden Katalogs des Art . 83 I UA 2 AEUV die Bereiche Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität. 138 Zu den Maßnahmen, die auf eine Angleichung des materiellen Strafrechts der Mitgliedstaaten in den von Art . 83 I AEUV erfassten Kriminalitätsbereichen abzielen , gehört zunächst der Erlass von Mindestvorschriften zur Ausgestaltung der einschlägigen Tatbestände des Besonderen Teils. Diese können z. B. in einer gemeinsamen Definition enthalten sein , in welcher die zentralen objektiven und subjektiven Merkmale der zu inkriminierenden Handlung beschrieben und durch die weitergehende Begriffsbestimmungen des nationalen Rechts nicht ausgeschlossen werden . Die Mitgliedstaaten bleiben demnach frei , darüber hinaus auch weitere Verhaltensweisen unter Strafandrohung zu stellen. Es ist ihnen jedoch verwehrt, die Mindestvorschriften der in einem Rechtsakt definierten strafbaren Handlung zu unterschreiten, indem sie zusätzliche Strafbarkeitsvoraussetzungen aufstellen . 139 Von der Hannonisierungskompetenz des Art . 83 I AEUV umfasst sind auch Anweisungen, die sich auf die Anwendung von Bestimmungen des Allgemeinen Teils beziehen, soweit dies für eine wirksame Bekämpfung der jeweiligen Kriminalitätsbereiche erforderlich ist und hierdurch nicht in die Grundstruktur der nationalen Strafrechtssysteme eingegriffen wird . Unproblematisch sind z. B. bereichsspezifische Vorgaben, durch die sichergestellt werden soll , dass der Versuch einer bestimmten Straftat und die Teilnahme (Anstiftung, Beihilfe) mit Strafe bedroht werden. Nicht gedeckt von Art . 83 I AEUV sind jedoch über die Festlegung von
E. Zusammenfassung von § 11
417
Mindestvorschriften hinausgehende Definitionen des Versuchs oder der Täterschaft und Teilnahme. Vorgaben zur Verantwortlichkeit juristischer Personen sind nur zulässig, wenn den Mitgliedstaaten ein weiter Umsetzungsspielraum belassen wird, der auch eine Beschränkung auf nichtstrafrechtliche Sanktionen zulässt. Einer Mindestangleichung zugänglich sind auch die Strafen in den einschl ägi- 140 gen Kriminalitätsbereichen, welche z. B. in Form der Vorgabe sog. Mindesthöchststrafen erfolgen kann. Auch bereich sspezifische Vorgaben über erschwerende oder strafmildernde Umstände sowie über das Strafanwendungsrecht ("Internationales Strafrecht") können auf Art. 83 I AEUV gestützt werden. Auch im Anwendungsfeld des Art. 83 I AEUV wird die Kompetenzausübungs- 141 befugnis der Union durch die Grundsätze der Subsidiarität (Art . 5 I S. 2, 111 UA I EUV) und Verhältnismäßigkeit (Art. 5 I S. 2, IV UA I EUV) begrenzt. Falls ein Mitglied des Rates der Auffas sung ist, dass der Entwurf einer Richtlinie nach Art. 83 I AEUV grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung berühren würde , kann von der durch den Lissabonner Reformvertrag eingefLihrten verfahrensrechtliche "Notbremse" (Art . 83 111 AEUV) Gebrauch gemacht werden .
B. Hecker, Europäisches Strafrecht, DOI 10.1007/978-3-642-13127-1_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
420
§ 12 Justizielle Zusammen arbeit in Strafsachen
2 Die JZS betrifft die gesamte Strafrechtsptlege einschließlich der Tätigkeit der Gerichte. In einem Wirtschaftsraum ohne Binnengrenzen müssen vor allem die bestehenden Verfahren des zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehrs (§ 2 Rn. 62 ff.) effizient gestaltet werden . Das tradierte Rechtshilfesystem erwies sich nach den Erfahrungen der Strafverfolgungspraxis vielfach als zu schwerfällig 1. Ein deutscher Strafverfolger drückte diesen Befund in folgendem Bild aus : " Die Verbrecher reisen mit Überschallgeschwindigkeit in der Concorde, die Polizei folgt ihnen im Porsche, und die Justiz besteigt die Postkutsche."? Innerhalb des EURechtsraumes spielen die von den Mechanismen der klassischen Recht shilfe gelösten Formen der justiziellen Zusammenarbeit inzwischen eine zentrale Rolle . Trotz der bereits im Rahmen der früheren 3. Säule der EU erreichten Fortschritte ist eine Fortentwicklung der JZS weit erhin erforderlich. So ist etwa die Problematik konkurrierender StrafgewaIten (Rn. 3) auch durch ein noch so weit verstandenes transnationales Dopp elbestrafungsverbot (§ 13) noch nicht abschließend gelöst". Der am 15. Dezember 2009 in Kraft getretene Rahmenbeschluss 2009/948/JI des Rates v. 30. November 2009 4 (Rn . 4) ist insow eit aber immerhin als wichtiger Zwischenschritt zu begrüßen. Zur Verwirklichung der in Art. 82 AEUV konkretisierten Ziele kann die Union Mindestvorschriften festlegen" . Die von EP und Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren auf Vorschlag der Kommission zu erlassenden Richtlinien (Art. 289 I, 294 AEUV) lösen die in ex-Art. 34 11 lit. ad EUV vorge sehenen Handlungsformen ab.
B. Erleichterung der Zusammenarbeit I. Vermeidung von Kompetenzkonflikten 3 Die Problematik konkurrierender nationaler Strafgewalten ergibt sich vor dem folgenden Hintergrund, den die Kommission in ihrem am 23 . Dezember 2005 vorgelegten Grünbuch über Kompetenzkonflikte und den Grundsatz ne bis in idem in Strafverfahren? wie folgt beschreibt:
"In dem Maße, wie Straftäter zunehmend international agieren, ist die StrajJustiz in der EU immer häufiger mit Situationen konfrontiert, in denen mehrere Mitgliedstaaten in einem bestimmten Fall für die Strafverfolgung zuständig sind. Sog. positiv e Kompetenzkonflikte, d. h. die Behörden mehrerer Mitgliedstaaten ermitv. BubnojJ, ZEuS 2000, 185, 188 ff.; Perron, Strafrechtsvereinheitlichung, S. 135, 147 ff.; Wasmeier, ZStW 116 (2004), S. 320 ff. Fätkinhau er, Der Kriminalist 1994,257,258. Zu möglichen Sachkriterien für die Zuweisung der Verfolgungszuständigkeit auf eine Strafgewalt vgl. Jupp e, Gegenseitige Anerkennung , S. 82 ff.; Lagodny, Trechsel-FS, S. 253, 264 Ir; Vander Beken/Vermeulen/Lagodny, NStZ 2002,624 ff ABIEU 2009 Nr. L 328, S. 42. Vgl. hierzu Heger, ZIS 2009, 406, 411; Mansdorfe r, HRRS 2010, 11 , 15 KOM (2005) 696 endg.
B. Erleichterung der Zusammenarbeit
421
tein in ein und demselben Fall, dürften heute zudem häufiger auftreten, da der Zuständigkeitsbereich der einzelstaatlichen Strafverfolgungsbehorden in der Vergangenheit vielfach erheblich erweitert wurde. Die Mehrfachverfolgung derselben Straftat steht im Widerspruch zu den Rechten und Interessen der Betroffenen und hat u. U. unnötigen Doppelaufwand zur Folge. So kann es dazu kommen, dass Beschuldigte, Opfer und Zeugen in mehreren Ländern vor Gericht geladen werden . Sie werden durch Mehrfachverfahren in ihren Rechten und Interessen, z. B. in ihrer Freizügigkeit, eingeschränkt. Die anwaltliehe Vertretung wird komplizierter und zieht höhere Kosten nach sich. Damit einher geht auch eine stärkere psychische Belastung. In einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sollten solche negativen Wirkungen nach Möglichkeit vermieden und die Mehrfachverfolgung wegen ein und derselben Straftat begrenzt werden. Den einzelstaatlichen Behörden steht es derzeit frei, in einem bestimmten Fall parallel zu den Strafverfolgungsmaßnahmen anderer Behörden eigene Ermittlungen anzustellen. Die einzige rechtliche Schranke ist das Verbot der doppelten Strafverfolgung (ne bis in idem) in den Artikeln 54 bis 58 SDÜ. Dieser Grundsatz verhindert jedoch keine Kompetenzkonflikte, wenn in zwei oder mehr Mitgliedstaaten parallel Strafverfolgungsmaßnahmen laufen. Er kommt nur dann zum Tragen, wenn ein Strafverfahren in einem Mitgliedstaat mit einer rechtskräftigen Entscheidung beendet wurde. Eine zweite Strafverfolgung wegen desselben Tatbestands ist dann ausgeschlossen. Zu bedenken ist auch, dass der Grundsatz ne bis in idem ohne eine Zuständigkeitsregelung, auf deren Grundlage einem geeigneten Gericht die Zuständigkeit für einen bestimmten Fall übertragen wird, zu zufälligen oder gar willkürlichen Ergebnissen führen kann. Wenn das Gericht den Vorzug erhält, das als erstes in der Lage ist, eine rechtskräftige Entscheidung zu erlassen , läuft der Grundsatz im Ergebnis darauf hinaus, dass nach dem Motto " wer zuerst kommt, mahlt zuerst " verfahren wird. Die Bestimmung des zuständigen Gerichts erfolgt derzeit eher zufällig, und das ist wohl auch der Grund, warum das Verbot der doppelten Strafverfolgung nach wie vor diversen Ausnahmen unterliegt... ". Am 30 . November 2009 nahm der Rat auf der Grundlage des ex-Art . 31 I lit. c, d 4 EUV den Rahmenbeschluss zur Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafverfahren? an, der am 15. Dezember 2009 in Kraft getreten ist. Der Rahmenbeschluss sieht im Hinblick auf die angestrebte Vermeidung von Mehrfachverfolgungen den Weg über direkte Konsultationen und Informationsaustausch der betroffenen Strafverfolgungsbehörden vor, um Einvernehmen über eine "effiziente Lösung" herbeizuführen, bei der die nachteiligen Folgen von paraIIel geführten Verfahren vermieden werden (Art . I 11 lit. b, 2 I lit. a, b). Diese Konsultationen können ggf. " zu einer Konzentration der Strafverfahren in einem einzigen Mitgliedstaat" fuhren (Art. 10 1). Kommt es zu keiner Einigung, ist Eurojust im Rahmen seiner Zuständigkeit zu befassen (Art . 12 11). Das in dem Rahmenbeschluss vorgesehene Verfahren zur Beilegung von Kompetenzkonflikten ist aIIerdings weder justitiabel noch obligatorisch. Kein Mitgliedstaat soII verpflichtet sein, die Zuständigkeit gegen seinen Willen abzutreten oder auszuüben. Solange ABIEU 2009 Nr. L 328, S. 42.
422
§ 12 Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen
kein Einvernehmen über die Zusammenlegung der Strafverfahren erzielt wurde, behalten die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten die Möglichkeit, wegen jeder Straftat, für deren Verfolgung sie nach ihrem innerstaatlichen Recht zuständig sind, ein Strafverfahren fortzuführen . Ein im Gesetzgebungsverfahren vorgesehener Kriterienkatalog für die Ermittlung des adäquaten Forums wurde fallengelassen. Der Rahmenbeschluss greift nicht das im Grünbuch der Kommission zur Diskussion gestellte Verweisungsverfahren auf, mit dem die Fälle einem geeigneten Gericht zugewiesen würden. Die Kommission legt dem EP und dem Rat bis zum 15. Dezember 2012 einen Bericht vor, in dem sie bewertet, inwieweit die Mitgliedstaaten diesem Rahmenbeschluss nachgekommen sind (Art . 17). Im Lichte dieses Berichts wird zu entscheiden sein, ob weitergehende Maßnahmen zur Vermeidung bzw. Beilegung von Kompetenzkonflikten zu ergreifen sind . Art . 82 I UA 2 lit. b AEUV überträgt der Union insoweit eine Kompetenz zur Richtliniensetzung. Bislang noch nicht aufgegriffen wurde der Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über die Übertragung von Strafverfahren", Danach soll ein Mitgliedstaat einen anderen Mitgliedstaat - fakultativ nach einer vorherigen Konsultation - dazu ersuchen können, die Strafverfolgung einer strafbaren Handlung zu übernehmen, soweit dies eine effiziente und geordnete Rechtspflege verbessern würde.
11. Instrumente des Rechtshilfeverkehrs in Europa 5 Als Gegenstand der JZS wird in Art . 82 I UA 2 Iit. d AEUV (ex-Art. 31 Iit. a EUV) die Erleichterung der Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden im Rahmen der Strafverfolgung sowie des Vollzugs und der Vollstreckung von Entscheidungen aufgeführt. Dieser Handlungsauftrag bezieht sich vor allem auf die zwischenstaatliche Rechtshilfe sowie auf die Koordinierung justizieller Aktivitäten . Art . 82 I UA 2 lit. d AEUV ist mithin wie seine Vorläuferbestimmung als dynamischer Auftrag an die Mitgliedstaaten zu verstehen, über den status quo der bestehenden Kooperation hinauszugehen, wie er sich vor allem in der "Mutterkonvention" des europäischen Rechtshilfeverkehrs, dem Europäischen Übereinkommen v. 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen (EuRhÜbk)9 mit seinem Zusatzprotokoll v, 17. März 1978 10 niederschlägt.
1. Europäisches Rechtshilfeübereinkommen des Europarates 6 Nach Art . I I EuRhÜbk verpflichten sich die Vertragsparteien "einander Rechtshilfe zu leisten in allen Verfahren hinsichtlich strafbarer Handlungen" . Das Übereinkommen räumt den Vertragsparteien jedoch zahlreiche Möglichkeiten zur Geltendmachung einschränkender Vorbehalte ein, von denen sie reichlich Gebrauch gemacht haben . Einige dieser Vorbehalte haben sich als der effektiven Zusammenarbeit entgegenstehende Hindernisse erwiesen. Zu denken ist insbesondere an
10
Ratsdok . 16437/09; 14934/09; vgl. hierzu Brodowski, ZIS 20 I0, 376, 384. ETS Nr. 30; BOBI. II 1964, 1369, 1386; 1976, 1799; I 1982, 2071 ; II 2000, 555. ETS Nr. 99; BOBI. II 1990, 124; 1991,909; 2000, 555.
B. Erleichterung der Zusammenarbeit
423
die Verweigerung der Rechtshilfe im Bereich fiskalischer oder politischer Straftaten sowie an das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit. Im Übrigen bilden die neben der "Mutterkonvention" des Europarates bestehenden bi- oder multilateralen Rechtshilfeabkommen mit ihren unterschiedlichen Anwendungsbereichen und Vorbehalten ein für den Rechtsanwender kaum mehr zu überschauendes Normendickicht!' , was sich in der alltäglichen Rechtshilfepraxis als Hemmnis für eine effektive Strafverfolgung erweist".
2. Rechtshilfekooperation nach Art. 48 ff. SDÜ Zu einer Erleichterung der zwischenstaatlichen Rechtshilfekooperation führten die 7 Art. 48 ff. SOÜ . SO sind die Vertragsparteien nach Art. 50 SOÜ verpflichtet, einander Rechtshilfe bei der Verfolgung von Fiskaldelikten zu leisten , wenn sich diese auf bestimmte (vergemeinschaftete) Abgaben beziehen. Art . 52 SOÜ ermöglicht die direkte Übersendung gerichtlicher Urkunden unmittelbar an Privatpersonen und Art . 53 SOÜ den unmittelbaren Austausch von Rechtshilfeersuchen zwischen Justizbehörden der Vertragsparteien.
3. EU-Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen (EURÜ) Ein über den bestehenden Kooperationsstandard weit hinausgehender Schritt ist 8 das Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der EU v, 29. Mai 2000 (EURÜ)13. Aufbauend auf dem EuRhÜbk nebst Zusatzprotokoll (Rn . 5) wird das Übereinkommen nach erfolgter Ratifikation im Wesentlichen folgende Regelungen und Neuerungen mit sich bringen : - Erstreckung der Rechtshilfe auf die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten (Art. 3, der Art . 49 lit. a SOÜ ersetzt), - Verpflichtung des um Rechtshilfe ersuchten Staates, die Form- und Fristbestimmungen des ersuchenden Staates einzuhalten (Art . 4) ; sog . "forum regit actum "-Grundsatz anstelle des bisher geltenden Grundsatzes .J ocus regit acturn"!", - Grundsatz der unmittelbaren Übersendung von Urkunden (Art. 5, ersetzt Art . 52 SOÜ) , - Grundsatz des unmittelbaren Geschäftsverkehrs (Art. 6, ersetzt Art . 53 SOÜ) , - Informationsaustausch auch ohne Ersuchen (Art. 7), - zeitweilige ÜbersteIlung inhaftierter Personen zu Ermittlungszwecken (Art . 9),
11
12
13
14
Perron , ZStW 112 (2000) , S. 202, 205 ; ders., Strafrecht svereinheitlichung, S. 135, 148 f.; Schomburg, DRiZ 1999, 107, 108 ff.; ders., ZRP 1999,237 f Eine Übersicht über die wichtigsten Rechtshilfebeziehung en Deutschlands in Strafsachen findet sich bei Hackner u. a., Leitfaden IRhSt, Anhang 5, S. 193. ABIEU 2000 , Nr. C 197, S. I. Vgl. hierzu Dann ecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 46 f.; Ligeti, Strafrecht in der EU, S. 138 ff. Vgl. hierzu Lag odny , Spinelli s-FS, 2002, S. 641.
424
§ 12 Ju stizielle Zusammenarbe it in Strafsachen
- Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen per Video- oder Tel efonkonferenz (Art . 10 f.), - Durchführung kontrollierter Lieferungen (Art. 12), - Bildung und Arbeit gemeinsamer Ermittlungsgruppen (Art. 13), - Durchführung verdeckter Ermittlungen (Art. 14), - Regelungen zur Überwachung des Telekommunikationsverkehrs (Art. 17 ff.), - Regelungen zum Schutz personenbezogener Daten (Art. 23). 9 Am 16. Oktober 200 I hat der Rat ein - von den Mitgliedstaaten noch zu ratifizierendes - ProtokolI zum EURÜ15 beschlossen, das weitere Ergänzungen und Erleichterungen der Zusammenarbeit sowie bereichsspezifische Bestimmungen zur Rechtshilfe vorsieht. Unter anderem schränkt es die Möglichkeiten zur Geltendmachung von Vorbehalten bei fiskalischen und politischen Delikten ein , stellt spezielle Regelungen für die Einholung von Bankauskünften bereit und bezieht die justizielle Koordinierungsstelle Eurojust (§ 5 Rn. 70 ff.) in die Rechtshilfe ein .
4. Rahmenbeschluss über die Europäische Beweisanordnung 10 Am 19. Januar 2009 ist der auf ex-Art. 31 EUV gestützte Rahmenbeschluss des Rates über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen v. 18. Dezember 2008 16 in Kraft getreten . Die Europäische Beweisanordnung (EBA) beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und folgt damit dem gleichen strukturellen Ansatz wie der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl (Rn . 20 ff.). Bei der EBA handelt es sich um eine von der zust ändigen Behörde eines Mitgliedstaats (Anordnungsstaat) erlassene justizielle Entscheidung, welche die Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten aus einem anderen Mitgliedstaat (Vollstreckungsstaat) zur Verwendung in einem Strafverfahren (einschließlich Bußgeld- und bestimmte Verwaltungsverfahren) bezweckt (Art. I I, 5) . Sie wird unter Verwendung eines Formblatts in einer Amtssprache des VolIstreckungsmitgliedstaats ausgestelIt. Die Behörden des Anordnungsstaats müssen sich vergewissern , dass die Beweisstücke in einem vergleichbaren FalI nach nationalem Recht erlangt werden könnten und für das betreffende Strafverfahren notwendig und angemessen sind. Die zentrale Innovation dieses Instruments besteht darin, dass die EBA einer Justizbehörde des Anordnungsstaates in dem Vollstreckungsstaat unverzüglich und unmittelbar - also ohne eine vorangehende innerstaatliche Bewilligung - zu volIstrecken ist (Art. 11). Die Gründe für eine Versagung der Vollstreckung werden eng begrenzt (Art. 13). Insbesondere stellt die beiderseitige Strafbarkeit - anders als im traditionellen Rechtshilfeverkehr grundsätzlich keinen Versagungsgrund dar (Art. 14 I, 11 ; vgl. zu Ausnahmen Art .
14 11I).
15
16
ABIEU 200 I Nr. C 326, S. I. Vgl. hierzu Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstraf-
recht , 2. Kap . Rn. 48 ff. ABLEU 2008 Nr. L 350, S. 72. Vgl. hierzu Roger, GA 2010, 27, 33 ff.; Satzger, IntStR, § 10 Rn. 36 .
B. Erle ichterung der Zusammenarbeit
425
Der Anwendungsbereich der EBA ist auf die Erlangung von Sachen, Schrift- II stücken oder Daten beschränkt, die aufgrund verschiedener prozessualer Eingriffsrechte (z. B. Beschlagnahme-, Vorlage- oder Durchsuchungsbefugnisse) erlangt wurden (Art . 4 1). Rechtshilfeersuchen, die auf die Erlangung sonstiger Beweismittel gerichtet sind - zu denken ist z. B. an die Vernehmung von Verdächtigen oder Zeugen, die Entnahme von DNA-Proben beim Verdächtigen sowie an die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs und von Kontobewegungen sollen weiterhin in den Formen und Verfahren des bestehenden Rechtshilfeinstrumentariums abgewickelt werden (Art . 4 11). Art. 1 I 111 schreibt vor, dass sämtliche Maßnahmen, die innerstaatlich verfügbar sind, auch zur Vollstreckung einer EBA zur Verfügung stehen müssen . Nach Art. 18 I S. I müssen die Mitgliedstaaten Rechtsbehelfe gegen die Anerkennung und Vollstreckung der EBA vorsehen . Diese können jedoch gern. Art. 18 I S. 2 auf Zwangsmittel beschränkt werden". Die sachlichen Voraussetzungen für den Erlass einer EBA können nach Art . 18 11 nur vor einem Gericht des Anordnungsstaates zur Überprüfung gestellt werden. Aus dem von der Kommission am 11. Dezember 2009 vorgelegten Grünbuch 12 "Erlangung verwertbarer Beweise in Strafsachen aus einem anderen Mitgliedstaat" 18 geht hervor, dass die EBA aus Sicht der Kommission nur den ersten Schritt auf dem Weg zu einer umfassenden einheitlichen Regelung auf der Grundlage des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung darstellt, die zu gegebener Zeit alle bestehenden Rechtshilferegelungen ersetzen soll. Ein derartiges Instrument würde innerhalb der Union die traditionelle Rechtshilfe in derselben Weise ersetzen wie der Europ äische Haftbefehl die klassische Auslieferung (Rn . 20 ff.). Kurze Fristen und eine weitergehende Einschränkung der Ablehnungsgründe sollen die Effektivität dieses neuen Instruments erhöhen. Die Kommission plant , im Jahre 20 II einen entsprechenden Legislativvorschlag zu unterbreiten, der durch einen weiteren Vorschlag zur Sicherung gemeinsamer Standards für die Beweiserhebung in Strafsachen begleitet werden soll, um die transnationale Zulässigkeit der Beweismittel sicherzustellen". Bereits in ihrem Grünbuch v, 11. Dezember 2001 zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft"? hat die Kommission das Konzept eines "europaweit verkehrsfähigen Beweises'<' vorgeschlagen. Danach sollen die mitgliedstaatliehen Gerichte, die mit einem Strafverfahren befasst sind, in dem es um den Vorwurf einer Beeinträchtigung der finanziellen Interessen der EU geht , verpflichtet werden, jedes Beweismittel zuzulassen, das nach dem nationalen Recht eines anderen Mitgliedstaates rechtmäßig erhoben wurde (Rn. 57 ff.).
17 18 19 20 21
Krit. hierzu Roger, GA 2010, 27,40. KOM (2009) 624 endg. KOM (2010) 171 endg. KOM (2001) 715 endg. Vgl. hierzu Gieß, ZStW 115 (2003), S. 131 ff.
426
§ 12 Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen
111. Instrumente des Vollstreckungshilfeverkehrs in Europa
13 Die Vollstreckungshilfe stellt ein wesentliches Element einer effektiven grenzüberschreitenden Strafrechtspflege dar 22 • Nicht selten entziehen sich verurteilte ausländische Straftäter der Strafvollstreckung durch Rückkehr in ihr Heimatland. Wenn eine Auslieferung dieser Personen an den Urteilsstaat ausscheidet, kann nur die grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei der Strafvollstreckung die Durchsetzung des Rechts (Prävention und gerechter Schuldausgleich) sicherstellen. Hinzu kommt , dass das Ziel der Resozialisierung eines zu Freiheitsstrafe verurteilten Straftäters in seinem Heimatstaat in der Regel besser erreicht werden kann . Der Bereich der Vollstreckungshilfe wird von folgenden Übereinkommen gepr ägt> : - Europäisches Übereinkommen über die ÜbersteIlung verurteilter Personen v. 21 . März 198324 mit seinem Zusatzprotokoll v. 18. Dezember 199725, - Übereinkommen über die Anwendung der Europaratskonvention von 1983 über die ÜbersteIlung von verurteilten Personen v. 25. Mai 198726 , - Übereinkommen v. 13. November 1991 zwischen den Mitgliedstaaten der EG über die Vollstreckung ausländischer strafrechtlicher Verurteilungen (EGVollstrflkj-", - Übereinkommen v. 17. Juni 1998 über die Vollstreckung des ausländischen Entzugs der Fahrerlaubnis", - Übereinkommen v. 28 . April 1999 über die Zusammenarbeit in Verfahren wegen Zuwiderhandlungen gegen Verkehrsvorschriften und bei der Vollstreckung von dafür verhängten Geldbußen und Geldstrafen wegen verkehrsrechtlicher Verstöße (Schengen Hl-Abkommenj>.
22 23
24
25
26 27
28
29
Vgl. F-Iackner u. a., Leitfaden IRhSt, Rn. 133 ff.; Ligeti, Strafrecht in der EU, S. 174 ff. Eine Übersicht über die wichtigsten Vollstreckungshilfebeziehungen Deutschlands in Strafsachen findet sich bei F-Iackner u. a., Leitfaden 1RhSt, Anhang 5, S. 194. ETS Nr. 112; BGBI. 11 1991, 1006; 1992 , 98 ; vgl. auch das Überstellungsausführungsgesetz v. 26 . September 1991 (BGBI. 11991 , 1954) . ETS Nr. 167. AB lEG 1987 Nr. L 169, S. 29 . Noch nicht in Kraft getreten, aber für Deutschland im Verhältnis zu den Niederlanden vorzeitig in Anwendung (BGBI. 11 1997, 1350; 1998,896). ABIEU 1998 Nr . C 216 , S. 2. ABIEU 2000 Nr . L 239 , S. 429 .
C. Erleichterung der Auslieferung
427
C. Erleichterung der Auslieferung Das gemeinsame Vorgehen im Bereich der JZS schließt die Erleichterung der 14 Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten ein . Diese stellt eine besondere Form der Rechtshilfe dar und ist Gegen stand eines förmlichen Verfahrens, welches darauf abzielt, einen mutmaßlichen oder rechtskräftig verurteilten Straftäter der Gerichtsbarkeit des ersuchenden Staates zu überstellen. Von der Auslieferung abzugrenzen ist die befristete Über steIlung von Personen zum Zwecke der Bewei saufnahme (eine Maßnahme der "kleinen" Rechtshilfe) und die auf Wun sch eine s Verurteilten erfolgende Überst eIlung desselben in seinen Heimatstaat zum Zwecke einer besseren Resozi alisierung-". Auch wenn in Art . 82 I UA 2 Iit. d AEUV nur von "Erleichterung" und nicht von " Beschleunigung" der Zusammenarbeit zwischen den Just izbehörden die Rede ist, wird man den Handlungsauftrag dieser Bestimmung dahingehend verstehen müssen , dass gerad e in dem eingriffsintensiven, da mit Freiheit sverlust verbundenen Auslieferungsverfahren eine möglichst kurze Verfahrensdauer, also ein Beschleunigungseffekt anzustreben ist.
I. Instrumente des Auslieferungsverkehrs in Europa 1. Europäisches Auslieferungsübereinkommen des Europarates Der Auslieferungsverkehr zwischen den europ äischen Staaten wird wie der Be- 15 reich der Rechts- und Vollstreckungshilfe durch ein komplexes Netzwerk von Regelungen völkerrechtlicher und nationaler Provenienz geprägt" . Als .Jvlutterkonvention " fungiert auch hier ein Übereinkommen des Europarates, das in allen EUMitgliedstaaten anwendbare Europäische Auslieferungsübereinkommen v. 13. Dezember 1957 (EuAIÜbk)32. Es wird durch zwei Zusatzprotokolle v. 15. Oktober 197533 und v. 17. März 197834 ergänzt , welche aber nicht von sämtlichen Mitglied staaten ratifiziert wurden . Nach dem EuAIÜbk können die Unterzeichnerstaaten die Auslieferung von folgenden Bedingungen abhängig machen : - Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit (Art . 2 1). Das dem Verfolgten zu Last gelegte Verhalten muss nach dem Recht des ersuchten und ersuchenden Staates mit Freiheitsentziehun g im Höchstmaß von minde stens einem Jahr bedroht sein bzw. die im ersuchenden Staat verh ängte Strafe oder freiheitsbeschränkende Maßregel muss mindestens vier Monate betragen, 30
31
32
33 34
Vgl. hierzu das Europaratsübereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen v. 21. März 1983 (ETS Nr . 112; BGBt. 111991, 1006; 1992,98). Eine Übersicht über die wichtigsten Rechtshilfebeziehun gen Deutschland s die Auslieferun g betreffend findet sich bei Hackner u. a., Leitfaden IRhSt, Anhan g 5, S. 192. ETS Nr. 24; ßGBt. 11 1964, 1369; 1976, 1778; 1 1982, 2071 ; 11 1994, 299; vgl. hierzu die Kommentieru ng von Schomburg, IntRh St, 11 A. ETS Nr. 86. ETS Nr. 98; BGBt. 111990,118; 1991,874.
428
§ 12 Justizielle Zusammen arbeit in Strafsachen
- keine Auslieferung wegen politischer Straftaten (Art. 3 1). Dieser Nichtauslieferungsvorbehalt greift ein , wenn der ersuchte Staat den Tatvorwurf als überwiegend politisch motivierte oder gepr ägt e Handlung bewertet, - keine Auslieferung bei drohender rechtsstaatswidriger Verfolgung. Eine Auslieferung ist unzul ässig, wenn ernstliche Gründe für die Annahme sprechen, dass der verfolgten Person aufgrund ihrer Rasse , Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aufgrund ihrer politischen Anschauungen im ersuchenden Staat menschenrechtswidrige Repressalien drohen (Art. 3 11), - Auslieferung wegen Fiskaldelikten kommt nur bei besonderer Vereinbarung in Betracht (Art . 5), - Ablehnung der Auslieferung eigener Staatsangehöriger (Art . 6) , - Ablehnung wegen Rechtshängigkeit (Art . 8). Der Auslieferung steht entgegen, dass im ersuchten Staat bereits ein Strafverfahren gegen die verfolgte Person anhängig ist, - Prinzip des "ne bis in idem" (Art . 9). Der Auslieferung steht die bereits erfolgte rechtskräftige Aburteilung der Tat im ersuchten Staat entgegen. Dieses Prinzip erstreckt sich über Art . 54 SDÜ auf den gesamten EU-Rechtsraum (§ 13), - Nichtauslieferung bei Verjährung der Strafverfolgung nach den Vorschriften des ersuchenden oder des ersuchten Staates (Art. 10), - Spezialitätsprinzip (Art. 14). Der Ausgelieferte darf im ersuchenden Staat grundsätzlich nur wegen der Taten verurteilt werden, für welche die Auslieferung bewilligt wurde. 16 Die zahlreichen Vorbehaltsmöglichkeiten, die das EuAIÜbK zulässt, stehen einer effektiven grenzüberschreitenden Zusammenarbeit entgegen. Zumindest im Rahmen des Verhältnisses der EU-Mitgliedstaaten untereinander, das auf gegenseitigem Vertrauen in das ordnungsgemäße Funktionieren der Strafrechtsptlege und die Beachtung der Menschenrechte basieren sollte, erscheinen sie zu weitgehend. Ein erster Schritt zur Erleichterung des Auslieferungsverkehrs wurde bereits mit dem von allen EU-Staaten ratifizierten Europaratsübereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus v. 27. Januar 1977 35 unternommen . Diese Konvention schränkt die Vorbehaltsmöglichkeiten bei politischen Straftaten für bestimmte Begehungsformen ein .
35
ETS Nr. 90; BGB!. 11 1978, 321, 907; 1989, 857; 1998, 1136.
C. Erleichterung der Auslieferung
429
2. Erleichterung des Auslieferungsverkehrs durch Art. 59 ff. SDÜ Weitere Verbesserungen der justiziellen Zusammenarbeit bringen die das EuA- 17 IÜbk ergänzenden und seine Anwendung erleichternden Bestimmungen der Art . 59-66 SDÜ 36. SO sind nach Art. 62 I SDÜ für die Unterbrechung der Verjährung allein die Vorschriften des ersuchenden Staates maßgebend-". Eine im ersuchten Staat erlassene Amnestie steht der Auslieferung nicht mehr generell entgegen (Art. 62 II SDÜ). Art . 63 SDÜ schränkt die Vorbehaltsmöglichkeiten bei Fiskaldelikten ein. Art. 65 SDÜ vereinfacht den Geschäftsweg bei der Stellung von Au slieferungsersuchen. In fast allen EU-M itgliedstaaten ist inzwischen der Geschäftsverkehr über die Justizministerien möglich (Art. 12 EuAIÜb K sieht hierfür den diplomatischen Weg vor) . Des Weiteren wird in Art. 66 SDÜ eine Au slieferung im vereinfachten Verfahren ermöglicht, wenn die verfolgte Person nach Belehrung über ihr Recht auf Durchführung eines förmlichen Auslieferungsverfahren s zustimmt.
3. EU-Übereinkommen über das vereinfachte Auslieferungsverfahren Die bereits in Art . 66 SDÜ angelegte Möglichkeit der Durchführung eines verein- 18 fachten Verfahrens der Au slieferung wird in dem mangels Ratifikation in allen Mitgliedstaaten noch nicht in Kraft getretenen Übereinkommen v, 10. März 1995 über das vereinfachte Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der EU 38 weiter ausgebaut. Die ses Übereinkommen zielt durch verbindliche Fristsetzungen und einen weitgehenden Verzicht auf Förmlichkeiten auf eine weitere Beschl eunigung und Vereinfachung des Au slieferungsverkehrs ab 39.
4. EU-Auslieferungsübereinkommen (EUAÜj Zur Erleichterung des gewöhnlichen (nicht vereinfachten) Au slieferungsverfah- 19 rens wurde das mangels Ratifikation in allen Mitgliedstaaten noch nicht in Kraft getretene Übereinkommen v, 27. September 1996 über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der EU (EUAÜ)40 getroffen, das die Europaratskonventionen ergän zt und deren Vorbehaltsmöglichkeiten - insbesondere was die Ausl ieferung eigener Staatsangehöriger sowie die Verfolgung von pol itischen und Fiskaldelikten anbelangt - deutlich einschr änkt" . Au slieferungsfähig sollen auch Delikte sein , für die im ersuchten Staat eine Höchststrafe von mindestens sech s Monaten gilt. Der Vorbehalt der beiderseitigen Strafbarkeit kann be i Beteiligung 36 37 38
39 40
41
Vgl. hierzu SchomburglGleß, IRhSt, Art. 59 Rn. I; Vogel, JZ 2001,93 7,939. Vgl. hierzu BGH NStZ 2002,661 m. Anm. v. Hecker. ABlEG 1995 Nr. C 78, S. 2; vgl. hierzu SchomburglGleß, IRhSt, III Ac (Vertragstabelle). Vgl. hierzu Hackner u. a., Leitfaden IRhSt, Rn. 89 ff ABlEG 1996 Nr. C 313, S. 11; vgl. hierzu SchomburglGleß , IRhSt, III Aa Rn. 8 (Vertragstabelle). Vgl. hierzu SchomburglGleß, IRhSt, III Aa Rn. 2; Vogel, JZ 2001, 937, 938 f.
430
§ 12 Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen
an einer kriminellen Vereinigung nur noch unter engen Voraussetzungen angebracht werden. Die Verjährungsfrage richtet sich allein nach dem Recht des ersuchenden Staates (Art . 8 I EUAÜ) . Eine praktische Erleichterung ist schließlich die Eröffnung der Möglichkeit, Auslieferungsersuchen auch per Fernkopie (Fax) zu stellen .
11. Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl 1. Einführung 20 Auf der Tagung des Rates in Sevilla wurde am 13. Juni 2002 der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaterr's angenommen, der am 7. August 2002 in Kraft getreten ist. Seiner Verabschiedung waren zähe politische Verhandlungen vorausgegangerr". Zwar vermochten die Mitgliedstaaten bereits auf der Sitzung des Rates in Laeken am 6.17. Dezember 200 I eine grunds ätzliche Einigung über das Vorhaben zu erzielen . Aufgrund des Widerstands Italiens gegen den Anwendungsbereich des Europäischen Haftbefehls, der sich nach der Vorstellung aller anderen Mitgliedstaaten auf einen Katalog von 32 Straftaten erstrecken sollte, musste das Projekt jedoch zurückgestellt werden . Italien wollte die Katalogtaten zunächst auf sechs Tatbestände beschränken und u. a. Geldwäsche und Korruption nicht mit aufnehmen . Dieser Vorschlag fand ebenso wie weitere nachgereichte Kompromissvorschläge Italiens nicht die Zustimmung der übrigen Mitgliedsländer. Unter dem öffentlichen Druck gab Italien daraufhin seine Blockadehaltung auf und machte damit den Weg frei für die Schaffung eines Instruments , das die traditionelle Form der Rechtshilfe (Staatenkooperation) durch ein "System des freien Verkehrs strafrechtlich justizieller Entscheidungen'v'" ersetzt. 21 Der mit dem Europäischen Haftbefehl eingeleitete Wandel des Auslieferungsverkehrs spiegelt sich bereits in der neuen Terminologie wider" . Der "ersuchende" Staat, der im tradierten Auslieferungsrecht um die Auslieferung einer verfolgten oder rechtskräftig verurteilten Person ersucht, wird nach Maßgabe des Rahmenbe schlusses zu dem Mitgliedstaat, der einen Europäischen Haftbefehl ausstellt ("Aus stellungsmitgliedstaat") . Der "ersuchte" Staat, der bisher darüber zu entscheiden hatte, ob er das Auslieferungsersuchen bewilligt, wird zu dem Mitgliedstaat, der den Europäischen Haftbefehl vollstreckt ("Voll streckungsmitgliedstaat") . An die Stelle der "Auslieferung" im herkömmlichen Sinne tritt die "Übergabe". 42
43 44
45
ABlEG 2002 Nr. L 190, S. I. Der Text des Rahmenbeschlu sses ist abgedruckt bei Gieß , IRhSt, 111 A d nach Rn. 11. Vgl. hierzu Wegner , StV 2003 , 105. Vgl. die Erwägung in Ziff. 5 des Rahmenbeschlu sses. Hierzu bereits Sieber, ZStW 103 (1991), S. 957 , 963 ; ders., ZRP 2000 , 186, 190. Vgl. hierzu ausführlich RohljJ, EuHb, passim sowie Ambos, IntStR, § 12 Rn. 59; Böse, Gegenseitige Anerkennung, S. 233, 240 f.; Esser, ZEuS 2004 , 290 , 298 ff.; v. Heintschel-Heinegg/RohljJ, GA 2003 , 44, 45 ; Seitz, NStZ 2004 ,546.
C. Erleichterung der Auslieferung
431
2. Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich gern. Art. I I um eine justizielle 22 Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt. Durch den Europäischen Haftbefehl soll - dem Handlungsauftrag von ex-Art. 31 Iit. b EUV folgend - die Auslieferung von Straftätern innerhalb der EU-Mitgliedstaaten erleichtert und beschleunigt werden . Zu diesem Zweck ersetzt der Rahmenbeschlu ss den undurchsichtigen, aus einer Vielzahl von Abkommen bestehenden .Regelungsdschungel'' des Auslieferungsrechts und statuiert ein vereinfachtes System der Übergabe, das an die Stelle des bisherigen Auslieferungsverfahrens tritt. Das traditionelle Auslieferungsverfahren , das eine Einbez iehung politi scher Gesichtspunkte erlaubte, wird EU-intern beseitigt. An mehreren Stellen verwei st der Rahmenbeschlu ss auf die Zusammenarbeit der nationalen Justizbehörden mit Euroj ust (§ 5 Rn. 70 ff.) und auf die Inanspruchnahme der KontaktsteIlen des EJN (§ 5 Rn. 66), was die Einbindung des Europäischen Haftbefehls in ein entstehendes System europäischer Strafverfolgung unterstreicht.
3. Wesentlicher Inhalt des Rahmenbeschlusses a) Verfahrensrechtliche Regelungen (I) Die wichtigste verfahrenstechnische Neuerung, die der Rahmenbeschluss mit 23 sich bringt, ist die Abschaffung des gouvernementalen Bewilligungsverfahrens (§ 2 Rn. 77 ff.). Während das traditionelle (zweistufige) Auslieferungsverfahren dadurch gekennzeichnet ist, dass zunächst ein Gericht die rechtliche Zulässigkeit der Auslieferung prüft und anschließend eine Regierungsbehörde darüber entscheidet, ob sie die (rechtlich zulässige) Auslieferung bewilligt, sieht der Rahmenbe schlus s ein (ein stufiges) rein justizielles Verfahren vor. Demnach soll nur noch die zuständige Justizbeh örde eines EU-Mitgliedstaates über die Übergabe einer Person entscheiden. Das Übergabeverfahren wird direkt zwischen den beteiligten Justi zbehörden abgewicke lt (Art . 9 1). Der Europäische Haftbefehl kann durch jedes sichere Mittel an die zust ändige Just izbehörde übermittelt werden , wenn der Aufenthaltsort der gesuchten Person bekannt ist (Art . 10 IV). Andernfalls kann eine Ausschreibung im SIS erfolgen (Art . 9 11). (2) Ein Europäischer Haftbefehl wird als Eilsache erledigt und vollstreckt 24 (Art . 17 1). Die endgültige Entscheidung über die Vollstreckung soll in den Fällen , in denen die gesuchte Person ihrer Übergabe zustimmt, innerhalb von zehn Tagen nach Erteilung der Zustimmung erfolgen (Art . 17 11). In den anderen Fällen soll die endgültige Entscheidung über die Voll streckung des Europäischen Haftbefehls innerhalb von 60 Tagen nach der Festnahme der gesuchten Person erfolgen (Art . 17 111). Die Übergabe der gesuchten Person soll sobald wie möglich zu einem zwischen den Behörden vereinbarten Zeitpunkt, spätestens aber zehn Tage nach der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (Art . 23 I, 11), erfolgen.
432
§ 12 Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen
b) Materielle Bestimmungen 25 (I) Art . 2 I legt fest, dass ein Europäischer Haftbefehl bei Handlungen erlassen werden kann, die nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind, oder im Falle einer Verurteilung zu einer Strafe oder der Anordnung einer Maßregel der Sicherung, deren Maß mindestens vier Monate beträgt. Diese Regelung entspricht den Festlegungen des Art . 2 I EuAIÜbk über auslieferungsfähige Straftaten (Rn . 14) . 26 (2) Im Rahmenbeschlussvorschlag der Kommission war vorgesehen, das traditionelle Auslieferungserfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit (§ 2 Rn. 70) abzuschaffen und den Mitgliedstaaten lediglich die Erstellung einer Negativliste mit denjenigen Delikten zu gestatten, die vom Anwendungsbereich des Europäischen Haftbefehls ausgenommen sein sollten". Da die Mitgliedstaaten aber offensichtlich nicht auf die mit dem Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit verbundene "Notbremsenfunktion"47 verzichten wollten , vermochte sich der Kommissionsvorschlag insoweit nicht durchzusetzen . Der erlassene Rahmenbeschluss bestimmt in Art . 2 IV, dass die Übergabe von der beiderseitigen Strafbarkeit der Handlung abhängig gemacht werden kann (vgl. auch Art . 4 Nr. I) . Allerdings und dies gehört zu den zentralen Neuerungen des Rechtsinstituts - gilt dies nicht , wenn es sich bei der dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegenden Handlung um eine Katalogtat i. S. d. Art . 2 11 handelt, die im Ausstellungsmitgliedstaat im Höchstmaß mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht ist. Unter diesen Voraussetzungen erfolgt nach Art . 2 11 eine Übergabe aufgrund eines Europäischen Haftbefehls ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit bei folgenden Deliktsgruppen: 46 47
Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, Terrorismus, Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung von Kindern und Kinderpornographie, illegaler Handel mit Drogen und psychotropen Stoffen, illegaler Handel mit Waffen, Munition und Sprengstoffen, Korruption, Betrugsdelikte, einschließlich Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften i. S. d, Übereinkommens v. 26. Juli 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, Wäsche von Erträgen aus Straftaten, Geldfälschung. einschließlich der Euro-Fälschung, Cyberkriminalität, Umweltkriminalität, einschließlich des illegalen Handels mit bedrohten Tierarten oder mit bedrohten Pflanzen- und Baumarten, Beihilfe zur illegalen Einreise und zum illegalen Aufenthalt, vorsätzliche Tötung, schwere Körperverletzung, Vgl. Art. 27 und Erwägung sgrund 14 des Vorschlags (ABlEG 2001 Nr. E 332 , S. 305) . Vgl. hierzu Weigend, JuS 2000 , 105, 110.
C. Erle ichterung der Auslieferung -
433
illegaler Handel mit Organen und menschlichem Gewebe, Entführung, Freiheitsberaubung und Geiselnahme, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Diebstahl in organisierter Form oder mit Waffen, illegaler Handel mit Kulturgütern, einschließlich Antiquitäten und Kunstgegenstände, Betrug, Erpressung und Schutzgelderpressung, Nachahmung und Produktpiraterie, Fälschung von amtlichen Dokumenten und Handel damit, Fälschung von Zahlungsmitteln, illegaler Handel mit Hormonen und anderen Wachstumsförderern, illegaler Handel mit nuklearen und radioaktiven Substanzen, Handel mit gestohlenen Kraftfahrzeugen, Vergewaltigung, Brandstiftung, Verbrechen, die in die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs fallen, Flugzeug- und Schiffsentführung, Sabotage
Die eher kriminologisch denn tatbestandsorientierte Positivliste'" entspricht dem 27 derzeitigen Grundbestand an gemeinsamen bzw. übereinstimmenden strafrechtl ichen Bewertungen, wie sie in deliktsspezifischen Übereinkommen auf UN-, Europarats- und EU-Ebene Ausdruck finderr". Deren Eignung als Über steIlungsgrundlage wird vom Rahmenbeschluss unionsweit verbindlich festgelegt, obwohl nicht für alle in der Liste aufg eführten Straftaten vollständig harmonisierte Definitionen existi eren'". Die Anmahnung weiterer Präzisierungen bestimmter Deliktsgruppen - namentlich " Rassismus und Fremdenfeindlichkeit" sowi e " Sabotage" - ist daher berechtigt. Ungeachtet dess en, dass in den Randbereichen der jeweiligen Deliktsgruppe Untersch iede in der konkreten Ausgestaltung der einschl ägigen nationalen Strafbestimmungen bestehen, ist aus Sicht des Unionsgesetzgebers jedenfalls ein Harmonisierungsgrad erreicht , der eine Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit verzichtb ar ersch einen lässt" : (3) Der klassische Auslieferungsvorbehalt der Spezialität will sicherstellen , dass 28 der Auszuliefernde im ersuchenden Staat ausschließlich wegen der Tat strafrechtlich verfolgt wird , wegen der die Auslieferung vom ersuchten Staat bewilligt wurde (§ 2 Rn. 72). Entgegen dem ersten Entwurf der Kommission, der die Abschaffung des Spezialitätsgrundsatzes vorsah , hält der erla ssene Rahmenbeschluss in Art . 27 11 grundsätzlich an diesem Prinzip fest 52 • Jedo ch sind in Art . 27 I und 111
48 49 50 51
52
/-Iackner, IRhSt , Vor § 78 IRG Rn. 7; Schomburg , NJW 2003 , 3392 , 3393 . Vgl. zu den Delik tsgruppen im einzelnen Böse, IRG, § 81 Rn. 12 ff. Vgl. hierzu v. Bubn ojJ, Leitfaden EuHb, S. 67 ff.; RohljJ, EuHb, S. 87 ff. Böse, IRG, § 81 Rn. 11. Vgl. hierzu EuG H NS tZ 2010, 35 ff. m. Anm . v. S. Heine, NS tZ 2010,39 f.
434
§ 12 Justizielle Zusammen arbeit in Strafsachen
Ausnahmen genereller und spezieller Art vorgesehen, was zu einem komplexen und unübersichtli chen Regelungsgeflecht führt. 29 (4) In Art. 3 Nr. 1-3 normiert der Rahmenbeschluss Gründe , bei deren Vorliegen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zwingend abzulehnen ist. Ein obligatorischer Ablehnungsgrund liegt vor, wenn - die Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, im Vollstreckungsstaat unter eine Amnestie fällt und dieser Staat nach seinem eigenen Strafrecht für die Verfolgung der Straftat zuständig war (Nr. I), - sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsmitgliedstaats nicht mehr vollstreckt werden kann (transnationales "ne bis in idem"; Nr. 2), - die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats aufgrund ihres Alters für die Handlung, die diesem Haftbefehl zugrunde liegt, nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann (Nr. 3). 30 (5) Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern , wenn einer der in Art. 4 Nr. 1-7 aufgeführten fakultativen Ablehnungsgründe vorliegt , nämlich - in einem der in Art. 2 IV 4 genannten Fälle die Handlung , aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats keine Straftat darstellt (beiderseitige Strafbarkeit); dies gilt jedoch nicht in Steuer- , 2011- und Währungsangelegenheiten (Nr. I), - die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, im Vollstreckung smitgliedstaat wegen derselben Handlung , aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, strafrechtlich verfolgt wird ("Rechtshängigkeit"; Nr. 2), - die Justizbehörden des Vollstreckungsmitgliedstaats beschlossen haben, wegen der Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, kein Verfahren einzuleiten bzw. das Verfahren einzustellen, oder wenn gegen die gesuchte Person in einem Mitgliedstaat aufgrund derselben Handlung eine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist, die einer weiteren Strafverfolgung entgegensteht (transnationales "ne bis in idem" ; Nr. 3), - die Strafverfolgung oder die Strafvollstreckung nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats verjährt ist und hinsichtlich der Handlungen nach seinem eigenen Strafrecht Gerichtsbarkeit bestand (Nr. 4), - sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Drittstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausge setzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder
C. Erleichterung der Auslieferung
435
nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann (transnationales "ne bis in idem"; Nr. 5), - der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufh ält'>, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken (Nr. 6), - der Europä ische Haftbefehl sich auf Straftaten erstreckt, die a) nach den Rechtsvorschriften des Voll streckungsmitgliedstaats ganz oder zum Teil in dessen Hoheitsgebiet oder an einem diesem gleichgestellten Ort begangen worden sind oder b) außerhalb des Hoheitsgebiets des Ausstellungsmitgliedstaats begangen wurden, und die Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats die Verfolgung von außerha lb seines Hoheitsgebiets begangenen Straftaten gleicher Art nicht zul assen (Nr. 7). Hinzuweisen ist darauf, das s das Verbot der Doppelbestrafung im Hinblick 31 auf die in Art . 54 SDÜ getroffene Regelung über ein transnationales "ne bis in idem" innerhalb der EU (§ 13) zu einem obligatorischen Ablehnungsgrund nach Art . 3 Nr. 2 führt . Ein Vollstreckungshindernis ergibt sich nach Art . 54 SDÜ i. V. m. Art . 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses nicht nur im Falle einer in einem Mitgliedstaat erfolgten rechtskräftigen Aburteilung in Form einer gerichtlichen Verurteilung oder eine s Freispruchs , sondern auch im Falle des Er lasses einer sonstigen verfahrenserledigenden Entscheidung, die materielle Rechtskraft entfaltet (z. B. eine Einste llung nach § 153 a StPO oder eine belgis ehe "transactie"54). (6) Art . 5 sieht best immte Fälle vor , in denen die Voll stre ckung des Europä ischen 32 Haftbefehls davon abhängig gemacht werden kann , dass der Ausstellungsmitgliedstaat bestimmte Garantien abgibt. Handelt es sich um einen Haftbefehl aufgrund eines gegen die gesuchte Person verh ängten Abwesenheitsurteils'", kann die Möglichkeit ein er Wiederaufnahme des Verfahrens unter Anwesenheit des Betroffenen im Ausstellungsmitgliedstaat nach der Übergabe des Betroffenen gefordert werden (Art. 5 Nr. I) . Droht dem Betroffenen ein e lebenslange Freiheitsstrafe, kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls an die Bedingung geknüpft werden, dass die Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaates eine Überprüfung der verhängten Strafe - auf Antrag oder spätestens nach 20 Jahren - oder Gnadenakte zulässt , die zur Aussetzung der Vollstreckung der Strafe oder der Maßregel führ en können und auf die die betroffene Person nach dem innerstaatlichen Recht oder der Rechtspraxis des Ausstellungsmitgliedstaates einen 53
54
55
Vgl. hierzu EuGI-I E 2008, 6077 = NJW 2008 , 3201 m. Anm. v. Böhm, NJW 2008, 3183 ; EuGH NJW 2010 , 283. Vgl. hierzu EuGH NJW 2003 , 1173 r. = NStZ 2003,332 = StV 2003 , 201 f/: Diese sind in einigen Staaten (z. B. in Italien, Frankreich, Ungarn) zulässig; vgl. hierzu EGMR NJW 2001 , 2387; BGH JZ 2002 , 464 m. Anm . v. Vogel; OLG Stuttgart ZIS 2006, 452 m. Anm. v. Karsai, ZIS 2006, 443 ff.
436
§ 12 Ju stizielle Zusammenarbe it in Strafsachen
Anspruch hat (Art. 5 Nr. 2)56. Bei eigenen Staatsangehörigen des Vollstreckungsmitgliedstaates oder bei Person en, die ihren Wohnsitz im Vollstreckungsmitgliedstaat haben , kann die Übergabe davon abhängig gemacht werden, dass sie nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehend en Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt werden, rücküberstellt werden (Art. 5 Nr. 3). (7) Schließlich weist Art . I 111 ausdrücklich darauf hin, dass der Europäische 33 Haftbefehl unter dem Vorbehalt der Grundrechte und der in ex-Art. 6 EUV niedergelegten allgemeinen Rechtsgrundsätze steht , was mittelbar auch die Gewährleistung der Konventionsgarantien der EMRK einschließt (ex-Art. 6 11 EUV)57. Art . I 111 formuliert mithin einen "europäischen ordre public 4458 • Über die Auslegung des Rahmenbeschlusses, insb esondere der Auslieferungshindernisse , kann der EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Maßgab e des ex-Art. 35 EUV entscheiden (§ 4 Rn. 37).
4. Bewertung und Ausblick 34 Der Europäische Haftbefehl stellt den Auslieferungsverkehr zwischen den EUMitgliedstaaten auf eine neue rechtliche Grundlage und markiert zugleich einen grundlegenden Paradigmenwechsel. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung (Rn . 50 ff.) wird in diesem Instrument erstmalig konkret ausgeformt'". Mit der Schaffung eines unionsweit vollstreckbaren Festnahme- und ÜbersteIlungsbefehls rückt das an die Stelle des kla ssischen Auslieferungsverfahrens tretende EUinterne Übergabeverfahren zwischen den mitgli edstaatliehen Justizbehörden bereits in die Nähe einer innerstaatlichen Zusammenarbeit. Zwar haben sich die Mitgliedstaaten bereits in bestehenden bi- und multilateralen Auslieferungsübereinkommen sowie in dem noch in der Ratifikationsphase befindlichen EUAÜ (Rn . 19) grundsätzlich verpflichtet, Auslieferungsersuchen der Vertragsparteien zu bewilligen. Diese völkerrechtliche Pflicht ist jedoch durch bestehende Vorbehaltsmöglichkeiten, insbesondere durch den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit eingeschränkt. Demgegenüber legt der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl die möglichen Auslieferungshindernisse abschließend fest (Art. 3, 4) . Auf andere als die dort aufgefLihrten Gründe darf die Ablehnung der Vollstreckung des Haftbefehls also nicht gestützt werden . 35 Nach den Vorgaben des Art. 2 11 müssen die Mitgliedstaaten im Falle der Verfolgung einer Katalogtat auch eigene Staatsangehörige an einen anderen Mitgliedstaat übergeben, ohne den Vorbehalt der beiderseitigen Strafbarkeit (Art . 2 IV) geltend machen zu dürfen. Der deutsche Gesetzgeber hat durch eine Ände56 57
58 59
N ach deut schem Recht besteht ein solcher Anspruch gern. §§ 57 a, b, 67 d, 67 e StGI3. Vgl. hierzu O LG Stuttgart StV 2010, 262; Esser, ERA-Forum 2003 , 70 Ir; Vogel,lZ 2002 , 464, 468 . Böse, Gegen seit ige Anerkennung, S. 233 , 241 ; v. Bubnoff, Leitfade n Eullb, S. 72. Vgl. hierzu Böse, IRG, Vor § 78 Rn. 2; v. Bubnoff, Leitfaden EuHb, S. 50 ff.; Hackner, IRhSt, Vo r § 78 Rn. 4 ff.
C. Erle ichterung der Auslieferung
437
rung des Art. 16 11 GG den Weg für eine Auslieferung eigener Staatsangehöriger frei gemacht, indem er das verfassungsrechtliche Verbot der Auslieferung deutscher Staatsangehöriger mit einer Einschränkung versehen hat 60 . Nach Art. 16112 GG n. F. kann durch Gesetz eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der EU oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind. In seiner Entscheidung v. 18. Juli 2005 forderte das BVerfG vom Gesetzgeber, den Rahmenbeschlus s so umzusetzen, dass die dabei unumg ängliche Einschränkung des Grundrechts auf Auslieferungsfreiheit verhältni smäßig ist und stellte hierfür Kriterien für ein erforderliches gesetzliche s Prüfprogramm auf (Rn . 44 ff.)'" . Damit ist höch strichterlich geklärt, dass die Auslieferung Deutscher verfas sungsrechtlich jedenfalls nicht schlechthin ausgeschlossen ist62 . Im Übrigen verstößt die Regelung des Art. 2 11, nach der die Überprüfung des Vorliegens der beiders eitigen Strafbarkeit für die dort aufgefLihrten Arten von Straftaten abgeschafft wird, weder gegen den unionsrechtlichen Grundsatz der Gesetzm äßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen noch gegen den Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskrimmierung'". Auf welch e Grund- und Menschenrechte der Betroffene sich berufen kann, um 36 die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu verhindern, wird auch in Zukunft für Diskussionen sorgen'" . Hierzu gehört auch die Frage, ob nationale Geset ze (hier : die Bestimmungen des IRG) und ihre Auslegung überhaupt noch einer Überprüfung am Maßstab der deutschen Grundrechte durch das BVerfG zugänglich sind, soweit sie zwingendes Unionsrecht umsetzen'". Das BVerfG ließ diese Grundsatzfrage in seiner Entscheidung v. 18. Juli 2005 , in der es das Europäischen Haftbefehlsgesetzes v. 21. Juli 2004 für nichtig erklärte (Rn . 39), offen'". In seiner .Lissabonv-Entscheidung v. 30 . Juni 2009 führte das BVerfG jedoch aus, dass an dem Grundsatz des begrenzten Vorranges des Unionsrechts (§ 9 Rn. 5) festzuhalten sei'" . Mit den aus Art. 16 11 GG abzuleitenden Nachbesserungsvorschlägen hielt sich das BVerfG jedoch im Rahmen der Umsetzungsspielräume, die der Rahmenbe schlu ss den Mitgliedstaaten einräumt. Der mit der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verbundene Eingriff in die Freiheitsrechte der verfolgten Person erscheint jedenfalls bei dem vom Rahmenbeschluss geforderten Vorliegen einer auslieferungsfähigen Straftat (vgl. Art. 2 I) oder einer Katalog-
60
61 62
63 64
65
66
67
Vgl. Art. I des Gesetzes v. 29. Nove mbe r 2000 (ßGßI. 12000, 1633). ß VerfG NJW 2005 , 2289 , 2292 ff So aber d ie Au ffassung von Schünemann, Z RP 2003 , 185; ders., GA 2004, 193, 205 ff.; zur Entscheidun g des BVerfG vgl. Schünemann, StV 2005 , 681 ff. EuGH NJW 2007 , 2237 m. Anm. v. Braum , wistra 2007 ,40 I. Vgl. hierzu Heger, ZIS 2009 , 406 , 408 ; v. Heintschel-Heinegg/RohljJ, GA 2003 , 44 , 50; Tinkl, Recht sstellun g, 126 Ir; Lagodny/Wiederin/Winkler/ Merli, S. 125 ff.; Weigend/G6rski, ZStW 117 (2005), S. 193,206 f.; Vogel, JZ 2001,937,941. Vgl. hierzu Ambos, IntStR , § 12 Rn. 70; Böse, IRG, Vor § 78 Rn. 8 ff.; Masing, NJW 2006 , 264 ff.; Streinz, Otto- FS, S. 1029, 1050. Krit. hierzu Verfassungsrichter Gerhardt (NJW 2005 , 2302) . BVerfG NJW 2009 , 2267, 2284 ff
438
§ 12 Ju stizielle Zusammenarbe it in Strafsachen
straftat (Art. 2 II) in der Regel nicht unverhältnisrnäßig'". Die Art und Weise des Vollzugs des Europäischen Haftbefehls und die Rechte der verfolgten Person bestimmen sich nach dem Recht des Vollstreckungsstaates. Der Rahmenbeschluss verlangt explizit die Gewährleistung bestimmter Mindestgarantien für den Verfolgten nach Maßgabe der innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaates, wie das Recht auf Unterrichtung über den Haftbefehl und dessen Inhalt (Art. II 1), den Anspruch auf Beiziehung eines Rechtsbeistandes und eines Dolmetschers (Art. II II) und auf rechtliches Gehör (Art . 14). Auch besteht die Möglichkeit einer vorläufigen Haftentlassung, sofern eine Flucht der verfolgten Person auf andere Weise als durch Inhaftierung verhindert werden kann (Art . 12). Zusätzliche Garantien sieht der Rahmenbeschluss für bestimmte Problemkonstellationen (Abwesenheitsverurteilungen, droh ende lebenslange Freiheitsstrafe im Ausstellungsstaat) vor . 37 Es ist Aufgabe aller EU-Mitgliedstaaten, für eine ausgewogene Balance zwischen den Erfordernissen einer modernen Verbrechensbekämpfung einerseits und einem hohen rechtsstaatliehen Standard andererseits zu sorgen. Die Umsetzung des Rechtsinstituts erfordert nationale Ausführungsgesetze, die inzwischen von allen Mitgliedstaaten erlassen wurden'". Einem Bericht der Kommission vom 23 . Februar 2005 70 zufolge bewirkte die Einführung des Europäischen Haftbefehls eine wesentliche Verfahrensbeschleunigung im Bereich des Auslieferungsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten. Nach einer vorläufigen Schätzung hat sich das Auslieferungsverfahren bis zur Vollstreckung eines Haftbefehls im Durch schnitt von bislang neun Monaten auf 43 Tage verkürzt. Dabei wurden noch nicht einmal die häufig vorkommenden Fälle berücksichtigt, in denen der Betreffende seiner Übergabe zustimmt. In diesen Fällen beträgt der betreffende Zeitraum im Durchschnitt nur noch 13 Tage. 38 Reichlich überzogen erscheint die Befürchtung, der Europäische Haftbefehl laufe "eindeutig auf die europaweite Herrschaft des jeweils punitivsten Strafrechts und damit auf die Schaffung eine s Raumes der Unfreiheit und der Unsicherheit hinaus"?" . Zwar ist es völlig legitim , gerade im Bereich des eingriffsintensiven Übergabeverfahrens die Wahrung der Bürgerrechte einzufordern. Es sollte dabei aber nicht übersehen werden, dass nicht nur in Deutschland, sondern auch in den anderen EU-Mitgliedstaaten ein faires , rechtsstaatliches Verfahren für den Ver-
68
69
70 71
v. BubnoJJ, ZEuS 2002 , 185, 231 f.; vgl. aber auch OLG Stuttgart StV 20 I0, 262 (der Auslieferung aufgrund Europäischen Haftbefehls kann im Einzelfall der aus Art. 49 111 GRCh abzu leitende Verh ältn ismäßigkeit sgrundsatz entgegenstehen). Vgl. hierzu den Überblick von Lagodny/W iederin/WinklerlLagodny , S. 143 ff.; in Österreich Lagodny /W iederin/W inklerlHinterhojer, S. 205 ff.; in Polen WeigendlG6rski, ZStW 117 (2005), S. 193 ff. KOM (2005) 63 endg., S. 6. Schünem ann, Z RP 2003 , 185, 188; ders., StV 2003 , 116, 119; vgl. auch Nestler, ZStW 116 (2004), S. 332, 336, 350 ("Horrorvi sion der entfe sselte n Kräfte des Prinzips der gegen seit igen Ane rkennung") . Gegen diese Fund ament alkritik zu Recht Böse, IRG, Vor § 78 Rn. 14.
C. Erleichterung der Auslieferung
439
folgten gewährleistet ist72 • Den Schutz der Grund- und Menschenrechte kann man in allen EU-Mitgliedstaaten - zumal sie alle der EMRK verpflichtet sind - grundsätzlich als gleichwertig ansehen. Dah er besteht innerhalb des Rechtsraumes der EU kein Grund, die von dem Rahmenbeschluss geforderte zwis chenstaatliche Kooperation zum Zwecke der Strafverfolgung oder Strafvollstreckung in Frage zu stellen. Die s gilt nicht nur für die Festnahme und Übergabe eigener Staatsangehöriger, sondern auch von Au sländern, die ihren Lebensmittelpunkt in einem Mitgliedstaat haben . Dem im Hinblick auf seine Resoziali sierung ver ständlichen Interesse de s Betroffenen, die gegen ihn verh ängte Strafe in seinem Heimat- oder Wohnsitzstaat verbüßen zu können, kann bereits mit einer RückübersteIlung hinreichend Rechnung getragen werden (vgl. Art . 5 111).
111. Umsetzung des Rahmenbeschlusses in Deutschland
1. Nichtigerklärung des ersten Umsetzungsgesetzes In Deutschland wurde der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl 39 und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten durch das Europäische Haftbefehlsgesetz (EuHbG)73 v. 21. Juli 2004, das am 23. August 2004 in Kraft getreten ist, in deutsches Recht umgesetzt. Hierzu wurde ein neuer achter Teil mit dem Titel " Unterstützung von Mitgliedstaaten der Europä ischen Union" in da s IRG eingefugt (§§ 78-83 i IRGY4. In dem auf Verfassungsbeschwerde eines Deutsch-Syrers eingeleiteten Verfahren gegen die Zulassung der Auslieferung nach Spanien wegen Mitgliedschaft in ein er terroristischen Vereinigung durch da s OLG Hamburg und die Bewilligung der Hamburger Justizbehörde erklärte der Zweite Senat des BVerfG mit Beschluss v. 18. Juli 2005 75 mehrheitlich das ganze Gesetz für nichtig. Eine verfassungskonforme Auslegung oder die Feststellung der Te ilnichtigkeit schieden nach Auffassung des Senats aus , weil der Gesetzgeber in normativer Freiheit unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe über die Ausübung des qualifizierten Gesetzesvorbehalts in Art . 16 11 S. 2 GG erneut entscheiden können m üsse?". 72
73
74 75
76
Vgl. hierzu BT-Drs. 14/2668, S. 5 zur Änderung des Art. 1611 GG; Böse, Gegenseitige Anerkennung, S. 233, 245 ; Wasmeier, ZStW 116 (2004) , S. 320, 321. Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlus ses über den EuHb und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der EU (BGBI. I 2004, 1748). Vgl. hierzu Seitz, NStZ 2004, 546 Ir ; krit. im Hinblick auf die Beibehaltung der Terminologie und Systematik des IRG Ahlb recht, StV 2005, 40, 42; Böse, IRG, § 83 b Rn. I; v. BubnojJ, Leitfaden EuHb, S. 17; Wehnert, StraFo 2003, 356, 359 f. Vgl. hierzu und zum Nachfolgenden BVerfGE 113,237 ff. = NJW 2005 ,2289 ff. sowie Ambos, IntStR, § 12 Rn. 71; Böhm, NJW 2005 , 2588 ; fluJeld, JuS 2005, 865; Jekewitz, GA 2005 , 625; Knopp, JR 2005, 448 ; Lagodny, StV 2005, 515; Ranji, wistra 2005,361 ; Satzger, IntStR, § 10 Rn. 29 ff.; Tomuschat, EuGRZ 2005, 453 ; Vogel, JZ 2005,801. Die Verfassungsrichter Lübbe-WoljJund Gerhardt äußern in ihren Minderheitsvoten Bedenken gegen die Aufhebung des gesamten Gesetzes. In einem Urteil v. 27. April
440
§ 12 Justizielle Zusammen arbeit in Strafsachen
40 Das BVerfG beanstandete, dass das EuHbG dem in Art. 16 11 S.2 GG verankerten Verbot der Auslieferung Deutscher nicht hinreichend Rechnung trage . Eingriffe in dieses Grundrecht dürften nur unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, insbesondere des Schonungsgebotes, erfolgen . Der Gesetzgeber habe es unterlassen, den ihm gern. Art. 4 Nr. 7a des Rahmenbeschlusses eröffneten Umsetzungsspielraum zur Nichtauslieferung Deutscher in Form einer tatbestandliehen Konkretisierung auszuschöpfen und durch ein gesetzliches Prüfprogramm dafür Sorge zu tragen , dass die das Gesetz ausfuhrenden Stellen in einem Auslieferungsfall in eine konkrete Abwägung der widerstreitenden Rechtspositionen eintreten . Straftatvorwürfe mit maßgeblichem Inlandsbezug seien bei tatverdächtigen deutschen Staatsangehörigen prinzipiell im Inland durch deutsche Strafverfolgungsbehörden aufzuklären. 41 Des Weiteren monierte das BVerfG, dass das EuHbG keine gerichtliche Überprüfung der Bewilligungsentscheidung vorsehe , was einen Verstoß gegen Art. 19 IV GG darstelle . Zwar sei die gerichtliche Anfechtbarkeit der Bewilligungsentscheidung im klassischen Auslieferungsverfahren bislang abgelehnt worden, weil die außen- und allgemeinpolitischen Aspekte zum Kembereich der Exekutive gehörten . Durch die Änderung des Art. 16 11 GG und das Inkrafttreten des EuHbG hätten sich die rechtlichen Rahmenbedingungen für Auslieferungen in Mitgliedstaaten der EU jedoch grundlegend verändert. Im Grundsatz gelte nunmehr, dass zulässige Auslieferungsersuchen anderer Mitgliedstaaten nur abgelehnt werden können, soweit dies im achten Teil des IRG vorgesehen sei. Durch diese Grundregel werde das der Bewilligungsbehörde im klassischen Auslieferungsverfahren zustehende weite Ermessen prinzipiell beseitigt und das Verfahren über die schon bestehenden vertraglichen Bindungen hinaus verrechtlicht. Der Bewilligungsentscheidung falle nunmehr die Funktion zu, die gesetzliche Einschränkung des Grundrechts auf Auslieferungsfreiheit zu konkretisieren. Die bei der Bewilligung zu treffende Abwägungsentscheidung dürfe daher richterlicher Überprüfung nicht entzogen werden .
2. Das Europäisches Haftbefehlsgesetz vom 20. Juli 2006 42 Nachdem die Umsetzung des Rahmenbeschlusses in nationales Recht im ersten Anlauf gescheitert war, bestand für den deutschen Gesetzgeber dringender Handlungsbedarf. Am 2. August 2006 trat das zweite Europäische Haftbefehlsgesetz (2. EuHbG) v. 20. Juli 2006 77 in Kraft. Das 2. EuHbG weicht von dem ersten nur insoweit ab, als das Urteil des BVerfG Änderungen oder Ergänzungen gebietet.
77
2005 hat der polnische Verfassungsgerichtshof eine nationale Bestimmung, die die Übergabe eigener Staatsangehöriger an einen anderen Mitglied staat aufgrund eines Europäischen Haftbefehls erlaubt, zwar als Verfassun gsverstoß gewertet, jedoch den Geltungsverlu st der betro ffenen Bestimmung in Erwartung einer bevor stehend en Verfassungsänd erung auf höchst ens 18 Monat e aufgeschob en (EuR 2005, 494 ff.). Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitglied staaten der Europäischen Union (BGBI. 12006, 1721).
C. Erleichterung der Auslieferung
441
Auch das 2. EuHbG hält an der traditionellen Terminologie ("Auslieferung"; "ersuchender Staat"; "ersuchter Staat") und Systematik des IRG (Zweistufigkeit des Auslieferungsverfahrens) fest" : Die maßgeblichen Umsetzungsbestimmungen sind im achten Teil (§§ 78-83 i IRG) enthalten. § 79 IRG normiert eine grundsätzliche Pflicht zur Bewilligung zulässiger Auslieferungsersuchen. Dieses kann nur abgelehnt werden , soweit im Einzelfall Bewilligungshindernisse nach § 83 b IRG bestehen. Von besonderer Bedeutung sind die nachfolgenden Bestimmungen des IRG:
a) Abkehr vom Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit Eine der grundlegendsten Neuerungen des Europäischen Haftbefehl s ist die Ab- 43 kehr von dem Grundsatz der beiderseitigen Stratbarkeit. Dieser Vorgabe trägt § 81 Nr. 4 IRG Rechnung, wonach die beiderseitige Stratbarkeit abweichend von der Grundregel des § 3 IRG nicht zu prüfen ist, wenn die dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegende Tat nach dem Recht des ersuchenden Staate s eine Stratbestimmung verletzt, die den in Art. 2 11 RB in Bezug genommenen Deliktsgruppen ("Positivliste"; Rn. 26) zugehörig ist. Scheidet eine Zuordnung der in Rede stehenden Tat zu einer der Deliktsgruppen eindeutig aus, so ist die beiderseitige Stratbarkeit weiterhin zu prüfen (§ 78 IRG i. V. m. § 3 IRG). Letzteres ist z. B. der Fall, wenn es sich bei der dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegenden Tat um einen illegalen Schwangerschaftsabbruch handelt": b) Gesetzliches Prüfprogramm bei Auslieferung Deutscher In § 80 IRG wird das vom BVerfG geforderte Prüfprogramm bei der Auslieferung 44 deutscher Staatsangehöriger gesetzli ch festgeschrieben'" . Nach § 80 I S. I IRG ist die Auslieferung eines Deutschen zum Zwecke der Strafverfolgung nur zuläs sig, wenn I. gesichert ist, dass der ersuchende Mitgliedstaat nach Verhängung einer rechtskräftigen Freiheitsstrafe oder sonstigen Sanktion anbiet en wird, den Verfolgten auf seinen Wunsch zur Voll streckung in den Geltungsbereich diese Gesetzes zurückzuüberstellen , und 2. die Tat einen maßgeblichen Bezug zum ersuchenden Mitgliedstaat aufweist. Ein maßgeblicher Bezug zum ersuchenden Mitgliedstaat liegt in der Regel vor, wenn die Tathandlung vollständig oder in wesentlichen Teilen auf seinem Hoheitsgebiet begangen wurde und der Erfolg zumindest in wesentlichen Teil en dort eingetreten ist, oder wenn es sich um eine schwere Tat mit 78
79
80
Vgl. hierzu die berechtigte Kritik v. HackneriSch omburglLag odnylGleß, NStZ 2006, 664, 665; Tinkl, Rechtsstellung des Einzelnen nach dem RbEuHbf, 242 ff. sowie die bereits gege n das erste EuHbG zu Recht erhobenen Einwände von Ahlbrec ht, StV 2005, 40, 42; Böse, IRG, § 83 b Rn. 1; v. Bubnof], Leitfaden Eul-l b, S. 17; Lagodny , StV 2005, 515, 518; Wehnert, StraFo 2003, 356, 359 f. Vgl. hierzu Böse, IRG, § 81 Rn. 25. Vgl. hierzu HacknerlSchomb urglLag odnylGleß, NStZ 2006, 664, 666 ff.
442
§ 12 Justiz ielle Zusammenarbeit in Strafsachen typisch grenzüberschreitendem Charakter handelt, die zumindest teilweise auch auf seinem Hoheitsgebiet begangen wurde (§ 80 I S. 2 IRG).
45 Beispiele: (1) Ein Deutscher ermordet in Frankreich einen Franzosen. (2) Deutsche Staatsangehörige beteiligen sich in Deutschland an der Vorbereitung eines terroristischen Anschlages, der auf dem Territorium eines anderen Mitgliedstaates begangen wird'". Wegen des maßgeblichen Auslandsbezugs ist eine Auslieferung der verfolgten deutschen Staatsangehörigen in beiden Fällen prinzipiell zulässig. 46 Liegen die Voraussetzungen des § 80 I Nr. 2 IRG nicht vor, so ist die Auslieferung eines Deutschen zum Zweck der Strafverfolgung nach § 80 11 S. I IRG nur zulässig, wenn I . die Voraussetzungen des § 80 I S. I Nr. I IRG vorliegen und die Tat 2. keinen maßgeblichen Bezug zum Inland aufweist und 3 . auch nach deutschem Recht eine rechtswidrige Tat ist, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht oder bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts auch nach deutschem Recht eine solche Tat wäre, und bei konkreter Abwägung der widerstreitenden Interessen das schutzwürdige Vertrauen des Verfolgten in seine Nichtauslieferung nicht überwiegt. 47 Ein maßgeblicher Bezug zum Inland liegt in der Regel vor, wenn die Tathandlung vollständig oder in wesentlichen Teilen im Geltungsbereich dieses Gesetzes begangen wurde und der Erfolg zumindest in wesentlichen Teilen dort eingetreten ist (§ 80 11 S. 2 IRG). Bei der Abwägung sind insbesondere der Tatvorwurf, die praktischen Erfordernisse und Möglichkeiten einer effektiven Strafverfolgung und die grundrechtlich geschützten Interessen des Verfolgten unter Berücksichtigung der mit der Schaffung eines Europäischen Rechtsraums verbundenen Ziel zu gewichten und zueinander ins Verhältnis zu setzen (§ 80 11 S. 3 IRG). Liegt wegen der Tat, die Gegenstand des Auslieferungsersuchens ist, eine Entscheidung einer Staatsanwaltschaft oder eines Gerichts vor, ein deutsches strafrechtliches Verfahren einzustellen oder nicht einzuleiten, so sind diese Entscheidung und ihre Gründe in die Abwägung mit einzubeziehen; Entsprechendes gilt, wenn ein Gericht das Hauptverfahren eröffnet oder einen Strafbefehl erlassen hat (§ 80 11 S. 4 IRG).
48 Beispiele: (1) Der Deutsche D versteigert von Deutschland aus im Internet betrügerisch Waren und schädigt dadurch zahlreiche Opfer im In- und Ausland, darunter überwiegend Deutsche. Da der Inlandsbezug der Tat überwiegt, ist eine Auslieferung des Dunzulässig. D ist in Deutschland abzuurteilen. (2) Der deutsche Staatsbürger A ist in einen Komplex bandenmäßig begangener Autodiebstähle und -verschiebereien verwickelt, die sich in Deutschland und Polen abspielen. Hierbei handelt es sich um einen sog. "Mischfall", da weder ein überwiegender Inlands- noch Auslandsbezug festgestellt werden kann. Die zu81
Das ßVerfG führte insoweit aus, dass derjenige, der sich in verbrecherische Strukturen wie namentlich den internationalen Terrorismus oder organisierten Drogen- oder Menschenhandel einbindet, nicht in vollem Umfang auf den Schutz des Auslieferungsverbots berufen könne (N1W 2005, 2289, 2292).
D. Gegen seitige Anerkennungjustizieller Entscheidungen
443
ständige deutsche Behörde muss in diesem Pali in das von § 80 II S. 3, 4 IRG vorge schr iebene Prüfprogramm eintreten. Wenn A wegen dieser Taten in Deut schland bereits angeklagt und ein deut sches Gericht das Hauptverfahren eröffnet hat, spricht dies gegen die Zulässigkeit seiner Auslieferung (§ 80 II S. 4 IRG).
c) Gerichtliche Überprüfung der Bewilligungsentscheidung Da auch das 2. EuHbG an der Zweistufigkeit des Auslieferungsverfahrens festh ält, 49 bleibt die Möglichkeit bestehen, dass eine Auslieferung nicht bewilligt wird, obwohl die Zulässigkeitsvoraussetzungen des IRG erfüllt sind . § 83 bIRG benennt abschließend die Gründe, die zur Ablehnung einer Bewilligung führen können, aber nicht müssen . Dies ist z. B. der Fall, wenn die Strafverfolgung vorrangig im Inland bzw. einem Drittstaat erfolgen soll (§ 83 b I Iit. a, c IRG) oder die Einleitung eines strafrechtlichen Verfahrens wegen derselben Tat , die dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegt , abgelehnt oder ein bereits eingeleitetes Verfahren eingestellt wurde (§ 83 b I lit. bIRG). Die Bewilligungsbehörde trifft ihre Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen mit einem auch außenpolitischen Erwägungen zugänglichem Spielraum. Bewilligungsbehörden sind aufgrund der übertragung der Bewilligungsbefugnis von der Bundesregierung auf die Länder und der von diesen vorgenommenen Delegationserlasse die Generalstaatsanwaltschaften der Länder. Um dem Betroffenen den vom BVerfG geforderten effektiven Rechtsschutz zu gewähren und dennoch zugleich das Verfahren zügig zu gestalten, trifft die Bewilligungsbehörde nach § 79 11 IRG bereits vorab ihre mit Gründen versehene Entscheidung, ob sie im Falle einer vom Gericht rechtlich für zulässig erklärten Auslieferung Bewilligungshindernisse nach § 83 bIRG sieht oder nicht'". Sieht sie Bewilligungshindernisse, wird das Auslieferungsersuchen bereits in diesem Stadium abgelehnt. Verneint sie hingegen das Vorliegen von Bewilligungshindernissen. übermittelt sie ihre Begründung dem OLG zusammen mit dem Antrag, über die Zulässigkeit der Auslieferung zu entscheiden (§ 79 11 S. 3IRG).
D. Gegenseitige Anerkennung justizieller Entscheidungen I. Anwendungsfelder
1. Gegenseitige Anerkennung als zentrales Strukturprinzip Seit dem Europäischen Rat von Tampere 1999 gilt der im Wirtschaftsrecht bereits 50 zwei Jahrzehnte zuvor als .Herkunftslandprinzip'' etablierte Grundsatz der gegenseitiger Anerkennung auch als " Eckste in" eines europäischen Straf- und Strafverfahrenrechts . Art . 82 I AEUV schreibt nunmehr die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen als grundlegendes Strukturprinzip der JZS primär82
Vgl. hierzu KG NJW 2006 , 3507 , 3508 f.; OLG Karlsruhe NJW 2007 , 617 f.; OLG Stuttgart NJW 2007 , 1702, 1703 f.
444
§ 12 Justizielle Zusammen arbeit in Strafsachen
rechtlich fest'". Danach sollen Entscheidungen grundsätzlich ohne Prüfung in allen anderen Mitgliedstaaten Gültigkeit beanspruchen und Wirksamkeit entfalten können . Eine Ausprägung dieses Prinzips findet sich bereits in Art. I EG-ne bis in idem-Übk und Art. 54 SDÜ, die ein transnationales Doppelbestrafungsverbot statuieren (§ 13)84. Ein weiteres prominentes Beispiel bildet die EBA (Rn . 10 ff.). Im Rahmen der früheren 3. Säule der EU sind weitere Rechtsakte initiiert oder erlassen worden , die auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung beruhen'".
2. Angleichung strafprozessualer Verfahrensgarantien 51 Nach zutreffender Auffassung der Kommission setzt eine effiziente Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung allseitiges Vertrauen voraus . Nicht nur die Justizbehörden, sondern alle an Strafverfahren beteiligten Personen müssten Entscheidungen der Justizbehörden der anderen Mitgliedstaaten als gleichwertig zu ihren eigenen ansehen dürfen und keinen Anlass haben , deren justizielle Funktion und die Wahrung des Rechts auf ein faires Verfahren anzweifelrr". Die Kommission legte daher am 28. April 2004 einen Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über bestimmte Verfahrensrechte in Strafverfahren innerhalb der Europäischen Union'" vor. Hintergrund dieser Kommi ssionsinitiative bildet die Prognose, dass die Zahl ausländi scher Angeklagter aufgrund verschiedener Faktoren , vor allem höhere berufliche Mobilität, vermehrte Auslandsrei sen, Migrationsbewegungen, Anstieg der Asylbewerber- und Flüchtlingszahlen, weiterhin zunehmen werde . Mit zunehmender Ausübung des Rechts, sich in der Union frei bewegen und aufhalten zu dürfen , werde auch die Zahl der Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten, die in Strafverfahren verwickelt sind, steigen . Es sei Aufgabe der Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass die prozessualen Rechte der Unionsbürger, gegen die in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Herkunftsstaat ein Strafverfahren anhängig ist, angemessen gewahrt werd en. Der Rahmenbeschlussvorschlag der Kommission verlangt in einem ersten Schritt , dem weitere folgen sollen , die Annahme gemeinsamer Mindestnormen in folgenden fünf Bereichen: - Vertretung durch einen Rechtsbeistand vor dem und im Hauptverfahren, - kostenlose Inanspruchnahme eines Dolmetschers/Übersetzers, - Sicherstellung, dass Personen , die das Verfahren nicht verstehen oder ihm nicht folgen können , entsprechende Betreuung erhalten, - Recht auf Kontaktierung konsularischer Behörden bei ausländischen Verdächtigen sowie - Aufklärung der Verdächtigen über ihre Rechte . 83
84 85 86
87
Vgl. hierzu Heger, ZIS 2009 , 406, 410 f.; Satzger, IntStR, § 10 Rn. 24 f.; Scheuermann, Gegenseitige Anerkennung, S. 73 ff.; Zimmermann, Jura 2009,844,845 . Vgl. hierzu Gieß, ZStW 116 (2004), S. 353, 362 ff.; Radtke, GA 2004 , I, 17 m .w. N. Vgl. hierzu den Überblick bei Kühne, Strafproze ssrecht, Rn. 73.3. KOM (2004) 328 endg . (Rz. 28) . KOM (2004) 328 endg .
D. Gegen seitige Anerkennungjustizieller Entscheidungen
445
Mit seiner Entschließung vom 30. November 2009 nahm der Rat einen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren an 88 .
3. Gegenseitige Anerkennung von Sanktionen Der am 22. März 2005 in Kraft getretene Rahmenbeschluss des Rates über die 52 Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen v. 24. Februar 2005 89 bildet ein weiteres Beispiel für den herausragenden Stellenwert, die dem schon im Titel des RB anklingenden Strukturprinzip beigemessen wird. Die in einem Mitgliedstaat ("Entscheidungsstaat") ergangene rechtskräftige Entscheidung über die Verhängung einer Geldstrafe oder Geldbuße wegen einer in dem Katalog des Art. 5 I RB aufgefLihrten Straftat oder Verwaltungsübertretung (Ordnungswidrigkeit) - z. B. ein Verkehrsdelikt - ist gern. Art. 6 RB von dem Mitgliedstaat, dem diese Entscheidung zum Zwecke der Vollstreckung übermittelt wurde ("Vollstreckungsstaat") auch ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit grundsätzlich anzuerkennen und zu vollstrecken. Der Vollstreckungsstaat kann die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung nur aus den in Art. 7 RB aufgeführten Gründen verweigern, z. B. wenn die auferlegte Geldzahlung unter 70 Euro liegt. Bemerkenswert ist, dass nach Art. 9 111 RB Geldstrafen oder Geldbußen, die gegen juristische Personen verhängt werden , selbst dann zu vollstrecken sind, wenn der Grundsatz der strafrechtlichen Verantwortlichkeit juristischer Personen im Vollstreckungsstaat nicht anerkannt ist.
4. Gegenseitige Anerkennung der Wirkung von Verurteilungen Der am 15. August 2008 in Kraft getretene Rahmenbeschluss des Rates zur Be- 53 rücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der EU ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren v. 24. Juli 2008 90 statuiert den Grundsatz, dass eine in einem anderen Mitgliedstaat ergangene strafrechtliche Verurteilung mit den gleichen rechtlichen Wirkungen zu versehen ist, die das innerstaatliche Recht den im Inland ergangenen Verurteilungen zuerkennt (Art . 3). Die hier angesprochenen Rechtswirkungen betreffen insbesondere die Verfahrensvorschriften einschließlich der Vorschriften zur Untersuchungshaft, die rechtliche Einordnung des Tatbestands, Art und Umfang der verhängten Strafe sowie die Vollstreckungsvorschriften. Am 5. Dezember 2008 ist der Rahmenbeschluss des Rates über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der EU v. 27. November 2008 in Kraft getreten" . Zweck dieses Rahmenbeschlusses ist es, im 88 89 90 91
ABIEU 2009 AB1EU 2005 AB1EU 2008 AB1EU 2008
Nr. C 295, S. I. Vgl. hierzu Brodowski, ZIS 2010, 376, 382 Nr. L 76, S. 16. Nr. L 220, S. 32. Nr. L 327, S. 27.
446
§ 12 Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen
Hinblick auf die Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person die Regeln festzulegen , nach denen ein Mitgliedstaat ein Urteil anerkennt und die verhängte Sanktion vollstreckt (Art. 3 1). Mit dem am 16. Dezember 2008 in Kraft getretenen Rahmenbeschluss über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile und Bewährungsentscheidungen im Hinblick auf die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen v. 27. November 2008 92 soll der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen auf die Vollstreckung von Strafen ohne Haftstrafe ausgeweitet werden . Festgelegt werden Regeln, die von den einzelnen Mitgliedstaaten bei der Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen, die von einem anderen Mitgliedstaat verhängt wurden , zu beachten sind'". Eine Modifizierung der oben genannten Rechtsakte bewirkte der am 28. März 2009 in Kraft getretene Rahmenbeschluss des Rates zur Änderung der Rahmenbeschlüsse 2002/584/JI, 20051214/JI, 20061783/JI, 2008/909/JI und 2008/947/JI, zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist v. 26. Februar 2009 94 • Mit diesem Rahmenbeschluss soll Umsetzungsproblemen begegnet werden , die sich aus der unterschiedlichen Behandlung und Bewertung von Abwesenheitsurteilen in den Rahmenbeschlüssen ergeben , die den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung rechtskräftiger Entscheidungen normieren'".
5. Informationsaustausch über Strafregistereinträge 54 Am 27. April 2009 ist der Rahmenbeschluss des Rates über die Durchführung und den Inhalt des Austauschs von Informationen aus dem Strafregister zwischen den Mitglledstaaten'" v. 26. Februar 2009 in Kraft getreten . Mit diesem Rahmenbeschluss werden - die Modalitäten festgelegt , nach denen ein Mitgliedstaat, in dem eine Verurteilung gegen einen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats ("Urteilsmitgliedstaat") ergangen ist, die diesbezüglichen Informationen dem Mitgliedstaat übermittelt, dessen Staatsangehörigkeit die verurteilte Person besitzt ("Herkunftsmitgliedstaat"), - die Pflichten des Herkunftsmitgliedstaats zur Speicherung dieser Informationen und die Modalitäten für die Beantwortung eines Ersuchens um Informationen aus dem Strafregister bestimmt und
92
93 94
95
96
ABIEU 2008 Nr. L 337 , S. 102. Vgl. hier zu Staudigl/Weber, NStZ 2008, 17 ff. ABIEU 2009 Nr. L 81, S. 24. Zu den möglichen Auswirkungen des RB auf die nationale strafgerichtliche Praxis vgl. Hauck, lR 2009, 141 ff. Krit. hierzu Klitsch, ZIS 2009, 11, 17 ff ABIEU 2009 Nr . L 93, S. 23.
D. Gegenseitige Anerkennungju stizieller Entscheidungen
447
- die Rahmenbedingungen für den Auf- und Ausbau eines elektronischen Systems zum Austausch von Informationen über strafrechtliche Verurteilungen zwischen den Mitgliedstaaten festgelegt.
6. Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur V-Haft Mit dem am I. Dezember 2009 in Kraft getretenen Rahmenbeschluss über die 55 Anwendung - zwischen den Mitgliedstaaten der EU - des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen über Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft v. 23. Oktober 2009 97 werden folgende zentralen Ziele verfolgt: Zum einen soll der Schutz der Allgemeinheit verbessert werden, indem gewährleistet wird , dass eine in einem Mitgliedstaat ansässige Person, gegen die in einem anderen Mitgliedstaat ein Strafverfahren anhängig ist, von den Behörden des Staates, in dem sie ansässig ist, bis zur Gerichtsverhandlung überwacht werden kann . Ferner sollen das Recht auf Freiheit und die Unschuldsvermutung in der EU gestärkt und die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten in den Fällen sichergestellt werden, in denen eine Person vor einer endgültigen gerichtlichen Entscheidung Auflagen oder Überwachungsmaßnahmen unterworfen wird . Der Rahmenbeschluss zielt mithin darauf ab, die Anwendung von Maßnahmen ohne Freiheitsentzug als Alternative zur Untersuchungshaft selbst dann zu fordern , wenn nach dem Recht des betroffenen Mitgliedstaats eine Untersuchungshaft nicht von Anfang an verhängt werden könnte. Zu diesem Zweck legt der Rahmenbeschluss Regeln fest , nach denen ein Mitgliedstaat eine in einem anderen Mitgliedstaat als Alternative zur Untersuchungshaft erlassene Entscheidung über Überwachungsmaßnahmen anerkennt, die einer natürlichen Person auferlegten Überwachungsmaßnahmen überwacht und die betroffene Person bei Verstößen gegen diese Maßnahmen dem Anordnungsstaat übergibt (Art. I).
7. Internationale Rechtshilfe in Strafsachen In dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl (Rn . 20 ff.) wird 56 das Strukturprinzip der gegenseitigen Anerkennung - soweit es um die Festnahme und Übergabe von Personen zum Zwecke der Verfolgung von Katalogtaten i. S. d. Art . 2 II geht - erstmalig konkret umgesetzt. An die Stelle des tradierten zwischenstaatlichen Auslieferungsverkehrs tritt ein System des freien Verkehrs strafrechtlich justizieIIer Entscheidungen in Form einer auf Festnahme und Übergabe einer Person gerichteten richterlichen Anordnung. Ein weiterer Schritt in diese Richtung ist die EBA (Rn . 10 ff.). Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Kommission eine umfassende einheitliche Maßnahme anstrebt, die alle bestehenden Rechtshilferegelungen ersetzen soll (Rn . 12).
97
ABIEU 2009 Nr. L 294, S. 20.
448
§ 12 Ju stizielle Zusammenarbe it in Strafsachen
57 Die Idee eines "europaweit verkehrsfähigen Beweises" liegt - thematisch begrenzt auf den Schutz der EG-Finanzinteressen - auch der im Grünbuch der Kommission v, 11. Dezember 2001 98 (§ 14 Rn. 35 ff.) vorgestellten Konzeption zugrunde". Die Kommission betont , dass der Schwerpunkt der derzeitigen Hindernisse bei der transnationalen Strafverfolgung in den Unterschi eden der nationalen Rechtss ysteme im Vor- und nicht etwa im Hauptverfahren begründet liege. Dementsprechend legt sie besonderes Gewicht auf die Ausgestaltung des Ermittlungsverfahrens. Das Grünbuch unterscheidet zwischen nationalen und gemeinschaftlichen Ermittlungsmaßnahmen, die von der neu zu errichtenden Institution eines Europäischen Staatsanwalts durchgeführt werden sollen . Für nicht mit Zwangsmaßnahmen verbundene gemeinschaftliche Ermittlungsmaßnahmen (z. B. Informationssammlung, Zeugenbefragung, einvernehmliche Beschuldigtenvernehmung) sei ein spezielles gemeinschaftliches Verfahren einzuführen. Für die Zwangsmaßnahmen soll dageg en nationales Recht einschlägig sein. Bei den Zwangsmaßnahmen unterscheidet das Kommissionsmodell wiederum zwischen solchen, die vom Europäischen Staatsanwalt mit richterlicher Genehmigung vorgenommen werden sollen und solchen , die der nationale Richter selbst anordnen soll (z. B. Haftbefehl). Es sollen also keine nationalen Prozessordnungen ersetzt, sondern mehrere Prozessordnungen miteinander verbunden werden . Um auf supranationale Regelungen verzichten zu können , schlägt die Kommi ssion vor, den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zum Leitprinzip des europäischen Ermittlungsverfahrens zu erheben. Strafprozessuale Eingriffsmaßnahmen - man denke etwa an Hausdurchsuchungen, Beschlagnahme von Gegenständen , Telefonüberwachungen bis hin zum Haftbefehl - , die durch das Gericht eines Mitgliedstaates angeordnet oder genehmigt wurden , sollen demnach in jedem anderen Mitgliedstaat ohne weitere gerichtliche Prüfung vollstreckt werden können . Beweise , die in einem Mitgliedstaat nach dessen Recht rechtmäßig erhoben worden sind, sollen von den Strafgerichten jedes anderen Mitgliedstaates verwertet werden d ürfen'? '.
11. Unionsrechtlicher Hintergrund des Prinzips 58 Seinen Ursprung findet das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in den wirtschaftlichen Grundfreiheiten des Unionsrechts, insbesondere in der Garantie des freien Warenverkehrs (Art . 34 ff. AEUV; ex-Art. 28 ff. EGV) . Nach der Judikatur des EuGH muss sich an der primärrechtlichen Garantie der Warenverkehrsfreiheit jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten messen lassen, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder poten-
98 99
100
KOM (2001) 715 endg. Vgl. hierzu Böse, Gege nseitige Anerkennung, S. 233 ; Gieß , ZStW 115 (2003), S. 131; Radtke, GA 2004, 1,4 ff.; Satzger, StV 2003 , 137, 141. KOM (2001) 715 endg., S. 63 ff.
D. Gegenseitige Anerkennungju stizieller Entscheidungen
449
tieil zu behindern'?' . In der für die Dogmatik des freien Warenverkehrs wegweisenden Entscheidung "Cassis de Dijon "102 hat der EuG H bestätigt, dass dies auch für nicht diskriminierende Maßnahmen gilt, die nicht zwischen Inlands- und Importprodukten unterscheiden. Im konkreten Fall, welcher dieser Rechtsprechung den Nam en verlieh, war zu beurteilen, ob die Anforderungen des deutschen Lebensmittelrechts an den Mindestweingeistgehalt von Fruchtlikören (25 Vol. %) einem Produkt, das in Frankreich mit 15-20 Vol. % unter der Bezeichnung "Cassis de Dijon " rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht wurde, als Einfuhrhindernis entgegengehalten werden können. Der EuGH wies das von der Bundesregierung vorgebrachte Argument des Gesundheitsschutzes als " nicht stichhaltig" zurück und bewertete die Maßnahme als unverhältnismäßig, da dem legitimen Ziel des Verbraucherschutzes bereits durch eine angemessene Etikettierung Rechnung getragen werden könne. Ein nicht gesundheitsschädliches, ordnungsgemäß gekennzeichnetes Lebensmittel, das in ein em Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt wurde, darf in jedem anderen Mitgliedstaat in Verkehr gebracht werden, selbst wenn es in seiner Zusammensetzung oder äußeren Darbietung nicht den dortigen Produktbestimmungen entspricht. Die Interpretation der Warenverkehrsfreiheit als Beschränkungsverbot fuhrt faktisch zu einer gegenseitigen Anerkennung der Produktstandards nach dem Herkunftslandprinzip. So darf z. B. - bei entsprechender Kennzeichnung - in Deutschland Bier in Verkehr gebracht werden, das nicht nach Maßgabe des deutschen Reinheitsgebots hergestellt wurde.'?'.
11I. Tragfähigkeit des Prinzips beim transnationalen Beweistransfer Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen, ins- 59 besondere seine Ausprägung in Form eines europäischen Beweistransfers durch "europawe it verkehrsfähige Beweise", lehnt sich offenkundig an das bereits im früheren Gemeinschaftsrecht und heutigen Unionsrecht praktizierte Freizügigkeit skonzept an . Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass eine uneingeschränkte Übertragung der für den freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen entwickelten Grundsätze auf den Bereich des zwischenstaatlichen Beweistransfers unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen kein gangbarer Weg ist. Das in einem Mitgliedstaat nach Maßgabe innerstaatlicher Rechtsvorschriften 60 erlangte Beweismittel kann nicht einfach mit einem Wirtschaftsprodukt gleichgesetzt werden, das in allen Mitgliedstaaten " Verkehrsfähigke it" beanspruchen kann . Dies folgt bereits aus der schlichten Erkenntnis, dass der ungehinderte Verkehr von Waren und Dienstleistungen darauf gerichtet ist, wirtschaftliche Freiheit (Binnenmarktziel) zu verwirklichen, während strafjustizielle Maßnahmen naturgemäß in die Freiheit der Bürger eingreifen (eine Ausnahme bildet die tran snatio-
101
Grundlegend EuGHE 1974, 837, 852
schaft/Dassonville"), 102 103
=
NJW 1975, 515, 516 ("Staatsanwalt-
Grundlegend EuGHE 1979, 649, 664 ("Cassis de Dijon"). EuGHE 1987, 1227, 1262 ff.
450
§ 12 Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen
nale Ausdehnung von Verfahrensrechten, z. B. das Prinzip "ne bis in idem ")"?'. Der "Import" von Beweismitteln berührt somit in elementarer Weise die Rechte des Beschuldigten, die in den mitgliedstaatliehen Strafverfahrensordnungen - und zwar in allen Abschnitten vom Ermittlungs- bis zum gerichtlichen Hauptverfahren - höchst unterschiedlich ausgestaltet sind 105 . Zwar sorgen die von der EMRK garantierten Verfahrens- und Beschuldigtenrechte für einen gemeinsamen europäischen Grundrechtsstandard in allen mitgliedstaatliehen Verfahrensordnungen (§ 3 Rn. 18 ff.) . Aber abgesehen davon , dass die EMRK nur Mindestrechte garantiert, darf nicht übersehen werden, dass die nationalen Rechtsordnungen als "komplexe dynamische Systeme'"?" ganz unterschiedliche Strategien verfolgen, um ein rechtsstaatliches Strafverfahren zu gew ährleisten'?". Die Anwendung des Prinzips des freizügigen Beweismittelverkehrs lässt außer Acht, dass die Regelungen für die Beweismittelerhebung im Ermittlungsverfahren und deren Verwertung im Hauptverfahren in bestimmten Fällen nicht nur nicht deckungsgleich, sondern inkompatibel sind. Das gilt insbesondere für den Vergleich des kontinentalen Offizialverfahrens mit dem Parteiverfahren des Common Law 108 . Die folgenden Beispielsfalle mögen die Problem lage verdeutlichen:
61 Beispielsfall I : In Frankreich und England werden parallele Ermittlungen gegen verschie-
dene Personen wegen des Verdachts des Subventionsbetrugs zum Nachteil der EU geführt. Ein französischer Ermittlungsrichter vernimmt in diesem Zusammenhang einen Zeugen und fertigt hierüber ein Protokoll. Nach französischem Recht darf der in der Voruntersuchung erhobene Zeugenbeweis durch Verlesung des Vernehmungsprotokolls in die Hauptverhandlung eingeführt und verwertet werden ("preuve litterale"). Wird die Hauptverhandlung dagegen in England durchgeführt, kommt nach englischem Strafprozessrecht eine Einführung und Verwertung des Protokolls durch Verlesung grundsätzlich nicht in Betracht. Anders als das französische ist das angelsächsische Hauptverfahren entscheidend durch die Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit geprägt. Die unter Bewei s gestellten Tatsachen müssen demnach durch eine in der Hauptverhandlung vorzunehmende Vernehmung des Zeugen eingeführt werden. Nach dem Kon zept des freien Beweismitteltransfers wäre das englische Gericht gezwungen, das nach französischem Recht rechtmäßig erhobene und daher verwertbare Beweismittel ohne weitere Überprüfung seiner Vereinbarkeit mit engl ischem Recht in das Strafverfahren einzubeziehen 109.
104
105 106 107
108
109
Böse, Gegenseitige Anerkennung, S. 233, 238 ff.; Gieß, ZStW 116 (2004), S. 353, 364 ff.; Satzger , StV 2003 , 137, 142. Perron, ZStW 112 (2000), S. 202, 211 ff. Perron, ZStW 109 (1997), S. 281, 288 . Gieß, ZStW 115 (2003), S. 131, 143 f.; Nestler, ZStW 116 (2004), S. 332, 346; Radtke, GA 2004, 118; Satzger , StV 2003 , 137, 141. Bendler, StV 2003, 133, 135; vgl. hier zu auch die umfassende rechtsvergleichende Darstellung von Perron, Die Bewe isaufnahme im Strafverfahrensrecht des Auslands, 1995, passim. Gieß, ZStW 115 (2003), S. 131, 139 f.; Radtke, GA 2004 ,1 ,18.
D. Gegenseitige Anerkennungjustizieller Entscheidungen
451
Beispielsfall 2: In Spanien ist eine auf richterliche Ano rdnung erfolgte Überwachung des 62 Fernmeldeverkehrs grundsätzlich bei jeder Straftat zulässig 110. Das Prinz ip des freien Verkehr s justizieller Entscheidungen würde bedeuten, dass die Anordnung eines spanischen Richters, wegen des Verdachts eines einfachen Dieb stahl s den Telefonanschlu ss eine s in Deut schl and lebenden Verdächtigen zu überw achen , von den deut schen Strafverfolgungsbehörden anerkannt und voll streckt werden müsste, obwohl dieser Eingriff nach inner staatlichem Recht (§ 100 aStPO) nicht zulässig wäre . Falls es zu einer Anklage dieser Tat vor einem deutschen Ger icht kommt, müssten die aus der Überwachungsmaßnahme gewonnenen Erkenntnisse als Bewei smittel anerkannt und verwertet werden 111 . Der in Deutschland gewährte Grundrechtsschut z würd e dadurch ausgehebelt'F.
Die hier an den Beispielen des Zeugenbeweises und der Telekommunikations- 63 überwachung verdeutlichten Grundprobleme des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung von Beweismitteln bzw . Ermittlungshandlungen treffen auch auf andere Beweismittel und justizielle Entscheidungen zu. Eine dem Modell des freien Warenverkehrs folgende Umsetzung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung würde zu einer beliebigen Kombinierbarkeit strafprozessualer Eingriffsmaßnahmen und einem grenzüberschreitenden Beweistransfer führen , der die strafprozessualen und verfassungsrechtlichen Fundamente der mitgliedstaatliehen Rechtsordnungen untergräbt und verfälscht'!". Durch die Vielzahl denkbarer Kombinationsmöglichkeiten strafprozessualer Versatzstücke unterschiedlicher nationaler Herkunft entstünde ein schwer überschaubares und inkohärentes Gesamtrechtsgebilde, das schon aus rechtsstaatliehen Gründen kein taugliches Modell für ein Europäi sches Strafverfahrensrecht sein kann. Höchst bedenklich ist auch , dass kein Parlament die möglichen Beweistransfers jemals in einem geordneten Gesetzgebungsverfahren diskutiert und beschlossen hat. Die hier vorgetragene Kritik richtet sich ausschließlich gegen das Konzept ei- 64 ner gegenseitigen Anerkennung von Beweismitteln und justiziellen Entscheidungen, wie es in dem Grünbuch v. 11. Dezember 200 I zum Ausdruck gelangt. Sie betrifft nicht den Europäischen Haftbefehl, der das traditionelle Auslieferungsverfahren durch ein Übergabeverfahren ersetzt. Beim Europäischen Haftbefehl bezieht sich die Anerkennung durch die anderen Mitgliedstaaten auf die gerichtliche Entscheidung eines Ausstellungsmitgliedstaates, die unter Anwendung einer in sich konsistenten Verfahrensordnung zustande gekommen ist (vgl. Art. 1 11 des Rahmenbeschlusses). Die betroffene Person wird dabei vom Vollstreckungsmitgliedstaat der Strafgewalt des Ausstellungsmitgliedstaates überantwortet, welcher das Strafverfahren gegen den Betroffenen ausschließlich nach den Regeln seines innerstaatlichen Strafverfahrensrechts durchführt. Die Zusammenarbeit zwischen
110 111 112
113
Perron , ZStW 112 (2000), S. 202, 219 m. w. N . Böse, Gegen seitige Anerkennung, S. 233, 246 f., 248 f. Z ur Verw ertung von im Ausland gewonnenen Beweismitteln im deutschen Stra fverfahren Böse, ZStW 114 (2002), S. 149. Hecker, Kreuzer- Preund esgab e, S. 181, 197 f.; Nestler, ZStW 116 (2004), S. 332, 346 f.; Satzger , StV 2003 , 137,141 ; a. A. Brün erlHetzer. NStZ 2003 ,113 mit der Bemerkung, die Bedeutung de s Schutzes der finanziellen Intere ssen erlaube keine Beschränkung auf die "Ästhetik" eine r Recht sordnung.
452
§ 12 Justizielle Zusammen arbeit in Strafsachen
Ausstellungs- und Vollstreckungsmitgliedstaat fuhrt also nicht dazu, dass nationale Justizorgane gezwungen werden, Ermittlungsanordnungen einer ausländischen Justizbehörde zu exekutieren oder in einem Strafverfahren auch solche Beweise zu verwerten , die nach innerstaatlichem Recht gesperrt wären .
IV. Lösungsmöglichkeiten de lege ferenda 65 Wie gezeigt , begegnet das Konzept der Verkehrsfähigkeit von Beweismitteln und strafjustiziellen Entscheidungen, die auf die Gewinnung von Beweisen gerichtet sind, erheblichen rechtsstaatliehen Bedenken , weil die Gewinnung und Verwertung von Beweisen dem strafprozessualen und verfassungsrechtlichen Referenzsystem einer Rechtsordnung folgt, die mit dem Referenzsystem einer anderen Rechtsordnung nicht kompatib el ist. In der Literatur sind bereits Lösungsmöglichkeiten angedacht worden , wie das Problem der Beweiserhebung und des Beweistransfers gelöst werden könnte . 66 Der erste Lösungsansatz besteht darin, den mühsamen Weg einer Harmonisierung des mitglied staatliehen Strafprozessrechts zu beschreiten 114. Je stärker die mitgliedstaatliehen Referenzsy steme in Bezug auf die Gewinnung und Verwertung von Beweismitteln übereinstimmen, desto größer ist der mögliche Anwendungsbereich des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung. Hierbei stellt sich allerdings die Frage, ob der hierfür erforderliche Aufwand nicht unverhältnismäßig erscheint und in Konflikt mit dem Subsidiaritätsprinzip gerät!". 67 Als zweite Lösungsm öglichkeit ist an die Verlagerung strafrechtlicher Kompetenzen auf die Union und Schaffung eines supranationalen Strafverfahrensrechts zu denken . Ein genuin europäisches Strafverfahrensrecht bezöge sich - wie im Grünbuch vorgeschlagen - nur auf die Verfolgung von abschließend statuierten Straftaten zum Nachteil der EU-Finanzinteressen. Zugleich würde eine bereichsspezifische supranationale Kodifikation die Rechtsgrundlage für die Tätigkeit einer europäischen Finanzstaatsanwaltschaft und eines europäischen Strafgerichts bilden . Sie müsste außerdem Kollisions- und Kompetenzkonfliktregelungen vorsehen , die eine Antwort darauf geben , wie zu verfahren ist, wenn sich Straftaten (wie häufig) nicht nur gegen die EU-Finanzinteressen richten, sondern auch gegen materielles Strafrecht der Mitgliedstaaten verstoßen!": Der Vorteil dieses Lösungsmodells besteht darin, dass die nationalen Strafrechtsordnungen stärker geschont würden als dies bei einer .Breitbandharmonisierung'' der Fall wäre!"?
114 115
116 117
Vgl. hierzu Esser, ZEuS 2004, 290, 306 f[ ; Tiedemann, Eser-FS, S. 889, 897 ff. Vgl. hierzu Böse, Gegenseitige Anerkennun g, S. 233, 249 f.; Satzger, StV 2003, 137, 142. Vgl. hierzu Radtke, GA 2004 , 1,19. Vgl. hierzu SchwarzburglHamdorf, NStZ 2002,617,623 .
E. Literaturhinweise
453
Ein dritter Lösungsweg besteht in der Einführung eines europäischen Beweis- 68
zufassungsverfahrensr". Im Rahmen dieses Zulassungsverfahrens würde die
Rechtmäßigkeit der Beweiserhebung am Maßstab eines einheitlichen europäischen Referenzsystems geprüft. Fällt diese Prüfung positiv aus, so wäre das Produkt der Beweiserhebung europaweit verkehrs fähig . Die mitgliedstaatliehen Gerichte müssten den zugelassenen Beweis ohne weitere Überprüfung in einer Hauptverhandlung verwerten. Durch die Setzung eines europäischen Beweiszulassungsstandards ließe sich die einem freien Beweistransfer entgegenstehende Unvereinbarkeit der nationalen Standards überwinden . Als Grundlage für die inhaltliche Ausgestaltung des europäischen Referenzsystems könnte auf die Vorgaben der EMRK zurückgegriffen werden . Die Entscheidungsgewalt über die Frage des Beweistransfers könnte einem europäischen Gericht oder den nationalen Gerichten (evt. kombiniert mit einer Vorlagepflicht an ein europäisches Gericht zur Sicherung einer europaweit einheitlichen Rechtsanwendung) übertragen werden . Das dritte Lösungsmodell belässt die Durchführung der Strafverfahren bei den Mitgliedstaaten, würde diesen also - im Gegensatz zum zweiten Modell - keine Abtretung von Hoheitsgewalt abfordern. Allerdings könnte die Koexistenz eines europäischen Beweiszulassungsstandards (im Bereich des strafrechtlichen Schutzes der EU-Finanzen) und eines nationalen Beweiszulassungsstandards (bei Verfolgung sonstiger Straftaten) Probleme aufwerfen, wenn sich eine Tat im prozessualen Sinne sowohl gegen EU-Finanzinteressen als auch gegen nationale Schutzgüter zugleich richtet.
E. Literaturhinweise Böse, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der transnationalen Strafrechtsptlege in der EU, in: Momsen/Bloy/Rackow (Hr sg.), Fragmentarisches Strafrecht, 2003 , S. 233 v. Bubnoff, Institutionelle Kriminalitätsbekämpfung in der EU - Schritte auf dem Weg zu einem europäischen Ermittlungs- und Strafverfolgungsraum, ZEuS 2002, 185 ders., Der Europäische Haftbefehl, Ein Leitfaden für die Auslieferungspraxis, 2005 , passim Esser, Rahmenbedingungen der EU für das Strafverfahrensrecht in Europa, ZEuS 2004, 290 Gieß, Die .Verkehrsfähigkeit von Beweisen" im Strafverfahren, ZStW 115 (2003), S. 131 dies., Zum Prin zip der gegenseitigen Anerkennung, ZStW 116 (2004), S. 353 Hackner/Schomburg/Lagodny/Gleß, Das 2. Europäische Haftbefehlsgesetz, NSt Z 2006, 664 Hauck, Richterlicher Anpassungsbedarf durch den EU-Rahmenbeschluss zur Anerkennung strafgerichtlicher Entscheidungen in Abwesenheit des Angeklagten?, JR 2009, 141 Hecker, Ist die Zeit reif für die Schaffung eines " Europä ischen Staat sanwaltes" zum Schutz der EG-Finanzinteressen?, in: Kube/SchneiderlStock (I-1rsg.), Kriminologische Spuren in Hessen - Freundesgabe für A. Kreu zer zum 65. Geburtstag, 2003, S. 181
118
Vgl. hierzu Gieß, ZStW 115 (2003), S. 131, 148 ff.; Radtke, GA 2004, I, 19 ff
454
§ 12 Ju stizielle Zusamm enarbe it in Strafsachen
Heger, Europäische Beweissi cher ung - Perspektiven der strafrec htlichen Zusamme narbeit in Europa, ZI S 200 7, 54 7 v. Heintschel-He inegg fRohlff, Der Euro päische Haftbefehl, GA 2003, 44 Juppe, Die gegensei tige Anerken nung strafrechtliche r Entscheidungen in Europa, 200 7 Karsai, Ungeschicktes und folgen reiches Vo rgehen in der transnationalen Recht shil fe zugle ich Anmerk ung zum Besc hluss des OLG Stuttgart v. 28. I.2005 , Z IS 2006 , 443 Ki nzle r, Grenzüberschreitende Strafv erfahren, 20 I0, passim Ligeti, Stra frecht und strafrechtliche Zu sammenarbeit in der Eur opäischen Union, 2005 , S.92- 196 Mans dorfer, Das Europäische Strafrech t nach dem Vert rag von Lissabon - oder Europäisierung des Strafrechts unter national staatliche r Mi tve rantwortung , HRRS 20 I0, I I Nestler, Europäisches Strafprozessrech t, ZStW 116 (2004), S. 332 Radtke, Der Euro päische Staatsan walt - ein Modell für Strafverfo lgung in Europa mit Zukunft", GA 2004, I Roger, Europäisierung des Strafverfahr ens ode r nur der Strafverfo lgung? - Zum Rahm enbeschlu ss über d ie Europäische Bewe isanordnung, GA 20 I0, 27 RohljJ, Der Europäis che Haft befe hl, 200 3, passim Satzger. Gefahren für eine effektive Ve rteidig ung im ge planten europäischen Verfahrensrecht, StV 2003 , 137 ders., Inte rnationale s und Europä isches Strafrecht, 4. Aufl., 20 I0, § 10 Tiedemann, Bemerkungen zur Zukunft des europ äischen Stra fprozesses, Eser-l-S, S. 889 Tinkl, Die Recht sstellun g des Einzelnen nach dem Rah menb eschlu ss über den Europäischen Haftbefehl, 2008 , passim Scheuermann. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im gelten de n und künftigen Europäischen Strafrecht, 200 9 Schünemann, Fortschritte und Fehltritte in der Strafrechtspflege der EU, GA 2004, 193 Seitz, Das Europäische Haftb efehl sgesetz , NS tZ 2004, 546 Tiedemann, Bemerkunge n zu r Zu kunft des europäis chen Strafpro zesses, Eser-FS, S. 889 Vander Beken/Vermeulen/Lagodny , Z ur Lösung von Strafgewaltskon flikten jenseits eines transnationalen ne-b is-in- idern, NS tZ 2002 , 624 Weigend, Grun dsätze und Proble me des deut sche n Auslieferungsrechts, Ju S 2000, 105
F. Rechtsprechungshinweise EUG H N JW 200 7, 223 7 = JuS 2007 , 854 (EU-Vert ragskonform ität des Rahmenbeschlusses übe r den Europäischen Haftb efehl) EuG I-IE 2008, 60 77 = NJ W 2008, 3201 (Auslieferung ausländischer Unionsbü rger im Recht des Europäische n Haftbefe hls - Auslegung des Art. 4 Nr. 6 RBEul-lb) EuG I-I NJW 2009, 1057 = NS tZ 2010,35 (Spezialitätsgru ndsatz im Recht des Europäischen Haftbefehl s) EuG H NJW 2010, 283 (Euro päischer Haftbefehl und unionsrechtliches Diskrim inierungsverbot; Aus leg ung des Art . 4 Nr. 6 RB EuHb) BVe rfG E I 13, 23 7 = NJW 2005 , 2289 (Nich tigerklärun g des Eul-l bG v. 2 I. Juli 2004) OLG Stuttgart StV 2010, 262 (Der aus Art. 49 111 GRCh abzul eitende Ve rhältnismä ßigkeitsgru ndsatz kann der Auslieferung aufgrund Europäischen Haftbefehls im Einzelfall entgegen stehen)
G. Zusammenfassung von § 12
455
G. Zusammenfassung von § 12 Die Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (ZJS) steht im Dienste der Ziel- 69 setzung der Union , einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu schaffen (Art . 3 11 EUV ; Art . 67 I, 111 AEUV). In Art . 82 I UA I AEUV wird der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennungjustizieller Entscheidungen als zentrales Strukturprinzip der ZJS primärrechtlich festgeschrieben . Art . 82 I UA 2 AEUV weist der Union u. a. die Aufgabe zu, Maßnahmen zu erlassen, mit denen die Anerkennung aller Arten von Urteilen und gerichtlichen Entscheidungen in der gesamten Union sichergestellt wird . Kompetenzkonflikte zwischen den Mitgliedstaaten sollen verhindert bzw. beigelegt werden . Die strafrechtliche Zusammenarbeit zwischen den mitgliedstaatliehen Justizbehörden soll erleichtert werden . In diesem Kapitel werden die bereits ergriffenen bzw. geplanten Maßnahmen dargestellt. Hierzu gehören der am 15. Dezember 2009 in Kraft getretene Rahmenbeschluss zur Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafverfahren sowie die neuen Rechtshilfeinstrumente auf EU-Ebene, die gegenüber den einschlägigen " Mutterkonventionen" des Europarates erhebliche Erleichterungen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in Strafsachen mit sich bringen. Ungeachtet der im Rahmen der früheren 3. Säule der EU erreichten Fortschritte ist eine Fortentwicklung der JZS weiterhin erforderlich. Besonders hervorzuheben ist der Rahmenbeschluss über den Europäischen 70 Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, der am 7. August 2002 in Kraft getreten und mittlerweile von allen Mitgliedstaaten in nationales Recht transformiert wurde . In Deutschland bedurfte es hierzu eines zweiten Anlaufs, da das erste Umsetzungsgesetz (EuHbfG) vom BVerfG für nichtig erklärt wurde . Der Europäische Haftbefehl ersetzt die traditionelle Auslieferung durch ein "System des freien Verkehrs strafrechtlich justizieller Entscheidungen" . In diesem Instrument wird das von Europäischem Rat, Kommission und EP als " Eckstein" der JZS qualifizierte Prinzip der gegenseitigen Anerkennung konkret ausgeformt. Entsprechendes gilt für die Europäische Beweisanordnung. Die Kommission strebt eine umfassende einheitliche Maßnahme an, die zu gegebener Zeit alle bestehenden Rechtshilferegelungen ersetzen soll. Seinen Ursprung findet das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in den wirt- 71 schaftliehen Grundfreiheiten des Unionsrechts. Eine uneingeschränkte Übertragung der für den freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen entwickelten Grundsätze auf den Bereich des zwischenstaatlichen Beweistransfers ist unter den gegebenen Rahmenbedingungen, die durch unterschiedliche Strafverfahrenssysteme der Mitgliedstaaten gekennzeichnet sind, kein gangbarer Weg . Das Konzept der Verkehrsfähigkeit von Beweismitteln und strafjustiziellen Entscheidungen begegnet erheblichen rechtsstaatliehen Bedenken, weil die Gewinnung und Verwertung von Beweisen dem Referenzsystem einer nationalen Rechtsordnung folgt, die mit dem einer anderen Rechtsordnung nicht kompatibel ist. Die beliebige Kombinierbarkeit strafprozessualer Eingriffsmaßnahmen und der freie Beweistransfer würden so zu einer Untergrabung und Verfälschung der strafprozessualen und verfassungsrechtlichen Fundamente der nationalen Rechtsordnungen führen . Ohne
456
n
§ 12 Justizielle Zusammen arbeit in Strafsachen
weitreichende Harmonisierung der nationalen Verfahrensrechte erscheint das Konzept des freien Beweistransfers aufgrund gegens eitiger Anerk ennung weder tragfähig noch wünsch enswert. Als Alternative zu einem aufwändigen Harmonisierungskonzept bieten sich eine bereichsspezifische (auf den Schutz der EU-Finanzinteressen beschränkte) Verlagerung strafrechtlicher Kompetenzen auf die Union und die Schaffung eines supranationalen Strafverfahrensrechts an. Eine weitere Lösungsmöglichkeit besteht schließlich in der Einführung eines europäischen Beweiszulassungsverfahrens, in welchem die Rechtmäßigkeit der Beweiserhebung am Maßstab eines einheitlichen europäischen Referenzsystems geprüft würde . Auch außerhalb des Rechtshilferechts gelangt das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung zum Ausdruck. In diesem Zusamm enhang ist auf die Rahmenbeschlüss e hinzuweisen, die die gegenseitige Anerkennung von Sanktionen, der Wirkung strafrechtlicher Verurteilungen und der Entscheidungen über Überwachungsmaßnahmen vorsehen. Nach dem Willen von Kommission und Rat sollen auch Maßnahmen zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren getroffen werden .
B. Hecker, Europäisches Strafrecht, DOI 10.1007/978-3-642-13127-1_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
458
§ 13 Transnation ale s Doppelbestrafungsverbot
mehrfache Aburteilung derselben Tat im Inland. Nach wie vor gilt , was das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1987 feststellte : "E s exi stiert keine allgemeine Regel des Völkerrechts, die es gebietet, die Strafverfolgung gegen eine Person wegen eines Lebenssachverhaltes zu unterlassen , dessentwegen sie bereits in einem dritten Staat ver folgt und rechtskräftig abgeurte ilt worden ist''",
3 Zwar wird diese Rechtsprechung von einigen kritischen Stimmen in der Literatur in Frage gestellt", Aber vor dem Hintergrund, dass die meisten Staaten - darunter auch die Bundesrepublik Deutschland - nur ein rechtsordnungsinternes Doppelbestrafungsverbot kennen und auch Art. 4 I des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK6 v. 22. November 1984 sowie Art. 14 VII des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte? v. 19. Dezember 1969 explizit nur ein innerstaatliches "ne bis in idem " fordern, wird man ein staaten übergreifendes Doppelbestrafungsverbot derzeit nicht als allgemeine Regel des Völkerrechts anerkennen können". Das Prinzip " ne bis in idern" wird im Unionsrecht zwar als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt". Dieser statuiert aber nur ein rechtsordnungsinternes Doppelbestrafungsverbot auf Unionsebene"? (vgl. nunmehr aber Art . 50 GRCh ; Rn. 14). 4 Lösungshinweise zu Fall 1: Materiellrechtlich besteht gegen A ein deutscher Strafanspruch gern. §§ 249, 250 11 Nr . I, 22, 23 I, 7 11 Nr . 1 StGB. Allerdings könnte einer strafrechtlichen Verfolgung des A der in Art . 103 III GG festgeschriebene Grundsatz "ne bis in idem " - ein prozessuales Verfolgungshindernis entgegenstehen. Bekanntlich dominiert im deutschen Strafverfahrensrecht ein prozessualer Tatbegriff, demzufolge unter "Tat" nicht etwa das verwirklichte Delikt, sondern das gesamte Täterverhalten zu verstehen ist, das nach natürlicher Auffassung einen einheitlichen historischen Lebensvorgang bildet!' . Die Flucht über die Grenze (und damit das Fahren ohne Fahrerlaubnis) steht mit dem in Straßburg verübten Banküberfall in einem so engen räumlichen, zeitlichen und sachlichen Zusammenhang, dass es einer unnatürlichen Aufspaltung eines einheitlichen Geschehens gleichkäme, wenn man diese Ereignisse getrennt aburteilen
10
11
BVerfGE 75, 1,18 ff.; vg\. auch BVe rfG DAR 2008 , 586 ff.; BGHSt 34, 334 , 340 . EndrißlKinz ig , StV 1997,665,667; Schomburg, StV 1999,244,249. ETS N r. 117. UNT S Vo\. 999 Nr. 14668 ; 13GB\. 11 1973, 1533; 1976, 1068; 1979, 1218; 1991, 1111. BVe rfG DAR 2008, 586 (Rz. 26) ; Knieb ühler, Ne bis in idern, S. 353 , 356 ; Mansdorfe r, Ne bis in idem, S. 19 ff., 126; VogellNor ouzi , JuS 2003 , 1059, 1060. EuGHE 1966 , 153, 178; 1984,4177,4195 f. (Rz . 12 ff.); Liebau, Ne bis in idem , S. 92 ff.; Satzger. Europ äisicrung, S. 178, 686 ; Sp annows ky, JZ 1994, 326 , 334 . EuGI-IE 1984, 4177 (Rz. 12 Ir); Kühne , Strafprozessrecht, Rn. 62; Satzger. IntStR , § 10 Rn. 63. BVerfG E 56, 22, 28 ; BGHSt 35,60,62; 45, 211 , 212 ; I3GH NStZ 2006, 350 ; Beulke, Strafproze ssrecht, Rn. 513 ; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 639 ff.; Meyer-Goßner, StPO, § 264 Rn. 1 ff. Vg\. aus österreichi scher Sicht Plockingerll. eiden-muhler, wistra 2003 ,81 ,87.
A. Einführung
459
w ürde'". Die materielle Rechtskraft des amtsgerichtliehen Urteils bewirkt somit auch hinsichtlich des Banküberfalles einen Verbrauch der Strafklage. der durch Art . 103 1Il GG verfassungsrechtlich abgesichert ist. Lösungsvorschlag zu Frage I : Im Hinblick auf den in Straßburg begangenen Banküberfall ist die Strafklage verbraucht. A darf in Deutschland nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden (Zu der Frage , ob das deutsche Gerichtsurteil auch einer strafrechtlichen Verfolgung in Frankreich entgegensteht vgl. Rn. 61) . Lösungsvorschlag zu Frage 2: Weder Art. 103 1Il GG noch ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Völker- oder Unionsrechts stehen der strafrechtlichen Verfolgung des A in Deutschland wegen derselben - in Frankreich abgeurteilten - Tat entgegen. Nach § 51 1Il S. I StGB wird jedoch auf die neue Strafe die ausländische angerechnet, soweit sie vollstreckt ist. Außerdem kann die Staatsanwaltschaft gern. § 153 c 11 StPO von der Verfolgung der Straftat absehen, wenn wegen der Tat im Ausland schon eine Strafe gegen den Beschuldigten vollstreckt worden ist und die im Inland zu erwartende Strafe nach Anrechnung der ausländischen nicht ins Gewicht fiele oder der Beschuldigte wegen der Tat im Ausland rechtskräftig freigesprochen worden ist. Das Risiko , in mehreren Staaten wegen derselben Tat strafrechtlich verfolgt 5 und abgeurteilt zu werden, hängt vor allem mit der Ausdehnung der nationalen Strafgewalten aufgrund der Bestimmungen des Internationalen Strafrechts zusammen (§ 2 Rn. 2 ff., 12 ff.) . Der heutige Mobilitätsgrad der Bürger und ihr nahezu unbeschränkter räumlicher Aktionsradius lassen zahlreiche strafrechtsrelevante Fallkonstellationen entstehen, die mehr als einen nationalen Strafanspruch auszulösen verm ögeu' ". Dabei ist nicht nur an Sachverhalte aus dem Bereich der seit jeher international operierenden Organisierten Kriminalität zu denken, wie Rauschgifthandel, Waffenschmuggel oder Kfz-Verschiebung. Bereits das recht triviale Ereignis eines Taschendiebstahls, der von einem italienischen Gelegenheitsganoven zum Nachteil einer deutschen Touristin während eines Kurzbesuches im Elsass verübt wird , führt zu einer Kumulation konkurrierender nationaler Strafansprüche und begründet damit das Risiko einer mehrfachen Strafverfolgung und Aburteilung wegen derselben Tat. Das Fehlen eines transnationalen " ne bis in idem"-Prinzips im innerstaatlichen 6 Recht der meisten Staaten und im Völkerrecht stellt nicht nur aus individualrechtlichen Gründen ein lösungsbedürftiges Problem dar. Konkurrierende nationale Strafansprüche bergen auch ein nicht unbeträchtliches zwischenstaatliches Konfliktpotential (vgl. hierzu auch § 12 Rn. 3) . So führten in der Vergangenheit die unterschiedlichen Drogenbekämpfungsstrategien in den Niederlanden und Deutschland immer wieder zu Irritationen. Das nachbarschaftliehe Verhältnis wurde erheblich getrübt, als das LG Düsseldorf Mitte der 1980er Jahre einen holländischen Cannabishändler zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilte. Der Verurteilte war zumindest für einen Teil der von ihm zwischen 1978 und 1981 ausschließlich in Arnheim (NL) begangenen Taten schon im Jahre 1981 vom Gerichtshof in Arnheim zu einer Gefängnisstrafe von 20 Wochen verurteilt wor12
13
So auch BGH NStZ 1996, 41, 42 in einer vergleichb aren Fallkonstellation. Thomas, Einmaligkeit der Strafverfolgung, S. 113 ff., krit. zu der "uferlosen" Weite des deutschen internationalen Strafrechts LagodnyINill-Theobald, JR 2000, 205, 206 f.
460
§ 13 Tran snation ale s Doppelbestrafungsverbot
den . Das Ausmaß der durch das Düsseldorfer Strafverfahren verursachten Verstimmung zeigte sich u. a. daran, dass der niederländische Justizminister nicht nur jede Rechtshilfe verweigert, sondern darüber hinaus auch offiziell um Einstellung des Verfahrens gebeten hatte . Der BGH hob das Düsseldorfer Urteil später im Rahmen eines Revisionsverfahrens wegen Verstoßes gegen ein Beweisverwertungsverbot zwar auf. Er bestätigte aber unter Heranziehung des WeItrechtsprinzips (§ 6 Nr. 5 StGB) ausdrücklich die Existenz eines deutschen Strafanspruches, dem das in Art . 103 111 GG mit Verfassungsrang ausgestattete Doppelbestrafungsverbot nicht entgegenstehe.". 7 Ein prominenter Vertreter der niederländischen Strafrechtslehre nahm diesen Fall zum Anlass, die Einmischung Deutschlands in innerstaatliche Angelegenheiten zu beklagen. Die deutsche Justiz würde den Niederlanden das deutsche Bekämpfungsmodell aufoktroyieren, das nicht in die niederländische Drogenpolitik passe. Dem kleinen Nachbarn, dessen Strafrecht bereits seit über 100 Jahren jedes ausl ändische Strafurteil als Strafverfolgungshindernis akzeptiere, sei es schwer zu vermitteln, dass sich die deutsche Justiz als " We ltr ichter für Strafzumessungsfragen " aufspiele.". 8 Das Bestreben der Staaten, ihre Souveränität gerade im Bereich des Strafrechts zu verteidigen, ist durchaus nachvollziehbar, wenn man sich bewusst macht, dass in den nationalen Strafgesetzbüchern die fundamentalen sozialen, kulturellen und politischen Wertentscheidungen eines Gemeinwesens zum Ausdruck gelangen". In welchem Umfang und in welchen Bereichen eine Rechtsordnung gerade das repressive Mittel Strafrecht einsetzt und in welchen Bereichen nicht , stellt eine eminent politische Entscheidung dar. Das rechtsunterworfene Individuum gerät dabei freilich allzu leicht in die Gefahr, zwischen den nationalen Interessen zerrieben und auf dem Altar konkurrierender Strafansprüche geopfert zu werden! ". Vor diesem Hintergrund kann es nur begrüßt werden, dass die Vermeidung von Mehrfachverurteilungen aus international-strafrechtlicher Sicht inzwischen als ein vorrangig zu lösendes Problem erachtet wird". Die Association internationale de droit penal (AIOP) forderte bereits auf ihrem XVI. Kongress die Anerkennung der Einmaligkeit der Strafverfolgung als Men schenrecht, das einer Bestrafung derselben Tat durch mehrere Staaten entgegensteht". In Betracht zu ziehen sei vor allem die Möglichkeit, ein transnationales Doppelbestrafungsverbot in dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie in den regionalen Menschenrechtskonventionen zu verankern-".
14
BGHSt 34 , 334 .
15
Rüter, JR 1988, 136, 137 f.
16
17 18
19 20
BVerfG NJW 2009, 2267, 2287; Perron, ZStW 109 (1997), S. 281 , 288 ; Rüter, ZStW 105 (1993), S. 30 , 35 ; Weigend, ZStW 105 (1993), S. 774 ,789. Jung, StV 1990,509,517. Jung , Schüler-Springorum-FS, S. 493 , 500 ; Lagodny, Z StW 101 (1989), S. 987 , 1004 ff. Vgl. hierzu Vogel, ZStW 110 (1998), S. 973 ff. Vgl. hierzu den Resolution stext (B . 4.) in ZStW 112 (2000), S. 723 ff.
A. Einführ ung
461
Bestrebungen des Europarates, ein zwischenstaatliches Doppelbestrafungsverbot 9 in den Mitgliedstaaten des Europarates zu etablieren, waren bislang nicht von Erfolg gekrönt. So statuiert etwa das Europäische Übereinkommen über die internationale Geltung von Strafurteilen v. 28 . Mai 1970 21 in Art . 53 das staatenübergreifende Verbot, eine Person , geg en die ein rechtskräftiges "europäisches Strafurteil" ergangen ist, wegen der selben Handlung erneut zu verfolgen oder abzuurteilen. Nach Ablauf von 40 Jahren hab en aber lediglich 21 von 47 Mitgliedstaaten des Europarates das Übereinkommen ratifi ziert. Bei realistischer Betrachtung ist also nicht damit zu rechnen, dass sich das Projekt eines paneuropäischen Doppelbestrafungsverbotes nach dem Modell der genannten Europaratskonvention in einem absehbaren Zeitraum realisi eren lässt. Das EP hatte bereits in seiner Entschließung v. 16. März 1984 die staat enüber- 10 greifende Anwendung des Grundsatzes "ne bis in idem" innerhalb der EG gefordert-'. Im Jahre 1987 unternahmen die EG-Mitgliedstaaten schli eßli ch einen ersten Anlauf zur Durchsetzung eines gemeinschaftsweiten Doppelbestrafungsverbots. Ihre Regierungen schlossen am 25 . Mai 1987 das Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über das Verbot der doppelten Strafverfolgung (EG-ne bis in idem- Übk):". Art. 1 EG-ne bis in idemÜbk lautet: "Wer in einem Mitgliedstaat rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf in einem anderen Mitgliedstaat wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann."
Die EG-Mitgliedstaaten praktizierten damit eine intergouvernemental e justizielle 11 Zusammenarbeit, die später mit dem Vertrag von Maastricht (1992) als sog. 3. Säule der EU institutionalisiert wu rde>', Da das EG-ne bis in idem-Übk noch nicht von allen Mitgliedstaaten ratifiziert wurde, steht das Datum seines Inkrafttretens noch nicht fest. Neun Mitgliedstaaten - namentlich Belgi en, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Irland , Italien , Österreich, Portugal und die Niederlande - haben jedoch von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, das Übereinkommen im Verh ältnis untereinander schon vorze itig anzuwenden-".
21
22
23 24
25
ETS Nr. 70. Das EuVolIstrÜbk trat am 26. Juli 1974 nach Hinterlegung der dritten Ratifikationsurkunde in Kraft. Der jeweils aktuelle Ratifikationsstand kann abgerufen werden unter http://conventions.coe.int. ABlEG 1984 Nr. C 104, S. 133; vgl. auch EuGRZ 1984,355 f. Abgedruckt in SchomburglLagodnylGleßIHackner, IRhSt, 111 E (mit Vertagstabelle). Vgl. hierzu Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 70; Nelles, ZStW 109 (199 7), S. 727, 734; Schomburg, NJW 1999, 540. Vgl. hierzu SchomburglLagodnylG leßIHackner, IRhSt, 111 E Rn. 9.
462
§ 13 Transnationales Doppelbestrafungsverbot
12 Eine inhaltlich mit Art. I EG-ne bis in idem-Übk übereinstimmende Regelung findet sich in Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) v. 19. Juni 1990 26 : "Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann."
13 Das SDÜ dient der Umsetzung der bereits im Schengener Abkornmen-" v. 14. Juni 1985 beschlossenen Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen und sieht Ausgleichsrnaßnahmen für hierdurch befürchtete Sicherheitsverluste vor'". Deswegen enthält das SDÜ u. a. Bestimmungen über die Kontrollen an den Außengrenzen, die polizeiliche grenzüberschreitende Kooperation, die Einrichtung des Schengener Informationssystems und die Erleichterung der Rechtshilfe in Strafsachen. Nach der Gemeinsamen Erklärung zu Art . 139 SDÜ in der Schlussakte bedurfte das am I. September 1993 in Kraft getretene Regelungswerk noch einer ausdrücklichen Inkraftsetzung in den Schengener Vertragsstaaten. Diese erfolgte am 26 . März 1995 zunächst für Deutschland, die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Spanien und Portugal. Seit 1995 traten Italien , Griechenland, Österreich, Dänemark, Finnland und Schweden dem SDÜ bei , wobei das SDÜ für die drei nordischen Staaten erst am 25 . März 200 I in Kraft gesetzt wurde . Island , Norwegen und die Schweiz (Rn . 18) sind assoziierte Staaten, die das SDÜ anwenden-". Gern. Art . I der Ratsbeschlüsse v. 29 . Mai 2000 30 und v. 28 . Februar 2002 31 wenden auch Großbritannien und Irland die Bestimmungen über das transnationale Doppelbestrafungsverbot an . Nach dem am I. Mai 2004 erfolgten EU-Beitritt von zehn Staaten, die den Sehengen-Besitzstand grundsätzlich vollständig zu übernehmen hattenv , erstreckt sich der räumliche Anwendungsbereich des Art . 54 SDÜ derzeit auf insgesamt 30 europäische Staaten. Der EuGH hat entschieden, dass der in Art . 54 SDÜ niedergelegte Grundsatz ne bis in idem auch auf ein Strafverfahren anzuwenden ist, das in einem Vertragsstaat 26 27
28
29 30 31
32
Vgl. hierzu das deutsche Zustimmungsgesetz in BGBI. 11 1993, 1010, 1 1997, 1606. Übere inkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtsch aftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Gren zen (vgl. GMBI. 1986, S. 79). Vgl. hierzu ausführlich Kattau , Strafverfolgung nach Wegfall der europäi schen Grenzkontrollen, eine Unter suchung der Schengener Abkommen, 1993, passim und Kühne , Kriminalitätsbekämpfung durch innereuropäische Grenzkontrollen?, 1991, passim . Vgl. hierzu Dannecker, EuZ 2009, 110, 112. ABlEG 2000 Nr. L 131, S. 43. ABlEG 2002 Nr. L 64, S. 20. Vgl. die in Anhang 1 der Beitr ittsakte aufgeführten Bestimmungen des SchengenBesitzstandes, die ab dem Beitritt für die neuen Mitgliedstaaten bindend und in ihnen anzuwenden sind (ABlEU 2003 Nr . L 236, S. 50).
A. Einführung
463
(hier: Belgien) wegen einer Tat eingeleitet worden ist, die in einem anderen Vertragsstaat (hier : Norwegen) bereits zur rechtskräftigen Verurteilung des Verfolgten geführt hat, auch wenn das SDÜ in dem Erstverfolgerstaat zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung noch nicht in Kraft getreten war.33 Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass das SDÜ spätestens zu dem Zeitpunkt, zu dem das Gericht des Zweitverfolgerstaates in die Prüfung des Art. 54 SDÜ eintritt , auch im Erstverfolgerstaat geltendes Recht ist. Die am 7. Dezember 2000 auf dem EU-Gipfel in Nizza feierlich verkünd ete 14 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassungs" ist nach Inkrafttreten des Lissabonner Reformvertrags gern. Art. 6 I EUV rechtverbindliclr " . Art. 50 GRCh statuiert ein unionsweites Doppelbestrafungsverbot: "Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden."
Dieses Justizgrundrecht beinhaltet eine transnationale Dimension, da es sich so- 15 wohl auf das Verhältni s der Mitgliedstaat en untereinander als auch auf das Verhältnis zwischen Mitglied staaten und Union bezieht": Keine Bindungswirkung entfaltet die GRCh für Polen, Tschechien und das Vereinigt e Königreich" . Eine Neuauflage des in den 1980er Jahren spielenden Falles der Doppelverfolgung 16 eines holländischen Drogenhändlers durch die deutsche Justi z (Rn. 6) ist heute unter der Geltung der Art. 54 SDÜ, 50 GRCh und dem zwischen den Niederlanden und Deutschland vorzeitig anwendbaren Art. I EG-ne bis in idem-Übk - ausgeschlossen. Vgl. zur Doppelbe strafung sproblematik im Verhältnis zwischen Deutschland und der Schweiz auch den folgenden Fall 2: Der niederl ändi sche Staatsangehörige S machte sich Mitte Juli 1992 mit den in sei- 17 nem Wagen versteckten 85 kg Haschisch von Amsterdam aus auf den Weg nach Mailand, um die Drogen dort weiterzuverkaufen. Dazu kam es aber nicht, da das Schmuggelgut bei der Ausreise von Deutschland in die Schweiz von Schweizer Grenzbeamten entdeckt und beschlagnahmt wurde. Nach seiner Entlassung aus der rund zwei Monate andau ernden Untersuchungshaft in der Schwei z kehrte S in die Niederlande zurück. Das AG Basel-Stadt verurteilte ihn im Dezember 1992 in Abwesen heit wegen Verstoßes gegen das Schweizer Betäubungsmittelgesetz zu einer Haftstrafe von 18 Monaten, deren Vollstreckun g zur Bewähru ng ausgesetzt wurde . Fast vier Jahre später, im Oktober 1996, wurde S bei seiner Einreise nach Deutschland festgenommen und in Untersuchungshaft verbracht. Im Frühjahr 33 34 35 36
37
EuGH StV 2006, 393, 394 f. ABIEU 200 7 Nr. C 303, S. I. Vgl. hierzu Pache/Ros ch, EuR 2009, 769 ff. Dannecker, Kohlmann- FS, S. 593, 596; Eser, in: Meyer (I-1rsg.), GRCh, Art. 50 Rn. 11; Heger, ZIS 2009, 406, 408 ; Satzger, IntStR, § 10 Rn. 67; Zäller, Krey-FS, S. 501, 516 ff. Vgl. hierzu auch die Erläuterun gen zur GRCh in ABIEU 2007 Nr. C 303, S. 17, 31,34. Satzger, IntStR, § 10 Rn. 67; Zäller, Krey-F S, S. 501, 520 f.
464
§ 13 Transnationales Doppelbestrafungsverbot
1997 wurde er wegen desselben Sachverhalts, der schon der Schweize r Verurteilung aus dem Jahre 1992 zugrunde lag, von einem deutschen Gericht wegen unerlaubten Handelt reibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (vgl. § 29 a I Nr. 2 BtMG) zu einer Freiheit sstrafe von drei Jahren verurteilt. Die Revision des S wurde vom BGH unter Hinweis auf die lediglich rechtsordnung sinterne Wirkung des in Art. 103 1Il GG verankerten Doppelbestrafungsverbotes verworfen'". Frage: Angenommen, dieser Fall spielt sich im Jahre 2010 ab. Kann sich S gegenüber den deutschen Strafverfolgungsbehörden auf Art. 54 SDÜ berufen ?
18 Lösungshinweise zu Fall 2: Nach Inkrafttreten des im Rahmen der "Bilateralen 11" geschlossenen Assoziierungsabkommens zwischen der Schweiz, der EU und der EG v. 26. Oktober 2004 und (davon zu unterscheidender) Inkraftsetzung am 12. Dezember 2008 ist Art. 54 SDÜ im Verhältnis zwischen der Schweiz und den EU-Mitgliedstaaten anwendbar. Einer erneuten Aburteilung des S in Deutschland steht daher der rechtskräftige Verfahrensabschluss in der Schweiz entgegen . Im Übrigen bleibt es im Hinblick auf den beschränkten räumlichen Anwendungsbereiches des Art. 54 SDÜ (entsprechendes gilt für Art. 50 GRCh) dabei , dass ein in einem Nichtvertragsstaat (z. 8. Ukraine) abgeurteilter Täter nicht davor geschützt ist, in Deutschland oder einem sonstigen Vertrags staat wegen derselben Tat erneut strafrechtlich verfolgt zu werden . Der von einigen Stimmen in der Literatur" erhobenen Forderung, über eine den räumlichen Anwendungsbereich des Art. 54 SDÜ erweiternde Auslegung nachzudenken, kann nicht gefolgt werden . Auch eine Erstreckung des transnationalen "ne bis in idem"-Grundsatzes auf Nichtvertragsstaaten, die der EMRK beigetreten sind, kommt nicht in Betracht. Denn diese Norminterpretation würde sich sowohl über den Willen der Vertragsparteien als auch über den spezifischen europapolitischen Kontext hinwegsetzen, in den die besonders enge Kooperation der Vertragsstaaten eingebunden isr". Hierzu gehören ausweislich der Präambel des SDÜ der Abbau der Grenzkontrollen und die im Lichte der Binnenmarktrealisierung zu sehende Erleichterung des Personen- und Warenverkehrs im Schengener Rechtsraum . 19 Es bleibt daher den nationalen Rechtsordnungen überantwortet, darüber zu befinden, wie sich eine außerhalb des Schengener Rechtsraumes erfolgte rechtskräftige Aburteilung auf ein wegen derselben Sache geführtes inländisches Strafverfahren auswirkt. Ein rechtsvergleichender Blick offenbart diesbezüglich beträchtliche Unterschiede zwischen den nationalen Strafrechtssystemen : Während etwa das deutsche , österreichische, englische und italienische Recht ausländischen Strafentscheidungen prinzipiell keine strafklageverbrauchende Wirkung im Inland zuerkennt, verbieten das niederländische und spanische Recht eine erneute Strafverfolgung selbst bei Inlandstaten, die im Ausland abgeurteilt wurderr". Die " ne 38 39 40 41
Dieser Fall wird mitgeteilt von EndrißtKinzig, StV 1997,665 f. EndrißlKinz ig , StV 1997,665,668. Zutr. l.andau, Söllner-FS, S. 627,634 f. Dannecker, Kohlmann- FS, S. 593, 598; Mansdo rfer, Ne bis in idem, S. 61 r, 70 f.; 74 ff., 80 ff. Für eine einseitig-nationale Anerkennung ausländischer Urteile im deutschen Recht nach dem Modell der holländischen Regelung plädieren LagodnylNillTheobald , JR 2000 , 205, 207 .
B. Auslegung und Anwendungsbereich des Art. 54 SDÜ
465
bis in idem"-Regelungen des belgischen, französischen und luxemburgischen Rechts statuieren für den Fall einer rechtskräftigen Auslandsaburteilung zwar ein Verfahrenshindernis. Dieses findet allerdings nur auf extraterritoriale Taten Anwendung'F,
Immerhin ist mit Art . 54 SDÜ ein teileuropäisches Doppelbestrafungsverbot 20 auf den Weg gebracht worden, dessen Bedeutung für die Strafrechtsentwicklung in Europa gar nicht hoch genug geschätzt werden kann . Zählt doch die wechselseitige Anerkennung strafjustizieller Erledigungsakte - wie nunmehr auch Art. 82 I AEUV bestätigt - zu den elementarsten Grundlagen und Voraussetzungen einer gemeinsamen europäischen Strafverfolgung": Auch nach Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages bleibt Art . 54 SDÜ die zentrale Rechtsgrundlage für die unionsweite Geltung des Prinzips " ne bis in idem". Denn die bei der Auslegung dieser Bestimmung durch Rechtsprechung und Literatur gewonnenen Erkenntnisse sind auch für das Verständnis des in Art. 50 GRCh normierten Doppelbestrafungsverbots maßgeblich. Mit der von Art. 54 SDÜ abweichenden Formulierung sind keine sachlichen Änderungen verbunderr'" (zu der in Art . 50 GRCh nicht genannten Vollstreckungsklausel vgl. Rn. 38 f.). Die folgenden Ausführungen zu Art. 54 SDÜ gelten daher für Art . 50 GRCh entsprechend.
B. Auslegung und Anwendungsbereich des Art. 54 SOÜ I. Vorabentscheidungskompetenz des EuGH Vor Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages am 1. Mai 1999 fehlte im Rahmen 21 der früheren 3. Säule der EU ein Verfahrensmechanismus zur Gewährleistung einer unionsweit einheitlichen und verbindlichen Norminterpretation. Den mit der Auslegung des Art . 54 SDÜ befassten nationalen Strafgerichten war insbesondere die Möglichkeit versagt, den EuGH zur Vorabentscheidung (§ 6) anzurufen . Es war daher vorbildlich, dass der BGH in den von ihm zu entscheidenden Fällen stets eine bilaterale Verständigung mit dem jeweiligen Erstverfolgerstaat herbeiführte" . Die Gefahr, dass die strafrechtliche Integration Europas infolge divergierender nationaler Interpretationen des "ne bis in idem"-Prinzips einen Rückschlag erleiden könnte, bestand aber dennoch fort . Durch die mit dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages erfolgte Einbezie- 22 hung des Sehengen-Besitzstandes in den Rahmen der EU (§ 5 Rn. 68) wurde - im Zusammenspiel mit ex-Art. 35 EUV - die Voraussetzung dafür geschaffen, dass der EuGH eine Zuständigkeit für die Auslegung nicht nur des EG-ne bis in idem42
43 44 4S
Dannecker, Kohlmann- FS, S. 593, 598 f.; Epp, ÖJZ 1979, 36, 37; Jung, SchülerSpringorum-FS, S. 493, 496; Kniebühler , Ne bis in idem, S. 136 ff.; Mansdörfer, Ne bis in idem, S. 65 Ir; v. d. Wyngaert, RIDP 1999, S. 77. Ygl. hierzu bereits Jung, Schüler-Springorum-FS , S. 493, 50 I. Zöller, Krey-FS, S. 501, 517. BGH NStZ 1998, 149; BGHSt 45, 123.
466
§ 13 Transnation ales Doppelbestrafung sverbot
Übk, sondern auch des Art. 54 SDÜ erhielt". Dies galt freilich nur für diejenigen Staaten , die - wie die Bundesrepublik Deutschland - von der gern. ex-Art. 35 II EUV eröffneten Möglichkeit des "opt-in" Gebrauch gemacht haberr". Nach Art. 10 1-111 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen besteht für Rechtsakte der PJZS, die vor Inkrafttreten des Reformvertrages angenommen und danach nicht mehr verändert wurden , eine Übergangsfrist von fünf Jahren (ab Inkrafttreten des Reformvertrags), innerhalb derer ex-Art. 35 EUV weiter gilr". Da der EuGH in den letzten Jahren schon vielfach mit der Auslegung des Art. 54 SDÜ befasst wurde , konnte er wesentlich zu einer einheitlichen Auslegung und Anwendung des transnationalen Doppelbestrafungsverbotes beitragen. Problematisch ist freilich , dass bei einer Einschaltung des EuGH mit Verfahrensverzögerungen zu rechnen ist, wenngleich das im Jahre 2008 eingeführte Eilverfahren im Rahmen von Vorab entscheidungsersuchen zu einer gewissen Entspannung beigetragen hat (§ 6 Rn. 24) . Es sollte daher dringend ein strafrechtlicher Spruch körper des EuGH geschaffen werderr", der eine raschere Erledigung von Vorabentscheidungsersuchen gewährleisten könnte.
11. Das Merkmal "rechtskräftige Aburteilung"
23 Unter den Vorau ssetzungen des Art. 54 SDÜ bewirkt die rechtskräftige Aburteilung durch eine Vertragspartei im gesamten Rechtsraum der Vertragsstaaten den Verbrauch der Strafklage und schafft damit ein Verfahrenshindernis, das jeder erneuten Strafverfolgung aus Anlass der abgeurteilten Tat entgegensteht. Als gesichert gilt die Erkenntnis, dass jedenfalls das von einer Vertragspartei gefällte freisprechendes? oder verurteilende Gerichtsurteil'" die Strafklage im gesamten Rechtsraum verbraucht. Dies soll auch für Abwesenheitsurteile gelten'< . Eine weitere dogmatische Klärung des Aburteilungsmerkmals ist dringend geboten, da die Rechtsordnungen aller Vertragsparteien eine Fülle strafprozessualer Erledigungsakte kennen , die nicht in Gestalt eines förmlichen Gerichtsurteils ergehen. Man denke nur an die im deutschen Justizalltag tausendfach praktizierte Erledigung von Strafsachen im Stratbefehlswege (§§ 407 ff. StPO) sowie in Form eines richterlichen oder staatsanwaltliehen Beschlusses über die Einstellung des Verfahrens 46
47 48 49 50
51
52
OLG Köln NStZ 2001 , 558, 560; Hecker, StV 2001 , 306, 307; Kühne, Strafprozessrecht , Rn. 59, 73, 81; Lagodny, NStZ 1998, 154; Schomburg, NJW 2000 , 1833, 1839. Vgl. hierzu EuGHG v. 6. Augu st 1998 (ßGßI. 11998,2035). ABIE U 2008 Nr . C 115, S. 322 ; vgl. hierzu Suhr, ZEu S 2009 , 687, 695 . Vgl. hierzu Appl , Vogler-GS , S. 109, 123; Schomburg, NJW 1999, 540, 543 . EuGH NJW 2006, 3403 ; EuGHE 2006 , 9350 ; BGH NJW 2001 , 2270 ; Kniebühler, Ne bis in idem, S. 224 f.; Kühne, Strafprozessre cht, Rn. 661; Satzger , IntStR , § 10 Rn. 73. ßGH NStZ 1998, 149, 152; ßGI-ISt 45, 123, 127; BayObLG StV 2001, 263 ; Ambos, IntStR, § 12 Rn. 42; Mansdo rfer, Ne bis in idem, S. 148, 179 f.; Schomburg, StV 1999, 246, 247 ; Stein, Europäische s ne bis in idem, S. 468 ff.; v. d. Wyngaert, NStZ 1998, 153,154. EuGH NJW 2009 , 3149 = JuS 2010 , 176 (Hecker); Dannecker, EuZ 2009 , 110, 115.
B. Auslegung und Anwendungsbereich des Art. 54 SDÜ
467
wegen GeringfLigigkeit bzw . nach Erfüllung von Auflagen (§§ 153, 153 aStPO). Umgekehrt stellt sich aus deut scher Sicht die Frage , welche Wirkung ausländischen Verfahrensabschlüssen beizumessen ist, die in der deuts chen Rechtsordnung kein prozessuales Pend ant find en' <. Die rechtli che Probl ematik kann exemplarisch anhand der folgenden Erledigungsarten aufg ezeigt werden : belgi sehe bzw . niederl ändische "transactie" (Fall 3 und 5), österreichisches Straferkenntnis (Fall 4) und staat sanwaltlicher Einste llungsbeschluss gem . § 153 a I StPO (Fall 5).
1. Belgisehe "transactie" Fall 3 (BG" NStZ 1999,250): Die StA wirft den beiden Angeklagten mit der zur Haupt- 24 verhandlun g zugelassenen Anklage vor, in der Zeit von Oktober bis Dezember 1988 in Hamb urg, Antwerpen, Brüssel und Monaco gemeinsam mit andern Beteili gten durch neun selbständige Handlungen belgisehe Eingangsa bgaben in Höhe von DM 2, 9 Mio. verkürzt zu haben, indem sie als Anges tellte der Hamburger Firma E Breitband stahl und ß1echplatten aus Jugosla wien mit gefälschte n Ursprungszeugnissen als türkische Erzeugnisse in Belgie n abfertigen ließen, um die Erhebung von Antidump ingzoll in der Europäischen Gemeinschaft zu umgehen (§ 370 I Nr. I, VI AO). Wegen dieses Sachverhalt es wurde n in Belgien und Deutschland Ermittlungsverfahren gegen die Beteiligten geführt. Das von den belgischen Zollbeh örden eingele itete Verfahren wurde am 30. Dezember 1991 durch eine "transactie" nach belgischem Recht abgesch lossen, durch die sich der Inhaber der Firma E gegenü ber dem Finan zministerium verpflichtete, die angefa llenen Zölle, eine Zoll strafe und die Säum niszinsen zu zahlen. Das LG Hamburg stellte gegen die Angeklagten in Deutschland durch geführte Verfahren wegen eines Verfahrenshindern isses (Strafkl ageverb rauch) ein. Hiergegen richtet sich die Revision der StA. Frage: Steht Art. 54 SDÜ einer stra frechtl ichen Verfolgu ng der Angeklagten entgege n?
Erste Lösungshinweise zu Fall 3 : Die belgi sehe Rechtsordnung sieht die M ög- 25 lichkeit vor, ein Steuerstrafverfahren niederzuschlagen, indem der Beschuldigte sich einem von der Finanzbehörde vorge schlagenen verwaltungsrechtlichen Vergleich, der sog . "transactie" unterwirft, der ihn zur Begleichung des hinterzogenen Betrages sowie zur Zahlung einer von der Behörd e festgel egten Geldsumme verpflichtet. Nach vollständiger Erfüllung der Zahlungspflicht ist im Inland eine erneute Strafverfolgung wegen derselben Sache ausgeschlossen'" . Ob die Erledigung einer Steuerstrafsache durch ein in Belgien abgewickeltes Transactieverfahren in Deuts chland nach Art . 54 SDÜ zu einem Verfolgungshindemis führt , hängt davon ab, ob man die belgisehe "tra nsactie" als " rechtskräftige Aburteilung" wertet. Diese Frage wurde von dem zur Entsche idung berufenen LG Harnburg'" bejaht, vom OLG Hamburg'" indessen abgelehnt. Vor dem Hintergrund, dass das deutsche Recht die Steu erhinterziehung mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bedroht (§ 370 I AO) erbl ickte der Hamburger Senat in der belgischen "tra nsactie" 53
54
55 56
Vgl. zu den verfahre nsbee ndenden Entscheidungen im französischen und niederländischen Strafprozess Stein, Europäisches ne bis in ide m, S. 359 Ir ; 407, 439 ff. und im belgischen Recht Kniebühler, Ne bis in idem, S. 35 ff., 136 ff Vgl. hierzu Kniebühler, Ne bis in idem, S. 47 ff.; v. d. Wyngaert, NStZ 1998 , 153. LG Hambu rg wistra 1995, 358 ; eben so LG Hambur g wistra 1996, 359 . OLG Hamb urg wistra 1996, 193.
468
§ 13 Transnationales Doppelbestrafungsverbot
gar einen willkürlich anmutenden .Freikauf von Strafe". Der BGH ließ die Beantwortung der Rechtsfrage in seinem Urteil v. 2. Februar 1999 aufgrund der gegebenen Sachverhaltskonstellation ausdrücklich offen": Durch eine belgisehe "transactie" trete jedenfalls dann kein Strafklageverbrauch ein, wenn es sich um ein Verfahren handele , in dem die "transactie" unmittelbar eine juristische Person betreffe und die Wirkung im Rahmen des verwaltungsrechtlichen Vergleichs auf Dritte (hier: die Angeklagten) erstreckt werde, ohne dass diese ihrerseits Leistungen zu erbringen haben. Der BGH gab zwar zu bedenken, dass nach dem Willen der Vertragsparteien nur Gerichtsurteilen - zumindest aber gerichtlichen Entscheidungen - eine strafklageverbrauchende Wirkung zukommen sollte . Den Urteilsgründen lässt sich jedoch die bemerkenswerte Andeutung entnehmen, dass der Senat im Hinblick auf eine fortschreitende rechtliche Integration der EG-Mitgliedstaaten auch eine weite Auslegung des Art. 54 SDÜ, die Verfahrenserledigungen nach Art der belgischen "transactie" erfasst , nicht generell ausschließt'".
2. Österreichisches Straferkenntnis 26 Fall 4 (BayObLG StV 2001, 263): Der Angeklagte A fuhr am 12. Februar 1997 gegen 3 Uhr 40 von Innsbruck kommend mit seinem PKW auf der Inntalautobahn Richtung Kufstein , obwohl er infolge vorangegangenen Alkoholgenusses nicht mehr in der Lage war, sein Fahr zeug sicher zu führen. An sich wollte er an der Anschlussstelle Kufstein-Nord die Autobahn verlas sen und nach Hause fahren . Da er jedoch die Ausfahrt übersah, gelangte er nach einer Fahrtstrecke von 800 Metern auf deut schem Staat sgebiet an den Grenzübergang Kiefersfelden-Autobahn zur Einrei se in das Bundesgebiet. Eine bei ihm am 12. Februar 1997 um 4 Uhr 25 entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 1,93 Promille im Mittelwert. Aufgrund eine s Straferkenntnisses der (österreichischen) Bezirkshauptmannschaft Kufstein wurde A mit einer Geldstrafe von ATS 10 000.- wegen einer Verwaltungsübertretung belegt. Das AG Rosenheim verurteilte A am 4. November 1997 wegen derselben Trunkenheitsfahrt (§ 316 11 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten ohne Bewährung. Das LG Traunstein änderte als Berufungsgericht am I. April 1998 das Urteil dah ingehend ab, dass die gegen A verhängte Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde. Gegen dieses Urteil legte A Revi sion zum BayObLG ein, mit der er die Einstellung des Verfahren s wegen Strafklageverbrauchs begehrte. Frage: Kann sich A auf Art . 54 SDÜ berufen ?
27 Erste Lösungshinweise zu Fall 4: Die Beantwortung der Rechtsfrage hängt davon ab, ob das österreichische Straferkenntnis eine " rechtskräft ige Aburteilung " i. S. d. Art. 54 SDÜ darstellt. Dem könnte entgegenstehen, dass es sich bei dem gegen A nach österreichischem Recht erlassenen Straferkenntnis nicht um eine richterliche Entscheidung handelt. Vielmehr wurde das Trunkenheitsdelikt des A als bloße Verwaltungsübertretung behandelt, die von der Bezirkshauptmannschaft - einer Verwaltungsbehörde - geahndet wurde . Während der BGH in seiner oben aufgefLihrten Entscheidung (Fall 3) immerhin eine gewisse Offenheit gegenüber einer weiten Auslegung des Aburteilungsmerkmals signalisierte, vertrat das BayObLG in seinem Urteil v. 26. Mai 2000 einen eindeutig restriktiven Stand57 58
BGH NStZ 1999, 250 ; ähnliche Überlegungen BGH NStZ 1998, 149, 152. So auch die Einschätzung von Schomburg, StV 1999,246,247.
B. Auslegung und Anwendungsbereich des Art. 54 SDÜ
469
punkt' ". Nach Auffassung des BayObLG verm ögen nur Gerichtsurteile, zumindest aber gerichtliche Entscheidungen ein staatenübergreifendes Doppelbestrafung sverbot auszulösen. Der Senat lehnte es daher ab, dem in Österreich ergangenen Straferk enntn is strafklageverb rauchende Wirkun g in Deutschland zuzue rkennen 60 .
3. Niederländische "transactie" und staatsanwaltliche Verfahrenseinstellung gern. § 153 a StPO Fall 5 (EuGH NJW 2003, 1173) : Der EuGH hatte infolge der Vorabentscheidun gsersu- 28 che n eines deutschen und eines belgische n Gerichts gern. ex-Art . 35 EUV über die Auslegung des Art . 54 SDÜ zu entsche iden . Dem lagen folgende Ausgangsverfahren zugrunde: (1) Der Beschuldigte G, ein türkischer Staatsangehör iger mit Wohnsitz in den Niederland en, betr ieb in Hee rlen (Niederlande) e ine Imbi ssstube. Dort beschl agnahmt e die niederländ ische Polizei im Rahmen zweier Betrie bsdurchsuchungen im Januar und Februar 1996 grö ßere Rauschgiftmengen. Die niederländische Staatsanwaltscha ft stellte das Strafverfahren gege n G ein, nachd em er ihr Angebot, Geldbeträge in Höhe von NLG 3 000.bzw. N LG 750.- angenommen und gezah lt hatte ("t ran sactie"). In der Folgeze it wurde G in Deut schl and festgeno mmen und von der Staatsanwaltschaft Aachen wegen gewerbsmä ßigen Handel s mit Betäubungsmitteln angeklagt (vg l. § 6 N r. 5 StG B). Am 13. Januar 1997 verurteilte ihn das AG Aachen zu einer Gesa mtfreiheitsstra fe von einem Jahr und fünf Monaten, deren Vollstreck ung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Nachdem G hiergegen Berufung eingelegt hatte, stellte das LG Aachen das Verfahr en gegen G mit Beschluss v. 27. August 1997 ein . Zur Begr ündung wurde au f den durch den niederländ ischen Verfahrensabschluss einget rete nen Strafk lageve rbrauch verwiese n, der gern. Art. 54 SDÜ auch für die deut sche Strafverfolgung verbindlic h sei. Hiergegen legte die StA Aachen sofortig e Beschwerde beim OL G Köln ein. Der Senat setzte das Ver fahren aus und legte dem EuG H die Frage vor, ob gern. Art . 54 SDÜ Strafklageverbrauch eintrete, wenn nach niederl ändische m Recht wege n desselben Sac hverha ltes nationa l die Strafklage verbraucht sei. (2) Der Beschuldigte B, ein deutscher Staatsangehöriger mit Wohnsi tz in Deutschland, wurde von der belg ischen StA wege n einer Körperverletzung angeklagt, die er im Oktober 1997 in Ostdu inkerke (Belgien) zum Nachteil von Frau L begangen haben soll. Z uvor hatte die Staatsanwalt scha ft Bonn das wegen dieser Tat gege n B gefü hrte Verfahren gegen Zahlung einer Geldbuße von DM 1 000 .- gern. § 153 a StPO eingestellt. Na ch § 153 a IS. 5 StPO kommt dem Einstellungsbesch luss eine eingeschränkte materielle Rechtskraft wirkun g dergestalt zu, dass die Tat nicht mehr als Vergehen verfolgt werden kann . Die belgisehe Rechtb ank van Eerste Aanleg Veume setzte deshalb das Verfahren aus und legte dem EuGI-I die Frage vor, ob Art. 54 SD Ü einer Strafve rfolgung in Belgien entgegensteht.
59
60
BayObL G StV 200 1,263 . Der gleich en Auslegun gslinie folge n Stein, Europäisches ne bis in idem , S. 468 ff.; v. d. Wyngaer t, NS tZ 1998, 153, 154; v. d. WyngaertlStessens, ICLQ 1999, 779, 797 ff.; Vogel, Schr oeder -FS, S. 877, 888; vgl. dagegen Knieb ühler, Ne bis in idem, S. 270 ff. und Mansdörf er, Ne bis in ide m, S. 173, d ie d ie Begrü ndung des BayObLG mit Recht für unzureichend halten. Des Weiteren ber ief sich das BayObLG auf die Vorbehaltsklausel des Art. 55 I Iit. a SDÜ, die den Vert ragsparte ien das Recht einräumt, unter bestimmten Vo raussetzungen (Tatort liegt ganz oder tei lweise auf deut schem Hohe itsgebiet) nic ht an Art. 54 SDÜ gebunden zu sein.
470
§ 13 Transnationales Doppelbestrafungsverbot
29 Erste Lösungshinweise zu Fall 5: Der EuGH beantwortete die Vorlegungsfragen in einer gemeinsamen Entscheidung dahingehend, dass das in Art. 54 SDÜ aufgestellte Verbot der Doppelbestrafung auch für zum Strafklageverbrauch führende Verfahren der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art gilt, in denen die Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaates ohne Mitwirkung eines Gerichts ein in diesem Mitgliedstaat eingeleitetes Strafverfahren einstellt, nachdem der Beschuldigte bestimmte Auflagen erfüllt und insbesondere einen bestimmten, von der Staatsanwaltschaft festgesetzten Geldbetrag entrichtet hat" . Dabei stellte der EuGH maßgeblich auf den Sinn und Zweck des transnationalen Doppelbestrafungsverbotes ab. Art. 54 SDÜ soll verhindern, dass eine Person , die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, wegen derselben Tat in mehreren Mitgliedstaaten verfolgt wird. Zur Verwirklichung dieses Zieles könne Art. 54 SDÜ nur beitragen, wenn er auch auf solche strafklageverbrauchende Entscheidungen anwendbar ist, die ohne Mitwirkung eines Gerichts und nicht in Form eines Urteils ergangen sind. Der EuGH führte klarstellend aus, dass das Doppelbestrafungsverbot den durch die Straftat Geschädigten nicht hindere, eine zivilrechtliche Klage auf Ersatz des erlitt enen Schadens zu erheben .
4. Vertiefende Diskussion 30 Weitere Lösungshinweise zu den Fällen 3 bis 5: Wie die nachfolgende Diskussion zeigt, vermag die vom OLG Hamburg (Fall 3) und vom BayObLG (Fall 4) vertretene restriktive Interpretation des Aburteilungsbegriffes nicht zu überzeugen, während die Entscheidung des EuGH (Fall 5) Beifall verdient'< . Im Hinblick auf die völkervertragsrechtliche Natur des SDÜ sind für die Interpretation des Art. 54 SDÜ die in Art. 31 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) kodifizierten Auslegungsmaximen heranzuziehen'". Danach ist ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit seiner gewöhnli chen , seinen Bestimmungen im Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen'". Die spezifische Ziel- und Zweckbestimmung des Art. 54 SDÜ muss dabei den Anhaltspunkten entnommen werden , die der Text des Vertrages einschließlich seiner Präambel und Anlagen liefert, da andere Auslegungsaspekte - wie etwa die Entstehungsgeschichte des Abkommens - nach Art. 32 WVK nur ergänzend und bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen herangezogen werden können . Da das SDÜ in drei amtlichen Sprachen (deutsch, niederländisch und französisch) abgefasst wurde und Art. 142 11 4 SDÜ jeden Wortlaut für gleichermaßen verbindlich erklärt, ist von der in Art. 33 111 WVK angeordneten Vermu61
62 63 64
EuOH NJW 2003 , 1173 = NStZ 2003, 332 = StV 2003 , 20 I. Kniebühler, Ne bis in idem, S. 263 ff. ; krit. Amb os, IntStR, § 12 Rn. 47 ; RadtkelBusch, NStZ 2003, 281, 283 ; Stein, Europäisches ne bis in idem, S. 478, 486 ff: Stein, Europäisches ne bis in idem, S. 97 Ir Das Wiener Übereinkommen v. 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge (13081. 11 1985, 927 ; 1987, 757) ist abgedruckt bei Schomburg, 1RhSt, Anhang 12. Die dort enthaltenen Auslegungskriterien werden als kodifiziertes Völke rgewohnheitsrecht angesehen; vgl. hierzu BOH NStZ 1998,149,151 ; Dörr, DÖV 1993,696,702 m. w. N.
B. Auslegung und Anwendungsbereich des Art. 54 SDÜ
471
tung auszugehen, dass die Ausdrücke des Vertrages in jedem authentischen Text die gleiche Bedeutung haben . Durch die Einbeziehung des SDÜ in das Unionsrecht ist nunmehr zwar der Wortlaut aller Amtssprachen der EU verbindlich'". Dies ändert aber nichts daran , dass die grammatikalische Auslegung des Art. 54 SDÜ anhand der Textfassung der drei ursprünglich authentischen Rechtssprachen vorzunehmen ist, denn nur diese geben sprachlich den originären Regelungsgehalt wieder, der nunmehr als Unionsrecht weitergelten soll. Es überzeugt daher nicht, etwa unter Hinweis auf die portugiesische Fassung des Art. 54 SDÜ (, ... definitivamente julgado por um tribunal.. . ") eine restriktive Interpretation des Doppelbestrafungsverbotes herzuleiten, die nur noch Gerichtsurteilen transnationale Erledigungswirkung zuerkennt" . Vielmehr ist der portugiesische wie jeder andere mitgliedstaatliche Gesetzgeber verpflichtet, eine sprachliche Fassung des Art. 54 SDÜ zu wählen , die den materiellen Regelungsgehalt der Norm, wie er sich aus den ursprünglich für verbindlich erklärten Rechtssprachen ergibt, zum Ausdruck bringt. Andernfalls hätten es die Mitgliedstaaten in der Hand, je nach der von ihnen gewählten Übersetzung des Art. 54 SDÜ den Anwendungsbereich des Doppelbestrafungsverbotes neu zu bestimmen.
a) Wortlautinterpretation Setzt man zunächst bei der Wortlautauslegung der deutschen Textfassung an, so 31 scheint diese an eine ganz spezielle Form der Verfahrenserledigung anzuknüpfen, nämlich an ein Gerichtsurteil. Art. 54 SDÜ spricht ausdrücklich von dem "Urteilsstaat" und auch in der Vorbehaltsregelung des Art. 55 SDÜ ist von einem "ausländischen Urteil" die Rede'". Dieses Begriffsverständnis kann sich auf die Tradition früherer "ne bis in idem"-Abkommen berufen , die auf der Ebene des Europarates ausgearbeitet wurden . In diesen Übereinkommen wurde stets zwischen gerichtlichen Urteilen und nichtgerichtlichen Verfahrenserledigungen unterschieden'". Auch die in Art. 58 SDÜ verwendete Bezeichnung "Justizentscheidung", legt ein enges Begriffsverständnis nahe'". Der Sprachgebrauch der deutschen Fassung des SDÜ ist jedoch nicht einheitlich. So findet sich in Art. 57 SDÜ, der die wechselseitige Erteilung von Auskünften über die in einem Vertragsstaat erfolgte Aburteilung einer Person regelt, der weite Begriff "Entscheidung". Auch das in Art. 54 SDÜ enthaltene Vollstreckungselement zwingt nicht etwa dazu , nur vollstreckbaren Gerichturteilen die Qualität einer rechtskräftigen Aburteilung zuzuerkennen. Denn die Formulierung" ... vorausgesetzt, dass im Fall einer Verur65
66 67
68
69
Böse, GA 2003 , 744, 747; Schomburg, InRhSt, Art. 54 SDÜ Rn. 9; Stein , Europäisches ne bis in idem, S. 57. So Böse, GA 2003, 744, 749, 756. Wie sich den Denkschriften der deutschen und der österreich ische Regierung entnehmen lässt, gingen sie bei Vertragsabschluss in der Tat davon aus, dass die ne-bis-inidem-Regelung nur bei Vorliegen eines ausländischen Gerichtsurteils zur Anwendung gelangen soll (vgl. Denkschrift der Bundesregierung zum SDÜ; I3T-Drs. 12/2453, S. 91, 93). Kniebühler , Ne bis in idem, S. 184; v. d. Wyngaert, NStZ 1998, 153. Stein , NJW 2003, 1162, 1163.
472
§ 13 Transnationales Doppelbestrafungsverbot
teilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist... " kann auch so verstanden werden , dass sie nur bei Verfahrensabschlüssen Bedeutung erlangt , denen typischerweise eine Vollstreckung nachfolgt. Bei allen sonstigen Erledigungsakten ist das Vollstreckungselement schlicht gegenstandslos. Die niederländische Formulierung .ivonnls" bezeichnet ebenso wie der französische Ausdruck .f ugemem " zwar in erster Linie ein Gerichtsurteil. In den jeweiligen Rechtssprachen werden diese Bezeichnungen aber auch für sonstige Entscheidungen, z. B. richterliche Beschlüsse, verwendet": Die grammatikalische Interpretation vermag demnach keine eindeutige Antwort auf die gestellte Auslegungsfrage zu liefern?" . Dem Wortlaut nach ist es also - wovon auch der EuGH ausgeht" - zumindest nicht ausgeschlossen, unter den Begriff" rechtskräftige Aburteilung " nicht nur förmliche Gerichtsurteile zu subsumieren, sondern auch sonstige verfahrensabschließende und rechtskraftbewirkende Entscheidungen, an denen kein Gericht mitgewirkt hat. b) Systematische Interpretation 32 Für eine Beschränkung des Anwendungsbereiches des Art. 54 SDÜ auf in Urteilsoder Beschlussform ergangene richterliche Entscheidungen könnte der systematische Zusammenhang mit der in Art. 58 SDÜ getroffenen Regelung sprechen. Nach Art. 58 SDÜ stehen die vorstehenden Bestimmungen - also auch Art. 54 SDÜ - der Anwendung weitergehender Bestimmungen des nationalen Rechts über die Geltung des Verbots der Doppelbestrafung in Bezug auf "ausländische Justizentscheidungen" nicht entgegen. Art. 58 SDÜ stellt mithin klar, dass Art. 54 SDÜ keine abschließende Regelung des transnationalen Doppelbestrafungsverbotes darstellt, sondern lediglich einen von allen Vertragsparteien einzuhaltenden verfahrensrechtlichen Mindeststandard garantieren soll. Den Vertragsstaaten steht es also frei, auf nationaler Ebene das Verbot der Doppelbestrafung großzügiger auszugestalterr". Wenn man den Terminus "rechtskräftige Aburteilung " i. S. d. Art. 54 SDÜ als Unterfall des (Ober-)Begriffes " ausländische Justizentscheidungen " auffasst, könnte man hieraus den Schluss ziehen , dass in grenzüberschreitenden Konstellationen nur gerichtlichen Entscheidungen strafklageverbrauchende Wirkung beizumessen seien?". Zwingend ist diese restriktive Auslegung freilich nicht, da sich im SDÜ selbst keine Definition oder sonstige erläuternde Bemerkung zu dem Terminus " ausländische Justizentscheidung" findet" . Auch nach Auffassung des EuGH folgt aus Art. 58 SDÜ nicht, dass Art. 54 SDÜ ausschließlich auf Ur70
71
72
73
74
75
Vgl. LG Hamburg wistra 1995,358,359; LG I-Iamburg wistra 1996,359,361; Schomburg, IRhSt, Art. 54 SOÜ Rn. 12; ders. StV 1997, 383, 384; ausführlich hierzu Stein , Europäisches ne bis in idem, S. 197 ff. Hecker, StV 2001, 306, 308; Kniebühler, Ne bis in idem, S. 178 ff.; Plöckinger/Leidenmühler, wistra 2003, 81, 84; RadtkelBusch , NStZ 2003, 281, 284; Vogel/Norouzi, JuS 2003, 1059, 1062; a. A. insoweit Stein, NJW 2003, 1162, 1163. EuGI-I NJW 2003, 1173, 1174 (Rz. 42). Vgl. hierzu PlöckingerlLeidenmühler, wistra 2003,81 ,85. So BGH wistra 1997,271 = NStZ 1998, 151; a. A. Generalanwalt Ruiz-Ja rabo Colomer, EuGHE 2003, 1348, 1371 (Rz. 108). Plöckinger/Leidenmühler, wistra 2003, 81, 85.
B. Auslegung und Anwendungsbereich des Art. 54 SDÜ
473
teile oder gerichtliche Entscheidungen anwendbar sein soll. Vielmehr räume diese Bestimmung unabhängig von der Natur der fraglichen ausländischen Entscheidungen den Mitgliedstaaten das Recht ein, nationale Rechtsvorschriften anzuwenden, die dem Doppelbestrafungsverbot eine größere Tragweite verleihen oder seine Anwendung an weniger strenge Voraussetzungen knüpfen".
c) Teleologische Interpretation Da weder die Wortlautauslegung noch die systematische Interpretation zu eindeu- 33 tigen Ergebnissen führt, kann eine Präzisierung des Aburteilungsbegriffes letztlich nur anhand einer an Sinn und Zweck orientierten Interpretation des Art. 54 SDÜ gelingen : Man könnte sich - wie das OLG Hamburg (Fall 3) - auf den Standpunkt stellen, es handle sich bei Verfahrensabschlüssen wie der belgischen "transactie" lediglich um nationale Besonderheiten, die schon deshalb nicht als "rechtskräftige Aburteilung" i. S. d. Art. 54 SDÜ gewertet werden können, weil sie nicht mit den Rechtsordnungen sämtlicher Vertragsstaaten harmonieren". Wenn Art. 54 SDÜ demnach nur Verfahrenserledigungen erfassen würde, die im nationalen Recht aller Vertragsparteien anerkannt sind, wären nur Gerichtsurteile geeignet, ein transnationales Doppelbestrafungsverbot auszulösen . Eine solche Auslegung des Aburteilungsbegriffes auf dem " kleinsten gemeinsamen Nenner" des Strafprozessrechts aller Vertragsparteien würde somit eine Vielzahl sonstiger, nicht in Urteilsform ergehender Verfahrensabschlüsse aus dem Anwendungsbereich des Art. 54 SDÜ ausklammern, was schon aus rein praktischen Gründen nicht überzeugen kann . Kein gut beratener Beschuldigter würde einer Verfahrenseinstellung gern. § 153 a StPO zustimmen oder auf das Einlegen eines Einspruch s gegen einen Strafbefehl verzichten, wenn er befürchten müsste , in einem anderen Vertragsstaat mangels Aburteilung in Urteilsform wegen derselben Tat erneut zur Rechenschaft gezogen zu werden . lustizentlastende Erledigungsformen, die einen Verfahrensabschluss ohne gerichtliche Hauptverhandlung ermöglichen, würden faktisch entwertet - ein Effekt, der angesichts der nicht nur in Deutschland knappen lustizressourcen nicht sachgerecht erscheint". Bei einer an Sinn und Zweck des transnationalen Doppelbestrafungsverbotes 34 orientierten Norminterpretation muss - worauf auch der EuGH hinweist'? - berücksichtigt werden , dass die Vertragsparteien in einen bereits fortgeschrittenen und stetig fortschreitenden Integration sprozess im Rahmen der Europäischen Union eingebunden sind'". Alle Vertragsstaaten sind dazu verpflichtet, an dem in Art. 67 I AEUV (ex-Art. 29 EUV) formulierten Ziel der Herstellung eines" Raumes der Freiheit, der Sicherh eit und des Rechts " mitzuwirken. Dieses Ziel wird vor allem durch eine Intensivierung der polizeilichen und justiziellen Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten erreicht (vgl. Art. 82, 87 AEUV ; ex-Art . 30, 31 EUV). 76 77
78 79 80
EuGI-I NJW 2003, 1173, 1174 (Rz. 43, 45). OLG Hamburg wistra 1996, 193, 195. Hecker, StV 2001, 306, 307; Plöckinger/Leidenmühler, wistra 2003,81 ,86. EuGH NJW 2003, 1173, 1174 (Rz. 36, 37). Dieser Aspekt wird auch von BGH NStZ 1998, 149, 152 gesehen.
474
*13 Transnationales Doppelbestrafungsverbot
Innerhalb des Rechtsraumes der Vertragsparteie n hat diese Zu sammenarbeit bere its e ine sehr konkrete Gestalt angeno mmen - etwa in Form de s Informat ionsaustausc hes aufgrund des S IS (§ 5 Rn. 48 ff.), der operative n Zu sammenarbeit der Polizei- und Strafverfo lgungs be hörden ( § 5 Rn. 32 ff.), der Erle ichteru ng der Rechtshilfe und der ge genseitige n Unters1Utzung im Ermittlu ngs - und Strafverfahren (§ 12 Rn. 5 ff.)B1. Das Zusammenwachsen der Vertragsparteien zu ei ne m Rechtsraum , in de m d ie Kräfte der nationalen Strafgewalten im Intere sse ei ner effektiveren Kriminalitätsbek äm pfung ge bünde lt werde n, darf nicht zu e iner A ushö hlung elementarer Beschuld igtenrechte führen . Es muss verhindert werden, da ss eine Vertragspartei die ihr zugän glichen Informationen od er Ermittlung set ge bnisse ein es Erstverfo lgerstaa tes benutzt, um eine dort be reits recht skräft ig abgeschlosse ne Stra fsache im Inland erne ut au fzuroll en. Cin Gcse tzcs vers toß, der in einem Vertragsstaat nicht meh r ab geurtei lt werd en kann , weil er aufged eck t und ab schl ießend sankt ioniert worden ist, soll nicht erneut in einem ande ren Vertragsstaat strafrec htlich ver fo lgt werden können . Insoweit ste llt die A usform ung eines mögl ichst weitreic hend en tra nsnationa len Doppelbestrafungsverbotes ein unab dingb ares recht sstaatliches Korrektiv gegenüber einer intem ational- arbeitsteilig operierenden Strafverfol gun g darB2. 35 Die im SD Ü vorgesehe ne Ab schaffung der Personenkomrollen an den geme insamen Gr enzen d ient der Vo llendung de s europäisc hen Binnenmarktes. Das Binnenmarktziel korrespondiert m it der Idee, eine n ge me insamen Rechtsraum zu scha ffen, in dem die di ver gierenden nat ion ale n Rechtsvo rschriften keine Störung des freien Verkeh rs von Per sonen , Gütern und Kapital mehr darsrelle nw. Dieses Ziel kann nur durch ei ne lI armonisierung de s Rec hts od er durch die Anwend ung des Pr inzip s der geg ense itigen Anerkennung realis iert werden. Da die div ergierende n nat ion alen Strafrec htssys te me ei ner Angleichung der zeit a llenfalls beschränkt zugänglich sind, ka nn sich ein ge me insamer Rechtsraum im Bereich der Strafrec htspt1ege nu r auf der Basis der gegensei tige n A ne r ke nn u ng verfahrensab sch ließender Erledigu ngsakte herausbild en" . Hierau s fo lgt für die Au sle gun g des Art. 54 SDÜ, da ss d ie Definitionsmacht über den nationalen Rec htsa kt. an den das sta atenübe rgreifende Dop pelbestrafungsverbot an knüpft , ausschließlich be im Erstverfolgerstaat liegt. Entsche idend ist al so, das s na ch dem Rech t des ers tve rfolgen den Staates d ie ergriffene Maßnahme eine erneute Verfolgung der selben Tat im Inland ausschließt".
" "
"'
Vgl. hierzu Kühne, Strafprozessrecht. Rn. 96. Jung. Schülcr-Springorum-FS. S. 493. SOl; Kniebiihler, Ne bis in idcm. S. 190; Schamburg. StV 1999. 246. 247; Themas. Einmaligkeit der Strafverfolgung. S. 283. Vgl. zu dem Aspekt der Freizügigkeit EuGlI N1W 2003. 1173, 1174 (Rz. 38); N1 W 2005, 1337 (Rz. 32); NJW 2006. 178 1. 1782 (Rl.. 33); N1W 2009. 3 149 (Rl.. 4 1). EuGIl NJW 2003, 1173, 1174 (RI.. 33); Kniebuhler, Ne bis in idem. S. 193 L. 2 11: Vogel, Schrocder-l-S, S. 877. 88 1, 887. Dannecker. Kohlmann-l-S, S. 593. 6 11, 6 14; ders .• EuZ 2009. 110. 118; Hecker, StV 200\, 306. 309: Kniebühle r, Ne bis in idcm. S. 212 L; tiebau, Ne bis in idem. S. 282 11: Seus. in: (j öhlcr, OWiG. § 84 Rn. 18: Themas ; Einmaligkeit der Strafverfolgung. S. 297. 303.
B. Au slegung und Anwendungsbereich des Art . 54 SD Ü
475
d) Definition des Merkmals "rechtskräftige Aburteilung" Auf der Grundlage einer teleologischen Interpretation des transnationalen Doppel- 36 bestrafungsverbotes, wird folgende Definition des Aburteilungsmerkmals vorgeschlagen: "Rechtskräftige Aburteilung" i. S. d. Art. 54 SOÜ ist jede verfahrensabschließende und rechtskraftbewirkende Entscheidung, die nach dem Recht des Erstverfolgerstaates zu einem Verbrauch der Strafklage führt. Verfahrenserledigungen nach Art der belgischen bzw. niederl ändischen "transactie" (Fälle 3 und 5), des österreich ischen Straferkenntnisses (Fall 4) oder des staatsanwaltliehen Einstellungsbeschlusses gern. § 153 a StPO (Fall 5) sind demnach geeignet, im gesamten Rechtsraum der EU ein Verfahrenshindernis auszulösen. Nach hier vertretener Auffa ssung stellen auch strafprozessuale Erledigungen wie die ohne Auflage ergehende richterliche Verfahrenseinstellung gern. § 153 " StPO, der Nichteröffnungsbeschluss gern. §§ 204 ,211 StPO oder die Verwerfung eines KIageerzwingungsantrages gern. § 174 StP086 eine "rechtskräftige Aburteilung" i. S. d. Art. 54 SDÜ insoweit dar , als diese Entscheidungen materielle Rechtskraft entfalten. Es bleibt abzuwarten, ob diese weite Auslegung auch vom EuGH geteilt wird . Zwar hob der EuGH in seinem Urteil v. 11. Februar 2003 (Fall 5) das Erfordernis einer "Ahndung" hervor'". Ob die Ahndung aber eine notwendige Bedingung für die Einstufung strafprozessualer Verfahrensabschlüsse als "rechtskräftige Aburteilung" sein soll'", kann dem Urteil nicht mit Sicherheit entnommen werden'". Nach überzeugender Auffassung des EuGH liegt jedenfalls keine "rechtskräftige Aburteilung" i. S. d. Art. 54 SDÜ vor, wenn die Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaates die Strafverfolgung nur deshalb einstellt, weil in einem anderen Mitgliedstaat Strafverfolgungsmaßnahmen gegen denselben Beschuldigten wegen derselben Tat eingeleitet worden sind, ohne dass im Erstverfolger staat eine Prüfung in der Sache erfolgt ist90 • Ebenfalls keinen Stratklageverbrauch gern. Art. 54 SDÜ vermag eine polizeiliche Einstellungsentscheidung zu bewirken, die nach dem Recht des Erstverfolgerstaates keine endgültige Erledigungswirkung entfaltet?' .
86 87
88 89 90 91
So auch OLG Innsbruck NStZ 2000 , 663 , 665 ; a. A. Dannecker, EuZ 2009, 110, 118. EuGI-I NJW 2003 , I 173, I 174 (Rz. 27, 29) ; Stein, NJW 2003 , I 162, 1164; Thym, NStZ 2003 ,334. So Thym, NStZ 2003 , 334. Zut r. gesehen von Stein, NJW 2003 , 1162, 1164 . EuGHE 2005 , 2009 ; zust. Satzger, IntStR , §10 Rn. 74. EuGH NStZ-RR 2009 , 109, 110.
*13 Transnationales Doppelbestrafungsverbot
476
111. Vollstreckungselemente des Art. 54 SOÜ 37 Nach Art. 54 SDÜ ist das Verbot doppe lter Strafverfolgung an die weitere Voraussetzung geknüpft, dass im Fall einer Verurteilu ng die Sanktion - bere its vollstreckt ist. - gerade vollstreckt wird oder - nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann. 38 Klärungsbedürft ig ist die Frage, ob die genannten Vollstreckungselemente im räumlichen Anwend ungsbere ich des Art. 50 G RCh (Rn. 14 f.) überhaupt noch von Bedeutung sind. Da das genannte Justizgrundrecht nach seinem Wortlaut im Gegensatz zu Art. 54 SDÜ keine Vollstreckungskompo nente enthält, könnte man zu der Auffassung gelangen, dass der transnationale Strafk lageverbrauch zwischen den EU-Mitgliedstaaten nicht mehr davon abhängt, dass die Sanktion bereits vollstreckt ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Erstverfolgerstaates nicht mehr vollstreckt werden kann" . Die Gefahr eines missbräuchlichen .,forum shopping" und sogar e ines .forum fleeing" wäre bei dieser Rechtslage nicht von der Hand zu weisen" . So könnte ein Beschuldigter sich zunächst in e inem EUMitgliedstaat mit geringer Strafdrohung der Strafverfolgung ste llen und sich nach Eintritt der Rechtskraft e ines gegen ihn ergangenen Urteils vor Vollstreckungsbeginn in einen anderen Mitgliedstaat absetzen. Nach dem Wortlaut des Art. 50 GRCh hätte er dann dort wegen der abgeurte ilten Tat keine Strafverfolgung mehr zu befürchten. obwo hl er die im Erstverfolgerstaat verhängte Strafe nicht verbüßt hat. Dass mit dem Europäischen Haftbefehl (§ 12 Rn. 20 ff.) ein Instrument der erleichterten Auslieferung zur Verfügung steht, entschärft die aufgezeigte Problematik nur teilweise" . Aus der Gewähr leistung des Art. 50 GRCh folgt indes - wie nachfolgend zu zeigen ist - nicht zwingend, dass den Vollstreckung se1ementen des Art. 54 SDÜ keine rechtliche Re levanz mehr beizumessen ist. 39 Nach hier vertretener Ansicht wird die Reichw eite des in Art. 50 G RC h vera nkerte n tran sn ationalen Doppetb estratungsverbors gern. Art. 52 I G RC h a uf den von Art. 54 su ü a bgestec kte n Gewährleistungsumfan g beschränkrw. Nur einige wenige, fundamentale Garantien dürfe n unter keinen Umständen eingeschränkt werden. Hierzu gehören die Achtung der Menschenwürde (Art. I GRCh) sowie die Verbote der Todesstrafe (Art. 2 11 GRCh), Folter (Art. 4 G Reh) und Sklaverei (Art 5 GRCh). Alle sonstigen Rechte der Charta vermögen keine abso-
So vertreten von Anagnossopoulos, Hasscmcr-Fx. S. 112 1. 1137; Heger, ZIS 2009. 406.408; Reichling. StV 20 10. 237 L Zöller. Krcy-FS. S. 50 1. 5 18 . Z öiter, Krey-lS, S, 50 I . 5 19 . Z ötler, Krey-lS, S. 50 I. 5 19 f So auch LG Aachcn StV 20 10. 237; ttrodowski. ZIS 2010. 376. 383; Satzger. IntSIR. 10 Rn. 6R; im Ergebnis ebenso Dannecker. EuZ 2009. 110. 124. der aber für eine restriktive Auslegu ng da Vollsrrcckungskornponcmc plädiert. Vgl. tu rn Ganzen auch tnochard/Brodowski, Srral'o 20 10.179 11
*
B. Auslegung und Anwendungsbereich des Art. 54 SDÜ
477
lute Geltung zu beanspruchen'". Wie sich aus dem gegenüber Art. 52 I GRCh spezielleren Art. 52 11 GRCh ergibt , sollen die Rechte in der Charta nicht anders ausgelegt und eingeschränkt werden als ihre Gegenstücke in den europäischen Verträgen . Art. 52 11 GRCh ist mithin Ausdruck einer strengen Akzessorietät zwischen Charta und den europäischen Verträgen , um die Kohärenz des Unionsrechts zu wahren'". Da das in Art. 54 SDÜ ausgeformte transnationale Doppelbestrafungsverbot aber nicht zu dem in den europäischen Verträgen enthaltenen Primärrecht, sondern zum Besitzstand des Unionssekundärrechts gehört (§ 5 Rn. 68)98, ist es im Zusammenhang mit der allgemeinen Einschränkungsbestimmung des Art. 52 I GRCh zu würdigen'". Jede Einschränkung der Ausübung der in der GRCh anerkannten Rechte und Freiheiten muss demnach gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten . Der in Art. 52 I GRCh normierte Gesetzesvorbehalt knüpft an Rechtsnormen an, die dem unionalen wie dem mitgliedstaatliehen Rechtskreis entstammen können'?", Der unionale Art. 54 SDÜ fungiert mit seinen zusätzlichen Vollstreckungskomponenten als eine solche Schrankenbestimmung, durch die der Gewährleistungsumfang des Art. 50 GRCh begrenzt wird. Die "Schranken-Schranken" des Art. 52 I S. I und 2 GRCh (v. a. Wesensgehaltsgarantie, Verhältnismäßigkeit) werden von Art. 54 SDÜ eingehalten"?' . Folglich ist das transnationale Doppelbestrafungsverbot auch im räumlichen Anwendungsbereich des Art. 50 GRCh an die in Art. 54 SDÜ enthaltenen Vollstreckungselemente gebunden. Fall 6 (OLG Saarbrücken StV 1997,359): A wurde von einem belgischen Gericht wegen 40 unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln rechtskräftig zu einer Gefängni sstrafe von drei Monaten unter Gewährung eines auf zwei Jahre befristeten Strafaufschubs und daneben zur Zahlung einer Geldstrafe (zwei Monate Ersatzgefängnisstrafe) verurteilt. Die Geldstrafe hat A noch nicht gezahlt. Frage: Steht Art. 54 SDÜ einer strafrechtlichen Verfolgung des A in Deutschland wegen derselben Tat entgegen?
Erste Lösungshinweise zu Fall 6: Zunächst ist festzustellen, dass eine "rechts- 41 kräftige Aburteilung" des A durch eine Vertragspartei (Belgien) wegen derselben Tat vorliegt. Da A von dem belgischen Gericht zu einer (zur Bewährung ausgesetzten) Freiheitsstrafe und zur Zahlung einer Geldstrafe verurteilt wurde , hängt die Anwendbarkeit des Art. 54 SDÜ davon ab, ob eines der drei Vollstreckungselemente gegeben ist.
96
97 98 99
100 101
Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GRCh , Art. 52 Rn. 14 ff Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GRCh , Art. 52 Rn. 26. Satzger, IntStR, § 10 Rn. 68. Borowsky, in: Meyer (Hrsg .), GRCh , Art. 52 Rn. 15. Borowsky, in: Meyer (Hrsg .), GRCh , Art. 52 Rn. 20. So im Ergebnis auch LG Aachen StV 2010, 237.
478
§ 13 Transnationales Doppelbestrafungsverbot
1. Erstes Vollsteckungselement 42 Das erste Vollstreckungselement (" ... bereits vollstreckt worden ist... H) ist nur bei vollständiger Erledigung der Vollstreckung einer Sanktion erfüllt, z. B. nach Verbüßung einer Gefängnisstrafe, Zahlung einer Geldstrafe, Erfüllung einer Auflage oder nach Erlass einer Bewährungsstrafe. In Fall 6 hat A weder die gegen ihn verhängte Freiheitsstrafe verbüßt noch die ihm auferlegte Geldstrafe gezahlt. Somit ist das erste Vollstreckungselement nicht verwirklicht.
2. Zweites Vollstreckungselement 43 Das zweite Vollsteckungselement (" ... gerade vollstreckt wird... H) beschreibt eine Situation, in der die Vollstreckung der verhängten Sanktion bereits eingeleitet wurde und noch andauert. In Fall 6 stellt sich mithin die Frage, ob dieses Vollstreckungselement erfüllt ist, obwohl A "unter Bewährung" steht , also die gegen ihn verhängte Freiheitsstrafe derzeit nicht verbüßt. Ein Teil der Rechtsprechung und Literatur steht auf dem Standpunkt, eine Freiheitsstrafe werde nur dann "gerade vollstreckt", wenn der Verurteilte sich zwecks Strafverbüßung im Strafvollzug befindet '<. Diese Auffassung vermag nicht zu überzeugen . Bereits bei der Interpretation des Merkmals "rechtskräftige Aburteilung" wurde darauf hingewiesen, dass die Ausformung eines möglichst weitreichenden transnationalen Doppelbestrafungsverbotes ein unabdingbares rechts staatliches Korrektiv gegenüber einer international-arbeitsteilig operierenden Strafverfolgung darstellt (Rn . 39) . Die Herausnahme der in allen Vertragsstaaten höchst praxisrelevanten Sanktionsform bedingte Freiheitsstrafe aus dem Anwendungsbereich des Art . 54 SDÜ ist mit dieser übergeordneten Zielsetzung unvereinbar. 44 Der Wortlaut steht einer weiten Auslegung des zweiten Vollstreckungselements nicht entgegen. Da der Verurteilte nur bei genauer Einhaltung aller Bewährungsauflagen vom Strafvollzug im Verurteilungsstaat verschont bleibt, kann man davon sprechen, dass eine bedingte Freiheitsstrafe auch schon während der laufenden Bewährungszeit vollstreckt wird. Jeder Verstoß gegen eine Bewährungsauflage kann den Widerruf der Bewährung nach sich ziehen. Sinn und Zweck des zweiten Vollstreckungselements ist es, zu verhindern, dass der in einem Vertragsstaat rechtskräftig Verurteilte, dem vor vollständiger Erledigung der Strafvollstreckung die Flucht in einen anderen Vertragsstaat gelingt, sich dort unter Berufung auf Art. 54 SDÜ einer neuerlichen Verfolgung und letztlich Vollstreckung des Ersturteils entziehen kann . Diese Zwecksetzung - Verhinderung einer Vollstreckungsvereitelung - wird auch erreicht, wenn man bereits den Beginn der Bewährungszeit als gegenwärtige Vollstreckung der Freiheitsstrafe erfasst. Wird die Strafaussetzung zur Bewährung von dem Erstverfolgerstaat widerrufen, so kann er in jedem anderen Vertragsstaat um Auslieferung zur Vollstreckung oder Übernahme der Vollstreckung ersuchen' ?". Das zweite Vollstreckungselement ist daher
102
103
OLG Saarbrücken StV 1997,359,360. Pläckinger/Leidenmühle r, wistra 2003, 81, 87 f.
B. Auslegung und Anwendungsbereich des Art 54 SDü
479
m it der überzeu gen den h. M. auch bei Verhängung einer zur Bewährung au sge setzten Fre iheit sstra fe erfüllt'?'. Weitere L ösungs hi nwelse z u Fa ll 6: Nach den bisher igen Ausführungen wird 45 d ie vo n dem belgiseb en Ge richt gegen A verhängte Sanktion - eine zur Bewähru ng ausgesetzte Fre iheitsstra fe - ,.gerade voll streckt" . Der Anwendun g de s Art. 54 SDÜ kö nnte abe r entgeg enstehen, da ss A die ihm zugle ich auferlegte Gel dstrafe (b isher) nicht gez ahlt hat . Es stellt sich som it die Frage, ob die beiden nebe neina nder ver hängten Strafen als Ge samtsanktion zu ver ste he n ist, die kein Doppe lbestra fungsverbot gern. Art. 54 SDÜ au slö st. we nn auc h nur bei e iner der beiden Stra fen die Vo llstreck ung svoraussetzunge n n ich t vorliegen' w. Von d iesem Standpunkt au s wäre A in de n anderen Vertragsstaaten nicht vor e iner erne ute n Strafverfolgung wegen derselben Tat geschützt. solange er die ihm in ßelgicn auferlegte Geldstrafe nicht gez ah lt hat - ein Ergeb nis. das schon im Hinbl ick auf die Schutz funktion de s Art. 54 SDÜ (R n. 39) nicht zu überzeu gen verma g. Der Gefahr ei ner Vo llstreckungsvereit elung durch A wird bereits dadurch au sreich end entgege ngetreten. da ss wenigsten s ei ne der be iden Stra fen die Vo llstreck ungsan ford erungen erfüllt' ?". Lösun gsvorschlag zu Fa ll 6: Art. 54 SDÜ steht der strafrechtlichen Verfolgung des A in Deutsch land weg en der bereit s von eine m belgisehe n Gericht ab geu rtei lten Tat entgege n.
3. Drittes Vollstreckungs elem ent Typ isch e Anwendungsfälle de s dritten Voll strec kungse lem ents (" ...nach dem 46 Recht des Urte ilsstaa tes nicht mehr voll strec kt werden kan n . v." ) sind die A mnestie . Beg na dig ung oder vcustrecku ngsverj ähru ng (vg l. § 79 I StG B),o7. Die Auslegung de s dritte n Voll streckungselements bere itet in der Praxis Sc hwierigkeiten, wie der folg ende Fall zeigt . Fall 7 (OLG xr ünc ne n StV 2001, 4( 5): B - eine deutsche Staatsbürgetin - hat ihn: Mutter 47 vorsätzlich getötet. indem sie am 11. Oktober 1996 in Las AguilasiPuerto dc la Cruz (Tcncriffa/Spanien) der auf dem Bett liegenden Frau ein Kopfkissen auf Mund und Nase drückte. ihr sodann einen mitgebrachten Plastikmüllbeutel über den Kopf stülpte und so lange zuhielt. bis der Tod eintrat. Das zuständige spanische Geschworenengericht in Santa Cruz dc Je nente wertete diese Tat als Totschlag und verhängte in seinem Urteil v. 24. Dezember 1997 gegen B unter Berücksichtigung strafmildernder Umstände eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren unter Anrechnung der seit 15. Oktober 1996 vollzogenen Untersuchungshaft. Mit Beschluss v. 6. August 1998 verfügte das Gericht gern. Art. 89 codign pcnal. die verbleibende Restfreiheitsstrafe durch die Ausweisung der B für die Dauer von fünf Jahren
)M
lOl 106
107
EuGH NJW 2007. 3412. 3414: BGHSt46. 187 = NStZ 2001. 163 = StV 2001. 262. 263; A mbos. IntStR. § 12 Rn. 52; Kniebtihler, Ne bis in idcm. S. 228; Mansdörfer, Ne bis in idcm, S. 182; Plöckinger/l.eidenmuhler, wistra 2003. XI, X7. Satzger. IntStR. § 10 Rn. 79; Schomburg. IRhSt. Art. 54 sn ü Rn. 30; ders .. StV 1997. 383. 384; 71/0mas , Einmaligkeit der Strafverfolgung. S. 285; I'og et, Schrocdcr-Fx, S. 877. 890. So OLG Saarbrücken StV 1997. 359; krit. hierzu Schombnrg, StV 1997. 383. 384. l'Iöckinger/Leidennuihler, wistra 2003. XI . 88. Dannecker. EuZ 2009. 110. 123; Satzger. IntStR, § 10 Rn. 80 I:
480
§ 13 Transnation ales Doppelbestrafungsverbot
aus dem nationalen Hoheitsgeb iet zu ersetzen , verbunden mit der Mahnung, dass B im Falle einer Wiedereinrei se nach Spanien die ihr auferlegte Freihe itsstrafe zu verbüßen hätte . B wurde am 19. August 1998 in die Bundesrepublik Deut schland abgeschoben. Das AG München erließ am 29. September 1999 wegen derselben Tat einen Haftbefehl gegen die untergetauchte B. Am 26. März 2001 wurde B durch Zielfahnder des LKA München in Wiesbaden ausfindig gemacht und sodann in Untersuchungshaft genommen. Nachdem der von B eingelegten Haftbeschwerde vom Haftrichter des AG München nicht abgeholfen wurde, hob das LG München I mit Beschluss v. 24. April 2001 den Haftbefehl auf Hiergegen richtet e sich die weitere Beschwerde der Staatsanwaltschaft München 11 , über die das OLG München zu ent scheiden hatte . Frage: Steht die in Span ien erfol gte Verurteilung der B dem Erlass eines Haftbefehls in Deut schland entgegen?
48 Lösungshinweise zu Fall 7: Der für den Erlass eines Haftbefehls gern. § 112 I StPO vorausgesetzte dringende Tatverdacht muss sich auf eine prozessual verfolgbare , rechtswidrig und schuldhaft begangene Tat beziehen'?". Ein deutscher Strafanspruch wegen des von B im Ausland begangenen vorsätzlichen Tötungsdelikts lässt sich aus § 711 Nr. I StGB i. V. m. § 211 StGB bzw . § 212 StGB ableiten. Fraglich ist, ob die ausländische Aburteilung über Art. 54 SDÜ eine Sperrwirkung auslöst mit der Folge, dass die Tat in Deutschland nicht mehr verfolgbar ist. Das OLG München verwarf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft als unbegründet. Der Senat stützt seinen - die Aufhebung des Haftbefehls bestätigenden Beschluss maßgeblich auf die Bestimmung des Art. 54 SDÜ, die nach Auffassung des Senats einer erneuten Verfolgung der B wegen des von ihr am 11. Oktober 1996 in Spanien begangenen Tötungsdelikts entgegenstehe. Diese Entscheidung verdient im Ergebnis Beifall'?", wie die nachfolgende Subsumtion zeigt : 49 Sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch das Königreich Spanien sind Vertragsparteien des SDÜ. Auch stellt das in einem förmlichen Verfahren erlassene Gerichtsurteil zweifellos eine "rechtskräftige Aburteilung" i. S. d. Art. 54 SDÜ dar . Die von dem Geschworenengericht verhängte Sanktion - hier: Freiheitsstrafe von fünf Jahren - ist nicht "bereits vollstreckt" worden , da dieses Vollstreckungsmoment nur bei vollständiger Verbüßung einer Gefängnisstrafe oder nach Erlass einer Bewährungsstrafe erfüllt ist (Rn . 47) . B hat jedoch unter Anrechnung der Untersuchungshaft weniger als zwei Jahre Haft verbüßt. Bei dem erfolgten Procedere kann auch nicht davon gesprochen werden , dass die Sanktion "gerade vollstreckt" wird, wie dies etwa bei einer Freiheitsstrafe der Fall ist, deren Vollstreckung von Anfang an oder nach Teilverbüßung zur Bewährung ausgesetzt worden ist (Rn. 48) . Vielmehr wurde die weitere Vollstreckung der verhängten Sanktion abgebrochen und durch die Ausweisung der B aus dem spanischen Hoheitsgebiet ersetzt!". Nach alledem hängt die Entstehung eines transnationalen Verfahrenshindernisses von der entscheidenden Frage ab, ob die Sanktion "nach dem Recht des Urteilsstaates nicht mehr vollstreckt werden kann" .
108 109 110
Vgl. nur Mey er-Goßn er, StPO , § 112 Rn. 5. Vgl. hierzu Hecker, StV 2002 ,71 ff.; Mansdorfer , Ne bis in idern, S. 181 ff. Eine entsprechende Verfahren sweise sieht das deut sche Recht in § 456 a StPO vor.
B. Auslegung und Anwendung sbereich des Art. 54 SDÜ
481
a) Wortlautauslegung Ob das dritte Vollstreckungselement erfüllt ist, kann mit einer bloßen Wortlaut- 50 auslegung nicht zweifelsfrei entschieden werden. Einerseits kann man die Klausel "nach dem Recht des Urteilsstaat nicht mehr vollstreckt werden kann" als nicht erfüllt ansehen , da die weitere Vollstreckung der gegen B verhängten Freiheitsstrafe - anders als in den (typischen) Fällen einer Amnestie, Begnadigung oder Vollstreckungsverjährung - nach spanischem Recht nicht schlechthin ausgeschlossen, sondern nur unter der Bedingung ausgesetzt ist, dass B innerhalb der Fünf-JahresFrist nicht wieder nach Spanien einreist. Auf der anderen Seite lässt sich argumentieren, das in Art. 54, 3. Var. SDÜ beschriebene Erfordernis sei gegeben, weil Spanien sich durch die Ausweisung der B der faktischen Möglichkeit zur weiteren Strafvollstreckung begeben habe und die einzige Bedingung für eine Fortsetzung der Vollstreckung - die Einreise der B in spanisches Hoheitsgebiet - dem Willen der B unterstellt habe . Da beide - zu gegensätzlichen Ergebnissen führenden Auslegungsmöglichkeiten vom Wortlaut des Art. 54 SDÜ gedeckt sind, kommt abermals der teleologischen Interpretation ausschlaggebende Bedeutung zu. b) Teleologische Auslegung Begreift man Art. 54 SDÜ als Gradmesser und Katalysator der strafrechtlichen In- 51 tegration Europas , muss die Auslegung des Art. 54 SDÜ von einer größtmöglichen Toleranz und Akzeptanz anderer Rechtsordnungen im Rechtsraum der Vertragsparteien ausgehen!" . Es gilt, der im Verurteilungsstaat getroffenen Entscheidung größtmöglichen Respekt entgegenzubringen und zur Anerkennung im Inland zu verhelfen. Hierzu gehört die Bereitschaft, etwa bestehende abweichende Rechtsgrundsätze und Gerechtigkeitsvorstellungen, die in der inländischen Justizpraxis möglicherweise zu einer anderen Behandlung der im Ausland erledigten Strafsache geführt hätten , in einem justizieIl immer stärker zusammenwachsenden Europa zurücktreten zu lassen . Für die Lösung von Fall 7 bedeutet dies , dass bei wertender Betrachtung die von dem spanischen Gericht verfügte Ausweisung der B der Gewährung einer Strafaussetzung zur Bewährung bzw . einem Gnadenerweis - beides anerkannte Anwendungsfälle des Art. 54 SDÜ - gleichzustellen sind . Die teleologische Auslegung des Art. 54 SDÜ spricht somit dafür , das dritte Vollstreckungselement bereits dann zu bejahen , wenn der Verurteilungsstaat den Verurteilten ausweist und die Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe mit der Maßgabe abbricht, dass diese nur im Falle seiner erneuten Einreise fortgesetzt werden kann. Lösungsvorschlag zu Fall 7: Das transnationale Doppelbestrafungsverbot steht dem Erlass eines Haftbefehls gegen B in Deutschland entgegen.
111
In diesem Sinne auch EuGH NJW 2003,1173,1174 (Rz. 33); Hecker, StV 2001, 306, 309; Jung, StV 1990, 509, 517; Lagodny , NStZ 1997, 265, 266; Landau, Söllner-FS, S. 627, 630, 633.
482
§ 13 Transnationales Doppelbestrafungsverbot
52 Die Formulierung " ... nach dem Recht des Urteilsstaates nicht mehr vollstreckt werden kann ... " wirft die Frage auf, ob Art. 54 SDÜ zur Anwendung gelangt,
wenn die im Erstverfolgerstaat verhängte Sanktion zu keinem Zeitpunkt in der Vergangenheit unmittelbar vollstreckt werden konnte . Mit dieser Problematik musste sich der EuGH112 im Rahmen eines vom LG Regensburg initiierten Vorabentscheidungsverfahrens befassen: Der flüchtige B wurde im Jahre 1961 durch ein französisches Gericht in Abwesenheit wegen vorsätzlicher Tötung verurteilt. Nach zwanzig Jahren , während derer B nicht ergriffen werden konnte , trat nach französischem Recht Verjährung ein, so dass eine Vollstreckung endgültig ausgeschlossen war. Art. 54 SDÜ könnte dahingehend verstanden werden , dass eine erste Verurteilung durch einen Vertragsstaat nur dann einer erneuten Strafverfolgung in einem anderen Vertragsstaat entgegensteht, wenn sie zu irgendeinem früheren Zeitpunkt vollstreckbar gewesen sei. Der EuGH befand jedoch, dass sich die Worte " nicht mehr vollstreckt werden kann" auf den Zeitpunkt der Einleitung einer neuen Strafverfolgung beziehen, in Bezug auf die das zuständige Gericht im zweiten Vertragsstaat zu prüfen hat, ob die Voraussetzungen nach Art. 54 SDÜ erfüllt sind. Zur Bestätigung seiner Auslegung führte der EuGH das auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung beruhende Freizügigkeitskonzept an: " ... Dieses Recht auf Freizügigkeit kann in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens nur dann effektiv gewährleistet werden, wenn der Betroffene die Gewissheit hat, dass er sich, wenn er in einem Vertragsstaat verurteilt worden ist und die gegen ihn verhängte Strafe nach den Gesetzen des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann, im Schengen-Gebiet bewegen kann, ohne befürchten zu müssen, dass er in einem anderen Vertragsstaat deshalb verfolgt wird, weil die Sanktion auf Grund von verfahrensrechtlichen Besonderheiten des nationalen Rechts des erstens Vertragsstaats nicht unmittelbar vollstreckt werden konnte. "
IV. Tatbegriff und Reichweite der materiellen Rechtskraft
53 Der Verfahrensgegenstand, auf den sich der grenzüberschreitende Strafklageverbrauch bezieht, ist die "abgeurteilte Tat". Es stellt sich somit die Frage, wie der in Art. 54 SDÜ genannte Tatbegriff1 13 zu bestimmen ist. In Betracht kommt das Abstellen auf den Tatbegriff des Erstverfolgerstaates. Denkbar wäre aber auch die Entwicklung eines eigenständigen "europäischen" Tatbegriffs'!", In der
112
113
114
EuG I-I NJW 2009, 3149 = NStZ 2009, 454 ; zustimmend Hecker, JuS 20 I0, 176; Satzger, IntStR, § 10 Rn. 80 . Vgl. zur Problematik de s Tatbegriffes Dannecker, EuZ 2009, 110, 119 ff.; Ligeti, Strafrecht in der EU, S. 103 ff.; Plockinger/Leidenmuhler, wistra 2003 , 81, 86 f.; Schomburg, IRhSt, Art. 54 SOÜ Rn. 20 ff.; ders ., NJW 2000, 1833, 1834 f.; Stein , Europäisches ne bis in idem, S. 183 ff., 203 ff.; Thomas, Einmaligkeit der Strafverfolgung, S. 188 ff.; v. d. Wyngaert , RIDP 1999, 35 , 80 ff.; v. d. Wyngaert /Stessens, ICLQ 1999, 779 , 788 ff. Ambos , IntStR, § 12 Rn . 49 ; Böse, GA 2003, 744 , 758 ff.; Thomas, Einmaligkeit der Strafverfolgung, S. 209 .
B. Au slegung und Anwendungsbereich des Art . 54 SD Ü
483
Literatur ist des Weiteren vorgeschlagen worden , wenigstens die materielle Rechtskraft eines Verfahrensabschlusses nach "europäischen" Mindestanforderungen zu bestimmen!". So soll anhand der folgenden Kriterien ein Kanon der unter Art. 54 SDÜ subsumierbaren Verfahrensabschlüsse zusammengestellt werden : - Reichweite der Kognitionspflicht (Pflicht, die angeklagte Tat aufzuklären), - Ausgestaltung der Sachverhaltsautklärung (mündliche Verhandlung oder Entscheidung nach Aktenlage ), - Erfordernis einer Begründung. Legt man diese Kriterien zugrunde, so käme etwa einer staatsanwaltliehen Ein- 54 stellungsverfügung gern. § 153 a StPO keine transnationale Sperrwirkung gern. Art. 54 SDÜ zu, weil die Divergenz der für die materielle Rechtskraftfähigkeit aufgestellten Kriterien im Verhältnis zum gerichtlichen Sachurteil zu gravierend erscheinti". Dieser Vorschlag verdient keinen Beifall. Mit seiner Orientierung an der materiellen Rechtskraft strafgerichtlicher Sachurteile läuft er Gefahr, sonstige Formen strafprozessualer Verfahrensabschlüsse, denen im Rechtsraum der Vertragsparteien eine hohe Praxisrelevanz zukommt, vom Anwendungsbereich des Art. 54 SDÜ weitgehend auszuklammern. Dies stünde mit der Funktion des transnationalen Doppelbestrafungsverbots als rechtsstaatliches Korrektiv gegenüber einer international-arbeitsteilig operierenden Strafverfolgung nicht in Einklang. Das Verbot der Doppelbestrafung soll - wie auch der EuGH hervorhebt'!' - gerade auch solchen Beschuldigten zugute kommen , deren Straftaten in vereinfachten Erledigungsformen geahndet werden können. Es erscheint daher verfehlt , nur solchen Verfahrensabschlüssen eine transnationale Sperrwirkung zuzuerkennen, die nach den oben aufgeführten Kriterien qualitativ einem nach mündlicher Hauptverhandlung ergehenden gerichtlichen Sachurteil entsprechen oder nahe kommen. Eine an Sinn und Zweck des Art. 54 SDÜ orientierte Auslegung erfordert we- 55 der die Bildung eines "europäischen" Tatbegriffs noch die Aufstellung "europäischer" Kriterien zur Bestimmung der materiellen Rechtskraft. Das transnationale Doppelbestrafungsverbot zielt darauf ab, den Täter im gesamten Rechtsraum der Vertragsparteien so zu stellen, wie er im Erstverfolgerstaat steht. Dieses Ziel wird durch die gegenseitige Anerkennung rechtskraftbewirkender Verfahrensabschlüsse erreicht. Auf dieser Basis liegt die Definitionsmacht über Verfahrensgegenstand (Tatbegriff) und Reichweite der Erledigungswirkung eines rechtskräftigen Verfahrensabschlusses (materielle Rechtskraft) allein beim Erstverfolgerstaat!". Solange es in der EU lediglich eine Koexistenz nationaler Strafrechts-
115
116 117 118
BohnertlLagodny, NStZ 2000,636,640; RadtkelBusch, NStZ 2003, 281, 286 f.; dagegen zu Recht Dannecker, EuZ 2009, 110, 118. So RadtkelBusch , NStZ 2003, 281, 286 I: geg en EuGH NJ W 2003, 1173 Ir EuGI-I NJ W 2003, 1173, 1174 (Rz. 40). MüKoStGBIAmbos, Vor §§ 3-7 Rn. 76; Appl, Vogler-GS, S. 109, 121; Ebensperger, ÖJZ 1999,171 ,183; Dannecker, EuZ 2009,110,119; Hecker, StV 2001, 306, 309; Kniebühler, Ne bis in idem , S. 212; Lagodny, NStZ 1997,265,266; Stein, Europäi-
484
§ 13 Transnation ales Doppelbestrafungsverbot
systeme und kein vereinheitlichtes Straf- und Strafprozessrecht gibt , liegt es in der Natur der Sache , dass der Erstverfolgerstaat die strafprozessualen Erledigungsformen sowie deren jeweilige materielle Rechtskraft festlegt und damit letztlich die Reichweite des in Art . 54 SDÜ verankerten "ne bis in idem " bestimmt. Dies gilt selbst dann , wenn dem erstaburteilenden Staat nur eine begrenzte Beurteilung des Lebenssachverhalts möglich ist119 . Die hier vertretene Ansicht sieht sich durch die Judikatur des EuGH best ätigtl-" . Darin fuhrt der Gerichtshof aus, dass die Anwendbarkeit des Art . 54 SDÜ nicht von der Harmonisierung mitgliedstaatlicher Strafvorschriften abhängig sei, weshalb die Möglichkeit divergierender rechtlicher Qualifizierungen derselben Tat in zwei Vertragsstaaten die Anwendung des transnationalen Doppelbestrafungsverbots nicht hindern könne. Demnach sei das einzig maßgebende Kriterium für die Anwendung des Art . 54 SDÜ das der Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen, unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen oder von dem rechtlich geschützten Interesse 121 . Ob die tatsächlichen Voraussetzungen der Tatidentität im konkreten Einze lfall gegeben sind, obliege der Beurteilung durch die zuständigen nationalen Gerichte. Um "dieselbe Tat" i. S. d. Art . 54 SDÜ handele es sich beispielsweise, wenn in zwei Vertragsstaaten die illegale Ein- und Ausfuhr von Betäubungsmitteln strafrechtlich verfolgt wird . 56 In Fall 1 (Rn . 1) steht das Urteil des AG Offenburg gern. Art . 54 SDÜ auch einer erneuten strafrechtlichen Verfolgung in Frankreich wegen der in Straßburg begangenen Tat entgegen. Abzustellen ist auf den im Erstverfolgerstaat (Deutschland) geltenden, mit den Rahmenvorgaben des EuGH (Rn . 60) im Einklang stehenden Tatbegriff und auf die nach dortigem Recht eintretende - einen uneingeschränkten Strafklageverbrauch bewirkende - materielle Rechtskraft. Den französischen Justizbehörden ist es im Hinblick auf das Art . 54 SDÜ innewohnende Prinzip der gegenseitigen Anerkennung verwehrt, sich auf einen möglicherweise engeren Tatbegriff des französischen Rechts zu berufen. 57 FallS (Variante I) : Wie Fall 1 (Rn. 1) jedoch mit folgender Abw andlung: Das AG Offenburg erlässt gegen A einen Strafbefehl wegen Fahrens ohne Fahrerl aubni s. A lässt die Einspruchsfrist verstreichen und zahlt die ihm auferlegte Geldstrafe. Variante 2 : Das AG Offenburg stellt das Verfahren gegen A gern. § 153 a 11 StPO nach Zahlung einer Geldbußenauflag e endgültig ein. Später wird A in Frankreich festg enommen . Frage: Kann A von der französisch en Justi z wegen des in Straßburg begang enen Banküb erfalles verfolgt werden ?
119
120
121
sches ne bis in idem, S. 189 ff.; Vogel, Schroeder-FS, S. 877,881 ,887 ff.; a. A. Kisehe, wistra 2009 , 162, 163. Vgl. hierzu Danneeker, EuZ 2009 , 110, 126 mit Beispielen aus dem Steuerstrafrecht (deut sches Steuerstrafre cht schützt nicht den schweizerischen Fiskus und umgekehrt) . EuGI-IE 2006 , 9327 = NJW 2006 , 3406; EuGH NJW 2006 , 1781, 1783; NJW 2007 , 3412 ,3413 f.; NJW 2007 , 3416 , 3417 . Eben so BGHSt 52, 275 ff = NJW 2008 , 2931 ff. Demgegenüber plädiert Amb os, 1ntStR, § 12 Rn. 50 für eine recht sgutsorientierte oder interessensgeleitete Bestimmung des Tatbegr iffes.
B. Auslegung und Anwendungsbereich des Art. 54 SDÜ
485
1. Deutscher Strafbefehl und Art. 54 SDÜ Lösungshinweise zu Fall 8 (Variante 1): Nach Ablauf der Einspruchsfrist steht 58 der Strafbefehl einem Urteil gleich (§ 410 111 StPO) und entfaltet deshalb wie dieses eine unbeschränkte materielle Rechtskraftwirkung. Als verfahrensabschließende und rechtskraftbewirkende Entscheidung, die in Deutschland zu einem Verbrauch der Strafklage führt , stellt der Strafbefehl eine "rechtskräftige Aburteilung" i. S. d. Art. 54 SDÜ dar (Rn . 41). Zwar lässt das deutsche Recht bei Verfahrenserledigungen durch Strafbefehl - über § 362 StPO hinausgehend - eine Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Verurteilten zu, wenn neue Beweismitteloder Tatsachen beigebracht sind, die allein oder in Verbindung mit den früheren Beweisen geeignet sind, die Verurteilung wegen eines Verbrechens zu begründen (§ 373 aStPO). Die Befugnis , die Rechtskraft des Strafbefehls auf diesem Wege zu durchbrechen, steht aber nur dem zuständigen deutschen Gericht zu. Am Ende einer angeordneten Wiederaufnahme des Verfahrens und einer erneuten gerichtlichen Hauptverhandlung (vgl. § 370 11 StPO) steht ein Verfahrensabschluss in Urteilsform, der an die Stelle des (aufgehobenen) rechtskräftigen Strafbefehls tritt und gern. Art. 54 SDÜ einer Verfolgung derselben Tat im Ausland entgegensteht. Lösungsvorschlag zu Fall 8 (Variante I) : A kann im Hinblick auf den in Deutschland gegen ihn erlassenen rechtskräftigen Strafbefehl von der französischen Justiz nicht wegen des in Straßburg verübten Banküberfalls verfolgt werden .
2. Einstellung des Verfahrens nach Erfüllung einer Auflage Lösungshinweise zu Fall 8 (Variante 2): Bei dem vom AG Offenburg erlassenen 59 Beschluss über die endgültige Einstellung des Verfahrens gern. § 153 a 11 StPO handelt es sich zwar grundsätzlich um eine "rechtskräftige Aburteilung" i. S. d. Art. 54 SDÜ (Rn . 41). Zu beachten ist jedoch, dass dem Einstellungsbeschluss nach § 153 aiS. 5 StPO lediglich eine eingeschränkte materielle Rechtskraftwirkung dergestalt zukommt, dass die Tat nicht mehr als Vergehen verfolgt werden kann . Da der von A in Straßburg verübte Banküberfall nach deutschem Strafrecht ein Verbrechen darstellt, besteht in Deutschland kein Verbot erneuter Strafverfolgung wegen derselben Tat. A wird von Art. 54 SDÜ unionsweit nur so gestellt, wie er im Erstverfolgerstaat stünde. In Deutschland besteht - wie gezeigt - kein Verbot, A wegen des Banküberfalles in Straßburg zu verfolgen. Lösungsvorschlag zu Fall 8 (Variante 2): Art. 54 SDÜ steht somit einer Verfolgung des A durch die französische Justiz nicht entgegen. Die am Beispiel des § 153 a 11 StPO aufgezeigten Grunds ätze gelten entsprechend 60 auch für andere Verfahrensabschlüsse, die lediglich zu einem beschränkten Strafklageverbrauch führen und daher über Art. 54 SDÜ nur ein beschränktes transnationales Doppelbestrafungsverbot zu begründen vermögen. Zu denken ist etwa an den Nichteröffuungsbeschluss (§§ 204, 211 StPO) , die Verwerfung ei-
486
§ 13 Tran snationale s Doppelbestrafun gsverbot
nes Klageerzwingungsantrages (§ 174 StPO)122, die gerichtliche Einstellung des Verfahrens gern. § 153 11 StP01 23 oder die nach franzö sischem Recht von der Anklagekamm er eines Appel ationsgerichtshofs getroffene " ordonnance de non lieu par des raisons de fait "1 24 (Verfahrensbeendigung weg en nicht hinreichenden Tatverdachts aus tatsächlichen Gr ünden-"). Keine materielle Rechtskraft und damit auch keinen tran snationalen Strafklageverbrauch entfalten ferner die staatsanwaltliche Verfahrenseinstellung gern. § 170 11 StPO bzw. § 153 I StP0126.
V. Anwendbarkeit des Art. 54 SOÜ auf Entscheidungen im Bußgeldverfahren 61
Fall 9 (Variante I) : A begeh t auf deut schem und französ isch em Staatsgeb iet eine Trunkenh eitsfahrt , die nach deu tschem und fra nzös ische m Recht e ine Straft at darstellt. Während die ser Fahrt w ird er in eine r deutschen Ort sch aft " ge blitzt" . Noch bevor A in Deutschland ode r Fra nkreic h wegen der Trunkenheitsfahrt strafrech t lich verfo lgt w ird, verurteilt ihn ein deutsches Ger icht we gen Gesc hwi ndigkeitsü bertretung oh ne mü ndl iche Ve rhandlung du rch Gerichts besc hluss zur Zahlu ng einer Geldbuße. Variante 2 : Der von eine r deutschen Ve rwaltungs behö rde wegen Gesch w ind igkeit süber schreitun g gegen A erlasse ne Bu ßgeldbeschei d wird rechtskr äft ig. Frage: Steht A rt. 54 S DÜ e iner Strafver folgun g des A wegen T runke nhei tsfahr t durch die französische Ju stiz entgegen?
1. Verurteilung zu einer Bußgeldzahlung 62 Lösungshinweise zu Fall 9 (Variante I) : Die durch rechtskräftiges Urteil oder Beschluss (§ 72 OWiG) eines deuts chen Gerichts erfolgte Verurteilung eines Betroffenen zur Zahlung einer Geldbuße wegen einer von ihm begangenen Ordnung swidrigkeit bzw. der diesbezügliche Freispruch stehen gern. § 84 11 OWiG einer Verfolgung derselben Tat als Straftat entgegen. Hieran anknüpfend bewirkt Art. 54 SDÜ den Verbrauch der Strafklage im gesamten Rechtsraum der Vertragsparteient-". Zwar ist gern. § 85 111 S. I OWiG eine Wiederaufnahme des Ver-
122 123
124
125 126
127
OL G Innsbruck NS tZ 2000, 663 ff.; a. A. Dannecker, EuZ 2009, 110, 118. Zur (umstrittenen) Re ich we ite de s Stra fk lag everbrauchs bei § 153 11 StG B vgl. BGH NS tZ 2004, 218 = JR 2005, 31 (fü r anal oge An wendung de s § 153 a IS. 5 StPO); zu st. Mans dorfer, Ne b is in ide rn, S. 172 1'.; abI. Beulke, JR 2005 , 37 ff.; Hegh manns, N StZ 2004, 633 , 635. BGHSt 45 ,123; ab I. Kühne, StV 1999 ,480; ders., JZ 1998,876; zust. Kniebühler, Ne bis in idem, S. 26 9 f.; Satzger. Europäisi erung, S. 69 1 f. und Schomburg, NJW 2000, 1833, 1836 . Vgl. hierzu ausfüh rlich Stein, Europäis ches ne bis in idem , S. 365 ff. N icht ge folgt we rde n kann dah er dem Str afger icht Eupen, wist ra 1999 , 479, da s der m it richter lich er Z ustimm ung erfolgte n staatsan waltiichen Eins te llung ge m. § 153 I StPO tran snational e Erledigungswi rk ung beim isst; zutr. gesehe n v. Appl, Vo gler-GS, S. 109, 122 ; Knieb ühler, Ne bis in idem, S. 241 ff.; RadtkelHusch , NS tZ 2003 , 281 , 286; Satzger, Euro p äisierung, S. 692. Hecker StV 200 I, 306, 310; Kniebühler, N e bis in ide m, S. 252 ff.
B. Auslegung und Anwendungsbereich des Art. 54 SDÜ
487
fahrens zuungunsten des Betroffenen unter den in § 362 StPO genannten Voraussetzungen zu dem Zweck zulässig , die Verurteilung nach einem Strafgesetz herbeizuführen. Darüber hinaus ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Verurteilten gern. § 85 BI S. 2 OWiG bereits dann zulässig, wenn neue Beweismittel oder Tatsachen beigebracht sind, die allein oder in Verbindung mit den früheren Beweisen geeignet sind, die Verurteilung wegen eines Verbrechens zu begründen . Die Befugnis , die Rechtskraft des Gerichtbeschlusses auf diesem Wege zu durchbrechen, steht aber nur dem zuständigen deutschen Gericht (§ 85 IV OWiG) zu. Am Ende einer angeordneten Wiederaufnahme des Verfahrens und einer erneuten gerichtlichen Hauptverhandlung steht somit ein Verfahrensabschluss in Urteilsform , der gern. Art. 54 SDÜ die Verfolgung derselben Tat im Ausland verbietet. Lösungsvorschlag zu Fall 9 (Variante I) : Art. 54 SDÜ steht der Strafverfolgung des A in Frankreich entgegen .
2. Erledigungswirkung eines rechtskräftigen Bußgeldbescheids Lösungshinweise zu Fall 9 (Variante 2): Schwieriger zu beurteilen ist die trans- 63 nationale Erledigungswirkung des von einer deutschen Behörde in Form eines rechtskräftigen Bußgeldbescheids verhängten Bußgelde s. Nach hier vertretener Auffassung stellt dieser Erledigungsakt - obgleich von einer Verwaltungsbehörde erlassen - eine "rechtskräftige Aburteilung" i. S. d. Art. 54 SDÜ dar 128 • Für eine Gleich stellung des Bußgeldbescheids mit einer strafprozessualen Aburteilung spricht sein eindeutig repressiv-punitiver Charakter'". Zu beachten ist jedoch die nur eingeschränkte materielle Rechtskraft des Bußgeldbescheids. Nach deutschem Recht (§ 84 I OWiG) steht der Bußgeldbescheid nur der erneuten Verfolgung derselben Tat unter dem Aspekt einer Ordnungswidrigkeit entgeg en. Somit besteht auch nur ein beschränkter transnationaler Strafklageverbrauch. Beispielsweise könnte A, wenn er die Trunkenheitsfahrt auf österreichischem Staatsgebiet begangen hätte, nicht etwa mit einem Straferkenntnis - einer bußgeldähnlichen Verwaltungssanktion - geahndet werden (Rn. 29 f.). Kein transnationales Verfolgungshindernis besteht indes, wenn dieselbe Tat nach dem Recht des Zweitverfolgerstaats als Straftat gewertet wird. Denn Art. 54 SDÜ stellt A nur so, wie er im Erstverfolgerstaat stünde . In Deutschland kann A trotz des rechtskräftigen Bußgeldbescheids wegen Trunkenheitsfahrt (§ 316 StGB) strafrechtlich verfolgt werden . Lösungsvorschlag zu Fall 9 (Variante 2): Der in Deutschland erlassene rechtskräftige Bußgeldbescheid stellt kein nach Art. 54 SDÜ zu berücksichtigendes Hindernis für die französische Justiz dar, A wegen der in Frankreich begangenen Trunkenheitsfahrt strafrechtlich zu verfolgen .
128
129
Hecker, StV 2001, 306, 310; Zöller, Krey-FS, S. 501, 517; a. A. KKOWiG/Bohn ert, Einleitung Rn. 136; Kniebühler, Ne bis in idem, S. 251. Vgl. auch EGMR EuGRZ 1985, 62 ("ÖtztürkiDeutschland") .
488
§ 13 Transnationales Doppelbestrafungsverbot
VI. Zur Frage der Weitergeltung mitgliedstaatlicher Erklärungen und Vorbehalte nach der Überführung des SOÜ in den Rahmen der EU 64 Nach Art. 55 I SDÜ ist es den Vertragsparteien gestattet, bei der Ratifikation, der Annahme oder der Genehmigung des Übereinkommens in bestimmten Fällen Vorbehalte zu erklären mit der Folge, dass sie nicht gern. Art . 54 SDÜ gebunden sind. Die Bundesrepublik Deutschland hat bei der Ratifikation des SDÜ von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht' s". So hat sie erklärt, dass sie durch Art. 54 SDÜ u. a. nicht gebunden ist, wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet begangen wurde oder wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, eine bestimmte Strafvorschrift (vor allem Straftaten gegen die innere und äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland) erfüllt hat. 65 Es bestehen gute Gründe für die Annahme, dass die von Deutschland und anderen Vertragsparteien abgegebenen einseitigen Erklärungen (Vorbehalte) mit der Einbeziehung des Sehengen-Besitzstandes in den Rahmen der früheren 3. Säule der EU in Wegfall geraten sind?" . Denn nach dem Wortlaut des im Anhang zum Sehengen-Protokoll im Einzelnen spezifizierten Sehengen-Besitzstandes sind einseitige Erklärungen, die erst anlässlich der Ratifikation eines Beitrittsübereinkommens von einer Vertragspartei abgegeben wurden , nicht Bestandteil des Schengen-Acquis. Auch eine Analyse des Ratsbeschlusses v. 20. Mai 1999 spricht gegen die Weitergeltung einzel staatlicher Erklärungen gern. Art. 55 SDÜ. Die Anhänge diese s Beschlu sses listen äußerst detailliert auf, welche Erklärungen und Beschlü sse zum Sehengen-Besitzstand gehören . Es findet sich aber kein einziger Hinweis auf die Fortgeltung einzelstaatlicher Vorbehalte. Folglich ist davon auszugehen , dass die mit der Ratifikation erklärten Vorbehalte gern. Art. 55 SDÜ durch die Überführung des Sehengen-Besitzstandes in den Rahmen der EU ihre Geltung verloren haben . Dies entspricht auch dem mit der Überführung des Sehengen-Besitzstandes in die Unionsordnung verfolgten Ziel, die europäische Integration zu vertiefen und der EU die Möglichkeit zu geben , sich schneller zu einem Raum der Freiheit , der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln.
c. Ausblick 66 In dem derzeit 47 Mitgliedstaaten umfassenden Europa des Europarates werden auf der Basis der EMRK bestimmte strafrechtsrelevante Minde stgarantien gewährleistet. Das transnationale Doppelbestrafungsverbot fand bislang jedoch noch keine Aufnahme in den Kreis konventionsgeschützer Individualrechte. Immerhin existiert mit Art. 54 SDÜ ein teileuropäisches transnationales Doppelbestrafungsverbot, das sich zu einem verfahrensrechtlichen Motor der Strafrechtsin130 131
BGB!. 11 1994, 631 ; vgl. hierzu Schomburg, IRhSt, Art. 55 SOÜ Rn. I. Zutr. Plöckinger/Leidenmühl er, wistra 2003 , 81, 82 f.; ihm folgend Anagnostopoulos, Hassemer-FS, S. 1121, 1128; a. A. Liebau, Ne bis in idem, S. 126 f.
D. Literaturhinweise
489
tegration innerha lb der EU entwickeln kanri 'F. Voraussetzung hierfür ist freilich, dass die nationa len Gerichte in geeigneten Fällen von der Möglichkeit Gebrauc h machen, eine Vorabentscheidung des EuGH herbeizuführen. Die supranationale Gerichtsbarkeit hat es dann in der Hand, das transnationale Doppelbe strafungsverbot so zu formen , dass seine integrationsfördernden Effekte weitestmöglich zum Tragen kommen . Die den Vertragsparteien abzuverlangende gegenseitige Akzeptanz ausländischer Verfahrenserledigungen mag für eine gewisse Übergangszeit dazu führen , dass Verfolgungsbehörden und Verteidiger danach trachten , die Abwick lung einer Strafsache in dem aus jeweiliger Sicht günstigsten Rechtssystem zu erreichen. Es steht jedoch nicht zu befürchten, dass sich die nationalen Strafrechtssysteme von den Prozessbetei ligten auf Dauer in dieser Weise gegeneinander ausspie len lassen. Mittel- bis langfristig wird gerade die Existenz eines weitreichenden Doppe lbestrafungsverbotes zu einer Angleichung der Sanktionsbreiten im Rechtsraum der Vertragsparteien und damit zu einer Vertiefung der europäischen Integration im Bereich der Strafrechtspflege beitragenl '" .
D. Literaturhinweise Anagnostopoul os, Ne bis in idem in der EU: Offene Fragen , Hassemer-FS, 2010 , S. 1121 Ambos, Internationales Strafrecht, 2. Aufl ., 2008 , § 12 Rn. 38-55 a Bös e, Der Grund satz " ne bis in idem" in der Europäische n Unio n, GA 2003 , 744 Burchard/Brodowski, Art. 50 Charta der Grundrecht e der Europäischen Union und das europäische ne bis in idem nach dem Vert rag von Lissabon , Straf'o 2010 , 179 Dann ecker, Die Garantie des Grundsa tzes "ne bis in idem" in Europa, Koh lmann-FS, S. 593 ders., Z ur tran snationalen Geltung des Grund satzes " ne bis in idcm" in der EU und den Drittstaat en Island, Norwegen und Schwe iz, EuZ 2009 , 110 Heck er. Das Prin zip "N e bis in idern" im Schengener Recht sraum (Art . 54 SD Ü), StV 2001 , 306 Jagla, Auf dem Weg zu einem zwi schen staatl ichen ne bis in idem im Rahmen der Europ äischen Union, 2007 , passim Kniebühler, Transnationales "ne bis in idern", 2005, pass im Kühne, Ne bis in idem in den Schengener Vertragsstaat en. JZ 1998, 876 Lago dny, Teileuropäi sches " ne bis in idern" dur ch Art. 54 SDÜ , NStZ 1997, 265 Liebau , "Ne bis in idem" in Europ a - Zug leich ein Beitrag zum Kartell sankt ione nrecht in der EU und zur Anrechung dritt staatlicher Kartell sanktionen, 2005 , passim Ligeti , Strafrecht und strafrechtliche Zu sammenarbeit in der Europ äischen Union, 2005 , S.97-112 Mansdorfer, Das Prinzip des ne bis in idem im europäischen Strafrecht, 2004 , passim Plockingerll.eidenm ühler. Z um Verbot doppelter Strafverfolgung nach Art . 54 SD Ü, wistra 2003 ,8 1
132 133
Vgl. hierzu Dannecker, EuZ 2009 , 10, 129 f. Zu mögl ichen Leitlinien für eine neue europ aweite "ne bis in idemv-Regelung vgl. Stein, Europäische s ne bis in idem , S. 492 ff.
490
*13 Transnationales Doppelbestrafungsverbot
Radtke , Der Be:grilTder Tat im prozessualen Sinne: in Europa. in: Secbode-PS. 2008, S. 29 7 Radske/Busch, Tra nsnation aler Suafk lagevcr hrauch in der Europäischen Union, NStZ 2003.
'"
*
Satzger, Internationales und Europäisches Strafrec ht, 4. Aull., 20 10. 10 Rn. 62-8 1 Stein. Zum europäischen nc bis in idcm nach Art ikel 54 des Sehengene- Durchfü hrungsübcrcinkommcns. 2004. passim Thomas, Das Recht auf Einmaligkeit der Strafverfolg ung. 2002. passim I"ogel/Noroll=i, Europäisches ..nc bis in idcm" - EuGIL NJ W 2003. 1173. JuS 2003. 1059 Zoller, Die trans nationale Ge ltung des Grundsatzes ne bis in idcm nach dem Vertrag von Lissabon. Kre)'-F S, 20 10, S. 50 1
E. Rechtsprechungshinweise EuGIi NJW 2003. 1173 f = NStZ 2003. 332 = StV 2003. 201 (..ua nsactic und Einstellu ng gern. 153 aStPO) EuGIiE 2005, 2009 = NJW 200 5, 1337 (staatsanwaltlicher Verfahrenseinstellung ohne: Saehp rüfung ist keine " rechtsk räftige Aburte ilung" i. S. d. Art. 54 SDÜ) EuGIi NJW 2006 . 1781 (Anwcndu ngsbcrcich und Tatbe:grilTdes Art . 54 SDÜ) EuGIi NJW 2006, 3403 (Freispruch wegen Verj ährung ist ..rechtskräftige Abu rteilung" i. S. d. Art 54 SDÜ) EuGIiE 2006. 9327 = NJ W 2006, 3406 (ein aus Mangel an lk weisen freisprec hendes Sechurteil ist eine ..rechtskräftige Aburtei lung" i. S. d. Art. 54 SDÜ) EuGIi NJW 2007. 34 12. 3413 (TatbegrilTund Vollstrec kungsklausel des Art. 54 SDÜ) EuGIi NJW 2007. 34 16 {Tatbcgrlff des Art. 54 SDÜ) EuGII NJ W 2009 . 3149 (Ahwesenheitsurtei le als .jechtskräütgc Aburteilung" i. S. d. Art. 54 SDÜ; Präzisierung der Vollstrec kungsklausel) EuGI[ NStZ-R R 2009, 109 (Polizei liche Einstellungsemscheidung. d ie: nach dem Recht des Erstverfolgerstaates die Strafklage nicht verbraucht. ist keine ..rechtskräftige Aburtcilung" i. S. d. Art. 54 SDÜ) BVcrfGE 75. I (Zur Geltung des Grundsatzes .nc bis in idcm" im allgemeinen Völke rrecht) BGII NStZ 1999. 250 = StV 1999. 244 (..transactic" ) BGlI St 45. 123 = StV 1999 .478 ("ordon naneede: n non lic u") BGlI St 52, 275 = NJW 200S. 2931 (Strafklagcvcrbrauch ge rn. Art, 54 SDÜ bei einheulteher ..Schmuggclfuhrr- durch mehrere EU-Mitg liedstaaten) OLG München, StV 2001. 495 (Ausweis ung mit Abbr uch der Vollstreckung nach Abu rteilung eines Tötungsdelik ts in Spanien) BayObLG StV 200 1. 263 ( österreichisches Strafcrken nmis) OI.G Harnburg wistra [996. 193 (..transacue"] OLG Innsbruek NStZ 2000. 663 [Ein stellung gern. § 174 StI'O) LG Harnburg wistra 1996. 359 ("transact ic") LG Aachcn StV 20 10, 23 7 (Verhältnis von Art . 54 SDÜ zu Art. 50 GRCh; Vollstreckungsklauscl]
*
r . Zusammenfassung von § 13
491
F. Zusammenfassung von § 13 Das Völkerrecht kennt ebenso wie die meisten nationalen Rechtsordnungen ledig- 67 lieh ein rechtsordnungsinternes Verbot doppelter Strafverfolgung und Bestrafung wegen derselben Tat. Das in Art. 54 SDÜ verankerte transnationale Doppelbestrafungsverbot ("ne bis in idern") erstreckt die Erledigungswirkung der in einem Erstverfolgerstaat getroffenen "rechtskräftigen Aburteilung" einer Tat auf alle Vertragsparteien - derzeit insgesamt 30 europäische Staaten (27 EU-Staaten sowie Island, Norwegen und die Schweiz als assoziierte Staaten) - und begründet damit ein unionsweites Verfahrenshindernis. Erfasst sind neben den von einem Gericht nach Durchführung einer Hauptverhandlung in Urteilsform gefällten Verurteilungen und Freisprüchen auch sonstige Verfahrensabschlüsse, die nach dem Recht des Erstverfolgerstaates materielle Rechtskraft entfalten. Hierzu gehören exemplarisch der deutsche Strafbefehl, die Einstellung des Verfahrens gern. §§ 153 11, 153 aStPO, der Nichteröffnungsbeschluss gern. §§ 203 , 210 StPO , der rechtskräftige Bußgeldbescheid, die niederländische oder belgisehe "transactie" sowie das österreichische Straferkenntnis. Zu beachten ist jedoch, dass in den Fällen, in denen die materielle Rechtskraft des Verfahrensabschlusses beschränkt ist, auch nur ein beschränkter transnationaler Stratklageverbrauch eintreten kann . Die Definitionsmacht über den Verfahrensgegenstand (Tatbegrift) und die Reichweite der strafprozessualen Erledigungswirkung eines rechtskräftigen Verfahrensabschlusses (materielle Rechtskraft) liegt allein beim Erstverfolgerstaat. Im Falle einer Verurteilung ist des Weiteren zu prüfen, ob eines der drei Vollstreckungselemente gegeben ist. Der fortgeltenden Anwendbarkeit dieser Vollstreckungskompon ente steht Art. 50 GRCh nicht entgegen, da dieses Justizgrundrecht gern. Art. 52 I GRCh unter Gesetzesvorbehalt steht, der von Art. 54 SDÜ ausgefüllt wird. Art. 54 SDÜ beschränkt als unionales Gesetz den Gewährleistungsumfang des tran snationalen Doppelbestrafungsverbots. Die von Deutschland und anderen Vertragsstaaten gern. Art. 55 SDÜ abgegebenen Vorbehalte sind mit der Einbeziehung des Sehengen-Besitzstandes in den Rahmen der früheren 3. Säule der EU in Wegfall geraten .
Teil IV Strafrechtlicher Schutz der EU-Finanzinteressen
B. Hecker, Europäisches Strafrecht, DOI 10.1007/978-3-642-13127-1_14, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
496
§ 14 Betrugsbekämpfung durch Europäisches Strafrecht
verzerrungen2. Sollte sich bei den Steuerzahlern der Eindruck bilden und verfestigen , dass .Brüssel" (scheinbar) tatenlos zusieht, wie Jahr für Jahr horrende Summen aus dem "europäischen Subventionstopf" in "unsichtbaren Kanälen" versickern , sind auch ideelle Schäden in Form eines dem europäischen Einigungsprozess abträglichen Ansehensverlustes der Union nicht auszuschließen' . 4 Der Schutz der EU-Finanzinteressen steht daher seit Jahren im Zentrum der strafrechtsrelevanten Aktivitäten auf Unionsebene. Die Notwendigkeit, Angriffen auf die EU-Finanzen auch durch den Einsatz repressiv-strafrechtlicher Maßnahmen zu begegnen, wird heute im Grundsatz einhellig bejaht" . Die Union ist hierbei auf das oftmals lückenhafte und uneinheitliche Strafrecht der Mitgliedstaaten angewiesen". Mit seinem "Mais-Urteil"6 (§ 7 Rn. 24 ff.) setzte der Gerichtshof im Jahre 1989 ein klares Signal. Das aus dem Loyalitätsgebot (Art. 4 111 EUV ; ex-Art. 10 EGV) abgeleitete Gleichstellungserfordernis (Assimilierungsprinzip) sowie das Gebot wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen ("Mindesttrias") fanden mit der deklaratorischen Bestimmung des ex-Art. 280 EGV (Art . Art . 209 a EGV a.F.; aktuell : Art. 325 AEUV) Eingang in das kodifizierte Primärrecht. Da das Assimilierungsprinzip nur eine begrenzte Rechtsangleichung ermöglicht, arbeitet die Kommission verstärkt daran, den Schutzstandard weiter auszubauen. In institutioneller Hinsicht ist bereits am I. Juni 1999 mit der Schaffung eines eigenständigen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) eine neue Ära in der unionsrechtlichen Betrugsbekämpfung angebrochen (§ 4 Rn. 19 ff.). Von besonderer Bedeutung ist die Ausgestaltung des materiellen Strafrechts der Mitgliedstaaten. Am 17. Oktober 2002 trat nach über siebenjähriger Ratifikationsphase das Übereinkommen v. 26. Juli 1995 betreffend den Schutz der finanziellen Interessen der EG (Plf'-Konveution)? nebst erstem Zusatzprotokolls betreffend Bestechung und Bestechlichkeit sowie einem weiteren Protokoll", welches die Zuständigkeit des EuGH für die Auslegung der PIF-Konvention festlegt , in Kraft . Es sieht die Schaffung eines unionsweit angeglichenen Betrugsstrafrechts bei betrügerischen Handlungen zum Nachteil der EU vor (Rn. 22 ff.). Man kann deshalb mit Recht davon sprechen, dass sich der Schutz der EU-Finanzinteressen als Motor der Entwicklung eines Europäischen Strafrechts darstellt".
10
Schwarzburg/Hamdorf, NStZ 2002,617,618; Sieber, ZRP 2000, 186, 187. Fromm , Finanzinteressen der EG, S. 16 ff. Hecker , Kreuzer-Freundesgabe, S.181, 188; Hedtmann , EuR 2002, 122, 131 ff.; Heitzer, Punitive Sanktionen , S. 3 f.; Pache, Schutz der finanziellen Interessen der EG, passim; Sieber, ZRP 2000, 186, 187; Wolffgang lUlrich, EuR 1998,616,626 Ir. Vgl. hierzu den rechtsvergleichenden Überblick bei Dannecker, Strafrechtsentwicklung in Europa, S. 155 ff.; ders ., ZStW 108 (1996), S. 577, 585 ff. EuGHE 1989,2965 = EuZW 1990,99. ABlEG 1995 Nr. C 316, S. 49 ; PIF=Protection des interets financiers . ABlEG 1996 Nr. C 313, S. 2. ABlEG 1997 Nr. C 191, S. I. Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 270; Fromm , Finanzinteressen der EG; S. 6; Sieber, Corpus Juris, S. 4 ff.
A. Unionsfinanzen als Angriffsfläche für kriminelle Praktiken
497
11. Unionsfinanzen Dass der strafrechtliche .Eigenschutz" zu einem vordringlichen Anliegen der fr ü- 5 heren EG bzw. heutigen EU geworden ist, hängt maßgeblich mit der Finanzreform der Gemeinschaften im Jahre 1970 zusammen!' , insbesondere mit der Umstellung der Finanzierung von einer Fremdfinanzierung durch die Mitgliedstaaten zu einem System der Elgenfinanzierung'". 1. Eigenmittel der EU Die Eigenmittel der EU umfassen" :
6
Agrarabschöpfungen: Agrarzölle, die auf Einfuhren von einer Gemeinsamen Marktorganisation unterliegenden Agrarerzeugnissen erhoben werden , Zuckerabgaben : Produktionsabgaben, die im Rahmen der Gemeinsamen Marktorganisation für Zucker vorgesehen sind und zur Stützung des Marktes verwendet werden , Zölle: Einnahmen, die sich aus der Anwendung des Gemeinsamen Zolltarifs auf den Zollwert der aus Drittländern eingeführten Waren ergeben , Mehrwertsteuereigenmittel: Einnahmen, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes auf der nach den Gemeinschaftsvorschriften harmonisierten Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage eines jeden Mitgliedstaats ergeben , Bruttosozialprodukteigenmittel: Einnahmen , die sich aus der Anwendung eines j ährlich im Rahmen des Haushaltsverfahrens unter Berücksichtigung aller sonstigen Haushaltseinnahmen festgelegten Satzes auf das Bruttosozialprodukt der Mitgliedstaaten ergeben . Es handelt sich hierbei um eine Einnahme zur Gewährleistung des Haushaltsausgleichs, die es ermöglichen soll, den Gesamtbetrag der Zahlungsermächtigungen zu decken , die zur Finanzierung der in den Haushaltsplan eines gegebenen Haushaltsjahres eingesetzten Ausgaben erforderlich sind, Sonstige Einnahmen : Einnahmen aus laufender Verwaltungstätigkeit der EU (z. B. aus Verkäufen , Vermietungen, Vergütungen für erbrachte Leistungen , Geldbußen und Zwang sgeldern). 2. Ausgaben der EU Bezüglich der Ausgaben der EG enthält das Primärrecht keine ausdrücklichen 7 Vorgaben. Vielmehr folgt aus der Zuweisung einer Aufgabenkompetenz an die EG notwendig auch deren Befugnis, diese Aufgaben durch Einsatz entsprechender 11
12
13
Vgl. hierzu Beschluss des Rates v. 21. April 1970 über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaften (ABlEG 1970 Nr. L 94, S. 9). Dannecker, Schutz der EG-Finanzinteressen, S. 9, 14; ders., ZStW 108 (1996), S. 577; Wolffgang/Ulrich, EuR 1998,616,617. Vgl. hierzu Wolffgang/Ulrich, EuR 1998,616,618 ff
498
§ 14 Betrugsbekämpfung durch Europäisches Strafrecht
Mittel zu erfüllen. Die folgenden Ausgabenbereiche'" sind - wie die oben aufgeführten Einnahmen - potentielle Objekte strafwürdiger Angriffe auf die EU-Finanzinteressen: - Agrarausgaben : Ausgaben zur Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik, insbesondere Maßnahmen der Marktregulierung, Erstattungen bei Ausfuhr in Drittstaaten und direkte Einkommensbeihilfen, - Strukturmaßnahmen : Ausgaben mit struktureller Zweckbestimmung zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts innerhalb der EU (z. B. zur Entwicklung strukturschwacher Regionen, Entwicklung des ländlichen Raumes , Förderung von Vorhaben im Bereich des Umweltschutzes), - Interne Politiken : Ausgaben zur Finanzierung von Programmen in den Bereichen Bildung, Kultur , Jugendaustausch, Energiepolitik und Umwelt, Verbraucherschutz, transeuropäische Netze sowie Forschung und technologische Entwicklung, - Externe Politiken: Ausgaben zur Finanzierung von Maßnahmen in Drittstaaten (z. B. Reformprogramme für die mittel- und osteuropäischen Staaten, humanitäre Hilfsmaßnahmen, Beiträge zu Hilfsprogrammen internationaler Organisationen), - Verwaltungsausgaben : Kosten für Personal , Dienstgebäude, Material , Veröffentlichungen und sonstige Verwaltungsausgaben.
111. Deliktsformen und Täterstrukturen 1. Erscheinungsformen der EU-Betrügereien 8 Wie die Erfahrungen in den vergangenen Jahren zeigen, bildet der EU-Finanzhaushalt offensichtlich eine attraktive Zielscheibe für eine facettenreiche Vielzahl betrügerischer Praktiken, welche letztlich darauf abziel en, das Finanzaufkommen der EU zu schmälern". Dabei sind auf der Einnahmenseite insbesondere die Zölle und Mehrwertsteuereinnahmen, auf der Ausgabenseite vor allem die Aufwendungen für die Agrar- und Strukturpolitik (Subventionen, Erstattungen) betroffen 16. Als Hauptursache für auftretende Unregelmäßigkeiten wird häufig das pIanwirtschaftliehe System staatlich gelenkter und geordneter Agrarmärkte genannt". Die EU erhebt Agrarabschöpfungen und Einfuhrzölle auf viele Waren aus Drittstaat en, um die niedrigen Weltmarktpreise künstlich auf ihr Preisniveau anzuheben, damit die teureren EU-Produkte innerhalb des Europäischen Binnenmarktes 14
15
16
17
Vgl. hierzu WolffganglUlrich, EuR 1998,616,621 ff. Vgl. zum typischen modus operandi Dannecker, ZStW 108 (1996), S. 577, 579 ff.; ders., JURA 1998, 79, 86; Ligeti , Strafrecht in der EU, S. 277 ff.; Sieber, SchwZStrR 114 (1996), S. 357, 361 f[ Hedtma nn, EuR 2002, 122; WolffganglUlrich, EuR 1998,616,624 r. Dannecker , ZStW 108 (1996), S. 577,580; Hedtmann, EuR 2001, 122, 123; Sieber, SchwZStrR 114 (1996), S. 357, 377 f.
A. Unionsfinanzen als Angriffsfläche für kriminelle Praktiken
499
überhaupt absetzbar sind. Für die Ausfuhr von EU-Erzeugnissen werden dem Exporteur Erstattungen bezahlt, weil bestimmte Produkte auf dem Weltmarkt sonst nicht konkurrenzfähig wären . Sowohl die Einfuhrzölle als auch die Ausfuhrerstattungen bilden einen erheblichen Anreiz für "schwarze Schafe " aus der Importund Exportbranche, durch Manipulationen unberechtigte Gewinne zu Lasten des EU-Haushalts zu erzielen. Täuschungen werden sowohl im Zusammenhang mit der Einfuhr von Drittlandswaren in die EU begangen, um die unionsrechtlichen Zölle nicht oder nicht vollständig bezahlen zu müssen , als auch bei der Ausfuhr von Waren in Drittländer vorgenommen, um höhere Erstattungen zu erlangen. Die Aussicht, bei relativ niedrigem Entdeckungsrisiko eine erhebliche finanzielle Leistung ohne jedwede Gegenleistung nur aufgrund vorgetäuschter Abgabentatbestände bzw. Erstattungs- oder Subventionskriterien zu erhalten, macht diese dirigistischen Steuerungsmittel zu einem kriminogenen Faktor ersten Ranges . Außerdem ist die Scheu der Tät er, Delikte zu Lasten des EU-Haushalts zu begehen , gering, weil ein sichtbarer Geschädigter fehlt.
a) Hinterziehung von Abgaben bei der Wareneinfuhr Eine klassische Methode der Abgabenhinterziehung ist die unterlasse Anmeldung 9 (Deklaration) von Waren bei deren Einfuhr in die EU (Schmuggel)". Praktisch noch bedeutsamer sind Falschanmeldungen der Warenmengen nach Zahl und Gewicht sowie Täuschungen über die Warengattung oder deren Qualit ät (vgl. hierzu den in Fall 1 mitgeteilten Sachverhalt). Häufig erfolgt die Hinterziehung von Abgaben auch durch falsche Angaben über das Ursprungsland oder die Zweckbestimmung der eingeführten Waren . Die Falschangaben werden dabei nicht selten mit gefälschten Stempeln (z. 8. Zollstempel) oder unrichtigen Urkunden (z. 8. Ursprungszeugnisse, veterinärärztliche Zeugnisse) belegt. b) Erschleichung von Erstattungen bei der Warenausfuhr Die Täuschungsmanöver zur Erschleichung von Erstattungen bei der Ausfuhr von 10 Waren in Drittländer entsprechen - spiegelbildlich - im Wesentlichen denjenigen bei der Hinterziehung von Abgaben . Um zu Unrecht in den Genus s von Ausfuhrerstattungen zu gelangen, werden unrichtige Angaben über Menge, Gewicht, Gattung und Ursprungsland der Waren gemacht. Während beim Import hochwertige Erzeugnisse als minderwertige deklariert oder zu geringe Mengen angeg eben werden, um die zu zahlenden Abschöpfungsbeträge zu senken, werden beim Export minderwertige Erzeugnisse als hochwertige deklariert oder höhere Exportmengen angegeben, um überhöhte Ausfuhrerstattungen zu erschleichen. Hinzu kommen Falschangaben bezüglich des Bestimmungslandes oder Verwendungszwecks der ausgeführten Waren .
18
Vgl. hierzu und zum Nachfolgenden Dannecker, ZStW 108 (1996), S. 577, 580 Ir ; Sieber, SchwZStrR 114 (1996), S. 357, 361 ff.
500
§ 14 Betrugsbekämpfung durch Europ äische s Strafrecht
c) Abgabenhinterziehung und Subventionserschleichung innerhalb der EU 11 Innerhalb der EU werden zahlreiche Beihilfen und sonstige Vergünstigungen gewährt . Eine verbreitete Methode der Vorteilserlangung besteht dementsprechend darin, durch Falschangaben das Vorliegen eines Subventionstatbestandes zu behaupten (vgl. hierzu den in Fall 2 mitgeteilten Sachverhalt). Um eindeutige Betrugsfalle zu Lasten der EU-Finanzinteressen handelt es sich bei betrügerischen .Karusselgeschäften" oder beim Erschleichen mehrfacher Subventionsgewährung für dieselben Produkte'". In einem Bericht über die Exportsubventionen der EU hat der Europäische Rechnungshof aber auch vor fiktiven Handelsgeschäften gewarnt , die sich in einer rechtlichen Grauzone befinden-". Zu denken ist zum einen an Warentransaktionen, bei denen Güter ohne stichhaltigen wirtschaftlichen Grund in der Absicht, Ausgleichsbeträge zu erhalten , auf Umwegen versandt werden. Zum anderen werden durch Schein- oder Umgehungsgeschäfte Gesetzeslücken oder mehrdeutige Gesetzesformulierungen ausgenutzt" . 2. Täterstrukturen und Schadensschätzungen 12 Die zum Nacht eil des EU-Finanzhaushalts begangenen Betrugs- , Steuer- und Zolldelikte stellen typische Erscheinungsformen der Wirtschaftskriminalität dar . Sie werd en von intelligent operierenden Tätern bzw. Tätergruppen mit der Zielrichtung begangen , durch geschickte Manipulationen (z. 8. Falschdeklarierungen, Fälschung von Urkunden , Zertifikaten, Stempeln) hohe Gewinne zu erzielen und zugleich Entdeckungsrisiken zu minimieren'<. Eine typische Methode zur Verschleierung von Sachverhalten ist die Einschaltung (Verschachtelung) einer Vielzahl von Gesellschaften unter Einbeziehung von Strohmännern und Briefkastenge sellschaften. Ein Großteil der Betrügereien erfolgt im Namen von Unternehmen oder Gesellschaften, die ausschließlich zum Zweck der Deliktsbegehung gegründet wurden . Zudem weisen diese Taten zunehmend transnationale Bezüge auf und betreffen einen Bereich , der für die organisierte Krimin alität von besonderem Interesse ist23 . Weil sich der durch straff organisierte Tätergruppen geprägte illegale Markt durch eine oligopolistische Struktur auszeichnet, führt selbst die Verhaftung von Führungspersonen und die damit einhergehende Zerschlagung ganzer Tätergruppen häufig nur dazu , dass deren Marktanteile sofort von einer anderen Tätergruppe übernommen werden>',
19 20 21
22
23
24
Dannecker, ZStW 108 (1996), S. 577, 581. ABl EG 1986 C 321 , S. 51 ff. Dannecker, ZStW 108 (1996), S. 577 , 582 f.; Tiedemann , NJW 1990,2226,2230 f. Vgl. hierzu den illustrativen Betrug sfall, der in Anhang 3 (S. 98 ff.) des Grünbuchs der Komm iss ion v. 11. Dezemb er 2001 geschildert wird ; KOM (2001) 715 endg. Vgl. hierzu Dannecker, Schutz der EG-Finanzi nteressen, S. 18; Kuhl, Krim inali stik 1997,105; Sieber, Sch wZStrR 114 (1996), S. 357 , 372 f. Sieber, ZRP 2000 , 186, 187.
A. Unionsfinanzen als Angriffsfläche für kriminelle Praktiken
501
Gesicherte empirische Untersuchungen über die Höhe der tatsächlichen Schäden 13 gibt es nicht": Die Kommission beziffert das auf der Grundlage der bekannt gewordenen Unregelm äßigk eitsfälle errechnete Gesamtschadensvolumen für das Jahr 2008 mit 1134,2 Mio. €26 . Die Aufschlüsselung des gesamten Schadensvolumens nach Bereichen ergab dabei folgendes Bild : 351 Mio . € bei den Einnahmen (traditionelle Eigenmittel) und 783, 2 Mio . € bei den Ausgaben, davon 102, 3 Mio . € bei den Agrarausgaben (0, 01% der Gesamtmittel), 585, 2 Mio . € bei den Struktur- und Kohäsionsfonds (0, ll % der Gesamtmittel), 61 Mio . € bei den Heranführungshilfen (0, 9% der Gesamtmittel) und 34, 7 Mio . € bei den Direktausgaben (0, 03 % der Gesamtmittel).
IV. Präventionsstrategien Kriminalstrafrechtliche Sanktionen kommen regelmäßig zu spät , denn sie greifen 14 immer erst ein, wenn das " Kind schon in den Brunnen gefallen ist". Das Gebot der Stunde lautet daher, alle nur erdenklichen administrativen Präventionsmaßnahmen auszuloten, um Missbrauchsmöglichkeiten einzudämmen-". Neben der Verbesserung der institutionellen Zusammenarbeit zwischen den europäischen (OLAF) und den mitgliedstaatliehen Akteuren (Zoll- und Steuerverwaltungen sowie Polizei- und Strafverfolgungsbehörden) gilt es, die Zollerhebungs-, Erstattungs- und Subventionsverfahren sowie die darauf bezogenen Kontrollmechanismen so zu gestalten, dass Vermögenseinbußen, Fehlleitungen von Finanzmitteln, Zweckentfremdungen von Zuschüssen usw. nach Möglichkeit schon im Ansatz verhindert werden und zugleich ein hohes Entdeckungsrisiko geschaffen wird-" , Im Agrarbereich finden sich noch viele produktbezogene Subventionen und Zölle, die an schwer zu kontrollierende Parameter anknüpfen . Durch ein erhöhtes Maß an Prävention sowie durch einen Abbau betrugsanflilliger Subventionsmechanismen auf EU- Ebene könnte bereits eine deutliche Verringerung des Schadensvolumens bewirkt werden. Das Strafrecht vermag allein keinen tlächendeckenden Schutz für ein - pointiert ausgedrückt - " kriminogenes Subventionierungssystem " bieten. In der Tat greifen kriminalstrafrechtliche Maßnahmen zu kurz, solange die notwendige Reform des bestehenden Subventionierungswesens aussteht - eines Systems, das sich als äußerst anfällig für Unregelmäßigkeiten, Verschwendung, Zweckentfremdung, Korruption und Betrug erwiesen hat.
25
26
27
28
Vgl. hierzu Danne cker. Schutz der EG-Finanzinteressen, S. 17 f.; Fromm, Finanzinteressen der EG, S. 11 ff.; Sieber, SchwZ StrR 114 (1996), S. 357, 373 f. Vgl. Jahresbericht der Kommission 2008 - KOM (2009) 372 endg., S. 8. Vgl. hierzu Hecker, Kreuzer-Freundesgabe, S. 181, 187 f.; Fromm , Finanzinte ressen der EG, S. 30 ff.; Hedtmann, EuR 2002, 123, 124 ff.; Magiera , Friauf..FS, 1996, S. 13, 20 f.; Pach e, Schutz der finanziellen Interessen der EG, S. 316; ders., EuR 1993, 173, 176; Sieb er, ZRP 2000, 186, 187 f f.; Wattenberg , StV 2000, 95, 102. Sieber, SchwZStrR 114 (1996), S. 357, 377.
502
§ 14 Betrugsbekämpfung durch Europäisches Strafrecht
B. EU-Finanzinteressen als Schutzobjekt des Europäischen Strafrechts I. Mitgliedstaatliehe Schutzverpflichtung 15 Die Notwendigkeit, Angriffen auf die EU-Finanzen auch durch den Einsatz repressiv-strafrechtlicher Maßnahmen zu begegnen, wird im Grundsatz von niemandem ernsthaft bestritten. Eine effektive Betrugsprävention kann auf flankierende strafrechtliche Mittel nicht verzichten. Bereits mehrfach wurde auf die Judikatur des EuGH hingewiesen, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, Verstöße gegen die EG-Finanzinteressen nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln zu verfolgen wie nach Art und Schwere vergleichbare Zuwiderhandlungen gegen nationales Recht (§ 7 Rn. 24 ff.). Außerdem müssen die angedrohten Sanktionen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend ("Mindesttrias") sein . Art. 325 I, 11 AEUV bestimmen deklaratorisch: ,,(1) Die Union und die Mitgliedstaaten bekämpfen Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlugen mit Maßnahmen nach diesem Artikel, die abschreckend sind und in den Mitgliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union einen effektiven Schutz bewirken. (2) Zur Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, ergreifen die Mitgliedstaaten die gleichen Maßnahmen, die sie auch zur Bekämpfung von Betrügereien ergreifen, die sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richten."
11. Rechtszersplitterung als Hindernis für eine effektive Betrugsbekämpfung 16 Zwar existieren in allen Mitgliedstaaten einschlägige Straftatbestände wie etwa Betrug, Subventionsbetrug, Steuer- und Abgabenhinterziehung sowie Urkundenfälschurig . Als problematisch erweist sich jedoch der Befund , dass diese Tatbestände in den jeweiligen Mitgliedstaaten inhaltlich zum Teil höchst unterschiedlich ausgeformt sind, etwa was die Strafbarkeit der Fahrlässigkeitstat, des Versuchs , die strafrechtliche Haftung juristischer Personen sowie die Art und Höhe der vorgesehenen Sanktionen betrifft-". 17 In Deutschland gibt es neben dem Vermögensdelikt des Betruges (§ 263 StGB) den Tatbestand des Subventionsbetruges (§ 264 StGB), der nicht nur die Bestrafung wegen vorsätzlicher Tatbegehung erlaubt, sondern auch leichtfertiges, d. h. grob fahrlässiges Handeln mit Strafe bedroht (§ 264 IV StGB)3o. Der deutsche Tatbestand des § 264 IV StGB gewährt somit eine strafrechtliche Handhabe auch 29
30
Vgl. hierzu die rechtsvergleichenden Ausführungen von Dannecker, Strafrechtsentwicklung in Europa, S. 155 Ir; ders., ZStW 108 (1996), S. 577, 585 ff. Vgl. hierzu nur Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 133 ff
B. El.l-Finanzinteressen als Schutzobjekt des Europäischen Strafrechts
503
gegen solche Täter, denen der Vorsatz zur Täuschung nicht mit der für eine Verurteilung ausreichenden Sicherheit nachgewiesen werden kann : In der Regel werden Falschangaben zumindest auf Leichtfertigkeit beruhen. Außerdem setzt die Bestrafung wegen vollendeten Subventionsbetruges nicht - wie § 263 StGB - den Nachweis eines eingetretenen Vermögensschadens voraus. Bereits die bloße Täuschungshandlung begründet die Strafbarkeit. Das spanische Strafrecht kennt lediglich einen betrugsähnlich ausgestalteten 18 Tatbestand (Art. 309 C6digo penal), der nur vorsätzliche Schädigungen von über 50 000 ECU mit Strafe bedroht. Unterhalb dieser Grenze gibt es lediglich die Möglichkeit der Verhängung einer Geldbuße durch die Verwaltungsbeh örde'" . Portugal und Italien kennen einen dem spanischen Modell folgenden betrugsähnlichen Tatbestand, jedoch ohne die Festlegung von Schadensmindestgrenzen'". Der französische Betrugstatbestand ("escroquerie", Art . 313 Code penal) kann anders als das deutsche Pendant nicht schon durch eine einfache Lüge und nicht durch Unterlassen begangen werden'". Während schriftliche Lügen im französischen, belgischen, portugiesischen, spanischen und niederländischen Recht als eine strafbare Form der Urkundenfälschung angesehen werden, unterfallen sie im deutschen, dänischen, englischen, irischen und griechischen Strafrecht nicht dem Tatbestand der Urkundenfälschung'". Höchst unterschiedlich ausgestaltet ist die Strafbarkeit juristischer Personerr". 19 In manchen Mitgliedstaaten - wie in Deutschland - entfällt sie ganz. Das Fehlen einer Verbandsstrafe in Deutschland muss sich freilich nicht zwangsläufig nachteilig auf den Schutz der finanziellen Interessen der EU auswirken. Denn die nach § 30 I OWiG eröffnete Möglichkeit der Verh ängung einer Unternehmensgeldbuße wird in Deutschland bei weitem häufiger eingesetzt als die Verbandsstrafe im Ausland, und die Sanktionierungen mit hohen Geldbußen können die Betroffenen zuweilen härter treffen als eine Geldstrafe. Die nationalen Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten weisen zudem höchst unterschiedliche Sanktionssystematiken und -größen auf. Während beispielsweise die kurze Freiheitsstrafe in einigen Mitgliedstaaten verbreitet ist, ist es ein zentrales und im Wesentlichen umgesetztes Anliegen des deutschen Reformgesetzgebers, diese zurückzudrängen . Stattdessen nimmt in Deutschland die Geldstrafe einen hohen Stellenwert ein . Was die Geldstrafe anbelangt, ist das Tagessatzsystem eingeführt, während anderswo die Geldsummenstrafe existiert. Ferner sind die Obergrenzen für die Strafaussetzung zur Bewährung völlig unterschiedlich. Die Divergenzen erstrecken sich ferner auf das Strafverfahrensrecht. So gilt z. B. das Legalitätsprinzip nicht in allen Mitgliedstaaten, was zu Unterschieden in der Strafverfolgungspraxis
führt".
31
32 33 34
35
36
Bacigalupo, in: Huber (Hrsg.), Corpus Juri s, S. 129, 130. Dannecker, ZStW 108 (1996), S. 577, 591. Dannecker, ZStW 108 (1996), S. 577, 588 . Bacigalupo, in: Huber (Hrsg .), Corpus Juris , S. 129, 130 f.; Dannecker. ZStW 108 (1996), S. 577, 592. Dannecker, ZStW 108 (1996), S. 577, 592 I: Perron, Strafrechtsvereinheitlichung, S. 135, 142.
504
§ 14 Betrugsbekämpfung durch Europäisches Strafrecht
20 Als Fazit der kursorischen rechtsvergleichenden Betrachtung kann festgehalten werden, dass von einem einheitlichen strafrechtlichen Schutzstandard zugunsten der EU-Finanzinteressen innerhalb der Union nicht die Rede sein. Die hieraus zu ziehende Konsequenz kann daher nur darauf hinauslaufen, durch Rechtsangleichungsmaßnahmen zu verhindern, dass intelligent, transnational und zumeist in organisierter Form operierende Täter bzw. Personen verbände die Strafrechtsdivergenzen der Mitgliedstaaten für ihre kriminellen Zwecke ausnutzen. Im Idealfall sollten die Täter im gesamten Rechtsraum der EU einem (zumindest annähernd) gleichen Stratbarkeits- und Strafverfolgungsrisiko unterliegen .
111. Wege zur Überwindung der Rechtszersplitterung in Europa 21 Zur Überwindung der Zersplitterung des europäischen Rechtraumes bieten sich im Prinzip zwei Optionen an: (I) Zum einen könnte die Union von der ihr durch Art . 325 IV AEUV (Rn. 44) erstmals eingeräumten Befugnis zur Schaffung eine s echten supranationalen Strafrechts - etwa in Form eines El.I-Finanz-Strafgesetzbuches'" - Gebrauch machen (§ 4 Rn. 81) . (2) Die zweite Möglichkeit besteht darin, durch bereichsspezifische Harmonisierungsmaßnahmen die einschlägigen Straftatbestände einschließlich der Zurechnungsnormen des Allgemeinen Teils sowie der Rechtsfolgenseite vollständig oder wenigstens teilweise anzugleichen mit dem Ziel , in allen Mitgliedstaaten einen einheitlichen strafrechtlichen (Mindest-)Schutzstandard zugunsten der finanziellen Interessen der EU zu etablieren. Rechtstechnisch kann eine Harmonisierung mittels Richtliniensetzung auf der Grundlage des Art . 83 11 AEUV i. V. m. Art. 325 IV AEUV erfolgen (§ 4 Rn. 81; § 8 Rn. 46) .
IV. Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen derEG 22 Eine Vorreiterrolle auf dem Weg zu einem vereinheitlichten Betrugsstrafrecht nimmt das auf der Grundlage von Art . K.3 EUV (ZBJI ; § 5 Rn. 54) getroffene Übereinkommen v. 26. Juli 1995 betreffend den Schutz der finanziellen Interessen der EG (Plfö-Konventionf" ein, das am 17. Oktober 2002 nach über siebenjähriger Ratifikationsphase in Kraft trat.
1. Wesentlicher Inhalt der PIF-Konvention 23 Die PIF-Konvention geht auf intensive Bemühungen um einheitliche Strafrechtsregelungen gegen betrügerische Handlungen zum Nachteil der EG in den 1990er Jahren zurück . Das Übereinkommen zielt auf die Schaffung eines einheitlichen 37 38
Schwarzburg/Hamdorf, NStZ 2002, 617, 623 f. ABlEG 1995 Nr. C 316, S. 49 ; PIF=P rotection des Intereis financiers.
B. El.l-Finanzinteressen als Schutzobj ekt des Europäischen Strafrechts
505
Betrugsstrafrechts mit angeglich enen Mindeststrafen ab 39 • Art. 1 I PIF-Konvention enthält eine für alle Mitgliedstaaten verbindliche Definition des Betruges zum Nachteil der finanziellen Interessen der EG im Zusammenhang mit Ausgaben (lit. a) und Einnahmen (lit. b). Er lautet wie folgt: "Art. 1 Allgemeine Bestimmungen (1) Für die Zwecke dieses Übereinkommens umfasst der Tatbestand des Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften a) jede vorsätzliche Handlung oder Unter lassung betreffend die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, da ss Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften oder a us den Hau shalten, die von den Europäischen Gemeinschaften oder in deren Auftrag verwaltet werden, unrechtmäßig erlangt oder zurückbehalten werden, - das Verschweigen einer Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht mit derselben Folge, - die missbräuchliche Verwendung solcher Mittel zu anderen Zwecken als denen, für die sie ur sprünglich gewährt worden sind, b) im Zusammenhang mit Einnahmen jede vorsätzliche Handlung oder Unt er lassung betreffend - die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvoll ständiger Er klärungen oder Unter lagen mit der Folge, das s Mittel au s dem Gesamthaushaltsplan der Eur opä ischen Gemeinschaften oder aus den Haushalten, die von den Europäischen Gemeinschaften oder in deren Auftrag verwaltet werden, rechtswidrig vermindert werden, - da s Ver schwei gen einer Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht mit derselben Folge, - die missbräuchliche Verwendung eines rechtmäßig erlangten Vorteils mit derselben Folge. (2) Vorbehaltlich des Art. 2 11 trifft jeder Mitgliedsta at die erforderlichen und geeigneten Maßnahmen, um Abs. 1 so in sein innerstaatliches Recht umzusetzen, da ss die von ihm erfassten Handlungen a ls Straftaten umschrieben werden. (3) Vorbehaltlich des Art. 2 11 ergreift j eder Mitgliedstaat ferner die erforderlichen Maßnahmen, damit die vor sätzliche Her stellung oder Bereitstellung falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erkl ärungen oder Unter lagen mit der in A bs. 1 erwähnten Folge als St r aftat umschrieben wird, sofern sie nicht bereits entweder als selbständige St r aftat oder als Beteiligung a m Betrug im Sinne von Abs . I, als Anstiftung dazu oder als Ver such eines solchen Betrugs st ra fba r ist. (4) Der vorsätzliche C har a kter einer Handlung oder Unter lass ung im Sinne der Ab s. 1 und 3 kann au s den objektiven Tatumständen geschlos sen werden."
39
Vgl. hierzu Dannecker. Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 43 Ir ; ders., Einfluss des Gemeinsch aftsrechts, S. 161, 166 ff.; ders., ZStW 108 (1996), S. 577, 596 ff.; Groblinghof]. Verpflichtung des Strafgese tzgebers. S. 157 ff.; Ligeti, Strafrecht in der EU, S. 280 ff.; Ziescha ng, EuZW 1997, 78 ff.
506
§ 14 Betrugsbekämpfung durch Europäisches Strafrecht
24 In Art . 2 PIF-Konvention sind die von den Mitgliedstaaten vorzusehenden Sanktionen für Taten i. S. d. Art . I geregelt: "Art. 2 Sanktionen (1) Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen um sicherzustellen, dass die in Art. 1 genannten Handlungen sowie die Beteiligung an den Handlungen im Sinne von Art. 1 Abs. I, die Anstiftung dazu oder der Versuch solcher Handlungen durch wirksame, angemessene und abschreckende Strafen geahndet werden können, die zumindest in schweren Betrugsfallen auch Freiheitsstrafen umfassen, die zu einer Auslieferung führen können; als schwerer Betrug gilt jeder Betrug, der einen in jedem Mitgliedstaat festzusetzenden Mindestbetrag zum Gegenstand hat. Dieser Mindestbetrag darf 50000 ECU nicht überschreiten. (2) Jedoch kann ein Mitgliedstaat in minderschweren Betrugsfällen. die einen Gesamtbetrag von weniger als 4 000 ECU zum Gegenstand haben und bei denen gemäß seinen Rechtsvorschriften keine besonderen erschwerenden Umstände vorliegen, Sanktionen einer anderen Rechtsnatur als die in Abs. 1 vorgesehenen Strafen vorsehen." 25 Die Mitgliedstaaten müssen ferner nach Art . 3 PIF-Konvention die erforderlichen Maßnahmen treffen, damit Leiter oder Entscheidungsträger von Unternehmen als strafrechtlich verantwortlich angesehen werden können . In Art . 6 des Übereinkommens wird der Grundsatz einer verstärkten justiziellen Zusammenarbeit bekräftigt. Art . 7 enthält den Grundsatz "ne bis in idem". Nach Art . 9 PIF-Konvention sind die Mitgliedstaaten nicht daran gehindert, weitergehende innerstaatliche Rechtsvorschriften (z . B. die Einbeziehung grob fahrlässiger Verhaltensweisen) zu erlassen, die über die Verpflichtungen aus diesem Übereinkommen hinausgehen . 26 Der Weg , über deliktsbezogene Übereinkommen zumindest zu einer Mindestharmonisierung im Bereich des materiellen Strafrechts zu gelangen, mag zwar mühsam und langwierig erscheinen, weil völkerrechtliche Übereinkommen zunächst von den berufenen Vertretern der Mitgliedstaaten ausgehandelt, nach erfolgtem Abschluss von den Mitgliedstaaten ratifiziert und sodann in nationales Recht umgesetzt werden müssen . Andererseits bietet dieser Weg den Vorteil, dass es den mitgliedstaatliehen Gesetzgebern überlassen bleibt, wie sie die auf europäischer Ebene erarbeiteten und im Übereinkommen niedergelegten Regelungen in ihr jeweils bestehendes nationales Strafrechtssystem integrieren. Die gesetzestechnische Einpassung kann so unter Berücksichtigung der spezifischen legislatorischen und dogmatischen Gegebenheiten erfolgen. So bleibt es z. B. dem deutschen Gesetzgeber zur freien Entscheidung überlassen, ob er an der klassischen Zweiteilung zwischen dem strafrechtlichen Schutz der Einnahmenseite (§ 370 AG) und Ausgabenseite (§§ 263 ff. StGB) festhält oder nicht.
C. Modelle für die künftige Entwicklung des Europäischen Strafrechts
507
2. Umsetzung in Deutschland Die Umsetzung der PIF-Konvention erfolgte in Deutschland durch das EG-Fi- 27 nanzschutzgesetz v, 10. September 1998 4°. Die Mehrzahl der in dem Übereinkommen genannten Handlungen wurde vom deutschen Recht bereits durch § 370 AO (Einnahmenseite) bzw . §§ 263 , 264 StGB a. F. (Ausgabenseite) erfasst. § 264 StGB wurde den Vorgaben der Konvention angepasst. Neu ist z. B. die nunmehr in § 264 I Nr . 2 StGB geregelte zweckwidrige Verwendung von Subventionerr" . Die Ausdehnung des Subventionsbegriffs auf Leistungen an Private sowie für andere Zwecke als der Wirtschaftsförderung gilt gern. § 264 VII Nr. 2 StGB nur für Subventionen, die nach Gemeinschaftsrecht gew ährt werden. Dies hat zu einer Aufspaltung des Subventionsbegriffs geführt, je nachdem, ob es sich um eine nach nationalem Recht (Bundes- oder Lande srecht) oder nach Union srecht zu erbringende Leistung handelr'". Nach § 6 Nr. 8 StGB unterliegt der Subventionsbetrug dem Weltrechtsprinzip (§ 2 Rn. 48) . Somit können Ausl änder auch dann in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie in einem anderen Land einen Subventionsbetrug zum Nachteil der EU-Finanzinteressen begangen haben. Für die Verfolgung dieser Taten sind in Deutschland gern . § 74 c I Nr .5 GVG die Wirtschaftsstrafkammem zust ändig, wenn der Staatsanwalt wegen der besonderen Bedeutung des Falles Anklage zum Landgericht erhebt.
C. Modelle für die künftige Entwicklung des Europäischen Strafrechts I. Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutze der finanziellen Interessen der EU Als Modellkodifikation für ein künftiges supranationales oder harmonisiertes 28 Strafrecht könnte das Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutze der finanziellen Interessen der EU ("Corpus Juris") von I997 dienen , das in überarbeiteter Fassung (in Anlehnung an den Ort der Abschlusskonferenz) als "Corpus Juris Florence" im September 1999 dem EP vorgelegt wurde". Die Vorschläge des Corpus Juris beziehen sich ausschließlich auf den Schutz der EUFinan zinteressen : " Was wir vor schlagen, ist vielmehr eine Reihe von stra frechtl ichen Regelungen, die eine Art Corpus Juris bilden, die auf den strafrechtlichen Schutz der Finanzinteressen der Europä ischen Union beschränkt und dazu bestimmt sind , in einem weitgehend vereinh eitlichten europäischen Rechtsraum ein 40 41
42
43
BGB!. II 1998 , 2322. Dannecker, Wirtschafts- und Ste uerstrafrecht, 2. Kap . Rn. 134. Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafre cht, 2. Kap. Rn. 133. Vg!. Huber (Hrsg.), Corpus Jur is, passim ; vgl. hierzu auch Dannecker, Wirtschaftsund Steuerstrafrecht , 2. Kap. Rn. 203 ff.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 64 Ir ; Satzge r. Int StR, § 8 Rn. 32 ff.; Sieber, Co rpus Juri s, S. 2 ff.
508
§ 14 Betrugsbekämpfung durch Europäisches Strafrecht
gerechteres, einfacheres und effizienteres Sanktionssystem zu errn öglichen 'r". Dem Corpus Juris liegen die gemeineuropäischen Grundlagen sowie die Ideen der Aufklärung und Garantien der EMRK zugrunde, wodurch nach der Intention seiner Verfasser das Fundament des zukünftigen Europäischen Strafrechts geschaffen werden solr".
1. Wesentlicher Inhalt des Corpus Juris 29 Nach Auffassung der Verfasser des Corpus Juris haben es die bisher unternommenen Schritte der Assimilierung, der justiziellen Kooperation und partieller Harmonisierungsansätze nicht vermocht, ein gerechtes, einfaches und effizientes System zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der EU zu errichten". Die von einer Gruppe europäischer Strafrechtswissenschaftler im Auftrag der Kommission erarbeitete Studie schlägt daher die Einführung straf- und strafverfahrensrechtlicher Normen eines Europäischen Strafrechts vor . Materiellrechtlich ist das Corpus Juris auf eine vollständige Vereinheitlichung der dort vorgesehenen Straftatbestände'" und Sanktionerr", verbunden mit einem Allgemeinen Teil 49 gerichtet. Verfahrensrechtlich wird die Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft und eines Freiheitsrichters vorgeschlagen'". 30 Ausgehend von dem Gesetzlichkeitsprinzip werden in einem Katalog von acht Artikeln (des Corpus Juris Florence; CJ) folgende Straftatbestände formuliert: Art . I CJ : Betrügereien zum Nachteil des Gemeinschaftshaushalts und gleichgestellte Delikte Art . 2 CJ : Betrügereien bei der Erteilung von Aufträgen Art . 3 CJ : Geldwäsche und Hehlerei Art . 4 CJ : Bildung einer kriminellen Vereinigung Art . 5 CJ : Bestechung und Bestechlichkeit Art . 6 CJ : Amtspfl ichtverletzung Art . 7 CJ : Amtsmissbrauch Art . 8 CJ : Bruch des Dienstgeheimnisses 44 45
46
47
48
49
50
Delmas-Marty, Corpus Juris, S. 28. Zu Inhalt und Krit ik am Corpus Juris vgl. die Beiträge von Braum, JZ 2000, 493 , 495 ff. ; Brockhaus , ZIS 2006, 48 I ff.; Hassemer , KritV 1999, 133 ff. ; Manoledakis, KritV 1999, 18I ff.; Duo, JURA 2000, 99 ff. ; Spinellis, KritV 1999, 141 ff. ; Wattenberg. StV 2000, 95 ff: Delmas-Marty, Corpus Juris, S. 10. Vgl. hier zu die Beiträge zur Erstfassung des CJ von Bacigafupo und Duo, in: Huber (Hr sg.), Corpus Juris , S. 129 ff., 141 ff. Vgl. hierzu die Beiträge zur Erstfassung des CJ von Grasso und Träskman , in : Huber (Hr sg.), Corpus Juris , S. 215 ff., 225 ff. Vgl. hierzu die Beiträge zur Erstfassung des CJ von Tiedemann und Neumann. in: Huber (Hrsg.), Corpus Juris , S. 61 rr, 67 ff: Vgl. hier zu die Beiträge zur Erstfassung des CJ von Spencer und Nelle s, in: Huber (Hrsg .), Corpus Juris , S. 249 ff., 261 ff.
C. Modelle für die künft ige Entwicklung des Europäischen Strafrecht s
509
Mit Ausnahme von Taten nach Art. I CJ, bei denen Leichtfertigkeit genügt, 31 wird in subjektiver Hinsicht Vorsatz verlangt (Art . 9 CJ) . Es werden einheitliche Strafen und Maßnahmen für alle Tatbestände vorgeschlagen, die neb en Freiheitsstrafen (bis zu fünf Jahren, in schweren Fällen bis zu sieben Jahr en) und/oder Geldstrafen (höchstens 365 Tagessätze bei einer maximalen Tag essatzhöhe von 3000 Euro) für natürliche Personen auch Sanktionen für juristische Personen wie Geldstrafen (bis zu zehn Mio . Euro), Ausschlu ss von öffentlichen Subventionen oder gerichtliche Überwachung beinhalten (Art . 14 CJ). Für die Ermittlung, Verfolgung, Aburteilung und Strafvollstreckung wird ein europäisches Territorialitätsprinzip'" statuiert, das die Gesamtheit der Staatsgebiete der EG-Mitg liedstaaten umfassen soll (Art . 18 ff. CJ) . Dementsprechend sollen die vorgenannten Aufgaben von einer Europäischen Staatsanwaltschaft wahrgenommen werden . Es handelt sich bei dieser um eine unabhängige Strafverfolgungsbehörde , die sich aus einem Europäischen Generalstaatsanwalt sowie abgeordneten nationalen Europäischen Staatsanwälten zusammensetzt (Art . 18 111 CJ)52. Während der gesamten Vorbereitungsphase nimmt den justiziellen Freiheits- 32 schutz ein unabh äng iger und unparteiischer Richter wahr , der so genannte Freiheitsrichter (Art . 25 I CJ). Jeder Mitgliedstaat benennt einen solchen Richter bei dem Gericht des Ortes , an dem es einen abgeordneten Europäischen Staatsanwalt gibt. Der Freiheitsrichter ist auch zuständig, um bezüglich der Umstände , die Gegen stand der Strafverfolgung sind, Gutachten oder Sicherungsmaßnahmen anzuordnen, sofern die Existenz einer Verbindlichkeit nicht ernstlich zu bestreiten ist und sofern solche Maßnahmen zum Schutz der zivilrechtliehen Ansprüche notwendig und verh ältnismäßig sind . Die Anklageentscheidung des Europäischen Staatsanwaltes unterliegt der Prüfung durch den Freih eitsrichter (Art . 21 111 CJ) . Dieser ruft das nation ale Gericht an, das für das Hauptverfahren zuständig ist, und lädt den Beschuldigten unter Angabe von Tag und Uhrzeit seiner Verhandlung. Der Freiheitsrichter wendet außer dem CJ sein eigen es nation ales Recht an.
2. Bedeutung des Corpus Juris Das CJ lässt bewusst offen , auf welchem Weg es in das Union srecht irnplernen- 33 tiert werden soll'" . Die vorgeschlagenen Regelungen eines bereichsspezifischen Straf- und Strafverfahrensrechts dien en in erster Linie als Diskus sionsgrundlage für die Fortentwicklung des Europäischen Strafrechts'". In der Literatur stoßen vor allem die im CJ angelegte Tendenz zu einer weitreichenden Vorv erlagerung der Strafbarkeit, aber auch die noch nicht in jeder Hinsicht ausgereiften prozessualen Regelungen zum Schutz des Beschuldigten (Verfahrensgarantien) auf Kritik'".
51 52 53 54 55
Vgl. hierzu Ligeti, Strafrecht in der EU, S. 89 ff. Vgl. hierzu Ligeti, Strafrecht in der EU, S. 215 ff. Vgl. hierzu Dannecker, Wirtschaft s- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 206. Vgl. hierzu die zahlreichen Beiträge in Huber (Hrsg.), Corpus Juri s, passim. Vgl. hierzu Braum, JZ 2000 , 493, 498 ff.; Dannec ker, Hirsch-FS, 1999, S. 141, 143 ff.; Salditt, StV 2003 , 136 f.; Wattenberg, StV 2000 , 95, 96 ff
510
§ 14 Betrugsbekämpfung durch Europäisches Strafrecht
34 Vor dem Hintergrund, dass die Entwicklung des Europäische n Strafrechts mit der europä ischen Integration bish er nicht Schritt gehalten hat 56 , unterbreitet das CJ erstmals fundierte Vorschläge zu der Frage, welche europäischen Interessen als strafrechtlich schutzwürdig zu definieren sind und wie dies er Schut z im gesamten europä ischen Raum möglichst effektiv gest altet werd en kann . Den Verfas sern des CJ ist bewusst, dass die hierfür notw end ige Harmonisierung der nationalen Strafrecht ssysteme sowie die erforderliche Zusammenarbeit sich nicht in Form eines "großen Wurfes" einer europäis chen Einhe itslös ung für alle Bereiche des Strafrecht s durch setzen wird. Das zukünftige Europäische Strafrecht wird vielm ehr in vielen Einze lschritte n, zahlreichen bereich sspezifischen Regelungen, verschi edenen Modellen und mit unterschi edlichen Geschwind igke iten entstehen'" . Bei aller Kr itik im Detail kommt dem CJ daher das unbe streitbare Verd ienst zu, e ine breite öffentliche Diskussion über die Rolle des Strafrechts und des Strafprozessre chts im europä ischen Einigungsproze ss ausge löst zu haben.
11. Grünbuch der Kommission
1. Wesentlicher Inhalt des Grünbuchs
35 Die Komm ission hat am 11 . Dezember 2001 ein Grünbuch zum strafrechtlichen
Schutz der finanziellen Interessen der EG und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft vorgelegt'" . Mit ihrem dort zur Disku ssion gestellten Konzept eines europäischen Finanzstrafrechts und der Schaffung einer supranationalen Strafverfolgungsbehörde lehnt sich die Kommi ssion eng an das Modell des CJ an. Der neu zu schaffende Art. 280 a EGV soll nach dem Vorschlag der Kommission folgenden Wortl aut haben: ,,1. Um einen Beitrag zur Verwirklichung der Ziele des Art. 280 I EGV zu leisten , ernennt der Rat , der auf Vorschlag der Kommission mit qualifizierter Mehrheit und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments beschließt, für eine nicht verlängerbare Amtszeit von sechs J ahren einen Europäischen Staatsanwalt. Der Europäische Staatsanwalt hat die Aufgabe, gegen Täter von Straftaten und Teilnehmer an St raftaten, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft richten, zu ermitteln, sie st rafr echtlich zu verfolgen und wegen dieser St raftaten vor den zuständigen Gerichten der Mitgliedstaaten öffentliche Anklage gemäß den in Absatz 3 gena nnten Vor schriften zu erheben. 2. Der Europäische Staatsanwalt wird unter Pers önlichkeiten ausgewählt, die jede Gewähr für Unabh ängigkeit bieten und in ihrem Staat die für die Ausübung höchster richterlicher Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen. Er darf bei der Erfüllung seiner Pflichten Anweisungen weder anfordern noch entgegenneh56 57 58
Sieber, Corpus Juris, S. 2. Sieber , Corpus Juris, S. 3.
KOM (200I) 715 endg. (abrufbar im Internet auf der Homepage der Kommission unter http://www.europa.eu.int; vgl. auch die .Follow-Up-Mitteilung" der Kommission in KOM (2003) 128 endg. v. 19. März 2003; vgl. hierzu Hetzer, Kriminalistik 2005, S. 419, 426 ff.; ders., ZfZ 2005, 223 225 ff.
C. Modelle für die künftige Entwicklun g des Europäischen Strafrechts
511
men , Er kann auf Antrag des Parlaments, des Rats oder der Kommission vom Gerichtshof seines Amtes enthoben werden, wenn er die Voraussetzungen für die Ausübung seines Amtes nicht mehr erfüllt oder eine schwere Verfehlung begangen hat . Der Rat legt das Statut des Europäischen Staatsanwalts nach dem Verfahren des Art. 251 EGV fest ...." ,
Die Kommission lässt die Frage offen , auf welcher materiellrechtlichen Basis der 36 Europäische Staatsanwalt tätig werden soll und begnügt sich mit einer Auflistung der in Betracht kommenden M öglichkeiten'". Die Kommis sion schlägt vor, folgenden Art. 280 alliin den EGV einzufügen : " Der Rat legt nach dem Verfahren des Art. 251 die Bedingungen für die Ausübung des Amtes des Europäischen Staatsanwalts fest und erlässt insbesondere (a) Vorschriften zur Festlegung der Tatbestandsmerkmale von Betrug und jeder anderen rechtswidrigen Handlung, die gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichtet ist, sowie der Strafen für alle Straftatbestände; ..." .
Nach Auffassung der Komm ission soll sich die Frage, wie das für die Arbeit des 37 Europäischen Staatsanwaltes notwendige "gemeinsame materielle Recht" am besten festgelegt werden kann , im Rahmen des Grünbuchs unter neuen Vorzeichen stellen'". Das Mandat des Europäischen Staatsanwaltes soll mater iellrechtlich jedenfalls kein umfassendes sein, sondern sich entsprechend der Zielrichtung des Schutzes der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaft auf einen bestimmten Katalog einschlägiger Delikte beschränken . Was den Inhalt dieser Tatbestände anbelangt, bezieht sich die Kommi ssion auf ihren Richtlinienvorschlag v. 23. Mai 2001 61 • Dieser definiert in Kapitel 111. vier Straftatbestände: Betrug (aller Arten) , Bestechlichkeit, Bestechung und Geldwäsche. Darüber sollen in Anlehnung an die Arbeit en zum Cl nunmehr auch Delikte wie Ausschreibungsbetrug, Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, Missbrauch von Amtsbefugnissen und Verletzung des Dienstg eheimnisses normiert und der Verfolgungszuständigkeit des Europäischen Staatsanwaltes unterstellt werden . Um auf supran ational e Strafverfahrensregelungen verzichten zu können , 38 schlägt die Kommis sion vor, den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zum Leitprin zip des europäischen Ermittlungsverfahrens zu erheb en. Strafprozessuale Eingriffsmaßnahmen, die durch ein Gericht eines Mitgliedstaates angeordnet oder genehmigt wurden , sollen demnach injedem anderen Mitglied staat ohne weitere gerichtliche Prüfung vollstreckt werden können'<. Auch sollen Beweise , die in einem Mitgliedstaat nach dessen Recht legal erhoben worden sind, von dem Strafgericht eines anderen Mitgliedstaates verwertet werden d ürfen'". Ist der Euro59 60
61
62 63
Vgl. Grünbuch, S. 36 ff. Vgl. Grünbuch. S. 36. KOM (200 I), 272 endg. (ABLEG 200 I Nr. C 240 E, S. 19); vgl. hierzu Satzger, ZRP 2001,537 Ir Vgl. auch die überarbeitete Fassung des Richtlinienvorschlags v. 16 Oktober 2002 in KOM (2002), 577 endg. Vgl. Grünbuch, S. 55 ff: Vgl. Grünbuch, S. 63 ff.
512
§ 14 Betrugsbekämpfung durch Europäisches Strafrecht
päische Staatsanwalt nach Abschluss der Ermittlungen zu der Überzeugung gelangt, ausreichende Beweise dafür zu haben , dass eine Verurteilung des Beschuldigten wahrscheinlicher ist als ein Freispruch - es bleibt die Frage nach dem Maß des Verdachtes -, soll er Anklage vor einem Gericht eines Mitgliedstaates erheben. Form, Inhalt und Kontrolle der Anklageschrift sollen sich dabei allein nach dem jeweiligen nationalen Recht des Staates richten , bei dessen Gericht Anklage erhoben worden ist. Wo dies im Einzelfall zu erfolgen hat, soll sich aus vom Gemeinschaftsgesetzgeber festzulegenden bestimmten Kriterien ergeben. Für den Fall, dass nach jenen Vorschriften in mehreren Mitgliedstaaten Anklage erhoben werden könnte , soll der Europäische Staatsanwalt nach pflichtgemäßem Ermessen ein Gericht auswählen oder die Verfahren trennen und in verschiedenen Staaten Anklage erheb en dürfen . Bezüglich der Kontrolle dieser Entscheidung des Europäischen Staatsanwaltes über den Anklageort stellt die Kommission drei Möglichkeiten zur Diskussion: Entweder die Kontrolle seitens des nationalen Gerichts, bei dem Anklage erhoben wird oder die Kontrolle seitens eines dafür einzurichtenden Gerichts auf Gemeinschaftsebene - einer " Europäischen Vorv erfahrenskammer" oder, drittens, der Ausschluss jeglicher Kontroll e, getragen von dem Vertrauen in die Gleichwertigkeit der nationalen Rechtssysteme.
2. Kritische Würdigung 39 Auf das vom Grünbuch zum strafprozessualen Leitsatz erhobene Prinzip der gegenseitigen Anerkennung wurde bereits an anderer Stelle kriti sch eingegangen (§ 12 Rn. 50 ff.). Die folgende Würdigung des Grünbuchvorschlages konzentriert sich daher auf die im Grünbuch angedachte Errichtung einer Europäischen Finanzstaatsanwaltschaft . 40 Zunächst ist festzustellen, dass die Europäische Staatsanwaltschaft - wenn sie ins Leben gerufen würd e, ohne dass zuvor eine supranationale Strafrechtsbasis hergestellt wurde - zwangsläufig nur mitgliedstaatliches Strafre cht vollziehen könnte. Dabei liegt ein grundlegendes Problem schon darin begründet, dass auch bei europaweit harmonisierten Straftatbeständen zu erwarten ist, dass diese von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat abweichend, nämlich im Lichte nationaler Auslegungsmaximen interpretiert werden , was angesichts des unterschiedlichen richterlichen Selbstverständnisses in den jeweiligen EU-Staaten, verbunden auch mit unterschiedlichen rechtskulturellen Prägungen zu Divergenzen bei der Auslegung der Tatbestandsmerkmal e und ihrem Zusammenspi el mit Zurechnungsnormen des Allgemeinen Teils führen könnte'". Darüber hinaus sind nicht nur die materiellrechtlichen Grundlagen von Bedeutung, sondern auch die Strafzumessungspraxis. Betrachtet man allein die von Bundesland zu Bundesland divergierende Sanktionspraxis innerhalb Deutschlands ("Nord-Süd-Gefälle"), die doch auf einem einheitlichen Rechtsrahmen beruht, so wird die Schwierigkeit deutlich, eine auch nur einigermaßen kohärente Strafzumessungspraxis innerhalb Europas zu erzielen'". Weitere Probleme wirft die Strafzumessung im Einzelfall auf. Dies gilt etwa für 64
65
Vgl. hierzu Perron, ZStW 109 (1997) , S. 281, 288. Vgl. hierzu König, NJW-Sonderheft BayObLG 2005 , 57, 58.
C. Modelle für die künftige Entwicklung des Europäischen Strafrechts
513
die Berücksichtigung des Vorlebens, namentlich von Vorverurteilungen des Täters . Soll das aburteilende Gericht mit Strafen, die durch ein Strafgericht eines anderen Mitgliedstaats verhängt worden sind, eine nachträgliche Gesamtstrafe bzw. Einheitsstrafe bilden können oder ist hier europaweit nach den Grundsätzen des Härteausgleichs zu verfahren? - Kann ein deutsches Gericht Sicherungsverwahrung anordnen, wenn die formalen Voraussetzungen aufgrund ausländischer Verurteilungen vorliegen? - Dürfen auch Sanktionen berücksichtigt werden, die im jeweils anderen Mitgliedstaat nicht existieren? - Die Fülle der hier nur kursorisch angedeuteten Schwierigkeiten lässt erhebliche Zweifel daran aufkommen, ob es sinnvoll und wünschenswert erscheint, eine europäische Strafverfolgungsinstitu-tion ins Leben zu rufen , solange keine supranationalen materiellrechtlichen Grundlagen geschaffen wurden (vgl. aber zu den sich aus Art . 325 IV AEUV ergebenden Perspektiven Rn. 47) . Im Übrigen ist nicht ohne weiteres einsichtig, warum ein supranationales Straf- 41 verfolgungsorgan besser in der Lage sein soll, nationale Strafrechtsnormen effektiv anzuwenden und durchzusetzen als die seit jeher damit betrauten nationalen Strafverfolgungsbehörden. Den "Mehrwert" einer Europäischen Staatsanwaltschaft könnte man freilich darin sehen , dass sie eine von nationalen Interessen losgelöste Strafverfolgung garantiert und dass sie grenzüberschreitende Ermittlungs- und Strafverfolgungsmaßnahmen möglicherweise effektiver koordinieren kann als eine nationale Strafverfolgungsbehörde. Das Gewicht dieser denkbaren Vorteile sollte jedoch nicht überschätzt und gegenüber den drohenden Nachteilen sorgfältig abgewogen werden . Zum einen ist anerkannt, dass das Unterlassen einer Strafverfolgung unter bestimmten Voraussetzungen gemeinschaftsrechtswidrig sein und ein Vertragsverletzungsverfahren nach sich ziehen kann'". Kein Mitgliedstaat kann es sich daher auf Dauer erlauben, strafbare Verstöße gegen Unionsinteressen - etwa aus Unwillen oder Desinteresse - systematisch unverfolgt zu lassen . Zum anderen bietet sich in der gegenwärtigen Entwicklungsphase der transnationalen Strafrechtsptlege eine verstärkte Nutzung und Fortentwicklung bereits vorhandener Instrumente der grenzüberschreitenden Kooperation, insbesondere die seit 28 . Februar 2002 tätige Koordinierungsstelle Eurojust (§ 5 Rn. 70 ff.) als echte und vorzugswürdige Alternative an'". Die mitgliedstaatliche Souveränität bliebe unangetastet. Ein kontliktträchtiges Nebeneinander zweier Strafrechtsorgane - eines europäischen und eines nationalen - die ihre Tätigkeit beide auf der Basis mitgliedstaatliehen Strafrechts vollziehen, würde ebenso vermieden wie die Gefahr von Kompetenzstreitigkeiten in den (nicht eben seltenen) Fällen , in denen eine Tat im prozessualen Sinne sich sowohl gegen unionsrechtliche wie nationale Rechtsgüter richtet. Die hieraus resultierenden Probleme, z. 8. Strafklageverbrauch, Koordinierung der Ermittlungen, auch zur Vermeidung unergiebiger oder schädlicher Parallelermittlungen, Stellung des Beschuldigten sowie Zuständigkeit für Verfolgung und Rechtsschutz, die mit der Begrenzung der Zuständigkeit auf den engen Bereich des Schutzes der EU-Finanzinteressen einhergehen, sollten nicht unterschätzt werden . Überdacht werden sollte auch die Frage einer 66 67
Vgl. hierzu nur Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 149 ff. Vgl. hierzu nur Schomburg, ZRP 1999,237 ff. und Dieckmann , NStZ 2001,617,620.
514
§ 14 Betrugsbekämpfung durch Europäisches Strafrecht
parlamentarischen Kontrolle der Europäischen Staatsanwaltschaft. Der Europäische Staatsanwalt ist gemäß dem Kommissionsentwurf für einen neuen Art . 280 a Nr. 2 S. 2 EGV weisungsunabhängig und damit keinem Parlament rechenschaftspflichtig. Das Amtsenthebungsverfahren gemäß Art . 280 a Nr. 2 S. 3 EGV gewährleistet keine ausreichende Kontrolle des supranationalen Strafverfolgungsorgans . 42 Das im Grünbuch angelegte Modell eines europäischen Ermittlungsverfahrens mit seinem Herzstück - dem Europäischen Staatsanwalt - vermag in dieser Form nicht zu überzeugen und erscheint beim gegenwärtig erreichten Stand der grenzüberschreitenden Kooperation der Mitgliedstaaten als allzu voreiliger " Schnellschuss", dessen " Risiken und Nebenwirkungen" den versprochenen Mehrwert in Frage stellen'". Da die Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft ohnehin nur eine von mehreren Möglichkeiten zur Verbesserung des Schutzes der EU-Finanzinteressen darstellt, muss der Grünbuchvorschlag einem kritischen Vergleich mit anderen Optionen einer europäischen Kriminalpolitik unterzogen werden. Vorrangig sollte über eine verstärkte Nutzung und Fortentwicklung der bereits vorhandenen Formen der transnationalen Zusammenarbeit diskutiert werden. Die Zeit ist noch nicht reif für die Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft. Bevor einer geradezu revolutionären Umwälzung auf dem Gebiet der Strafrechtspflege das Wort geredet wird, sollten auf der Ebene der Union und der Mitgliedstaaten vorrangig alle nur denkbaren präventiv-administrativen Möglichkeiten ausgeschöpft werden , um die Betrugsanfälligkeit des bestehenden "kriminogenen" EU-Subventions- und Finanzwesens zu minimieren. Das Kriminalstrafrecht kann und soll diese Maßnahmen flankieren bzw . ergänzen, aber nicht ersetzen. In allen Mitgliedstaaten sollte ein annähernd gleicher strafrechtlicher Mindestschutzstandard etabliert werden . Das Inkrafttreten der PIF-Konvention ist bereits ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Die Koordinierung der transnationalen Zusammenarbeit zwischen den mitgliedstaatliehen Strafverfolgungsbehörden sollte durch den Ausbau von Eurojust verbessert werden . Es gilt, alle bereits verfügbaren präventiven und repressiven Instrumente zu optimieren. Erst wenn dies geschehen und ihr Versagen erwiesen ist, erscheint es gerechtfertigt, sich an tiefergehende Einschnitte in die gewachsenen nationalen Strafrechtskulturen der Mitgliedstaaten heranzuwagen.
68
Vgl. auch die berechtigte Kritik von Böse, PJZS im Verfassungsentwurf, S. 157 ff.; Radtke, GA 2004, 1, 16 Ir; Satzger, StV 2003, 137, 139 und Sommer, StV 2003, 126 ff.
C. Modelle für die künft ige Entwicklung des Europäischen Strafrecht s
515
11I. Supranationales Betrugsstrafrecht Der am I. Dezember 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon lässt Harmoni- 43 sierungsmaßnahmen auf dem Gebiet des strafrechtlichen EU-Finanzschutzes gem . Art . 83 11 AEUV i. V. m. Art . 325 IV AEUV in Form von Mindestangleichungen durch Richtlinien zu (§ 4 Rn. 81 ; § 8 Rn. 46). Der in den Abschnitt .B etrugsbekämpfung" eingefugte Art . 325 IV AEUV lässt sogar die Möglichkeit unmittelbar geltender europäischer Straftatbestände in Verordnungsform aufscheinen. Art. 325 IV AEUV lautet: "Zur Gewährleistung eines effektiven und gleichwertigen Schutzes in den Mitgliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union beschließen das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Anhörung des Rechnungshofs die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten."
Der Wegfall der in ex-Art. 280 IV S. 2 EGV enthaltenen Vorb ehaltsklausel'" 44
(" Die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten ...bleibt unberührt ") und
d ie Offenheit des Art . 325 IV A EUV für die Wahl der Handlungsform (Richtlin ie oder Verordnung) lässt die Auslegung zu, dass auf sein er Grundlage auch supranationale Straftatbestände erlassen werden dürfen' P. Denkbar wäre z. 8. d ie Ausformulierung konkreter Strafvorschriften nach dem Modell des Cl (Rn . 32). Die auf rechtsangleichende Richtlinien zugeschnittene "Notbremsenrege lung" des Art . 83 III AEUV (§ 8 Rn. 56 ff.) kann einem so lchen supranationalen Tatbestand nicht entgegengehalten werden?" . Mit diesem Schritt wäre der Durchbruch für ein Europä isches Strafrecht im engeren Sinne erzielt, wenngleich auch nur beschränkt auf den Bereich der Et.I-Berrugsbekämpfung'". Solche Europastraftaten im engen Sinn e könnten von einer nach Art. 86 AEUV einzurichtende n Europäischen Staatsanwaltschaft verfolgt werden.
69
70
71 72
Sie bildete eines der Haupt argumente gegen die Annahme einer Strafrechtsetzungskompetenz der EG gern. ex-Art. 280 IV S. 1 EGV; vgl. hierzu Fromm, Finanzinteressen der EG, S. 304 ff. Fromm, EG-Rcchtssetzungsbefugnis, S. 61 rr, 73; StraFo 2008, 358, 365; Heger, Z IS 2009, 406, 416 ; Mansdo rfer , I-IRRS 2010 , 11, 18; Meyer, NStZ 2009, 657, 658; Rosenau, ZIS 2008, 9, 16; Satzger, IntStR, § 8 Rn. 24 ff.; ders., KritV 2008, 17, 25; Sieber, ZStW 121 (2009 ), 1, 59; Zimmermann, Jura 2009 , 844, 845 f. Satzger, IntStR, § 9 Rn. 53. Ambos, IntStR, § 11 Rn. 13; Dannecker, ZStW 117 (2005) , S. 697, 743 C; ders., JURA 2006, 173, 176; Rosenau, Z IS 2008, 9, 16; Tiedemann, ZStW 116 (2004) , S. 945, 954 ff.; Walter, ZStW 117 (2005) , S. 912, 917 C; Weigend, ZStW 116 (2004), S. 275, 288.
516
§ 14 Betrugsbekämpfung durch Europäisches Strafrecht
D. Literaturhinweise Brockhaus, Die Europäisierung des Versuchs und Rücktr itts im Wirtschaftsstrafrecht - Eine Untersuchung zu Art. 11bis Corpus Ju ris 2000 , Z IS 2006 , 481 Dan necker, Strafrecht licher Schutz der Finanzinteressen der Europäischen Gemeinschaft gege n Tä uschung, ZStW 108 (1996), S. 577 ders., Das Übereinkomm en über den Schutz der finanziell en Interessen der Europäischen Geme inschaften, in: Leitner (Hr sg.), Aktuelles zum Finanzstrafrec ht, 1998, S. 9 ders., in: WabnitzlJanovsky (Hrsg .), Handbu ch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 3. Aufl., 200 7, 2. Kap. Rn. 51-58, Rn. 124-162 Fromm, Der strafrechtliche Schutz der Finanzinteressen der EG - Die Frage der Einführung einer supranationalen Strafrechtsk ompete nz durch Artikel 280 IV EGV, 2004, passim Groblinghoff Die Verpfli chtun g des deut schen Strafgesetzgebers zum Schutz der Interessen der Europäischen Gemeinschaften, 1996, S. 149-166 Hecker, Ist die Zeit reif für die Schaffung eines " Europäischen Staatsanwaltes" zum Schutz der EG-Finanzinteressen?, in: Kube/Sch neider/Stock (Hrsg.), Freundesg abe für A. Kreuzer, 2003 , S. 181 Hedimann. Unrege lmäß igkeiten und Betrug im europäischen Agrarsek tor, EuR 2002 , 122 Hetzer, Europäische Betrugsbekämpfung - Recht sgüte rschutz und Grundrechte - Teil I -, ZfZ 2005 , 185; Teil 11, ZfZ 2005 , 223 ders. , Schutz der finanz iellen Interessen der Europäischen Union - Aufga ben und Befugnisse des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (O LAF), Kriminalistik 2005 , 419 Huber (Hrsg.), Das Corpus Jur is als Grundlage eines Europäischen Strafrechts, 2000 , passim Ligeti, Strafrecht und strafrechtliche Zusammenarbeit in der Europäischen Union , 2005 , S. 89- 9 1; 2 15- 2 18; 23 1- 233; 273- 295 Otto, Das Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäische n Union, JURA 2000 , 98 Radtke, Der Europäische Staatsanwalt - Ein Mode ll für Strafverfolgung in Europa mit Zukunft?, GA 2004 , I Satzger , Gefahren für eine effektive Verte idigung im geplanten europäischen Verfahrensrecht, StV 2003 , 137 ders., Internationales und Europäisches Strafrecht, 4. Aufl ., 2010 , § 8 Rn. 18-3 7 Schwarzburg/Hamdo rf, Brauche n wir ein EU-Finanz-Strafgeset zbuch?, NStZ 2002 , 617 Sieber, Sub ventionsbetrug und Steuerh interziehung zum Nachtei l der Europäischen Gemeinschaft, SchwZStrR 114 ( 1996), S. 357 ders. , Auf dem Weg zu einem europäischen Strafrecht - Corpus Juris der strafrechtlichen Regelun gen zum Schutz der finanz iellen Interessen der Europäischen Union, in: Delmas-Marty (Hrsg.), Corpus Juris der strafrechtliche n Regelunge n zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union, 1998, S. 2 ders., Bekä mpfung des EG-Betrugs und Perspektiven der europäischen Amts- und Rechtshilfe, ZRP 2000 , 186 Tiedemann, Der Schutz der Finanzinteressen der Europäischen Gemeinschaft, NJW 1990, 2226 Walter, Inwieweit erlaubt die Europäische Verfassung ein europäisches Strafgesetz?, ZStW 117 (2005) , S. 912
E. Zusammenfassung von § 14
517
Wattenberg. Der "Corpus Jur is" - Tauglicher Entwurf für ein einheitliches europäisches Straf- und Strafprozessrecht?, StV 2000 , 95 WolffgangfUlrich, Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften,
EuR 1998,616
Zieschang, Das Übereinkommen zum Schutz der finanziellen Interessen der EG und seine
Auswirkungen auf das deutsche Strafrecht, EuZW 1997, 78
E. Zusammenfassung von § 14 Der EU-Finanzhaushalt bildet eine attraktive Zielscheibe für eine facettenreiche 45 Vielzahl betrügerischer Praktiken, welche letztlich darauf abzielen, das Finanzaufkommen der Union zu schmälern. Dabei sind auf der Einnahmenseite insbesondere die Zölle und Mehrwertsteuereinnahmen, auf der Ausgabenseite vor allem die Aufwendungen für die Agrar- und Strukturpolitik (Subventionen, Erstattungen) betroffen. Die zum Nachteil des EU-Finanzhaushalts begangenen Betrugs-, Steuer und Zolldelikte stellen typische Erscheinungsformen der - auch organisierten - Wirtschaftskriminalität dar. Sie werden von intelligent operierenden Tätern bzw . Tätergruppen mit der Zielrichtung begangen, durch geschickte Manipulationen hohe Gewinne zu erzielen und zugleich Entdeckungsrisiken zu minimieren. Der Schutz der EU-Finanzinteressen steht daher seit Jahren im Zentrum der strafrechtsrelevanten Aktivitäten auf Unionsebene. Die Mitgliedstaaten sind gern. Art . 325 I, 11 A EUV zu einem effektiven Schutz der EU-Finanzinteressen verpflichtet. Zwar existieren in all en Mitgli edstaaten einschlägige Straftatbestände wie etwa 46 Betrug, Subventionsbetrug, Steuer- und Abgabenhinterziehung sowie Urkundenfälschung. Als problematisch erweist sich jedoch der Befund , dass diese Tatbestände in den jeweiligen Mitgliedstaaten inhaltlich zum Teil höchst unterschiedlich ausgeformt sind , etwa was die Strafbarkeit der Fahrl ässigkeitstat, des Versuchs , die strafrechtliche Haftung juristischer Personen sowie die Art und Höhe der vorgesehenen Sanktionen betrifft. Die bisherige Entwicklung des Europ äischen Strafrechts zum Schutz der EU-Finanzinteressen zielte deshalb auf die Schaffung eines strafrechtlichen Mindestschutzstandards in den Mitgliedstaaten ab . Eine Vorreiterrolle auf dem Weg zu einem unionsweit angeglichenen Betrugstrafrecht nimmt das Übereinkommen v, 26. Juli 1995 betreffend den Schutz der finanziellen Interessen der EG (PIF-Konvention) ein , das am 17. Oktober 2002 nach über siebenj ähriger Ratifikationsphase in Kraft trat. In Deutschland erfolgte die Umsetzung der PIF-Konvention durch das EG-Fina nzschutzgesetz vom 10. September 1998. Insbesondere im Rahmen des § 264 StGB (Subventionsbetrug) führte die Anpassung an die Konventionsvorgaben zu einschneidenden Veränderungen. Als Modellkodifikation für ein künftiges supranat ionales oder harmonisiertes 47 Strafrecht könnte das Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der EU . Dieses Regelwerk schlägt die Einführung straf- und strafverfahrensrechtlicher Normen eines Europ äischen Straf-
518
§ 14 Betrugsbekämpfung durch Europäisches Strafrecht
rechts vor. Materiellrechtlich ist das Cl auf eine vollständige Vereinheitlichung der dort vorgesehenen Straftatbestände und Sanktionen, verbunden mit einem Allgemeinen Teil gerichtet. Verfahrensrechtlich wird die Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft und eines Freiheitsrichters vorgeschlagen. 48 Weitreichende Reformvorschläge finden sich auch in dem von der Kommission am 11 . Dezember 200 I vorgelegten Grünbuch zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft. Nach Auffassung der Kommission soll sich die Frage , wie das für die Arbeit des Europäischen Staatsanwaltes notwendige gemeinsame materielle Recht am besten festgelegt werden kann, im Rahmen des Grünbuchs unter neuen Vorzeichen stellen . Das Mandat des Europäischen Staatsanwaltes soll materiellrechtlich jedenfalls kein umfassendes sein, sondern sich entsprechend der Zielrichtung des Schutzes der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaft auf einen bestimmten Katalog einschlägiger Delikte beschränken. Die Kommission betont, dass der Schw erpunkt der derz eitigen Hindernisse bei der transnationalen Strafverfolgung in den Unterschieden der nationalen Rechtssysteme im Vor- und nicht etwa im Hauptverfahren begründet liege. Dementsprechend legt sie besonderes Gewicht auf die Ausgestaltung des Ermittlungsverfahrens. Um auf supranationale Regelungen verzichten zu können, schlägt die Kommission vor, den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zum Leitprinzip des europäischen Ermittlungsverfahrens zu erheben. 49 Der Durchbruch zu einem Europäischen Strafrecht im engeren Sinne könnte auf der Grundlage des am I . Dezember 2009 in Kraft getretenen Lissabonner Reformvertrags gelingen. Nach Art . 325 IV AEUV dürfen - bezogen auf den Schutz der EU-Finanzinteressen - auch supranationale Straftatbestände in Verordnungsform erlassen werden . Solche Europastraftaten im engen Sinne könnten von einer nach Art . 86 AEUV einzurichtenden Europäischen Staatsanwaltschaft verfolgt werden .
B. Hecker, Europäisches Strafrecht, DOI 10.1007/978-3-642-13127-1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
520
Stichwortverzeichnis
Cyber Crime II 118 Cyber-C rime-Konvention des Europarats 3 11, II 98
n
Denial of Service-Angriff II 105 Deutsche r - als Opfer einer Stra ftat 2 45 - als Täter einer Straftat 2 43 ff. Deutsch-schweiz. Poli zeivertr ag 5 77 ff. Dienstleistungsfr eiheit aktive - 9 32, 40 ff passive - 93 7,40 ff. Direct Enforcement Model 2 83 Diskrim inierung - sverbot 9 14, 40 geschlechtsspezifisch e - 10 5 Inländer- 9 35, 40 Distan zdelikte 2 30 ff: Dopp elbestrafung - sverbot als allgem einer Gru nd satz des Unions rechts 13 3 - sverbot im nationalen Recht 13 2, 4 EG-ne bis in idem-Übk 13 10 Euro päisches Übereinkommen über die internati onale Ge ltung von Strafurtei len 139 transnationa les Ver bot der - in der EU 13 1 fI ,26fI vö lkerrechtliches Verbot de r - 13 2 Doppelte Mehrheit Prinz ip der - n Mehr heit 4 7 Drogenhandel 5 8, 54, II 2, 48 ff. Rahm enbeschluss zu r Bekämpfung des illegal en - s II 52 ff. UN-Suchtsto ffübK 5 8 Durchgriffswirkun g - von Richtli nien 4 53
E Einzelermächtigu ng Prinz ip der begrenzten - 4 45 Einziehung von Erträge n aus Straftaten 5 20 Entsprech ungs klausel 7 100 Erfolgsort - bei Gefährdun gsdelikten 2 33 ff., 36 ff. - beim Unte rlass ungs de likt 2 16, 19 - beim versuch ten Delikt 2 16, 18, 22 - beim volle ndeten Delikt 2 16, 18 - der Teil nahm e 2 16, 20 f.
Ermitt lungsgrun dsa tz 6 19 EU-Betrug 14 8 ff. Eur o Rahmenbeschlu ss zum stra frechtlicher Schutz des - 8 24, II 80 ff. Verordn ung des Rates über die Einführung des - 8 22 f. Euroj ust 5 70 ff: Europa - als kriminalgeo graphi scher Raum 1 33 - der zwei Ge schw indigkeiten 5 29 Eur opä ische Bewei sanordnun g 12 10 ff. Eur opäische Menschenrechtskonvent ion (EMRK) 3 4, 18 ff. Europäische Staatsanwaltschaft 14 29, 31, 35 ff., 39 ff., 44 Europäische Union (EU) 4 Europäische Ve rfass ung 1 3 Eur opäisch er Gerichtsho f (E uG H) 4 32 ff. strafrech tsrelevante Aktivi täten des - 4 41 Eur opäisch er Gerichtsho f für Men sche nrecht e (EGMR) 3 6, 20 ff., 24 ff. Europäischer Haftbefehl 1220 ff: Europäischer Rat 4 3 Europäischer Rechnungsh of 442 ff. Eur opäisches Amt für Betru gsbekämpfung (OLAF) 4 19 ff. Eur opä isches Aus lieferungs übereinkommen (EuAl Übk) 2 70,311 , 13, 16, 12 15 Europäisches Haftbefe hlsgesetz ( EuHbG) 12 39 ff. Europäisches Justizielles Netz (EJN) 5 66 Europäisches Kartellrecht 4 15, 64, 76 Eur opä isches Parlament 4 25 ff. strafrechtsrelevante Aktivi täten des - 4 31 Eur opä isches Strafrecht 1 5 ff Europäisches Überei nkommen über Geldwäsche sowie Ermitt lung, Beschlagnahme und Einzieh ung von Erträge n aus Strafta ten 5 20 Eur opä isches Übereinkomm en über die Rechtshilfe in Strafsachen (EuRh Übk) 311 ,13 ,1 6,12 6 Eur opäisches Übereinkomm en zur Datennetzkrimina lität 5 23 Europäisches Verfassungsrecht 1 17 Europäisches Verwaltu ngssanktion enrech t 4 66
Stichwortverzeichnis Europäisierung - de s nationalen Strafrechts 1 5 ff. - seffekte 1 20 ff. Europarat 3 1 ff. Europarecht 1 16 European Commitee on Crim e Probl em s (ECCP) 310 European Drug Unit (ED U) 5 57 f. Europol 5 59 f[ F Fahndungskategorien im SIS 5 51 Fah rl ässigkeitsdel ikte unionsrechtskonforme Au slegung de r IO 74 ff. Fair-trial-Prinzip 3 53 ff. Financial Act ion Task Force on Money Laundering (FATF) 5 16 Flaggenprinzip 2 42 Folterverbot 339 ff., 74 Frage- und Konfrontation srecht 3 57 ff. Freiheitsrichter 1429,32 Fremdenfeindlichkeit 11 127 ff. Rahmenbeschluss zur Bek ämpfung von Rassismu s und - 11 128 ff. Fru strationsverbot 10 30 Führerscheintourismus 6 13 ff
G Gebietsgrundsatz siehe Te rritorialitätsprinz ip Geg en seitige Anerk ennung 913,25,47,129, 34 ,50 ff. - der Wirkung von Ve rurteilungen 1253 - im Rahmen de s tran snationalen Doppelbestrafun gsverbots 13 55 Tr agfä hig kei t der - beim tran snationalen Beweistrans fer 12 59 f[ - von Sanktionen 1252 Geh eimhaltungsptlichten Verletzung von - 7 13 f. Geldbußen 4 64 Geldfälschungsdelikte 8 21 ff. Geldwäsche Europäisches Übe reinkommen über sowi e Ermittlung, Beschlagnahme und Einz iehung von Erträge n au s Straftaten 5 20 Rahm enb eschluss zur Bekämpfung der 8 16, 11 65 ff.
521
Geldwäscherichtl inien 8 I, 11 ff Geldwäschestrafrecht 8 11 ff. Gemeinsame Agrarpolitik 841 Gemeinsame Außen- und Sicherhe itspolitik (GASP) 4 58 Gem ein sam e Ermittlungsg ruppe n 5 64 Gem ein sam e Verk ehrspolitik 8 42 Genuine link 2 9 Gleichst ellung der Beamten 5 32 , 44 ff. Gleichstellungs erfor dem is 7 26 ff. Gleichstellungs klauseln 7 68 ff Grenzüberschreitende Nacheile 5 41 ff., 86 ff. Grenzüberschreitende Ob servation 5 36 ff., 82 f[ Gren züberschreit end e Werb ekampagne 9 34 [ Gri echischer Mai sskandal 7 24 f[ Grünbuch 1437 ff. Gru ndrechtecharta der EU 13 14,20,38 f.
H Hack ing IO 80,11 97 , 102, 109 Haftbefehl Rahmenbe schluss Europä ischer - 12 20 f[ Europäisches - sgesetz (Eu HbG) 1239 f[ Handlungsort 2 16 r, 32 , 38 Harmoni sierung - de s Stra frechts 8, 11 Harmoni sierungsbefugnisse der EU Ann exkompetenz der EU 8 2 ff., 36 ff. or iginäre strafrechtl iche - der EU 11 3 ff Herkunftslandprinzi p 12 50, 58
I Immunitätenprotokoll 5 59 Implied powers 4 41,73 ,76 Ind irect Enforcement Model 2 85 Ind ividual beschwerde 3 20, 23 , 26 ff. Ind ividualschutzfunkt ion de s Vor abentsch eidungsverfahrens 6 3 Ind ividual schutzprin zip 2 49 Informationsau stausch über Strafreg istereinträge 12 53 Informationssystem e 11 97 ff. Deni al of Service-Ang riff 11 105
522
Stichwortverzeichnis
Rahmenbeschluss zum Schutz vor Ang riffen auf - II 99 ff. Informelle Zu sammenarbe it 5 2, 18, 26 ff. Inländerdiskriminierun g 9 35, 40 Inlandsbegriff2 12 Inlandstaten Anwendung des de utschen Strafrechts auf ~ 2 1 2 ff.
Insider- Richt lin ie 847 Intergouvern ementale Zu sammenarbeit in der EU 4 107,5 25 ff Intern ational-arbeitsteil ige Strafrechtspflege 5 I, II 1 ff., 13 34 Intern ationaler Pakt für bürgerliche und politisch e Recht e (IPI3PR) 5 5, 13 3 Internationale r Strafgerichtshof (IStGI-I) 2 86 Internationa les Strafrech t 2 2 ff. Interpol 5 3 Irreführungsverbot lebensmittelrechtl iches - 10 15 ff . unionsrechtskonform e Auslegun g des - s 101 9ff.
J
Joint Investigation Team s 5 64 Ju risdiktionskon tlikte 2 57 ff. K Kautionsverfall 4 66 Kind erpo rnograp hie 11 24 Ir Rah menb eschlu ss zur I3ekäm pfung der ~ 11 35 ff. Kolli sion direkt e - 9 21 echte - 9 15 ff. indi rekte ~ 9 21 ff. schei nbare ~ 9 15 Komm ission de r EU 4 11 ff. strafrechts relevante Aktiv itäten der ~ 4 16 ff. Kom petenzkonfli kte 123 Kompetenzvert eilu ngsprinzip 2 59 Komplement arität 2 87 f. Kon ferenz von Rom 2 84 Kongress der Gem eind en und Reg ionen Europas 3 5 Kontroll ierte Liefer ung 5 8, 10, 32,94 ff. Kon vent ionsorga ne der EMRK 3 24 f. Kon vent ionsrechte als Auslieferungs hinde rnis 3 38 ff.
Korru ptionsbekämpfung OEC D-Konve ntion zur Bekämp fung der Korruption 5 13 Stra frechtsko nvention zur - 5 22 Kriminalit ät Organ isierte ~ 5 18,27,57,63, 67, 70, 11 2, 112 ff. Kriminalpo litik Europäische ~ 1 10 f. Kriminolo gie 1 15 L Lebensm itte lstrafrecht 7 88 ff., 9 13, 10 15 ff., 18 ff Legitimierend er Anknüp fung spun kt 2 10, 12,60 Lex-rniti or-Gr undsatz 1 22, 790, 9 17 ff. Locks pitzel 3 54 Lotte rieve ranstaltung grenzübersc hre itende - 9 32 Werb ung für - 9 32 Loyalit ätsgeb ot 7 2 ff., 10 6, 79
M Mehrph asiger Interpretationsakt 10 2, 22 f. Menschenh andel 11 24 Rahm enb eschluss zur Bekä mpfung des ~s 11 25 ff. Menschenr echtsschutz 3 2 I ff. Mindesthöch ststrafe 11 7 Mindesttrias 7 26 ff., 60 ff Mindestvorschriften - zum Zw ecke der Stra frechtsang leichun g 11 4 ff. Ministerkomitee 3 4 r, 25, 3 I Mu ster eines Vorabentschei dungsersuche ns 6 13
N Ne bis in idem im nationalen Recht 13 2 ff. im allgem einen Völk errecht 132 tran snationales - 13 I ff., 23 ff. Ne utralisie rung ~ von Strafrechtsnormen 9 10 ff Nichtei nmischungsge bot völkerrechtliches ~ 2 9 Ir , 92 Nichtigkeitsk lage n 4 39 Ni ederlassungsfre iheit 9 25, 38 ff., 46 f.
Stichwortverzeichnis No stalgiewerbung 10 18 ff. Notwehr - im Lichte der EMRK 3 68 ff.
o
OE CD-Konvention zur Bek ämpfung der Korruption 5 13 Office de la Lutte Anti-Fraude (OLAF) 4 28 ff. Ordre Public 256, 73, 1232 Organe - der EU 4 2 ff. - des Europarates 3 5 Org an isation für Wirtsch aftliche Entwicklung und Zu sammenarbe it (O ECD) 5 11 Org anle ihe 5 116 Org anisierte Krim inalit ät 5 18 27 57 63 67 70, 11 2, 112 ff. "'"
p Parlamentari sche Versammlung 3 5 Passi ves Personalitätsprin zip 2 45 PIF-Kon vent ion 1422 Ir Poli zeiliche und Justizielle Zusamme narbei t in Strafsach en (PJZS) 5 67 ff., 76, 12 Polizeilicher Inform ationsau stau sch 5 33 ff. Prim ärrecht 4 48 f. Punitive Sanktionen 4 61
R Rahm enb eschluss - als Handlungsform im Rahm en der PJZS 5 68 - konforme Auslegung 10 77 ff. - über An griffe auf Info rmationssysteme 11 99 ff. - über den Europäis chen Haftbefehl 12 20
rr.
- über den Schutz der Umwe lt durch da s Strafrecht 8 25 Ir - über die Anwendung des Grundsatzes der gege nseitige An erkenn ung von Geldstrafen und Geldbußen 12 50 - übe r die Anwendung - zw ischen den M itgliedstaaten der EU - de s Grundsa tzes der gegen seitigen An erk ennung auf Entsch eidun gen über Übe rwachungs maßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft 12 55
523
- über die Durchführung und den Inhalt de s Austa uschs von Informatio nen aus dem Stra fregister zwi schen den M itg liedstaaten 1254 - über die Einziehung von Erträgen , Tatwerk zeugen und Verm ögen sgegenständen au s Stra ftaten 11 11 - übe r die Europäis che Beweisanordnung 12 10 Ir - über die Stellung de s Opfers im Stra fverfahren IO 80 - zum stra frechtlicher Schutz des Euro 8 24, 11 80 ff. - zur Bek ämpfung der Bestechung im privaten Sektor 11 72 ff. - zur Bekämpfung der Geld wäsch e 8 16, 11 65 Ir - zur Bekä mpfung des illegal en Dro genhandels 11 52 ff. - zur Bek ämpfung der Kinderpomographie 11 35 ff. - zur Bek ämpfung de s Men schenhandels 11 25 Ir - zur Bekämp fun g der organi sierten Kriminalität 11 113 f[ - zur Bekä mpfung der Schl eu serkrim inalität 11 120 ff. - zur Bek ämpfung von Rassismus und Fremdenfeind lichkeit 11 128 ff - zur Bek ämpfung von Betrug und Fä lschung im Zusamme nhang mit unbaren Zahlungsmitte ln 11 89 Ir - zur Berü cks icht igun g der in and eren Mitgli ed staaten der EU ergange nen Verurteilungen in einem neuen Stra fverfahren 1253 - zur Vermeidun g und Beilegun g von Kompetenzkonflikten in Stra fverfa hren 124 - zur Te rro rismusbe kämp fung 11 12 ff. Rahm enb eschlussvor schlag - übe r bestimmte Verfahrensrechte in Stra fverfahren innerh alb der Europ äischen Union 12 51 - über den Austa usch von Informationen nach dem Gru ndsa tz der Verfügb arkeit 535 - zur Verstärkun g des strafrechtliche n Rahm ens zur Ahndung der Verletzung ge istige n Eige ntums 11 86
524
Stichwortverze ichnis
Rassismus 11 127 ff Rahmenbeschluss zur Bekämpfung von und Fre mde nfeindlichkeit 11 128 ff. Rat der EU 4 4 ff. strafrec htsrelevante Ak tivi täten des - 4 9 f. Rechtssetzun gskompeten z strafrechtliche - der EU 4 57 ff., 82 Rechtsg üter a uslä ndische - 2 5 euro pä ische (supranationale) - 7 3 1 in ländische - 2 4 f. Rechtshilfe in Stra fsa chen 2 62 ff., 67 ff., 12 2,4 ff. EuRhÜ bk 12 5 Rechtshil ferecht 2 68 Ir , 12 5 Ir Rechtsschutz - gegen gre nzü be rschreitende Strafverfolgung 5 103 Ir Rechtspr echungswand el IO 60 Rettungsfolter 3 74 Richtlinien 4 64 - recht und stra frechtliche Ve rantwortlichke it 10 39 ff., 44 ff., 48 ff. Erfo rdern is der Bes timmt heit vo n - 1048 ff. Unmittel bare A nwen dbarkei t von - 4 65 Richtlinienkonforme Auslegung 10 2 Beginn de r Pflicht zur - IO 28 ff. Gr enzen der Pfl icht zur - IO 33 ff. Rom- Statut (IStGH- Statut) 2 84 ff. Rückverweisu ngsklau sel 7 94 Rückwirku ngsverbot 3 371035,42, 60 f., 82
S
Sanktio nsty pen des Unionsrech ts 4 63 Ir Sche nge n-acquis (Sch engen- Besitzstand) 5 30 ,68 Sc hengener Durchführungsübereinkomme n (S DÜ) 5 29 ff. Sc henge ner Informationssystem 5 48 ff. Sc hleuserkrim ina lität 11 120 ff. Rahmenbeschluss zu r Bekäm p fung der 11 120 ff. Sch on ungsgebot strafrechtss pe zifisches - 8 55 Sc hutz der EU -Finanzinte ress en 8 44 ff., 14 22 ff. Sch utzbe reich - eine s Straftatbestandes 2 4 ff.
Schutzbereichsausdehnung - auf Rechtsgü ter de r EU 2 6 ff., 7 68 ff. Schutzbereichsbeschränkung - auf inländis che Rechtsg üte r 2 4 f. Schutzverpflichtung - der EU -Mitgliedst aaten 7 2, 4, 16 ff. Schutzpri nzip 2 46 Se kun dä rrecht 4 50 ff. Sic he rungsverwahrung 33 7 Son derno rmen 10 75 Sorgfa ltspflichten unionsre cht liche Überlagerun g von - IO
75f.
Staatenbeschwe rde 3 23 Staate nve rbund EU als - 4 I Staatsschutzpri nzip 2 48 St rafanwe nd ungs recht 2 2 ff. Strafbar keits lück en - durch Austa usch de s Verwe isu ngsobj ekts 7 88 ff. Straferk enn tnis 13 29 f. St rafgeld 4 65 St rafk lageverbra uch - au f Uni onsebe ne 13 3 - im deut schen Recht 13 2 ff. tran snat ionaler - 13 1 ff., 23 ff. Strafrech t im weiteren Sinne 4 6 1 Strafprozessua le Ve rfahrensgar anti en 3 53 ff. St rafrechtsdogmatik 1 12 St rafrechtsetzungsko mpetenz der EU 4 57 ff., 82 Strafrech tsrelevante Garantien de r EM RK 3 33 ff Strafrech tsverg leichung 1 13 Strafverfahrensrecht 1 14 Stra fzu schl äge 4 66 Subsi d iaritä tsprinzip 8 49 ff., 11 8 Subventionskü rzungen 4 66 Subventi onss perren 4 66 Supplementa ry Informat ion Request at the Nationa l Ent ry (SIR EN E) 5 50 Supranationa le Straftatbestände 4 81, 1444 Supranationa le Verwe isunge n 7 6 ff. Supranationa ler Gesamtta tbestand 7 6, 11
Stichwortverzeichnis
T Tatortstrafb arkeit 2 43 , 53 ff. Tempelarchitektur - der früheren EU 4 I Territorialit ätsprinz ip 2 12 ff. europäi sches ~ 7 64 Te rro rismus 5 18,26,54,62 f., 67 , 69, 84, 11 2, 11 ff. Te rro rismusbekämpfung Rahmenbeschluss zur l l 12 ff. Todesstrafe Verbot der - 3 39 ff. Todeszellensyndrom 3 42 Tran sact ie 13 24 ff. Transnationales Strafrecht 2 61 ff. Treuepflic ht siehe Loy alitätsge bot T REV I-Arbeitsg ruppe n 5 26 ff. e-
U Ubiquitätspr inzip 2 16 Übereinkommen über die Rechtshilfe in Stra fsa chen zw ischen den M itgliedstaate n der EU (EUR Ü) 12 8 Umsetzungs recht 10 10 ff. Umwe ltde likte Unionsrechtsk onforme Au slegun g der ~ 1071 ff. gr enzüb ers chr eitend e ~ 2 36 ff Umweltschutz 8 21 ff., 47 f. Um weltstra frecht Rahmenbeschluss übe r den Schutz der Um welt durch das Stra frecht 8 28 Richtlin ie übe r den strafrechtlic he n Schutz der Umwe lt 8 32 UN-Anti-Folte rkonve nti on 5 5 Unionsrecht - als Obe rgrenze für nati onale s Stra frecht 741 ff., 48 ff. - als Untergrenze für nationa les Strafrecht 7 36 ff. Recht squ ellen und Charak teristika des ~ s 445 fr Vorrang des ~ s 9 I ff. Unionsrechtsakzess orisches Blankett stra frecht 7 76 ff. Unionsrechtsfreundliche Auslegung 10 9 Unionsrechtskonforme Ausleg ung 10 1 Anwendungs felder der - im Strafrec ht 10 63 fr Begrün dung der Pflicht zu r ~ 10 6 ff Grenzen der Pfli cht zur ~ 10 33 ff.
525
strafbar keitserweitem de - 10 59 ff. Unionsstrafrecht 7 6 Un ionstreue 7 2 Unite de Coordination de la Lutte AntiFraude (UCLAF) 4 19 United Nations (UN) 5 5 ff. UN-Sic he rhe itsrat sicherh eits ratsgestützte Z uständig ke it de s IStGH 2 86 UN-S uchtstoffÜ bK 58 - und stra fprozessuale Maximen 6 17 ff. Funktion und Bedeutung de s - 6 3 ff. Zul ässigkeit de s - 6 5 ff. UN-TranskrimÜ b K 510 Unschulds vermutung 355 Untätigke itsklage n 440 Untersuchungs haft 3 27, 54, 63 fr überl ange - 3 64 ff. Urkundendelikte Un ionsrechtskonforme Auslegung der 10 68 ff.
V
Verb raucherleitbild 10 19, 21 f. Verbrech en gege n d ie Men schlichkeit 2 48 , 82 ,85,95 Verd eckte Ermittlunge n 5 10, 78,90 ff. Verd eckte Registr ierun g 5 53 Vereinte N ationen (UN) 5 5 ff. Verfahrensdaue r überl ange - 3 61 ff. Verfahrensverzögerunge n vorlage bedi ngte ~ 6 24 Verh ältn ism äß igk eitsprinzip un ions rech tlich es ~ 7 41 f., 45 1'., 51, 65, 8 52 rr, 9 44 ff. Vero rdnun gen 4 51 Vertrag von Amsterda m 4 10,30,37,5 67 Vertrag von Lissabon 1 3,4 1,5,9,30, 79 ff., 5 2, 25, 59 , 71, 75 f., 8 2,11 I Vertrag von Maastricht 4 30 , 5 54 Vertrag von N izza 47,570 Vertrag von Prüm 5 35 Vertragsverl etzun gskla gen 4 38 Ver wahrungsbruch 10 66 f. Verwaltungssanktionrecht Europäisches - 4 66 Verweisung dynami sche - in Blankettstrafnormen 7 79 statische ~ in ßlankett strafno rmen 7 78
526
Stichwortverzeichnis
Völkermord 2 48, 82, 85, 90, 94 Völkerrecht 1 18, 2 9 ff. Völkerstrafgesetzbuch (VStG B) 2 90 ff. Völk erstrafrecht 2 8 1 ff. Vollstre ckungselement e des Art . 54 SDÜ 13 37 fI Volls treck ungs hilfe 2 62, 12 13 Volls treck ungs mode 1l 3 62 Voraben tscheidung Muster einer Vorlage zur - 6 13 Vorabentsche idungsverfahren 4 36 f., 6 I ff. - im Rahmen eine s Ermitt lung sve rfah rens 6 20 ff. - i. R. d. Haupt- und Zwischen verfahrens 618 r. Indivi dualschutzfunk tion des - 6 3 Vorl agee rmesse n 6 5, 19 Vorl age pflicht 6 6 Missachtung de r - 6 6 Vorrang des Unionsrechts 449,9 I ff. An we ndungs- 4 49, 9 8 ff. begren zter - 9 5 ff. Ge ltungs- 9 8 unb eschränkter - 9 3 f.
W
Warenverkehrsfreihe it 9 13, 34 Werbung grenzüberschreiten de - 9 34 f. Weltrechtsprinzip 2 48 f., 9 1 Wett bew erbsverzerrun g 8 19, 25, 41, 43 Wien er Übereinkommen übe r das Recht der Vertr äge 13 35 Wirksam kei tse rforde rn is 7 63 f[ Wort laut - als äußers te Grenze der Auslegung im Strafrecht 7 72, 10 5, 33
Z Zahlungsmitte l Rahm enb eschluss zur Bekä mpfung von Betrug und Fälschun g im Zu samm enhang mit unb aren Zahl ungsmittel n 11 89 ff. Zu sammen arbe it in den Bereichen Justiz und Inne res (Z BJI) 5 54 Zuwide rha ndlung gegen EU-Ve rordnung 7 76 ff. Zwangsgeld 4 38, 65