Conditio Judaica 68 Studien und Quellen zur deutsch-jdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Hans Ott...
292 downloads
966 Views
926KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Conditio Judaica 68 Studien und Quellen zur deutsch-jdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Hans Otto Horch in Verbindung mit Alfred Bodenheimer, Mark H. Gelber und Jakob Hessing
Irene Fußl
›Geschenke an Aufmerksame‹ Hebr,ische Intertextualit,t und mystische Weltauffassung in der Lyrik Paul Celans
Max Niemeyer Verlag Tbingen 2008
n
Der Druck wurde unterst tzt von der Stiftungs- und Fçrderungsgesellschaft der Paris-LodronUniversitt Salzburg
Der Titel dieses Bandes zitiert einen Brief Paul Celans an Hans Bender vom 18. 5. 1960; »Gedichte, lieber Hans Bender, das sind auch Geschenke – Geschenke an die Aufmerksamen. Schicksal mitf hrende Geschenke.« (Volker Neuhaus (Hrsg.): Briefe an Hans Bender. M nchen: Hanser 1984, S. 48 f., S. 49.)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://www.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-65168-5
ISSN 0941-5866
< Max Niemeyer Verlag, T bingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich gesch tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere f r Vervielfltigungen, Hbersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier. Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
Inhalt
Vorwort ........................................................................................................
1
Einleitung – Die Lyrik Paul Celans als hermeneutische Herausforderung ................ 9 Ein Gedicht ›verstehen‹ ......................................................................... 9 Celans Judaica-Lektüre ......................................................................... 15 FAHLSTIMMIG ........................................................................................ 25 1
Einheit – Der Eine ................................................................................. 1.1 Das Gedicht als Einheit .................................................................. 1.1.1 DIE ZAHLEN ........................................................................... 1.2 Sprach(en)pluralismus .................................................................... 1.3 Babel ............................................................................................... 1.3.1 BEI WEIN UND VERLORENHEIT .............................................. 1.4 Heilige hebräische Sprache ............................................................. 1.5 Jüdische Tradition – Chassidismus – Kindheit in Czernowitz ....... 1.5.1 AUCH MICH ............................................................................
35 35 37 38 41 41 43 46 50
2
Spaltung – Der Bruch ............................................................................ 2.1 Der Bruch des ursprünglich Einen – Schebirat ha’kelim ................ 2.1.1 DEIN / HINÜBERSEIN .............................................................. 2.1.2 DIE RÜCKWÄRTSGESPROCHENEN ........................................... 2.2 Die Zweizahl – Dichotomien .......................................................... 2.2.1 ALLMÄHLICH CLOWNGESICHTIG ............................................ 2.3 Schechina – Sefirotmodell .............................................................. 2.3.1 (ICH KENNE DICH .................................................................... 2.3.2 KLEIDE DIE WORTHÖHLEN AUS .............................................. 2.4 Die Siebenzahl ................................................................................ 2.4.1 DIE MIR HINTERLASSNE .......................................................... 2.4.2 HURIGES SONST ..................................................................... 2.4.3 KEINE SANDKUNST MEHR ......................................................
55 55 56 60 68 69 71 71 78 83 83 88 94
3
Einung – Das Einen ............................................................................... 99 3.1 Die Suche nach Einheit in der Mystik – Chassidismus – Tikkun .... 99 3.1.1 ES WAR ERDE IN IHNEN .......................................................... 101 3.1.2 BRUNNENGRÄBER .................................................................. 108
VI
Inhalt
3.2 Zachor – das Erinnerungsgebot des Judentums und Er-innerung bei Martin Heidegger .................................................. 115 3.2.1 DU LIEGST .............................................................................. 118 3.3 Einigkeit mit Hölderlin und Überführung der Einungsbewegung in Sprache ....................................................................................... 130 3.3.1 ICH TRINK WEIN ..................................................................... 135 3.3.2 TÜBINGEN, JÄNNER ................................................................ 142 Fazit ............................................................................................................. 151 Literaturverzeichnis ..................................................................................... 153 Danksagung .................................................................................................. 167 Personenregister ........................................................................................... 169
Vorwort
Die Gedichte Paul Celans faszinieren. Dabei ist es nicht ausschlaggebend, ob man sie rational ›verstehen‹ kann, um sie als ›schön‹ zu empfinden. Viele der Gedichte stellen als Sprachgebilde, oft auch als Klangerfahrung, Kunstwerke dar. Doch sind sie auch hartnäckig im Erteilen eines Auftrags an den Leser – erforsch’ mich. Das Gedicht »will«, dass der Leser sich mit ihm beschäftigt und es verstehen lernt.1 Der Lyrik Paul Celans ist immer wieder und vor allem als Urteil über das Spätwerk ›Dunkelheit‹ und Verschlossenheit vorgeworfen worden. Celan selbst hat sich aber gegen diesen Vorwurf vehement gewehrt, und er gab einmal den Hinweis, man müsse sich nur die Mühe machen, seine ›angeblichen‹ Neologismen in verschiedenen Fachwörterbüchern nachzuschlagen.2 In der Tat ist ein Dialog zu erkennen zwischen den Gedichttexten und Celans Lektüreerfahrungen.3 Was allerdings das »nur« in der Empfehlung Celans angeht, ist dessen immense Leseleistung zu berücksichtigen. Viele der Gedichte weisen eine medizinisch-anatomische, mineralogische, biologische, astronomische, intertextuelle, philosophische, theologische oder auch eine poetologisch-sprachbezogene Ebene auf.4 Darüber hinaus ist Celans Spra1
2
3
4
Vgl. Hans-Georg Gadamer: Nachwort. In: ders.: Wer bin Ich und wer bist Du? Ein Kommentar zu Paul Celans Gedichtfolge ›Atemkristall‹. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 110–134, S. 128. Vgl. Gerhart Baumann: Erinnerungen an Paul Celan. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 115; vgl. auch Klaus Reichert: Hebräische Züge in der Sprache Paul Celans. In: Paul Celan. Hg. von Werner Hamacher und Winfried Menninghaus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988 (st; 2083), S. 156–169, S. 162. Vgl. z. B. Elke Günzel: Das wandernde Zitat. Paul Celan im jüdischen Kontext. Würzburg: Königshausen und Neumann 1995 (Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft; 151). Untersuchungen mit Schwerpunktsetzung in allen Fachbereichen erscheinen sinnvoll in der Erschließung des Potentials der Gedichte. Barbara Wiedemann hat mit der Herausgabe der kommentierten Gesamtausgabe eine wertvolle Grundlage geliefert. Der ausführliche Kommentar belegt Konnotationsmöglichkeiten vielschichtiger Art. (Paul Celan. Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hg. von Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. Nachfolgend unter der Sigle PCG zitiert. Die Zitation der Gedichte erfolgt in der exakten Schreibung [Titel in Großbuchstaben oder Kapitälchen] nach dieser Ausgabe. Zitate aus den Gedichten im Text sind durch Kursivierung als Zitate ausgewiesen.) Celans intensi-
2
Vorwort
chenpluralismus,5 insbesondere das Sprachverständnis des Hebräischen, in die Überlegungen mit einzubeziehen, wie auch sein Interesse für die Mystik, für Wortetymologien, Philosophie und Literatur.6 Celans ›gedichtete‹ Texte leben von ihrer Vielschichtigkeit. Mit einem einzelnen Wort, einem Kompositum oder einer Phrase gelingt es Celan, verschiedene Welten zu öffnen, die mehrere Lesarten nebeneinander, parallel zueinander, sich überlappend oder gar einander widersprechend erlauben. Beim Nachgehen seiner Lektürewege und der Sichtung der Lektürespuren können sich ›Eingangstüren‹ zu hermetisch erscheinenden Gedichten auftun. Ein Zugang zu einer der Schichten, die im Allgemeinwissen der meisten Leser nicht vorhanden ist – die noch nicht beachtete jüdisch-mystische Seite einiger Gedichte –, soll hier ermöglicht werden. Diese Arbeit konzentriert sich dabei auf jene Gedichte, v. a. des Spätwerks, die intertextuelle Beziehungen zu traditionellen Texten des Judentums erkennen lassen. Die Auswahl der Gedichte erfolgt mit Konzentration auf jene, die noch wenig besprochen sind (das Triptychon: AUCH MICH, DIE RÜCKWÄRTSGESPROCHENEN und ALLMÄHLICH CLOWNGESICHTIG; HURIGES SONST; BRUNNENGRÄBER IM WIND), die in diesem Kontext noch nicht betrachtet wurden (DU LIEGST), oder in denen die jüdisch-mystische Auslegung nicht bis zu ihrer letzten Konsequenz geführt wurde (FAHLSTIMMIG; TÜBINGEN, JÄNNER). Dabei ergibt sich ein Schwerpunkt rund um das Jahr 1967. In den Sechzigerjahren hat sich Celan nachweislich verstärkt mit jüdischer Mystik auseinandergesetzt. Im Mittelpunkt des Interesses steht dann auch Celans Judaica-Lektüre. Theoretisch betrachtet handelt es sich bei dieser Arbeit zunächst um Einflussforschung. Die intertextuelle Perspektive verdeutlicht dann jene dialogische Spannung, die im einzelnen Wort, zwischen dem
5
6
ve Auseinandersetzung mit der Philosophie ist seit 2006 dokumentiert. (Paul Celan: La bibliothèque philosophique / Die philosophische Bibliothek. Catalogue raisonné des annotations établi par Alexandra Richter, Patrik Alac et Bertrand Badiou. Préface de Jean-Pierre Lefebvre. Publié par l’Unité de recherche Paul Celan de l’École normale supérieure. [Presses de l’École Normale Supérieure] Paris: Éditions Rue d’Ulm 2004). Sein kompliziertes Verhältnis zum Judentum hingegen stellt z. B. Lydia Koelle dar. (Lydia Koelle: Paul Celans pneumatisches Judentum. Gott-Rede und menschliche Existenz nach der Shoah. Mainz: Matthias Grünewald 1997 [Theologie und Literatur; 7]). Celan beherrschte mehrere Sprachen ausgezeichnet (Rumänisch, Deutsch, Hebräisch, Russisch, Ukrainisch, Französisch, Englisch, …) und arbeitete auch als Übersetzer. Zudem zeigte er sich sehr interessiert an Fragen zur Grammatik und Wortetymologie. So ist auch Celans, als besonders hermetisch bezeichnete, späte Dichtung nach Böschenstein in einem zeitgenössischen französischen Kontext zu sehen, der aus ähnlichem Stoff sei. Vgl. dazu Bernhard Böschenstein: Der späte Celan. Dichtung und Übersetzung. In: Lyrik – von allen Seiten. Gedichte und Aufsätze des ersten Lyrikertreffens in Münster. Hg. von Lothar Jordan, Axel Marquardt und Winfried Woesler. Frankfurt am Main: S. Fischer 1981 (Collection S. Fischer; 20), S. 399– 411, S. 409ff.
Vorwort
3
Gedichttext und seinen Prätexten, als auch zwischen den verschiedenen Prätexten des Gedichts herrscht.7 Der Begriff ›intertextuell‹ wird nicht im strengen Sinn Kristevas als allgemeine Eigenschaft von Texten8 verwendet, sondern mit Pfister als »systematische[r] Oberbegriff für die verschiedenen Bezüge zwischen Einzeltexten« gesetzt.9 Damit wird Intertextualität zum Oberbegriff für jene Verfahren eines mehr oder weniger bewußten und im Text selbst auch in irgend einer Weise konkret greifbaren Bezugs auf einzelne Prätexte oder diesen zugrundeliegenden Codes und Sinnsysteme10.
Hier wird nun eine Deutung der Gedichte Celans vorgeschlagen, die mit dem kulturellen Wissen und der Lektüreerfahrung des Autors übereinstimmt. Ziel ist es, den Leser im Gedicht an einen Kreuzungspunkt mit dem bewusst oder unbewusst eingeflossenen kulturellen Wissen des Autors heranzuführen. Dabei kann die Frage der Autorintention ausgeklammert werden.11 Die Schwierigkeit um diese Frage lässt sich schon allein daran erkennen, dass Celan die Präsenz
7
8
9 10 11
Die intertextuelle Analyse ist an den Studien von Ulrich Broich, Manfred Pfister und Renate Lachmann orientiert, die den Intertextualitätsbegriff praktikabel erhalten. Pfister weist darauf hin, dass selbst jene, die von der Vorstellung eines globalen Intertexts ausgehen, gezwungen sind, ihre Perspektive zu verengen, sobald sie sich der konkreten Textanalyse zuwenden. Er zeigt die Einschränkungen von Barthes, Bloom, Genette und Lachmann auf und versucht sinnvoll zwischen dem »globalen poststrukturalistischen« und dem »pointierten strukturalistisch/hermeneutischen« Modell zu vermitteln. Sein Ziel ist es, die Intensitätsgrade der Intertextualität in einem Text zu bestimmen. Letzte Instanz bleibt der hermeneutische Gewinn am Text. (Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hg. von Ulrich Broich und Manfred Pfister unter Mitarbeit von Bernd Schulte-Middelich. Tübingen: Niemeyer 1985 [Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft; 35], S. 1–30, S. 15 und S. 25). Die Polyvalenz des Intertextualitätsbegriffs heute erscheint auch deshalb so irreduzibel, weil die Definitionen von »Text« entsprechend weit auseinandergehen. Mit Julia Kristeva und ihrer Nähe zum Poststrukturalismus hat der Textbegriff eine Radikalisierung erfahren, der zur Auffassung einer subjektlosen Produktivität führt. Kristeva hat ihren Intertextualitätsbegriff, nachdem dieser missbräuchlich, d. h. gegen ihre Definition, für andere Disziplinen (z. B. Einfluss- und Quellenforschung) verwendet wurde, durch den Begriff der »transposition« ersetzt. Pfister, Konzepte der Intertextualität (wie Anm. 7), S. 10. Ebd., S. 15 [Hervorhebung, I. F.]. Auch der Begriff der Intention ist nicht unreflektiert zu gebrauchen, denn es gibt bewusste und unbewusste Intentionen verschiedener Art (ideell, materiell) auf verschiedenen Ebenen, die auch nicht klar voneinander zu trennen sind. (Vgl. dazu Göran Hermerén: Intention und Interpretation in der Literaturwissenschaft [1975]. In: Hermeneutik. Basistexte zur Einführung in die wissenschaftstheoretischen Grundlagen von Verstehen und Interpretation. Hg. von Axel Bühler. Heidelberg: Synchron 2003, S. 121–154, S. 135ff.).
4
Vorwort
kabbalistischer Elemente12 in einigen eigenen Gedichten erst bei der nachträglichen Lektüre von Scholems Schriften klar geworden ist. Die unbewusste Einschreibung lässt sich in diesen Fällen durch den kulturellen Hintergrund der Bukowina erklären, in der der Autor aufgewachsen ist.13 Der Autorbegriff ist für die hier vorgestellte Lesart der Gedichte Celans wesentlich.14 In seiner Reaktion auf Roland Barthes’ »Tod des Autors« geht Michel Foucault auf die Folgeschwierigkeiten der vom Postrukturalismus konstatierten subjektlosen Produktivität ein15 und rettet den Autorbegriff insofern, als er feststellt, dass es in unserer Kultur eine bestimmte Anzahl an Diskursen gebe, welche die Funktion ›Autor‹ in jenem Bruch, der eine bestimmte Gruppe von Diskursen und ihre einmalige Seinsweise im Gesamtdiskurs hervorbrächte, einnehmen würden.16 Mit seiner Frage nach dem Status des Diskurses17 bewegt sich Foucault gewissermaßen zwischen der Frage Nietzsches, wer »den Diskurs hält und – noch tiefer – das Sprechen besitzt«, und der Antwort Mallarmés: »[D]as, was spricht, in seiner Einsamkeit, seiner zerbrechlichen Vibration, in seinem Nichts, ist das Wort selbst – nicht die Bedeutung des Wortes, sondern sein rätselhaftes und prekäres Sein.«18 12
13 14
15 16
17 18
›Kabbala‹ bedeutet Überlieferung bzw. Tradition (von jüdisch-mystischem Denken) und ist, wie die Bibel, eine Sammlung von mehreren Büchern unterschiedlicher Autoren. Zu den Bukowina Einflüssen siehe hier S. 46ff. »[D]ie radikale Ausweitung des Intertextualitätsbegriffs durch Julia Kristeva und ihre Nachfolger in der Tradition der Postmoderne [hat] den Zugang zu einem operationalisierbaren Funktionsbegriff weitgehend verschüttet [...]. Denn wenn die Individualität und Subjektivität des Autors als intentionale Instanz zum bloßen Medium herabsinkt, dessen sich das universelle Spiel intertextueller Referenzen undifferenziert bedient, wenn auch die Instanz des Lesers ihre klare Identität verliert und statt dessen aufgeht in der Pluralität eines universellen Intertextes und wenn schließlich auch der Text sich entgrenzt zu einer Momentaufnahme in einem Universum der Texte, einem Kontinuum der pluralen Codes, bei denen selbst die elementare Verbindung von Signifikant und Signifikat nicht mehr trägt, dann wird in gleichem Maße auch die Frage nach der Funktion entgrenzt und zunehmend gegenstandslos.« (Bernd Schulte-Middelich: Funktionen intertextueller Textkonstitution. In: Broich/ Pfister, Intertextualität [wie Anm. 7], S. 197–242, S. 202). Denn am Autorbegriff hänge auch der weiterhin unreflektiert gebrauchte Begriff des Werks und die Geste des Schreibens. Vgl. Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: ders.: Schriften zur Literatur. Übersetzt von Karin von Hofer und Anneliese Botond. Frankfurt am Main: Fischer 1993 (Fischer Wissenschaft; 7405), S. 7–31, S. 17. Vgl. Philipp Sarasin: Michel Foucault zur Einführung. Hamburg: Junius 2005 (Zur Einführung; 306), S. 90f. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übersetzt von Ulrich Köppen. 8. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989 (stw; 96), S. 370. Auch für Martin Heidegger und Roland Barthes ist es die Sprache, die spricht, nicht der Autor. (Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. von Fotis Jannidis [u. a.]. Stuttgart: Reclam 2000
Vorwort
5
Celan wirft in seiner Meridian-Rede die Frage auf, ob Mallarmé konsequent zu Ende zu denken sei: Dürfen wir, wie es jetzt vielerorts geschieht, von der Kunst als von einem Vorgegebenen und unbedingt Vorauszusetzenden ausgehen, sollen wir, um es ganz konkret auszudrücken, vor allem – sagen wir – Mallarmé konsequent zu Ende denken? […] das Gedicht behauptet sich am Rande seiner selbst; es ruft und holt sich, um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch zurück. [–] Dieses Immer-noch kann doch wohl nur ein Sprechen sein. Also nicht Sprache schlechthin und vermutlich auch nicht erst vom Wort her ›Entsprechung‹. [–] Sondern aktualisierte Sprache, freigesetzt unter dem Zeichen einer zwar radikalen, aber gleichzeitig auch der ihr von der Sprache gezogenen Grenzen, der ihr von der Sprache erschlossenen Möglichkeiten eingedenk bleibenden Individuation. [–] Dieses Immer-noch des Gedichts kann ja wohl nur in dem Gedicht dessen zu finden sein, der nicht vergißt, daß er unter dem Neigungswinkel seines Daseins, dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit spricht. [–] Dann wäre das Gedicht – deutlicher noch als bisher – gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen, – und seinem innersten Wesen nach Gegenwart und Präsenz.19
Für Celan spricht sich das Wort nicht selbst, der Autor bleibt ihm ›mitgegeben‹ und sucht den Dialog mit dem Leser über das Gedicht. Aus der Büchnerpreisrede geht deutlich hervor, dass Celan seine Dichtung als Dialog angelegt hat. Der kommunikative Charakter der Lyrik Celans zeigt sich sowohl in der immanenten Dialogizität20 des einzelnen Wortes als auch am gesamten Gedicht. Verwendete er in seiner Bremer Literaturpreisrede das Bild der Flaschenpost,
19
20
(Universal-Bibliothek; 18058), S. 185–193). »Die Sprache spricht. [–] Der Mensch spricht, insofern er der Sprache entspricht. Das Entsprechen ist Hören. Es hört, insofern es dem Geheiß der Stille gehört. [–] Nichts liegt daran, eine neue Ansicht über die Sprache vorzutragen. Alles beruht darin, das Wohnen im Sprechen der Sprache zu lernen. Dazu bedarf es der ständigen Prüfung, ob und inwieweit wir das eigentliche des Entsprechens vermögen: das Zuvorkommen in der Zurückhaltung. Denn: [–] Der Mensch spricht nur, indem er der Sprache entspricht. [–] Die Sprache spricht. [–] Ihr Sprechen spricht für uns im Gesprochenen«. (Martin Heidegger: Die Sprache. In: ders.: Unterwegs zur Sprache. Tübingen: Neske 1959, S. 9–33, S. 32f.). Paul Celan: Der Meridian. Endfassung – Entwürfe – Materialien. Hg. von Bernhard Böschenstein und Heino Schmull unter Mitarbeit von Michael Schwarzkopf und Christiane Wittkop. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999 (Paul Celan. Werke. Tübinger Ausgabe), S. 5 und S. 8f. Michail Bachtin vertrat die Ansicht, der Lyrik fehle es an Verbindung zur Gesellschaft, sie sei sprachliches Kunstprodukt und v. a. Neologismen seien zutiefst monologische Formen, weil sie reines Sprachspiel darstellten. Celans Neologismen hingegen erweisen sich als hybride Räume im Sinne Bachtins. Zwei (oder mehr) Stimmen treten im Wort selbst in den Dialog, was am Beispiel der Neologismen »fallgerecht« und »fluggerecht« im Gedicht FAHLSTIMMIG aufgezeigt wird. Vgl. hier S. 25ff.
6
Vorwort
die losgeschickt sei, um an Herzland zu stoßen,21 so spricht er im Meridian von der Begegnung und der Bewegung aufeinander zu: Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs. Wer es schreibt, bleibt ihm mitgegeben. Aber steht das Gedicht nicht gerade dadurch, also schon hier, in der Begegnung – im Geheimnis der Begegnung? [–] Das Gedicht will zu einem Anderen, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu. […] Das Gedicht wird – unter welchen Bedingungen! – zum Gedicht eines – immer noch – Wahrnehmenden, dem Erscheinenden Zugewandten, dieses Erscheinende Befragenden und Ansprechenden; es wird Gespräch – oft ist es verzweifeltes Gespräch.22
Paul Celan personifizierte Gedichte, was v. a. in seinen Literaturpreisreden zu beobachten ist, und Hans-Georg Gadamer folgt ihm dabei in seinen Überlegungen zur Hermeneutik und Autonomie von Gedichten. Bei Gadamer »will« das Gedicht, dass es verstanden wird, es »verlangt« dem Leser einiges ab.23 Der Dialog-Adressat ›Leser‹ soll in eine Kommunikation, ein Gespräch eintreten, das Antworten oder Gegenfragen einfordert. Das bedeutet, die Gedichte zu studieren,24 sie nach zu denken. Diese Dichtung leistet gerade durch ihre Hermetik das behutsame ›Werden‹ eines Gesprächs, auch wenn es sich nur in einer langsam zu erschließenden, aber ungeahnten Intensität entwickelt. Es ist die Leistung dieser Dichtung – nicht ihre Schwäche – reiches Potential zu bergen, dieses aber nicht dem ersten Blick preiszugeben. Soweit die Celan-Forschung in Detailfragen zu einzelnen Gedichten auseinandergeht, so einig ist sie sich in grundlegenden Annahmen. Dazu gehört die Überzeugung, dass die Struktur der Texte, die teils einfach und klar angelegt, teils sehr kompliziert erscheint, kunstvoll komponiert ist. Nach eigener Angabe hat sich Celan in seinem Spätwerk vom ›Lyrisch-Musikalischen‹ distanziert25 – was aber blieb, sind Strukturen, welche eine eigene bedeutungsvolle Sprachebene der Gedichte darstellen. In Anlehnung an das Hebräische, das auch über die Bedeutung der Buchstaben als Zahlzeichen ›spricht‹, gelangen hier (An-)Zahlen mit Symbolwert zum Einsatz. Im Gedicht AUCH MICH heißt es: doch stehen die Zahlen bereit und doch geht in die große Silbenschrift ein, / was uns nah kam, einzeln (PCG 298).
21
22 23 24 25
Paul Celan: Rede anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen 1958. In: Paul Celan. Ausgewählte Gedichte. Zwei Reden. Mit einem Nachwort von Beda Allemann. 7. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977 (edition suhrkamp; 262), S. 127–129, S. 128. Celan, Der Meridian (wie Anm. 19), S. 9 [Hervorhebung im Original]. Gadamer, Nachwort: Wer bin ich und wer bist du? (wie Anm. 1), S. 127 und S. 110. Vgl. das Celan-Zitat hier S. 8. »Auch musiziere ich nicht mehr, wie zur Zeit der vielbeschworenen Todesfuge, die nachgerade schon lesebuchreif gedroschen ist. Jetzt scheide ich streng zwischen Lyrik und Tonkunst.« (Hugo Huppert: »Spirituell«. Ein Gespräch mit Paul Celan. In: Hamacher/Menninghaus, Paul Celan [wie Anm. 2], S. 320).
Vorwort
7
Viele Gedichte Celans lassen sich auf jüdisch-mystischer Ebene lesen, und sie er-zählen – das ist eine kabbalistische Praxis – auch in Zahlen. Wortanzahl, Strukturzahlen und symbolische Bedeutungen von genannten oder verborgenen Zahlen sind so ebenfalls als Bedeutungsträger zu identifizieren. Diese Arbeit wird folglich auch Zahlen und numerischen Strukturen in der Sprache der Lyrik Paul Celans auf der Spur sein. Der Praxis der Kabbalisten entspricht es, jedes Wort der als heilig geltenden Texte zu zählen, den Zahlenwert einzelner Worte, Satzteile oder Sätze auszurechnen und über die Zahlen Verbindungen mit Bibelversen, Gottesnamen, usw. zu ziehen.26 Denn nach onomatologisch-kabbalistischer Schöpfungsvision27 sind die Buchstaben des heiligsten Gottesnamens in allem Geschaffenen verborgen enthalten. Im Hebräischen entspricht jeder Buchstabe einem Zahlenwert, und so können Buchstaben, Wörter und Phrasen berechnet und miteinander oft über die symbolische Bedeutung der Zahlen in Beziehung gesetzt werden. Der Glaube an diese Buchstaben- und Zahlenmystik ist ein besonders charakteristischer Zug des osteuropäischen Chassidismus, in dessen Umfeld Celan in der Bukowina aufgewachsen ist. Celan betreibt zumindest in einigen Gedichten selbst Sprachmystik. Jean Firges berichtet in seinem Buch Vom Osten gestreut, einzubringen im Westen: Was allen aufgefallen ist, die mit Celan zu tun hatten, war sein Glauben an okkulte Zeichen, an geheime Übereinstimmungen, an ›Korrespondenzen‹ von Daten und Zahlen. [...] Daß Paul Celan eine besondere Neigung zur Zahlenmystik hat und sie in seinen Gedichten und in der zyklischen Anlage seiner Gedichte auch praktiziert, steht für mich außer Zweifel. Dieses Gebiet ist in der Celanforschung noch ein blinder Fleck.28
›Wort und Schöpfung‹ ist ein Hauptthema der jüdischen Mystik, mit der sich Celan über die Vermittlung von Martin Buber und Gershom Scholem intensiv auseinandergesetzt hat. In dieser Arbeit wird ein hinführender Abschnitt zum Verständnis des gedanklichen Hintergrundes der Lyrik Celans beitragen. Denn auf der einen Seite ist Sprache, im jüdischen Verständnis, Ursprung allen Seins – auf der anderen Seite ist es die dem Menschen geschenkte Möglichkeit zu denken, zu sprechen und in einen Dialog mit anderen zu treten. Aber die dem Denken und Sprechen zur Verfügung stehende Sprache erscheint dem Dichter
26 27
28
Diese Beschäftigung, Meditation über den Geheimnissen, soll dem mystischen Aufstieg zu Gott dienen. Vgl. dazu die Schriften Abraham Abulafias und Josef Gikatillas. In: Karl Erich Grözinger: Jüdisches Denken. Theologie – Philosophie – Mystik. Band 2: Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus. Frankfurt am Main, New York: Campus 2005, S. 303–462. Jean Firges: Vom Osten gestreut, einzubringen im Westen: Jüdische Mystik in der Dichtung Paul Celans. Annweiler: Sonnenberg 1999, S. 24 und S. 29.
8
Vorwort
in der Doppelfunktion des ›Sprachgitters‹.29 Die Sprache gelangt ständig an ihre Grenzen, ermöglicht aber doch Kontaktaufnahme und manchmal sogar Kommunikation. Ich [Celan] stehe auf einer anderen Raum- und Zeitebene als mein Leser; er kann mich nur ›entfernt‹ verstehen, er kann mich nicht in den Griff bekommen, immer greift er nur die Gitterstäbe zwischen uns: ›Augenrund zwischen den Stäben. / Flimmertier Lid / rudert nach oben, / gibt einen Blick frei.‹ So lautet mein Text. Und dieser durchs Gitter ›freigegebene Blick‹, dieses ›entfernte Verstehen‹ ist schon versöhnlich, ist schon Gewinn, Trost, vielleicht Hoffnung. Keiner ist ›wie‹ der andere, und darum sollte er vielleicht den andern studieren, sei’s auch durchs Gitter hindurch. Dieses Studium ist mein ›spirituelles‹ Dichten, wenn Sie so wollen.30
Celans spezifischer Umgang mit Sprache vor dem Hintergrund der kabbalistischen Tradition lässt sich dann auch an zahlenmystischen Konstruktionen mit symbolischer Bedeutung in den Gedichten aufzeigen. Dabei wird das besondere Interesse Celans an der Kabbala Isaak Lurias31 deutlich, denn viele Bilder, welche die Gedichte entwerfen, klären sich bei Kenntnis des lurianischen Mythos. Diese Arbeit zeichnet in ihrer Struktur den Dreischritt jenes kabbalistischen Mythos’, von der ursprünglichen Einheit – dem beklagten Zustand der Spaltung – bis zu der, auch sprachlich erstrebten, »Einung« der ursprünglichen Einheit, nach, wobei die Einungsbewegung in Inhalt, Buchstabe (Sprache) und Zahl (Form), im verdeckten (Kabbala) wie im offenen (Hölderlin) Zitat nachgewiesen wird.
29
30 31
Sprachgitter ist auch der Titel eines Gedichtbandes Celans. An manchen alten Haustüren und v. a. an Klosterpforten sind diese Sprachgitter, die trennen, aber doch Kommunikation in einer gewissen Distanz erlauben, noch zu finden. Huppert, »Spirituell«. Ein Gespräch mit Paul Celan (wie Anm. 25), S. 319f. Isaak Luria war ein bedeutender Safeder Kabbalist des 16. Jahrhunderts, dessen Lehren die spätere Entwicklung der Kabbala stark geprägt haben. Zum lurianischen Mythos siehe hier S. 16ff.
Einleitung – Die Lyrik Paul Celans als hermeneutische Herausforderung
Ein Gedicht ›verstehen‹ Nach Hans-Georg Gadamer präsentiert sich das Gedicht vorerst auf einer einzigen Ebene, der der Worte. Die Worte verstehen sei daher der Anfang. Aber bereits dieses erste Verstehen kann aufgrund mitklingender, sofort wahrgenommener Konnotationen polyvalent sein: [Dass die allererste Ebene des Verstehens nicht übersprungen werden darf] gilt vollends für Paul Celan, bei dem das einzelne Wort sehr konkret und präzise gesagt ist. Man kann gar nicht genau genug erwägen und ermitteln, was die Rede ›zunächst‹ sagt, wenn sich auch die eigentliche Präzision des Gesagtseins, die die Rede ein Gedicht sein läßt, auf dieser ersten Ebene der Wörter, ihrer Bedeutungs- und Benennungsfunktion und der Redeeinheit, die sie bilden, nicht erfüllt. In Wahrheit kann man sich in ihr gar nicht halten. Denn immer schon sind verschiedene Ebenen ineinandergeschoben. Das macht die Aufgabe des Verstehens so schwer.32
Die Unmöglichkeit des ›allseitigen‹ Begreifens von Gedichten zeigt sich dann deutlich in der späten Dichtung Celans, die »den Leser vor allem zur Arbeit an sich selbst auf[fordert], zur Grenzüberschreitung seines bisherigen Horizontes«.33 Und was meine angeblichen Verschlüsselungen anlangt, ich würde eher sagen: Mehrdeutigkeiten ohne Maske, so entspricht [sic] sie exakt meinem Gefühl für Begriffsüberschneidungen, Überlappung der Bezüge. Sie kennen doch auch die Erscheinungen der Interferenz, Einwirkung zusammentreffender kohärenter Wellen aufeinander. Sie wissen Bescheid über das dialektische Übergehen und Umschlagen – die Wandlung ins Benachbarte, ins Nächstfolgende, ja oft ins Gegenteilige. Dem entspricht meine (nur an gewissen Wendepunkten, Dreh-Achsen, auftretende) Mehrdeutigkeit. [...] Ich trachte sprachlich wenigstens Ausschnitte aus der SpektralAnalyse der Dinge wiederzugeben, sie gleichzeitig in mehreren Aspekten und Durchdringungen mit anderen Dingen zu zeigen: mit nachbarlichen, nächstfolgenden, gegenteiligen. Weil ich leider außerstande bin, die Dinge allseitig zu zeigen.34
32 33 34
Gadamer, Nachwort: Wer bin ich und wer bist du? (wie Anm. 1), S. 113. Wulf H. Ahlbrecht: Paul Celans späte Gedichte. Versuch an den Grenzen eurozentrischer Wirklichkeit. Bonn: Bouvier 1985, S. 42. Huppert, »Spirituell«. Ein Gespräch mit Paul Celan (wie Anm. 25), S. 321.
10
Einleitung
Hilfestellungen zum Verständnis seiner Gedichte verweigerte Celan mit wenigen, oft unkonkreten Ausnahmen, war doch die durchkomponierte hermetische Gestaltung der Gedichte beabsichtigt. Celan sagte, er »verschatte absichtlich manche Kontur, um der Wahrheit der Nuance willen«.35 Wie Hans-Georg Gadamer stellt auch James K. Lyon Überlegungen zum »›richtigen‹ Lesen von Paul Celans Lyrik« an und ist der Auffassung, dass Celan mit einem ihm eigenen Selbstverständnis vom Leser ein Wissensniveau über das verlangt, was Lyon Celans »kulturellen oder dichterisch-existentiellen Horizont«36 nennt. Diese Auffassung steht auch hinter den Ausführungen Gadamers, demzufolge unterschiedlichstes Verstehen eines Gedichtes ›richtig‹ sein könne. Das ›richtigere‹ Verstehen des Gedichts würde jedoch zu einem höheren Kohärenzgrad, einer gesteigerten Präzision37 führen. Es stellt sich somit die Frage, was der Leser an Wissen mitbringen muss, um mit dem Gedicht in Kommunikation treten zu können. Muss der Leser am Ende gar wissen, was der Autor wusste, als er das Gedicht schrieb? Angesichts der Lyrik Celans drängen sich Fragen zur Hermeneutik geradezu auf, die rund um seine Lyrik auch heiß diskutiert wurden. An dieser Stelle sei an jene hermeneutische Debatte erinnert, die sich am Gedicht DU LIEGST entzündet hat. DU LIEGST im großen Gelausche, umbuscht, umflockt. Geh du zur Spree, geh zur Havel, geh zu den Fleischerhaken, zu den roten Äppelstaken aus Schweden – Es kommt der Tisch mit den Gaben, er biegt um ein Eden – Der Mann ward zum Sieb, die Frau mußte schwimmen, die Sau, für sich, für keinen, für jeden – Der Landwehrkanal wird nicht rauschen. Nichts stockt. (PCG 315)
35 36
37
Ebd. James K. Lyon: »Ganz und gar nicht hermetisch«. Überlegungen zum »richtigen« Lesen von Paul Celans Lyrik. In: Psalm und Hawdalah. Zum Werk Paul Celans. Akten des Internationalen Paul Celan Kolloquiums New York 1985. Hg. von Joseph P. Strelka. Bern [u. a.]: Lang 1987, S. 171–191, S. 177. Gadamer, Nachwort: Wer bin ich und wer bist du? (wie Anm. 1), S. 122.
Die Lyrik Paul Celans als hermeneutische Herausforderung
11
Dank Peter Szondis »Eden«-Studie sind die biographischen Gegebenheiten rund um die Entstehung dieses Gedichts bekannt. Vieles im Gedicht, das auf den ersten Blick hermetisch wirken mag, lässt sich anhand des von Szondi aufgedeckten biographischen Hintergrundes entschlüsseln. Das Gedicht ist datiert mit dem 22./23.12.1967 – Celan befand sich zu dieser Zeit in Berlin – es schneite. Ein Weihnachtsmarkt mit Adventgestecken (Äppelstaken) aus Schweden wurde besucht – aber auch Orte des Verbrechens, wie Plötzensee (wo die hingerichteten Juliaufständischen auf Fleischerhaken gehängt worden waren) oder das ehemalige Hotel Eden. Von Szondi bekam Celan auch die soeben erschienene Dokumentation: Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Dokumentation eines politischen Verbrechens38 zu lesen, die als der Mann und die Frau des Gedichts identifizierbar sind. Karl Liebknecht wurde im Edenhotel erschossen – nach Zeugenaussagen »durchlöchert […] wie ein Sieb«.39 Über Rosa Luxemburg, die halbtot in den Landwehrkanal geworfen worden war, hieß es: »Die alte Sau schwimmt schon«.40 Das Gedicht auf diese entstehungsgeschichtliche Ebene der Lesart festzuschreiben, hieße jedoch, es in seinen semantischen Möglichkeiten zu beschränken. Szondi formuliert in seiner Fragment gebliebenen Studie sogar, dass nichts »größerer Verrat am Gedicht und seinem Autor« wäre, als das Gedicht auf seine empirischen Prämissen festzuschreiben.41 Er legt den Entstehungshintergrund des Gedichtes zwar frei, indem er dies tut, stellt er aber die dringende Frage, ob die Entstehungsgeschichte einer Interpretation überhaupt zu Grunde gelegt werden dürfe: Inwiefern ist das Gedicht durch ihm Äußerliches bedingt, und inwiefern wird solche Fremdbestimmung aufgehoben durch die eigene Logik des Gedichts? […] Zu fragen wäre, ob der Fremdbestimmung, den realen Bezügen, nicht eine Selbstbestimmung die Waage hält: die Interdependenz der einzelnen Momente im Gedicht, die auch jene realen Bezüge nicht unverwandelt läßt.42
Durch Szondis scharf gestellte Fragen fühlt sich Hans-Georg Gadamer zu einem Gespräch über Hermeneutik herausgefordert. Er versucht, vom Standpunkt des (um die biographischen Daten) Wissenden aus, zu rekonstruieren, was das Gedicht selbst sagt, wieviel man allein daraus, was das Gedicht sagt, erfahren kann. Es gebe, so Gadamer, bei keinem Leser den »fiktiven Nullpunkt 38
39 40 41
42
Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Dokumentation eines politischen Verbrechens. Hg. von Elisabeth Hannover-Drück und Heinrich Hannover. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967 (edition suhrkamp; 233). Ebd., S. 99. Ebd., S. 129. Peter Szondi: Eden. In: ders.: Schriften II. Hg. von Jean Bollack [u. a.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978 (stw; 220), S. 390–398 und S. 428–430. [Zuerst veröffentlicht in französischer Übersetzung durch Jean und Mayotte Bollack. In: L’Éphémère 19/20 (1972/73), S. 416–423; und in: Peter Szondi: Celan-Studien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972]. Ebd., S. 395.
12
Einleitung
der Uninformiertheit«,43 aber auch kein »Verstehen ohne Besonderungen«.44 Jeder Leser gehe mit jenem Wissen an ein Gedicht heran, das er bis zu dem Zeitpunkt, an dem er auf das Gedicht treffe, erworben habe. Je mehr der Leser weiß, je mehr er sich auch vom Wissen des Autors aneignet, desto vielschichtiger kann das Verstehen sein, obwohl nur ein Teil dessen, was das Gedicht sagt, vom Wissen des Autors abhängt. Interpretationen sind hier Schlüssel. Aber es kann nicht ihre Aufgabe sein, dem Gedicht dessen entschlüsseltes Bild an die Seite zu stellen. Denn obwohl auch das hermetische Gedicht verstanden werden will und ohne Schlüssel oft nicht verstanden werden kann, muß es doch in der Entschlüsselung als verschlüsseltes verstanden werden, weil es nur als solches das Gedicht ist, das es ist.45
Gadamer hebt auch Celans besondere Neigung hervor, im Wort sein Gegenteil mitzusagen – im Hinblick auf diese Arbeit sei z. B. auf das ›Nichts‹ bei Celan aufmerksam gemacht, das als ›absolutes Nichts‹ mit dem ›absoluten Sein‹, also Gott, zusammenfällt – und so auch die »Verschiedenheit in eins gebunden« werde.46 Nach Szondi kumulieren auf diese Weise Weihnachtsstimmung und Mordszenerie als Einheit von Paradies und Hölle im Wort Eden, das die Mitte des Gedichts DU LIEGST bildet.47 Die »Kontrastspannung«, von der auch Gadamer als bestimmendem Element in diesem Gedicht spricht,48 kann, wie das ›Nichts‹ vor dem Hintergrund der lurianischen Kabbala, auch als Engführung von Dichotomien im Sinne einer sprachlichen Einungsbewegung gedeutet werden. Diese sprachliche Bewegung vor dem gedanklichen Hintergrund des Mythos der lurianischen Kabbala unter Berücksichtigung der offensichtlich ins Deutsche transformierten (ursprünglich kabbalistischen) Zahlenmystik in den Gedichten Paul Celans aufzuzeigen ist der neue Ansatz dieser Arbeit innerhalb der Celanforschung. In der literarischen Forschung wurde das Gedicht DU LIEGST schon bald nach seiner Entstehung als ›Gedächtnisgedicht‹ behandelt. Hans-Georg Gadamer und Theo Buck49 betonten in ihren Besprechungen die jüdisch-historische Komponente, Marlies Janz stellte das Gedenken der sozialistischen Märtyrer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in den Vordergrund. Janz liest die Reimwörter des Gedichts Schweden – [ein] Eden – für jeden – als sozialisti43 44 45 46 47 48 49
Gadamer, Nachwort: Wer bin ich und wer bist du? (wie Anm. 1), S. 124. Ebd., S. 119. Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis. In: ders.: Schriften I. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, S. 263–286, S. 266. Gadamer, Nachwort: Wer bin ich und wer bist du? (wie Anm. 1), S. 114. Vgl. Szondi, Eden (wie Anm. 41), S. 397. Gadamer, Nachwort: Wer bin ich und wer bist du? (wie Anm. 1), S. 126. Theo Buck: Angstlandschaft Deutschland: Zu einem Nachkriegssyndrom und seiner Vorgeschichte in einem Gedicht Paul Celans. In: Deutsche Lyrik nach 1945. Hg. von Dieter Breuer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988 (stm; 2088), S. 138–165.
Die Lyrik Paul Celans als hermeneutische Herausforderung
13
sches Bekenntnis.50 Aber Schweden ist als wichtiges Exilland auch das ›Eden‹ der dänischen Juden in der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung. Schweden – [ein] Eden – für jeden – ist also auch in seiner Rolle als jüdisches Exilland zu bedenken. Zudem soll gezeigt werden, dass ein jüdischer Kontrapunkt zum christlichen Weihnachtsfest in diesem Gedicht existiert, und zwar auf der Ebene des Alten Testaments. In Erinnerung gerufen wird dabei das zentrale Ereignis in der Geschichte des jüdischen Volkes – der jüdische »locus classicus historischer Verweise«51 – der Auszug aus Ägypten. In den Gedichten Celans ist die unmittelbare Katastrophengeschichte stets präsent. Darüber hinaus ist aber auch der Versuch zu erkennen, die lange Geschichte des jüdischen Volkes in der Gegenwart der Gedichte präsent zu halten. Damit folgen die Gedichte Celans dem Gebot des Zachor, des Gedenkens in der jüdischen Tradition. Die uralte Verwandtschaft des Schreibens mit dem Tod, die Bewahrung in der Erzählung, ist hier zu erkennen, die durch den Völkermord, zumindest was die mündliche Weitergabe der Geschichte angeht, fast gestoppt wurde. Dieses ›Erinnern‹ im Gedicht ist aber für den heutigen, westlich orientierten Leser trotz des deutlich vernehmbaren Bibeltons, des Sprachstils und der vorhandenen Signalwörter nicht auf den ersten Blick erkennbar. In meiner Analyse gehe ich Verweisen durch Einzelwörter und biblische Strukturen nach, wobei im Fall des Gedichtes DU LIEGST die Strophen 1, 3 und 5 vordergründig auf biblische Thematik verweisen, in den Strophen 2 und 4 hingegen Stil- und Strukturparallelen zur Bibel nachweisbar sind. Insgesamt herrscht in diesem Gedicht ein emphatischer Ton, der an die Bibelsprache erinnert. Wenn man die Lyrik Celans aus intertextueller Perspektive betrachtet, so kann man neben der biographischen Ebene dieses Gedichts über die Datierung und die Biographie des Dichters hinaus weitere Prätexte erkennen. DU LIEGST lässt sich dann auf mehreren (Prä-) Textebenen lesen. Im späteren Verlauf dieser Arbeit wird das Gedicht noch einmal aufgenommen und den bekannten Interpretationen einige Aspekte aus jenem Blickwinkel hinzugefügt, der sich ergibt, wenn man die Gedichte Celans in enge Verbindung mit traditionellen Texten des Judentums bringt. Um einen Überblick über die verschiedenen Ebenen des Gedichts zu bieten, seien die darin identifizierten Prätexte in einer Tabelle dargestellt. Die Ebenen 6 und 7 sind in der Forschung bisher noch nicht beachtet worden: Textebenen – Prätexte: 1. Biographische Ebene / Datierung – Berlinaufenthalt 22./23.12.1967 2. Zeitgeschichtliche Ebene 1 – Berlin zur Nazizeit 1944 50 51
Marlies Janz: Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans. Königstein: Athenäum 1976, S. 194. Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis [1982]. Übersetzt von Wolfgang Heuss. Berlin: Wagenbach 1988, S. 56.
14
Einleitung
3. Zeitgeschichtliche Ebene 2 – Berlin Antikommunismus 1919 4. Biblische Ebene – Neues Testament (Jesusgeschichte) – Geburt und Tod 5. Ebene der literarischen Intertextualität – Büchner: Dantons Tod 6. Biblische Ebene (AT) – (Ex.) Auszug; (Gen.) Eden; (Deut.) Zachor 7. Mystische (kabbalistische) Ebene; Wortsymmetrien und Zahlensymbolik Orte und Zeiten verschmelzen in DU LIEGST, wie so oft bei Celan, auf einer Metaebene des Gedichts, auf der es um ›letzte Dinge‹ – um theologische Fragen und immer wieder auch um Gott – das hadernde Gespräch mit Gott und die Beziehung zwischen Gott und seinem auserwählten Volk geht. In dieser Arbeit wird der intertextuellen Verbindung mit heiligen Schriften nachgegangen, um den Blick auf die jüdisch(-mystische) Ebene der Gedichte zu schärfen. Die Schwierigkeit im Umgang mit dem nötigen kulturellen Hintergrundwissen drückt Dietlind Meinecke in ihrer Einleitung zum 1970 erschienen Band Über Paul Celan aus: Es bleibt im übrigen eine noch ungelöste aber schwerwiegende Frage, wieviel genauer ein philologisch geschulter Leser als ein in diesem Sinne naiver Leser die Gedichte Celans aufnehmen kann. Celan betonte in Gesprächen wiederholt, daß er die Neuigkeit eines jeden Wortes in einem Gedicht sehr hoch einschätze. Von daher, so meinte er, müßten seine Gedichte unmittelbar zu Gehör gehen. Ein bestimmtes Vorwissen hielt er oft geradezu für abträglich [...]. Allerdings rechnete er merkwürdigerweise fast immer mit einer Kenntnis der jüdischen und chassidischen Religionsgeschichte beim Leser.52
Die intertextuelle Herangehensweise dieser Arbeit orientiert sich am diesbezüglichen Mangel an Wissen des heutigen mitteleuropäischen Kultur- und Sprachraums. Ein kultureller Kreuzungspunkt zwischen Autor bzw. Gedicht und Leser ist Voraussetzung für das Verstehen (dieser speziellen Ebene), wobei der »Cultural Code« aber einem ständigen Veränderungsprozess unterworfen ist. Bei der Analyse mehrfach kodierter Texte ist stets zu berücksichtigen, dass der »Zeichenkomplex der latenten Kodierung […] aus dem kulturellen Gedächtnis (zumindest vorübergehend) verschwinden«53 kann. So geht Paul Celan radikal von seinen eigenen Erfahrungen und Leseeindrücken als ›Basistext‹ aus. Auch Gadamer erwähnt, ihm würde die »originale Kennerschaft der jüdischen Mystik der Chassidim« und »vor allem der östlich-jüdischen Volksbräuche, die für Celan den selbstverständlichen Grund bildeten, aus dem heraus er sprach«,54 fehlen. Doch manchmal vermag gerade ein kabbalistisches Bild als Hintergrundfolie eines Celanschen Gedichtes jenen »Sinn-Halt« zu geben, den 52 53 54
Dietlind Meinecke: Einleitung. In: dies.: Über Paul Celan. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970 (edition suhrkamp; 495), S. 7–30, S. 20 [Hervorhebung, I. F.]. Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 59. Gadamer, Nachwort: Wer bin ich und wer bist du? (wie Anm. 1), S. 111.
Die Lyrik Paul Celans als hermeneutische Herausforderung
15
Gadamer im unüberschaubaren Konnotationsgewirr der Celanschen Gedichtsprache als »Sinn-Einheit« fordert.55
Celans Judaica-Lektüre Dass Celan sich mit Mystik v. a. ab den 60er Jahren intensiv auseinandergesetzt hat, haben u. a. Joachim Schulze, Beate Sowa-Bettecken, Elke Günzel, Jean Firges und Lydia Koelle überzeugend nachgewiesen.56 Wenn Celan also sagt: »Lyrik ist Mystik«,57 so ist das durchaus wörtlich zu verstehen, denn das Gedicht ist für ihn der Ort, an dem der Mensch dem »ganz Anderen«58 begegnen kann. Otto Pöggeler berichtet, Celan habe einige Male abwehrend von einem Gedicht gesagt, es sei kein Liebesgedicht, es meine Gott.59 Lyrik als gedichteter Text stellt für Celan tatsächlich Sprachmystik dar. Transzendentes, ein Geheimnis, wird in und mit der Sprache transportiert, es muss nicht erst in die Sprache hineingelegt werden, sondern existiert immer schon in ihr. So erklärt sich für den Mystiker die Macht der Sprache. Nach Jean Firges hat sich kein moderner Autor gründlicher in die Sprachtheorien der Kabbala eingearbeitet als Paul Celan, und er tat dies »aus der Überzeugung, daß alles Wissen, das wir über uns und die Welt haben, sprachbedingt ist und daß die Meditation über die Sprache die höchste Form des Denkens ist, ein Denken des Denkens.«60 Diese Leidenschaft im Umgang mit Sprache teilt Celan mit den jüdischen Mystikern. Neben der Besinnung auf die Leschon Hakodesch – die heilige hebräische Sprache – begann Celan nach dem Krieg mit einer intensiven Auseinandersetzung mit den Schriften Martin Bubers und dessen Büchern zum Chassidismus
55 56
57 58 59
60
Vgl. ebd. Joachim Schulze: Celan und die Mystiker. Motivtypologische und quellenkundliche Kommentare. Bonn: Bouvier 1976 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik-, und Literaturwissenschaft; 190); Beate Sowa-Bettecken: Sprache der Hinterlassenschaft. Jüdisch-christliche Überlieferung in der Lyrik von Nelly Sachs und Paul Celan. Frankfurt am Main: Peter Lang 1992 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur; 1357); Günzel, Das wandernde Zitat (wie Anm. 3); Firges, Vom Osten gestreut, einzubringen im Westen (wie Anm. 28); Koelle, Paul Celans pneumatisches Judentum (wie Anm. 4). »Celan sagte mir einmal im Gespräch: ›Lyrik ist Mystik‹.« (Franz Büchler: »Heute und morgen«. In: Neue Deutsche Hefte 11 (1964), H. 97, S. 91–96, S. 92). Celan, Der Meridian (wie Anm. 19), S. 1–13, S. 8 [Hervorhebung im Original]. Otto Pöggeler: Spur des Worts. Zur Lyrik Paul Celans. Freiburg i. Br., München: Alber 1986, S. 137; vgl. auch Koelle, Paul Celans pneumatisches Judentum (wie Anm. 4), S. 42. Firges, Vom Osten gestreut, einzubringen im Westen (wie Anm. 28), S. 29.
16
Einleitung
und später mit den Schriften Scholems zur Kabbala.61 Celan war zwar dem orthodoxen Judentum nie zugeneigt, aber er zeigte im Laufe der Jahre – was sich auch an der Zunahme der Judaica in seiner Bibliothek beobachten lässt – verstärkt Interesse an den traditionellen Texten des Judentums, besonders an der Kabbala.62 In den Schriften Scholems zur Kabbala ist die Anstrengung zu erkennen, die Grenzen der Logik nicht zu sprengen, sondern die Vorstellung auf eine höhere Ebene zu verlegen. Scholem strebt neben den zahlreichen Hinweisen auf die Unzulänglichkeit der Sprache alles Metaphysische betreffend doch dahin, die mystische Metaebene dem Verstand näher zu bringen.63 Zum Verständnis der Seinsweise des ›Nichts‹ bei Celan wie der jüdischmystischen Ebene seiner Gedichte generell, ist die Vorstellungswelt der lurianischen Kabbala wesentlich.64 Demnach muss Gott aus dem Nichts schaffen, denn vor der Schöpfung existiert Gott allein. Würde er aus Bestehendem schaffen, wäre das Geschaffene göttlich wie er selbst und nicht von ihm zu trennen. Aber das Nichts muss in Abgrenzung zum Göttlichen erst hervorgerufen werden, in das hinein Gott (durch Emanation) schaffen kann. Und auch dabei nimmt der Schöpfer einen Teil seiner selbst zurück, um als Produkt der Schöpfung nicht wieder Teile seiner selbst zu erhalten. Die Attraktivität der lurianischen Kabbala für einen jüdischen Dichter mit der Erfahrung des zweiten Weltkriegs liegt u. a. darin, dass die Kabbala Lurias unter dem Eindruck der Vertreibung und des Exils65 entstanden ist – und eine Überlegung darstellt, welche das Exil in Gott selbst beheimatet. Lurias Kabbala entwickelt sich aus den Schriften seiner Vorgänger, sie geht im Großen und 61
62
63
64
65
Gershom Scholem hat jüdische Mystik gelehrt und wichtige kabbalistische Texte übersetzt. Die wissenschaftliche Aufbereitung kabbalistischer Texte gründet auf Scholems Arbeiten. Der Religionsphilosoph Martin Buber hat u. a. die ›Geschichten der Chassidim‹ aufgezeichnet und ins Deutsche übersetzt. Die Arbeit mit kabbalistischen Texten erfolgt hier sehr spezifisch in Hinblick auf die Lektüre Celans. Dieser stützt sich vor allem auf die Auslegung der Kabbala durch Gershom Scholem, der sich eindeutig auf die theosophische Ebene der Kabbala konzentriert und sich der mystischen Versenkung nur in Ansätzen widmet, was ihm heute mitunter vorgeworfen wird. Ein allgemeiner Überblick über die Kabbala und ihre Bedeutung wird hier nicht geboten. Dazu sei auf die Bücher Moše Îdels (z. B. Moše Îdel: Kabbalah: new perspectives. New Haven [u. a.]: Yale Univ. Press 1988; ders.: Studies in ecstatic Kabbalah. Albany: State Univ. of N.Y. Press 1988; ders.: Hasidism: between ecstasy and magic. Albany: State Univ. of N.Y. Press 1995) und auf Grözinger, Jüdisches Denken (wie Anm. 27) verwiesen. Der wahre Mystiker muss aber, nach Meister Eckhart, über alles Wollen hinaus kommen. Todes quitt, Gottes / quitt (TRECKSCHUTENZEIT, PCG 304) ist der Zustand, den er anstrebt. Vgl. dazu Koelle, Paul Celans pneumatisches Judentum (wie Anm. 4), S. 176–190. Vgl. zum Folgenden: Gershom Scholem: Isaak Luria und seine Schule. In: ders.: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen [1941]. 12. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005 (stw; 330), S. 267–314. Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus Spanien 1492.
Die Lyrik Paul Celans als hermeneutische Herausforderung
17
Ganzen von den Ansichten Moshe Cordoveros66 aus, unterscheidet sich am Ende der Bearbeitung aber doch wesentlich von der Vorlage. Der revolutionäre Unterschied zwischen Lurias Kabbala und der des Sohar67 liegt nach Gershom Scholem in der wesentlich einfacheren Vorstellung der Struktur des Weltentstehungsprozesses der alten Kabbala. Dort wird ein Gott gezeigt, der mit jedem einzelnen Schöpfungsakt »nach außen tritt, seine Schöpferkraft aus seinem Wesen hinausprojiziert.«68 Viel komplizierter gestaltet sich dagegen Lurias Überlegung: An der Spitze seines Gedankenganges steht die Lehre vom Zimzum, eine der erstaunlichsten und weitest reichenden mystischen Ideen, die in der Kabbala je gedacht worden sind. Zimzum heißt eigentlich ›Konzentration‹ oder ›Kontraktion‹, ist aber, wenn man den Sinn der lurianischen Vorstellung genau treffen will, besser wohl mit ›Zurückziehen‹ oder ›Rückzug‹ zu übersetzen. […] Man ist versucht, dieses Zurückgehen Gottes auf sein eigenes Sein mit Ausdrücken wie ›Exil‹ oder ›Verbannung‹ seiner selbst aus seiner Allmacht in noch tiefere Abgeschiedenheit zu interpretieren. So aufgefaßt, wäre die Idee des Zimzum das tiefste Symbol des Exils, das gedacht werden könnte […].69
Aus der akuten Situation der Vertreibung und der Suche nach ihrem Sinn gewinnt neben der Auffassung des Ur-Exils in Gott selbst auch die alte Idee von der ›Schechina im Exil‹70 über ihre Funktion als Metapher hinaus zentrale Bedeutung und steht als »echtes Symbol für einen Status der Dinge in der Welt der göttlichen Potenzen selber.«71 Der Kabbalist ist v. a. am Ausgangspunkt (der Schöpfung) und nicht vorrangig am Ende der Geschichte (der Erlösung) interessiert,72 da die Idee der Erlösung durch Rückführung zur ursprünglichen Einheit, aus der alles entstand, verfolgt wird. Dabei stellt die Kabbala Lurias mit der Entwicklung der Idee des Zimzum nach Jakob Emden73 den tatsächlich einzigen ernsthaften Versuch dar, eine ›Schöpfung aus Nichts‹ wirklich zu denken. Die Vorstellung des Zimzum wird bei Luria ergänzt durch »die Lehre von der sogenannten
66
67
68 69 70 71 72 73
Moshe Cordovero war ein bedeutender Safeder Kabbalist des 16. Jahrhunderts und Lehrer Isaak Lurias; seine Schrift »Pardes Rimmonim« [1548] ist ein kabbalistisches Standardwerk. »[...] als dessen authentische Interpretation – auf Grund der Offenbarungen des Propheten Elias – die lurianische Kabbala auftritt.« (Scholem, Luria und seine Schule [wie Anm. 64], S. 285). Das Buch Sohar präsentiert das Schöpfungsmodell der Sefirot und ist damit wesentlicher Bestandteil der Basis jüdischer Mystik. Ebd. Ebd., S. 285ff. Die Schechina stellt die ›Einwohnung‹ Gottes, seine Anwesenheit unter den Menschen auf Erden dar. Vgl. Scholem, Luria und seine Schule (wie Anm. 64), S. 302. Vgl. ebd., S. 268. Vgl. ebd., S. 287.
18
Einleitung
Schebirath ha-Kelim, dem ›Bruch der Gefäße‹, und die vom Tikkun, die Lehre von der Heilung oder Restitution des durch den Bruch geschaffenen Makels.«74 Der Mythos des ›Bruchs der Gefäße‹ besagt, dass bei der Entsendung des zu mächtigen göttlichen Schöpferstrahls in das durch Zimzum geschaffene Vakuum in Gott selbst, die Gefäße, aus minderem Licht geschaffen, die die Strahlen auffangen und kanalisieren sollten, aufgrund der göttlichen Gewalt zerbarsten. Die Strahlen reflektierten in alle Richtungen und kehrten zu einem großen Teil zu En Sof,75 der Quelle, zurück, aber mit den fallenden Scherben der Gefäße gingen auch göttliche Funken verloren. Luria spricht von 288 Funken,76 die mit den Bruchstücken der Schalen in die Tiefe stürzen. Die göttliche Einheit ist damit zerstört. Der ›Bruch der Gefäße‹ bewirkt einen Riss in der gesamten Schöpfung und, da sich die Schöpfung in Gott ereignet hat, in Gott selbst. Im Unterschied zum Zimzum, dem Exil in sein Selbst, wird bei der Schebirath ha-Kelim etwas vom göttlichen Sein aus seinem Selbst verbannt.77 Die Kombination der beiden Exilsvorstellungen erlaubt eine jüdische Theologie nach der Schoah, die davon ausgeht, dass Gott aufgrund des Zimzum, selbst wenn er hätte eingreifen wollen, gar nicht eingreifen hätte können. Vor allem die Anhänger des Chassidismus arbeiten in Kult und Alltag an der Wiedervereinigung Gottes mit den verlorenen Funken in seiner Schöpfung. Diese Funken stecken in allem und können durch unterschiedliche Anstrengungen zu En Sof zurückgeführt werden. Die Chassidim arbeiten damit aktiv an der Einung – Tikkun – des einstmals wahren Einen.78 Die Frage, warum es überhaupt zu einem Bruch der Gefäße kommen musste, wird in Zusammenhang mit dem Bösen in der Schöpfung gebracht: Die tiefsten Wurzeln der Kelipoth, der ›Schalen‹ oder Kräfte des Bösen, existierten nämlich schon vor dem Bruch der Gefäße und lagen durcheinander gemischt mit den Lichtern der Sefiroth […] im Urraum. Die Notwendigkeit, die Elemente der Sefiroth und die sich bildenden Gefäße zu reinigen und die Kelipoth auszuscheiden, brachte den Bruch der Gefäße mit sich. Der Zweck dieser Reinigung war, das Böse als abgesonderte Identität und reale Macht entstehen zu lassen.79
Der kabbalistischen Lehre folgend ist Gott, aber er ist in keiner Weise vorstellbar, fassbar oder denkbar und in seinem unendlichen Sein für Menschen nicht erreichbar. Es bleibt damit die Frage nach der Möglichkeit dieses allumfassenden Seienden zu schöpfen und sich seiner Schöpfung mitzuteilen. Etwas in
74 75 76 77 78 79
Ebd., S. 291. ›Quelle des Lichts‹ bzw. ›Wurzel der Wurzel‹ sind Metaphern für Gott in seiner Transzendenz (Spitze des Sefirot-Modells). Vgl. dazu hier S. 20. Vgl. Scholem, Luria und seine Schule (wie Anm. 64), S. 294. Vgl. ebd., S. 287. Vgl. ebd., S. 294. Ebd., S. 293.
Die Lyrik Paul Celans als hermeneutische Herausforderung
19
Gott – Scholem spricht vom ›gedankenvollen‹ Licht80 – will sich mitteilen. Dieses ›gedankenvolle‹ Licht, ein Teil Gottes, will, dass etwas außerhalb von Gott, etwas von ihm Getrenntes existiert, das sein Sein bezeugt: »Ihr seid meine Zeugen, spricht der HERR, und mein Knecht, den ich erwählt habe, damit ihr erkennt und mir glaubt und einseht, daß ich es bin. Vor mir wurde kein Gott gebildet, und nach mir wird keiner sein« (Jesaja 43,10).81 Da Gott in seiner Unendlichkeit aber nur von sich selbst oder einer Schöpfung, die von ihm selbst nicht zu unterscheiden (also Teil seiner selbst) ist, erfassbar wäre, gibt es nach Lurias mystischer Logik nur eine Möglichkeit der Schöpfung und Vermittlung. Das Unendliche beschränkt sich selbst (Zimzum), um etwas außerhalb seiner Selbst zu schaffen und um zumindest im Ansatz erkannt werden zu können. Nach Israel Saruk kommt es mit diesem Wunsch in Gott zum Ursprung aller Sprachbewegung: Es entsteht somit eine Bewegung in En-sof ›von sich selbst zu sich selbst‹, in der sich jene Freude des En-sof über sich selbst ausdrückt, damit zugleich aber auch schon die geheimen Potenzialitäten allen Ausdrucks. Aus dieser innersten Bewegung heraus webt sich das Urgewand – hebr. malbusch – in der Substanz von En-sof selbst. Das ist die eigentliche Urtora, in der höchstbemerkenswerterweise die Schrift, die verborgene Signatur in Gott, dem Sprechen vorausgeht, so daß die Sprache letzten Endes aus der Laut-Werdung der Schrift entsteht und nicht umgekehrt.82
In diesem Prozess der Schöpfung durch Zimzum wird nun einerseits die Möglichkeit der Schöpfung angelegt, andererseits die Möglichkeit für die Geschöpfe, in mystischer Versenkung den Weg zu En Sof, dem unendlichen Gott, rückzuvollziehen und so eine größtmögliche Annäherung zu erreichen. Dieser Pfad, das trennende Verbindungsglied zwischen En Sof und seiner Schöpfung, ist im Sefirot-Modell83 anschaulich gemacht worden:
80
81
82
83
Vgl. Gershom Scholem: Sitra achra; Gut und Böse in der Kabbala. In: ders.: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala [1962]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973 (Wiss. Sonderausgabe), S. 49–82. Celan las dieses Buch im April des Jahres 1967. Bibelstellen werden, wenn nicht anders nachgewiesen, zitiert aus: Elberfelder Studienbibel mit Sprachschlüssel. Das Alte Testament. Revidierte Fassung. Wuppertal: Brockhaus 2001, da der deutsche Wortlaut möglichst nahe am Hebräischen gehalten ist. Gershom Scholem: Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala. In: ders.: Judaica III. Studien zur jüdischen Mystik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 7–70, S. 53. Hier stark vereinfacht dargestellt.
20
Einleitung
En Sof I Keter Krone III Bina Einsicht
II Hochma Weisheit
V Gebura Macht
IV Chesed Gnade VI Tif’eret Pracht VII Netsach Sieg
VIII Hod Majestät IX Jesod Fundament X Malchut Herrschaft
In der Krone der Sefirot, Keter, ist alles potentielle spätere Sein in einem noch nicht differenzierten Zustand enthalten. »Keter auch Ajin (Nichts) genannt, ist kein Nichtsein, sondern die undifferenzierte Einheit allen Seins. Es ist das unbestimmte ›Nichts‹, aus dem sich alles ›Sein‹ entfaltet«.84 Die göttliche Selbstbeschränkung, die zwischen En Sof und Keter stattfindet, »bedeutet nicht so sehr eine wesentliche Änderung in En Sof selbst, sondern vielmehr die Schaffung von Möglichkeit und Differenzierung durch Keter.«85 Luria nimmt bei der Abgrenzung einer Sefirot-Ebene zur nächsten einen ›Vorhang‹ oder eine Scheidewand an, die eine doppelte Wirkung hat: 84
85
David S. Ariel: Die Mystik des Judentums [1988]. Eine Einführung. Mit einem Vorwort von Karl Erich Grözinger. Aus dem Amerikanischen von Miriam Magall. München: Diederichs 1993, S. 167. Ebd.
Die Lyrik Paul Celans als hermeneutische Herausforderung
21
Einmal bewirkt sie das Zurückfluten der göttlichen Substanz selber nach oben, das Licht des En-Sof wird reflektiert; zum andernmal aber durchdringt zwar nicht mehr die Substanz, wohl aber die Kraft, die von ihr ausgeht, den Filter des ›Vorhangs‹. Diese Kraft wird dann zur Substanz der nächsten Welt, von der wiederum nur deren Kraft weiterschwingt, und so geht es fort bis zur untersten.86
Mit dieser Vorstellung stellt sich Luria auf die Seite der Instrumentalisten unter den Kabbalisten, die die Sefirot im Unterschied zu den Essentialisten87 nicht mehr als »[S]ubstanz-eins«88 mit En Sof sehen. In den Sefirot sammeln sich also differenzierte Kräfte Gottes, die nach unten auf die Schöpfung wirken, und zwar auch mittels der göttlichen Sprache, die, wie die Sefirot selbst, die Brücke über dem Abgrund zwischen En Sof und seiner Schöpfung bildet. Die Sefirot sind also auch Gottes sprachliche Mitteilung. Alle Wesen offenbaren ihre Essenz durch Denken, das schließlich die Gestalt von Sprache annimmt, und die Sefirot sind die göttliche Sprache.[89] […] Angefangen bei Hochma [Weisheit; 2. Sefira] stellt jede Sefira ein eigenes Entwicklungsstadium der göttlichen Sprache dar. Die Folge göttlicher Selbstentäußerung beginnt mit dem Erscheinen von Gottes essentieller Hochma. Die Kabbalisten kennzeichnen dies als die Schöpfung eines ›Urtextes‹, eines Gefäßes, in das die Weisheit des Verfassers eingeprägt ist.90
Bina [Einsicht; 3. Sefira] ist dann die Kommentatorin von Hochma. Die unendliche, in Hochma noch undifferenzierte Weisheit Gottes, die im »Urtext« verborgen ist, muss offenbart und mit Hilfe des Verstandes zugänglich gemacht, differenziert werden. Bei der Bewegung durch die Sefirot wird, so Ariel, Gottes Weisheit zunehmend spezifischer und differenzierter und gipfelt in der sprachlichen Äußerung dieser Weisheit durch göttliche Sprache.91 86 87 88 89
90 91
Scholem, Luria und seine Schule (wie Anm. 64), S. 299. Vgl. Ariel, Die Mystik des Judentums (wie Anm. 84), S. 118–122. Scholem, Luria und seine Schule (wie Anm. 64), S. 299. »Allein schon das Wort Sefira in dem Vers: ›Die Himmel rühmen (mesaprim, von der gleichen Wurzel wie Sefira) die Herrlichkeit (Kawod) Gottes‹ (Psalmen 19,2), vermittelt klar den Gedanken, daß die Sefirot Gottes Sprache sind. Die im Hebräischen gemeinsame Wurzel spr der Wörter Sefira und saper, was ›erzählen‹ bedeutet, legt nahe, daß Gottes Ausdrucksmittel, die Sefirot, auch seine Sprache sind.« (Ariel, Die Mystik des Judentums [wie Anm. 84], S. 168). Ebd. Vgl. Ebd. Moshe Cordovero war es dann, der als erster versucht hat, »den dialektischen Prozeß klarzumachen, den die Sefiroth in ihrer Entwicklung durchlaufen und der sich vor allem in jeder einzelnen abspielt. Er hat versucht, die Stufen der Emanation als Stationen des göttlichen Denkens zu interpretieren. Das Problem der Beziehung der Substanz En-Sof zum ›Organismus‹, zu den ›Instrumenten‹ (kelim), Gefäßen oder Organen, durch die sie wirkt, hat er in immer neuen Formulierungen zu lösen versucht. Der innere Konflikt zwischen theistischen und pantheistischen Tendenzen in der mystischen Theologie der Kabbala ist bei ihm besonders deutlich geworden.« (Scholem, Luria und seine Schule [wie Anm. 64], S. 277).
22
Einleitung
Um kabbalistisches Gedankengut nachvollziehen zu können, muss man sich auch die Toraauffassung der Kabbalisten vor Augen führen.92 Die erste Fragestellung, die sich für die Kabbalisten in diesem Zusammenhang erhob, betraf die Frage nach der Natur der Tora, die als ›schriftliche Tora‹ gilt. Was eigentlich kann Gott offenbaren, und worin besteht das sogenannte Wort Gottes, das den Empfängern der Offenbarung zukommt? Ihre Antwort lautet: nichts anderes als sich selbst, wo er Sprache und Stimme wird. Dieser Punkt aber, an dem die göttliche Kraft sich in einem Ausdruck, sei er auch noch so innerlich und verborgen, niederschlägt, ist der Name Gottes. […] Die schöpferische Kraft, die im Namen Gottes, der das eigentliche Wort Gottes ist, das Gott von sich aussendet, solcherart versammelt ward, ist weit größer, als jeder menschliche Ausdruck, jedes geschöpfliche Wort fassen könnte.93
Die Tora ist damit eine ungrammatische Textur, bestehend aus den Namen Gottes »und, wie es dann schon bei den frühesten spanischen Kabbalisten heißt, aus dem einen großen, absoluten Namen Gottes, der die letzte Signatur aller Dinge ist. Sie stellt eine geheimnisvolle Einheit dar, die keineswegs in erster Linie bezweckt, einen spezifischen Sinn zu übermitteln, etwas zu ›bedeuten‹, vielmehr die Kraft der Gottheit selbst zum Ausdruck zu bringen, die in diesem ›Namen‹ konzentriert ist.«94 Das besagt aber: die Worte, die wir in der schriftlichen Tora lesen, die das vernehmbare ›Wort Gottes‹ ausmachen und eine verständliche Mitteilung enthalten, sind in Wirklichkeit schon Vermittlungen, in denen sich das für uns Unbegreifliche, das absolute Wort darstellt. Dieses Wort teilt sich ursprünglich in seiner unendlichen Fülle mit, aber diese Mitteilung – und das ist der springende Punkt – ist unverständlich! Sie ist keine Kommunikation, die der Verständigung dient. Erst als Vermitteltes ist solche Mitteilung, die eigentlich nur Ausdruck des Wesens war, auch Kommunikation. [–] Diese streng mystische Auffassung von der Natur der Offenbarung ist für jede Auseinandersetzung über die Tradition grundlegend.95
Die Welt entsteht so durch die Kombination der Buchstaben der göttlichen Sprache. »Diese Buchstaben sind aber die der hebräischen Sprache als der Ursprung und Sprache der Offenbarung.«96 Basierend auf diesem Verständnis beginnt nun die eigentliche Sprachmystik. Die hebräische Sprache besteht aus 22 Konsonanten, die jeweils auch einen Zahlenwert darstellen – Buchstaben und Zahlzeichen sind im Hebräischen ident. Daraus ergibt sich für die Mystiker eine Fülle an Möglichkeiten. Eines der ältesten Werke der Kabbala, das Buch Jezira, beschäftigt sich mit der mys92
93 94 95 96
Vgl. Gershom Scholem: Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum. In: ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970 (edition suhrkamp; 414), S. 90–120. Ebd., S. 106f. Ebd., S. 107. Ebd., S. 108. Scholem, Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala (wie Anm. 82), S. 20.
Die Lyrik Paul Celans als hermeneutische Herausforderung
23
tischen Gestalt der Buchstaben/Zahlen und der Schöpfung der Welt aus diesen hebräischen Buchstaben. Der Lehre des Sefer Jezira folgend, bilden die 22 Buchstaben in Verbindung mit den 10 Grundzahlen zusammen jene »32 Pfade der Weisheit«, die der Formung des göttlichen unaussprechlichen Namens dienten.97 22 Konsonanten ermöglichen 231 Kombinationsmöglichkeiten – diese werden als Pforten bezeichnet, durch die alles Geschaffene hervorgeht.98 Unter den 32 unterschiedlichen Methoden, die ursprüngliche Bedeutung der Tora zu erforschen, versucht der Kabbalist u. a. durch Temura (Buchstabenpermutation) und Gematria (Buchstabenkombination) und durch die Erforschung von Verhältnissen und Übereinstimmungen von Zahlenwerten den ›Weisheitspfaden‹ in der heiligen Sprache auf die Spur zu kommen. »Die Bewegung, in der die Schöpfung zustande kommt, ist also auch als Sprachbewegung deutbar«, ob der Schöpfungsprozess nun aber in Lichtsymbolik oder in Sprachsymbolik dargestellt wird, »ist für den Kabbalisten letzten Endes nur eine Frage der Wahl unter an sich gleichgeordneten Symboliken.«99 Während das Christentum von der Schrift als der Vermittlerinstanz Gottes ausgeht, begreift v. a. das onomatologisch ausgerichtete mystische Judentum die Schöpfung als Weiterentwicklung der Schrift. Die Vorstellung, daß die gesamte Schöpfung, die physische Welt unter dem geistigen Bereich, aus den Buchstaben des hebräischen Alphabets besteht, die Gottes eigene Essenz enthalten, ist eine von der Kabbala eingeführte radikale Neuerung. Mit anderen Worten, Gottes Essenz ist sein Denken, und Ausdruck seiner Essenz ist die Emanation der hebräischen Buchstaben. Die Buchstaben nehmen in mehreren Stadien hintereinander eine konkrete Form an, die in der hebräischen Sprache gipfelt.100
Damit erscheint der poststrukturalistische Gedanke eines universalen, basalen Grundtextes und die Erkenntnis, dass in Wahrheit alles Text sei, plötzlich gar nicht mehr neu. Der große Unterschied zwischen den beiden Vorstellungen ist aber, dass der Universaltext des Judentums kein Text ohne Zentrum ist, der Urpunkt in diesen Überlegungen ist natürlich Gott. Als präexistenter Text, in dem alles potentielle Sein bereits präfiguriert ist, gilt die Tora. Ausgangspunkt dieser Überlegung ist u. a. Gen. 1,26: »Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen in unserm Bild, uns ähnlich!« Denn es stellt sich die Frage, zu wem Gott hier am Beginn der Schöpfung spricht. Im Midrasch Bereschith rabba I§1 zu Gen. 1,1 heißt es: »So blickte der Heilige, 97
98 99 100
Das Buch Jezira. In der Übersetzung von Johann Friedrich Meyer hg. von Eveline Goodman-Thau und Christoph Schulte. Mit einem Nachwort von Moshe Idel und Wilhelm Schmidt-Biggemann. Berlin: Akademie Verlag 1993 (Jüdische Quellen; 1), S. viif. Vgl. Scholem, Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala (wie Anm. 82), S. 24. Ebd., S. 32f. Ariel, Die Mystik des Judentums (wie Anm. 84), S. 170.
24
Einleitung
gepriesen sei er, in die Tora und schuf erst dann die Welt.«101 Die Tora ist im Judentum das Gesetz, das Schöpfung und Natur regiert, und es ist den Israeliten als »Liebestat Gottes«102 geoffenbart worden. Die jüdische Mystik dringt hier weiter in die Tiefe – die Tora ist für die Kabbalisten nichts anderes als die Weisheit (Hochma – 2. Sefira) oder der Name Gottes selbst. Rabbi Eliesa schrieb: »Bevor die Welt erschaffen wurde, waren Gott und sein Name alleine da«103 und Josef Gikatilla vertrat die Auffassung, die ganze Tora sei ein Kommentar des Tetragrammaton.104 Hinter dieser Aussage steht die Überlegung, dass es am Anfang etwas gegeben haben muss, das alles, was heute ist, potentiell enthalten hat.105 Die vier heiligen Buchstaben des Gottesnamens JHWH enthalten also nach jüdischem Verständnis alles, was potentiell entstehen kann, wie die Buchstaben der hebräischen Sprache in der jüdischen Tradition überhaupt – als Träger oder Gefäße von göttlicher Sprache und Denken – eine Sonderstellung einnehmen. Hochma ist die Hüterin göttlicher Weisheit und enthält in sich die undifferenzierte Möglichkeit der Buchstaben. In der Midrasch-Literatur der rabbinischen Zeit wird die Thora als die äußere Manifestation göttlicher Weisheit identifiziert. Nach dem Midrasch hat die Thora als eins von sechs Dingen noch vor der Erschaffung der Welt existiert (Bereshit Rabbah 1,4). Die Kabbalisten verweisen darauf, daß das Wort für ›Dinge‹ (Dewarim) und der Begriff für ›Worte‹ (Dibburim) die gleiche hebräische Wurzel, db/wr, besitzen. Deshalb stützt der Midrasch die Vorstellung der Kabbalisten, die Welt sei durch die zuvor bestehende göttliche Sprache geschaffen worden.106
Der Kabbalist liest die Tora nicht wegen der darin erzählten Geschichten, sondern er liest sie auf der Suche nach der Essenz, die er in den Worten der Tora symbolisiert glaubt. Dass die Worte der Tora Geschichten erzählen, sei reiner Zufall – die Tora nach dieser Auffassung eher Textur als Text. Der Kabbalist sei in dieser Textur auf der Suche nach Verborgenem, das ihm Hinweise darauf geben könne, wie das Gottesreich mit unserer Welt in Verbindung stehe.107 101
102 103 104
105 106 107
Zit. nach: Kurt Schubert: Jüdische Geschichte. 3. Aufl. München: Beck 1999 (C.H. Beck Wissen in der Beck’schen Reihe; 2018), S. 24. Zu dieser Stelle gibt es aber naturgemäß viele verschiedene Deutungen. Einer der berühmtesten Rabbiner, Rabbi Akiba (2. Jh. n. Chr.), bezeichnet die Tora als Instrument Gottes bei der Weltschöpfung (Vgl. ebd., S. 23ff.). Scholem, Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala (wie Anm. 82), S. 19. Das Tetragrammaton – – יהוהist der heiligste Gottesname. Aus zahlensymbolischer Sicht ergibt die Summe der Buchstaben des Gottesnamens (Jod=10, He=5, Waw=6 und He=5) die heilige Zahl 26. Aber auch die Komponenten dieser Summe werden stets mit dem Gottesnamen in Verbindung gebracht. Eine Überlegung, die heute in der Erforschung von Mikrobereichen fortgesetzt wird. Ariel, Die Mystik des Judentums (wie Anm. 84), S. 170f. Vgl. ebd., S. 175.
Die Lyrik Paul Celans als hermeneutische Herausforderung
25
Die hebräische Vorstellung von »Wort und Ding ineins«108 findet sich in poetischer Form im Gedicht FAHLSTIMMIG.
FAHLSTIMMIG109 Das Gedicht FAHLSTIMMIG ist mit dem 25.10.1967 datiert und in den Band Lichtzwang, der Gedichte mit dem Entstehungsdatum zwischen 9.6.1967 und 6.12.1967 versammelt, eingegangen. FAHLSTIMMIG, aus der Tiefe geschunden: kein Wort, kein Ding, und beider einziger Name, fallgerecht in dir, fluggerecht in dir, wunder Gewinn einer Welt. (PCG 296f.)
Ein bedeutender entstehungsgeschichtlicher Hinweis zu diesem Gedicht stammt von Barbara Wiedemann, die aus dem Artikel Klimaanalyse durch Eisbohrung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung des Gedichtentstehungstages zitiert: »Die aus verschiedenen Tiefen geholten Bohrproben sollen Aufschlüsse über das Erdklima während der letzten 30 000 Jahre geben« (PCG 821). Bekanntlich war Celan an Geologie sehr interessiert, wie u. a. die geologische Fachvokabel Büßerschnee110 in WEGGEBEIZT (PCG 180f.) beweist, die dazu verleitet, als Celanscher Neologismus (miss-)verstanden zu werden. Der FAZ-Artikel hat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als Anstoß für die Entstehung von FAHLSTIMMIG zu gelten. Als einer der für dieses Gedicht in Frage kommenden Prätexte repräsentiert er aber nur eine der unterschiedlichen Bedeutungsebenen des Gedichts. Das Bohren, Graben in sich selbst, seiner Vergangenheit und den abgelagerten historischen Schichten – das Zu-Tage-Fördern von Erlebtem und die Suche nach der Quelle der eigenen Zeit ist Thema nicht nur dieses Celan-Gedichtes. In der älteren Forschung nimmt die poetologische Auslegung von FAHLSTIMMIG den ersten Rang ein. Sie muss jedoch einige Passagen unbefriedigend 108 109
110
Reichert, Hebräische Züge in der Sprache Paul Celans (wie Anm. 2), S. 164. Vgl. auch: Irene Fußl: Wort und Vermittlung in der Lyrik Paul Celans. In: Akten des Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005 »Germanistik im Konflikt der Kulturen«. Hg. von Jean-Marie Valentin unter Mitarb. von Laure Gauthier. Bd 11. (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Kongressberichte; 87), S. 221–226. ›Büßerschnee‹ ist eine Gletscherschneeformation.
26
Einleitung
oder sogar völlig unkommentiert stehen lassen – denn wie ließe sich aus poetologischer Sicht fallgerecht und fluggerecht überzeugend erklären? -gerecht könnte unter Umständen noch als ›ausgerichtet, mit einer bestimmten Richtung versehen‹ verstanden werden; fall- und flug- in dir bleibt jedoch als Rätsel zurück. Aber in Fahlstimmig, immerhin dem Anfangswort des Gedichtes, verbirgt sich die Stimme, und ein poetologisches Programm lässt sich über die Vokabeln Wort, Ding und Name als Sprachmaterial, dem Schinden aus der Tiefe als Werkentstehungsprozess und dem Gewinn / einer Welt in der Gestalt des geschaffenen Textes, entwickeln. In seiner Kurzinterpretation von FAHLSTIMMIG ist John Felstiner111 zunächst auf der Suche nach dem Subjekt des Gedichtes. Tatsächlich verbirgt sich ja hinter dem Determinativkompositum Fahlstimmig – mit fahler Stimme – ein Sprecher.112 Setzt man aber den auf Rettung hoffenden und flehenden Menschen als Subjekt des Gedichtes – an dieser Stelle ist in der Forschung113 auf den 130. Psalm: »Aus den Tiefen rufe ich zu dir, o HERR,« verwiesen worden – müssen spätestens die Verse fünf und sechs unkommentiert bleiben – wie das auch in etlichen Interpretationen geschieht. Celan, der Wortspiele liebte,114 wäre neben dem Rätsel der zweiten Strophe, das nur über die Kenntnis der hebräischen Sprache zu lösen ist, auch ein Spiel mit dem Wort schinden zuzutrauen, auf das Petuchowski aufmerksam macht. Die Fortsetzung des 130. Psalms lässt die Bitte an Gott hören, er möge »meine Stimme aus der Tiefe hören und auf die Stimme meines Flehens achten«. Das Flehen der Stimme aus der Tiefe erinnert aber an das englische Wort flay, was schinden bedeutet – »aus der Tiefe geschunden«.115 Das Schinden verdeutlicht die »Mühsal der Hervorbringung«,116 doch was ist es, das hier aus der Tiefe geschunden wird? Die eingehendsten Diskussionen haben eben diese Verse ausgelöst: Kein Wort, kein Ding / und beider einziger Name.
111 112
113
114
115 116
Vgl. John Felstiner: Paul Celan. Eine Biographie [1995]. Übersetzt von Holger Fliessbach. München: Beck 1997, S. 316. Ebd. Denkbar ist auch die Auffassung von ›fahlstimmig‹ als einem in seinem Fahlsein Stimmigen. Vgl. Thomas Böning: Fahlstimmig: Paul Celans ›Einspruch‹ gegen Das Wort Stefan Georges und Martin Heideggers. Ein Versuch. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73 (1999), H. 3, S. 529–561, S. 558. Felstiner, Paul Celan (wie Anm. 111), S. 316; Jerry Glenn und Elizabeth Petuchowski: Zusammentreffende Wellen der Interferenz in Paul Celans Gedicht ›Fahlstimmig‹. In: Celan-Jahrbuch 5 (1993), S. 115–138, S. 120. Wie neben seinen Gedichten auch die wiederholten Hinweise des Gesprächspartners Gerhart Baumann bestätigen. (Vgl. Baumann, Erinnerungen an Paul Celan [wie Anm. 2]). Glenn/Petuchowski, Wellen der Interferenz (wie Anm. 113), S. 123. Böschenstein, Der späte Celan (wie Anm. 6), S. 401.
Die Lyrik Paul Celans als hermeneutische Herausforderung
27
Obwohl sich über die Vokabeln Wort, Ding und Name Assoziationen zum religiösen und philosophischen Bereich geradezu aufdrängen, liest Bernhard Böschenstein das Gedicht in erster Linie als poetologisches Programm:117 Der hier eröffnete Gegensatz zwischen Wort und Ding einerseits, Namen andererseits darf wohl […] so verstanden werden, daß für Celan das, was einmal Wort hieß, die Fähigkeit besaß, ein Ding zu beschwören, und das, was einst Ding hieß, aus seinem Bezug zum Wort herzuleiten war. Somit hört für ihn das Wort auf, eines zu sein; somit hebt sich für ihn die Kategorie des Dings auf. An beide Stellen tritt der Name, der diesen Bezug gerade ausschließt: aus dem Namen läßt sich das Wesen des Benannten gerade nicht herauslesen.118
Celan verwandle somit beide, Wort und Ding, in Namen und entbinde seine Sprache auf diese Weise von der Dingbeziehung. Böschensteins Auslegung ergibt hier in der Beschreibung des Sprachverständnisses Celans in der Tat einen genauen Gegensatz zu Heideggers Auffassung über die Seinsweise der Sprache. Celans Heidegger-Bibliothek ist äußerst umfangreich, seine Faszination an Heideggers Arbeit stützte sich zu einem nicht unwesentlichen Teil auf dessen Spracharbeit, die Etymologisierungen und auch Verklausulierungen. So besteht Heidegger auf der konsequenten und exakten Verwendung eines Wortes (»im Willen zum Willen gewillt«),119 anstatt auszuweichen und erklärend zu einem anderen Wort zu wechseln. Mit Heideggers Sprachverständnis stimmt Celan aber nicht überein. Für ihn ist nicht die Sprache selbst am Werk, »sondern immer nur ein unter dem besonderen Neigungswinkel seiner Existenz sprechendes Ich, dem es um Kontur und Orientierung geht. Wirklichkeit ist nicht. Wirklichkeit will gesucht und gewonnen sein.«120 Martin Heidegger vertritt die Vorstellung, die in einem Gedicht (bzw. in Sprache) verwendeten Wörter würden die so benannten Dinge rufen – »das Nennen ruft« –, die gerufenen Dinge wiederum »wesen im Ruf an.«121 So ist für Heidegger nicht der Mensch derjenige, der den Sprachakt vollzieht, sondern es ist die Sprache, die durch den Menschen spricht. Der Mensch spricht nur, indem er der Sprache entspricht. Die Sprache spricht. Ihr Sprechen spricht für uns im Gesprochenen.122
117
118 119 120 121 122
Ausschließlich poetologisch interpretiert Ralf Zschachlitz: Vermittelte Unmittelbarkeit im Gegenwort. Paul Celans kritische Poetik. Frankfurt am Main [u. a.]: Lang 1990 (Literarhistorische Untersuchungen; 15), S. 78f. Böschenstein, Der späte Celan (wie Anm. 6), S. 400. Martin Heidegger: Wozu Dichter? In: ders.: Holzwege [1950]. 7. Aufl. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1994, S. 269–320, S. 293. Paul Celan in: Almanach 1958, Librairie Flinker, Paris; zit. nach Pöggeler, Spur des Worts (wie Anm. 59), S. 287. Heidegger, Die Sprache (wie Anm. 18), S. 21. Ebd., S. 32f.
28
Einleitung
Aus Georges »Kein ding sei wo das wort gebricht«123 wird so in Heideggers Interpretation: »Ein ›ist‹ ergibt sich, wo das Wort zerbricht«124 – diese Bezugsetzung sei nun näher erklärt: Thomas Böning setzt für seine Interpretation von FAHLSTIMMIG einen intertextuellen Bezug zu Georges Gedicht »Das Wort« voraus – aufgebaut auf den ›entlehnten‹ Begriffen »Wort«, »Ding«, »Name«, »Wunder« –, auf den auch Glenn und Petuchowski leise zweifelnd hinweisen. Doch ist diese Verbindung zumindest kritisch zu hinterfragen. Georges »Wunder« lässt sich zwar in Celans wundem Gewinn auch lesen, der Kontext spricht aber deutlich für die ›Wunde‹ und gegen das ›Wunder‹. Die literarische Intertextualität führt dem entsprechend eher zu Georg Büchners Danton’s Tod: Das Nichts hat sich ermordet, die Schöpfung ist seine Wunde, wir sind seine Blutstropfen, die Welt ist das Grab worin es fault.125
Böning versteht das Gedicht FAHLSTIMMIG in der Verbindung mit Georges »Das Wort« und mit Schlüsselwörtern Heideggers als »Einspruch« gegen die Botschaft von Georges Gedicht und die Sprachphilosophie Martin Heideggers. Wenn hier die Abweichungen als Widersprüche argumentiert werden, sollte aber doch zumindest die Möglichkeit mitbedacht werden, dass eine konkrete Verbindung zwischen den Texten gar nicht besteht.126 Da die Vokabeln, mit denen hier operiert wird, Basisbegriffe der Philosophie und Dichtung sind, ist eine intertextuelle Bezugnahme in keiner Weise zwingend. So formuliert z. B. Pöggeler seine in ähnliche Richtung weisende Idee vorsichtiger: »Das Gedicht Fahlstimmig aus Lichtzwang könnte zeigen, wie Celan und Heidegger auch dann, wenn sie die gleichen Worte gebrauchen, durchaus unterschiedlich den123
124 125
126
Schlussvers des Gedichtes »Das Wort«: Wunder von ferne oder traum / Bracht ich an meines landes saum // Und harrte bis die graue norn / Den namen fand in ihrem born – // Drauf konnt ichs greifen dicht und stark / Nun blüht und glänzt es durch die mark… // Einst langt ich an nach guter fahrt / Mit einem kleinod reich und zart // Sie suchte lang und gab mir kund: / ›So schläft hier nichts auf tiefem grund‹ // Worauf es meiner hand entrann / Und nie mein land den schatz gewann… // So lernt ich traurig den verzicht: / Kein ding sei wo das wort gebricht. (Stefan George: Das Wort. In: ders.: Das neue Reich. Berlin: Bondi 1928 [Stefan George. GesamtAusgabe der Werke. Endgültige Fassung; 9], S. 134). Böning, Paul Celans ›Einspruch‹ gegen Das Wort Stefan Georges und Martin Heideggers (wie Anm. 112), S. 549. Georg Büchner: Danton’s Tod [Hervorhebungen, I. F.]. Vgl. weiters »Die Welt ist das Chaos. Das Nichts ist der zu gebärende Weltgott.« (Georg Büchner: Danton’s Tod. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe und Dokumente. In zwei Bänden. Bd I Dichtungen. Hg. von Henri Poschmann unter Mitarb. von Rosemarie Poschmann. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1992 [Bibliothek deutscher Klassiker; 84], S. 11–90). Glenn/Petuchowski bemerken z. B., es überrasche, dass Heideggers Aufsatz zu Georges Gedicht in FAHLSTIMMIG keine wichtige Rolle spiele (Glenn/Petuchowski, Wellen der Interferenz [wie Anm. 113], S. 134) – was aber nur dann ›überraschen‹ kann, wenn Georges Gedicht auch tatsächlich in FAHLSTIMMIG mitgedacht sein sollte.
Die Lyrik Paul Celans als hermeneutische Herausforderung
29
ken«,127 und er argumentiert, dass Heidegger im Unterschied zu Celan sein Fragen nicht vom Alten Testament, sondern von der griechischen Tragödie und von Hölderlin aus unternehme.128 Allein durch die Wahl derart bedeutungsschwangerer Vokabeln wie Wort, Ding und Name ergeben sich zahlreiche v. a. intertextuelle Assoziationsmöglichkeiten, die vom Alten Testament, dem logos des Neuen Testaments, über Stefan Georges Gedicht »Das Wort«, die Philosophie Martin Heideggers bis zur Vorstellungswelt der Kabbala reichen.129 Der Beginn des JohannesEvangeliums in der von Celan benutzten Bibel-Übersetzung Luthers lautet »JM ANFANG WAR DAS WORT [...]. Alle ding sind durch dasselbige gemacht« (Joh. 1,1.3).130 Der Evangelist folgt mit diesen Worten der Tradition des jüdischen Schöpfungsmythos – so auch das Gedicht, in dem sich das Bild einer Schöpfungsvision abzeichnet, inspiriert von der Schöpfungsbeschreibung des Alten Testaments, und auch an die Umschreibung Herders in seinen Schriften zum Alten Testament könnte man sich hier erinnert fühlen. Dass Celan »das gesteigerte, vom bezeichneten ›Ding‹ nicht mehr getrennte Wort ›Namen‹ nennt,« sagt Beda Allemann, »läßt sich mit der jüdisch-mystischen Tradition in Verbindung bringen, die auf den Namen des Höchsten im Bewußtsein seiner Unaussprechlichkeit reflektiert«.131 Gott selbst ist für den gläubigen Juden das Alles und das Nichts, er ist der Name, von dem alles ausgeht – er ist weder Wort noch Ding, und vereint doch beides in seinem Namen, der nicht von ihm selbst zu trennen ist. Durch diesen Namen tritt er in die Welt als Schöpfer ein, was in der kabbalistischen Vorstellung als Emanation des Tetragrammatons – also als Ausfließen des unaussprechlichen Gottesnamens – gesehen wird. Demnach seien in allem Geschaffenen Buchstaben des heiligsten Gottesnamens verborgen enthalten. Zur bildhaften Vorstellung wird das göttliche Urlicht herangezogen, das seine Funken in der gesamten Schöpfung verstreut habe. Als Bandtitel für die Sammlung Lichtzwang war zeitweilig ›Wundgewinn‹ vorgesehen. Die enge Verknüpfung von Licht und Wunde bei Celan erkennt man auch in FAHLSTIMMIG, wenn der siebte Vers vom wunden Gewinn spricht. Beide Komposita, ›Lichtzwang‹, wie auch der ›Wundgewinn‹, sind aus kabbalistischer Sicht demselben Bild, der Schebirath-ha-kelim – dem ›Bruch der Gefäße‹ – entnommen. Somit lässt sich in dem Gedicht die poetische Umsetzung einer kabbalistischen Vorstellung erkennen, die aber in den beiden Neo127 128 129
130 131
Pöggeler, Spur des Worts (wie Anm. 59), S. 249. Ebd. Beda Allemann geht mit biographischem Hintergrundwissen an diese Strophe heran. Er erinnert (mit aller biographiekritischen Vorsicht) an einen Satz, der ihm von einem Gespräch mit Celan im Frühjahr 1968 noch in Erinnerung ist: »Worte werden Namen.« (Beda Allemann: Das Gedicht und seine Wirklichkeit. In: Études Germaniques 25 [1970], H. 3, S. 266–274, S. 270). Zit. nach Glenn/Petuchowski, Wellen der Interferenz (wie Anm. 113), S. 126. Allemann, Das Gedicht und seine Wirklichkeit (wie Anm. 129), S. 271.
30
Einleitung
logismen fallgerecht und fluggerecht mit alttestamentarischem Denken konfrontiert wird. Als Subjekt dieses Gedichtes wäre dann einerseits der Gott des Alten Testaments denkbar, dessen Geist nach dem Bild Herders über den Wassern und Urtiefen schwebt und dann die Schöpfung Tag für Tag hervorruft. Die Hebräer kennen kein Chaos, in dem sich vor unsrer Welt die Atomen im Tanz umhergetrieben hätten; eine Fiktion, die wir den Griechen schuldig sind. Aber ein finstres Meer kennen sie, auf dem der regende Wind Gottes schwebet; und mich dünkt, das Bild ist um so viel schöner, als es wahr ist. So war wirklich der erste Zustand unsrer Erde, wie der Bau derselben lehrt: so muß sie Äonen hin unter Wasser gestanden haben, bis sie durchs Wunder der Schöpfung neu bewohnbar ward. Das Bild hat Natur und Schranken; jenes Ungeheuer vom Chaos hat beides nicht. [...] Mich hat insbesonderheit immer der Geist durchschauert, der auf diesem öden und tiefen Nachtmeer schwebete. [...] Er ist den Morgenländern das erste und natürlichste Bild von dem, was Leben, Kraft, Bewegung in der Schöpfung ist, gewesen: denn der Begriff des Geistes scheint ursprünglich aus dem Gefühl des Windes, zumal in der Nacht, vermischt mit Kraft und Stimme, gebildet.132
Andererseits könnte der Schöpfergott der Kabbala als Subjekt dienen, der in die tiefsten Tiefen seiner selbst hinabsteigt, um aus sich selbst etwas zu ›schinden‹. Fahlstimmig – die Synästhesie drückt wie das göttliche ›Gewieher‹ den nicht näher identifizierbaren, unbeschreibbaren akustischen Laut aus.133 Fahl birgt denn auch die alte Bedeutung ›Falb‹, ein falbes Pferd,134 was eine Verbindung zu jenen Gedichten ermöglicht, in denen Celan die Stimme Gottes als akustisches Phänomen wie Gewieher, Donner, ein Dröhnen135 umschreibt, das nur vom Propheten verstanden werde. In der jüdischen Mystik sind die Wortund die Lichtmetapher für den unbeschreibbaren Gott austauschbar, und auch im Kompositum fahlstimmig gibt es neben der akustischen eine visuelle Komponente. Ahlbrecht definiert fahl sehr passend als ein Licht, das »sich selbst negiert«.136 132
133
134 135 136
Johann Gottfried Herder: Vom Geist der Ebräischen Poesie. Eine Anleitung für die Liebhaber derselben und der ältesten Geschichte des menschlichen Geistes. Erster Teil. In: ders.: Schriften zum Alten Testament. Hg. von Rolf Smend. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1993 (J.G. Herder, Werke in 10 Bänden; Bd 5), S. 663–955, S. 717f. »Celan gebrauchte das tierische ›wiehern‹ ähnlich wie ›lallen‹ und ›brabbeln‹ zur Umschreibung der adamischen Sprache« – eine Sprache der Schöpfung. (Hans Dieter Schäfer: Zur Spätphase des hermetischen Gedichts. In: Die deutsche Literatur der Gegenwart. Aspekte und Tendenzen. Hg. von Manfred Durzak. 3. Aufl. Stuttgart: Reclam 1971, S. 152–174, S. 161). Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd 3. Leipzig: Hirzel 1862, Sp. 1239f. Vgl. EIN DRÖHNEN und BEI WEIN UND VERLORENHEIT, hier S. 38 und S. 41. Ahlbrecht, Paul Celans späte Gedichte (wie Anm. 33), S. 44.
Die Lyrik Paul Celans als hermeneutische Herausforderung
31
Aber was schindet nun dieser Gott, der hier als En Sof – als Quelle – begegnet, aus seinen Tiefen? [K]ein Wort, kein Ding, / und beider einziger Name. Klaus Reichert regt in seinem Aufsatz »Hebräische Züge in der Sprache Paul Celans« an, Celans Gedichte ins Bibelhebräische rückzuübersetzen, da sich über hebräische Wortbedeutungen mögliche weitere semantische Ebenen der Gedichte öffnen können. Und tatsächlich entpuppt sich die zitierte Strophe als Wortspiel-Rätsel, das nur im Hebräischen gelöst werden kann und nur im kabbalistischen Kontext ein stimmiges Bild ergibt. Beim Rückübersetzen der Strophe ins Hebräische bemerkt man, dass es im Hebräischen tatsächlich nur einen ›Namen‹, eine Bezeichnung für die deutschen Begriffe ›Wort‹ und ›Ding‹ gibt, und zwar, Klaus Reichert zufolge, deshalb, weil das Hebräische eine Sprache ist, »in der es keine Abbildlichkeit gibt, sondern einzig die Realität des Namens gilt – als Wort und Ding ineins.«137 Die hebräische Vorstellung von »Wort und Ding ineins«, findet sich in FAHLSTIMMIG in poetischer Form. Die Hinweise auf diese Wortverbindung bei Reichert,138 Koelle,139 Felstiner,140 Glenn und Petuchowski141 müssen aber noch weiter gedacht werden – Reichert sagt, Celan sei sich der Einheit von Wort und Ding – dabar – bewusst gewesen und habe dies in FAHLSTIMMIG ausgesprochen. Koelle zitiert Reichert und informiert im Anschluss ausführlich über die Bedeutung des dabar im Hebräischen (z. B. als höchste Erscheinungsform Jahwes, wie er dem Menschen erkennbar ist). Felstiner greift ebenfalls den Zusammenhang von ›Wort‹ und ›Ding‹ als dabar auf, meint aber, »daß das hebräische dawar […] dieser einzige Name sein muß.«142 Auch wird hier eine Verbindung über das Wort, den logos, zum Neuen Testament hergestellt. Die Forschung nimmt also dabar als Ausgangspunkt der Untersuchungen, legt dabei aber zu wenig bzw. gar kein Gewicht auf die Negation, die durch das ›Kein‹ gegeben ist. Da der ›Name‹ im Hebräischen aber untrennbar mit dem ›Ding‹, dem Existierenden, verbunden ist, ist der gesuchte einzige Name hier eben nicht dabar, sondern lo dabar (= das Nicht-Wort bzw. das NichtDing). Der Begriff lo dabar ergibt nämlich auch einen ›einzigen Namen‹: das ›Nichts‹. »Das wahrhaft Seiende ist für den Hebräer das Wort, dåbår, das alle hebräischen Realitäten umfaßt: Wort, Tat, Sache. Das Nicht-Seiende, das Nichts heißt demgemäß Nicht-Wort, lo dåbår.«143 [K]ein Wort, kein Ding: lo dabar, lo dabar, bedeutet also ›Nichts, Nichts‹ und entspricht einer hebräischen Superlativbildung. Wo im Deutschen eine Superlativbildung nicht mehr durchführbar ist, ermöglicht die hebräische Spra137 138 139 140 141 142 143
Reichert, Hebräische Züge in der Sprache Paul Celans (wie Anm. 2), S. 164. Ebd. Koelle, Pneumatisches Judentum (wie Anm. 4), S. 116f. Felstiner, Paul Celan (wie Anm. 111), S. 316. Glenn/Petuchowski, Wellen der Interferenz (wie Anm. 113). Felstiner, Paul Celan (wie Anm. 111), S. 316. Thorleif Boman: Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen. 5. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1968, S. 43f.
32
Einleitung
che die Steigerung durch einfache Wortwiederholung. Dass Celan dieses Verfahren geläufig war, zeigt sich mehrfach in seinen Gedichten, so z. B. in der Wortschöpfung Immerimmer in ALLMÄHLICH CLOWNGESICHTIG (PCG 298f.). [K]ein Wort, kein Ding, diese beiden Negationen werden in beider einzigem Namen zusammengefasst, das nun als Positiv oder durch die Potenzierung der Negation als absolute Negation, das Nichts, verstanden werden kann. Das »Nichts ist ursprünglicher als das Nicht und die Verneinung«,144 sagt Heidegger zu der Frage nach der Seinsweise des Nichts. Das Nichts ist die vollständige Verneinung der Allheit des Seienden. [...] Die Allheit des Seienden muß zuvor gegeben sein, um als solche schlechthin der Verneinung verfallen zu können, in der sich dann das Nichts selbst zu bekunden hätte.145
Fahlstimmig wird also aus der Tiefe das ›absolute Nichts‹ als Basis der Schöpfung geschaffen, was dem kabbalistischen Bild des Tehiru, der Schöpfung durch göttliches Zimzum, entspricht. Der folgende Gedichtabschnitt birgt ein Verfahren der hebräischen Sprache – den parallelismus membrorum, der intertextuell auf die biblia hebraica verweist. Im Hebräischen dient die idente, oder nahezu idente Wiederholungsstruktur der Poetisierung eines Textes und unterstützt zugleich die Merkfähigkeit der Leser und Hörer: fallgerecht in dir, / fluggerecht in dir.146 Diese Struktur verweist auf das Alte Testament, der Inhalt, die Aussage des Verses hingegen, zeigt auf einen anderen Text der jüdischen Tradition – die Kabbala Lurias, der in seiner Lehre über die Schöpfung des Nichts in Gott als geistiger Urraum – das vollkommene Nichts – berichtet. Bei der Entsendung göttlicher Lichtstrahlen in diesen Urraum kommt es zum »Bruch der Gefäße« und damit zum Fall und Flug göttlicher Funken. Der Kontrollverlust Gottes in seiner Schöpfung, der in seiner Allmacht beschränkte Gott, wird auf dieses Ereignis zurückgeführt: Aber der Hauptentwurf der Schöpfung schreibt sich von den Lichtern her, die aus den Augen des Adam Kadmon [= Gott, der in die Schöpfung als Schöpfer eintritt] in eigentümlicher Brechung hervorkommen. Denn jene Gefäße, die, selbst aus niederen Arten von Lichtmischungen bestehend, bestimmt waren, diese Lichtfluten der Sefiroth aus seinen Augen aufzunehmen und so als Gefäße und Instrumente der Schöpfung zu dienen, zerbrachen unter ihrem Anprall. Dies ist die entscheidende Krise allen göttlichen und kreatürlichen Seins, der ›Bruch der Gefäße‹ [288 Funken fallen] […] Denn nichts bleibt nach dieser Krise, wie es war. Alle Lichter aus den Augen des Adam Kadmon fluten entweder nach oben zurück, vom Anprall an die Gefäße reflektiert, oder aber brechen nach unten durch, und die Gesetzmäßigkeiten dieses 144 145 146
Martin Heidegger: Was ist Metaphysik? [1929] 14. Aufl. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1992, S. 29. Ebd., S. 29f. Jean Bollack weist hier auf die Wiederaufnahme einer Sequenz in Variation hin. Im Band Fadensonnen heißt es im Gedicht DIE FLEISSIGEN: »die Ängste, eisgerecht, / flugklar« (PCG 236). (Jean Bollack: Paul Celan. Poetik der Fremdheit [1999]. Übersetzt von Werner Wögerbauer. Wien: Zsolnay 2000, S. 319).
Die Lyrik Paul Celans als hermeneutische Herausforderung
33
Vorgangs werden von Luria ausführlich entwickelt. Nichts aber ist mehr dort, wo es eigentlich sein sollte.147
Bei Fall- und Flug- fällt in der räumlichen Anordnung im Gedicht die Umkehrung der logischen Höhenverhältnisse und Ausdehnungen im Raum auf. Der ›Flug‹ steht unter dem ›Fall‹. Der parallelismus membrorum stützt hier zusätzlich als Gleichzeitigkeitssignal das Bild der nach einer Explosion fallenden und fliegenden Lichtfunken. Die Welt, die durch den ›Bruch der Gefäße‹ bei der Schöpfung gewonnen wird, ist der wunde[] Gewinn einer Welt. Die Paarung wund und Gewinn hat einen gemeinsamen etymologischen Ursprung im gotischen winnan ›leiden, sich plagen‹ – worauf Heike Kristina Behl148 hingewiesen hat. Die gewonnene Welt ist also eine leidende – nicht die beste der möglichen Welten. Das gesamte Vokabular dieses Gedichtes mit einer Ausnahme, einem Bruch, dem nun nachgegangen wird, lässt sich von kabbalistischen Schriften herleiten. Doch in dem Gedicht heißt es nicht »Fall und Flug in dir« sondern fallgerecht bzw. fluggerecht in dir. Erste Überlegungen führen zu dem Gottesattribut ›der Gerechte‹, was zu der nun eingängigen Umschreibung Fall und Flug GERECHTER in dir führen würde. Die Gegenprobe, ob nicht doch auch ein irdischer Gerechter, ein Zaddik, als Subjekt des Gedichtes gemeint sein könnte, ergibt zumindest im kabbalistischen Kontext einen negativen Befund. Die klassischen Schriften der Kabbalisten schreiben dem irdischen ›Gerechten‹ nur die Funktion der Erhaltung zu, nicht die der Schöpfung,149 und das Gedicht spricht deutlich vom Gewinn einer Welt. ›Denn darum werden die Gerechten so genannt, weil sie alle inneren Dinge an ihren Ort im Inneren und alles Äußere an seinen Ort im Äußeren stellen, und nichts tritt aus den ihm gesetzten Grenzen, und darum heißen sie Gerechte‹ (Scha’are Tedek, Bl.16a). Hier haben wir die erste wichtige neue Bestimmung des Sinnes der Idealfigur des Gerechten, weil sie auch die Ethik der Kabbala beherrscht. Der Gerechte stellt alles in der Welt an die ihm zukommende Stelle. Die Einfachheit dieser Definition sollte uns nicht über die geradezu messianische Implikation und die utopische Sprengkraft täuschen, die ihr innewohnt. Denn eine Welt, in der alles an seinem richtigen Ort steht, wäre im Sinne des Judentums eine erlöste Welt.150 Die Errettung Israels schließt die Errettung aller Dinge ein. Wenn jedes Ding an seinen rechten Ort gesetzt ist, wenn der Makel an allen Dingen ausgebessert ist, so ist eben das ›Erlösung‹.151 147 148 149
150 151
Gershom Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik [1960]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973 (stw; 13), S. 150. Heike Kristina Behl: ›Ohne Zahl sind die Straßen‹. Wege in die Dichtung Paul Celans. San Diego (California): Diss. 1995, S. 10. In der rabbinischen Literatur gibt es hingegen einige Beispiele, so heißt es etwa, dass Abraham und die Gerechten die Welt miterschaffen hätten. Vgl. z. B. Bereshit Rabbah 48,8. Gershom Scholem: Zaddik – Der Gerechte. In: Scholem, Von der mystischen Gestalt der Gottheit (wie Anm. 80), S. 83–134, S. 99f. [Hervorhebungen, I. F.]. Scholem, Luria und seine Schule (wie Anm. 64), S. 301.
34
Einleitung
In der Kabbala wie im Alten Testament bedeutet ›gerecht‹ das, was recht, richtig (-stimmig) oder korrekt, was an der ihm zugehörigen Stelle ist. Der Gott des Alten Testamentes betrachtet die einzelnen Schritte seiner Schöpfung und befindet sie für gut. Im Talmud wird Gott als der Gerechte bezeichnet, weil er alles weiß und nach seinem Wissen ›richtet‹. Die beiden Komposita fallgerecht und fluggerecht beinhalten also einen grundsätzlichen Gegensatz – ein Oxymoron enggeführt in einem Kompositum. Neben der Annäherung an hebräische Strukturen ist hier die Entwicklung einer Sprache zu beobachten, die über ihren Umgang mit Dichotomien versucht, auf die dahinterliegende Einheit zu deuten. Das bedeutet, dass das zuvor als ›Bruch‹ in einem Wort gekennzeichnete ebenso als Einheitsbestrebung in chassidischem Verständnis gesehen werden könnte. Im Gedicht FAHLSTIMMIG lässt sich damit ein Bild von der Schöpfung des Nichts und der Schöpfung der Welt aus dem Nichts durch die Sendung der göttlichen Strahlen erkennen; wobei die Frage der jüdischen Theologie nach der Schoah zentral und in komprimierter Form eingearbeitet ist: Ist Gott noch allmächtig zu denken? Anders und mit den Worten dieses Gedichtes gefragt – ist Fall und Flug der göttlichen Strahlen gerichtet? Oder aber, in ein poetologisches Konzept übersetzt, ist hier die Zusammenführung bzw. Zusammenzwingung von Dichotomien, als Vorhaben der Einung von Differentem zu beobachten? Diese Frage wird in der Untersuchung um Einheit, Spaltung und Einung in der Dichtung Celans zu untersuchen sein.
1
Einheit – Der Eine
Der Gott der Juden ist ein einziger Gott, was der erste Abschnitt des ShmahGebets deutlich hervorhebt.152 Das Morgengebet für Wochentage enthält die dreizehn Glaubensartikel des Maimonides, wobei die ersten zwei Artikel sowohl die Einzigkeit und Einigkeit Gottes sowie seine über dem menschlichen Zeitbegriff stehende Macht demonstrieren: 1. Ich bin vollkommen überzeugt, daß der Schöpfer, gelobt sei sein Name, alle Geschöpfe erschaffen und führt, daß er allein alle Werte vollbracht hat, vollbringt und vollbringen wird. 2. Ich bin vollkommen überzeugt, daß der Schöpfer, gelobt sei sein Name, einzig ist und daß es in keiner Beziehung eine Einigkeit gibt gleich ihm, daß er allein unser Gott war, ist und sein wird (Sidur Sefat Emet).153
Wie aus dem Zitat ersichtlich wird, ist es von Bedeutung, bei der Vorstellung von ›Einheit‹ auch die zeitliche Dimension mit einzubeziehen, denn eine vollkommene Einheit schließt auch die Einheit aller Zeitstufen mit ein. Auf eine Annäherung an Einheit in Sprache unter Berücksichtigung der Zeit soll die übergeordnete Struktur dieser Arbeit aufmerksam machen. Dies passiert bei Celan nicht notwendig aus religiösen Gründen, sondern möglicherweise als sprachliche Umsetzung eines utopischen Weltbildes.
1.1
Das Gedicht als Einheit
Grundsätzlich stellt Paul Celan einen sehr hohen Anspruch an seine Gedichte und betont deren Autonomie. Er wehrt sich gegen die Behauptung, dass Gedichte unter Zuhilfenahme bestimmter Techniken »herstellbar« wären, was sich von seinem Grundansatz her verstehen lässt, das Gedicht als eine »leiden152
153
»Höre, Israel: Der HERR ist unser Gott, der HERR allein. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen in deinem Herzen sein. Und du sollst sie deinen Kindern einschärfen, und du sollst davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt und wenn du auf dem Weg gehst, wenn du dich hinlegst und wenn du aufstehst.« (5. Mose 6,4–7). Zit. nach Amir Eshel: Zeit der Zäsur. Jüdische Dichter im Angesicht der Shoah. Heidelberg: Winter 1999 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; 169), S. 8. [Hervorhebungen, I. F.].
36
1 Einheit – Der Eine
schaftliche Suche« zu begreifen.154 Gedichte wären, so Celan, »nicht herstellbar«, sie hätten »die Lebendigkeit sterblicher Seelenwesen«.155 Im Entstehungsprozess der Büchner-Preis-Rede (1960) notiert Celan: »Das Gedicht als Personwerdung des Ich« und »Im Gedicht: Vergegenwärtigung einer Person als Sprache, Vergegenwärtigung der Sprache als Person«.156 Folgt man den Ausführungen Marko Pajevićs zu dieser Stelle, so ist »Person« hier in ursprünglicher Bedeutung zu verstehen: Person bezeichnet im Lateinischen die Maske des Schauspielers, die allerdings nicht in erster Linie mit dem heutigen Begriff der Maskierung in Verbindung zu bringen ist, sondern wahrscheinlich von ›personare‹, also ›hindurchtönen‹, kommt. Die ›Maske‹ ist in Erinnerung an diesen Hintergrund in der Welt der Musik ein Begriff, der die Resonanzkörper im Kopfraum bezeichnet, durch die die Stimme an Tragfähigkeit gewinnt. ›Per sona‹, bedeutet, daß der Ton durch die Maske verstärkt hindurchgeht, und so kann man daraus schlußfolgern, daß die Person gleichbedeutend ist mit dem Gedicht: sie bedeuten beide die Umsetzung und Wahrnehmbarmachung, die Verwirklichung des Menschen. ›Durch den Ton‹ erscheint die Person.157
Bei der Lektüre der Forschungsliteratur zur Lyrik Paul Celans fällt auf, dass zur Bekräftigung einer aufgestellten These gerne Gedichtteile interpretiert oder in der Interpretation isolierte Fragmente aneinandergereiht werden. Das liegt oft daran, dass Teile eines Gedichtes etwas weniger hermetisch erscheinen als andere. Aber das Plazieren eines Gedichtes in eine gedankliche oder thematische Kategorie aufgrund der Identifikation eines Abschnitts sollte unbedingt vermieden werden. Stückweise Interpretation – die Fragmentierung des Ganzen – zerstört die Einheit des Gedichts. Pajević hebt die Schattenseite des Reichtums der Celanschen Gedichte hervor, der die Gefahr berge, dass die Gedichte nicht mehr als Gedichte wahrgenommen würden, sondern nur mehr als »Steinbruch für das eigene Denken«, aus dem herausgeschlagen würde, was einem gerade passe.158 Die Einheit des einzelnen Gedichtes soll hier Maxime bei der Auseinandersetzung mit Celans Lyrik sein. Oft ist eine Herangehensweise über Assoziationen oder das Wissen aus anderen Gedichten notwendig, doch es erscheint fatal, sich von vornherein ein zu genaues Bild zu machen. Und von diesem ›Verhängnis der Bilder‹ spricht auch das folgende Gedicht.
154 155 156
157 158
Allemann, Das Gedicht und seine Wirklichkeit (wie Anm. 129), S. 268. Celan, Der Meridian (wie Anm. 19), S. 113. Ebd., S. 114; vgl. auch: Marko Pajević: Paul Celan: (Ich kenne dich. Das Gedicht als »Lebensschrift«. In: Paul Celan. Biographie und Interpretation. Biographie et interprétation. Hg. von Andrei Corbea-Hoisie. Konstanz [u. a.]: Hartung-Gorre 2000, S. 214–224. Pajević, Paul Celan: (Ich kenne dich (wie Anm. 156), S. 222f. Marko Pajević: Zur Poetik Paul Celans: Gedicht und Mensch – die Arbeit am Sinn. Heidelberg: Winter 2000 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte; 177), S. 29.
1.1 Das Gedicht als Einheit
37
1.1.1 Die Zahlen DIE ZAHLEN, im Bund mit der Bilder Verhängnis und Gegenverhängnis. Der drübergestülpte Schädel, an dessen schlafloser Schläfe ein irrlichternder Hammer all das im Welttakt besingt. (PCG 176)
Zahlen haben in der Dichtung Celans Aussagewert, sie sind nicht reines Strukturmittel, sondern haben auch symbolischen Charakter. Die Zahlen, die erzählen, entsprechen der Vorstellungswelt der Kabbala, der jüdischen Mystik. Die Zahlen, im Bund können nun von den Zahlenwerten, die bei Bündnissen genannt werden, sprechen (auch dies können symbolische Werte sein) als auch, über das Versenjambement, als Zahlen, im Bund mit der Bilder Verhängnis gelesen werden. Es verbietet sich neben der bildhaften Vorstellung so auch die Vorstellung von Dimensionen (Größen). Das Verhängnis der Bilder ruft das dritte Gebot in Erinnerung: Nachdem geklärt wurde: »Ich bin der HERR, dein Gott« und »Du sollst keine andern Götter haben neben mir«, folgt als drittes Gebot: »Du sollst dir kein Götterbild machen, auch keinerlei Abbild dessen, was oben im Himmel oder was unten auf der Erde oder was in den Wassern unter der Erde ist« (2. Mose 20,2–4). Dieses Gebot umgeht die Kabbala in gewisser Weise raffiniert an den Grenzbereichen zwischen Gott und seiner Schöpfung mit Metaphern und Zahlenspielen bzw. der symbolischen Deutungen von Zahlen. Im Sefer Jezira zum Beispiel wird eine Analogie zwischen den Dingen und den Zeichen des Denkens angestrebt […] den Mitteln also, durch welche die Weisheit Gottes dem Menschen zugänglich wird. Diese Zeichen sind die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets und die zehn Grundzahlen, die zusammen die 32 ›wundervollen Bahnen‹ genannt werden, ›mit welchen‹ der Gott Israels ›dessen Name hoch und heilig ist, seinen Namen gegründet hat‹. Es geht hier also um eine Verbindung des Namens Gottes mit der Schöpfung der Welt in meßbaren Formen. […] Es unterscheidet jedoch das Sefer Jezira von allen anderen antiken Kosmogonien, daß diese jüdische Kosmogonie in den Buchstaben des hebräischen Alphabets ihren Anfang nimmt, welche sowohl als Buchstaben der himmlischen Tora und der Namen Gottes wie auch, nach ihrem Zahlenwert gelesen, als Maße und Formen der Welt deutbar sind. Das sichert diesem Buch eine reiche Wirkungsgeschichte in Kabbala und jüdischer Philosophie, aber auch bei christlichen Denkern.159 159
Goodman-Thau/Schulte, Das Buch Jezira (wie Anm. 97), S. viif.
38
1 Einheit – Der Eine
Das Verhängnis des Bildermachens ist im goldenen Kalb des Alten Testaments verkörpert; das Gegenverhängnis ist jedoch, dass wir den Bildern gar nicht entgehen können, denn wer Sprache benutzt, spricht zu einem großen Teil in Bildern. Das Verhängnis der Bilder im biblischen Kontext ist, dass wir uns vom Göttlichen kein korrektes Bild machen können, da dies unser Vermögen übersteigt. Über das Gehirn, das Zentrum des Vorstellungsvermögens, ist der Schädel gestülpt – auch daran wird die Begrenztheit unseres Denkens deutlich. Celan arbeitet in diesem Abschnitt sprachlich mit dreifacher Alliteration des Sch-Lautes (»sch«, leise!) in Schädel, schlaflos und Schläfe. Schlaf kann sich nur einstellen, wenn das Bewusstsein reduziert wird. Schädel und Schläfe stehen metonymisch für den Kopf, oder das Hirn, um das es hier in Begriffsund Vorstellungsleistung geht. Angesprochen ist, wie so oft bei Celan, die Begrenztheit des menschlichen Fassungsvermögens als auch des kreativen Potentials. Was können wir uns vorstellen, was können wir auffassen und begreifen? Alles Grübeln über Transzendentes führt am Ende zu nichts, denn wir können all das nur im Welttakt, mit weltlichen Konstanten, ›besingen‹. Die Zahlen, die für die Kabbalisten als Möglichkeit des Begreifens zwischen Immanentem und Transzendentem stehen, entpuppen sich doch als zutiefst menschliche Denkweise, der Welt verhaftet, menschlichem Denken entsprungen und (in ihrem Zeichencharakter) genauso irreführend wie jedes Bild. Das Gebot: »Du sollst dir kein Bild machen« steht also einer bildreichen Sprache gegenüber, die in Celans Gedichtsprache auch als Metapherngestöber bezeichnet wird. EIN DRÖHNEN: es ist die Wahrheit selbst unter die Menschen getreten, mitten ins Metapherngestöber. (PCG 206)
Das Dröhnen dieses Gedichts entspricht der Beschreibung des akustischen Phänomens der Gottesstimme, wie sie im Alten Testament beschrieben wird. Nur die Propheten haben die Gabe, die göttliche Stimme verstehend zu hören, der Rest der Menschen hört ein Donnern. So kann das Dröhnen mit der Wahrheit selbst auch tatsächlich gleichgesetzt werden.
1.2
Sprach(en)pluralismus
Wie Bilder und Zahlen ist die Sprache Mittel der Darstellung. Celans behutsamer Umgang mit Sprache ist u. a. seinem Sprachenpluralismus zuzuschrei-
1.2 Sprach(en)pluralismus
39
ben. Celan beherrschte mehrere Sprachen ausgezeichnet: Rumänisch, Deutsch (und Mittelhochdeutsch), Hebräisch, Jiddisch (in Ansätzen), Russisch, Ukrainisch, Französisch, Englisch, Latein und Griechisch und arbeitete auch als Übersetzer von 42 Dichtern aus sieben Sprachen.160 In einem Brief an Hans Bender schrieb Celan: Vielleicht kommt einmal auch der Tag, wo man merkt, daß auch diese Arbeiten im Zeichen des Gesetzes stehn, unter dem ich angetreten bin; all das sind Begegnungen, auch hier bin ich mit meinem Dasein zur Sprache gegangen.161
Celans Lyrik zeigt, dass die Beherrschung unterschiedlichster Fremdsprachen eine Außensicht auf die Muttersprache ermöglicht, was ebenfalls in einem Brief an Hans Bender ausgesprochen wird: »Die Lebensumstände, das Leben in fremden Sprachbereich [sic] haben es mit sich gebracht, daß ich mit meiner Sprache viel bewußter umgehe als früher«.162 Diese Fähigkeit zur Distanz führt zu einem exakten und sehr respektvollen Umgang mit Sprache. Zudem war Celan grundsätzlich sehr interessiert an linguistischen Fragestellungen zu Grammatik und Wortetymologien – also am Pluralismus innerhalb einer Sprache durch die historisch-semantische Schichtung. Nach den Berichten Gerhart Baumanns war er nahezu »besessen« von Etymologien, was seine Faszination an den Arbeiten Martin Heideggers zum Teil klärt: Bei zahlreichen Begegnungen, vornehmlich auf kleinen Wanderungen, kreisten viele Gespräche um die Möglichkeiten der Sprache; das immer noch nicht Vernommene, das Anfängliche beschäftigte Celan eingehend. Von der Etymologie erwartete er nicht nur Aufschlüsse über die Herkunft, vielmehr war er zunehmend überzeugt, daß sie auch einen wichtigen Weg in das Künftige bezeichnen könne. Der vielfache Sinn eines Wortes wurde aufgefächert, die gegensätzlichen Bedeutungen suchten wir aus einer vorgängigen Einheit zu ermitteln. Beständig blieb das Bestreben, verschiedene ›Neigungswinkel‹ zu erproben. In seinen letzten Jahren versuchte der Dichter zunehmend entschiedener, den Grenzwerten in der Sprache auf die Spur zu kommen. Die Sprache ursprünglicher zu verstehen, Bereiche des noch Unausgesprochenen zu erschließen, darin erblickte er eine wesentliche Aufgabe für künftige Entwürfe, das noch Sprachlose zu Wort kommen zu lassen.163
Baumann berichtet in seinen Erinnerungen von den Erlebnissen mit Paul Celan und spricht auch über dessen Vorliebe für beziehungsreiche Wortspiele.164
160
161 162 163 164
Vgl. Hans-Michael Speier: Der Dichter als Übersetzer. In: Celan-Jahrbuch 1 (1987) (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; 128), S. 223–227, S. 223. Paul Celan an Hans Bender, 10.2.1961. In: Briefe an Hans Bender. Hg. von Volker Neuhaus. München: Hanser 1984, S. 54. Paul Celan an Hans Bender, 18.11.1954. In: ebd., S. 34f., S. 35. Baumann, Erinnerungen an Paul Celan (wie Anm. 2), S. 112 [Hervorhebung, I. F.]. Vgl. auch Israel Chalfen: Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend, Frankfurt am Main: Insel 1979, S. 149.
40
1 Einheit – Der Eine
Celan studierte Wörterbücher,165 er versuchte damit der Vergesslichkeit der Umgangssprache entgegenzuwirken und arbeitete mit einander ablösenden oder überlagernden Bedeutungen eines Wortes, bemüht, »die vielfältigen Schattierungen und Abwandlungen unverkürzt einzubringen, verjährte, verdeckte und noch unentdeckte.«166 Das heißt, dass Celan auch danach trachtete, die Vergangenheit eines Wortes im Jetzt präsent zu erhalten – ein Konzept der Einung, auf das im dritten Teil dieser Arbeit noch näher eingegangen werden wird. Das potentielle Vermögen eines Wortes erkunden zu wollen, führt in direkter Linie zu kabbalistischem Denken – und Baumann berichtet denn auch von Unterhaltungen, die über die Auseinandersetzung mit Sprache zur jüdischen Mystik geführt haben: Ein Vormittag galt der Erörterung von beispielhaften Schöpfungen der Sprache und den Sprachen der Schöpfung, – ein Aufriß, der Glauben, Dichten, Denken und ihre wechselseitigen Bedingungen und Wirkungen betraf. Wir verfolgten, wie im einen das andere sich offenbart, wie alles aufeinander verweist, wie ein Glauben ohne Sprache ebenso sinnlos ist wie die Sprache ohne Glauben. Die Fragen nach der ›Schöpfung aus dem Nichts‹ – Fragen, die wiederholt auch in jüdischer Mystik aufgeworfen werden, beschäftigten uns anhaltend.167
Die Darlegung der Gesprächsthemen mit dem Freund beschließt Gerhart Baumann mit einem klaren Statement in bezug auf den gedanklichen Hintergrund, vor dem die späte Lyrik Celans entsprechend seiner Sichtweise zu positionieren ist: Über die Wirkungen einer présence d’absence handelten wir wiederholt, – nicht nur in Erinnerungen an Paul Valéry. Celan erwähnte in diesem Zusammenhang gern mystische Erfahrungen und berief sich dabei, ohne es namentlich zu benennen, auf ekstatische Confessionen und chassidische Überlieferungen, denen vornehmlich Martin Buber nachgegangen war. […] Alle Überlegungen ließen erkennen, wie Celan zunehmend bewußter sich seiner Anfänge in Czernowitz entsann, daß er wieder wurde, was zu sein er zwischenzeitlich beinahe aufgegeben: ein jüdischer Dichter aus der Heimat der chassidischen Geschichten. Entwürfe kommender Erinnerungen, – so verstand er zuletzt sein Gedicht.168
Trotz der Vielsprachigkeit Celans und der Erfahrung des Deutschen als Sprache der Mörder fiel die Entscheidung für das Deutsche als Sprache seiner Dichtung früh und endgültig: »So sagte er jedem, der ihm vorwarf, in der 165
166 167 168
»Er war von der Begierde besessen, seinen Wortschatz zu erweitern, kühne Fügungen, überraschende Verbindungen zu schaffen, beziehungssüchtige, vieldeutige Worte aus fremden Sprachen, aus Dichtungen und Glaubensbräuchen, aus Volksmund und Legendenton, aus Alchimie und Spruchgut, aber auch aus Technik und Raumfahrt.« (Baumann, Erinnerungen an Paul Celan [wie Anm. 2], S. 114 [Hervorhebung, I. F.]). Ebd., S. 34. Ebd., S. 102 [Hervorhebung, I. F.]. Ebd., S. 135f. [Hervorhebungen, I. F.].
1.3 Babel
41
Sprache der Mörder seiner Eltern zu schreiben: ›Nur in der Muttersprache kann man die eigene Wahrheit aussagen, in der Fremdsprache lügt der Dichter.‹ Und 1961 wird er präzisieren: Dichtung – das ist das schicksalhafte Einmalige der Sprache, und hinzufügen, daß er an Zweisprachigkeit in der Dichtung nicht glaube.«169 Wohl aber glaubt Celan an Mehrsprachigkeit in einem Gedicht, die über Assoziationen in fremden Sprachen und im Deutschen über historische Sprachschichtungen und Bedeutungen stattfindet. So bewegt sich, um nur eines der vielen Beispiele zu nennen, das Wort Neige im Gedicht BEI WEIN UND VERLORENHEIT zwischen der deutschen, der französischen (= Schnee) und der englischen Bedeutung »neigh« (= Gewieher). Alle erwähnten Semantisierungsmöglichkeiten werden im Gedicht aktualisiert.
1.3
Babel
1.3.1 BEI WEIN UND VERLORENHEIT BEI WEIN UND VERLORENHEIT, bei beider Neige: ich ritt durch den Schnee, hörst du, ich ritt Gott in die Ferne – die Nähe, er sang, es war unser letzter Ritt über die Menschen-Hürden. Sie duckten sich, wenn sie uns über sich hörten, sie schrieben, sie logen unser Gewieher um in eine ihrer bebilderten Sprachen. (PCG 126)
Jean Bollack liest das Gedicht zunächst als Trinklied, das sich über den trunkenen Zustand in eine Verlorenheit wandle. In dieses Bild passe auch der Ritt durch den Schnee, als einem »Land der Leere«. »Der Rausch trägt ihn an seinen Ort. Dort, in der Ferne, ist er nah. Das Draußen schafft eine unverfälschte Präsenz der Dinge und mit ihr ein Ich, das in dieser Dualität zu seiner Einheit findet.«170 Bollack sieht im Gott des Gedichts das »Wort des Gedichts und 169
170
Chalfen, Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend (wie Anm. 164), S. 148 [Hervorhebungen im Original]. Zitate aus Gesprächen mit Ruth Lackner und aus der Antwort auf die Enquête ›Le problème du bilinguisme‹ in: Almanach 1961 der Librairie Flinker, Paris. Jean Bollack: Chanson à boire. Über das Gedicht BEI WEIN UND VERLORENHEIT von Paul Celan. Übersetzt von Beatrice Schulze. In: Celan-Jahrbuch 3 (1989) (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; 103), S. 23–35, S. 25.
42
1 Einheit – Der Eine
eine mit dem Namen an dieser Stelle verbundene Definition«, eine Chiffre des »Nicht-Benennbaren«, das im Schnee, der »indistinkten Masse, in der sich alle Formen auflösen und ineinander übergehen«, ebenso zu finden sei wie im Pferd, »das über alles hinausführt«.171 Hans-Michael Speier bemerkt zum chiffrenartigen Gebrauch von ›Schnee‹ bei Celan: »Zwei Bedeutungskonstanten der Chiffre ›Schnee‹ scheinen indessen von der frühen, zum Teil noch naturtopischen Lyrik Celans bis in das Spätwerk durchgehalten: die Beziehung zum Totsein der Toten und die Beziehung zur Sprache.«172 So ist in vielen Gedichten Celans ›Schnee‹ als Chiffre für den Schmerz um den Verlust der Eltern zu lesen.173 Der Schnee, der Schmerz, wird geritten, ebenso wie das Wort in der Welt. Hier, wie wiederholt in Gedichten Celans, ist die Assoziation des ›Weinens‹ mit dem Wort Wein naheliegend.174 Wein und Verlorenheit – Wein und Weinen. Trauer – Verlorenheit – Schnee. ›Durch den Schnee reiten‹ bedeutet dann, sich durch den Schmerz zu bewegen. Gott zu reiten, könnte als Hadern aufzufassen sein. Sehr deutlich wird der Zusammenhang von Schnee, Trauer und Sprache auch in folgendem Gedicht: MIT WECHSELNDEM SCHLÜSSEL Mit wechselndem Schlüssel schließt du das Haus auf, darin der Schnee des Verschwiegenen treibt. Je nach dem Blut, das dir quillt aus Aug oder Mund oder Ohr, wechselt dein Schlüssel. Wechselt dein Schlüssel, wechselt das Wort, das treiben darf mit den Flocken. Je nach dem Wind, der dich fortstößt, ballt um das Wort sich der Schnee. (PCG 74)175 171
172
173 174 175
Ebd., S. 30. »So wie man in der Distanz sich selber näher kommt, so wird auch Gott zum Widersprechenden, zum Paradox des im Unsagbaren sich Aussprechenden. Die »Neige« führt über das Schweigen des Schnees (»neige«) hinaus, bis zu jener Stufe in der Ekstase, wo Laute hervorbrechen und der Gott im Ritt auf wunderliche Weise zum Singen gebracht wird.« (Ebd., S. 31). Hans-Michael Speier: Paul Celan, Dichter einer neuen Wirklichkeit. Studien zu ›Schneepart‹ (I). In: Celan-Jahrbuch 1 (1987) (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; 78), S. 65–79, S. 71. Vgl. zum Thema ›Schnee‹ hier S. 95f. Vgl. hier S. 137. Wiedemann findet bestätigende Lesespuren bei Parmenides. Angestrichen ist: »Zu ihnen [Türen, Schwellen] hat Dike, die Göttin der Vergeltung, die wechselnden Schlüssel.« (PCG 632) Vgl. auch den Neologismus umflockt in DU LIEGST, hier S. 123.
1.4 Heilige hebräische Sprache
43
Für Christoph Perels ertönt in BEI WEIN UND VERLORENHEIT »die Klage über das Ende einer Epoche, die den Menschen als Wesen, das Sprache hat, definiert.«176 Das Gedicht selbst lasse die Sprache des Propheten Jeremia durchschimmern: »Denn also spricht zu mir der Herr, der Gott Israels: nimm diesen Becher Wein voll Zorns von meiner Hand, und schenke daraus allen Völkern, zu denen ich dich sende.« Und der Prophet schenkt ein »allen Königen … in der Nähe und Ferne« und sagt ihnen seinem Auftrag gemäß den Untergang an: »Der Herr wird brüllen aus der Höhe, und seinen Donner hören lassen aus seiner heiligen Wohnung; er wird brüllen über seine Hürden; er wird singen ein Lied wie die Weintreter über alle Einwohner des Landes, des Hall erschallen wird bis an der Welt Ende.« Nicht mehr in Menschensprache, nur im Tierlaut noch und im Gottesgesang, in zwei Ausdrucksweisen, die sich der Aufspaltung in Zeichen und in das, was es bezeichnet, entzieht, ist Wahrheit.177
Jean Bollack bemerkt, dass bei Luther ›Hürden‹ die Bezeichnung der Unterstellplätze für Tiere178 ist. Menschen-Hürden sind dann also Unterstellplätze, Schutzplätze der Menschen. Sollten diese etwa Sprachgebäude bzw. -barrieren sein? Bei Heidegger ist das Wort ein Gebäude, durch das man zu dem Bezeichneten vordringt.179 Das Reiten – ich ritt Gott – und die Lüge sind über das alte deutsche Wort ›falb‹ miteinander verbunden, das sowohl ein helles Pferd als auch die Lüge – logen es um in eine / ihrer bebilderten Sprachen – bezeichnet. Der gottgegebene Gesang wird von einem Menschen gehört und verbreitet, aber: das Eigentliche der Prophetie ist in der Übersetzung verloren, es wird umgelogen in eine / ihrer bebilderten Sprachen.
1.4
Heilige hebräische Sprache
Am Anfang war der Buchstabe. Genau geschrieben: die Buchstaben des hebräischen Alphabets. Das Buch Jezira, hebräisch Sefer Jezira, beschreibt die Entstehung der Welt aus den Buchstaben des Alphabets. Es gibt keine Welt vor oder über diesen Buchstaben, keine Kosmogonie oder Schöpfung avant la lettre. ›Welt‹ existiert erst nach, aus und in Kraft der hebräischen Buchstabenschrift, in der auch die Schrift aller Schriften, die Tora, abgefaßt ist: Heilige Schrift.180
In dieser Arbeit wird es entscheidend sein aufzuzeigen, wie sehr Celan dem Hebräischen als Sprachsystem und als Ausgangspunkt hebräischen Denkens 176
177 178 179 180
Christoph Perels: Eine Sprache für die Wahrheit. In: Frankfurter Anthologie. Bd 10. Hg. von Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt am Main: Insel 1986, S. 210–212, S. 212. Ebd., S. 210. Vgl. Bollack, Chanson à boire (wie Anm. 170), S. 26. Vgl. hier S. 108. Goodman-Thau/Schulte, Das Buch Jezira (wie Anm. 97), S. vii.
44
1 Einheit – Der Eine
verbunden war. Edith Silbermann sagt über das Sprachverständnis ihres Jugendfreundes Paul Celan, bezugnehmend auf seine Bremer LiteraturpreisRede: Celan verstand ›Sprache‹ im Sinne Heideggers stellvertretend für seine eigene Existenz. Wenn er daher von ›Hindurchgehen‹ spricht und dieses Wort siebenmal wiederholt, so hat er im Einklang mit dem Schicksal seines Volkes damit gewiß das Hindurchgehen der Juden durch mancherlei Prüfung […] vor allem aber ihre jüngste Holocausterfahrungen im Auge.181
In der Kindheit und Jugend Paul Celans stellte beinahe alles, was mit dem Judentum zu tun hatte, so auch der wenig geschätzte Hebräischunterricht, Konfliktpotential zwischen Vater und Sohn dar – die Position dem Jüdischen gegenüber sollte sich mit der nationalsozialistischen Verfolgung jedoch grundlegend ändern. Aus der deutschen Kulturtradition verstoßen, griffen viele nicht praktizierende ›Juden‹, die nach den Nürnberger Rassegesetzen aber als Juden ›behandelt‹ worden waren, in ihrer vollständigen Identitätsverwirrung auf die jüdische Tradition zurück. Paul Celan bildet hier keine Ausnahme. Ein Freund Celans berichtet, man habe Paul nun erst über die Schönheit der hebräischen Sprache und von den Jahren sprechen gehört, die er mit dem Erlernen des Hebräischen verbracht hätte.182 Die beeindruckendsten Zeugnisse des aktiven Interesses Celans an den spezifischen Eigenheiten der hebräischen Sprache sind die Gedichte selbst. Denn es lässt sich nachweisen, dass Celan Möglichkeiten der hebräischen Wortbildung und formale Strukturen des Hebräischen in seiner Dichtung nutzt. Klaus Reichert vertritt die Meinung, dass sich Celan aufgrund des Hebräischunterrichts in seiner Kindheit und Jugend »die Eigenartigkeit dieser Sprache so tief einprägte, dass sie Teil seiner Sprachkompetenz wurde«,183 und zwar durchaus auch unbewusst, wobei sich diese unbewusst genutzten formalen Strukturen des Hebräischen mit bewusst gesetzten Hebräismen184 überschneiden würden. Reichert führt in seinem Aufsatz Parallelen zwischen der hebräischen Sprache und der Sprache der Celanschen Gedichte vor.185 So übernehme Celan z. B. Möglichkeiten hebräischer Wortbildung in die deutsche Sprache, arbeite mit 181
182 183 184
185
Edith Silbermann: Paul Celan im Kontext der Bukowiner Dichtung. In: dies.: Begegnungen mit Paul Celan. Erinnerung und Interpretation. 2. Aufl. Aachen: Rimbaud 1995, S. 7–39, S. 16. Chalfen, Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend (wie Anm. 164), S. 140 (Zit. aus einem Gespräch mit David Seidmann). Reichert, Hebräische Züge in der Sprache Paul Celans (wie Anm. 2), S. 157. Solch ein Hebräismus ist z. B. das Schlusswort des Gedichts MANDELNDE (PCG 359), das Hachnissini lautet. Hachnissini bedeutet ›Birg mich‹ und ist ein intertextueller Verweis auf einen der bedeutendsten hebräischen Dichter der Moderne, Chaim Nachman Bialik, der ein berühmtes Lied mit diesem Anfangswort geschrieben hat. Vgl. zum Folgenden: Reichert, Hebräische Züge in der Sprache Paul Celans (wie Anm. 2), S. 156–159.
1.4 Heilige hebräische Sprache
45
Parataxen, Überblendung von Wortarten, Wortartentransformationen, harten Fügungen, Präpositionshäufungen, freien Wortbildungen sowie grammatischen Auseinanderstellungen und attributiven Postpositionen nach hebräischem Vorbild. Diese syntaktischen und Wortbildungsfügungen erkennt Reichert als Formen der Emphase. Der für Celan so charakteristische emphatische Ton sei also sozusagen ›normaler‹ Bibelton. Dies lasse sich auch anhand der Möglichkeiten des hebräischen, sehr dynamischen Verbs gut belegen. Celan arbeite in seinen Wortbildungen dieser Dynamisierung im Deutschen mit der kreativen Verwendung von Vorsilben entgegen. Im hebräischen Verb kämen Aspekte zur Sprache, die zuinnerst einer Celanschen Sprachintention entsprechen würden: »der emphatischen und der kausativen, oder anders: der Inständigkeit des Begründetseins dieses Sprechens.«186 Formal gesehen zeige sich der Appellcharakter der Sprache Celans an dem übermäßigen Gebrauch, den er von Imperativen und ihnen ähnlichen Ausdrucksformen mache. Auch dafür gebe es Analoges im Hebräischen: nicht nur die häufig gebrauchten Imperativformen, sondern auch eigens ausgebildete appellative Formen, die es im Deutschen nicht gibt, so nennt Reichert den Jussiv als Modus der Aufforderung, der Willensäußerung, des Wunsches und der Bitte (das »Es werde« der Schöpfung ist eine Jussiv-Form), den Prohibitiv für Verbote und den Cohortativ zur emphatischen Selbstaufforderung.187 Einzelne hebräische Wortwurzeln, die in der Regel aus drei Konsonanten bestehen, erreichen aufgrund ihrer unterschiedlichen Vokalisierungsmöglichkeiten eine enorme semantische Streubreite und der Leseakt der hebräischen Sprache fordert bereits ein gewaltiges Maß an Interpretation: Zwar lassen sich mit Hilfe der Punktierungen die Denotate einigermaßen klar unterscheiden, aber der Assoziationsspielraum wird dadurch im Grunde nicht getilgt, die von Jakobson sogenannte Kontiguität (im Unterschied zur Selektion) bleibt als Nähe des Mitgemeinten bestehen. Ein bekanntes Beispiel hierfür wäre qds, das qadas gesprochen heilig bedeutet, als qades aber Tempelhure. Man sieht leicht, […] daß ethisch und konzeptuell längst auch in biblischer Zeit schon, Geschiedenes wegen der ursprünglichen Nähe im Wort konvergiert: das Wort hat das längere Gedächtnis, durch die Unterscheidungen hindurch, die in ihm aufbewahrt sind. […] Die Präsenz solcher Nähe des Unvertrauten, wie das Hebräische sie hat, scheint mir ein Grundzug der Celanschen ›Wortbildungslehre‹ zu sein. […] Das Entscheidende aber scheint zu sein, daß die Wertigkeiten nicht in die Wörter hineingelegt sind, daß sie keiner hermetischen Privatsprache entstammen, obwohl gerade diese Zuordnung immer wieder gemacht worden ist. Celan hat ja geradezu darauf bestanden, daß er keine Neologismen verwende und daß man sich nur die Mühe zu machen brauche, das fremd Anmutende im Grimmschen Wörterbuch oder in botanischen, mineralogischen, kristallographischen usw. Fachwörterbüchern nachzuschlagen. Das Freischaufeln der Wörter aus dem Schutt des Vergessens oder die Befreiung der Wörter aus dem Abgesperrtsein in einer Fremdsprache ist ein Akt der Rettung und ein Sichnicht-Abfinden mit Obsoletheit und Abseitigkeit, mit Vergessen also. Zugleich aber ist sie [sic] ein poetisches Verfahren, den Assoziationsspielraum der Wörter nicht 186 187
Ebd., S. 160. Ebd.
46
1 Einheit – Der Eine frei wuchern zu lassen, sondern ihn im Gedächtnis der Sprache selbst zu fundieren und damit auch zu begrenzen, ihn mit einem Lieblingswort, ›opak‹ zu machen. In der Überschneidung dessen, was ein Wort auslöst, und dessen, was es ursprünglich heißt, in dieser kalkulierten Wertigkeit entsteht die Realität der Sprache Celans.188
Die folgende Stelle im Aufsatz Reicherts war entscheidend für die hier vorgestellte Arbeitsweise mit den Gedichten: Die Strahlkraft der hebräischen Wörter, das Mitmeinen des Fremden, des Anderen – eines jeweiligen Anderen – oder sogar des Widersinnigen im Wort, es ist bei Celan zur poetischen Methode erhoben. Es könnte aber darüber hinaus, und konkret, zudem sein, daß im einzelnen ganz bestimmte, unserem indo-europäischen Sprachempfinden fremde, Wortassoziationen durch hebräische Wörter ausgelöst sind. Um dies aber belegen zu können, müßte man die Verse zuerst in die Sprache der Bibel übersetzen. Vielleicht würde, auf wieder einer anderen Ebene, in manchen Fällen auch die hebräische Lautfolge Schlüsse nahe legen über die Wahl der deutschen Wörter.189
Der Gedanke der Übersetzung – in einigen Fällen der Rückübersetzung – ins Hebräische sei gar nicht so abwegig, wenn man erst einmal entdeckt habe, dass einzelne Wörter tatsächlich eine zusätzliche Bedeutungsschicht bekommen, nachdem sie in einen hebräischen Kontext gerückt sind. In einem Brief an Nelly Sachs findet sich ein Indiz dafür, dass Celan, obwohl er seine Lyrik nahezu ausschließlich in deutscher Sprache schrieb, in seinen Gedichten Assoziationen über hebräische Wörter und deren Bedeutungen zog: Meine liebe Nelly, es war so gut Deinen Brief in Händen zu halten und von Dir selbst an das Licht erinnert zu werden, das in Zürich überm Wasser und dann in Paris aufschien. Einmal, in einem Gedicht, kam mir, über das Hebräische, auch ein Name dafür.190
Celan spielt hier auf Ziw – das Licht – in seinem Gedicht NAH, IM AORTENBOGEN (PCG 253)191 vom 10.5.1967 an. Er beschreibt den Prozess der Begriffsfindung, der Benennung einer Wahrnehmung, die ihn stark berührt hat, und es ist die hebräische Sprache, in der er schließlich ein Wort dafür findet.
1.5
Jüdische Tradition – Chassidismus – Kindheit in Czernowitz
An dieser Stelle wird es notwendig, eine Skizze des Umfelds zu zeichnen, in dem Celan aufwuchs. Die große Bedeutung des frühen Umfelds und der ersten 188 189 190 191
Ebd., S. 161f. Ebd., S. 163 [Hervorhebungen; I. F.]. Paul Celan/Nelly Sachs. Briefwechsel. Hg. von Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 94. NAH, IM AORTENBOGEN, / im Hellblut: / das Hellwort. // Mutter Rahel / weint nicht mehr. / Rübergetragen / alles Geweinte. // Still, in den Kranzarterien, / unumschnürt: / Ziw, jenes Licht.
1.5 Jüdische Tradition – Chassidismus – Kindheit in Czernowitz
47
Eindrücke für das künstlerische Schaffen streicht Celan später selbst in einem Brief an seinen Freund und Kollegen Franz Wurm (Paris, 8.6.1963) hervor: Daß die ›Gauner- und Ganovenweisen‹ bei Ihnen diese Kindheitserinnerung auslösen konnte, ließ mich ein weiteres Mal erkennen, wie sehr wir alle den Dingen und Erlebnissen unserer frühen und frühesten Zeit verpflichtet bleiben, wenn wir Gedichte zu schreiben versuchen.192
Das angesprochene Gedicht EINE GAUNER- UND GANOVENWEISE (PCG 135) steht in assoziativer Verbindung mit Sadagora, jenem ehemaligen Zentrum des Chassidismus, aus dem Celans Mutter stammte.193 Aber auch in Czernowitz lebten altjüdische Sagen und chassidische Legenden allgegenwärtig fort.194 Der Folkloreschatz der Bukowina wurde Celan z. B. von den im selben Haushalt wohnenden Cousinen erzählt.195 Das Geschichtsbewusstsein in Czernowitz war generell sehr lebendig ausgeprägt, indem mystische und religiöse Überlieferungen in hohem Grade die Wirklichkeit besetzten.196 Mit zunehmendem Alter und psychischer Verstörung des Dichters treten dann die Erinnerungen an die Kindheitserfahrungen verstärkt wieder hervor und in die Dichtung ein. Gerhart Baumann berichtet, dass es zu Celans Verhalten zählte, in Begebenheiten etwas Hintergründiges, Ominöses, vielfach etwas Unergründliches aufzuspüren. Ein kritischer Sinn für die Gegebenheiten begleitete den Glauben an das Wunderbare – an chassidische Wunder im Alltäglichen –, nicht zuletzt jedoch im Angesicht tödlicher Bedrohung. Völlig selbstverständlich vergegenwärtigte Celan das Unglaubliche. Er entdeckte in Zeichnungen die Philosophie, in Farben das Mystische, in Gruppierungen das Drama, in Landschaften die Mythologie, in Bauwerken eine Ethik. […] Alles gewann in seinen Erzählungen Legendencharakter, Bestimmungen von höherer Hand.197
In diesem Hang zur Mystik ist die chassidisch getränkte Atmosphäre der Hauptstadt der Bukowina Czernowitz – Ort der Kindheit und Jugend Celans – zu erkennen. Die lurianische Kabbala war durch Dov Ber, dem Maggid aus Mesritsch, im osteuropäischen Chassidissmus präsent. Dov Ber war ein Schüler und Nachfolger des Baal Schem Tov, dem Gründer des Chassidismus, und 192 193
194 195
196 197
Paul Celan/Franz Wurm. Briefwechsel. Hg. von Barbara Wiedemann in Verbindung mit Franz Wurm. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 12. »Es ist dasselbe kleine Sadagora, das Celan in dem Gedicht Eine Gauner- und Ganovenweise als den Ort nennt, neben dem die Großstadt Czernowitz liegt. Nach unerforschbarer Czernowitzer Überlieferung waren die Leute aus Sadagora als ›Gauner und Ganoven‹ verschrien.« (Chalfen, Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend [wie Anm. 164], S. 30). Baumann, Erinnerungen an Paul Celan (wie Anm. 2), S. 27. Beachte auch Elieser Steinbargs »Fabeln«. Während Pauls Vater der Ansicht war, wenn schon Geschichten erzählt würden, dann sollten es doch die lehrreichen des Alten Testamentes sein. (Vgl. Chalfen, Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend [wie Anm. 164], S. 39). Vgl. Baumann, Erinnerungen an Paul Celan (wie Anm. 2), S. 26. Ebd., S. 16f.
48
1 Einheit – Der Eine
selbst Lehrer führender chassidischer Gelehrter. Bers Denken wurzelte tief in der Tradition der lurianischen Kabbala, er nimmt Lurias Gedankengebäude als (mitunter allerdings rein terminologischen) Ausgangspunkt des eigenen Denkens.198 Der Jugendbiograph und Landsmann Paul Celans, Israel Chalfen, bezeichnet (wenig überraschend) den biographischen Aspekt, auch die Zeit der Kindheit und Jugend in der Bukowina, als wesentlich bedeutsamer für das Verständnis der Dichtung, als im allgemeinen angenommen. »Ich spürte, ehe ich wußte, daß vieles in der Dichtung Celans auf seine in der Bukowina verlebte Kindheit und Jugend hinweist, auf seine alte Heimat, die dem heutigen Leser eine ›unbekannte Landschaft‹ geblieben ist.«199 Celans Vater, Leo Antschel, war streng orthodox erzogen worden und hatte u. a. die Heilige Schrift in hebräischer Sprache und den Talmud im Urtext studiert. Er sah sich nun der religiösen Verpflichtung gegenüber, die Tradition seinem Sohn weiterzuvermitteln. Celans Mutter Fritzi Schraga stammte aus Sadagora, einem Zentrum des Chassidismus. Sie hatte die Schule nur unregelmäßig besuchen können, sich aber durch Lektüre selbst weitergebildet, wobei sie eine besondere Vorliebe zu den deutschen Klassikern entwickelt hatte und diese Begeisterung später mit ihrem Sohn teilte. Leo und Fritzi Antschel erleichterten sich »als typisch pragmatische Bukowiner«200 zwar das Leben, wo keine grobe Verletzung der Tradition zu befürchten war, waren aber gottgläubig, blieben der Religionsgemeinschaft treu und der jüdischen Tradition immer verbunden. Offiziell begann Paul Celans jüdische Erziehung erst im Volksschulalter. Gegen seinen Willen, doch nach dem Wunsch des Vaters, musste er drei Jahre die hebräische Volksschule Ssafa Iwrija besuchen. Zu der vom Vater gewünschten Erziehung zählte wesentlich das Erlernen der hebräischen Sprache, das Celan zu seinem Leidwesen auch während der Zeit als Gymnasiast der Unterstufe beim besten Hauslehrer Czernowitz’ fortsetzen sollte. Widerwillig ließ er noch die Bar-Mizwa mit den dazu benötigten Vorbereitungsstudien über sich ergehen, verweigerte danach aber jeden weiteren Unterricht im Hebräischen. Das Hebräische war die zweite Muttersprache Leo Antschels – sein Sohn lehnte die Sprache ab, liebte aber das Deutsche, die (auch literarisch) bevorzugte Sprache der Mutter. Celan schloss die Möglichkeit, seine Gedichte in einer anderen als der Muttersprache zu schreiben, kategorisch aus. Zwischen der Unter- und der Oberstufe des Gymnasiums wechselte er die Schule aufgrund unverhohlenen Antisemitismus’. In der Oberstufe waren siebzehn der achtundzwanzig Schüler Juden (der Rest Ukrainer). Paul Celan tat nur das Notwendigste in den für ihn uninteressanten Fächern, glänzte aber 198 199
200
Vgl. Grözinger, Jüdisches Denken (wie Anm. 27), S. 809–852. Chalfen, Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend (wie Anm. 164), S. 8. Vgl. auch zur folgenden Darstellung der Ereignisse in Celans Jugend Israel Chalfens Biographie. Ebd., S. 34.
1.5 Jüdische Tradition – Chassidismus – Kindheit in Czernowitz
49
in Geschichte und in Sprachen (Deutsch, Französisch, Rumänisch, Latein und Griechisch). Er las Literatur, wo immer es ihm möglich war in der Originalsprache, und im letzten Schuljahr begann er Englisch zu lernen, um Shakespeare im Original lesen zu können. Celans bevorzugter deutschsprachiger Autor war lange Zeit Rainer Maria Rilke, aber auch Hofmannsthal und Kafka beeindruckten ihn nachhaltig, und später bezeichnete er Kafka als seine »tägliche Lektüre«.201 Am Ende seiner Schulzeit hatte Celans Vater die Gefahr durch die um sich greifenden Machtansprüche Hitlers erkannt und seine Hoffnungen als Zionist auf eine Auswanderung nach Palästina zugunsten einer schnellen Emigration nach Südamerika zurückgestellt. Allerdings war die gleichzeitige Finanzierung des für den Sohn vorgesehenen Studiums in Frankreich aus wirtschaftlichen Gründen nicht möglich – Celan hätte auf die Möglichkeit des Studiums in Frankreich verzichten müssen. Mit Hilfe der Mutter, die wie er von dem Vorschlag, in ein ›unkultiviertes‹ Land zu ziehen, nichts hielt, setzte er die Erlaubnis zum Studium beim Vater durch. Auch dieser Umstand dürfte nach der Ermordung der Eltern zu dem bei Celan massiv ausgebildeten ›SurvivorSyndrom‹ beigetragen haben. In der Zeit des medizinischen Vorstudiums in Tours äußerte er mehrfach Unzufriedenheit mit den Übertragungen der Shakespeareschen Sonette ins Deutsche. Auch seine Hebräischkenntnisse erregten Aufsehen, als er, für die Anwesenden überraschend, an einer hebräisch geführten Konversation teilnahm. Nach dem Ausbruch des zweiten Weltkriegs saß Celan in Czernowitz fest und studierte dort vorerst Anglistik, später Romanistik, und er wendete sich auch den von Ferdinand de Saussure dargelegten ›Sprachproblemen‹ zu. Darüber berichtet der Sprachwissenschafter Chaim Ginninger, der Celan, dessen »präzise Sprache« ihm aufgefallen war, auch mit Rose Ausländer bekannt machte.202 Celan erkannte mit dem Einmarsch der Roten Armee 1940 die Notwendigkeit, Russisch zu lernen, las auch sehr bald in dieser Sprache Literatur im Original, und übersetzte schließlich russische Literatur ins Rumänische. 1944 lernte er Mittelhochdeutsch, was vereinzelt auch Eingang in seine Dichtung gefunden hat. Mittelhochdeutsche Wörter in einem Gedicht suggerieren, wie auch die eingestreuten Hebräismen, ein Fremdheitsgefühl beim Leser. 201 202
Ebd., S. 68. Diese berichtet, dass Celan ihre Metapher der ›Schwarzen Milch‹ (»Ins Leben« [1925] gedruckt 1939) in seiner Todesfuge ›verwendet‹ habe. »Daß Paul die Metapher ›schwarze Milch‹, die ich in meinem 1925 geschriebenen, jedoch erst 1939 veröffentlichtem Gedicht ›Ins Leben‹ geschaffen habe, für die ›Todesfuge‹ gebraucht hat, erscheint mir nur selbstverständlich, denn der Dichter darf alles Material für die eigene Dichtung verwenden. Es gereicht mir zur Ehre, daß ein großer Dichter in meinem bescheidenen Werk eine Anregung gefunden hat. Ich habe die Metapher so nebenhin gebraucht, er jedoch hat sie zur höchsten dichterischen Aussage erhoben. Sie ist ein Teil von ihm selbst geworden.« (Zit. nach Chalfens Protokoll des Gesprächs mit Rose Ausländer im Mai 1972, ebd., S. 133).
50
1 Einheit – Der Eine
Eine penible Analyse des von Celan verwendeten Sprachmaterials erscheint angesichts der Zeugnisse für Celans umfassende Sprachkenntnis und seine Sprachbegeisterung gerechtfertigt. In den Gedichttexten mitzudenken sind demnach etymologisch/historische semantische Felder des verwendeten Wortmaterials als auch Wort-Assoziationen in den von Celan beherrschten Sprachen – im Spätwerk auch verstärkt Hebräisches in der Zuwendung zum Jüdischen, ab den 60ern verstärkt dem Jüdisch-Mystischen. Durch das Wiedererstarken der Rumänen aufgrund des Beitritts Rumäniens im November 1940 zum Dreimächtepakt: Deutschland, Italien, Japan, zogen am 5. Juli 1941 wieder rumänische Truppen in Czernowitz ein. Viele Ukrainer und Juden wurden im Zuge der Plünderungen ermordet. Am 11. Oktober wurde ein Ghetto errichtet, das 45.000 Menschen fassen musste. Von hier wurden die Juden weiterverschickt. Die Stadtversorgung war allerdings durch das Fehlen der Juden zusammengebrochen und so wurden 15.000 Juden zur Zwangsarbeit in der Stadt zurückbehalten – unter ihnen auch die Familie Antschel. Im Juni 1942 kam es zu neuerlichen Vertreibungsaktionen. Allerdings war der Zeitpunkt der ›Abholung‹ durchschaubar und Celan wusste sich durch Abwesenheit während der bewussten Nacht einmal pro Woche vor der Gefahr der Vertreibung zu schützen. Seine Mutter jedoch weigerte sich, eine Nacht in der Woche außerhalb der Wohnung zu verbringen. Celan widersprach der Mutter. Er verurteilte ihren Fatalismus und war der Überzeugung, dass jede Chance ergriffen werden müsse, um den Verbleib in der Stadt zu ermöglichen. In dieser Überzeugung tauchte er in besagten Nächten unter, seine Eltern aber blieben in der Wohnung und wurden schließlich ›geholt‹. Um einem Abtransport ins Ghetto entgegenzuwirken, meldete sich Celan im Juli 1942 für ein Arbeitsbataillon jüdischer Männer zum Straßenbau. Mit dem gewaltsamen Tod der Eltern wandelte sich Celans Einstellung zum Judentum grundlegend. Die hautnah erlebte Gewalt bewirkte Identifikation mit dem tausendjährigen Leidensweg des jüdischen Volkes. So zeigt z. B. das Gedicht AUCH MICH die Verhaftetheit in einer Generationenfolge, wobei die Mandelhode auf eine jüdische Kontinuität verweist.
1.5.1 AUCH MICH AUCH MICH, den wie du Geborenen, hält keine Hand, und keine wirft mir ein Glück in die Stunde, nicht anders als dir, dem wie ich in Stierblut Getauchten, doch stehen die Zahlen bereit, der Träne zu leuchten, die in die Welt schnellt aus unserm Nabel, doch geht in die große Silbenschrift ein, was uns nah kam, einzeln, //
1.5 Jüdische Tradition – Chassidismus – Kindheit in Czernowitz
51
und die Mandelhode gewittert und blüht. (PCG 298)
Mit Auch mich steht das lyrische Ich am Anfang des Gedichts und drückt mit dem Auch in Spitzenstellung bereits die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe aus. Es deklariert sich als Geborener, der Nabel der zweiten Strophe ist das körperliche Zeichen des Geborenen und Merkmal des Stehens in einer Traditionslinie, denn die Nabelschnur verbindet das Ich mit der vorhergehenden Generation. Die Mandelhode, die gewittert und blüht weist auf den Fortgang der Traditionslinie durch die Zeugung neuen Lebens. Auffällig ist, dass sich das Ich im Vergleich mit einem Du in der gesamten ersten Strophe sehr passiv darstellt. Es spricht von beiden als Geborenen und in Stierblut Getauchten, die von keiner Hand gehalten, vom Schicksal nicht getragen werden, und denen keiner ein Glück in die Stunde wirft. Ein Geborener ist ein menschliches Geschöpf, mit dem hier etwas passiert, an dem gehandelt wird. Das Stierblut assoziiert eines der traditionellen Opfertiere des Alten Testaments (vgl. z. B. 3. Mos. 9), dessen Blut das Volk der Juden vor Gott reinigt und steht damit in deutlicher Abgrenzung zum christlichen Opferlamm. Das Ich und das Du werden in ihrem Schicksal in der ersten Strophe auch formal eng verschränkt: Auch mich, wie du, mir ... nicht anders als dir, dem wie ich. In der zweiten Strophe wird aus dem Ich und dem Du ein ›wir‹ in unserm. Strophe drei bestätigt vorerst diese Verbindung im uns, um sie gleich darauf wieder zu trennen – einzeln. In der letzten Strophe übernimmt die Mandelhode die Subjektrolle. Das Gedicht thematisiert Zeugung, Bewahrung, Erinnerung und jene Zeichen, die einzelne Menschen im Lauf der Zeit in der Tradition hinterlassen. Die erste Strophe spricht vom Schicksal des jüdischen Volkes, aber bereits die zweite Strophe drückt mit einem doch den Widerstand gegen und die Bewahrung trotz des Schicksals aus. [D]och stehen die Zahlen bereit – Zahlen und Schrift sind Zeichen, die bereit stehen, der Träne zu leuchten, die in die Welt schnellt. In die Welt schnellen in diesem Gedicht Körpersäfte, die Träne als Ausdruck der Trauer über das Schicksal der vorigen Generation als auch der Same als Träger des Lebens einer neuen Generation. Aus unserm Nabel kann auch bildlich für die Zeugung gelesen werden. Und der Nabel der Welt, der auch assoziiert wird, steht als Ausdruck für eine Mitte. Und doch geht in die große Silbenschrift ein, / was uns nah kam, einzeln. In der ganzen Generationenwechselfrage ist also doch das Einzelschicksal nicht verloren. Es wird verzeichnet, bewahrt und erinnert. Ein Leben wird damit in Schrift gesetzt und darin bewahrt – die (Daten/Jahres-)Zahlen zeigen den Weg, bringen Licht, (be)leuchten den Weg in die Welt. Es ist ein Gedicht über die
52
1 Einheit – Der Eine
Generationenfolge, die Kontinuität, doch der Einzelne, das ist die tröstliche Botschaft, geht nicht spurlos aus dieser Welt. Und – immer wieder – gewittert / und blüht die Mandelhode. Pöggeler hat über die Jahre mehrere Assoziationen zur ›Mandel‹ in all ihren Varianten bei Celan vorgestellt. Zunächst fasst er die ›Mandel‹ des Gedichts Zähle die Mandeln als »die Frucht, die auch bitter sein kann« auf, später denkt er dabei auch an das Zählmaß der Mandel.203 Das Gedicht AUCH MICH hingegen verbinde Mandel und Hode (Orchis). Blickt man auf Celans Werk im ganzen, dann kann nicht zweifelhaft sein, daß er bei der Mandel an die Frucht des Mandelbaums denkt. Am Mittelmeer beginnt der Mandelbaum schon im Januar zu blühen; so kann er – etwa bei Jeremia (1,11) – Symbol der Wachsamkeit sein (zumal im Hebräischen Wachen und Mandel auch durch die Wortgestalt verbunden sind).204
Pöggeler macht klar, wie stimmig das Bild der Mandelhode, die gewittert und blüht, ist. »Die Orchidee heißt Orchis oder Knabenkraut, weil ihre Wurzeln dem Orchis, dem Hoden, ähneln. [...] So kann im Band Lichtzwang das Gedicht Auch mich Mandel und Hode (nicht nur von der Gestalt her) zusammenfassen«.205 Die Mandel steht, wie auch das Blut des Opfertiers, für Priestertum (vgl. 4. Mos. 17,17ff.). Die Mandelblüte ist die Blume der Passion, der siebenarmige Leuchter Moses’ schließlich hat mandelförmige Blätter, »so daß der Siebenstamm auch ein Mandelstamm ist«.206 Intertextuell gedenkt Celan in diesen Wortspielen auch Ossip Mandelstamm, dem er sich zutiefst verbunden fühlte.
Zähle die Mandeln, zähle, was bitter war und dich wachhielt, zähl mich dazu:
(13)
Ich suchte dein Aug, als du’s aufschlugst und niemand dich ansah, ich spann jenen heimlichen Faden, an dem der Tau, den du dachtest, hinunterglitt zu den Krügen, die ein Spruch, der zu niemandes Herz fand, behütet. (36) Dort erst tratest du ganz in den Namen, der dein ist, schrittest du sicheren Fußes zu dir, schwangen die Hämmer frei im Glockenstuhl deines Schweigens, stieß das Erlauschte zu dir, legte das Tote den Arm auch um dich, und ihr ginget selbdritt durch den Abend. (45) // 203 204 205 206
Pöggeler, Spur des Worts (wie Anm. 59), S. 37ff. und S. 266f. Ebd., S. 38f. Ebd., S. 266f. Ebd., S. 39.
53
1.5 Jüdische Tradition – Chassidismus – Kindheit in Czernowitz Mache mich bitter. Zähle mich zu den Mandeln.
(8)
(PCG 53)
Zähle die Mandeln vom 30.4.1952 ist das einzige Gedicht aus dem frühen Band Mohn und Gedächtnis, das Celan in den späten 60er Jahren noch öffentlich las (PCG 619) – es besaß für ihn noch Aktualität und fügte sich stimmig in den Kontext der Gedichte dieser Zeit, die in großer Zahl von jüdischer Mystik handeln oder inspiriert sind. Auch zeigt es ein Stilmittel, das Celan besonders liebte – ein Wortspiel rund um die Bedeutung des hebräischen שקד, das u. a. als Mandel (schaked) oder »ich will wachen« (schocked) gelesen werden kann.207 »Bitteres gehört, wenn auch nicht in Form der Bittermandel, sondern der der Bitterkräuter, zum Sedermahl, in Erinnerung an die in Ägypten durch das jüdische Volk erlittene Bitternis.«208 Das jüdische Volk war in Ägypten fremd, und so enthält das »zähle mich zu« auch den deutlichen Wunsch des Dazugehörens, dem auch das jüdische Gebot der Fremdenliebe (3. Mos. 19,34; 5. Mos. 10,19) entspricht. Die Mandel ist Zeichen des Judentums und der jüdischen Generationenfolge als auch ein Zählmaß, das aus dem Kontext Ernte stammt und dann auch die Gemähten209 assoziiert. Betrachtet man die Zahlen des Gedichts, so ergeben die Wortsummen der Rahmenstrophen heilige Zahlen: 13 und 8. Pöggeler spricht im Zusammenhang mit der Mandel vom Ewigen im Vergänglichen.210 Die Zahlen 13 und 8 rahmen so ein Gedicht, das die dringende Bitte: Zähl mich dazu, vorträgt und weisen in ihrer symbolischen Bedeutung über die irdisch verwurzelten Zahlen 12 und 7 um die entscheidende Eins hinaus.
207 208 209 210
Vgl. ebd. Ebd. Vgl. DEIN / HINÜBERSEIN, hier S. 56f. Vgl. Pöggeler, Spur des Worts (wie Anm. 59), S. 39.
2
Spaltung – Der Bruch
2.1
Der Bruch des ursprünglich Einen – Schebirat ha’kelim
Der Mythos des »Bruchs der Gefäße«, das sei hier noch einmal wiederholt, besagt, dass bei der Entsendung des zu mächtigen göttlichen Schöpferstrahls in das durch Zimzum geschaffene Vakuum in Gott selbst, die Gefäße, aus minderem Licht geschaffen, die die Strahlen auffangen und kanalisieren sollten, aufgrund der göttlichen Gewalt zerbarsten. Die Strahlen reflektierten in alle Richtungen und kehrten zu einem großen Teil zu En Sof, der Quelle, zurück, aber mit den fallenden Scherben der Gefäße gingen auch göttliche Funken verloren. Die göttliche Einheit ist damit zerstört. Der Bruch der Gefäße bewirkt einen Riss in der gesamten Schöpfung und, da sich die Schöpfung in Gott ereignet hat, in Gott selbst. UNLESBARKEIT dieser Welt. Alles doppelt.
(5)
Die starken Uhren geben der Spaltstunde recht, heiser.
(8)
Du, in dein Tiefstes geklemmt, entsteigst dir für immer.
(9)
(PCG 317)
Betrachtet man die letzte Strophe dieses Gedichts vor dem Hintergrund der lurianischen Kabbala, so wird hier in den Worten Celans der Vorgang und das Ergebnis des göttlichen Zimzum umschrieben. Es ist eine Spaltstunde angebrochen – die Welt, die Wirklichkeit, die wir wahrnehmen, ist doppelt – da gibt es das Offensichtliche und das, was hinter dem Offenbaren steht. Es hat alles mindestens zwei Seiten, alles ist doppelt, was auch die Gesamtwortanzahl des Gedichts – 22 – gedoppelt ausdrückt. Der Dualismus von Sichtbarem und Erahntem entspricht ebenfalls einer kabbalistischen Vorstellung, und zwar der vom wahren Toraverständnis. Im
56
2 Spaltung – Der Bruch
Midrasch Konen211 heißt es, die präexistente Tora sei mit schwarzem Feuer auf weißem Feuer geschrieben, wobei aber die weiße Tora die schriftliche, die schwarze die mündliche sei. Die uns zur Verfügung stehende verschriftlichte Tora ist also bereits eine tradierte Auslegung. Was wir schriftliche Tora nennen, ist selbst schon durch das Medium der mündlichen gegangen, ist nicht mehr im weißen Licht verborgene Form, sondern im schwarzen Licht, das determiniert und begrenzt und damit schon die Eigenschaft der göttlichen Strenge und des Gerichts bezeichnet, hervorgetreten. Alles, was wir in der Tora in festen Formen, mit Tinte auf Pergament geschrieben, wahrnehmen, sind letzten Endes schon Deutungen, sind nähere Bestimmungen des Verborgenen. Es gibt nur mündliche Tora, das ist der esoterische Sinn dieser Worte, und schriftliche Tora ist nur ein mystischer Begriff. Er erfüllt sich nur in einer Sphäre, die allein den Propheten zugänglich ist. Moses hat zwar ihre Offenbarung erlangt, aber die Übermittlung dessen, was er als schriftliche Tora der Welt hinterlassen hat, ist schon deren sinnliche Form, die sie im Medium der mündlichen Tora angenommen hat. Die mystische Weiße der Buchstaben auf dem Pergament der Rolle ist die schriftliche Tora, aber nicht die Schwärze der von der Tinte umrissenen Schrift! Im mystischen Organismus der Tora verschränken sich die beiden Sphären ineinander, und es gibt keine schriftliche Tora, die ohne das Element der mündlichen von Geschöpfen, die keine Propheten sind, gedacht oder erkannt werden kann.212
2.1.1 DEIN / HINÜBERSEIN DEIN HINÜBERSEIN heute Nacht. Mit Worten holt ich dich wieder, da bist du, alles ist wahr und ein Warten auf Wahres. Es klettert die Bohne vor unserm Fenster: denk wer neben uns aufwächst und ihr zusieht. Gott, das lasen wir, ist ein Teil und ein zweiter, zerstreuter: im Tod all der Gemähten wächst er sich zu. Dorthin führt uns der Blick, mit dieser Hälfte 211 212
Vgl. Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik (wie Anm. 147), S. 69f. Ein Midrasch ist die Auslegung eines religiösen Textes im rabbinischen Judentum. Ebd., S. 71f.
2.1 Der Bruch des ursprünglich Einen – ›Schebirat ha’kelim‹
57
haben wir Umgang. (PCG 128f.)
Nach Auskunft Gisèle Celan-Lestranges bildete eine Ohnmacht von ihr den Ausgangspunkt dieses Gedichtes vom 20.6.1960 (PCG 675). Aber auch ohne dieses biographische Hintergrundwissen kann man erkennen, dass das lyrische Ich des Gedichts das Du mit Hilfe von Worten aus seinem Verweilen in einem anderen Seinszustand zurückholt – das Du wird in diese Wirklichkeit zurück ›überredet‹.213 [A]lles ist wahr, beide Seiten, im bewussten und bewusstlosen Zustand, im Schlafen und im Wachen, das die Nacht assoziiert, ein Warten / auf Wahres, auf Gewissheit über die Zustände. Die Bohne ist ebenfalls ein aus der Realität entnommenes Element, gepflanzt um das Wachstum gemeinsam mit dem Sohn Eric beobachten zu können (PCG 675). Im Gedicht wird darüber hinaus aber die Assoziation von Wachsen, Vergehen und dem Einander-Zuwachsen von Menschen hervorgerufen. Das Kind, die neue Generation, wächst neben der alten auf, die vorhergegangene Generation ist in der Erinnerung an die Mutter und sie selbst in der Bohne präsent, denn die Lieblingsblume von Paul Celans Mutter war die Lupine, die von ihr stets mit dem deutschen Namen ›Wolfsbohne‹ benannt wurde. WOLFSBOHNE …o Ihr Blüten von Deutschland, o mein Herz wird Untrügbarer Kristall, an dem Das Licht sich prüft, wenn Deutschland Hölderlin, Vom Abgrund nämlich … … wie an den Häusern der Juden (zum Andenken des ruinirten Jerusalem’s), immer etwas u n v o l l e n d e t gelassen werden muß … Jean Paul, Das Kampaner Thal Leg den Riegel vor: Es sind Rosen im Haus. Es sind sieben Rosen im Haus. Es ist der Siebenleuchter im Haus. Unser Kind weiß es und schläft. // 213
Vgl. TÜBINGEN, JÄNNER, hier S. 142f.
58
2 Spaltung – Der Bruch (Weit, in Michailowa, in der Ukraine, wo sie mir Vater und Mutter erschlugen: was blühte dort, was blüht dort? Welche Blume, Mutter, tat dir dort weh mit ihrem Namen? Mutter, dir, die du Wolfsbohne sagtest, nicht: Lupine. Gestern kam einer von ihnen und tötete dich zum andern Mal in meinem Gedicht. Mutter. Mutter, wessen Hand hab ich gedrückt, da ich mit deinen Worten ging nach Deutschland? In Aussig, sagtest du immer, in Aussig an der Elbe, auf der Flucht. Mutter, es wohnten dort Mörder. Mutter, ich habe Briefe geschrieben. Mutter, es kam keine Antwort. Mutter, es kam eine Antwort. Mutter, ich habe Briefe geschrieben an – Mutter, sie schreiben Gedichte. Mutter, sie schrieben sie nicht, wär das Gedicht nicht, das ich geschrieben hab, um deinetwillen, um deines Gottes willen. Gelobt, sprachst du, sei der Ewige und
2.1 Der Bruch des ursprünglich Einen – ›Schebirat ha’kelim‹
59
gepriesen, dreimal Amen. Mutter, sie schweigen. Mutter, sie dulden es, daß die Niedertracht mich verleumdet. Mutter, keiner fällt den Mördern ins Wort. Mutter, sie schreiben Gedichte. O Mutter, wieviel fremdester Acker trägt deine Frucht! Trägt sie und nährt die da töten! Mutter, ich bin verloren. Mutter, wir sind verloren. Mutter, mein Kind, das dir ähnlich sieht.) Leg den Riegel vor: Es sind Rosen im Haus. Es sind sieben Rosen im Haus. Es ist der Siebenleuchter im Haus. Unser Kind weiß es und schläft. (PCG 455ff.)214
Das Bild der wachsenden Bohne vor Augen entsteht so über die Verbindung mit der toten Mutter, einer der Gemähten, im Gedicht DEIN / HINÜBERSEIN ein Bild, das der lurianischen Kabbala entspricht. Anerkennt man diese als Gedankenfolie, so erkennt man das Zuwachsen der in die Welt, in die Spaltung, Geborenen zu ihm zurück – die Toten wachsen ihm wieder zu, bzw. er sich in ihnen. Dorthin, zur Erinnerung an die Toten sowie dem neuen Wachstum, führt unser Blick, dies ist die Hälfte Gottes in seiner Immanenz mit der wir Umgang haben, wenn auch oft in einer umkreisenden Bewegung statt in einer direkt zuwachsenden. Die zerstreute Hälfte ist unsere Welt. Der erste Titel des Gedichts lautete ›Schechina‹ (PCG 676). Hier wäre also bereits aus dem Titel ersichtlich geworden, was im Gedicht für Kabbalakenner klar erkennbar ist – die Rede ist von der Zerstreuung Gottes. Die Schechina ist 214
WOLFSBOHNE gehört zu den von Celan nicht zum Druck freigegebenen Gedichten.
60
2 Spaltung – Der Bruch
die »Einwohnung Gottes« unter seinem Volk. Gott ist in kabbalistischer Vorstellung zugleich einzig und als Schechina in der Diaspora zerstreut. Das Signal lasen wir verweist dabei auf die Lektüre der Schriften Scholems.215 Für Firges wird in diesem Einschub deutlich, dass sich der Autor nicht unbedingt mit der Lehre der Kabbala identifiziert216 – er habe nicht die »Wiederbelebung irgendeiner Gottesverehrung« im Sinn, in letzter Instanz gehe es »um jüdisches Selbstverständnis«.217
2.1.2 DIE RÜCKWÄRTSGESPROCHENEN Paul Celan hat mit einigen Freunden und Bekannten über jüdische Tradition und Mystik gesprochen, mit Nelly Sachs sprach er auch über seine persönlichen Zweifel und über Gott. Ihr fühlte er sich verwandt und vertraut. Beide litten in Folge der Naziherrschaft unter periodisch wiederkehrenden Wahnzuständen.218 Briefe und Gedichte Celans zeugen von der Verbundenheit und von den Gesprächen der beiden Dichter. Aus den Briefen Paul Celans an Nelly Sachs spricht die Überlebensnotwendigkeit und der Trost der Poesie für die Überlebenden, aber auch die Auffassung, dass das Schöpferische nicht allein vom Menschen im Schöpfungsversuch geleitet wird. Dazu aus einem Brief Celans an Nelly Sachs aus dem Sommer 1960: Du kannst sicher nicht so gut radfahren wie Eric [Celans kleiner Sohn] – das können nur wenige! –, also mußt Du wohl Gedichte schreiben. Was, wie ich Dir nicht verschweigen kann, bei weitem nicht so schwer ist. Weil man dabei bekanntlich nicht selbst fährt, weil da immer irgendeiner mithilft, besonders wenn’s bergauf geht, und weil’s da ja auch nicht zwei, sondern gleich mehrere Räder – für gewöhnlich fünf – gibt.219
Das kann man nun als Automobilmetaphorik, vier Räder und ein Steuerrad, lesen, aber die ungewöhnliche Anzahl der Räder »fünf« kann auch für die fünf Finger der schreibenden Hand stehen, möglich wäre zudem eine Anspielung an die Dichtung Nelly Sachs’ und ihr Metatron-Gedicht, das den Thronwagen assoziiert.220 215 216
217 218
219 220
Wiedemann verweist auf diesbezügliche Lektürespuren in Celans Exemplar von Scholems »Zur Kabbala und ihrer Symbolik« (PCG 676). Jean Firges: Paul Celan: Die beiden Türen der Welt. Gedichtinterpretationen. Annweiler am Trifels: Sonnenberg 2001 (Exemplarische Reihe Literatur und Philosophie; 3), S. 59. Ebd., S. 60. ›Wahn‹ ist ein sehr häufiges Wort v. a. in den späten Gedichten Celans, oft auch als Teil neologistischer Kompositabildungen wie z. B. ›Wahngänger‹, ›Wahnbrot‹, etc. Brief vom 20.7.1960. In: Celan/Sachs. Briefwechsel (wie Anm. 190), S. 51f. [Hervorhebung, I. F.]. Die jüdische Überlieferung schreibt Metatron verschiedenste Funktionen zu. Er ist der höchste aller Engel in der Merkawa-Thronwelt des Sohar, himmlischer Schrei-
2.1 Der Bruch des ursprünglich Einen – ›Schebirat ha’kelim‹
61
UND METATRON, der höchste aller Engel, fünfhundert Meilen hoch, und schlägt das Rad aus Lichtgefieder und läßt Musik, daran die Welten hängen, klingen, der Liebe Inbegriff! So tief mißt Sehnsucht aus der Worte Meer, bis das Gestrahle aufbricht – und Leben hinnaht mit dem Wundenmale – 221
Das Gedicht DIE RÜCKWÄRTSGESPROCHENEN kann als Dokument über menschliche Schöpfung gelesen werden. Das beziehungsreiche Entstehungsdatum ist ein christliches Festdatum, Allerheiligen/Allerseelen des Jahres 1967. Ein Datum, an dem Geister und Dämonen traditionell umgehen. Bereits zehn Jahre zuvor hatte Celan dieses Datum als Anlass zu einem Gedicht genommen, das über menschliche Schöpfung reflektiert. ALLERSEELEN Was hab ich getan? Die Nacht besamt, als könnt es noch andere geben, nächtiger als diese. Vogelflug, Steinflug, tausend beschriebene Bahnen. Blicke, geraubt und gepflückt. Das Meer, gekostet, vertrunken, verträumt. Eine Stunde, seelenverfinstert. Die nächste, ein Herbstlicht, dargebracht einem blinden Gefühl, das des Wegs kam. Andere, viele, ortlos und schwer aus sich selbst: erblickt und umgangen. Findlinge, Sterne, schwarz und voll Sprache: benannt nach zerschwiegenem Schwur. Und einmal (wann? auch dies ist vergessen): den Widerhaken gefühlt, wo der Puls den Gegentakt wagte. (PCG 107)
221
ber und Archivar (vgl. Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik (wie Anm. 147), S. 218). In: Nelly Sachs: Fahrt ins Staublose. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1957, S. 212.
62
2 Spaltung – Der Bruch
ALLERSEELEN, poetologisch gelesen, reflektiert den Schreibprozess, das Sehen und Lesen der Welt, das Lesen von Zeichen, das Schreiben, die Fixierung von Zeichen auf Papierbahnen. Es spricht von der Schöpfung des Dichters und ihr von ihm losgelöstes Wirken in der Welt, und endlich von diesem besonderen Moment, dem Schöpfungserlebnis. Das Datum Allerseelen ist für den Dichter die Zeit, Bilanz über seine Schöpfung, die von ihm hervorgerufenen ›Seelen‹ zu ziehen – bezeichnet er doch Gedichte als lebendige »Seelenwesen«.222 An Allerseelen, wenn die Geister ihre Gräber verlassen und umgehen, stellt sich die Frage: Was hab ich / getan? Und es folgt eine Antwort: Die Nacht besamt. Liest man diese Stelle mystisch-sexuell, so bedeutet die Nacht besamen, dass das männliche Ich Halbwesen, Dämonen, Wesen der Nacht schuf – dem Mythos folgend mit Lilith. Exkurs: Lilith Lilith müsste eigentlich als die Urmutter weiblicher Emanzipation gelten. Nach einem Midrasch aus dem 9./10. Jahrhundert, dem Alphabet des Ben Sira,223 ist sie die erste Frau Adams. Wann immer die Bibel sich in einem Punkt widerspricht wie in Gen. 1,27 und 2,21, dann gibt es in der jüdischen Bibelauslegung Erklärungsversuche dafür. (In Gen. 1,27 heißt es, dass Mann und Weib gleichzeitig geschaffen wurden, Gen. 2,21 berichtet von der Schöpfung Evas aus Adams Seite/Rippe). Nach dem Midrasch wurde zuerst ein Weib aus Erde geschaffen – Lilith, die aber auf einer Gleichberechtigung mit Adam bestand, da sie doch, wie er, von der Erde stammte. Das Urpaar stritt sich daraufhin heftig und Lilith sprach schließlich »den Gottesnamen aus und flog davon, womit sie eine dämonische Karriere begann.«224 Diese »Karriere« machte sie zur Königin der Dämonen – und sie verstand es, die Heiligkeit des menschlichen Samens zu ihren Gunsten zu nutzen. Es handelt sich also hierbei um einen Mythos, der auf der Abgrenzung des als heilig empfundenen Zeugungsaktes »gegen andere sexuelle Praktiken, die dämonisiert wurden, vor allem die Onanie«,225 beruht. Während der Vollzug der Verbindung zwischen Mann und Weib in seinen heiligen Grenzen für die Kabbalisten ein mit größter Ehrfurcht betrachtetes Mysterium bildet [...], so ist der Mißbrauch der Zeugungskraft umgekehrt ein zerstörerischer Akt, von dem nicht das Heilige, sondern die ›andere Seite‹ Zuwachs erhält226.
222 223 224 225 226
Celan, Der Meridian (wie Anm. 19), S. 113. Vgl. Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik (wie Anm. 147), S. 214f. Vgl. auch Moshe Cordovero Pardes Rimmonim 186d. Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik (wie Anm. 147), S. 215f. Ebd., S. 203. Ebd., S. 204.
2.1 Der Bruch des ursprünglich Einen – ›Schebirat ha’kelim‹
63
Ein Akt der Zeugung von Dämonen also, indem Lilith den verlorenen Samen auffängt. Gefährlich werden können einem Mann die so geschaffenen Halbwesen zwischen dem Zeitpunkt seines Todes und seiner Beerdigung. Um einen Verstorbenen und seine männlichen Nachkommen vor dem Zugriff der Dämonen, besonders bei der Beerdigung selbst, zu schützen, gibt es ein Abwehrritual, welches Scholem noch im Jerusalem der 1950er Jahre beobachten konnte, allerdings wussten die meisten damals schon nicht mehr um den Hintergrund des Rituals. Zehn Juden umtanzen dabei den Toten vor dem Absenken der Leiche in das offene Grab und sprechen dazu »einen Psalm, der allgemein in der jüdischen Überlieferung als ein Abwehrpsalm gegen Dämonen aufgefaßt wird«227, z. B. Psalm 91. Zehn Jahre nach ALLERSEELEN, in der Phase der verstärkten Zuwendung zur jüdischen Mystik, entstand das Gedicht DIE RÜCKWÄRTSGESPROCHENEN am 1.11.1967. Als erste Notizen zu diesem Gedicht vermerkte Celan die Wörter: Mehrlingsgeburten / Rückwärtssprechen / Leerbegräbnis / Tagwählerei bzw. Tagwühlerei (nicht lesbar) / zum König gewiehert.228 Die Sichtung der Textumgebung ergibt, dass das Gedicht DIE RÜCKWÄRTSGESPROCHENEN im Band Lichtzwang auf das Gedicht AUCH MICH (30.10.1967) folgt. AUCH MICH endet mit den Versen: und die Mandelhode / gewittert und blüht. Das Thema Fruchtbarkeit, Zeugung, Schöpfung (und zwar in jüdischem Kontext) klingt also aus der Textumgebung noch nach. DIE RÜCKWÄRTSGESPROCHENEN Namen, alle, der äußerste, zum König gewiehert vor Rauhreifspiegeln, umlagert, umstellt von Mehrlingsgeburten, der Zinnenriß durch ihn, der dich Vereinzelten mitmeint. (PCG 298)
Betrachtet man den ersten Vers isoliert, so stellt sich zunächst die Frage, wer denn Die [R]ückwärtsgesprochenen seien. Ein Vorschlag in der Sekundär227 228
Ebd., S. 202. Paul Celan: DIE RÜCKWÄRTSGESPROCHENEN. In: Axel Gellhaus u. a. (Hg.): Paul Celan. Lichtzwang. Historisch kritische Ausgabe. 9. Bd. 2. Teil. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 215.
64
2 Spaltung – Der Bruch
literatur229 ist, dass hier die hebräische Sprache gemeint sei, deren Wörter (und Namen) von rechts nach links, für den westlichen Menschen also rückwärts, zu lesen seien. Bei Assoziationen wie dieser sollte man sich aber immer vor Augen halten, wie präzise Celan Worte in seinen Gedichten setzt. So muss man auch erkennen, dass das in die andere Richtung Lesen nicht mit einem Rückwärts-Sprechen gleichgesetzt werden kann. Gemeint sein muss hier tatsächlich etwas Rückwärts-(also in umgekehrter Reihenfolge) Ausgesprochenes. Und die Verfolgung dieses Wortes in seiner Bedeutung im Gedichtkontext – Die rückwärtsgesprochenen / Namen – führt in direkter Linie zu einem weiteren jüdischen Mythos. Exkurs: Golem In der Legende um die Schöpfung des Golem230 entspricht das Rückwärtssprechen bestimmter Torastellen der Rücknahme oder dem Rückgängigmachen eines menschlichen Schöpfungsversuches mit Hilfe der Gottesgewalt, die in seinem Namen verborgen ist. In der Legende um die Golemschöpfung heißt es, dass dem Golem – der aus Lehm geformte und mit heiliger hebräischer Sprache besprochene Diener, den gebildete Mystiker zum Leben zu erwecken in der Lage waren – emeth (Wahrheit) auf die Stirne geschrieben wurde. Um den ständig wachsenden Golem wieder zu Staub zerfallen zu lassen, musste man ihm den Anfangsbuchstaben von der Stirne löschen und übrig blieb dann meth (Tod). Zudem musste der Golem nun rückwärtsbesprochen werden, um den unvollkommenen menschlichen Schöpfungsversuch endgültig zu tilgen. Ein Rückwärtssprechen der Beschwörungsformel aus der Tora also, die nach kabbalistischer Auffassung nichts anderes ist als in Summe der Name Gottes. Man macht einen Kreis rings um die Kreatur und umgeht den Kreis und spricht die 221 Alphabete [...] So soll er dann 442 [andere Lesart: 462] mal verfahren. Wenn er vorwärts geht, so steigt die Kreatur lebend auf, infolge der Kraft, die der Rezitation der Buchstaben innewohnt. Wenn er aber zerstören will, was er geschaffen hat, so geht er im Umgang rückwärts, indem er die selben Alphabete von hinten nach vorn rezitiert.231
Hier könnte man also bereits behaupten, dass das Gedicht zwar poetologisch lesbar ist, sich aber erst mit dem Wissen um die jüdische Tradition weiter öffnet. Das Gedicht, die Schöpfung des Dichters, trägt den Riss als Zeichen der Unvollkommenheit konsequent. Das Rückwärtssprechen dient so der WiederAuflösung der geschaffenen Gedicht-Wesen an einem Datum, das Dämonen und Halbwesen umgehen lässt. Der Dichter erkennt sich als deren König, wird umlagert, umstellt von seinen Mehrlingsgeburten. 229 230 231
Koelle, Paul Celans pneumatisches Judentum (wie Anm. 4), S. 110. Siehe zum Golem-Mythos auch Moše Îdel: Golem: Jewish magical and mystical traditions on the artificial anthropoid. Albany: State Univ. of N.Y. Press 1990. Sefer Jezira II,4. Zit. nach Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik (wie Anm. 147), S. 241.
2.1 Der Bruch des ursprünglich Einen – ›Schebirat ha’kelim‹
65
Namen stehen in enger Verbindung mit der Schöpfung, und dies betrifft die gesamte Schöpfung. Was da ist, wurde nach onomatologisch-kabbalistischer Überlieferung durch den Namen Gottes geschaffen, nach alttestamentarischem Verständnis von Gott ins Leben gerufen – also Schöpfung durch Sprache – und dazu gehört auch der Mensch: »Ich habe dich bei deinem Namen gerufen« (Jesaja 43,1). Der äußerste Name ist der Name Gottes. Jene Buchstabenfolge, die insgesamt gesehen den Gottesnamen ausmacht, ist in der gesamten Tora tradiert. Der Mystiker ist unter Umständen in der Lage, mittels des Geheimnisses dieses Namens selbst Leben hervorzurufen, und zwar in Gestalt des Golem. Die häufigste Bezeichnung Gottes im Alten Testament ist ›König‹ – melech, z. B. auch in unmittelbarer Umgebung zu Psalm 91, der hier noch eine Rolle spielen wird, in Psalm 93 und 99. Zum König gewiehert kann am ehesten als Selbstbezeichnung Gottes, als Selbsterklärung in der Sprache/Stimme Gottes, die in Celans Gedichten akustisch wahrnehmbar, aber nicht im Sinne einer menschlichen Sprache verständlich ist, aufgefasst werden. ›Gewiehert‹ wird in diesem Zusammenhang öfter verwendet, wie bereits in den Ausführungen zu BEI WEIN UND VERLORENHEIT232 gezeigt wurde. Der unbegreifliche äußerste Name erklärt sich vor den Rauhreifspiegeln zum König, zum sprachlich fassbaren Gott der alttestamentarischen Immanenz. Zu den Rauhreifspiegeln sollen mehrere Denkansätze vorgestellt werden: Zunächst sei dazu das Kompositum in seine Bestandteile zerlegt: Rauhreif und Spiegel. Der Rauhreif ist im Gedichtkontext auch als Reif (gefrorener Tau) der Rauhnächte zu verstehen (vgl. ALLMÄHLICH CLOWNGESICHTIG (PCG 298f.)) und erinnert in diesem Zusammenhang ebenfalls an Dämonenzeugung. Reif ist hebräisch kepor, bzw. sekabah (Tau). Im Alten Testament stehen diese Begriffe für Tau, Begattung, Erguss und Reif (2. Mos, 16,13f.). Bei Hiob 38,28f. heißt es: »Hat der Regen einen Vater, oder wer hat die Tautropfen gezeugt? Aus wessen Schoß kam das Eis hervor, und des Himmels Reif, wer hat ihn geboren.« Man kann an dieser Stelle also durchaus auch wieder, ursprünglich göttliche, Schöpfung mit dem Rauhreif assoziieren.233 Nun zum Spiegel, zunächst aus intertextueller Perspektive. Im Zentrum der »poetischen Idee« des von Celan ins Deutsche übersetzten ShakespeareSonetts III steht der Spiegel, »mittels dessen der Angeredete sich narzißhaft wahrnehmen« soll.234 Das Gedicht hat die Weitergabe des eigenen »Bildes«235 232 233 234
235
Vgl. hier S. 41. Das hebräische kippur, das Versöhnung und Sühne bedeutet, steht mit kepor aufgrund der übereinstimmenden Konsonanten in Wortwurzelverwandtschaft. Leonard Olschner: Das Spiel der Spiegelungen. Shakespeares Sonett 3 in der Übersetzung durch Rilke und Celan. In: arcadia 32 (1997), H. 1, S. 109–118, S. 110. So Celans Übersetzung von ›face‹.
66
2 Spaltung – Der Bruch
in den Nachkommen zum Thema – die Erhaltung in der eigenen Schöpfung – das Sich-Spiegeln im anderen und das Gespiegelt-Werden. Sieh in den Spiegel, sprich zum Bild darin: ›Zeit für dich, Bild, dich abermals zu prägen.‹ Betrüg die Erde nicht um ihren Sinn, betrüg die Mutter nicht um ihren Segen. Wo wäre eine, die veröden wollt, kämst du daher, ihr Feld zu pflügen? Liebst du dich so? Das Grab so? Sollt dir dies: dein eigen Ende sein, genügen? Ihr, deiner Mutter, bist der Spiegel du: der Jahre Grün, hier sucht sie’s, die ergraute. Bald decken Runzeln dir die Fenster zu: dann suchst auch du den Himmel, der dir blaute. Doch führst du dies: Vergessenheit im Schilde: stirb ungepaart, allein – und mit dem Bilde.236
Poetologisch steht hier der Dichter-König vor dem Spiegel. Das Bild drückt Reflexion aus, aber auch das narzisshafte Spiegeln in der eigenen Schöpfung. Durch den Rauhreif kommt es bei der Spiegelung aber zu einer Verzerrung, einer Zerstreuung durch den Beschlag. Eines der Sonette an Orpheus von Rainer Maria Rilke zum Spiegel, das Celan sicher kannte, beleuchtet das Geheimnis der Spiegel: SPIEGEL: noch nie hat man wissend beschrieben, was ihr in euerem Wesen seid. Ihr, wie mit lauter Löchern von Sieben erfüllten Zwischenräume der Zeit. […]237 236
237
»Look in thy glass, and tell the face thou viewest / Now is the time that face should form another, / Whose fresh repair if now thou not renewest / Thou dost beguile the world, unbless some mother. // For where is she so fair whose unear’d womb / Disdains the tillage of thy husbandry? / Or who is he so fond will be the tomb / Of his self-love to stop posterity? // Thou art thy mother’s glass, and she in thee / Calls back the lovely April of her prime; / So thou through windows of thine age shalt see / Despite of wrinkles this thy golden time. // But if thou live remember’d not to be, / Die single, and thine image dies with thee.« (William Shakespeare: Einundzwanzig Sonette. Deutsch von Paul Celan. Frankfurt am Main: Insel 1967, S. 10f.). Rainer Maria Rilke: Spiegel. In: Rainer Maria Rilke. Gedichte. 1910–1926. Hg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn. Frankfurt am Main, Leipzig: Insel 1996 (Rainer Maria Rilke. Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden; Bd 2), S. 258.
2.1 Der Bruch des ursprünglich Einen – ›Schebirat ha’kelim‹
67
Als ›Rauhreifspiegel‹ kann man sich also bildhaft mit Reif beschlagene Spiegel vorstellen. Auch die einzelnen Sefirot des Sefirotbaumes tragen die Bezeichnung ›Spiegel‹, wobei zwischen den einzelnen Sefirotmanifestationspunkten eine Art Vorhang gedacht wird, der Spiegelung und doch Trennung zwischen En Sof und Keter sowie den unteren Sefirot ermöglicht. Das bedeutet, dass die einzelnen Sefirot sowohl die Idee der jeweils vorangegangenen Kräfte enthalten, nicht aber über deren konkrete Ausformung verfügen.238 Diese Lesart würde unser eingeschränktes Begreifen von Gott, der sich uns nur in Form der Königsmetapher des Alten Testaments näher bringen kann, verdeutlichen. Gott schöpft nach seinem »Bild«, spiegelt sich, will gespiegelt und als göttliches Wesen ›erkannt‹ werden. Er erklärt sich (wiehert sich) zum König (melech), allerdings vor Rauhreifspiegeln. Der Spiegel ist verhängt von einem Vorhang, der dem Menschen zum Schutz die volle göttliche Gewalt verschleiern muss. Gott in seiner Transzendenz kann nicht geschaut werden. So ist der Spiegel trüb – ein Rauhreifspiegel, der in den Eiskristallen das Licht streut wie zu Beginn der Schöpfung beim ›Bruch der Gefäße‹. Das umlagert, umstellt der nächsten Strophe klingt bedrohlich und erinnert an Kriegsmetaphorik – und es geht in diesem (Schöpfungs-)Zusammenhang möglicherweise tatsächlich um einen Kampf: den Kampf des Guten gegen das Böse. Denn nach kabbalistischem Mythos beschreibt die Erwähnung der Mehrlingsgeburten jene Situation nach dem Tod, in welcher der Tote (und während der Begräbnisfeier auch seine Nachkommen) von der Frucht des verlorenen Samens bedrängt wird. Verlorener Same entspricht einer anmaßenden und fehlgeleiteten Schöpfung durch den Menschen, wie sie auch der Golem darstellt. Der durch Onanie oder Pollution ›verlorene‹, ursprünglich heilige Same wird von Lilith empfangen, und es entstehen aus dieser Verbindung Dämonen. Bekämpft werden diese Mehrlingsgeburten zum Schutz der Nachkommen durch einen Abwehrritus zur Dämonenbeschwörung,239 zu dem Psalm 91 gebetet wird. Und Psalm 91 ist auch in dem darauffolgenden Vers, der Zinnenriß durch ihn, von Bedeutung. Denn in besagtem Psalm heißt es von Gott, er sei meine Zuflucht – meine Burg. Der angesprochene Zinnenriß durch IHN, der dich Vereinzelten, jeden Menschen, jedes Gottesgeschöpf mitmeint, entspricht sowohl einer bestimmten Gottesvorstellung in der jüdischen Theologie nach der Shoah als auch einer Rückbesinnung auf die Schebirat-ha-kelim der lurianischen Kabbala – die Einheit ist verloren, kein unversehrter Gott wird hier präsentiert – und dieser Riss in Gott setzt sich im Menschen logisch fort: »Der Bruch der Gefäße setzt sich in allen weiteren Stufen der Emanation und Schöpfung fort; alles ist irgendwie gebrochen, alles hat einen Makel, alles ist unvollkommen.«240 238 239 240
Vgl. hier S. 20f. Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik (wie Anm. 147), S. 202ff. Ebd., S. 151.
68
2 Spaltung – Der Bruch
Die ersten Notizen Celans zu diesem Gedicht können nun mit poetologischen Vorstellungen bzw. mit jüdischem Traditionsgut verbunden werden. Sehr aufschlussreich ist dabei der dreifache Verweis auf Psalm 91 durch die Hervorhebung des Namens (ha-schem), die Belagerung durch Mehrlingsgeburten sowie durch die Wortwahl beim Zinnenriß. Die Mehrlingsgeburten entsprechen mit der Erwähnung des Leerbegräbnisses dem kabbalistischen Mythos fehlgeleiteter Schöpfung ebenso wie das ›Rückwärtssprechen‹. Der erste Höhepunkt des Gedichtes DIE RÜCKWÄRTSGESPROCHENEN wird durch einen Dreischritt: 1. menschliche unvollkommene/rückgängig-gemachte Schöpfung; 2. göttliche Schöpfung; 3. Schöpfer erreicht. DIE RÜCKWÄRTSGESPROCHENEN Namen, alle,
unvollk. menschl. Schöpfung [aber...] Schöpfung [durch den Namen entstanden]
der äußerste, zum König gewiehert vor Rauhreifspiegeln,
Schöpfer (in Transzendenz) Schöpfer (in Schöpfung) [der Name – ha schem]
umlagert, umstellt von Mehrlingsgeburten,
bedroht von fehlgeleiteter menschl. Schöpfung Dämonen
Umstellt/umlagert von Menschenschöpfungen (mit dem Bösen [Lilith] in Verbindung) erscheint der Einzelne und die gebrochene Einheit insgesamt. --der Zinnenriß durch ihn, der dich Vereinzelten mitmeint.
Zinne/Burg/umlagert/umstellt/Schutz/Abwehr Begründung: Zinnenriß (Psalm 91) Zinne, umlagert umstellt – Kriegs-Metaphorik Riß im Wort/Namen wirkt weiter
Ursache der Situation ist der Riss durch die Einheit, der Bruch in der gesamten Schöpfung, der auch im Gedichtkorpus selbst sichtbar wird.241
2.2
Die Zweizahl – Dichotomien
Wie bereits anhand von UNLESBARKEIT sichtbar gemacht wurde, ist die Zweizahl wesentlicher Bestandteil jener Gedichte, die den Zustand der Spaltung und die Dichotomisierung des ursprünglich Einen in der Welt thematisieren.
241
Es fällt auf, dass ein Teil des Gedichts scheinbar ins Leere läuft. Es hat zwar etwas Vorwärtsdrängendes – spätestens bei den Mehrlingsgeburten fehlt aber deutlich etwas, und an dieser Stelle kommt der Zinnenriß ins Spiel und verdeutlicht im Gedicht selbst den Riss (in IHM, dem Namen), der sich in allem, auch dem Gedicht, fortsetzt.
2.2 Die Zweizahl – Dichotomien
69
2.2.1 ALLMÄHLICH CLOWNGESICHTIG ALLMÄHLICH CLOWNGESICHTIG, nichtsgespiegelt, die Schminke Wahrheit blaugefrorn im Winkelmund, Frostpollen Puder auf dem blanken Überschädel, rund um die dünne Fragelocke Schwarz, die Brauen, Brauen: wachsend, zwei Riesenfühlerkämme, zwei, – du großgestrählte, großgespürte Rauhnacht Immerimmer –, schon fortgeschwungen aus der Flocke Welt, nicht hin, nicht her. (PCG 298f.)
Obwohl auf den ersten Blick kaum ersichtlich, ist ALLMÄHLICH CLOWNGESICHTIG vom 5.11.1967 ein Spiel mit der Zahl zwei und dem Dual. Es besteht formal aus einem Satz, der sich über vier Strophen und zwölf Verse im Schema: 2/2/2/6 aufteilt. Die Wörter des Gedichts zeigen in den Strophen folgendes Aufteilungsmuster: 3/[x2]6/[x2]12/22. Es gibt zwei Doppelungen im Gedicht (Brauen, Brauen / Immerimmer), zwei Parallelismen (großgestrählte, großgespürte / nicht hin, nicht her) und zweimal das Wort zwei. Clowngesichtig bedeutet entweder zwei Gesichter (ein natürliches und ein aufgemaltes Gesicht, eine Maske) übereinander zu tragen, oder das Zweite Gesicht zu haben, denn sichtig (clown/ge/sichtig) zu sein, könnte auch auf eine Zukunftsschau verweisen.242 Die Rauhnacht verweist auf ein Datum in exakt zwei Monaten nach der Entstehung des Gedichts, den 5. Jänner als letzte der Rauhnächte (PCG 822). Die Anzahl der Verse, zwölf, entspricht nach Hünnecke »genau der Zahl der Rauhnächte, – der zwölf Nächte zwischen Weihnachten und Drei-KönigsFest«.243 Die Rauhnacht lässt sich etymologisch auf das althochdeutsche ›ruh‹, was ›rau, grob, haarig, ungezähmt‹ bedeutet, zurückführen. Die Rauhnächte244 242
243
244
Die von Celan v. a. in dieser Textumgebung so häufig verwendete Silbe -ge- ist in ihrer kompositorischen Anwendung ebenfalls erwähnenswert: Sie verbindet z. B. nichts und (ge-)spiegelt, blau und (ge-)frorene, groß und (ge-)strählte, groß und (ge-)spürte sowie fort und (ge-)schwungen. Evelyn Hünnecke: Aspekte der Sprechinstanz in dialogischer Lyrik. Paul Celans Gedicht Allmählich clowngesichtig. In: Cahiers d’études Germaniques. Qui parle dans le text? Études réunies par Maurice Godé et Marcel Vuillaume 38 (2000/1), S. 37–52, S. 42. Thomasnacht (21.12.); Christnacht (24.12.); Silvesternacht (31.12.); Dreikönigsnacht (5.1.).
70
2 Spaltung – Der Bruch
sind in der Volksmythologie besondere Nächte, in denen Tiere reden können und der Blick in die Zukunft möglich ist. Die Rauhnacht Immerimmer doppelt die Bezeichnung für eine Ewigkeit und ist möglicherweise durch ein hebräisches Wortspiel motiviert – lajlah ləolam (Nacht, immer). Das Ende, nicht hin, nicht her, zeigt eine Richtung jenseits unserer Raumordnung an. Denn hin und her bilden eine sich ergänzende Zweiheit, die an die Logik unseres Raumes, unseres Raum- und Zeitverständnisses gebunden ist. Hin ohne das Wissen um ein her macht für uns keinen Sinn. Ein nicht hin- und nicht her Gehender ist ein Umgehender. Aber, hier wird jenseits des hin und her in der Flocke Welt auf ein ›Fortschwingen‹ verwiesen, ein Sich-Erheben aus dieser getriebenen Welt der Dualitäten und Kontraste. Eine ähnliche Antithetik zeigt sich schon am Anfang in Allmählich und nichtsgespiegelt. Hin und her bilden aber auch eine Leseanweisung für das Gedicht, da zumindest die letzten Wörter jeder Strophe (auch die Kompositabildungen) hin und her lesbar sind: nichtsgespiegelt/Spiegel des Nichts; Winkelmund/Mundwinkel; Fragelocke Schwarz / schwarze Fragelocke; nicht hin, nicht her / her nicht, hin nicht / nicht her, nicht hin, ... Aus der Perspektive der Rauhnacht geben sich die Frostpollen als geeister Rauhreif zu erkennen. Und so ist auch die Schminke Wahrheit im Winkelmund festgefroren. Das Hin- und Herlesen ergibt hier auch eine Übereinstimmung im Buchstabenmaterial. In dieser besonderen Nacht wird eine Gestalt gezeichnet, die an den Golem der jüdischen Mystik erinnert: »An seiner Stirn steht geschrieben emeth [Wahrheit], er nimmt aber täglich zu und wird leicht größer und stärker als alle Hausgenossen, so klein er anfangs gewesen ist.«245 Dem Golem steht also, ohne die Metapher bemühen zu müssen, die Wahrheit tatsächlich im Gesicht – auf den blanken Überschädel – geschrieben, und er zeichnet sich durch ungebremstes Wachstum aus. Dieses wiederum ist kafkaesk gezeichnet. Aus den Augenbrauen werden Ungetüme, Riesenfühlerkämme, aus dem Golem eine furchteinflößende Kreatur. Erinnert wird hier neben dem Prager Golem eben auch an Kafka und dessen Verwandlung, denkt man bei diesen Fühlerkämmen doch an einen überdimensionalen Käfer.246 Starke Augenbrauen spielen im übrigen in mehreren Werken Kafkas eine Rolle, so hat der Vater in der Verwandlung ›buschige Augenbrauen‹247 und am Anfang vom Schloß kommen ebenfalls ›starke Augenbrauen‹248 vor. 245 246 247
248
Jakob Grimm Zeitung für Einsiedler (1808). Zit. nach Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik (wie Anm. 147), S. 210. Vgl. auch Thomas Sparr: Celan und Kafka. In: Celan-Jahrbuch 2 (1988) (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; 85), S. 139–154, S. 141f. Franz Kafka: Die Verwandlung. Hg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Basel [u. a.]: Stroemfeld/Roter Stern 2003 (Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Oxforder Quartheft; 17), S. 107. Franz Kafka: Das Schloß. Hg. von Malcom Pasley. 2. Aufl. Frankfurt am Main: S. Fischer 1983 (Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe), S. 7.
2.3 Schechina – Sefirotmodell
71
Im Prosastück Entschlüsse heißt es zum Umgang mit einem elenden Zustand schließlich: Deshalb bleibt doch der beste Rat, alles hinzunehmen, als schwere Masse sich verhalten und fühle man sich selbst fortgeblasen, keinen unnötigen Schritt sich ablocken lassen, den anderen mit Tierblick anschaun, keine Reue fühlen, kurz, das, was vom Leben als Gespenst noch übrig ist, mit eigener Hand niederdrücken, d. h., die letzte grabmäßige Ruhe noch vermehren und nichts außer ihr mehr bestehen lassen. [–] Eine charakteristische Bewegung eines solchen Zustandes ist das Hinfahren des kleinen Fingers über die Augenbrauen.249
Das ›Haarige‹ ist zudem auch eine Bedeutung des ›ruh‹ der Rauhnacht. Zum Gesichtshaar gehören neben den Brauen auch die Schläfenlocken, ein Kennzeichen der jüdischen Orthodoxie, da das Gesichtshaar nicht geschnitten werden darf. Die Schläfenlocken sind äußeres Identitätsmerkmal der Juden, wie auch ›Fragen‹ charakteristisch für das Judentum sind. Das Gedicht weist, wie bei Celan üblich, eine sehr dichte Tiefenstruktur auf, z. B. im stets gedoppelten Übergang von den: Brauen, Brauen, zwei, zwei, zu den Riesen, groß, groß, Fühlern, die zu spüren, tasten, da sind und den Brauen, die wie Kämme strählen, d. h. bürsten. Winter und Frühling sind hier seltsam verschränkt. Die Frostpollen erinnern an Frostgraupel ebenso wie in der Verbindung mit Insekten an Pollen. Die Kombination assoziiert gefrorenes Erbmaterial. Der Winter wird durch ›Frieren, Frost, blank‹ gerufen, die Frühlings- und Vermehrungsthematik durch ›Pollen: an Fragelocke – Brauen – Fühlerkämme (Insekten)‹. Zudem steckt die ›Locke‹ in der ›Flocke‹, die wiederum an die ›Frostpolle‹ erinnert. ALLMÄHLICH CLOWNGESICHTIG ist die Topographie einer Gesichtslandschaft mit Mund, Schädel und Augenbrauen. In der Mimik spiegelt sich aber kein Gefühl, ein Ausdruck ist festgefroren, festgemalt – nichtsgespiegelt – ein Spiegel des Nichts, denn der Ausdruck ›gaukelt‹ ein Gefühl vor, das nicht vorhanden ist.250
2.3
Schechina – Sefirotmodell
2.3.1 (ICH KENNE DICH Ähnlich dem Kopfgedicht dieser Arbeit, FAHLSTIMMIG, ist (ICH KENNE DICH ein äußerst vielschichtiges Gedicht. Es ermöglicht eine poetologische, eine biographische, eine kunstgeschichtlich-christologische sowie eine jüdisch249
250
Franz Kafka: Entschlüsse. In: ders.: Drucke zu Lebzeiten. Hg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann. Frankfurt am Main: S. Fischer 1994 (Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe), S. 19 [Hervorhebungen, I. F.]. Eine Verbindung zu Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns lag nahe, konnte aber nicht festgestellt werden.
72
2 Spaltung – Der Bruch
mystische Lesart. Mit dem 9.1.1964 datiert, ist (ICH KENNE DICH nach dem Erstdruck in Atemkristall (1965) – dort nicht in Klammern (PCG 725) – in den Band Atemwende (1967) eingegangen. Otto Pöggeler berichtet in seiner Arbeit Spur des Worts. Zur Lyrik Paul Celans, dass alle Gedichte des Bandes Atemkristall in einem schnellen Wurf von Oktober bis Dezember 1963 entstanden sind. »Nur das Gedicht Ich kenne dich, das ja so etwas wie eine Widmung ist, folgt noch am 9. Januar 1964; dieses Gedicht wird – und das ist die einzige Abweichung der Druckfolge von der Chronologie der Entstehung der Gedichte – vor dem Schlußgedicht eingeschoben.«251 Es ist Celans letztes Gedicht mit festem Reimschema, wobei die Form des gereimten Vierzeilers in Verbindung mit dem Wort ›Wahn‹ als mögliche Anspielung an Hölderlin gedeutet wurde.252 (ICH KENNE DICH ist zudem das einzige für den Druck autorisierte Gedicht in Klammern.253 (ICH KENNE DICH, du bist die tief Gebeugte, ich, der Durchbohrte, bin dir untertan. Wo flammt ein Wort, das für uns beide zeugte? Du – ganz, ganz wirklich. Ich – ganz Wahn.) (PCG 180)
Das Gedicht besteht aus einer einzigen (umklammerten) Strophe mit vier Versen und vier Sätzen, wobei sich die Satz- und die Versgrenzen nicht decken. Der Stil ist geprägt von Überkreuzstellungen durch den Kreuzreim und die Chiasmen des Gedichts. Vor allem das Ich...du des ersten Verses und das Du...Ich des letzten Verses bilden eine das Gedicht durchkreuzende Achsenspiegelung. In enge Verbindung gebracht werden Vers eins und Vers drei sowie Vers zwei und Vers vier durch den Kreuzreim (mit je einer männlichen und einer weiblichen Endung), Vers eins und Vers vier durch die Chiasmusstellung und alle vier Verse durch die Klammersetzung. Das Gedicht präsentiert ein Ich, den Durchbohrte[n], der ganz Wahn ist, wobei etymologisch betrachtet eine Bedeutungsverschiebung dieses Wortes vorliegt, worauf Olschner254 aufmerksam macht. Im Mittelhochdeutschen bedeutete Wahn noch ›erwartend, hoffend‹. Dieses Ich behauptet das Du zu 251 252
253
254
Pöggeler, Spur des Worts (wie Anm. 59), S. 178. Vgl. James K. Lyon: Judentum, Antisemitismus, Verfolgungswahn: Celans »Krise« 1960–1962. In: Celan-Jahrbuch 3 (1989) (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; 103), S. 175–204, S. 187. Einziges zur Gänze eingeklammertes Gedicht außer (Ich kenne dich ist das aus dem Nachlass publizierte Gedicht (Er hatte in der Stadt Paris vom 8.10.1967. (Er hatte in der Stadt Paris / den Spatzeneid geschworn, / kein Giftkorn blieb unaufgepickt, / kein Dorn ging je verlorn. // Er hatte in der Stadt Paris / getschilpt vor jedem Tor. / Was sich nie auftat, fliegt jetzt auf, / tschilpt ihm das Jenseits vor.) (PCG 502). Leonard Moore Olschner: Der feste Buchstab. Erläuterungen zu Paul Celans Gedichtübertragungen. Göttingen, Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht 1985, S. 33.
2.3 Schechina – Sefirotmodell
73
kenne[n]. Darüber hinaus begegnet uns das ganz, ganz wirklich[e] Du, die tief Gebeugte. Auch hier ist aus etymologischer Sicht Vorsicht geboten. ›Wirklich‹ ist mittelhochdeutsch auch als ›handelnd‹ oder ›tätig‹255 zu verstehen. Zum ganz, ganz Wirklich[en] sind somit zwei Lesevarianten möglich: Du bist ganz (Einheit) und ganz wirklich (real/tätig) oder ganz ganz wirklich, was regulärer hebräischer bzw. deutsch-umgangssprachlicher Superlativbildung entspricht. Gesucht wird das Wort, das für Ich und Du gemeinsam zeugte. ›Zeugte‹ kann nun als Existenz be- oder er-zeugend, als Präteritum oder als Konjunktiv gelesen werden. Bezeugt werden soll das ›Sein‹ – die Existenz des Ich und des Du – und zwar durch das Wort. In der Eingangsphrase Ich kenne dich öffnet die Setzung des Verbs ›kennen‹ zumindest vier mögliche Lesarten des Gedichts. Das hebräische jāda‛, das im Alten Testament häufig Verwendung findet, vereint u. a. die Bedeutungen: kennen, vertraut sein mit, erkennen, anerkennen, verstehen. Das Wort [jāda‛] mit einer großen Bedeutungsbreite bezeichnet zunächst die dem Menschen durch seine Sinne vermittelte Wahrnehmung von Gegenständen und Sachverhalten, ein Innewerden, Spüren, Gewahrwerden, Bemerken […], ein Sehen […] o. Hören […]. Bewußter Einsatz der Sinne, ein Nachforschen und Prüfen oder Überlegen führt dann zu einem Begreifen, Verstehen, Einsehen […], einem Erkennen mit dem Herzen […]. Bei Verwirrtheit des Herzens o. Geistes gibt es kein Erkennen […], ebenso wenig bei Verstocktheit […]. Das Wort beschreibt auch das Wissen […], auch das, was man als Erfahrungswissen weitergeben bzw. lernen kann […]. jāda‛ meint keinen reinen, abstrakten Denkakt, sondern spricht immer auch von einer ganzheitlichen Beteiligung, die die praktische Umsetzung und ein dem Erkennen angemessenes Handeln einschließt. Etwas zu kennen kann heißen, intensiv Anteil zu nehmen […], sich zu kümmern […], zu glauben […], etwas zu fürchten […], und kann auch den Verkehr des Mannes mit seiner Frau […] o. umgekehrt […] bezeichnen. […] Wenn Gott Personen erkennt, dann bedeutet das Erwählung wie bei Abraham […], Mose […], David […] o. Jeremia […], auch Erwählung des Volkes als Ganzes […], sowie die Tatsache, daß Gott nicht unbeteiligt bleibt: als Richter, der Schuld und Unrecht kennt […], und als fürsorglicher Helfer […]. Gott gibt sich in seinen Heilstaten zu erkennen […], er gibt seinen Willen zu erkennen […]. Ihn zu erkennen bedeutet gleichzeitig, ihn anzuerkennen, ihn zu fürchten, für ihn dazusein […]. Gotteserkenntnis und Lebensführung nach der Weisung Gottes gehören zusammen […].256
Die Bedeutung ›Vertraut-sein-mit‹, z. B. mit Sprache, eröffnet die Möglichkeit der poetologischen Lesart des Gedichts. Das Du, die tief Gebeugte, ist dann die Sprache (nach der Shoah)257 – und der, auch von sprachlichen Produkten, 255 256 257
Ebd. Elberfelder Studienbibel mit Sprachschlüssel. Das Alte Testament. Revidierte Fassung. Wuppertal: Brockhaus 2001, S. 1285 [Hervorhebung, I. F.]. »Aber sie [die Sprache] mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und
74
2 Spaltung – Der Bruch
Durchbohrte, ist das lyrische Ich, in diesem Fall der Dichter. Gesucht ist das gültige, das wahre Wort, das der sprachskeptische Dichter (Celan) noch als Zeuge gelten lässt. Du ganz und ganz (ganz) wirklich – die Sprache – ist vorhanden, der Dichter aber ganz Wahn – verfolgt bzw. hoffend. Zur Form wäre in dieser Lesart noch zu sagen, dass (ICH KENNE DICH das einzige für den Druck autorisierte Gedicht in Klammern, von einigen Interpreten als Parenthese – als »poetischer Metatext zur eigenen Poesie«258 – zwischen den beiden poetologischen Gedichten WORTAUFSCHÜTTUNG und WEGGEBEIZT gelesen wird. Auch aus dieser Perspektive handelt es sich bei der ›tief Gebeugten‹ um die Sprache selbst, die in den beiden rahmenden Gedichten als »eine Entfremdete und Mißbrauchte apostrophiert«259 wird. Das Verhältnis des Dichters Celan zu seiner Frau Gisèle Celan-Lestrange, deren Kunst (Radierungen) er in dieser Zeit nach dem Bericht von Schwerin260 neue Schaffenskraft verdankt, bietet die Basis für die biographische Lesart des Gedichtes. Die Verwendung der Verben kennen und zeugte deutet hier vor dem Hintergrund der Mann-Frau Beziehung auch eine sexuelle Komponente an. Lyon verweist auf die Lutherbibel, »wo ›sich erkennen‹ ein Euphemismus für geschlechtliche Beziehungen zwischen Eheleuten war«.261 An dieser Stelle sei aber noch einmal auf die Polyvalenz des hebräischen jāda‛ verwiesen. Lyon bemerkt in (ICH KENNE DICH im Unterschied zu den es umgebenden Gedichten eine »fast idyllische Stimmung«, die sich teils aus der kunstvollen formalen Symmetrie, teils aus der Einfalt und Reinheit der Sprache und teils aus dem Inhalt selbst ergebe. Wenn es ein Paradies in dieser Hölle, Sicherheit in der ihn umgebenden Ungewißheit, etwas Festes in dem ihn umgebenden ›Metapherngestöber‹ gab, dann war es ›das Wirkliche‹ seiner Frau, die ihm in seinem Wahn etwas Idyllisches bot. Deshalb scheint mir, ist dieses Gedicht in Klammern gesetzt. Ich deute es somit als eine semiotische Repräsentation ihrer beschützenden Geste, um ihn vor der Gewalt derer zu bewahren, von denen er sein Werk zerstört glaubte.262
258 259 260
261 262
durfte wieder zutage treten, angereichert von all dem.« (Celan, Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen 1958 [wie Anm. 21] S. 128). Ulrich Konietzny: Sinneinheit und Sinnkohärenz des Gedichts bei Paul Celan. Bad Honnef: Bock und Herchen 1985, S. 94. Ebd., S. 91. Celan schrieb dieses Gedicht an seine Frau, die ihm durch ihre Kunst neue Inspiration und Schaffenskraft gab. Vgl. Lyon, »Ganz und gar nicht hermetisch« (wie Anm. 36), S. 185f. bzw. Christoph Schwerin: Bitterer Brunnen des Herzens. Erinnerungen an Paul Celan. Der Monat 33 (1981), H. 2, S. 73–81, S. 78. Lyon, »Ganz und gar nicht hermetisch« (wie Anm. 36), S. 186. Ebd., S. 188f. ›Verfolgungswahn‹ bedeutet in Celans Fall aber mehr als Angst ums Werk zu haben – die Beziehung zu seiner Frau war davon natürlich auch beeinträchtigt.
2.3 Schechina – Sefirotmodell
75
Lyon geht bei dieser Besprechung davon aus, dass das Gedicht 1965 an Gisèle Celan-Lestrange adressiert wurde. Das Gedicht entstand aber bereits am 9.1.1964. Auch wenn man von einer Zueignung an seine Frau ausgeht – Atemkristall erschien am 23.9.1965 in Paris im Verlag Brunidor zusammen mit acht Radierungen Gisèle Celan-Lestranges – entspricht die Beschreibung der ehelichen Idylle nicht den Tatsachen.263 Das Jahr 1965 war geprägt von Celans psychischen Problemen, die über starke eheliche Spannungen im Jänner 1965 und psychiatrische Behandlung im Mai zur vorläufigen Trennung im Spätherbst führten. Celan reiste einige Tage lang durch Frankreich – im November kam er in einem Zustand extremer Verzweiflung und Anspannung zurück nach Paris, ging mit einem Messer auf seine Frau los und wurde erneut in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Die kunstgeschichtlich-christologische Deutung des Gedichts beruht auf der Identifizierung der ›Tiefgebeugten‹ als Pietà (zuerst durch Gadamer)264 – die Pietà als Urbild der am Mann leidenden Frau.265 Eigentlich ist die Pietà, die tief Gebeugte über dem Durchbohrten, eine mittelalterliche, wohl liturgische, plastische Darstellung.266 Der Durchbohrte hingegen ist ein Bibelwort. Im Alten Testament als Prophetie (Sach. 12,10), wird es im Neuen Testament (Joh. 19,33–37; Offb. 1,7) mehrfach als Messiasumschreibung wieder aufgenommen.267 Bei der kunstgeschichtlich-christologischen Deutung ist aber zu bedenken, dass das Untertan-Sein nur rein bildlich funktioniert. Maria gilt ja gerade als die Magd, die Dienerin Gottes – wie könnte ihr göttlicher Sohn ihr untertan sein? Das ›Untertan‹-Sein darf gerade in diesem Gedichtkontext – also in Verbindung mit dem ›zeugenden Wort‹ – nicht ausschließlich auf die bildliche Haltung gegenüber der Tiefgebeugten gesehen werden. Die graphische Bedeutung würde der Wortbedeutung so völlig widersprechen. Im Johannesevangelium gilt Jesus Christus als das fleischgewordene Wort selbst. Das flammende Wort verweist auf den Dornbusch des Alten Testaments als auch auf das Pfingstwunder des Neuen Testaments. Im Pfingstereignis wird durch das flammende Wort Zeugnis abgelegt für den Durchbohrten. Mit dem Dornbusch ist die Offenbarung Gottes mit seinem Namen verknüpft. Durch 263
264 265 266 267
Dabei lautet Lyons eigene Forderung, Celans Krankheit nicht zu tabuisieren. »Die emotionale Verstörung, die die Goll-Affaire bei ihm verursachte, erreichte ihren Höhepunkt in der Geisteskrankheit, an der Celan bis zum Ende seines Lebens litt. Das Tabu, daß dieses Thema gewöhnlich begleitet, muß gebrochen werden, da es ein wichtiger Bestandteil seiner Biographie wie auch seines existentiellen Horizontes ist und in seinen Gedichten mehrere Spuren hinterlassen hat. Nach Niemandsrose erscheinen z. B. das Wort ›Wahn‹ und seine Komposita mit größerer Häufigkeit. Celans Krankheit hatte anscheinend zur Folge, daß er sich mit der Funktion seines Gehirns und seines Nervensystems beschäftigte.« (Ebd., S. 181). Gadamer, Wer bin ich und wer bist du? (wie Anm. 1), S. 105. Lyon, »Ganz und gar nicht hermetisch« (wie Anm. 36), S. 186. Olschner, Der feste Buchstab (wie Anm. 254), S. 30. Vgl. Sowa-Bettecken, Sprache der Hinterlassenschaft (wie Anm. 56), S. 224.
76
2 Spaltung – Der Bruch
das Ich bin offenbart sich der, dessen Name Grundlage der Schöpfung ist, denn aus kabbalistischer Sicht ist alles aus den Buchstaben des heiligsten Namens geschaffen – aus dem flammenden zeugenden Wort JHWH – EHJEH (das bewegte Sein, das Seiende im Werden). Was hier möglicherweise verwirrt, ist der Versuch zu zeigen, wie behutsam Celan in diesem Gedicht im Kontext des zeugenden flammenden Wortes und der Präsenz einer göttlichen Instanz mit dem Verb sein umgeht. Trotz der Nähe zum göttlichen Ich bin ist die Versuchung, das Ich als irdische, das Du als göttliche Instanz zu interpretieren, sehr groß. Der Grund liegt, abgesehen davon, dass im Celanschen Du das göttliche Du immer zumindest mitzudenken ist, in der Struktur der ersten zwei Verse (1 Satz). Obwohl das erste Wort Ich lautet, wird dieses Ich erst kunstvoll über die Anerkennung des Du (Ich kenne dich), die Existenzbestätigung (du bist) und die nähere Beschreibung (du bist die tief Gebeugte), zunächst im Verhältnis zum Du aufgebaut. Im zweiten Vers erfährt das Ich dann die nähere Bestimmung – Ich, der Durchbohrte und erst darauf erfolgt dann das (ich) bin, mit der sofortigen Zurücknahme im direkten Seinsvergleich – dir untertan. Die Haltung ist eine demütige – das Du eindeutig weiblich. In der Forschung gibt es nun (z. B. bei Konietzny, Lyon und SowaBettecken) den Ansatz, nicht nur das ganze Gedicht aufgrund seiner Umklammerung als Parenthese zwischen den zwei es umgebenden Gedichten des Bandes Atemkristall zu lesen, sondern auch den letzten Vers des Gedichts selbst. Gelesen wird dann: »Du –| ganz, ganz wirklich. Ich |–|| ganz Wahn.« Also: Du – ganz Wahn und ganz, ganz wirklich Ich. Dieser Lesart ist allerdings mit Skepsis zu begegnen, denn der Punkt in diesem Vers darf nicht ignorieren werden, v. a. dann nicht, wenn die Setzung eines weniger trennenden Satzzeichens möglich gewesen wäre. Bekanntlich verwendet Celan ja gerne und häufig offene Satzzeichen. So aber ergibt sich eine deutliche Trennung des Ich vom ›ganz Wirklichen‹, das dann allerdings für das Wort stehen könnte. Man könnte also drei Komponenten, statt der offensichtlichen zwei, das Wort, Du und Ich – jetzt beide ganz Wahn, ganz in Hoffnung, Erwartung oder Wahn – in diesem letzten Vers präsent finden. Diese Auslegung würde die Trennung des Ich und Du im letzten Vers wieder aufheben, und das ganz, ganz Wirkliche – das präexistente Wort – das wahrhaft Seiende – würde korrekterweise als einziges Element im vierten Vers ohne existenzbestätigendes haya (sein) stehen – als das Seiende / Wirkliche / das Handelnde schlechthin. Moses soll auf die Frage, wer ihn geschickt habe, antworten: Ehjeh hat mich geschickt. Denn Gott offenbart sich im Dornbusch als: Ehjeh ascher ehjeh. Die Übersetzungen von ehjeh gehen auseinander, denn das Hebräische vereint mehrere Möglichkeiten: Ich will sein, der ich sein will; Ich werde sein, der ich sein werde; Ich bin, der ich bin (da für euch). Es ist ein Sein im Werden – in Richtung auf etwas oder jemanden zu. Dieses Prinzip der Offenbarung könnte
2.3 Schechina – Sefirotmodell
77
man auch mit dem stark dialogischen Prinzip in der Lyrik Celans in Verbindung setzen. Sämtliche Verben des Gedichts sind häufige und bedeutende Verben der heiligen Schrift. Auffällig ist aber das Fehlen der Verben im letzten Vers. Betroffen sind davon sowohl das Ich als auch das Du. Was in beiden Fällen fehlt ist eine Form des Verbs ›sein‹ als Kopula, die in der hebräischen Sprache der Tora nicht nötig ist, denn es soll hier ja nicht das Sein/die Existenz an und für sich ausgedrückt werden. Das biblische ›(Er)kennen‹ im Sinne des ›Anerkennens‹ kann in jüdischmystischer Lesart die tief Gebeugte auch als die Schechina ansprechen. Die Schechina ist die Anwesenheit Gottes auf Erden. Sie ist die tief Gebeugte, weil sie seit der Tempelzerstörung in die Diaspora gezwungen wurde. Die Feminisierung erfährt die Schechina nicht von den Rabbinern, sondern erst durch die Kabbalisten – in der Vorstellungswelt der Kabbala stellt die Schechina den weiblichen Aspekt Gottes dar. Auch die Zahlenmystik des Gedichts spricht für die Möglichkeit dieser Lesart. Das Gedicht ist geprägt von Überkreuzstellungen durch den Kreuzreim (mit je einer männlichen und einer weiblichen Endung) und die Chiasmen des Gedichts. Graphisch ergibt sich so ein umklammertes (X) – das römische Zahlzeichen Zehn, das im Sefirot-Modell268 für die Schechina269 steht. Die zehnte Sefira steht aber zugleich für Malchut, die Königsherrschaft Gottes, was nun in wirklich logische Verbindung mit der tief Gebeugten gebracht werden kann. Durch leichte Drehung der Achse des das Gedicht durchkreuzenden Zeichens wird daraus das Symbol des Durchbohrten – das Kreuz. Ich, der Durchbohrte, ist dann biblischem Vokabular folgend der angekündigte Messias, bzw. ein durch schweres Schicksal Gezeichneter. Dass das Gedicht formal geprägt ist von Durchkreuzungen und Überkreuzstellungen, wurde bereits festgestellt. Den Durchbohrten dann in Verbindung mit dem Kreuz zu setzen, erscheint also plausibel. Nach kabbalistischer Auffassung bilden die zehn Sefirot und die zweiundzwanzig hebräischen Buchstaben zusammen die Bausteine des Universums. Die Zahl zweiunddreißig hat in der jüdischen Mystik symbolische Bedeutung und umfasst als ideale Zahl alle möglichen Erscheinungen der Welt. Demnach stellt die Zahl zweiunddreißig die unendlichen Möglichkeiten dar, die aus der Kombination von göttlicher Essenz und hebräischer Sprache hervorgehen können. Mittels der 32 ›wunderbaren Pfade der Sophia‹ hat Gott alles geschaffen. Diese Pfade bestehen aus den 10 Urzahlen, hier Sefiroth genannt, die die Grundmächte der Schöpfungsordnung sind, und aus den 22 Buchstaben, das heißt Konsonanten, die die Elemente sind, die allem Erschaffenen zugrunde liegen.270 268 269 270
Siehe zum Sefirot-Modell hier S. 20. Einer der (symbolisch zehn) göttlichen Aspekte, der die Anwesenheit Gottes auf Erden repräsentiert – den Übergang der göttlichen zur irdischen Welt ermöglicht. Scholem, Sprachtheorie der Kabbala (wie Anm. 82), S. 22.
78
2 Spaltung – Der Bruch
Der Abgrund zwischen Gott und der Welt ist kaum zu überbrücken. Aber die Schechina, die unterste Sefira, ist jener Aspekt Gottes, der die Grenze zwischen göttlicher und nichtgöttlicher Welt überwinden kann. Somit besitzt die Schechina die Fähigkeit, beide Reiche miteinander zu verbinden. Man könnte die Schechina auch deshalb als die tief Gebeugte bezeichnen, weil sie sich den Menschen im unteren Bereich zuneigt. Wenn hier mit der tief Gebeugte[n] die Schechina ins Spiel gebracht wird und mit dem gesuchten Wort die Sprache und ihre Funktionen und Möglichkeiten – steht aus mystischer Sicht die Schechina mit der Zahl 32 in Verbindung, jener idealen Zahl, die hier angedeutet aber nicht verwirklicht wird, bezeichnenderweise aber gerade in der Auslassung zweier Verben des Seins.271 Die Schechina ist die göttliche Gegenwart, als die Immanenz nicht die Transzendenz Gottes. Schachan bedeutet ›wohnen‹. Die Einwohnung Gottes hatte ihren Ort ursprünglich in der Stiftshütte und später im Tempel. Seit der Tempelzerstörung ist sie Weggefährtin des Volkes Israel in der Diaspora. Das rabbinische Konzept von Schechina machte kein von Gott gelöstes oder anderes Wesen erforderlich. Wo immer der Name Schechina steht, könnte man ihn ebenso leicht durch den Begriff ›Gott‹ ersetzen. [–] Die Schechina ist Gottes Gesandte auf der Welt, und sie kommt aus dem Reich der Sefiroth. Obwohl die Schechina nie als Gesandte bezeichnet wird, die im wahrsten Sinne des Wortes in irdischer Form auf die Welt herabsteigt, kann man sie sich leicht vorstellen als jenen anderen Aspekt Gottes. Die Schechina ist jener Teil Gottes, der sich um die Welt kümmert und der als Gottes Immanenz auf der Welt fühlbar ist. Die Schechina wohnt mitten unter ihrem Volk, ohne je die Wohnung der Sefiroth zu verlassen.272
Die Schechina fungiert in kabbalistischer Vorstellung also quasi als Bindeglied zwischen Gott und dem Menschen. Sie überbrückt den Abgrund aber nicht direkt, sondern über das Bindeglied der Sefirot.
2.3.2 KLEIDE DIE WORTHÖHLEN AUS KLEIDE DIE WORTHÖHLEN AUS mit Pantherhäuten,
(6)
erweitere sie, fellhin und fellher, sinnhin und sinnher,
(8)
gib ihnen Vorhöfe, Kammern, Klappen und Wildnisse, parietal,
(8) –––––
//
271 272
Das Gedicht besteht aus 30 (und 2 unterdrückten) Wörten. Ariel, Die Mystik des Judentums (wie Anm. 84), S. 148.
79
2.3 Schechina – Sefirotmodell und lausch ihrem zweiten und jeweils zweiten und zweiten Ton.
(10) [32 // 22 + 10 Wörter]
(PCG 252)
Ein Gedicht, das Sprache und Semantik zum Thema hat, ist KLEIDE DIE WORTHÖHLEN AUS vom 2. Mai 1967. Edith Silbermann nennt es als eines jener Gedichte, die Celans »poetologisches Credo«273 vorstellen. Ein drängender Imperativ beherrscht dieses Gedicht zur Gänze, das einen Auftrag (oder einen Befehl) an ein Du richtet. Dieser Auftrag besteht formal aus einem einzigen in vier Strophen und neun Verse unterteilten Satz, wobei den vier Strophen je ein Verb in Imperativform zugeordnet ist: Kleide aus, erweitere, gib – und lausch. Für Celans Sprachverständnis bezeichnend, sollen hier keine Worte (neu) eingekleidet werden, so dass am Ende gar ihr ursprünglicher Sinn verhüllt würde,274 sondern die Worthöhlen sollen ›ausgekleidet‹ werden. Die Worthöhle steht als überaus passendes Bild für die Hülle (Signifikant), die eine bestimmte Buchstabenfolge unterschiedlichsten semantischen Bedeutungen (Signifikaten) anbietet. Zweifellos gibt sich Celan mit diesem Gedicht erneut als Sprachskeptiker zu erkennen, der einen anderen Umgang mit den Worten fordert. Das Gedicht gibt nun die Anweisung, die Worthöhlen mit Pantherhäuten neu auszukleiden. ›Höhle‹ und ›Häute‹ versetzen den Leser zunächst in die Frühgeschichte der Menschheit. Auffallend ist auch, dass vorerst nicht von Fell, sondern von ›Pantherhaut‹ gesprochen wird. Eine dickere Haut, ein dickeres Fell soll den Worten, und zwar in ihrem Inneren, möglicherweise zum Schutz dienen. Sie sollen sich wehren können – widerstandsfähiger werden. Das Pantherfell zählt, im Unterschied zu den ›Zahmhäuten‹ der Haustiere, zu den ›Wildhäuten‹. Das Fell des Schwarzen Panthers steht zudem für Dunkelheit und Wildheit. Diese wilde Dunkelheit trägt dazu bei, die Worthöhlen von innen nicht nur auszuspannen, sondern auch auszudehnen – erweitere sie, fellhin und fellher. Die Erwähnung des Fells in Verbindung mit einer Höhlung und in Zusammenhang mit dem Erlauschen der Töne in der vierten Strophe bringt eine weitere Bedeutung, die des Trommelfells, in das Gedicht ein. Dieses ›Fell‹ ist die Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt hören, geschweige denn feine Nebentöne erlauschen können – sinnhin und sinnher – denn der Sinn, dem das Wort ein Gewand bietet, ist scheu und wendig wie der Panther. Er lässt sich nicht leicht fassen und ist durch die Geschichte wandlungsfähig.275 273 274
275
Silbermann, Paul Celan im Kontext der Bukowiner Dichtung (wie Anm. 181), S. 25. In Worthöhlen erkennt Lyon auch ein Wortspiel mit dem Begriff der »hohlen Worte«, die nichts mehr hergeben. (James K. Lyon: Die (Patho-)Physiologie des Ichs in der Lyrik Paul Celans. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 106 (1987), S. 591–608, S. 597). Wie bereits erwähnt, verfolgte Celan Wortetymologien geradezu manisch. Vgl. hier S. 39.
80
2 Spaltung – Der Bruch
Der Auftrag an das Du des Gedichts sieht nun vor, den Worthöhlen ein Herz zu geben – genannt werden die einzelnen Bestandteile: gib ihnen Vorhöfe, Kammern, Klappen, vielleicht um die überstrapazierte Worthöhle ›Herz‹ nicht zu gebrauchen, vielleicht aber auch in der Absicht, die mechanische Funktion des lebenserhaltenden Organs hervorzuheben. Ständige stete Arbeit ist erforderlich, um das Leben zu erhalten. In Verbindung mit dem Fell und dem Lauschen sei darauf hingewiesen, dass bestimmte Segmente der Vorhofkammern aufgrund ihrer Form »Herzohren« genannt werden. Sie entstehen bei der Bildung des Herzens als Herzwand (parietal), nicht als Scheidewand, sondern als Außenwand (umhöhlend). Diese Ohren lauschen dem Herzton.276 Ist in Celans Gedicht das Wort eine ›Höhle‹, so bezeichnet Martin Heidegger die Sprache als »Haus des Seins«: Weil die Sprache das Haus des Seins ist, deshalb gelangen wir so zu Seiendem, daß wir ständig durch dieses Haus gehen. […] Jegliches Seiende, die Gegenstände des Bewußtseins und die Dinge des Herzens, die sich durchsetzenden und die wagenderen Menschen, alle Wesen sind je nach ihrer Weise als seiende im Bezirk der Sprache. Darum ist, wenn irgendwo, allein in diesem Bezirk die Umkehr aus dem Bereich der Gegenstände und ihres Vorstellens in das Innerste des Herzraumes vollziehbar. […] Die Er-innerung wendet unser nur durchsetzend wollendes Wesen und seine Gegenstände in das innerste Unsichtbare des Herzraumes um. […] In der Umkehrung des gegenständlichen Vorstellens entspricht dem Sagen der Er-innerung die Logik des Herzens.277
Im Gedicht folgt noch einmal ein Verweis auf die dunklen Bereiche: und Wildnisse, parietal, die, um das Leben und die Freiheit zu erhalten, auch vorhanden sein müssen. Das Adverb parietal bedeutet wandseitig und entstammt dem Fachvokabular der Anatomie. Im Tierreich hingegen, und über die Pantherhäute sei diese Assoziation gestattet, verfügen einige niedere Wirbeltiere über ein vom Zwischenhirn gebildetes, lichtempfindliches Sinnesorgan, das Parietalorgan, das über den Lichtsinn bestimmt.278 Darauf spielt Celan auch in seinem Gedicht EINGEWOHNT-ENTWOHNT (PCG 238f.) im Gedichtband Fadensonnen an. Dieses Gedicht erlaubt ebenfalls eine mystische Lesart, die mit dem Eingangswortspiel: EINGEWOHNT-ENTWOHNT / einentwohnt auf Einwohnung und gleichzeitigem Exil der Schechina anspielt.279 In diesem Gedicht 276 277 278
279
Zudem sind die »Herzohren« ein Jean Paul-Wort aus den »Flegeljahren«, und Celan gilt als ein Verehrer Jean Pauls. Heidegger, Wozu Dichter? (wie Anm. 119), S. 309–311 [Hervorhebung im Original]. An dieser Stelle sei auch an die Bedeutung des Lichts im mystischen Sinne für Celan noch einmal erinnert, so z. B. Ziw, jenes Licht, das er mit Nelly Sachs erlebte. Vgl. hier S. 46. Vgl. Otto Pöggeler: Sein und Nichts. Mystische Elemente bei Heidegger und Celan. In: Zu dir hin. Über mystische Lebenserfahrungen von Meister Eckhart bis Paul Celan. Hg. von Wolfgang Böhme. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990 (st; 1765), S. 270–301 und S. 326–328, S. 299.
2.3 Schechina – Sefirotmodell
81
spricht Celan von (Kaltlicht-)Ozellen, die nieder entwickelten Tieren den Lichtsinn ermöglichen. Nun wird das Du noch zum Erlauschen des Nebentons und des mitklingenden weiteren Tons im Nebenton des Nebentons aufgefordert: und lausch ihrem zweiten / und jeweils zweiten und zweiten / Ton. Auf dem Gebiet der Sprache ist das ein eindeutiger Appell, auf das Mitgemeinte oder die entlegenste und verwegenste Bedeutung eines Wortes und den darin enthaltenen verborgenen Sinn zu hören und diese mitzubedenken. »Bei jedem Herzschlag vernimmt man (laut Fachbüchern) zwei Töne, einen dumpferen Anspannungston und einen helleren Klappenton. Der erste soll eher einem Geräusch ähnlich sein, der zweite eher einem Ton.«280 Ein Nebenton ist ein immer mitklingender, in der Regel aber nicht bewusst wahrgenommener Ton. Kabbalistisch betrachtet steckt in diesem Gedicht eine über Zahlen vermittelte Botschaft: das Gedicht besteht aus insgesamt 32 Wörtern. Das ist die Zahl der Schechina und der verborgenen Pfade, die in die Mitte führen. Aufschlussreich ist dabei die Aufteilung der Worte in den Strophen: 6/8/8/10, wobei die ersten drei Strophen von der Auskleidung oder Ausstattung der Worthöhlen sprechen. Dies geschieht mit 22 Wörtern, die für die Anzahl der hebräischen Buchstaben und die Möglichkeit des sprachlichen Ausdrucks stehen. Die letzte Strophe hingegen fordert die Wahrnehmung der Nebentöne, des Mitgemeinten, und zwar mit 10 Wörtern, die die zehn verborgenen Bedeutungen, die eigentliche geistige Bedeutung, repräsentieren. Heike Kristina Behl beweist mit ihrem Aufsatz »References to Hebrew in Paul Celan’s ›Kleide die Worthöhlen aus‹« ein hervorragendes Gehör für den zweiten, und jeweils zweiten und zweiten Ton. Sie zeigt mögliche Assoziationen über die hebräische Sprache vor dem Hintergrund der kabbalistischen Schriftenlehre auf. Wie auch schon Elizabeth Petuchowski281 verfolgt sie die Idee der »underlying Wortspiel[e] of Hebrew words«.282 Behl verfolgt mit ihrer Arbeit das Ziel, dem auch diese Arbeit verpflichtet ist, Celans Gedichte auf die Präsenz einer Ebene der hebräischen Tradition hin zu prüfen. Sprachspiel und kabbalistischer bzw. mystischer Umgang mit Buchstaben, Zahlen, Wörtern und Sprache ermöglicht dem Rezipienten Celanscher Gedichte eine Fülle an Möglichkeiten: »These complex poems require a reader who is willing to employ as many different means as possible for unearthing the more hidden references.«283 280 281
282 283
Lyon, (Patho-)Physiologie des Ichs (wie Anm. 274), S. 597. Elizabeth Petuchowski: Bilingual and Multilingual Wortspiele in the Poetry of Paul Celan. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 52 (1978), H. 4, S. 635–651. Petuchowski beschränkt sich allerdings nicht auf hebräische Wortspiele. Heike Kristina Behl: References to Hebrew in Paul Celan’s »Kleide die Worthöhlen aus«. In: Monatshefte (Madison WI) 87 (1995), H. 2, S. 170–186, S. 170. Ebd.
82
2 Spaltung – Der Bruch
Gehe ich in meiner Interpretation vom Schwarzen Panther aus,284 weist Behl285 darauf hin, dass ›Panther‹ und ›Leopard‹ Synonyme für die Spezies panthera pardus seien. Behl benötigt nämlich für ihre durchaus überzeugende Interpretation die Flecken des Leopardenfells. That the interpretation of the spotted panther skins as vowels is not as arbitrary as it might seem is illustrated by the fact that in Jewish mysticism, the vowel is compared to a garment dressing up the consonant and giving it shape and specific meaning.286
Diese Flecken (Vokalierungspunkte), als Kleider der Konsonanten, verschieben tatsächlich fellhin, fellher die Bedeutung der Worte sinnhin und sinnher. Zudem werde der Panther in der Bibel aufgrund der Eigenschaften seines Fells auch als »the shining one« bezeichnet.287 Der Übergang vom Fell in Vers drei zu den Bestandteilen des Herzens in Vers fünf ist, wie Behl zeigt, ebenfalls über ein Wortspiel im Hebräischen und laut Anweisung (des ...hin und ...her) zu erreichen. Liest man Fell rückwärts, hört man das hebräische Wort lev, das ›Herz‹ bedeutet. Lev ( )לבrepresents several very important concepts in Jewish mysticism. The letter ( לlamed) represents ›studie, learning‹; the letter בrepresents inner meaning – its name beit meaning ›house, interior‹. Together, lamed and beit represent the study of inner meaning.[...] This term is used to describe the exegesis of the Torah. There are 32 principles of how to ›study the inner meaning‹ of the Torah, such as reading words backwords, replacing vowels, and exchanging consonants as mentioned above. An other principle is gematria: each consonant is assigned a number, the numeric values of words are added up, and words with the same numeric value are interpreted as being related in one way or other. The numeric value of lev is 32 (=ל30; =ב2), therefore the 32 ways of reading the Torah and 32 paths of wisdom.288
Auch das der Naturwissenschaft entstammende parietal wird von Behl in hebräischen Zusammenhang gebracht. Die Silbe »par« stehe in Verbindung mit hebräischen Wörtern für »männlich«, »fruchtbar« aber auch »wild« – zudem ist die in dieser Sprache austauschbare Silbe »par«/»bar« die erste Silbe der entsprechenden Wörter für Panther als auch für »gepunktet«.289 Schließlich wird über die Pantherhäute noch eine weitere Verbindung zur Gesteinskunde aufgedeckt. Behl nennt den Pantherstein, den Panther Jaspis, den Leopard und schließlich die Leopardenhaut. Kristalle können in exakt 32 Klassen eingeteilt werden, wobei die verschiedenen »shapes« »Kristalltrachten« genannt werden.290 284 285 286 287 288 289 290
Die erste Assoziation zu ›Panther‹ in der deutschen Sprache ist der Schwarze Panther und nicht der gefleckte Leopard. Im Folgenden referiere ich die Überlegungen Behls. Behl, References to Hebrew (wie Anm. 282), S. 175. Vgl. ebd. Ebd., S. 176. Ebd., S. 178. Ebd., S. 181.
2.4 Die Siebenzahl
83
Celan uses the number 32 to further elaborate the network of references between this poem, mysticism, Hebrew, and crystallography. As we have seen above, the number 32 plays an important role in Jewish mysticism, for example, in the 32 paths of wisdom. (...) The [22] letters and [10] Sefiroth as building blocks of the universe in mysticism are paralleled by the atoms in physics. There are exactly 32 different possibilities to arrange atoms about a point.291
2.4
Die Siebenzahl
2.4.1 DIE MIR HINTERLASSNE Das Gedicht DIE MIR HINTERLASSNE ist ein wichtiges Gedicht auf der Suche nach der Bedeutung der Zahlen Eins, Sieben und Siebzehn in Celans Gedichten. Der Fokus der Auswahl lag dabei auf jenen Gedichten, bei denen eine Auseinandersetzung und ein Eingehen auf die Zahlen dadurch gerechtfertigt erschien, dass sie entweder im Gedichttext selbst von Zahlen sprechen oder aber in ihrem Bau perfekte Symmetrien aufweisen – von einer, in Bezug auf Zahlen, konstruierten Gestaltung also ausgegangen werden kann. Wenn man Celans Interesse für die Kabbala beachtet, so ist es in einigen Fällen aufschlussreich, seine Gedichte nicht nur zu lesen, sondern auch Sätze, Verse, Strophen, Wörter und Interpunktionszeichen zu zählen. Im Fall des Gedichts DIE MIR HINTERLASSNE empfiehlt sich das schon allein aus der Tatsache, dass die Zahl Eins selbst im Gedicht steht und eine weitere Zahl, die allerdings nicht sofort erkennbar ist, eine bedeutende Rolle spielt. DIE MIR HINTERLASSNE balkengekreuzte Eins: an ihr soll ich rätseln, während du, im Rupfengewand, am Geheimnisstrumpf strickst. (PCG 291)
Das Gedicht DIE MIR HINTERLASSNE vom 28.9.1967 ist das siebte Gedicht des vierten Teils aus dem Band Lichtzwang. Das gesamte Gedicht besteht aus einem einzigen Satz. Die Lesererwartung wird in Bezug auf das zunächst ausbleibende Prädikat und den Doppelpunkt, »der grammatikalisch eine Enumeration, einen selbstständigen oder einen angekündigten Satz möglich macht, nicht jedoch die bruchlose Fortführung des begonnenen Satzes«,292 unterlaufen. Dieser eine fragmentarische Satz, der das Gedicht darstellt, ist in zwei Strophen zu je drei Versen unterteilt. Insgesamt also ein Gedicht mit sechs 291 292
Ebd., S. 180f. Sowa-Bettecken, Sprache der Hinterlassenschaft (wie Anm. 56), S. 236.
84
2 Spaltung – Der Bruch
Versen. Die Zahl 6 wird (nach Pythagoras) als vollkommene Zahl angesehen, weil sie sich aus der Summe ihrer echten Teiler konstituiert. Als Beispiel für die Auffassung vom Eigenleben der Zahlen in der Mystik sei auf Augustinus verwiesen, der vorausschickt, dass sich die Überlegung von Maß, Zahl und Gewicht in Gott selbst befinde: Darum können wir nicht sagen, die Sechszahl sei deshalb vollkommen, weil Gott in sechs Tagen alle seine Werke vollbracht hat, sondern Gott hat deshalb in sechs Tagen seine Werke vollbracht, weil die Sechs die vollkommene Zahl ist. Wenn es also auch diese Werke nicht gäbe, so wäre sie dennoch vollkommen. Wäre sie aber nicht vollkommen, dann hätten jene Werke nicht nach ihr vollbracht werden können.293
Über die äußere Struktur des Gedichts wird eine Vollkommenheit nach außen, eine Symmetrie, präsentiert. Im Inneren hingegen herrscht keine Einigkeit, das ganze Gebilde bleibt Fragment, Symbole und Bedeutungen überlagern einander – alte und neue Traditionen treffen aufeinander. Zählt man die Wörter dieses Gedichts, so kommt man auf eine Gesamtzahl von 17. In der Gesamtwörterzahl steht die 1 neben der 7. Die dem lyrischen Ich hinterlassne Eins ist aber ›balkengekreuzt‹ eine Sieben, wenn man sie als (arabisches) Zeichen betrachtet. Betrachtet man die Eins als römisches Zeichen, so erhält man ein Symbol, denn die römische Eins ergibt ›balkengekreuzt‹ das Zeichen des Kreuzes.294 Über die Konnotation Kreuz – Jesus gelangt man aber auch wieder zu der Sieben, die für den christlichen Messias und das Neue Testament steht. Im übrigen ist auch der hebräische Buchstabe Zajin, der für die Zahl 7 das Zahlzeichen darstellt, eine balkengekreuzte bzw. balkentragende Eins.
ז Symbolisch steht die Eins in den monotheistischen Religionen natürlich für Gott. Im Judentum wird diese Tatsache des einzigen und in sich einen Gottes durch das tägliche Gebet: Shmah Jisrael: Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig ständig präsent gehalten. 293
294
Aurelius Augustinus: Über den Wortlaut der Genesis. Der große Genesiskommentar in zwölf Büchern. Übersetzt von Carl Johann Perl. I. Band, Buch I–VI. Paderborn: Schöningh 1961, S. 121. Zudem sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die Zahlenwerte des Gottesnamens, unter denen sich auch die Zahl 6 befindet, als heilig gelten. Vgl. Heinz Michael Krämer: Eine Sprache des Leidens. Zur Lyrik von Paul Celan. München: Kaiser; Mainz: Grünewald 1979 (Gesellschaft und Theologie: Abt. Praxis der Kirche; 31), S. 154.
2.4 Die Siebenzahl
85
Die Ansicht Beate Sowa-Betteckens, die in ihrer Analyse sagt: »Die Eins erscheint im Gedicht nur als eine immer schon balkengekreuzte; ihre ursprüngliche Vollkommenheit wird im Text sofort mit einer Durchquerung versehen«,295 ist allerdings zu hinterfragen, denn die Eins scheint aufgrund der besonderen Schreibung bei Celan palimpsestisch unter der Sieben durch. Sie geht nicht vollständig in der Sieben auf oder ist unter ihr versteckt, sondern bildet das wesentliche Gerüst, dem der Querbalken hinzugefügt wird. Im Übergangsraum zwischen der Eins und der Sieben soll nun also gerätselt werden. Die Sieben ist eine prominente Zahl der Bibel. Viele Bücher des Alten und des Neuen Testaments haben eine Siebenheit als Bauplan, bestehen aus sieben Kapiteln mit je sieben Unterkapiteln, usw. Außerdem steht die Sieben als Symbolzahl für das Neue Testament, für Erfüllung, Vollkommenheit und Ganzheit.296 Im Hebräischen sind die Worte für ›Sieben‹ (schiv’a) und für ›schwören – einen Eid leisten‹ (schavá`) durch ihre Wortwurzel eng miteinander verwandt. Der Schutz und die Sicherheit eines beschworenen Paktes wurde im hebräischen Denken durch die Sieben dargestellt. »Schwören« hat die ursprüngliche Bedeutung von »unter den Einfluß von 7 Dingen kommen.«297 Mögliche Lesarten der ersten Strophe lauten also: Die mir hinterlassne … Eins, palimpsestisch darüber gelegt: Die mir hinterlassne Sieben, das mir hinterlassne Kreuz, oder der mir hinterlassene Schwur, wobei hier in der jüdischen Tradition an die Zusage Gottes an die Stammväter Israels zu denken ist. Das Gedicht stellt ein lyrisches Ich und ein Du vor. Das Ich soll rätseln – an der ihm hinterlassenen Eins, an der balkengekreuzten. Das Wort ›balkengekreuzt‹ liegt dabei wie ein Querbalken zwischen dem ersten und dem dritten Vers und durchkreuzt so die Einheit der Bedeutung der ersten Strophe und der genannten Eins. Die Hinterlassenschaft ist das von einem Verstorbenen Hinterlassene. Und es stellt sich die Frage, wer denn hier als Erblasser zu denken sei. Möglicherweise sieht sich das lyrische Ich als Teil einer Generationenkette und Erbe einer Tradition. Das ›Rätseln‹ ist auch mit dem Geheimnis… im letzten Vers in Verbindung zu setzen, wobei der Gebrauch des Wortes »Geheimnis« nach Grimm »ausgegangen [zu sein scheint] von religiösem gebiete«.298 Über etwas rätseln rückt auf diese Weise ebenfalls in einen religiösen Kontext. In jedem Fall geht es hier um ein religiöses bzw. philosophisches Nachdenken. 295 296
297 298
Sowa-Bettecken, Sprache der Hinterlassenschaft (wie Anm. 56), S. 232. »Und Gott vollendete am siebten Tag sein Werk, das er gemacht hatte; und er ruhte am siebten Tag von all seinem Werk, das er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebten Tag und heiligte ihn; denn an ihm ruhte er von all seinem Werk, das Gott geschaffen hatte, indem er es machte.« (1. Mose 2,2f.). Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Bd V. Hg. von Gerhard Friedrich. Stuttgart: Kohlhammer 1954, S. 460. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. 4. Band 1/2. Bearb. von Rudolf Hildebrand und Hermann Wunderlich. Leipzig: Hirzel 1897, Spalte 2360– 2364.
86
2 Spaltung – Der Bruch
Bis zu dieser Stelle besteht das Gedicht aus zehn Wörtern. Die Zahl zehn steht als Symbol für das Alte Testament. Sie steht aber auch für den Dekalog, die zehn Namen Gottes, die Zahl der Sefirot, die Sphären bzw. Emanationen des En Sof, wobei die zehnte Sefira die mystische Rückkehr zur Einheit darstellt. Das zehnte Wort des Gedichts lautet rätseln, und zwar rätseln an der Eins (Einheit). Die Zahl siebzehn, die Gesamtwortzahl des Gedichts, symbolisiert im Christentum die Erfüllung des Alten Testaments (10) durch das Neue Testament (7). Mit dem jüdischen Gelehrte Friedrich Weinreb darf man annehmen, »daß die Zahl siebzehn etwas Besonderes sagen will: sie wird stets gebraucht, wenn etwas zu Ende geht, etwas Neues beginnt, wenn ein neuer Zustand naht.«299 Die letzten sieben Worte des Gedichts führen das Du ein. Es erscheint nun naheliegend, das Du im Rupfengewand (= grobe Leinwand) in diesem Kontext – der Eins, der Sieben und dem Kreuz – als christlichen Messias zu identifizieren. Das Du strickt am Geheimnisstrumpf, während das Ich des Gedichtes noch über der balkengekreuzten Eins rätselt. Das Anstricken (Anknüpfen, Verweben) am Strumpf lässt sich als poetologisches Bild erkennen: Indem das Gedicht sich rätselnd entwirft, fügt es sich seinen Text Wort für Wort zu, gleichsam Masche für Masche. Es strickt seinen Text aus Buchstaben und Worten. Während es Rätsel aufgibt, fügt es, da diese Rätsel sprachlich sind, Wort an Wort und strickt es so selbst als Geheimnisstrumpf […] Da das Gedicht sich rätselnd und am Geheimnisstrumpf strickend konstituiert, wäre die Auflösung des Rätsels zugleich die Auflösung des Gedichtes und des im Gedicht und nur im Geheimnis der Begegnung aufscheinenden Ich und Du. Allein als Rätsel ist es eine ständige Frage und damit eine ständige Herausforderung des Eingedenkens, des Nachsinnens.300
Aus poetologisch-theologischer Perspektive kann man das Bild auch als das Anknüpfen des Neuen Testaments an das Alte Testament sehen. Paul Celan ist ein Autor, der in seiner Lyrik über die Wesensart Gottes reflektiert. Aus den Gedichten spricht kein Zweifel an der Existenz Gottes, aber es geht um ein Rätseln über diesen mit menschlichem Verstand und Logik unfassbaren, in seiner Wesensart doch verborgenen Gott. Nur eine ausführlichere Publikation (allerdings in niederländischer Sprache) scheint sich mit Zahlen, Strukturen und Zahlenkombinationen in CelanGedichten auseinanderzusetzen: die Untersuchung von Paul Sars, Paul Celan – Gedichten.301 Sars hat z. B. entdeckt, dass Celan zwischen dem Gedicht KRISTALL (Ende 1949), dessen letzter Vers lautet: sieben Rosen später 299 300 301
Friedrich Weinreb: Der göttliche Bauplan der Welt. Zürich: Origo 1973, S. 192. Vgl. auch die Siebenzehn in KEINE SANDKUNST MEHR, hier S. 94. Sowa-Bettecken, Sprache der Hinterlassenschaft (wie Anm. 56), S. 239. Paul Sars: Paul Celan, Gedichten : keuze uit zijn poëzie / met commentaren door Paul Sars en vert. door Frans Roumen. Baarn: Ambo 1988 (Ambo tweetalige editie). Jean Firges referiert kurz über die Arbeit von Paul Sars in: Firges, Vom Osten gestreut, einzubringen im Westen (wie Anm. 28), S. 29f.
2.4 Die Siebenzahl
87
rauscht der Brunnen, und dem Gedicht … RAUSCHT DER BRUNNEN (30.4.1961) exakt siebenmal das Wort ›Rose‹ verwendet. Celan verfolgte also zwischen diesen beiden Gedichten ein Programm basierend auf dem Strukturprinzip einer Siebenheit über drei Gedichtbände und zwölf Jahre hinweg. Das Gedicht … RAUSCHT DER BRUNNEN zählt dann auch nicht zufällig 77 Wörter.302 KRISTALL Nicht an meinen Lippen suche deinen Mund, nicht vorm Tor den Fremdling, nicht im Aug die Träne. Sieben Nächte höher wandert Rot zu Rot, sieben Herzen tiefer pocht die Hand ans Tor, sieben Rosen später rauscht der Brunnen. (PCG 44)303 … RAUSCHT DER BRUNNEN Ihr gebet-, ihr lästerungs-, ihr gebetscharfen Messer meines Schweigens. Ihr meine mit mir verkrüppelnden Worte, ihr meine geraden. Und du: du, du, du mein täglich wahr- und wahrergeschundenes Später der Rosen –: Wieviel, o wieviel Welt. Wieviel Wege. Krücke du, Schwinge. Wir – – Wir werden das Kinderlied singen, das, hörst du, das mit den Men, mit den Schen, mit den Menschen, ja das mit dem Gestrüpp und mit 302 303
Ebd. [Hervorhebung, I. F.].
88
2 Spaltung – Der Bruch dem Augenpaar, das dort bereitlag als Träne-undTräne. (PCG 138f.)304
Sieben Rosen später lautet auch der erste Teil des Bandes Von Schwelle zu Schwelle. Das zweite Gedicht des ersten Teils lautet IM SPÄTROT (PCG 63f.). Das Spätrot lässt sich in Verbindung mit dem Gedicht KRISTALL als Zustand des späten Rots (Sieben Nächte höher wandert Rot zu Rot […] sieben Rosen später rauscht der Brunnen) verstehen. Das Programm der Siebenheit wird aber auch im Gedichtband Schneepart weiterverfolgt. Celan erwog für den Gedichtband Lichtzwang zunächst den Titel ›Siebenhöhe‹ (PCG 832) (vgl. dazu den vierten Vers von KRISTALL). Das zweite Gedicht des Bandes, DU LIEGST,305 arbeitet mit der symbolischen Bedeutung der Zahl Sieben in Judentum und Christentum (Eid, Schwur, Bündnis-Zahl sowie Zahl für das Neue Testament und Jesus Christus). Die beiden Außenstrophen des Gedichts bestehen aus sieben Wörtern, während die drei Mittelstrophen jeweils mit einem Vers bestehend aus sieben Wörtern beginnen. Das siebte Gedicht des Bandes, HURIGES SONST, besteht aus drei Strophen mit je sieben Wörtern. Die Beobachtung eines sich verdichtenden Einsatzes der Zahl Sieben deckt sich mit den Erkenntnissen von Peter Waterhouse,306 der die Aufmerksamkeit in seiner Auseinandersetzung mit Schneepart auf die apokalyptische Grundhaltung der Gedichte und ihre Bezüge zur Offenbarungsgeschichte des Johannes des Neuen Testaments lenkt.
2.4.2 HURIGES SONST HURIGES SONST. Und die Ewigkeit blutschwarz umbabelt. Vermurt von deinen lehmigen Locken mein Glaube. Zwei Finger, handfern, errudern den moorigen Schwur. (PCG 317)
Um das Gedicht HURIGES SONST in einen Kontext setzten zu können, soll zunächst eine Konzentration auf den ersten und den letzten Vers erfolgen. Fünf 304 305 306
[Hervorhebungen, I. F.]. Vgl. hier S. 129f. Peter Waterhouse: Auf dem Weg zum »Kunst-Freien«. Anmerkungen zur Utopie in der Lyrik Paul Celans. Wien. Diss. 1984, S. 277.
2.4 Die Siebenzahl
89
Wörter im ersten Vers stehen einem einzigen Wort, dem Schlusswort des Gedichts gegenüber. Von diesem letzten Wort ausgehend soll dann eine Interpretation versucht werden, die stark auf der Auslegung der Bedeutung dieses Wortes im Gedichtkontext konzentriert bleibt. Diese Konzentration wird von der besonderen Struktur des Gedichtes – es besteht aus drei Strophen mit je sieben Wörtern – und der Tatsache herausgefordert, dass Schwur, hebräisch shevuah, zur Bestätigung eines beschworenen Paktes bei den Hebräern symbolisch als Sieben dargestellt wurde.307 Das in dreifacher Steigerung erreichte siebte Wort, zugleich das Schlusswort des Gedichtes, Schwur, ist Schlüsselbegriff und Ausgangspunkt der folgenden Interpretation. Im Band Schneepart ist die Arbeit Celans mit der Zahl Sieben mehrfach nachzuweisen, wobei das Gedicht HURIGES SONST unangefochten an der Spitze steht. Es ist das siebente Gedicht des Bandes und ist am 7.1.1968 entstanden. Peter Waterhouse liest den gesamten Schneepart als Ausdruck einer apokalyptischen Welt und Zeit, in der keine Utopie mehr existiere und in der nur noch ein jenseitiger Ort aufgesucht werden könne. Er erkennt in diesem Band eine intertextuelle Verbindung zur Apokalypse des Johannes. Diese Verbindung erfährt durch die multiple Zahl Sieben im Gedicht HURIGES SONST eine klare Verstärkung. Von einer »Hoffnung auf eine messianische Zeit« bleibe in diesen Gedichten nichts.308 Es darf jedoch auch nicht übersehen werden, dass dieses Gedicht – in der Tat beherrscht von der Zahl 7 – mit dem Schwur den achten Vers erreicht. Steht in der jüdischen Mystik die Sieben für die Erdverbundenheit in dieser Weltzeitstufe, so steht die Acht für das messianische Zeitalter. Waterhouse bringt den Schwur in Celans Gedicht in Verbindung mit dem von Johannes im zehnten Kapitel der Offenbarung ›gesehenen‹ Engel der Endzeit.309 Die Finger des Gedichtes würden, gemäß der Anweisung des Engels, die Botschaft nicht aufzuschreiben, eben nicht schreiben, sondern ein »Zeichen vom Ende der Zeit« geben » – das mit zwei Fingern der erhobenen Hand angedeutete Zeichen zum Eid.«310 Es wird aber zu diskutieren sein, ob das apokalyptische Bild, das hier zweifellos aufgerufen wird, nicht doch eher der jüdisch-apokalyptischen Literatur der Tora entstammt. Das Buch Daniel z. B. bietet ab dem vierten Kapitel eine apokalyptische Schau, die mit umfangreicher Zahlenmystik – wie die Offenbarungen unter massivem Einsatz der Zahl 7 – arbeitet. Zudem ist der Schwur dieses Gedichtes zu errudern, d. h. er wird angestrebt, hart erarbeitet. In bildhafter Verbindung zum HURIGEN SONST steht damit das Gedicht ES WAR ERDE IN IHNEN.311 Auch dort geht es darum, mittels anstrengender Bewe307 308 309 310 311
Vgl. DIE MIR HINTERLASSNE, hier S. 85. Vgl. Waterhouse, Auf dem Weg zum »Kunst-Freien« (wie Anm. 306), S. 277. Vgl. Ebd., S. 278. Ebd., S. 279. Vgl. hier S. 101f.
90
2 Spaltung – Der Bruch
gung in der Erde etwas anzusteuern – in der Ferne (vielleicht) zu erreichen. Hier wird errudert, dort wird gegraben – und in beiden Fällen ist auch das Verborgene und Verschüttete in uns, biblisch gesprochen, aus Erde gemachten Menschen, mitgemeint. In der hebräischen Sprache ist diese Verbindung noch deutlich sichtbar, denn der aus Erde, ’ădāmāh, geformte Mensch, ’ādām, hat im Blut, dām, wie alle anderen Lebewesen den Sitz des Lebens oder das Leben selbst. Zum Verzehr bestimmtes Fleisch muss daher vollständig ausgeblutet sein. Die Berührung mit ›totem Blut‹ (Menstruation, Nachgeburt) macht nach jüdischem Gebot unrein – das Blut von Opfertieren hingegen wird mit dem Heiligsten in Verbindung gebracht. In Ägypten schützte das Blut des Opferlamms das Gottesvolk vor der göttlichen Strafe, und beim Bundesschluss am Sinai (2 Mose 24,6.8; Sach 9,11) ist Blut ebenfalls als Schutzsymbol von Bedeutung. Blutzeichen können aber auch als Zeichen besonderen Unheils angesehen werden – so beim apokalyptischen Gericht (Joel 3,3f.) wie auch als erste der zehn ägyptischen Plagen (2. Mose 7,14–25), dem blutschwarzen Wasser Ägyptens. Hier im Gedicht wird die Ewigkeit und je nach Lesart auch das ›Hurige Sonst‹ blutschwarz umbabelt, wobei umbabelt nun ›mit Sprache umgeben‹, bzw. ›mit Sünde umspült‹ bedeuten kann. Blutschwarz steht in Kontrast zum Hellblut des Gedichtes NAH, IM AORTENBOGEN. Im Hellblut, das man mit sauerstoffreichem Blut verbinden könnte, findet sich da das Hellwort, als siebtes Wort des Gedichts – die Hoffnung, das Gotteswort –, und hier sieht man auch deutlich den Übergang mit dem Hellwort vom Zustand der Sieben zu dem der Acht. NAH, IM AORTENBOGEN, im Hellblut: das Hellwort.
(7)
Mutter Rahel weint nicht mehr. Rübergetragen alles Geweinte.
(8)
Still, in den Kranzarterien, unumschnürt: Ziw, jenes Licht.
(8)
(PCG 253f.)312
Das schwarze sauerstoffarme Blut in HURIGES SONST hingegen liefert ein unverständliches oder gar kein Wort. Aber betrachtet man das erste Wort des Gedichts ›Hurig‹ wie das letzte Wort Schwur in hebräischem Kontext, so klingt im Hebräischen, lauscht man dem zweiten und jeweils zweiten Ton,313 312 313
[Hervorhebung, I. F.]. Vgl. KLEIDE DIE WORTHÖHLEN AUS (PCG 252).
2.4 Die Siebenzahl
91
mit dem Wort qades, das ›Tempelhure‹ (vgl. z. B. 1. Könige 14,24) bedeutet durch die Wortwurzelkontiguität von qds auch qadas mit, was ›heilig‹ bedeutet. Im ›Hurigen‹ klingt, hebräisch gedacht, so auch das Heilige mit, blutschwarz könnte dann als Unheilszeichen, aber auch in Form von Opferblut als Schutzzeichen (Blut des Opferlamms) interpretiert werden. Das Sonst ist nicht einfach zu definieren. ›Sonst‹ bedeutet in der Regel: andernfalls, außerdem, bei anderer Gelegenheit, für gewöhnlich, im allgemeinen immer. Das Wort ›Sonst‹ aber sei, so Oelmann, so abstrakt, »so sehr nur Wort«, dass es den Leser bei der Suche nach der Bedeutung »auf seine Sprachlichkeit« zurückstoße.314 Das Wort selbst sei ›hurig‹ – bietet es sich doch dem Sprecher für alles Mögliche, auch hervorragend für Ausflüchte an.315 Im Hebräischen lautet das Wort für ›Sonst‹ walo, was soviel bedeutet wie ›so nicht‹ bzw. ›und nicht‹. Was aber ist das Gegenteil von Sonst, von dem sich das Sonst als HURIGES abhebt? Huriges, bzw. heiliges Sonst (das Andere) ist Programm des Gedichtes, das in all seinen Aussagen in der Schwebe gehalten wird zwischen einer Bedeutung und seinem Gegenteil. Auf das HURIGE SONST ein Und zu setzen ist schon provokant. Dem HURIGEN SONST die Ewigkeit in diesem ersten Vers chiastisch gegenüberzusetzen: Huriges/Sonst. | Und die/Ewigkeit stellt eine Herausforderung der Zusammenstellung dar, die auch in Vers 6 zwei Finger, handfern, zu finden ist. Die ›Ewigkeit‹ kann kein und ›neben sich‹ haben, sie bildet eine kreisläufige Einheit – Zeitlichkeit wird von ihr nicht ausgeschlossen, sondern vielmehr aufgehoben. ›Ewigkeit‹ in religiösem Verständnis meint die Zeit nach dem Tod und dem Weltgericht, ist aber ebenfalls nur als Eintritt unserer Weltzeit in die Ewigkeit anzusehen, die natürlich bereits existiert. Eine Kategorie, die gelöst ist von unserem raum-zeitlichen Denken, die wir also auch nicht denken können. Celans ausgeprägte Liebe zu Wortspielen scheint auch hinter dem ersten Vers dieses Gedichtes zu stehen: eine ganz spezielle Vorliebe hatte Celan für Silbenverdopplungen sowohl in deutscher als auch in hebräischer Sprache, manchmal spielerisch in einem Gedicht verborgen, so stehen im Gedicht AUS HERZEN UND HIRNEN (PCG 49f.) Sensen neben Halmen (hebr. sansan).316 Der berühmt gewordene Anfang der Todesfuge Schwarze Milch der Frühe lautet in hebräischer Übersetzung Chalav shachor shel ha-shachar.317 (Schwarz und Frühe haben im Hebräischen dieselbe Wortwurzel). Der erste Vers von Huriges Sonst klingt folgendermaßen: quades walo. wa’olam. 314
315 316 317
Ute Maria Oelmann: Deutsche poetologische Lyrik nach 1945: Ingeborg Bachmann, Günter Eich, Paul Celan. Stuttgart: Heinz 1980 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik; 74), S. 359. Ebd. Petuchowski, Bilingual and Multilingual Wortspiele in the Poetry of Paul Celan (wie Anm. 281), S. 641. Ebd., S. 640.
92
2 Spaltung – Der Bruch
Nun aber zum Schwur. Wenn nun inmitten eines Gedichtes, das beherrscht wird von Begriffen aus dem Alten Testament, von einem Schwur die Rede ist, dann liegt es nahe, an eine der Eidverbindungen Gottes mit den Menschen zu denken, zumal mit dem Du in Celanschen Gedichten in vielen Fällen das göttliche Du angesprochen wird. Das Gedicht ruft, von dieser Seite betrachtet, ein Bündnis Gottes mit seinem Volk, bzw. einem Vertreter seines Volkes auf. Doch es stellt sich die Frage, ob hier ein bestimmter alttestamentarischer Schwur assoziiert wird, und woran man diesen identifizieren könnte. Wenn man den Schwur im Kontext dieses Gedichtes betrachtet, dann deutet einiges darauf hin, dass der Siebener, das Siegel des beeideten Versprechens Gottes, nach der Sintflut nicht noch einmal alles Fleisch (durch Wasserfluten) zu vernichten, also den Noah-Bund, repräsentiert.318 Aufgrund der Erfahrungen der Gegenwart – das Volk Gottes ist im 20. Jh. wieder einmal einer übermächtigen Gewalt ausgeliefert und muss Vernichtung in millionenfacher Zahl erleben – wird der göttliche Schwur, wie generell alles in diesem Gedicht in Frage gestellt. Präsentiert wird ein deutliches Unverhältnis von Erde und Wasser in der Form von Lehm, Moor und Mure. Im Gedicht kommt die Konfrontation mit der sich in der Natur offenbarenden Gottesgewalt zur Darstellung. Wasser als Naturkatastrophe ist als Sintflut Strafe für menschliche Sünde. Die Hure Babylon bezahlt ihre Sünde mit Zerstörung – das antike Babel mit Sprachverwirrung. ›Hurig‹ und umbabelt stehen alttestamentarisch vordergründig eindeutig für Sünde und Gottesstrafe. Im Zentrum des Gedichtes steht der Begriff Glaube (Vers 5). Die dem Glauben in Vers vier vorangestellten ›Locken‹ können als Schläfenlocken orthodoxer Juden interpretiert werden.319 In deren Verständnis der Toratreue werden biblische und talmudische Bestimmungen auch in Bezug auf Kleidung und äußere Erscheinung sichtbar gemacht und im Alltag entsprechend gelebt, so z. B. die Schläfenlocken nach Levitikus 19,27: »Ihr sollt nicht den Rand eures Haupthaares rund scheren, und den Rand deines Bartes sollst du nicht verderben.« In der Lyrik Paul Celans steht das Haar in engem Zusammenhang mit dem Gedenken an die Opfer der Shoah. In Verbindung mit dem Glauben könnte Vermurt als ›verschüttet, erstickt‹ verstanden werden. Der Glaube wird durch die lehmigen Locken verschüttet, diese könnten als Verweis auf die in Massengräbern verscharrten Juden, die trotz ihres gottesfürchtigen Lebens ermordet wurden, verstanden werden. In dieser Lesart wäre das Personalpronomen deine als ›die Locken deines Volkes‹ zu verstehen, dem Du – Gott – im Schwur verpflichtet bist, und die ›Verschüttung‹ des Glaubens des Ich ist demnach eine Folge des Erlebten. Ebenso könn318 »Ich
319
richte meinen Bund mit euch auf, daß nie mehr alles Fleisch ausgerottet werden soll durch die Wasser der Flut, und nie mehr soll es eine Flut geben, die Erde zu vernichten.« (1. Mos. 9,11). Die Verbindung von Opferblut und Locken findet sich ebenfalls in AUCH MICH, vgl. hier S. 50f.
2.4 Die Siebenzahl
93
te das hier angesprochene Du einen ermordeten Vertreter des gläubigen Judentums repräsentieren – der Nicht-Überlebende, der Anklage erhebt und im Gedicht des Überlebenden geborgen ist. Seltsam erscheint es, dass nur zwei Finger den moorigen Schwur errudern, da zu den Schwurfingern eigentlich ein dritter Finger (der Daumen) gehört. Das Fehlen eines Fingers könnte als Signal des Zweifels an diesem Schwur dienen – auf der anderen Seite bilden gerade die zwei Finger das Siegeszeichen (Victory). ›Handferne‹ kann als Kontrastkompositum zu ›in Griffnähe‹ gelesen werden – eine Handbreit entfernt, ebenso denkbar ist aber auch die Variante ›mit der Hand nicht erreichbar‹ oder gar zwei Finger von der Hand gelöst. Auf jeden Fall fehlt ein Finger für den gültigen Schwur. Jedoch werden eine Hand und zwei Finger erwähnt, was in der Addition – fünf Finger einer Hand plus zwei Finger – wieder zur Zahl Sieben, der Bestätigungszahl des Schwurs, führt. Ute Maria Oelmann bringt die Schwurfinger in Verbindung mit dem »redenden Finger, der tröstenden Hand, der Schreibhand des Dichters«,320 die sie in den Gedichten erkennt. Diese Texte »machen noch einmal deutlich, daß das Tun der Finger, der Hand, das dichterische Tun auf eine Verbindung von Ich und Du ausgerichtet ist, daß es das zentrale Anliegen des Dichters ist, in seiner Sprache eine Begegnung mit einem Du Ereignis werden zu lassen, es im Gedicht zu ›bergen‹.«321 Die zwei Finger errudern den moorigen Schwur. ›Rudern‹ bedeutet das Vorwärtsbewegen, Lenken und Steuern eines Schiffes. Erneut ergibt sich die Verbindung mit Wasser, wobei an- und abrudern als Fachvokabeln existieren – errudern jedoch nicht. Denkbar wäre die Interpretation des Ansteuerns eines Schwurs, des Sieges im Wasser bzw. einem anderen, dem Menschen in ungewohnter Bewegung nicht selbstverständlich vertrauten Element. Ein intertextueller Gedanke führt beim moorigen Schwur auch zu Schillers Räuber. Karl Moor schwört seinen Kumpanen, sie nie zu verlassen: Moor. Nun und bey dieser männlichen Rechte! schwör ich euch hier, treu und standhaft euer Hauptmann zu bleiben bis in den Tod! Den soll dieser Arm gleich zur Leiche machen, der jemals zagt oder zweifelt, oder zurücktritt! Ein gleiches widerfahre mir von jedem unter euch, wenn ich meinen Schwur verletze! Seyd ihrs zufrieden?322
Dieser Schwur ähnelt in seiner Versicherung, die Bündnispartner nie zu verlassen, dem alttestamentarischen Bündnis Gottes mit dem Volk Israel.
320 321 322
Oelmann, Deutsche poetologische Lyrik nach 1945 (wie Anm. 314), S. 357. Ebd. Friedrich Schiller: Die Räuber, 1. Akt, 2. Szene. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. 3. Bd. Hg. von Herbert Stubenrauch. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1953, S. 32f.
94
2 Spaltung – Der Bruch
2.4.3 KEINE SANDKUNST MEHR KEINE SANDKUNST MEHR, kein Sandbuch, keine Meister. Nichts erwürfelt. Wieviel Stumme? Siebenzehn. Deine Frage – deine Antwort. Dein Gesang, was weiß er? Tiefimschnee, Iefimnee, I – i – e. (PCG 183f.)
Das Gedicht KEINE SANDKUNST MEHR vom 10.2.1964 beginnt mit Sand und endet Tiefimschnee. Giuseppe Bevilacqua zeigt die enge symbolische Verbindung zwischen ›Schnee‹ und ›Sand‹ bei Celan auf, man denke nur an den frühen Gedichtband Sand aus den Urnen in Verbindung mit dem letzten von Celan selbst vorbereiteten Gedichtband Schneepart.323 Bevilacqua vermerkt, dass sich die Bedeutung des Sandes bei Celan positiv verschiebt, möglicherweise eine Reaktion auf die mit der Zeit überstrapazierte Sand-Metapher: ›Sand‹ bekommt später ein einziges Mal seine ursprüngliche symbolische Bedeutung wieder, aber als Kontrast. In Ich habe Bambus geschnitten spielt und baut sein kleiner Sohn glücklich mit Sand, während der Dichter dem Kind eine ungetrübte und freie Zukunft voraussagt und wünscht, erinnert er sich, in welche Urnen er den Sand seiner Jugend einfüllen mußte: ›du / weißt nicht, in was für Gefäße ich den / Sand um mich her tat, vor Jahren‹.324
Die Bezeichnung Sandbuch für Celans ersten Gedichtband hat Bevilacqua von Ingeborg Bachmann gehört und als bekannte Kurzformel unter dessen Bekannten eingestuft.325 Sandkunst versteht er als Ausdruck für Künstlichkeit und, übereinstimmend mit Konietzny,326 die Meister als ironische Anspielung an die Überwindung der Vorbilder. Nichts erwürfelt stehe in Distanznahme zu einer Zufallskunst.327 Siebenzehn erklärt Bevilacqua sehr schlüssig, indem er noch einmal das Sandbuch aufgreift, dessen erster Zyklus, der siebzehn Ge323
324 325 326
327
Vgl. Giuseppe Bevilacqua: Auf der Suche nach dem Atemkristall. Celan-Studien. Übersetzt von Peter Goßens und Marianne Schneider. München, Wien: Hanser 2004 (Dichtung und Sprache; 19), S. 51. Ebd., S. 50. Eine stark biographische Auslegung des Gedichts. Vgl. ebd., S. 53. »Die dritte Negation: ›keine Meister‹ entfaltet die Bedeutungsnuance: Meister als diejenigen, die innerhalb eines künstlerischen Entwicklungsprozesses als Vorbilder oder Lehrer gelten, wobei die Bedeutung des rein Handwerklichen mit anklingt.« (Konietzny, Sinneinheit und Sinnkohärenz [wie Anm. 258], S. 52). Vgl. Bevilacqua, Auf der Suche nach dem Atemkristall (wie Anm. 323), S. 56.
2.4 Die Siebenzahl
95
dichte umfasste, in der Überarbeitung entfiel. Zudem befinde sich unter den siebzehn verstummten Gedichten das einzige weitere Gedicht Celans, welches das Wort siebenzehn (hier wahrscheinlich eine Wortschöpfung aus metrischen Gründen) enthalte. Bevilacqua erkennt den ersten Teil des Gedichts also als augenzwinkernden Rückblick auf das eigene, noch sehr stark von Vorbildern geprägte Werk.328 Barbara Wiedemann hingegen verweist auf die Einleitung von Gerhard Eis zu dem Buch Wahrsagetexte des Mittelalters und Celans Lesespuren darin, die Markierung der Worte »Sandwissenschaft« sowie »Sandbücher«.329 ›Sand‹ steht also in einem Spannungsfeld zwischen einem zukünftigen Schicksal und dem ›Tod‹, der im wohl bekanntesten Gedicht Celans, der TODESFUGE (PCG 40f.), als Meister aus Deutschland bezeichnet wird. Ein intertextueller Eigenverweis, der ebenfalls mit assoziiert werden muss. Die positive Verschiebung von ›Sand‹, die Bevilacqua diagnostiziert, kann in diesem Kontext, in der Kombination mit dem Meister, allerdings nicht erkannt werden. Was aber ins Auge sticht, ist die dreimalige Ablehnung: Keine…mehr, kein, keine. Böschenstein weist mit Blick auf den Gedichtbandtitel Schneepart darauf hin, dass in Österreich ›Parte‹ auch Todesanzeige heißt.330 ›Schnee‹ ist für Celan so »das gefrorene Lebenswasser, das Tote, das jedoch dann, wenn ihm Gerechtigkeit widerfährt, wieder aufatmen kann.«331 Das Gedicht ES FÄLLT NUN, MUTTER, SCHNEE IN DER UKRAINE (PCG 399), das die Trauer um den Tod der Mutter poetisch verarbeitet, endet mit den Versen: Was wär es, Mutter: Wachstum oder Wunde – / versänk auch ich im Schneewehn der Ukraine? Und auch hier findet sich in Wachstum (milah) und Wunde (mijlah) ein hebräisches Wortspiel. Das Gedicht zum Tod des Vaters trägt den Titel SCHWARZE FLOCKEN und imaginiert ebenfalls den winterlichen Tod auf freiem Feld: wenn schneeig stäubt das Gebein / deines Vaters, unter den Hufen zerknirscht (PCG 19).332 Der Schnee, das hübsche Weiß, das in der Regel auch Schreckliches 328 329
330 331 332
Vgl. ebd., S. 57. »Die Geomantie oder Sandkunst (arabisch ilm al-raml ›Sandwissenschaft‹) ist eine uralte Methode der Zukunftserkundung […] Die meisten deutschen Sandbücher des 14.–16. Jhs. können keinem bestimmten Verfasser zugewiesen werden«. (PCG 728 [Hervorhebungen nach Celans Exemplar]). Böschenstein, Der späte Celan (wie Anm. 6), S. 404. Pöggeler, Sein und Nichts (wie Anm. 279), S. 290. »Transnistrien war ein Vernichtungslager, aber kein KZ wie Auschwitz, und es gab dort keine Gaskammern. Pauls Eltern wurden nicht verbrannt; sie kamen am Bug um: der Vater erlag dem Typhus, die Mutter wurde durch Genickschuß ermordet. Vom Tod des Vaters erfuhr Paul bereits im Herbst 1942 aus einem Brief seiner Mutter, den ein Kurier herübergeschmuggelt hatte, die Nachricht, daß seine Mutter umgebracht worden war, übermittelte ihm ein aus Transnistrien geflüchteter Verwandter im Winter 1943.« (Edith Silbermann: Erinnerungen an Paul Celan [1987]. In: Silbermann, Begegnungen mit Paul Celan [wie Anm. 181], S. 41–70, S. 64f.).
96
2 Spaltung – Der Bruch
lieblich bedeckt, vermischt sich hier mit der Asche aus den Kaminen und überdeckt die Leichen und mit ihnen die Schuld der Mörder. ›Schnee‹ steht also in enger Verbindung mit dem Völkermord des Nationalsozialismus. Pöggeler argumentiert, auch Celan wäre, folgt man seinem Gedicht DIE POLE,333 in Jerusalem getröstet, das sein Schneetrost sei.334 So ist auch umflockt im Gedicht DU LIEGST (PCG 315), das in Berlin entstand und das zweite Gedicht des Bandes Schneepart ist, nicht mit einer Idylle zu verbinden. Die letzte Strophe von KEINE SANDKUNST MEHR ... Tiefimschnee – iefimnee – I-i-e ist dann auch alles andere als reine Sprachspielerei. ›Tief im Schnee‹ stecken die Vokale, das Stimmhafte der Worte. Der ›Part‹ des ›Schneeparts‹ meint »›Anteil‹, ›Teilhabe‹, ›Mitteilung‹, hier: zur Welt des Schnees gehörend.«335 In der Forschungsauseinandersetzung mit KEINE SANDKUNST MEHR steht das Mutmaßen um die letzten verbleibenden Vokale in einer Linie mit der Diskussion um das rätselhafte Siebenzehn, dabei ist Siebenzehn, aus der Perspektive dieser Arbeit gesehen, die einfache wörtliche Übersetzung der hebräischen Zahl ins Deutsche: Siebenzehn entspricht der hebräischen Zählweise – ein Hinweis darauf, dass die Zahl, und so auch das Gedicht, in einen hebräischen Kontext gesetzt werden sollte.336 Celan schreibt in einem Brief über einen Besuch bei Ludwig von Ficker: »Was mich besonders freute, war, daß er ganz auf das Jüdische meiner Gedichte einging. – Sie wissen ja, daß mir viel dran liegt.«337 Und Dieter Schlesak überlegt in seiner Suche nach der verborgenen Partitur bei Celan, ob es in dieser Dichtung eine Metasprache gebe: Es gibt sie. Allerdings wird sie in den Deutungen nur marginal berührt; es ist […] nicht die deutsche Sprache, sondern das Hebräische der Thora und dessen ›Partitur‹. 333
334 335 336
337
DIE POLE / sind in uns, / unübersteigbar / im Wachen, / wir schlafen hinüber, vors Tor / des Erbarmens, // ich verliere dich an dich, das / ist mein Schneetrost, // sag, daß Jerusalem i s t, // sags, als wäre ich dieses / dein Weiß, / als wärst du / meins, // als könnten wir ohne uns wir sein, // ich blättre dich auf, für immer, // du betest, du bettest / uns frei. (PCG 362). Pöggeler, Sein und Nichts (wie Anm. 279), S. 290. Speier, Paul Celan, Dichter einer neuen Wirklichkeit (wie Anm. 172), S. 71. »7 und 10, die wichtigsten Zahlen der Kabbala (7 Tage, 10 Gesetzes-»Worte«, zehn Äste des Sefirothbaumes usw.). Und am 17. Tag des 17. Jahrhunderts nach der Weltschöpfung flüchtete sich Noah in die Arche. Joseph wird mit 17 nach Ägypten verkauft, Mose ist 17, als er aus Ägypten flüchtet. 17 ist, wenn etwas zu Ende geht, etwas Neues beginnt.« (Dieter Schlesak: Die verborgene Partitur. Herkunft und Frühwerk von Paul Celan als Schlüssel zu seiner Metapoesie. In: Die Bukowina. Studien zu einer versunkenen Landschaft. Hg. von Dietmar Goltschnigg und Anton Schwob unter Mitarbeit von Gerhard Fuchs. Tübingen: Francke 1990 (Edition Orpheus; 3), S. 333–354, S. 338f. Vgl. dazu auch Weinreb, Der göttliche Bauplan der Welt [wie Anm. 299], S. 192ff.). Briefe an Alfred Margul-Sperber. In: Neue Literatur 7 (1975), H. 7, S. 50–63. Brief vom 6. Juli 1948, S. 52; zit. nach Schlesak, Die verborgene Partitur (wie Anm. 336), S. 346.
2.4 Die Siebenzahl
97
Denn vieles in Celans Metapoesie wirkt wie eine paradoxale Verschränkung des Deutschen mit jenem Ur-Text, manchmal auch wie ein (oft gescheiterter) Übersetzungsversuch aus der Partitur ins Deutsche, das unfähig ist, die Bedeutung aus jener anderen Sphäre zu tragen.338
Wie bereits gezeigt, arbeitet Celan auch mit Zahlen und deren symbolischer Bedeutung. Für Klaus Voswinckel ist die Siebenzehn keine Zahl, »sondern es sind zwei sich widersprechende Zahlen aufeinmal«.339 Auch Konietzny bestätigt, es gehe nicht um die Siebzehn als Zahl, sondern um die Konstellation der Zahlen ›sieben/zehn‹.340 In der Tat geht es um beides: um die symbolische Bedeutung der Zahl Siebzehn für Celan und um den Verweis über diese Zahl auf das Hebräische. Wiedemann erklärt im Anschluss an den Verweis auf die Geomantie auch das Sandkunstverfahren, das u. a. auch »Sandkunstverfahren der sechzehn Meister« genannt wurde: Durch viermalige Markierung einer beliebigen Anzahl von Punkten im Sand oder durch Würfel wird nach festen Regeln eine von sechzehn festgelegten Figuren ermittelt. Der Wahrsagetext enthält auf sechzehn festgelegte Fragen zur Zukunft an die ›Richter‹, die hebräische Namen tragen, je sechzehn Antworten. (PCG 728f.)
Im Sandverfahren gibt es also sechzehn festgelegte Fragen, aber die Frage des Gedichts ist eine nicht festgelegte, ist deine Frage, für die es keine vorgefertigte Antwort gibt. Die Punkte im Sand zeichnet Celan mit den I-Punkten in den genau vier Strophen.341 Deine Frage ist nicht an die sechzehn Richter, sondern an einen siebzehnten Richter gerichtet, der, wie die anderen sechzehn, einen hebräischen Namen trägt: Siebenzehn! Aber auch er schweigt.342 Die entscheidende Frage des Gedichts lautet: Dein Gesang was weiß er? – was ist das Prophetische in der Dichtung? Der erste Vers spricht vom Ende der Prophetie. Es folgt eine Leerzeile und eine Erklärung: Nichts konnte erwürfelt werden. Vielleicht auch das ›Nichts‹.343 Nichts erwürfelt, oder aber Nichts, eine göttliche Antwort, erwirkt durch das Orakel. Aber eine Prophetie muss auch ausgelegt werden, von einem, der die Zeichen versteht. Die Frage lautet: Wieviel Stumme, die Antwort Siebenzehn. 338 339 340 341
342 343
Ebd., S. 336. Klaus Voswinckel: Paul Celan: verweigerte Poetisierung der Welt. Versuch einer Deutung. Heidelberg: Lothar Stiehm 1974 (Poesie und Wissenschaft; 36), S. 200. Vgl. Konietzny, Sinneinheit und Sinnkohärenz (wie Anm. 258), S. 62. Die Anzahl der I-Punkte im Gedicht ergibt 16, vier pro Strophe, wenn man davon ausgeht, dass das Titelkapitälchen einen I-Punkt (Keine) in der ersten Strophe verbirgt. Die Entstehungsvariante weist noch kein Titelkapitälchen auf. (Paul Celan: Atemwende. Vorstufe – Textgenese – Endfassung. Hg. von Jürgen Wertheimer. Bearb. von Heino Schmull und Christiane Wittkop. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 59). Bezeichnenderweise lautet der 17. Vers des Gedichts ALLERSEELEN (PCG 107) nach zerschwiegenem Schwur. Im kabbalistischen Gottesverständnis: Jahwe als das Alles und das Nichts.
98
2 Spaltung – Der Bruch
Siebzehn ist die Zahl des Zweifels bei Celan. Und doch hört seine Dichtung nicht auf, Fragen zu stellen. Die sechzehn Richter aber, und auch der siebzehnte Richter mit dem hebräischen Namen, bleiben stumm. Doch der letzte Richter trägt die Frage in seinem Namen: Siebenzehn. Auch in diesem Gedicht ist das Prinzip des Arbeitens mit Oppositionen zu beobachten, das nun im dritten Teil dieser Arbeit näher untersucht wird: Sand und Schnee; stumm und Gesang; Würfeln und Wissen werden in unmittelbare Nähe gesetzt. In den Strophen kommt abwechselnd und konsequent nur jeweils der Diphtong ei oder ie zum Einsatz.344
344
Den selben Kontrast gibt es auch in BEI WEIN UND VERLORENHEIT, bei / beider Neige und den lautlichen Anklang an das I-i-e in der folgenden Strophe: ich ritt durch den Schnee […] ich ritt Gott in die Ferne – die Nähe (PCG 126).
3
Einung – Das Einen
3.1
Die Suche nach Einheit in der Mystik – Chassidismus – Tikkun
Mystik bezeichnet den Glauben an eine mögliche Einheit mit der göttlichen Transzendenz. Mit Thomas von Aquin hat sich die Umschreibung ›erfahrungsmäßige Gotteserkenntnis‹ (lateinisch ›cognita Dei experimentalis‹) als Definition des Phänomens durchgesetzt. Demzufolge bezeichnet Mystik das Bemühen, durch Abkehr von der Welt und Meditation das Transzendente zu erfassen. Durch die Versenkung in sich selbst soll eine Vereinigung mit dem Transzendenten bis hin zur Aufgabe der eigenen Individualität möglich werden. In der mystischen Erfahrung der Einheit (›unio mystica‹) wird die Kluft zwischen Mensch und Gottheit überbrückt, der Myste gelangt zu Einsichten in das Wesen der transzendenten Wirklichkeit. Chassidische Mystiker lassen die Möglichkeit einer vollkommenen Vereinigung mit Gott anklingen: Das Ich des Mystikers versinke in Gott, dem Gegenstand der Verehrung, bis er von ihm nicht mehr unterschieden werden könne und wahrhaft mit Gott eins werde.345 Wenn nicht bereits aus dem chassidischen Umfeld seiner Heimat, so wusste Celan spätestens aus den Schriften Bubers und Scholems um die Vorstellung des Tikkun olam – der Wiederherstellung der zugrundeliegenden Einheit, »der schöpfungstheologisch begründeten Teilhabe des Menschen am messianischen Erlösungswerk«.346 Die Chassidim schätzten die lurianische Kabbala hoch – Buber bezeichnet den Chassidismus als »Ethos gewordene Kabbala«347 – und sie arbeiten dem dort bezeichneten Einheitsideal in Gebet und Alltag entgegen, jede ihrer Handlungen, ihr alltägliches Leben, bis hin zu Kleinigkeiten wie z. B. das Knüpfen der Schuhbänder,348 soll diesem Erlösungswerk dienen. Gott, so lehrt der Baalschem [d.i. der Begründer des Chassidismus], ist in jedem Ding als dessen Urwesen. Er kann nur mit der innersten Kraft der Seele empfangen werden. Ist diese Kraft freigemacht, dann ist es dem Menschen an jedem Ort und zu jeder Zeit gegeben, das Göttliche aufzunehmen. Jede Handlung, die in sich geweiht 345 346 347 348
Vgl. Ariel, Die Mystik des Judentums (wie Anm. 84), S. 55. Koelle, Paul Celans pneumatisches Judentum (wie Anm. 4), S. 26. Martin Buber: Die jüdische Mystik. In: ders.: Werke 3. Schriften zum Chassidismus. München: Kösel; Heidelberg: Schneider 1963, S. 9–18, S. 15. Vgl. Schubert, Jüdische Geschichte (wie Anm. 101), S. 90.
100
3 Einung – Das Einen
ist, mag sie noch so niedrig und sinnlos erscheinen dem von außen Herankommenden, ist der Weg zum Herzen der Welt. In allen Dingen, auch in den scheinbar völlig toten, wohnen Funken des Lebens, die in die bereite Seele fallen. […] Auf allen Wegen findet der Mensch Gott, und alle Wege sind voll der Einung.349
Der Chassid kommt so dem transzendenten Gott der Kabbala (En Sof)350 Schritt für Schritt näher und strebt die individuelle Einheit an.351 Das »geheime Ziel alles Geschehens«352 ist die Restitution des ursprünglich gedachten idealen Zustands, die durch »die vollkommene Einheit mit Gott«,353 der Loslösung von einem Körper, von Natur und Zeit, erreicht werden soll. Aber Gott ist in der Vorstellung der Kabbalisten mehr als das »verborgene En-Sof; er ist jener Gott, der im Prozeß des Tikkun sich selbst zur vollendeten Person gestaltet«.354 Teile dieses Restitutionsprozesses sind dabei dem Menschen überantwortet: Göttliches und menschliches Sein sind im Geschehen der Welt an bestimmten Punkten ineinander verschlungen. So entspricht dem inneren, zeitlosen Vorgang des Tikkun, der im Symbol der Geburt der Persönlichkeit Gottes geschildert wird, der zeitliche Prozeß der Weltgeschichte. Der historische Prozeß und dessen geheimste Seele, nämlich die religiöse Tat des Juden, bereiten die endgültige Restitution aller versprengten, ins Exil der Materie gesandten Lichter und Funken vor. […] Jede Tat des Menschen hat Bezug auf diese letzte Aufgabe, die Gott seiner Kreatur aufgetragen hat. […] Der Mensch soll in jeder Handlung seine innere Absicht darauf richten, die ursprüngliche Einheit wieder herzustellen, die durch den Urmakel – den Bruch der Gefäße – und jene von dort herkommenden Mächte des Bösen und der Sünde in der Welt gestört worden ist. Den Namen Gottes zu einigen, wie der Terminus lautet, ist nicht nur ein reiner Akt des Bekennens und Anerkennens der Majestät Gottes, es ist mehr als dies: es ist auch aktuelles Tun. Der Tikkun stellt die Einheit des Namens Gottes, die von dem Urmakel aller Dinge bedroht ist, wieder her355. 349 350
351 352
353 354
355
Buber, Die jüdische Mystik (wie Anm. 347), S. 16f. »Das En Soph ist in der Kabbala der deus absconditus, der aber durch die von ihm ausgehende Emanationskraft die ganze Schöpfung bewirkte und im Sein erhält.« (Schubert, Jüdische Geschichte [wie Anm. 101], S. 90). Vgl. Norman Solomon: Judentum. Eine kurze Einführung [1996]. Übersetzt von Ekkehard Schöller. Stuttgart: Reclam 1999, S. 61. »Die Geheimnisse des Tikkun nehmen daher das Hauptinteresse sowohl der theoretischen als auch der praktischen Theosophie Lurias in Anspruch.« (Scholem, Isaak Luria und seine Schule [wie Anm. 64], S. 294). Schubert, Jüdische Geschichte (wie Anm. 101), S. 90. Scholem, Isaak Luria und seine Schule (wie Anm. 64), S. 295. »In Zweiheit ist durch die erschaffene Welt und ihre Tat Gottes Sein zerfallen: in das Gotteswesen, Elohuth, das den Kreaturen entrückt ist, und die Gottespräsenz, Schechina, die in den Dingen wohnt, wandernd, irrend, verstreut. Erst die Erlösung wird beide in die Ewigkeit vereinigen. Aber es ist der Besitz des Menschengeistes, durch seinen Dienst die Schechina ihrem Quell nähern, in ihn eintreten lassen zu können.« (Martin Buber: Vom Leben der Chassidim. In: Buber, Werke 3. Schriften zum Chassidismus [wie Anm. 347], S. 19–45, S. 28). Scholem, Isaak Luria und seine Schule (wie Anm. 64), S. 300f. [Hervorhebungen im Original].
3.1 Die Suche nach Einheit in der Mystik – Chassidismus – ›Tikkun‹
101
Die Annäherungsbewegung eines Ich und eines Du, um sich schließlich zu einer Einheit zusammenzuschließen, ist in dem Gedicht ES WAR ERDE IN IHNEN exemplarisch zu beobachten.
3.1.1 ES WAR ERDE IN IHNEN ES WAR ERDE IN IHNEN ist das erste Gedicht aus Paul Celans Gedichtband Die Niemandsrose. Das Entstehungsdatum ist der 27.7.1959; im April dieses Jahres hatte Claire Goll, die Witwe Yvan Golls, die sogenannte ›Goll-Affaire‹ mit der Behauptung, Celan hätte die Gedichte ihres Mannes plagiiert, entzündet. Diese Anschuldigung entpuppte sich erst viel später als durchaus aktiv betriebene Verleumdung u. a. durch Veränderungen am Nachlass Yvan Golls – Paul Celan fühlte sich erneut in der Rolle des unschuldig Verfolgten. So sind die Gedichte des Bandes Die Niemandsrose laut eigener Aussage Celans von der Bitterkeit rund um diese Affaire geprägt (PCG 671f.). Franz Wurm erinnert sich, mit Paul Celan über das Graben nach der eigenen Herkunft gesprochen zu haben: »[H]ören Sie auf nach Ihrer Herkunft zu graben, hatte ich gesagt, sie steckt in Ihnen, ob Sie wollen oder nicht, durch das Graben verleugnen Sie sie vor sich selbst und sie kommt falsch herauf.«356 Das Graben in der eigenen Vergangenheit, in älteren historischen Schichten, ist Thema vieler Gedichte Celans, doch ES WAR ERDE IN IHNEN belässt es nicht bei der Konzentration auf sich selbst, es ist ein stark dialogisch ausgerichtetes Gedicht, das die Bewegung des beschwerlichen Sich-aufeinander-zu-Bewegens aufzeigt: ES WAR ERDE IN IHNEN, und sie gruben. Sie gruben und gruben, so ging ihr Tag dahin, ihre Nacht. Und sie lobten nicht Gott, der, so hörten sie, alles dies wollte, der, so hörten sie, alles dies wußte. // 356
Franz Wurm: Erinnerung. In: Celan/Wurm. Briefwechsel (wie Anm. 192), S. 245– 251, S. 246f. »Hören Sie auf – das war früher gewesen und beim Sie ist es geblieben, aus Höflichkeit des Herzens und damit keiner dem andern ein Haar gegen den Strich – hören Sie auf nach Ihrer Herkunft zu graben, hatte ich gesagt, sie steckt in Ihnen, ob Sie wollen oder nicht, durch das Graben verleugnen Sie sie vor sich selbst und sie kommt falsch herauf. Das war ihm in die Augen gestiegen, mitten auf der Rämistraße, er war stehengeblieben und hatte angefangen die Arme entgegenzuheben, sie aber wieder sinken lassen, um des Sie willen, und hatte gedankt, gedankt. […] Und als ich ihn zu hören bat, wie er ›Ding‹ sagte und ›bang‹, nasal, aber mit deutlich angehängtem ›g‹, während ich eher ›Dink‹ aussprach und ›bank‹, und das unser Schibboleth nannte, kam er mit dem Lachen nicht zu Ende.«
102
3 Einung – Das Einen
Sie gruben und hörten nichts mehr; sie wurden nicht weise, erfanden kein Lied, erdachten sich keinerlei Sprache. Sie gruben. Es kam eine Stille, es kam auch ein Sturm, es kamen die Meere alle. Ich grabe, du gräbst, und es gräbt auch der Wurm, und das Singende dort sagt: Sie graben. O einer, o keiner, o niemand, o du: Wohin gings, da’s nirgendhin ging? O du gräbst und ich grab, und ich grab mich dir zu, und am Finger erwacht uns der Ring. (PCG 125)357
ES WAR ERDE IN IHNEN, das ›Kopfgedicht‹ des Bandes, lässt anhand seines Aufbaus und verschiedener Referenzsignale zumindest drei Bezugstexte erkennen, wobei die Bibel mit biblischen Strukturen und Schlüsselwörtern klar dominiert. Als gedanklicher Hintergrund ist die Kabbala erkennbar und die unmittelbare Zeitgeschichte spielt als ›Text‹ im postmodernen Verständnis ebenfalls eine bedeutende Rolle als Referenztext dieses Gedichtes. Der formale Aufbau zeigt zunehmende Wiederholungsstrukturen. Insgesamt kommt im Gedicht zehn Mal eine Form von ›graben‹ vor, alleine in den ersten drei Strophen wiederholt sich sie gruben fünf Mal. Das Ende der ersten und der dritten Strophe markiert je einen Abschnitt. In den ersten beiden Versen der vierten Strophe kommt es zum dreifachen Einsatz des Verbs ›kommen‹ (kam, kam, kamen), und in den letzten beiden Versen dieser Strophe wird dieselbe Häufung für das bereits zuvor mehrfach eingesetzte Wort ›graben‹ angewandt (ich grabe, du gräbst, es gräbt – sie graben). Zudem wechselt hier das Tempus vom Präteritum ins Präsens und deutet damit die Aktualität eines in der Zeit andauernden Prozesses an. Die fünfte Strophe beginnt mit einem Vers der vierfachen Anrufung (O einer, o keiner, o niemand, o du), welche im dritten Vers mit der schließenden Wendung des ersten Verses wieder aufgenommen wird (O du). Das Schlusswort Ring korrespondiert reimhaft mit den Wiederholungen (gings, ging) des zweiten Verses und der dritte Vers zeigt erneut eine dreifache Wiederholung (du gräbst, ich grab, ich grab mich dir zu). Dass das Gedicht insgesamt neunmal und sagt, ist für ein deutschsprachiges Gedicht zumindest ungewöhnlich und bindet den Text aufgrund der (psalmodisch) hebräischen Satzkonstruktionen noch stärker an traditionell hebräische, heilige Texte. 357
Vgl. CHANSON EINER DAME IM SCHATTEN: Es ist einer, der trägt mein Haar. / Er trägts wie man Tote trägt auf den Händen. […] Es ist einer, der hat meine Augen. / Er hat sie, seit Tore sich schließen. Er trägt sie am Finger wie Ringe. (PCG 35f.).
3.1 Die Suche nach Einheit in der Mystik – Chassidismus – ›Tikkun‹
103
Darüber hinaus erfolgen Verbindungen über Alliterationen, Anaphern und Wiederholungen. Auffällig ist auch, dass das Gedicht reimlos beginnt, in Strophe zwei den parallelismus membrorum358 als Technik der hebräischen Reimbindung einsetzt, in Strophe drei bereits mit Anaphern arbeitet, in Strophe vier Parallelismen einsetzt (in der Mitte Tempuswechsel) sowie Assonanz und halben männlichen Kreuzreim, um schließlich in Strophe fünf den vollständigen männlichern Kreuzreim zu erreichen – diese Reimstruktur unterstreicht die Berührung des Ich und Du am Ende im Sich-Kreuzen der Verse. Die Bibel als Prätext wird durch Signalwörter aus der Genesis aufgerufen: Stille, Sturm und Meere stehen durch die Schöpfungsgeschichte in Verbindung mit Erde, Tag und Nacht. Gott schuf die Erde, er schuf das Licht, um den Tag von der Finsternis, die er Nacht nannte, zu scheiden. Er schuf den Sturm, der die Stille unterbrach und die Meere.359 Und endlich wird der Mensch (’ādām) aus der Erde (’ădāmāh) geschaffen, und so ist auch sprachlich betrachtet Erde in ihnen. Der Ring gilt biblisch als Bundeszeichen bei der Beschneidung. Beschneidung ist hebr. brimila, wörtlich übersetzt eine »Beschneidung des Wortes«, was Celan in EINEM, DER VOR DER TÜR STAND (PCG 141f.) in der dritten Strophe mit: Diesem beschneide das Wort als Wortspiel einsetzt, denn dort geht es tatsächlich um die Beschneidung des Wortes ›Wahrheit‹ (emeth) um das entscheidende ›e‹. Mit dem beschnittenen Wort meth (er ist tot) auf der Stirn fällt der Golem in sich zusammen. Sie lobten nicht Gott und sie wurden nicht weise erinnert an die zahlreichen biblischen Lieder (Psalmen), die Gottes ›Weisheit‹ loben. Jedoch handelt es sich um ein Gedicht, das Zweifel an Gottes Macht erkennen lässt, auch wenn am Ende eine Annäherungsbewegung trotz aller Zweifel stattfindet: Und sie lobten nicht Gott, / der, so hörten sie, alles dies wollte, / der, so hörten sie, alles dies wußte. Von Gott hörten sie in der Sprache und den Liedern der Propheten. Doch dann mussten sie graben, waren allein auf diese Tätigkeit reduziert und hörten nichts mehr – die Stimme Gottes war für sie verstummt, sie verloren die Zuversicht und die Gewissheit des in Gott geborgenen Seins.
358
359
»Nur freilich hat der Ebräische Parallelismus vor unsern Nordischen Sprachen das voraus, daß er mit seinen wenigen Worten die Region schön ordnet, und zuletzt prächtig in der Luft verhallen läßet; für uns also ist er beinah unübersetzbar. Wir brauchen oft zehn Worte, wo jene drei brauchen, die kleinen Worte schleppen oder verwirren sich, und das Ende vom Lied ist Härte oder Ermattung. Man muß ihn also nicht sowohl nachahmen, als studieren. In unsrer Sprache müssen wir die Bilder mehr fortleiten und ihren Wortbau ründen. Denn wir sind an den Numerus der Griechen und Römer gewöhnt. Bei Übersetzungen aus Orient aber lasse man ihn: mit ihm verlöre sich ein großer Teil der ursprünglichen Einfalt, Würde und Hoheit der Sprache. Es heißt auch hier: Er spricht, so geschiehts / Er gebeut, so stehts da! [Psalm 33,9]« (Herder, Vom Geist der Ebräischen Poesie [wie Anm. 132], S. 687). Vgl. das Schöpfungsbild in der Auslegung J. G. Herders, ebd., S. 717f. bzw. hier S. 30.
104
3 Einung – Das Einen
Die Konstruktion dieser Verse zeigt den parallelismus membrorum in Kombination mit einer Alliteration wollte/wußte und stellt damit den unausweichlichen Konfliktpunkt der Theologie nach der Shoah aus. Wollen und Wissen muss, wenn man von Gottes Allmacht ausgeht, eins sein. Celan äußerte gegenüber Nelly Sachs, mit der er über Gott sprach, er hoffe, bis zuletzt »lästern«360 zu können. Sein Verhältnis zum Göttlichen ist also ein hiobsches, ein haderndes, und doch eines, das den Dialog sucht. So entspricht auch die Struktur des Gedichts biblischem Vorbild: Das Und verweist ebenso auf die biblische Struktur wie das passivum divinum in den Es-Formulierungen, die z. B. das göttliche Walten hinter Naturgewalten bezeichnen. Die O-Ausrufe stehen den Anrufungen der Psalmen nahe. Die Wiederholungsstrukturen, und der parallelismus membrorum im Besonderen, repräsentieren die Möglichkeit des poetischen Ausdrucks im Hebräischen. Und schließlich lautet eine Standardformel der Genesis: wajomer elohim – Und Gott sagte/sprach/sah/machte ..., jener Gott, der hier hinter dem ›Singenden‹ vermutet werden kann: Das Singende dort sagt. Vergleiche dazu z. B. den Vers: Ich ritt Gott in die Ferne – die Nähe, er sang im Gedicht BEI WEIN UND VERLORENHEIT (PCG 126). Das Singende d o r t markiert aber eine Distanz, die es zu überwinden gilt. Gott ist, wenn auch u. a. durch die Form des passivum divinum, in jeder Strophe dieses Gedichtes präsent. Den Gegensatz zu der Bibelstruktur bildet das Ausgesagte: Sie lobten nicht, wurden nicht weise, erfanden kein Lied. Über eine Assoziation des Verbs ›graben‹ findet die unmittelbar erlebte Zeitgeschichte Einzug in das Gedicht. Chalfen berichtet in der Jugendbiographie, Celan habe, befragt nach seiner Tätigkeit im Arbeitslager, geantwortet: »Schaufeln!«361 Das Graben, das in Verbindung mit dem Wurm auch als Gräber graben verstanden werden kann, schafft aber auch einen intertextuellen Eigenbezug zu Celans »Todesfuge«. Der Gedichtrhythmus zeichnet die stete grabende Bewegung nach. Das Graben ist mehrdeutig, kann in sich Graben, grübeln, nach Gott, bzw. sich auf Gott zu bewegen, oder einen realen Grabungsvorgang bezeichnen. Erinnert wird nebenbei auch das von Wolfgang Langhoff überlieferte Moorsoldaten-Lied der Gefangenen vom Börgermoor.362
360
361
362
Celan/Sachs. Briefwechsel (wie Anm. 190), S. 41. Notizen von Paul Celan: »26 mai: Hotel zum Storchen [–] 4h Nelly Sachs, allein. ›Ich bin ja gläubig‹. Als ich darauf sage, ich hoffte, bis zuletzt lästern zu können: ›Man weiß ja nicht, was gilt‹.« »Fragte man Paul während eines Urlaubs in der Stadt, was er im Lager mache, antwortete er lakonisch: ›Schaufeln!‹ Mehr wollte er nicht erzählen« (Chalfen, Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend [wie Anm. 164], S. 160). 1935 erstmals im Schweizer Exil gedruckt. Verfasst und komponiert von Schutzhäftlingen des staatlichen preußischen KZ I Börgermoor/Tapenburg. Zitiert aus: Wolfgang Langhoff: Die Moorsoldaten. 13 Monate Konzentrationslager. Zürich: Spiegel 1935, S. 190–193.
3.1 Die Suche nach Einheit in der Mystik – Chassidismus – ›Tikkun‹ BÖRGERMOORLIED Wohin auch das Auge blicket, Moor und Heide nur ringsum. Vogelsang uns nicht erquicket, Eichen stehen kahl und krumm. Wir sind die Moorsoldaten Und ziehen mit dem Spaten Ins Moor … Hier in dieser öden Heide Ist das Lager aufgebaut, Wo wir ferne jeder Freude Hinter Stacheldraht verstaut. Wir sind die Moorsoldaten Und ziehen mit dem Spaten Ins Moor … Morgens ziehen die Kolonnen In das Moor zur Arbeit hin. Graben bei dem Brand der Sonnen Doch zur Heimat steht der Sinn. Wir sind die Moorsoldaten Und ziehen mit dem Spaten Ins Moor … Heimwärts, heimwärts jeder sehnet, Zu den Eltern, Weib und Kind. Manche Brust ein Seufzer dehnet, Weil wir hier gefangen sind. Wir sind die Moorsoldaten Und ziehen mit dem Spaten Ins Moor … Auf und nieder geh’n die Posten, Keiner, keiner kann hindurch. Flucht wird nur das Leben kosten, Vierfach ist umzäunt die Burg. Wir sind die Moorsoldaten Und ziehen mit dem Spaten Ins Moor … Doch für uns gibt es kein Klagen, Ewig kann’s nicht Winter sein, Einmal werden froh wir sagen: Heimat, Du bist wieder mein! Dann ziehn die Moorsoldaten Nicht mehr mit dem Spaten Ins Moor! Dann ziehn die Moorsoldaten Nicht mehr mit dem Spaten Ins Moor!
105
106
3 Einung – Das Einen
In der trotz allem stattfindenden Bewegung aufeinander zu ist in Celans Gedicht ein Prinzip der jüdischen Mystik erkennbar, das Tikkun olam, die Wiedervereinigung Gottes mit seiner Schöpfung. Damit verbunden ist eine stete Bewegung zu Gott hin, Gott will und braucht das als ein zu rettender, an seiner Schöpfung leidender Gott. Daran erinnert die letzte Strophe – O du gräbst und ich grab und ich grab mich dir zu. Noch deutlicher wird dies in Celans Gedichten TENEBRAE (PCG 97) (Bete Herr. / Wir sind nah) und PSALM (PCG 132) (Dir zulieb wollen / wir blühn. / Dir / entgegen). Auch das Du ist an der Einungsbewegung interessiert. Augustinus formulierte, ›zu dir hin geschaffen‹ seien wir: »fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te.«363 O einer, o keiner, o niemand, o du entspricht einer vierfachen Gottesanrufung in chiastischer Stellung von absolutem Sein (ehjeh – ›ehjeh ascher ehjeh‹; Ich bin/werde sein, der ich bin/sein werde) und absolutem Nichts (’ajin), das in der jüdischen Mystik zusammenfällt.364 So könnte der Ort des Wohin das Nirgendhin, den geistigen Urraum (Tehiru), das Produkt des göttlichen Zimzum, darstellen. Es war Erde in ihnen inkludiert aus mystischer Sicht auch die göttlichen Funken im Menschen, die durch mystische Annäherung zu Gott zurückkehren. Hier erwacht am Finger der Ring als Zeichen des Bundes und der All-Einheit. Die Ringmetapher klärt sich durch eine Passage aus Margarete Susmans Aufsatz »Spinoza und das jüdische Weltgefühl«, aus dem von Celan zum Verständnis seiner Gedichte empfohlenen Sammelband Vom Judentum: Denn alle Liebe geht ursprünglich aus vom dualistischen Weltgefühl. Der Mittlergedanke ist der eigentliche Liebesgedanke der Menschheit, und das eigentliche Zeichen der Liebe ist das Symbol in seiner ursprünglichen Bedeutung: als die Vereinigung zweier getrennter Ringhälften. Alle Liebe ist Kraft zur Überwindung ewiger Lebensgegensätze, ist der Drang, der in den Gegensätzen selbst sich erzeugt, sobald sie sich als Teile eines gleichen Lebens empfinden und sich so ineinanderzufügen streben, daß sie selbst das Ganze werden. Aber nicht in einer Verschmelzung, einer Aufsaugung des einen durch das andere kann das dualistische Weltgefühl diese Einigung begreifen, sondern im Sinne eines sich ineinander Einfügens, eines Zusammenwachsens zu einem Ganzen, zu dem die Teile selbst sich angelegt fühlen im letzten Sinne als eine Vollendung des Weltganzen durch die Kraft des gereinigten, seine Stellung begreifenden menschlichen Willens. Sich zu schließen ist das Streben jedes Zwiespalts, der ein lebendiger ist, und so trägt jede dualistische Welterfassung den Drang zur Versöhnung der Welthälften in sich.365
363 364
365
Aurelius Augustinus: Confessiones (I,1). Hg. von Martinus Skutella. Stuttgart: Teubner 1969. Gershom Scholem: Der Sohar. II: Die theosophische Lehre des Sohar. In: Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen (wie Anm. 64), S. 224–266, S. 237. Margarete Susman: Spinoza und das jüdische Weltgefühl. In: Vom Judentum. Hg. vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag. Leipzig: Wolff 1913, S.
3.1 Die Suche nach Einheit in der Mystik – Chassidismus – ›Tikkun‹
107
Eine dialogische Spannung entsteht also zwischen dem Gedichttext und seinen verschiedenen Prätexten. Hier z. B. sagt der Prätext Bibel: »Lobe Gott!«, der Prätext Zeitgeschichte fragt: »Ist Gott in der Tat zu loben?«, während der Prätext der kabbalistischen Mystik dazu auffordert, Gott zu retten. Augustinus folgend, der in Celans Bibliothek vertreten ist, entspricht es der Aufgabe des Menschen, sich auf Gott zuzubewegen, während auch Gott einen Schritt der Annäherung tun muss. Es ist eine Bewegung aufeinander zu von beiden Seiten, und so heißt es – nach Augustinus überhaupt nicht häretisch – in TENEBRAE: Nah sind wir Herr, / nahe und greifbar. […] Bete, Herr, / bete zu uns, / wir sind nah. […] Bete, Herr. / Wir sind nah (PCG 97). Auch das Gedicht EINMAL zeichnet diese Bewegung: EINMAL, der Tod hatte Zulauf, verbargst du dich in mir (PCG 280), ebenso thematisiert MANDELNDE das Sich-Bergen im Anderen, denn das Schlusswort des Gedichts Hachnissini bedeutet ›Birg mich‹ bzw. ›Nimm mich in dich‹. MANDELNDE, die du nur halbsprachst, doch durchzittert vom Keim her, dich ließ ich warten, dich. Und war noch nicht entäugt, noch unverdornt im Gestirn des Lieds, das beginnt: Hachnissini. (PCG 359)366
Zu einer Einungsbewegung gehört aber wesentlich auch, die Zeit (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) als Einheit zu erkennen. Im Folgenden wird ein Gedicht behandelt, welches neben dem Graben in der Vergangenheit von dieser zeitlichen Verschränkung spricht, das Zachor, die Erinnerung als Gebot
366
51–70, S. 67 [Hervorhebung, I. F.]. Gerhart Baumann berichtet, dass ihm Celan als Weg zu seiner Dichtung den Sammelband Vom Judentum ans Herz legte. »Eine Stunde war kaum verstrichen, da nannte mir Celan als Weg zu seiner Dichtung Vom Judentum, – einen Sammelband, herausgegeben vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag (1913), – ein Buch, das sich auch in der Handbibliothek von Franz Kafka befunden hatte. Er maß diesem Hinweis derart hohe Bedeutung bei, daß er unverzüglich mit seiner klaren und großzügigen Schrift mir den Titel auf ein Blatt schrieb. Zugleich bezeichnete er damit den Weg seiner denkerischen Erfahrungen, – ein Weg, der ihn von Spinoza und Franz Brentano zu Edmund Husserl und schließlich zu Martin Heidegger führen sollte.« (Baumann, Erinnerungen an Paul Celan [wie Anm. 2], S. 28f.). Daneben ist das Wort Hachnissini ein Titelzitat und verweist auf Chaim Nachmann Bialiks gleichnamiges Lied.
108
3 Einung – Das Einen
aber noch nicht so deutlich fordert wie das im Anschluss daran besprochene Gedicht DU LIEGST.
3.1.2 BRUNNENGRÄBER Über Schöpfung durch das Wort in doppeltem Sinn wie auch das Be›greifen‹ der Realität durch das Graben im Wort – durchwegs in der handwerklichen Auffassung Heideggers367 – ist im Gedicht BRUNNENGRÄBER zu lesen. Der Zwölfmund des ›Brunnens‹ – des Wortes – öffnet sich in der Rückschau und dem Anbohren der erlebten Wirklichkeit. Folgt man der Philosophie Martin Heideggers, so steht das ›Wort‹ vor dem ›Ding an sich‹, das erst ›im Wort anwest‹: Das Sein durchmißt als es selbst seinen Bezirk, der dadurch bezirkt wird (τέμνειν, tempus), daß es im Wort west. Die Sprache ist der Bezirk (templum), d. h. das Haus des Seins. Das Wesen der Sprache erschöpft sich weder im Bedeuten, noch ist sie nur etwas Zeichenhaftes und Ziffernmäßiges. Weil die Sprache das Haus des Seins ist, deshalb gelangen wir so zu Seiendem, daß wir ständig durch dieses Haus gehen. Wenn wir zum Brunnen, wenn wir durch den Wald gehen, gehen wir schon immer durch das Wort ›Brunnen‹, durch das Wort ›Wald‹ hindurch, auch wenn wir diese Worte nicht aussprechen und nicht an Sprachliches denken. Vom Tempel des Seins her denkend, können wir vermuten, was diejenigen, die manchmal wagender sind als das Sein des Seienden, wagen. Sie wagen den Bezirk des Seins. Sie wagen die Sprache. Jegliches Seiende, die Gegenstände des Bewußtseins und die Dinge des Herzens, die sich durchsetzenden und die wagenderen Menschen, alle Wesen sind je nach ihrer Weise als seiende im Bezirk der Sprache. Darum ist, wenn irgendwo, allein in diesem Bezirk die Umkehr aus dem Bereich der Gegenstände und ihres Vorstellens in das Innerste des Herzraumes vollziehbar.368
Dies stellt dann die Kunst des ›Er-innerns‹ dar.369 In TÜBINGEN, JÄNNER – werden auf diese Weise, mit [z]ur Blindheit über-/redete[n] Augen [...], schwimmende Hölderlintürme erinnert. Das Gedicht BRUNNENGRÄBER vom 25.12.1967 jedoch gräbt das titelgebende erste Wort im Textverlauf um zum Celanschen Neologismus Gräber-/brunnen. BRUNNENGRÄBER im Wind: es wird einer die Bratsche spielen, tagabwärts, im Krug, es wird einer kopfstehn im Wort Genug, es wird einer kreuzbeinig hängen im Tor, bei der Winde.
(3)
(26)
Dies Jahr rauscht nicht hinüber, 367 368 369
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes [1935/36]. In: ders.: Holzwege. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1994, S. 1–74. Heidegger, Wozu Dichter? (wie Anm. 119), S. 310f. Vgl. ebd., S. 309.
109
3.1 Die Suche nach Einheit in der Mystik – Chassidismus – ›Tikkun‹ es stürzt den Dezember zurück, den November, es gräbt seine Wunden um, es öffnet sich dir, junger Gräberbrunnen, Zwölfmund.
(24)
(PCG 316)
Das Wort Brunnengräber kann sowohl den Plural von ›Brunnengrab‹370 als auch einen oder mehrere Arbeiter bei den Grabungsarbeiten für einen Brunnen bezeichnen. Daneben ist auch eine poetologische Lesart möglich, in welcher der Brunnengräber derjenige ist, der dem Wort auf den Grund gehen möchte, was in einer Untertagfahrt in das Bergwerk unternommen wird. In der Biologie werden Tiere entsprechend ihrem Bewegungstyp (Funktionsgestalt) u. a. als Gräber bezeichnet. Der Regenwurm ist z. B. ein Bohrgräber, der Maulwurf ein Schaufelgräber und der Mistkäfer ein Scharrgräber. Paul Celan hat in seiner Zeit im Arbeitslager die Reduzierung auf diese eine Funktion hin erlebt. In diesem Kontext betrachtet ist die weitere Entwicklung im Gedicht hin zum ›jungen Gräber‹ bemerkenswert. Bernhard Böschenstein liest Brunnengräber als Anrede an einen Brunnengräber, der so genannt wird, weil er, »das Gedenken auf die jüngste Vergangenheit richtend, den Quell der jüngsten Wunden aufbricht. So das Jahr zurückverfolgend, macht er aus ihm den »Gräberbrunnen«: die Umkehrung dieses Kompositums am Ende des Gedichts ist die Folge der Umkehrung des Jahres, die die Wunden zutage förderte.«371 Aus jüdisch-hebräischer Perspektive ist das Gedicht in der Wahl des Vokabulars sehr aufschlussreich: Das Wort ’ajin bezeichnet den sechzehnten Buchstaben im hebräischen Alphabet mit dem Zahlenwert 70; als Wort bedeutet ’ajin (mit der Quersumme 130) sowohl ›Auge‹, als auch ›Quelle‹. Friedrich Weinreb bezeichnet dies auch als »Quell, ein Brunnen mit lebendigem Wasser« und »Ausdruck für die Zeit, die aus dem Verborgenen quillt.«372 So gesehen versteht man auch die vielen biblischen Geschichten, in denen Brunnen vorkommen. Auch bei Heidegger ist davon auszugehen, dass er den Brunnen als Beispiel aufgrund der Assoziation des Lebenspendenen wählt. Die Verbindung zwischen Brunnen (Quelle) und der Zeit, auf die Weinreb hinweist, ist auch in diesem Gedicht höchst relevant, in dem ein Spiel mit Zeitstufen präsentiert wird. Das Wort Brunnengräber impliziert so, ausgehend 370
371 372
Vgl. PCG 819 (zum Gedicht BRUNNENARTIG); »›Brunnengräber‹ entspricht einer vollständigen deutschen Form von ›Pozzogräber‹ (zu ital. ›pozzo‹ für ›Brunnen‹).« Wiedemann folgt Lesenotizen und Markierungen Celans zum Wort ›Hockergrab‹ in: Friedrich Behn: Kultur der Urzeit, Bde I u. II. Berlin 1950 (Sammlung Göschen; 564–565). Böschenstein, Der späte Celan (wie Anm. 6), S. 399–411. Friedrich Weinreb: Die Symbolik der Bibelsprache. Einführung in die Struktur des Hebräischen. Zürich: Origo 1969, S. 19.
110
3 Einung – Das Einen
von mystischem Verständnis, das Graben nach dem ’ajin, der 13(0) – es ist der Versuch zu ›sehen‹. In der Zahlenmystik gilt die 13 als jene Zahl, die das Eintreten in die messianische Zeit markiert; denn sie geht über die 12, die eng mit unserer jetzigen Weltzeitstufe verbunden ist und diese in Zeiteinheiten (12 Monate = 1 Jahr, (2x)12 Stunden = 1 Tag) einteilt, hinaus. Doch dem jungen Brunnengräber öffnet sich nicht das Tor der messianischen Zeit, sondern die Zeit, konkreter das Jahr, stürzt zurück und es öffnet sich dem jungen Gräber der brunnen / Zwölfmund. Mund heißt hebräisch pe373 (Quersumme 13). Pe steht aber auch für den 17. Buchstaben im Alphabet, und verkörpert den Zahlenwert 80. Das Gegenstück zum Buchstaben ’ajin (70) ist hier der Buchstabe pe (80); symbolisch bedeutet das dieselbe Schwelle wie zwischen der 12 und der 13. Die Zahl 7 ist die mit unserer Welt verbundene Zahl, die 8 ist die messianische. Das Gedicht ist so symbolisch eingerahmt von den messianischen Zahlen, drückt eine Hoffnung, ein Drängen aus.374 Der Gedichtkorpus selbst aber ist in dieser Weltzeitstufe verankert, in der Jahreseinteilung in zwölf Verse, der Erwähnung der Monate und dem Zwölfmund. Was bleibt, ist der Übergang auf Buchstabenebene (peh folgt dem ’ajin im hebräischen Alefbet), möglicherweise das Ergebnis der Bemühung des Grabens375 – der Beginn mit dem ’ajin (70) und das Ende im sich öffnenden pe (80). Das Brunnenauge öffnet den Mund. Der Begriff ›Mystik‹ ist übrigens begriffsgeschichtlich etymologisch (griech. μύειν/mýein ›sich schließen‹) besonders auf Auge und Mund bezogen.376 AJIN ַעיִןspricht nicht. Es schaut nur. Es ist ein Auge ַעיִןAJIN. Schließe deine Augen. Öffne den Mund. Nun versuch zu sehen. Das ist der Klang des AJIN. […] AJIN mag ein Auge sein, das keinen Mund hat. Aber PE א ֵפist ein Mund, der keine Augen hat. Mund PE פֵא. Zuerst scheint alles, weil PE keine Augen hat, ganz einfach ְשט ָ פPESCHAT zu sein. Was auch immer dein Mund sagt ohne dahinter zu schauen. Aber nichts ist einfach. So wie alles unendlich viele Schichten und Widersprüche und Bedeutungen hat, so ist es mit dem PE. […] Für jedes einfache ְשט ָ פPESCHAT Wort in der Tora gibt es Hinweise und Geschichten und Geheimnisse und Anspielungen, die uns in sein schwieriges Geheimnis rufen. Der Weg zum PE-Mund windet sich zurück in sich selbst. So geschieht es mit diesem augenlosen Mund.377
373 374 375 376
377
Pe und resch werden traditionell als Amulettzeichen verwendet, die für ›Leben‹ stehen. In der zweiten Strophe, der ›Seherpassage‹, steht als Verheißung die heilige Zahl 26 (Wortanzahl dieser Strophe). Vgl. auch: ES WAR ERDE IN IHNEN, hier S. 101f. Vgl. Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd 5. Hg. von Hans Dieter Betz [u. a.]. Tübingen: Mohr (Siebeck) 2002, Sp. 1651. Lawrence Kushner: Sefer Otijot. Ein mystisches Alefbet. Das Buch der Buchstaben. Übersetzt von Mirjam Pressler. 2. Aufl. Eichenau: Kovar 1997, S. 54–59.
3.1 Die Suche nach Einheit in der Mystik – Chassidismus – ›Tikkun‹
111
Brunnengräber im Wind führt ein Gräberfeld bildhaft vor Augen, über das der Wind als Symbol für den Geschichtsfluss im ›Verwehen‹ der Zeit fährt, bzw. oder zugleich einen oder mehrere brunnengrabende Arbeiter im Wind, der Natur und/oder der Geschichte ausgesetzt. Auch der Doppelpunkt darf nicht übersehen werden. Er markiert eine neue Einheit, in diesem Fall steht er sehr früh und trennt das nun Folgende deutlich ab, sei es als Ausführung oder Erklärung. Es wird einer wird dreimal wiederholt und erinnert in Form und Gestus an eine Seheraussage. Möglicherweise wird in dieser dreizeiligen Strophe das ungeduldige Streben nach der messianischen Zeit ausgedrückt, deren Symbolzahl die 13(0) ist. Diese Sichtweise kann durch die Gesamtwortanzahl dieser Strophe gestützt werden, denn sie beträgt 26, die heilige Zahl 26, die Quersumme des Tetragrammatons, des heiligsten Gottesnamens. Es wird nun einer die Bratsche spielen, tagabwärts, im Krug. Im deutschsprachigen Raum ist Krug auch heute noch die gängige Bezeichnung für das Wirtshaus oder die Schenke eines Ortes. Gegen Ende des Tages, am Abend, wird dort einer Bratsche spielen. Die Wahl des Instrumentes ist zumindest ungewöhnlich – es würde, wenn schon ein Streichinstrument, doch eher die Geige erwartet werden. Die Bratsche ist die um eine Quint tiefer gefärbte Verwandte der Violine. Ihr dunkler Ton lässt im Wort tagabwärts ein ›Spiel‹ mit doppelter Bedeutung erkennen. Auch in Celans Todesfuge ist das Geigenspiel in Verbindung mit dem Tod gesetzt. Tagabwärts fährt einer nicht nur in die Brunnenbaugrube, sondern am Ende des Tages, des Jahres oder des Lebens auch ins (Brunnen-)Grab. Die Bratsche liefert den dunklen ›Ab‹-gesang. Der Krug ist dabei das Gefährt des Abwärts-Fahrenden, jenes Gefäß, das an der Winde in den Brunnen gelassen wird, möglicherweise um in mystischer Sicht in das Quellwasser, die neue Zeit, zu tauchen. Es wird einer kopfstehn im Wort Genug. Das Grimmsche Wörterbuch verzeichnet zum angesprochenen Wort so viele Einträge, dass man es beim Lesen gleich gebrauchen möchte: Genug! Genug kann »ausreichend, befriedigend viel«, aber auch »die Grenzen des Erträglichen erreichend« bezeichnen. Im Alten wie im Neuen Testament wird es in der Wendung »Es ist genug« im selben Situationszusammenhang gebraucht. Es drückt den Beschluss, die Einsicht eines Menschen aus, dass nun der Schritt in eine andere Welt zwingend notwendig geworden ist. Er selbst aber ging in die Wüste eine Tagereise weit und kam und ließ sich unter einem einzelnen Ginsterstrauch nieder. Da wünschte er sich, sterben zu können [Da wünschte er seiner Seele zu sterben], und sagte: Es ist genug. Nun, HERR, nimm mein Leben hin! Denn ich bin nicht besser als meine Väter. Dann legte er sich nieder und schlief unter dem einen Ginsterstrauch ein. Und siehe da, ein Engel rührte ihn an und sprach zu ihm: Steh auf, iß! (1. Könige 19,4–5)
112
3 Einung – Das Einen
Jesus in Gethsemane: Und er kommt zum dritten Mal und spricht zu ihnen: So schlaft denn fort und ruht aus! Es ist genug; die Stunde ist gekommen, siehe, der Sohn des Menschen wird in die Hände der Sünder überliefert. (Markus 14,41)378 [D]enn ich sage euch: daß noch dieses, was geschrieben steht, an mir erfüllt werden muß: ›Und er ist unter die Gesetzlosen gerechnet worden‹, denn auch das, was mich betrifft, hat eine Vollendung. Sie aber sprachen: Herr, siehe, hier sind zwei Schwerter. Er aber sprach zu ihnen: Es ist genug. (Lukas 22,37–38)
Gerhart Baumann, der mit Paul Celan den Isenheimer Altar besuchte, berichtet von dessen Reaktion auf den Anblick der Kreuzigung: »Schweren Schritts strebte Celan dem Kreuzgang zu, der Widerstand der schmerzlichen Stille war unerträglich geworden: ›Es ist genug!‹, äußerte er halblaut aber entschieden«.379 Man könnte nun folgern, dass in diesem Gedicht einer kopfüber durch den Brunnenschacht in eine neue Weltzeitstufe eintauchen möchte, dabei mit seinem Streben aber auf Widerstand stößt und zur Kenntnis nehmen muss, dass der Zeitpunkt des Schwellenübertritts nicht von ihm bestimmt wird. Kopfstehn bedeutet hier wohl ›auf etwas bestehen‹, etwas unbedingt erreichen wollen. Es wird einer kreuzbeinig hängen im Tor bei der Winde. In der Botanik kennt man die Winde als eines der Windengewächse (windende Kräuter, Sträucher). Gebräuchlicher ist das Wort in der Fördertechnik z. B. für die Speicherwinde. In heute vergessener Bedeutung steht ›Winde‹ (rotwelsch) nach Grimm auch für das Stadttor oder den Almosenschalter (häufig an Klostertoren). Im Gedichtzusammenhang erscheint zunächst eine Brunnenwinde am naheliegendsten, an welcher der Krug in den Brunnenschacht hinabgelassen wird.380 Sie stellt aber auch eine Verbindung zum ersten Vers her in der Korrespondenz von Wind und Winde.
378
379 380
Bibelzitate aus dem Neuen Testament erfolgen, wenn nicht anders erwähnt, aus: Scofield-Bibel. Revidierte Elberfelder Übersetzung. 4. Aufl. Wuppertal: Brockhaus 1997. Baumann, Erinnerungen an Paul Celan (wie Anm. 2), S. 48. Celan schrieb etliche Gedichte, in denen Brunnen eine Rolle spielen – die Bukowina bezeichnet er als »Brunnenland« – im Gedicht HAFEN (PCG 189f.) gibt es eine »Ziehbrunnenwinde« (V 66). In der Bibel sind auch ›Brunnen im Tor‹ zu finden, einige Tore führen auch zu Wasserzugängen: »Und David verspürte ein Verlangen und sagte: Wer gibt mir Wasser zu trinken aus der Zisterne von Bethlehem, die im Tor ist? Da drangen die drei Helden in das Heerlager der Philister ein und schöpften Wasser aus der Zisterne von Bethlehem, die im Tor ist, und nahmen ‹es mit› und brachten es David. Aber er wollte es nicht trinken, sondern goß es als Trankopfer für den HERRN aus.« (2. Samuel 23,15–16).
3.1 Die Suche nach Einheit in der Mystik – Chassidismus – ›Tikkun‹
113
Das Hängen im Tor bei der Winde könnte man dann als ein (Kopfüber-) Hängen in der Öffnung, im Auge des Brunnens verstehen, kreuzbeinig hängt man auch an einem Seil. Aber die Präposition bei zerstört diese Deutungsmöglichkeit. Der Gekreuzigte hingegen hängt mit überkreuzten Beinen am Kreuz. Und an dieser Stelle sei auf das Entstehungsdatum des Gedichtes hingewiesen. Es ist der 25.12.1967, der Christtag, an dem BRUNNENGRÄBER mit Blick auf den kommenden Jahreswechsel381 entsteht. Das Gedicht BRUNNENGRÄBER wäre dann eine Seherprophezeiung am Christtag, dem Tag nach der Geburtsnacht des Gotteslamms. Mund bezeichnet allgemein die Öffnung eines Schachtes. Ein sich öffnender Mund deutet aber auf eine Mitteilung hin. In diesem Gedicht öffnet sich im Tor, auf dem Weg in die Zukunft, aufgrund des Rührens an den Wunden, der Schlund der Vergangenheit. In der nächsten Strophe wird nun von »dies[em] Jahr« gesprochen, das nicht hinüberrauscht. Auch sind dem Gedicht Zahlen des Jahres eingeschrieben. Die Zahl zwölf erscheint in der Anzahl der Verse und wird im »Zwölfmund« direkt angesprochen. Die Zwölf bezeichnet ebenso die Unterteilung der Monate eines Jahres (zwei Monate werden namentlich genannt) wie auch den Beginn der Zwölfnächte mit dem Heiligen Abend, bekannter unter dem Namen Rauhnächte. Nach dem Volksglauben ist dies die Zeit, in der das Reich der Geister als auch das der Zukunft offen steht. Im ›Hinüberrauschen‹ ist das Überschreiten einer Schwelle (Jahreswechsel) ausgedrückt, das hier nicht stattfindet – rauscht nicht hinüber. Das ›Rauschen‹ steht in assoziativer Verbindung mit dem Wasser des Brunnens, dem Quell des Lebens, dem Fluss der Zeit – und der Bewegung zurück zur Quelle. In Korrespondenz mit der zweiten Strophe (3x: es wird einer) wiederholt sich das dreimalige anaphorische Es. Nur ist hier kein es wird mehr in Aussicht, sondern eine Reise in die unbewältigte Vergangenheit: es stürzt, es gräbt, es öffnet sich dir – der junge Gräber bzw. der junge Brunnen ist hier angesprochen. Im Gegensatz zur ersten Dreierpassage mit 26 Wörtern beträgt die Wortanzahl hier 17, die heilige Zahl steht der Celanschen Zweiflerzahl gegenüber.382 Der Zwölferzyklus läuft nun rückwärts – … stürzt den Dezember zurück, den November – entfernt sich von der Schwelle, anstatt sie zu überschreiten. Thomas Sparr glaubt in dieser Inversion jenes Prinzip der Verkehrung zu erkennen, das Celan von seiner Kafka-Lektüre übernommen habe.383 Dies Jahr […] gräbt seine Wunden um, die Wunden der gelebten Zeit. Eine Verbindung zwischen 381 382 383
Allerdings nicht nach dem jüdischen Kalender, wo der Jahreswechsel im September stattfindet. Zur Bedeutung der Zahl 17 siehe auch hier S. 129f. und S. 152. Sparr, Celan und Kafka (wie Anm. 246), S. 154. »Auf allen Ebenen konstituiert die Metaphorik dieses Textes sich durch die Umkehrung: des Tempus, der Symbolik des Kreuzes ebenso wie der Monatsfolge, der sprichwörtlichen Redewendung und des Titels.«
114
3 Einung – Das Einen
Celans Biographie und diesem Gedicht über die Tätigkeit des Grabens wurde oben bereits hergestellt. Ein weiterer Ansatzpunkt bietet sich hier, wo vom Graben und den Wunden der Vergangenheit die Rede ist. Im Zusammenhang mit den ›Brunnen‹ in diesem Gedicht sei erneut darauf hingewiesen, dass Celan die Bukowina, die Landschaft seiner Kindheit, als ›Brunnenland‹ bezeichnet hat. Das Umgraben der Wunden widerspricht auch dem sprichwörtlichen Heilen aller Wunden im Fortschreiten der Zeit. Die persönliche, individuelle Zeit löst sich von der äußerlich erlebten Zeit,384 sie bleibt gefangen und beginnt sich um seine Wunden zu drehen.385 Was sich dem jungen Gräber bzw. Brunnen öffnet, ist nicht einmal ein neues Jahr, ein frischer, neuer 12er Zyklus. Es öffnen sich dem jungen Gräber- [nach dem ’ajin] die Wunden der Vergangenheit, konkreter der brunnen, / Zwölfmund. In einer weiteren möglichen Lesevariante, welche die Aussage aber nicht verändert, öffnet sich dir (einem Du) der Zwölfmund des jungen (frisch ausgehobenen) Brunnens. In jedem Fall gelangt der ’Ajin-gräber am Ende zum Zwölf-pe.386 Ein Blick auf das Gedicht MANDORLA kann davon überzeugen, dass der hier aufgezeigten Konstruktion ein öfter angewandtes Verfahren zu Grunde liegt: […] Und dein Aug – wohin steht dein Auge? / Dein Aug steht der Mandel entgegen. / Dein Aug, dem Nichts stehts entgegen. / Es steht zum König. / So steht es und steht (PCG 142). Das Auge, Ajin, ist also die Zahl 70. Die Siebzig ist ein Zeichen der Vielheit, 70 Völker, 70 Sprachen nach dem Babel-Turmbau. Doch steht 70 immer der Eins, der Einheit gegenüber, ›entgegen‹: die eine Sprache Israels den 70 anderen, das eine Volk den 70 anderen. Das Auge steht der Eins ›entgegen‹, ›dem König‹, dem ›Nichts‹, das anstelle des unaussprechlichen GottesNamens, des ›Adonaj echad‹ (›Der Herr ist Einer‹, aus dem Höre Israel) steht. Noch mehr: ›echad‹, Einer, Aleph-Chet-Daleth geschrieben, in Zahlen 1-8-4, ergibt 13. Zählt man die Zahlenwerte von ›Ajin‹, Auge, zusammen, erhält man den sogenannten ›verborgenen Wert‹, und der ergibt 130, 13 auf höherer Ebene, genau wie beim Wort Sinai (= 130), dem Ort der Gottesbegegnung. […] ›Wohin steht dein Auge?‹ fragt Celan. Sieht es nur die 70, den ›äußeren Wert‹ des Sinn- und Sprachzerfalls? Nein, ›dem Nichts stehts entgegen‹, dem ›König‹, der Eins, jenem ›verborgenen Wert‹ der 130.387
384 385 386
387
Traumapatienten ›erleben‹ die traumaauslösenden Erlebnisse immer wieder gegenwärtig in sich. »Der Binsenweisheit nämlich, daß Zeit alle Wunden heile, widerspricht Celans ganzes Werk.« (Sparr, Celan und Kafka [wie Anm. 246], S. 154). Dass Celan in seiner Dichtung mit dem ’Ajin operiert, zeigt z. B. auch der Arbeitstitel von FRANKFURT, [AJIN,] SEPTEMBER und die im Gedicht enthaltene Verszeile Der Kehlkopfverschlußlaut [= das ’Ajin] singt. Schlesak, Die verborgene Partitur (wie Anm. 336), S. 337.
3.2 ›Zachor‹ – das Erinnerungsgebot des Judentums u. Er-innerung bei Heidegger 115
3.2
Zachor – das Erinnerungsgebot des Judentums und Er-innerung bei Martin Heidegger »der Daten eingedenk« (Paul Celan, Der Meridian)
Mnemosyne ist die Mutter der Musen in der griechischen Mythologie. Die Schriftkünste gehen, so Amir Eshel, »in der mythologischen Symbolik und in der Gedächtniskunst – die Mnemotechnik – aus der Fähigkeit hervor, sich zu erinnern«.388 Die Fähigkeit, sich zu erinnern, sei untrennbar mit der Fähigkeit verbunden, Sprachbilder (dichterisch) zu gestalten.389 Wenn ein Sprechen es schafft [alle] Ichs zusammenzufassen, so ist diese Sprache das Eigenste. Nur in einer einzigen Person können all diejenigen Ereignisse verknüpft werden, welche diese persönliche Sprache durchläuft. Eine solche vielschichtige eigene Sprache zeugt zugleich von Vergangenheit und von Gegenwart, da sie das Ich nach und mit all seinen Markierungen im Jetzt beschreibt, das Jetzt folgt aus allen Vergangenheiten. Die Dichtung bemüht sich darum. Celan bezieht das auch auf den Anderen, im Gedicht spricht auch die Zeit des Anderen mit, dessen Eigenstes: das Gedicht läßt ›das ihm, dem Anderen, Eigenste mitsprechen: dessen Zeit.‹ (Meridianrede […]) Die Zeit des Gedichts steht für das Eigenste des Selbst und ermöglicht eine Begegnung mit dem Selbst des Anderen.390
Gedächtnis ist ein Grundprinzip der Dichtung Celans, schon alleine aus einem Gefühl der Verpflichtung seiner ermordeten Familie gegenüber. Das Andenken erhält die Toten lebendig – Erinnerung dient dazu, die Vergangenheit in der Gegenwart zu verankern. In Celans Meridianrede ist von der Beziehung des Ich mit einem Du, dem Anderen, die Rede. Im Gedicht wird die Vereinigung des Eigensten des Anderen mit dem Eigensten des Ich in deren beider eigenster Zeit (dem jeweiligen Akut) angestrebt.391 In der traditionellen jüdischen Literatur wird die Engführung von Geschichte und Gegenwart im Talmudspruch zur Pessach-Haggada392 besonders deutlich: »In jeder einzelnen Generation ist ein Mensch verpflichtet, sich selbst so zu betrachten, als ob er aus Ägypten gezogen sei.«393 Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen hier in der Logik der Generationenverkettung. Der kategorische Imperativ Zachor – erinnere dich – erscheint an exponierter Stelle in der Heiligen Schrift in Verbindung mit der Herausführung des Gottesvolks aus der Knechtschaft in Ägypten. Es ergeht der Befehl der kontinuierlichen Erinnerung an dieses einschneidende Ereignis (das rettende Eingreifen Jahwes 388 389 390 391 392 393
Eshel, Zeit der Zäsur (wie Anm. 153), S. 4. Vgl. ebd., S. 5. Pajević, Zur Poetik Paul Celans (wie Anm. 158), S. 194. Celan, Der Meridian (wie Anm. 19), S. 9. Die Pessach-Haggada ist die traditionelle rituelle Erzählung zur Pessach-Feier. Mischna Pesachim 10,5; zit. nach Yerushalmi, Zachor: Erinnere Dich! (wie Anm. 51), S. 57.
116
3 Einung – Das Einen
in die Geschichte seines Volkes) über die Generationen, von Vater zu Sohn: Und du sollst ‹dies› deinem Sohn an jenem Tag so erklären: Es geschieht um deswillen, was der HERR für mich getan hat, als ich aus Ägypten zog. (2. Mose 13,8). Vater und Sohn bilden dabei ein unverzichtbares Glied in der Generationenkette, die ein persönliches Erleben der Schicksale des Volks in der Geschichte über die Lebensdauer des Einzelnen hinaus ermöglicht. Dem Patriarchat entsprechend zeichnete der Mann für die kontinuierliche Weitergabe der Geschichte verantwortlich. Auch etymologisch betrachtet ist das hebräische Wort Zachor über seine Wortwurzel, bestehend aus den Konsonanten sain, chaf und reijsch, eng verwandt mit dem Männlichen (sākar – sich erinnern, gedenken; sākār – Mann, männlich; sĕkûr – männlich seiend; sēkär – Gedenken, Erinnerung; sikkārôn – Andenken, Gedächtnis, Erinnerung).394 Nach Jan Assmann hat die Erinnerungskultur bei den Israeliten unter dem biblischen Imperativ »Bewahre und Gedenke!« eine neue Form erhalten: Den erstrangigen Stellenwert des Raumes in der Gedächtniskunst übernimmt in der Erinnerungskultur die Zeit. Es ist damit umso erklärlicher, daß der bedeutendste Unterschied zwischen dem hebräischen und dem griechischen Denken (und der Kultur) häufig in der hebräischen Tendenz zur Zeitlichkeit und der griechischen zur Räumlichkeit gesehen wurde. […] Mit der kleinsten kosmisch-zeitlichen Einheit, mit der Unterscheidung zwischen Licht und Dunkelheit, beginnt die biblische Darstellung der göttlichen Schöpfung. Das Licht entspricht dem Tag und die Dunkelheit der Nacht. Der Zustand des Tohuwabohus ist somit beendet, und eine neue temporale Ordnung entsteht: Die sechs Mal, die den sechs Tagen der Schöpfung entsprechen, kehren im ersten Kapitel der Genesis in der Form Wa’jhi erew, Wa’jhi boker, Da ward aus Abend und Morgen wieder. Am siebten Tag, am Sabbath, soll dann der Schöpfung gedacht werden. Der Grundzyklus hebräischen und später jüdischen Lebens, der im Ritus seinen nachhaltigen Niederschlag findet, kommt deutlich in dieser ersten Wocheneinheit zum Ausdruck: Die sechs Tage der Schöpfung entsprechen der Geschichte, der siebte dient der Reflexion durch Erinnerung.395
Amir Eshel weist auf das doppelte Verbrechen der Nationalsozialisten hin, die durch die massenhafte Ermordung der Juden neben der materiellen auch die geistige Geschichtserinnerung beinahe vollständig vernichtet hätten und damit das Zeugnis eines Volkes, das sich nicht nur als auserwähltes, sondern als Zeuge, als Erinnerungsträger begriffen habe, Zeuge eines Bündnisses, das bisher nicht durch das Erscheinen eines Messias vollendet worden sei.396 Denn für die biblischen Bündnisse notwendig ist ein Gedenken, ein Nicht-Vergessen der Bündnisbedingungen von Seiten beider Bündnispartner, also auch von Gott.397 Das Erinnerungsgebot wird auf unterschiedliche Weise befolgt, oft 394 395 396 397
Vgl. Eshel, Zeit der Zäsur (wie Anm. 153), S. 163. Ebd., S. 5 und S. 9. Ebd., S. 163f. Vgl. Psalm 44; Jeremia 2,1f.: »Und das Wort des HERRN geschah zu mir: Geh und rufe in die Ohren Jerusalems: So spricht der HERR: Ich erinnere mich – dir ‹zugute› – an die Treue deiner Jugendzeit, an die Liebe deiner Brautzeit, wie du hinter mir
3.2 ›Zachor‹ – das Erinnerungsgebot des Judentums u. Er-innerung bei Heidegger 117
auch ohne konkretes Bewusstsein, in der Verknüpfung der alten jüdischen Volksgeschichte, die in der Heiligen Schrift festgehalten ist, mit Ereignissen der neueren Zeitgeschichte sowie persönlichen Erfahrungen. Auch in der Lyrik geschieht dieser Bezug auf das kollektive Gedächtnisgut des Volkes oftmals über die Sprache und die Textzeugen der heiligen Schriften. In ihrer Begeisterung und Bemühung um die Sprache in ihren verschütteten und verborgenen Bedeutungen treffen einander Paul Celan und Martin Heidegger, die ein ansonsten eher kompliziertes Verhältnis verband. Beide waren fasziniert von den Arbeiten des jeweils anderen. Doch die nationalsozialistische Vergangenheit Heideggers, sein Schweigen zu den Gräueln des NaziRegimes, dem er als Rektor der Universität Freiburg u. a. mit einer eindeutig nationalsozialistischen Rektoratsrede gedient hatte, und die Zugehörigkeit Celans zur Opfergruppe der Juden schufen auf der menschlichen Seite eine unüberbrückbare Distanz. Celan verweigerte Fotos, auf denen sie miteinander abgebildet gewesen wären, denn er sah sich in dieser Konstellation wohl richtig als Vertreter des Judentums einem Vertreter der Tätergruppe gegenüber und wollte die Verantwortung für die symbolische Kraft eines solchen Bildes nicht tragen. Celan ging Heidegger aber auch nicht aus dem Weg, besuchte einmal sogar mit einem Freund Heidegger in dessen Hütte in Todtnauberg. Von diesem Besuch und der Hoffnung auf ein kommendes / Wort Heideggers, spricht das Gedicht TODTNAUBERG (PCG 282). Doch Heidegger verließ die schweigende Position Zeit seines Lebens nicht. Das ›Erinnern‹ Celans und das ›Er-innern‹ Heideggers präsentiert sich so sprachlich zwar ähnlich, ist aber völlig unterschiedlich motiviert. Das Etymologisieren wird zum Hauptcharakteristikum der Philosophie Heideggers. Er »gräbt aus einzelnen Silben, Wörtern oder Wendungen deren ursprünglichen, seit langem begrabenen oder verwitterten Bedeutungsreichtum aus« und »demonstriert, daß die Ausschließung dieser Bedeutung das Schicksal des abendländischen Denkens verändert und beschädigt hat, und zeigt, wie ihre Neuentdeckung, ihre buchstäbliche Wiedereinsetzung in aktive Strahlkraft, eine Erneuerung intellektueller und moralischer Möglichkeiten herbeiführen kann.«398 In seinen Überlegungen zu den »dürftigen Zeiten« Hölderlins bringt er die Dürftigkeit der Zeit mit dem Vergessen in Zusammenhang.399 Das Gedenken und das Vermögen, sich zu erin-
398 399
hergingst in der Wüste, im unbesäten Land«; und 5. Mose 8,18f.: »Sondern du sollst an den HERRN, deinen Gott denken, daß er es ist, der dir Kraft gibt, Vermögen zu schaffen; – damit er seinen Bund aufrechterhält, den er deinen Vätern geschworen hat, so wie ‹es› heute ‹ist›. Und es wird geschehen, wenn du je den HERRN, deinen Gott, vergißt […] ‹so› bezeuge ich heute gegen euch, daß ihr ganz gewiß umkommen werdet.« George Steiner: Martin Heidegger. Eine Einführung [1978]. Übersetzt von Martin Pfeiffer. München, Wien: Hanser 1989, S. 53. »Die Ortschaft, in die Hölderlin gekommen, ist eine Offenbarkeit des Seins, die selbst in das Geschick des Seins gehört und aus diesem her dem Dichter zugedacht wird. [–] Aber vielleicht ist diese Offenbarkeit des Seins innerhalb der vollendeten
118
3 Einung – Das Einen
nern, begrenzt die Ausmaße des Seins.400 Vergangenes muss in Erinnerung geborgen sein, um bestehen zu können: Das Schutzlossein […] [selbst] birgt. Denn es gibt seinem Wesen als Inneres und Unsichtbares den Wink für eine Umkehr der Abkehr gegen das Offene. Die Umkehrung weist in das Innere des Innen. Die Umkehrung des Bewußtseins ist deshalb eine Er-innerung der Immanenz der Gegenstände des Vorstellens in der Präsenz innerhalb des Herzraumes. […] Vielleicht muß sogar die Wendung unseres Schutzlosseins in das weltische Dasein innerhalb des Weltinnenraumes damit anheben, daß wir das Hinfällige und deshalb Vorläufige der gegenständigen Dinge aus dem Innen und Unsichtbaren des nur herstellenden Bewußtseins in das eigentliche Innere des Herzraumes wenden und dort unsichtbar erstehen lassen. […] Die Er-innerung wendet unser nur durchsetzend wollendes Wesen und seine Gegenstände in das innerste Unsichtbare des Herzraumes um. In diesem Inwendigen sind wir frei, außerhalb der Beziehungen auf die nur dem Anschein nach schützenden Gegenstände, die um uns gestellt sind. Im Inwendigen des Weltinnenraumes ist ein Sichersein außerhalb von Schutz. […] Doch, so fragen wir schon immer, wie kann diese Er-innerung des schon immanenten Gegenständigen des Bewußtseins in das Innerste des Herzens geschehen? Sie betrifft Inneres und Unsichtbares. Denn sowohl das, was er-innert wird, als auch das, wohin es er-innert wird, ist solchen Wesens. Die Erinnerung ist die Umkehr des Abschiedes zur Einkehr in den weitesten Umkreis des Offenen.401
In Celans Gedicht DU LIEGST wird über das historische Wortspiel hinaus auch (jüdische) Geschichte er-innert und in (jüdisches) Gedächtnis verwandelt.
3.2.1 DU LIEGST402 Das Gedicht DU LIEGST entstand in der Nacht vom 22. auf den 23. Dezember 1967 in Berlin. Weihnachten stand unmittelbar bevor und spätestens seit der Büchner-Preis-Rede Der Meridian von 1960 ist klar, dass Celan produktiv auf besondere Daten reagierte.403 Er sprach in dieser Rede von der Aufgabe und den Möglichkeiten der Kunst – von der Notwendigkeit der »Daten eingedenk« zu bleiben und bemerkt, dass jedem Gedicht sein »20. Jänner« eingeschrieben sei. Celan als Leser und Büchnerpreisträger nimmt hier Bezug auf jenes Da-
400
401 402
403
Metaphysik zugleich schon die äußerste Vergessenheit des Seins. Wie aber, wenn diese Vergessenheit das verborgene Wesen der Dürftigkeit des Dürftigen der Zeit wäre?« (Heidegger, Wozu Dichter? [wie Anm. 119], S. 273). »Nur wo Welt waltet, da ist Geschichte. Die Sprache ist ein Gut in einem ursprünglicheren Sinne. Sie steht dafür gut, das heißt: sie leistet Gewähr, daß der Mensch als geschichtlicher sein kann.« (Martin Heidegger: Hölderlin und das Wesen der Dichtung. In: ders.: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung [1937]. 4. Aufl. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1971, S. 33–48, S. 38). Heidegger, Wozu Dichter? (wie Anm. 119), S. 307ff. Eine Auslegung dieses Gedichts wurde in englischer Sprache bereits veröffentlicht. (Jewish History and Memory in Paul Celan’s DU LIEGST. Trans. by Elizabeth Catling. In: Studies in 20th & 21th Century Literature. Austrian Literature: Gender, History, and Memory. Ed. by Maria-Regina Kecht. 31 (2007) 1, S. 160–186. Vgl. Celan, Der Meridian (wie Anm. 19), S. 8.
3.2 ›Zachor‹ – das Erinnerungsgebot des Judentums u. Er-innerung bei Heidegger 119
tum, an dem Büchners Lenz »durchs Gebirg ging« – ein an der Welt Verzweifelnder, der versucht, sich selbst zu begegnen. Aber der Jude Celan spricht hier auch von seinem ganz persönlichen »20. Jänner«, dem Datum der Wannseekonferenz, bei der die sogenannte Endlösung der ›Judenfrage‹ beschlossen wurde. Vielleicht darf man sagen, daß jedem Gedicht sein ›20. Jänner‹ eingeschrieben bleibt? Vielleicht ist das Neue an den Gedichten, die heute geschrieben werden, gerade dies: daß hier am deutlichsten versucht wird, solcher Daten eingedenk zu bleiben? [–] Aber schreiben wir uns nicht alle von solchen Daten her? Und welchen Daten schreiben wir uns zu? Aber das Gedicht spricht ja! Es bleibt seiner Daten eingedenk, aber – es spricht. Gewiß, es spricht immer nur in seiner eigenen, allereigensten Sache. [–] Aber ich denke […] daß es von jeher zu den Hoffnungen des Gedichts gehört, […] gerade auf diese Weise in eines Anderen Sache zu sprechen – wer weiß, vielleicht in eines ganz Anderen Sache.404
Celan reagierte also mit einem Gedicht auf ein christliches Festdatum, in einer Lebensphase, in der er sich seiner Identität als Jude stark bewusst war, auch wenn diese Identität keine frei gewählte, sondern eine durch Geburt und zeitpolitische Umstände erzwungene war. Jean Firges wie auch der Germanist und Freund Celans Gerhart Baumann berichten davon, dass allen, die mit Celan zu tun hatten, dessen besondere Neigung zur Zahlenmystik aufgefallen sei. Sieht man sich die Zahlen des Gedichts DU LIEGST näher an, so erkennt man, dass diesem Gedicht sein spezifisches Datum, das Weihnachtsdatum, eingeschrieben ist. Bestimmt man nun die Wortanzahl von DU LIEGST, wie Theo Buck405 es getan hat, so erstaunt zunächst, dass dieses Gedicht eine vollständige Wortsymmetrie rund um die Mittelstrophe aufweisen kann. 60 Wörter verteilen sich in 5 Strophen folgendermaßen auf die 14 Verse des Gedichts: 7, 17, 12, 17, 7; wobei der erste Vers der Mittelstrophen jeweils 7 Wörter beinhaltet, während die beiden das Gedicht umrahmenden Strophen insgesamt 7 Wörter zählen. DU LIEGST im großen Gelausche, umbuscht, umflockt.
W/Z 5 2
Geh du zur Spree, geh zur Havel, geh zu den Fleischerhaken, zu den roten Äppelstaken aus Schweden –
7 4 4 2
W/St
W/T406
7 24 17
// 404 405
406
Ebd. [Hervorhebungen im Original]. Buck weist auf diese Wortsymmetrie zwar hin, geht aber nicht weiter auf die Zahlen des Gedichts ein. (Buck, Angstlandschaft Deutschland [wie Anm. 49], S. 156f.). Wörter/Zeile; Wörter/Strophe; Wörter/Teil.
120
3 Einung – Das Einen
Es kommt der Tisch mit den Gaben, er biegt um ein Eden –
7 5
12
Der Mann ward zum Sieb, die Frau mußte schwimmen, die Sau, für sich, für keinen, für jeden –
7 4 6
17
Der Landwehrkanal wird nicht rauschen. Nichts stockt.
5 1 1
24 7
(PCG 315)
Das Gedicht umfasst vierzehn Verse und hat zwischen dem siebten und dem achten Vers einen deutlichen Einschnitt. Die beiden Gedichtteile sind getrennt durch einen Positionswechsel – von der zweiten wird in die dritte Person gewechselt; die Trennung erfolgt weiters durch die unterschiedliche Verwendung von Zeitebenen: im unteren Teil finden drei Zeitstufen Verwendung, während der erste Teil durchgängig im Präsens gehalten ist. Das Gedicht lässt sich also in 2 x 7 Verse um eine gedachte Mittelachse einteilen. Die Zahl sieben spielt in Celans Lyrik eine bedeutende Rolle. Er nennt sie häufig in Gedichttexten selbst, aber sie taucht auch als Konstruktionszahl auf. Hier ist also die Setzung bestimmter Zahlenwerte zu beobachten, und es gibt, wie bereits gezeigt wurde, Zahlenspiele, die exakt komponiert sind. DU LIEGST, ursprünglich »Wintergedicht« betitelt und Peter Huchel gewidmet, lässt eine gewisse Nähe zu Huchels »Winterpsalm« (1962) vermuten, in dem von der Natur Zeugenschaft für die katastrophischen Ereignisse der Geschichte eingefordert wird und mit dem für die Hörenden ein eindringliches Klagelied ertönt. WINTERPSALM Da ich ging bei träger Kälte des Himmels Und ging hinab die Straße zum Fluß, Sah ich die Mulde im Schnee, Wo nachts der Wind Mit flacher Schulter gelegen. Seine gebrechliche Stimme, In den erstarrten Ästen oben, Stieß sich am Trugbild weißer Luft: »Alles Verscharrte blickt mich an. Soll ich es heben aus dem Staub Und zeigen dem Richter? Ich schweige. Ich will nicht Zeuge sein.« Sein Flüstern erlosch, Von keiner Flamme genährt.
3.2 ›Zachor‹ – das Erinnerungsgebot des Judentums u. Er-innerung bei Heidegger 121 Wohin du stürzt, o Seele, Nicht weiß es die Nacht. Denn da ist nichts Als vieler Wesen stumme Angst. Der Zeuge tritt hervor. Es ist das Licht. Ich stand auf der Brücke, Allein vor der trägen Kälte des Himmels. Atmet noch schwach, Durch die Kehle des Schilfrohrs, Der vereiste Fluß?407
Im Gedicht DU LIEGST überschneiden einander, indem es Orte des Verbrechens in Berlin (dem ›Anti-Eden‹) durch die Zeit besucht, Gedächtnis und Geschichte der jüdischen Tradition, was dem hebräischen Umgang mit Zeit entspricht. Amir Eshel beschreibt in Zeit der Zäsur. Jüdische Dichter im Angesicht der Shoah408 die Eigenart jüdischer Lyrik im Umgang mit Zeit: Hier würden durch einzelne Wörter, Syntagmen und ganze Sequenzen Ereignisse aus der Jahrtausende alten jüdischen Geschichte und Ereignisse des 20. Jahrhunderts enggeführt. Zeitliche Differenzen werden dabei radikal aufgehoben – temporal Getrenntes wird verschränkt – und es entsteht ein poetischer Raum des Zikaron – des Gedenkens. Blickt man biographisch vom Zeitpunkt des Berlin-Besuches zurück, so präsentieren sich die Jahre ab etwa 1965 für Celan als Zeit der intensiven Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition. In den Monaten vor seiner Israelreise 1969 schreibt Celan mehrere Gedichte, die die Generationenverkettung thematisieren. Die eigene Herkunft und die persönliche Identität innerhalb der großen (jüdischen) Geschichte wird untersucht. In dem Vatergedicht IN MEINEM ZERSCHOSSENEN KNIE (PCG 524) steht der ermordete Vater im Sohn, und in MEIN GISCHT heißt es (als Kryptozitat auf Richard Beer-Hofmanns Schlaflied für Mirjam):409 von deines Vaters Väter / Unruh und Stolz her, Sohn / wächst du, (PCG 509) während das Gedicht FÜR ERIC (PCG 331) mit dem Ausdruck des gemeinsamen Geborgenseins in der Generationenkette endet, indem Vater und Sohn in der ersten Person Plural vereint stehn. Die Suche nach einem Bezugsystem in der Tradition führt vielfach – nicht nur bei Celan – in die Tiefe der Mystik, denn oft ist das Einzige, was nach 407 408 409
Peter Huchel: Winterpsalm. In: ders.: Chausseen Chausseen. Gedichte. Frankfurt am Main: S. Fischer 1963, S. 80. Vgl. Eshel, Zeit der Zäsur (wie Anm. 153). Kryptozitat: Richard Beer-Hofmann Schlaflied für Mirjam (1897), letzte Strophe: »Schläfst du, Mirjam? – Mirjam, mein Kind, / Ufer nur sind wir, und tief in uns rinnt / Blut von Gewesenen – zu Kommenden rollts, / Blut unsrer Väter, voll Unruh und Stolz. / In uns sind Alle. Wer fühlt sich allein? / Du bist ihr Leben – ihr Leben ist dein – – / Mirjam, mein Leben, mein Kind – schlaf ein!« (Richard BeerHofmann: Schlaflied für Mirjam. In: ders.: Schlaflied für Mirjam. Lyrik und andere verstreute Texte. Hg., mit einem Nachwort und einem editorischen Anhang versehen von Michael Matthias Schardt. Oldenburg: Igel-Verl. Literatur 1998 [Große Richard Beer-Hofmann-Ausgabe; 1], S. 11f., S. 12).
122
3 Einung – Das Einen
einer Katastrophe bleibt, die Hoffnung auf einen Gott, der nicht eingreifen konnte. Die Vorstellung von einem unbeteiligten bzw. einem leidenden Gott wird sowohl im Chassidismus als auch in einigen kabbalistischen Schulen gepflegt. Grundsätzlich legt Celan in seiner Lyrik viel Wert auf Verben, die eine aufrechte Haltung veranschaulichen.410 ›Liegen‹ und ›großes Gelausche‹ impliziert damit ein Umgebensein in Geborgenheit oder Überwältigung durch das Gehörte. Die Zustandsbeschreibung Du liegst sollte an dieser Stelle vielleicht nicht zu wörtlich, sondern als bildhafter Ausdruck der Überwältigung durch eine das Ich umgebende Befehlsstimme aufgefasst werden, die dann in der zweiten Strophe auch für den Leser des Gedichts hörbar wird.411 Das große Gelausche erscheint zunächst als einfache Assoziation über den Umgang des Dichters mit der Wahrnehmung der Stimme Gottes in seiner Lyrik. Celan problematisiert nämlich die Möglichkeit der Aufnahme der göttlichen Stimme, z. B. in EIN DRÖHNEN (PCG 126) oder in BEI WEIN UND VERLORENHEIT (PCG 206). Nur der Prophet vermag die Stimme Gottes verstehend aufzunehmen.412 Das Du am Beginn des Gedichts DU LIEGST ist aber auch nicht zwingend mit dem Du der zweiten Strophe gleichzusetzen. Denkbar wäre sogar ein Bubersches emphatisches Du.413 Im Du am Beginn des Gedichts wäre dann also ein Gott angesprochen, welcher auf das Schreien seines unterdrückten Volkes, im Unterschied zum Wehklagen des Gottesvolks in Ägypten, hier in Berlin, dem Ort des Gedichts, nicht mit Taten reagiert.414 Die Entsendung geschähe dann im Zeichen des Gedenkens an die Opfer – wobei die Ortsangabe im Gedicht, das, zumindest aus jüdischer Sicht, ›Anti-Eden‹ Berlin, in bibelhebräischem Stil erfolgt, vergleichbar etwa (und nicht zufällig) mit der Begrenzung Edens über die Nennung der den Garten umgebenden Flüsse. Ein Busch und Flocken werden dem emphatischen DU zur Verfügung gestellt. Die dreimalige Aufforderung Geh du – geh – geh, erinnert denn auch als 410
411
412 413
414
Vgl. das »Stehen« in der Generationenkette im Text oben. Im Gedicht IN DEN SCHLAF, IN DEN STRAHL wird das Stehen aufgrund der Wichtigkeit, die ihm zugemessen wird, entsprechend einer häufig in der hebräischen Grammatik verwendeten Figura etymologica verdoppelt – »für erstandenes Stehn« (PCG 520f.). Vgl. im Unterschied dazu Hiob 37,14: »Nimm dieses zu Ohren, Hiob! Steh still und achte auf die Wundertaten Gottes!« als Beispiel für das Hören, Aufnehmen und Begreifen von den Wundertaten bzw. Rettungstaten Gottes als Geschichtshandlung an seinem Volk. Vgl. Offb. 1,15: »seine Stimme wie das Rauschen vieler Wasser«; sowie Moses am Berg Sinai – das Volk hört ein Donnern, Moses allein versteht. In Martin Bubers Schrift Das dialogische Prinzip ist das Verhältnis zwischen den Menschen als ein Ich-Du-Verhältnis gezeichnet, in welchem aber immer schon die Beziehung zu Gott als dem ganz anderen Du impliziert ist. (Vgl. Firges, Vom Osten gestreut, einzubringen im Westen [wie Anm. 28], S. 51f.). Man beachte auch die Verklammerung über Inhalt und Reimentsprechung mit der letzten Strophe.
3.2 ›Zachor‹ – das Erinnerungsgebot des Judentums u. Er-innerung bei Heidegger 123
Imperativ an die Entsendung des Propheten Moses (dem Schreiber Gottes) nach Ägypten, könnte aber auch als Cohortativ – als die im Hebräischen mögliche Verbform der emphatischen Selbstaufforderung gelesen werden. In diesem Fall würde das lyrische Ich über die Selbstaufforderung zum Aufsuchen der Stätte des Verbrechens (Berlin, und konkreter, Plötzensee, das Eden-Hotel, der Landwehrkanal) dem hebräischen Imperativ des Zachor gehorchend, der Entsendung des Propheten und der darauf folgenden Wundertaten Gottes, des Einschreiten Gottes in die Geschichte seines Volkes gedenken, aber zugleich mit der Parallelsetzung der Zeitgeschichte Zweifel am Bündnispartner erkennen lassen. Die erste Strophe ruft also über Signalwörter die Tora als Prätext auf, konkreter die Exodushandlung. Erinnert wird hier auf einer parallel laufenden Prätextebene des Gedichts der Herausführung des Gottesvolks aus der Knechtschaft in Ägypten. An dieser Stelle ergeht im kategorischen Imperativ der Befehl des Zachor – der kontinuierlichen Erinnerung an dieses einschneidende Ereignis – das rettende Eingreifen Jahwes in die Geschichte seines Volkes. Über den unregelmäßigen, aber doch vorhandenen Reim des Gedichts sind die erste und die letzte Strophe miteinander verbunden, zugleich existiert eine thematische Verbindung, denn über das Wort ›stockt‹ und die bildhafte Vorstellung eines rauschenden Wehres – rauschender Wasser (Rotes Meer) wird das Gedicht sozusagen alttestamentarisch umschlossen. Assoziiert wird der Gott des Alten Testaments, der für sein Volk streitet. Allerdings ergibt sich durch die Mittelachse hier, wie in vielen anderen Gedichten Celans, ein thematischer Bruch: so ist am Ende des Gedichts ein passiver Gott zu erkennen, der auf Terror und gewaltsame Tode scheinbar nicht mehr reagiert. Die Grundstimmung am Beginn des Gedichts hängt an der positiven oder negativen Konnotation des Wortes Gelausche. Das Grimmsche Wörterbuch ermöglicht verschiedene Auslegungen dieser Wortschöpfung je nach der Semantisierung von »lauschen«. Negativ bewertet stößt man dabei auf »die Lausche« als Ort des versteckten Lauschens. »Lauschen« in diesem Zusammenhang heißt, »wenn einer an künstlichen lücken in hecken oder zäunen auf die hasen paszte und diese da erschlug oder fieng.«415 Im Gedichtzusammenhang erscheint die Situationsbeschreibung des im Hinterhalt Liegenden, der in der Tat umbuscht und um diese Jahreszeit auch umflockt sein könnte, plausibel. Ein Wort aus der Jägersprache also, das man auch auffassen könnte als, ›versteckt auf etwas harren‹ – verständlicher vielleicht durch den Verweis Grimms auf eine beschränkte mundartliche Form416 von »lauschen« das lus sen (lû s zen ) mit der Bedeutung »ein ursach sůchen«.417 Die Geschichte des Wortes belegt eine allmählich immer positivere Bewertung des Verbs »lau415 416 417
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd 6. Bearb. von Dr. Moriz Heyne. Leipzig: Hirzel 1885, Sp. 354ff. Eine kaum bekannte Form hätte Celan sicher besonders angezogen. Grimm, Deutsches Wörterbuch. Bd 6 (wie Anm. 415), S. 354.
124
3 Einung – Das Einen
schen«,418 das aber als eine Mischform in Vergessenheit geratene Bedeutungen in sich vereint. Das heißt, es hat eine verschüttete, nahezu gegensätzliche Bedeutung, wie viele Wörter im Hebräischen durch die Wortwurzelverwandtschaft. Aus der Beobachtung des kreativen Umgangs Celans mit der deutschen und der hebräischen Sprache ist es wahrscheinlich, dass Celan mit verschiedenen Bedeutungsebenen eines Wortes spielt. Gelausche impliziert also mehrere mögliche Bedeutungen: das versteckte (zumindest nicht offen zur Schau getragene) »ursach-sůchen« (Nachforschung); das akustische Aufmerken (Wahrnehmung einer Sendung); und möglicherweise auch das ›Eingelullt-Sein‹ in der Verführung, dem Betrug, der Heuchelei (durch Religion, Politik und die deutsche Gesellschaft). Dem ›Prophetenschicksal‹ entspricht es, dass man sich gegen das (äußerliche und innerliche) Hören der göttlichen Stimme nicht wehren kann. Gott offenbart sich in Exodus419 als Gott der Geschichte und der Generationen.420 Die göttliche Offenbarung aber erfolgt aus dem Dornbusch (2. Mose 3,2) – Moses durfte nicht 418
419
420
Im Althochdeutschen auf ›hloskên‹ zurückzuführen, eine Weiterbildung von ›hlosên‹ (audire, auscultare), welches sich bis in das Mittelhochdeutsche und darüber hinaus als ›loschen‹ und ›luschen‹ fortsetzt. [›Loschen‹ bedeutet also mhd. hören (›lòsn‹ dialektal heute noch ›zuhören‹). Im Jiddischen bezeichnet ›Lòschn‹ die Sprache (hebr. laschon = Zunge/Sprache). Das Verb »lauschen« hat denn auch noch eine ganz andere Bedeutung, nämlich »lohen/flammen«. (Ebd., S. 356) [Flock(feuer) = schnell auflodernd]. Neben ›hloskên‹ besteht ahd. ›lûzên‹ (latere) mit ›betrügen‹, ›verführen‹, ›heucheln‹ zusammenhängend und im mhd. ›lûzen‹ – lauern fortgesetzt. »dieses im mhd. häufige wort rettet sich nur selten als lauszen in die nhd. ältere schriftsprache, […] vielmehr, da mhd. loschen und lûzen als sinnverwandt zusammen und eng verbunden gebraucht werden […] bildet sich aus den beiden wörtern eine mischform heraus.« [Ebd., S. 353] Seit dem 16. Jh. verbreitet sich das Wort ›lauschen‹ und hebt gleichzeitig seine Bedeutung. Seit dem 18. Jahrhundert wird es ausschließlich in der edlen und poetischen Sprache verwendet als Ausdruck des aufmerksamen akustischen Aufmerkens, wobei der »niedrige nebensinn des böswilligen aufmerkens« [Ebd., S. 355] verblasst. Vgl. u. a. 2. Mose 3,6; 2. Mose 3,14ff.: »Da sprach Gott zu Moses: Ich will sein, der ich sein will! [Ich bin, der ich bin / Ich werde sein, der ich sein werde] Und er sprach: So sollst du sprechen zu den Söhnen Israels: ›ICH-WILL-SEIN‹ hat gesandt mich zu euch! Und es sprach weiter Gott zu Mose: So sollst du sprechen zu den Söhnen Israels: JHWE, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, er hat mich gesandt zu euch! Das (ist) mein Name auf ewig und das (ist) mein Gedächtnis [meine Benennung] von Geschlecht (zu) Geschlecht. Geh hin […] Also will ich ausstrecken meine Hand, und ich will schlagen Ägypten mit allen meinen Wundern, die ich wirken werde in seiner Mitte, und danach wird er freien Lauf lassen euch.« (Das Alte Testament. Interlinearübersetzung. Hebräisch-Deutsch; hebr. Text nach der Biblia Hebraica Stuttgartensia [2. Aufl.] übersetzt von Rita Maria Steurer. Bd 1 Genesis – Deuteronomium. Neuhausen-Stuttgart: Hänssler 1989). Vgl. Yerushalmi, Zachor: Erinnere Dich! (wie Anm. 51), S. 21f.
3.2 ›Zachor‹ – das Erinnerungsgebot des Judentums u. Er-innerung bei Heidegger 125
sehen, seinen Auftrag nur hörend empfangen. Hören nimmt im Judentum eine bedeutendere Stellung ein als das trügerische Sehen (Bilderverbot) und rückt in enge Verbindung zum Vernehmen der göttlichen Stimme aus dem Dornbusch bzw. der das Volk in der Wüste schützend begleitenden Wolken- bzw. Feuersäule. Auch später dient die Wolke immer wieder als deutlich sichtbares Zeichen der Anwesenheit Gottes und visuellen Lokalisation der göttlichen Stimme. Denn von der akustischen Wahrnehmung ist man umgeben. Umgeben-, Umschlossensein lässt sich nun positiv als Geborgenheit interpretieren; das Liegen im Gelausche würde dann ›lauschig‹ assoziieren, oder sehr negativ als Gefangennahme, Bezwungensein. Ein Wort, das sich positiv als auch negativ lesen lässt, ist in der Lage die beiden ersten Verse in sich zu vereinen – ›Überwältigung‹.421 Das Gelausche bezieht sich über die Reimverbindung rauschen auf die im Gedicht erwähnten Gewässer. Allen voran der Landwehrkanal, aber auch zwei weitere Flüsse werden genannt: Geh du zur Spree, geh zur Havel, / geh zu den Fleischerhaken. Und erst hier erfolgt die örtliche Zuordnung des Gedichts in bibelhebräischem Stil. Verfolgt man die Idee, dass in diesem Gedicht des Exodus’ aus Ägypten gedacht wird, so lautet der Prätext an dieser Stelle: Geh du nach Ägypten … zum Pharao. Im Gedicht heißt es: Geh du zur Spree, geh zur Havel. Die Ortsangabe über die Eingrenzung des Gebietes mittels natürlicher Grenzzeichen wie Flüssen oder Meeren entspricht nach Thorleif Boman hebräischem Denken.422 Wenn Celan an dieser Stelle die Orte der Unterdrückung des Gottesvolks parallelisiert, dann ist anzunehmen, dass er die entsprechende Bibelstelle in hebräischer Sprache denkt, da er sie in jedem Fall, z. B. in der Vorbereitung auf die Bar Mizwa,423 in Hebräisch kennen gelernt hat, und es sei in diesem Zusammenhang auch noch einmal an seinen Brief an Nelly Sachs erinnert, in dem er davon spricht, in einem Gedicht über das Hebräische auf eine Bezeichnung gekommen zu sein.424 Das entsprechende Wort für Ägypten lautet mizrajim. Mizrajim ist im Hebräischen ein Dualwort, das die »Zweitheiligkeit Ägyptens« bezeichnet, »das durch den Nil in zwei Hälften geteilte 421
422 423 424
Psalm 139,1ff. repräsentiert diesen Zwiespalt der Überwältigung durch Gott in seinen gegensätzlichen Auslegungen: »HERR, du hast mich erforscht und erkannt. Du kennst mein Sitzen und mein Aufstehen, du verstehst mein Trachten von fern. Mein Wandeln und mein Liegen – du prüfst es. Mit allen meinen Wegen bist du vertraut. Denn das Wort ist ‹noch› nicht auf meiner Zunge – siehe, Herr, du weißt es genau. Von hinten und von vorn hast du mich umschlossen, du hast deine Hand auf mich gelegt. Zu wunderbar ist die Erkenntnis für mich, zu hoch: Ich vermag sie nicht zu erfassen. Wohin sollte ich gehen vor deinem Geist, wohin fliehen vor deinem Angesicht?« [Hervorhebung, I. F.]. Vgl. Boman, Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen (wie Anm. 143), S. 136ff. Bar mizwa bedeutet ›den Geboten verpflichtet‹, d. h. religionsmündig zu sein. Vgl. hier S. 46.
126
3 Einung – Das Einen
Land, bzw. das eingegrenzte Land«.425 Berlin wird im Gedicht durch die Nennung der ›Zweiheit‹ Spree und Havel ausgedrückt. Aus der Nähe betrachtet haben Ägypten und Berlin einige Gemeinsamkeiten: beides sind Orte der Unterdrückung des Gottesvolkes; Ägypten wird als Ort der Fleischtöpfe bezeichnet – Berlin von Celan durch Fleischerhaken näher bestimmt, beides sind Grenzräume, zweigeteilt und von außen umschlossen.426 Dem Wunsch des am Überlebendensyndrom Leidenden, etwas zur Vermeidung oder Linderung der Katastrophe am unterdrückten Volk Gottes getan zu haben bzw. getan haben zu können, sei es auch als mühsam zu überredender Prophet, würde eine Entsendung in das Berlin der Nazizeit entsprechen. Eine Sendung an die Stätte des historischen Verbrechens nach Plötzensee in Berlin heute, führt zu einer Gedächtnisstätte – d. h. die Sendung an die Gedenkstätte enthält die Aufforderung des Zachor – vergiss nicht! Dem biblischen Erinnerungsgebot gehorchend, begibt sich Celan mit seiner Berlinreise an Stätten des Verbrechens, lässt sie zu sich sprechen und verleiht ihnen eine Stimme. Die roten Äppelstaken / aus Schweden bringen nun mit dem Adventbrauch, dem Adventgesteck, das christliche Weihnachtsfest in das bis dato jüdische (Pessach-)Gedicht ein. Die Aufforderung, zu den roten Äppelstaken / aus Schweden zu gehen, d. h. auf den Weihnachtsmarkt, fordert eine Auseinandersetzung mit dem, der erwartet wird, heraus. Szondi berichtet, dass Celan diese »alles beherrschende Vorweihnachtsstimmung mit der verwunderten Empfänglichkeit dessen, der einem Volk angehört, das dieses Fest nicht kennt, und der seit Jahrzehnten in einem Land lebt, in dem es von keiner ›Stimmung‹ begleitet ist«,427 registrierte. Im Gedicht wird das Warten auf die Ankunft des Messias der Christen in Verbindung mit dem Verführungssymbol aus dem Garten Eden gebracht. In den ersten Notizen zum Gedicht stand sogar noch »Paradeiserl«.428 Das verdeutlicht die Sicht der Juden auf Jesus als falscher Messias, der weder die Erlösung bringt, noch die Endzeit einleitet. In Verbindung mit Eden ist der Apfel in jedem Fall auch als Symbol für die Sünde zu sehen. Verwirrung stiftet nun aber das Licht, welches über die Verbindung Eden und Äppel- auf Schweden fällt, denn Schweden war ja als wichtiges Exilland tatsächlich das ›Eden‹ der dänischen Juden in der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung. Schweden – [ein] Eden – für jeden –, wie es Marlies
425 426
427 428
Julius Fürst: Hebräisches und Chaldäisches Handwörterbuch über das Alte Testament. Leipzig 1876, S. 777f. Auch die einzige im Gedicht benannte Farbe ›Rot‹ steht semantisch, als Benennung der rötlichen Hautfarbe der Ägypter, mit diesem Wort, mizrajim, in Verbindung. (Vgl. ebd., S. 778). Szondi, Eden (wie Anm. 41), S. 392. Vgl. zur Textgenese: Paul Celan: Schneepart. Historisch-kritische Ausgabe. 10. Bd 2. Teil Apparat. Hg. von Rolf Bücher und Axel Gellhaus unter Mitarbeit von Andreas Lohr-Jasperneite. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 59–62.
3.2 ›Zachor‹ – das Erinnerungsgebot des Judentums u. Er-innerung bei Heidegger 127
Janz429 formuliert, ist also nicht nur aus sozialistischer Sicht, sondern auch in seiner Rolle als jüdisches Exilland zu bedenken. Der Tisch mit den Gaben430 zeigt deutlich auf das Weihnachtsfest. Es kommt impliziert aber auch das Warten auf ›das Kommen‹ des Erlösers. Christus, der Erlöser tilgt die Erbsünde und geht voran ins Paradies, das seit dem Sündenfall verschlossen war.431 Aber: ist Weihnachten als die Ankunft des Erlösers zu betrachten? Signifikant in diesem Zusammenhang ist, dass das eigentliche Geschenk Gottes, das Jesuskind, ersetzt wird durch das, was heute meist im Vordergrund des Weihnachtsfestes steht – der (Fest-)Tisch mit den Gaben.432 Von dieser Stelle des Gedichts an wird allen Hoffnungen und göttlichen Versprechen eine Absage erteilt. Dies geschieht durch die Engführung der biblischen Geschichte und den göttlichen Zusagen mit zeitgeschichtlichen Ereignissen – exemplarisch veranschaulicht an menschlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Die Suche nach dem Gott als Bündnispartner des jüdischen Volkes wie auch die Hoffnung der Christen auf das Paradies über ihren Messias, der ihnen vorangeht, wird zu einem negativen Ergebnis geführt. Der Gabentisch, der als Platzhalter des christlichen Messias gesetzt wurde, biegt um ein Eden – er führt nicht ins Paradies. Die Wörter Eden, Äppel-, Mann und Frau assoziieren dabei die Erbsünde. Der Mann und die Frau stehen exemplarisch für die Menschheit. Als Opfer ›für uns und für alle‹ ward 433 Jesus am Kreuz durchbohrt. Dem Glaubensbund biblischer Tradition entsprechend stirbt Christus jedoch für keinen, der nicht an ihn glaubt. Als Stellvertreter des 20. Jahrhunderts ist Karl Liebknecht ebenfalls einen Märtyrertod für den Sozialismus, an den er selbst bedingungslos glaubte, gestorben. Er wurde im Edenhotel erschossen, nach Zeugenaussagen »durchlöchert […] wie ein Sieb.«434 Die Frau, als exemplarisches Beispiel Rosa Luxemburg, die halbtot in den Landwehrkanal geworfen worden war; könnte auf einer anderen Ebene auch als Gegenpol zu Jesus, dem Mann und exemplarischen Vertreter der Christenheit, als die »Braut Israel« interpretiert werden. 429 430 431
432
433 434
Janz, Vom Engagement absoluter Poesie (wie Anm. 50), S. 194. In der Vorstufe H5 noch deutlicher – »Gabentisch«. Vgl. zur Textgenese: Celan, Schneepart. Historisch-kritische Ausgabe (wie Anm. 428), S. 60. »Und er [einer der Übeltäter, die mit Jesus gekreuzigt wurden] sprach: Jesus, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst! Und er sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.« (Lk. 23,42f.). Der »Tisch mit den Gaben« könnte auch als Eucharistietisch identifiziert werden, was aber nichts an der Tatsache ändert, dass der Tisch um ein Eden biegt. Die mögliche Lesart ›biegt-um‹, im Sinne von umbiegen, ›verändert‹ ein Eden, hat hier nicht weitergeführt. Das archaische Verb »ward« erinnert durch die Assoziation des alttestamentarischen Und es ward an die biblische Struktur des passivum divinum. Hannover-Drück/Hannover, Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht (wie Anm. 38), S. 99.
128
3 Einung – Das Einen
Da sie schwimmend durchs Wasser muss, ist sie, die »Sau« (für Israel: unreines Tier) anscheinend sündig geworden, denn Wasser gilt ab der Sintflut als Gericht Gottes. Der Bund mit Noah versprach von nun an den Verzicht auf die Vernichtung allen Fleisches durch Wasser als Strafe Gottes. Im Gegensatz dazu ergeht die göttliche Zusage: »Wenn du durchs Wasser gehst, ich bin bei dir, und durch Ströme, sie werden dich nicht überfluten« (Jesaja 43,2); und es wird metaphorisch über die Errettung aus tiefen Wassern berichtet: »Er griff aus der Höhe, erfaßte mich, zog mich heraus aus großen Wassern. Er rettete mich vor meinem starken Feind und vor meinen Hassern, denn sie waren mächtiger als ich« (Psalm 18,17f.). Es fällt auf, dass Wasser und Feinde oft gemeinsam auftreten, so z. B. auch in der Bitte: »Laß mich errettet werden von denen, die mich hassen, und aus den Wassertiefen« (Psalm 69,15). Die erste Plage in Verteidigung seines Volkes in Ägypten lässt Wasser zu Blut werden und die zurückkehrenden Wassermassen des Roten Meeres werden die feindlichen Ägypter unter sich begraben (vgl. 2. Mose 14,26ff.). Intertextuell verweist die letzte Strophe: Der Landwehrkanal wird nicht rauschen. / Nichts / stockt auch auf Georg Büchner. Barbara Wiedemann macht auf die Randanstreichung in Celans Ausgabe von Dantons Tod aufmerksam; Lucile spricht angesichts des drohenden schmerzhaften Verlustes: Der Strom des Lebens müßte stocken, wenn nur der eine Tropfen verschüttet würde. Die Erde müßte eine Wunde bekommen von dem Streich. [–] Es regt sich alles, die Uhren gehen, die Glocken schlagen, die Leute laufen, das Wasser rinnt, und so alles weiter bis da, dahin – nein, es darf nicht geschehen, nein, ich will mich auf den Boden setzen und schreien, daß erschrocken alles stehen bleibt, alles stockt, sich nichts mehr regt […] (PCG 833)435
Nach dem Befund von Lucile sollte alles stocken – aber in Wirklichkeit stockt eben nichts. Das Wasser sollte aufhören zu rinnen, sollte in seinem Lauf stocken – in der Tat läuft das Wasser des Landwehrkanals aber einfach weiter. Der Landwehrkanal wird – was in der geringen Fließgeschwindigkeit von Kanälen seine Ursache hat – nicht rauschen, möglicherweise selbst dann nicht, wenn ein Opfer der Gewalt in ihm zum Verschwinden gebracht werden soll. Der Landwehrkanal wird im Unterschied zum Roten Meer die Feinde des Gottesvolks nicht unter sich begraben – hier zeigt sich kein durch Taten einwirkender, kein für sein auserwähltes Volk streitender Gott. Die Erlösung aus der ägyptischen Knechtschaft geschah durch göttliches Eingreifen und verlangte von den Israeliten nur den Glauben an die Wirkung des vergossenen Blutes. Als die zwei größten Bündnisse der Bibel gelten der Bund mit Israel durch das Gesetz und der Neue Bund, ein reiner Gnadenbund durch Jesus Christus. Das Gedicht erteilt beiden Bündnissen eine Absage oder bringt ihnen zumindest große Zweifel entgegen. Der Bund mit dem Mann und der Frau in Eden ist durch die Sünde (Apfel) außer Kraft gesetzt, und die Erbschuld erst durch Jesus Christus am Kreuz gesühnt (natürlich nur aus christlicher Sicht). 435
[Hervorhebungen, I. F.].
3.2 ›Zachor‹ – das Erinnerungsgebot des Judentums u. Er-innerung bei Heidegger 129
Gott verzichtete mit dem Noah-Bund zwar auf die Vernichtung allen Fleisches – auf der anderen Seite steht die Shoah, die Vernichtung von 6 Millionen seines Volkes, die er zugelassen hat. Wenn also hier im Gedichtzusammenhang Nichts / stockt, dann verstockt der HERR nicht die Herzen der Feinde seines Volkes (biblisches Vokabular), die sich daraufhin zwischen die stockenden Wassermassen des Roten Meeres begeben und bei der Rückkehr derselben durch Gottes Einwirken selbst vernichtet werden. Im September des Jahres 1967 hatte Celan ein Gedicht geschrieben, in dem die Sieben in ihrer ganzen Sinnfülle enthalten ist: DIE MIR HINTERLASSNE.436 Der siebte Vers des Gedichts DU LIEGST lautet: Es kommt der Tisch mit den Gaben. Bringt er Erfüllung und Erlösung? Die Christenheit behauptet Ja; aber in Celans Gedicht heißt es gleich im Vers darauf: er biegt um ein Eden – er führt also nicht ins Paradies, was der jüdischen Sicht der Jesusgeschichte entspricht. Zieht man an dieser Stelle nun die Mittelachse und beginnt eine neue Zählung, so folgt nun der zweite Gedichtabschnitt mit sieben Versen. Der nächste siebte Vers, zugleich das Schlusswort des Gedichts, lautet: stockt. Die Sinnfülle der hebräischen Semantik lässt sich hier noch einmal gut am Verb šabat aufzeigen. Es kann u. a. die Bedeutungen ruhen, feiern, stocken, aufhören, eratmen haben.437 Am siebten Tag der Schöpfung und im Zusammenhang mit der wöchentlichen Arbeit bedeutet səbat ›ruhen‹. Im Alten Testament wird der Schabbat dem Gottesvolk in Exodus offenbart und wurde »allmählich als Tag jenseits der Grenzen historischer Zeit erlebt«.438 Auf der Ebene der Wortanzahl in Strophen und Versen scheint es so, als ob die Sieben hier in doppelter Funktion eingesetzt würde: als Symbol für den christlichen Messias und das Neue Testament wie auch als Symbol für die Bündnisbeziehung Gottes mit seinem auserwählten Volk.439 Wichtig für das Verständnis des Judentums ist, dass das Volk Israel in einem Bündnisverhältnis zu Gott steht. Nicht Glaube und Gnade, die zentralen Begriffe des Christentums führen zu Gott, sondern Loyalität und Gesetzestreue der Bündnispartner. Diese doppelte Funktion der Symbolzahl 7 kann man in der Gesamtzahl der Zeichen des Gedichts angedeutet finden, denn zu den 60 Wörtern gesellen sich genau 17 Interpunktionszeichen und man erhält so in Summe die gedoppelte Sieben – die 77. Bereits das Gedicht DIE MIR HINTERLASSNE lässt darauf schließen, dass die Gesamtwortanzahl in ihrer symbolischen Bedeutung sowohl als 17 als auch als 1 neben der 7 zu lesen ist, woraus sich, wie auch in diesem Gedicht, eine gewisse Spannung zwischen jüdischer und christlicher Tradition ergibt (1 – Monotheismus und 10 – Tora / 7 – Christus und das Neue Testament). Die diesbe436 437 438 439
Vgl. hier S. 83ff. Vgl. Das Alte Testament. Interlinearübersetzung (wie Anm. 419), S. XIV. Yerushalmi, Zachor: Erinnere Dich! (wie Anm. 51), S. 54. Zur symbolischen Bedeutung der Zahl 7 und ihrer Verwendung bei Celan vgl. hier S. 83ff.
130
3 Einung – Das Einen
zügliche Frage zwischen der 1 und der 7 ist also möglicherweise durch die 17 repräsentiert. Was offen bleibt, ist die dringende Frage, die dieses Gedicht stellt, die Frage der jüdischen Theologie nach der Shoah.
3.3
Einigkeit mit Hölderlin und Überführung der Einungsbewegung in Sprache
Celan hat seine Gedichte als ›Suche‹440 deklariert: mit dem Gedicht auf der Suche sein, in einem ›hiobähnlichen‹ Dialog. Der jüdischen Mystik gilt das Buch Hiob als jenes Dokument, das mit »seiner aufwühlenden Fragestellung an Gott« eine »ungeheure Unruhe«441 in die Welt gebracht habe. Die Kabbalisten begreifen diesen Text als Auseinandersetzung mit der Auffassung von Gut und Böse, deren Existenz auf »Problematiken in Gott selbst und seinen Wirkungsweisen«442 zurückgeführt wird. Die oftmals an jüdische Tradition und hebräische Strukturen angelehnte Sprache Celans und auch die Zahlensymbolik im Subtext der Gedichte lassen darauf schließen, dass diese Gedichte als Dialoge auch an Gott gerichtet sind – Otto Pöggeler berichtet, wie bereits erwähnt, Celan habe einige Male abwehrend von einem Gedicht gesagt, es sei kein Liebesgedicht, es meine Gott443 – eine Annäherung findet dabei auf verschiedenen Ebenen, in Schrift und Zahlen, statt. Allerdings trägt dieser Kommunikationsversuch den Riss des Zweifels, oft auch der Verzweiflung.444 Beda Allemann führt Celans »Widerstand dagegen, auf bestimmte Techniken des Machens von Gedichten festgelegt zu werden«, auf seinen Grundansatz zurück, »das Gedicht als eine leidenschaftliche Suche zu verstehen.« Es könne nicht Aufgabe der Wissenschaft sein, »eine Wirklichkeit nachträglich benennen und definieren zu wollen, die der Dichtung, auf die sie zuhielt, niemals Gegenstand einer poetischen Beschreibung, sondern das Ziel einer Suche war.«445 Die »Tatsache der Wirklichkeitssuche (nicht ihr Ziel)«446 müsse Voraussetzung sein, unter der interpretiert werde. 440 441 442 443 444
445 446
Vgl. Allemann, Das Gedicht und seine Wirklichkeit (wie Anm. 129), S. 268. Scholem, Sitra achra; Gut und Böse in der Kabbala (wie Anm. 80), S. 82. Ebd. Pöggeler, Spur des Worts (wie Anm. 59), S. 137; vgl. auch Koelle, Paul Celans pneumatisches Judentum (wie Anm. 4), S. 42. Vgl. ZÜRICH ZUM STORCHEN / (Für Nelly Sachs) / Vom Zuviel war die Rede, vom / Zuwenig. Von Du / und Aber-Du, von / der Trübung durch Helles, von / Jüdischem, von / deinem Gott. // Da- / von. / Am Tag einer Himmelfahrt, das / Münster stand drüben, es kam / mit einigem Gold übers Wasser. // Von deinem Gott war die Rede, ich sprach / gegen ihn, ich / ließ das Herz, das ich hatte, / hoffen: / auf / sein höchstes, umröcheltes, sein / haderndes Wort – // Dein Aug sah mir zu, sah hinweg, / dein Mund / sprach sich dem Aug zu, ich hörte: // Wir / wissen ja nicht, weißt du, / wir / wissen ja nicht, / was / gilt. (PCG 126f.). Allemann, Das Gedicht und seine Wirklichkeit (wie Anm. 129), S. 268. Ebd., S. 274.
3.3 Einigkeit mit Hölderlin und Überführung der Einungsbewegung in Sprache
131
Die Auffassung vom literarischen Text als Orientierungskonstruktion teilt Celan mit Günter Eich. Schriftsteller zu sein bedeutet für Eich »die Entscheidung, die Welt als Sprache zu sehen« und sich über das Schreiben in der Wirklichkeit, die das Schreiben erst konstituiert, zu orientieren.447 Das heißt, es werden in den Gedichten Celans permanent Fragen sichtbar, auf die keine Antworten gegeben werden und die auch in einer Interpretation nicht gegeben werden sollen. Das hiobsche Fragen, wie das Fragenstellen generell, ist Ausdruck der Wesensart des Judentums. So sind, dem jüdischen Umgang mit Paradoxa entsprechend, bei der Lektüre auch alle Semantisierungsmöglichkeiten, die das Gedicht bietet, anzuerkennen und nebeneinander zu stellen, da sie erst gemeinsam das Gedichtganze bilden. Die Autoritäten der Auslegung, die Rabbinen, können und dürfen einander widersprechen, weil jeder von seiner Auslegung weiß, daß sie niemals die allein und für immer gültige sein kann. Denn eine solche Auslegung könnte nur die Gottes selbst sein. […] Jede Auslegung bleibt an ihren Ausleger und seine Zeit gebunden, an Individuen in individuellen Lebenslagen. [–] Das bedeutet nicht, daß die Auslegungen nicht Verbindlichkeit gewinnen und so nicht zu einem Allgemeinen werden könnten.448
Im Sinne einer grundsätzlichen »Beunruhigung«, nicht aber einer »Bestätigung von Glaubenssätzen durch das geschriebene Wort«, nähere sich alles Geschriebene der Theologie, so Günter Eich: Jedes Wort würde einen Abglanz jenes magischen Zustandes bewahren, wo es mit dem gemeinten Gegenstand eins, wo es mit der Schöpfung identisch sei. Aus jener ursprünglichen Sprache könnten wir gleichsam immer nur recht und schlecht, nie aber vollkommen übersetzen. Dass der Dichter die Aufgabe habe, zu übersetzen, das sei das eigentlich Entscheidende des Schreibens, es sei zugleich das, was das Schreiben erschwere und vielleicht bisweilen unmöglich mache.449 Im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Gedicht DU SEI WIE DU (PCG 304f.) bemerkt Hans Dieter Schäfer, dass Celan im »Hinabtauchen zum Hebräischen« in Verbindung450 mit der Geschichte des Wortmaterials, deren Etymologie, die dem »›Grundwort‹ eine überzeitliche Aura«451 verleihen würde, diese Bewegung 447
448
449
450 451
Günter Eich: Der Schriftsteller vor der Realität [1956]. In: ders.: Gesammelte Werke IV. Vermischte Schriften. Hg. von Heinz F. Schafroth. Frankfurt am Main: Fischer 1973, S. 441f., S. 441. Werner Stegmaier: Das Gute inmitten des Bösen. Ethische Orientierung aus Zeichen in der jüdischen Tradition. In: Orientierung in Zeichen. Zeichen und Interpretation III. Hg. von Josef Simon. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 (stw; 1278), S. 107–138, S. 124f. und S. 122. Vgl. Günter Eich: Rede vor den Kriegsblinden [1953]. In: Über Günter Eich. Hg. von Susanne Müller-Hanpft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970 (edition suhrkamp; 402), S. 21–24, S. 23f. In einer Art von ›Gitterung‹, was eine Anspielung auf den Gedichtbandtitel Sprachgitter ist. Schäfer, Zur Spätphase des hermetischen Gedichts (wie Anm. 133), S. 161.
132
3 Einung – Das Einen
zurück zu einer adamischen Sprache vollzieht. Zur Idee einer adamischen Sprache schreibt Michel Foucault: In ihrer ursprünglichen Form, als sie den Menschen von Gott gegeben wurde, war die Sprache ein absolut sicheres und wahres Zeichen der Dinge, weil sie ihnen ähnelte. Die Namen waren auf dem von ihnen Bezeichneten deponiert […] durch die Form der Ähnlichkeit. Diese Transparenz wurde in Babel als Bestrafung für die Menschen zerstört. Die Sprachen wurden voneinander nur getrennt und wurden miteinander unvereinbar insoweit, als zunächst jene Ähnlichkeit mit den Dingen ausgelöscht wurde, die die erste raison d’être der Sprache war. Alle Sprachen, die wir kennen, sprechen wir jetzt nur auf dem Hintergrund der verlorenen Ähnlichkeit und in den Raum, den sie leer gelassen hat. Es gibt nur eine Sprache, die die Erinnerung daran nicht verloren hat, weil sie direkt vom ersten, jetzt vergessenen Wortschatz sich ableitet. Weil Gott nicht gewollt hat, daß die Bestrafung von Babel der Erinnerung der Menschen entgeht, weil diese Sprache dazu dienen mußte, die alte Verbindung Gottes mit seinem Volk zu erzählen, weil schließlich in dieser Sprache Gott sich an diejenigen gewandt hat, die auf ihn gehört haben. Das Hebräische trägt also wie aus Ruinen die Markierungen der ursprünglichen Bezeichnung. Und jene Worte, die Adam ausgesprochen hatte, indem er sie Tieren auferlegte, sind wenigstens teilweise geblieben und tragen mit sich in ihrer Mächtigkeit gewissermaßen ein Fragment stummen Wissens, die unbeweglichen Eigenschaften der Wesen. […] die anderen Sprachen haben diese radikalen Ähnlichkeiten verloren, die nur noch das Hebräische bewahrt, um zu zeigen, daß es einst Gott, Adam und den Tieren am Anfang der Erde gemeinsame Sprache war.452
Nach Schäfer war es »Ziel« der Dichtung Celans, »in der mystischen Klausur auch die Trennwand des Hebräischen zu durchbrechen und zur ›lingua Adamica‹ zurückzufinden, von der die Mystiker träumten und die im Paradies vor dem Sündenfall von Gott und den Menschen gemeinsam gesprochen wurde.«453 Ob dies tatsächlich Celans erklärtes »Ziel« war, sei dahingestellt – hier soll untersucht werden, wie weit Celan seine Sprachexperimente trieb und was diese für seine Dichtung bedeuten. Deutlich erkennbar ist in der Lyrik Celans ein Dialogversuch – und dieser nähert sich über hebräische Strukturen einer Sprache, welche über den Stil und ihren Umgang mit Gegensatzpaaren auf die hinter der Dichotomie stehende Einheit deutet. Wittgenstein bezeichnet den ›Stil‹ als Verweismöglichkeit auf Bereiche jenseits der Sprache: Wovon man nicht sprechen könne, darüber müsse man schweigen,454 aber über die Wahl des literarischen Stils bestehe die Möglichkeit, auf das Unsagbare hinter dem Sagbaren zu verweisen, denn der Stil markiere deren Grenze.455 Bedingung einer Sprache, die auf eine hinter 452 453 454 455
Foucault, Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 18), S. 67f. [Hervorhebung; I. F.]. Schäfer, Zur Spätphase des hermetischen Gedichts (wie Anm. 133), S. 161. Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung [1921]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 115 [6.57]. »In diesem Sinne ist die poetische Rede allegorisch: sie meint, indem sie Sagbares ausspricht, das Unaussprechliche [...] indem sie das Unsagbare von innen her durch das Sagbare begrenzt. Soll man aber dem Gesagten nicht nur die geradehin
3.3 Einigkeit mit Hölderlin und Überführung der Einungsbewegung in Sprache
133
allem stehende Einheit verweist, wäre so notwendigerweise die Überwindung von Gegensätzen, die in einer Gleichzeitigkeit vereint werden müssten. In der Dichtung Celans drückt sich dieser Versuch vielfach aus, findet in der Übernahme des Hölderlinschen ›Wahnsinnswortes‹ Pallaksch,456 dem Wort der Überwindung absoluter Gegensätze, aber seinen Höhepunkt. In ethischen Wertungen wird leicht vergessen, dass Gegensätze einander bedingen. In den gängigen Moralvorstellungen soll das Böse bezwungen werden und nur das Reine und Gute überbleiben. Die jüdische Ethik jedoch weiß, dass Gut und Böse eine Sache der Auslegung ist, einer immer neuen Auslegung. Die Theorie der lurianischen Kabbala geht davon aus, dass bei dem ›Bruch der Gefäße‹, dem Drama in der sefirothischen Welt, der der eigentliche Wendepunkt des theosophischen Prozesses ist, Elemente dieser sefirothischen Konfigurationen in den Sturz nach unten mitgerissen wurden. […] [So] brachen mit den Scherben der zerbrochenen Gefäße […] Funken des inneren Lichtes […] nach unten. Sie sind es, die nun auch in allen Sphären, über die das Böse Gewalt erlangt, noch leuchten und in merkwürdiger Zweideutigkeit es einerseits beleben, ihm seine Existenz und Wirkungsmacht garantieren, andererseits aber eben aus ihm herausgeholt werden sollen.«457
Selbst das Böse ist hier also zweideutig und beinhaltet ein zu rettendes Heiliges. Auch die Dichtung Celans verlangt danach, ganzheitlich begriffen zu werden. Die Arbeit am Tikkun bildet Celan sowohl inhaltlich als auch sprachlich in seinen Gedichten ab. In der späten Lyrik drückt sich das inhaltlich in Vereinigungsbestrebungen eines aufgrund der phallischen Attribute häufig männlich zu denkenden Ich und eines oft eindeutig weiblichen Du aus: KOMM, leg die Welt aus mit dir, / komm, laß mich euch zuschütten mit / allem Meinen, // Eins mit dir bin ich, / u n s zu erbeuten, // auch jetzt (PCG 361). Oder in FLIMMERBAUM: Offen lagst du mir vor […] meiner vor- / springenden Seele (PCG 137). Biographische Auslegungen verweisen an dieser Stelle auch häufig auf die Beziehung Celans zu Ilana Shmueli in Israel – das weibliche Du ist aber oft auch ebenso plausibel als Braut Israel identifizierbar. Die Vorstellung des Tikkun durch die leibliche Vereinigung ist in der Kabbala angelegt: Die jüdische Mystik […], die die sexuelle Askese nicht billigte und die in der Ehe keine Konzession an die Unvollkommenheit des Fleisches erblickte, hat dazu geführt, das Mysterium des Geschlechtlichen in Gott selbst zu finden. Also verwarfen die Kabbalisten die Askese und fuhren fort, die Ehe nicht als eine Konzession an die Schwäche des Fleisches anzusehen, sondern als eines der heiligsten Mysterien. So
456 457
ausgesprochene Botschaft zugleich und fernhin als An-deutung des Unaussprechlichen lesen können, so muß die Sprache, in der das Sagbare dargebracht ist, irgendwie über sich hinausweisen; und diese Selbsttranszendierung muß ihrerseits als etwas vom Leser Gefordertes verständlich sein.« (Manfred Frank: Wittgensteins Gang in die Dichtung. In: ders. und Gianfranco Soldati: Wittgenstein. Literat und Philosoph. Pfullingen: Neske 1989, S. 7–72, S. 28). Vgl. zum Pallaksch hier S. 143. Scholem, Sitra achra; Gut und Böse in der Kabbala (wie Anm. 80), S. 71f.
134
3 Einung – Das Einen
wurde jede wahre Ehe zu einer symbolischen Verwirklichung der Vereinigung Gottes und der Schechina. […] Die Kabbalisten deduzierten aus Genesis 4,1: ›Und Adam erkannte Eva, sein Weib‹, daß ›Erkennen‹ stets eine unio realisieren heißt, sei es die unio der Sophia (Chochma) und der Intelligenz (Bina) in den oberen Sefiroth, sei es die des Königs und der Schechina in den unteren.458
Aber auch in der Beschreibung eines Grabungsvorgangs, auf etwas oder jemanden zu, ist das Streben nach Vereinigung zu finden: O du gräbst und ich grab, und ich grab mich dir zu, / und am Finger erwacht uns der Ring.459 Dass die Lesbarkeit der Welt durch ihre Spaltung unmöglich ist, drückt z. B. das Gedicht UNLESBARKEIT dieser / Welt […] aus. Die Unlesbarkeit wird dabei auf den Umstand zurückgeführt, dass [a]lles doppelt sei.460 Das Vorhandensein einer Zäsur und die Unmöglichkeit, die Trennung bewusst zu überwinden, wird immer wieder thematisiert: DIE POLE / sind in uns, / unübersteigbar / im Wachen, / wir schlafen hinüber, vors Tor / des Erbarmens (PCG 362). Über die beschriebenen Zusammenführungen hinaus ist in Celans Dichtung aber der Versuch zu erkennen, das Tikkun auch sprachlich zu realisieren, indem in Dichotomien auf eine hinter der Trennung stehende Einheit gedeutet wird, auch gerade in der Konfrontation absoluter Widersprüche, oft in einem einzigen Wort – in einem der zahlreichen Celanschen neologistischen Komposita. Am eindrücklichsten ist dies im Gedicht TÜBINGEN, JÄNNER461 zu beobachten, in der bereits am Anfang des Kapitels erwähnten Übernahme eines bei Hölderlin angelegten Ideals. Celan nimmt Verse Hölderlins als Zitate auf und stellt sich ihnen: Viel hat von Morgen an, Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, Erfahren der Mensch; bald sind [wir] aber Gesang.462
Hölderlins Verse aus der Friedensfeier bestimmen Celans Gespräch im Gebirg. Aber Celan ist auch Heideggers Erläuterung zu dieser Stelle bekannt. Es ist also jeweils die Auslegung und Lesart Heideggers in die Lektüre Hölderlins miteinzubeziehen. Heideggers Erläuterung der Hölderlinschen Verse lautet also: Wir sind ein Gespräch, das bedeutet zugleich immer: wir sind ein Gespräch. Die Einheit eines Gesprächs besteht aber darin, daß jeweils im wesentlichen Wort das 458 459 460 461 462
Scholem, Der Sohar. II: Die theosophische Lehre des Sohar (wie Anm. 364), S. 256. PCG 125 [ES WAR ERDE IN IHNEN]. Vgl. hier S. 101f. Vgl. PCG 317 und hier S. 55. PCG 133 und hier S. 142f. Friedrich Hölderlin: Friedensfeier (V. 91–93). In: ders.: Gesänge II. Hg. von Dietrich E. Sattler. Basel [u. a.]: Stroemfeld/Roter Stern 2000 (Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Band 8), S. 640.
3.3 Einigkeit mit Hölderlin und Überführung der Einungsbewegung in Sprache
135
Eine und Selbe offenbar ist, worauf wir uns einigen, auf Grund dessen wir einig und so eigentlich wir selbst sind. Das Gespräch und seine Einheit trägt unser Dasein.463
Wie Friedrich Hölderlin schreibt Paul Celan eingedenk »einer ursprünglichen Ganzheit«464 und erkennt wie dieser zumindest in seiner poetischen Spätphase »die Vollkommenheit in der Differenz selbst«.465 Hölderlin denkt dabei Heraklit sowie Spinozas Philosophie der Immanenz weiter (»Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder«466), während Celan, Hölderlin zitierend, auch an der jüdischen Tradition orientiert bleibt. Die ›Zäsur‹, die die Differenz bewirkt, ist Zentrum des Gedichts ICH TRINK WEIN von 1969, das ein Zeugnis der Verbundenheit Celans mit Hölderlin darstellt.
3.3.1 ICH TRINK WEIN ICH TRINK WEIN aus zwei Gläsern und zackere an der Königszäsur wie Jener am Pindar, Gott gibt die Stimmgabel ab als einer der kleinen Gerechten, aus der Lostrommel fällt unser Deut. (PCG 363)
Das Verb zackern des Gedichts, vom mittelhochdeutschen ›zacker (zi achere/ze acker) gên‹,467 erinnert an das Schreiben Hofrat Gernings von 1805, in dem er von Hölderlin berichtet: »Hölderlin, der immer halb verrückt ist, zackert auch am Pindar« – was in Celans Exemplar mit dreifacher Anstreichung versehen ist.468 Und Wein spielt in Hölderlins Dichtung eine bedeutende Rolle: 463 464 465 466
467 468
Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung (wie Anm. 400), S. 39. Klaus Manger: Die Königszäsur. Zu Hölderlins Gegenwart in Celans Gedicht. In: Hölderlin Jahrbuch 23 (1982–83), S. 156–165, S. 164. Sieghild Bogumil: Celans Hölderlinlektüre im Gegenlicht des schlichten Wortes. In: Celan-Jahrbuch 1 (1987), S. 81–125, S. 91. Friedrich Hölderlin: Hyperion II. Hg. von Michael Knaupp und Dietrich E. Sattler. Basel [u. a.]: Stroemfeld/Roter Stern 1982 (Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe; 11), S. 782. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd 15. Hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Leipzig: Hirzel 1956, Sp. 16. »Wilhelm Michels Das Leben Friedrich Hölderlins [Wilhelm Michel: Das Leben Friedrich Hölderlins. Bremen 1940 und 1949], in dem Gernings Spott mitgeteilt wird, lag bei Celans Tod auf seinem Schreibtisch; angestrichen war Clemens Brentanos Bemerkung über Hölderlin gegenüber Philipp Otto Runge: »Manchmal wird
136
3 Einung – Das Einen
[Die Merkmale, die der Abgrund vermerkt,] sind für den Dichter die Spuren der entflohenen Götter. Diese Spur bringt nach Hölderlins Erfahrung Dionysos, der Weingott, den Gott-losen unter das Finstere ihrer Weltnacht hinab. Denn der Gott der Rebe verwahrt in dieser und in deren Frucht zugleich das wesenhafte Zueinander von Erde und Himmel als der Stätte des Brautfestes für Menschen und Götter. Nur im Bereich dieser Stätte können noch, wenn irgendwo, Spuren der entflohenen Götter für die gott-losen Menschen zurückbleiben. [Wozu Dichter in dürftiger Zeit?] Dichter sind die Sterblichen, die mit Ernst den Weingott singend, die Spur der entflohenen Götter spüren, auf deren Spur bleiben und so den verwandten Sterblichen den Weg spuren zur Wende.469
Neben dem Verweis auf Hölderlin durch die Worte ›zackern‹ und Pindar – Böschenstein nennt auch die Königszäsur470 – ist in diesem Gedicht über das Vokabular auch ein jüdischer Hintergrund erkennbar. Zudem ist es eines der (wenigen) Gedichte, in denen Gott als ein Subjekt des Gedichts direkt genannt wird. Die zwei Gläser deuten in dieser Lesart eine Trennung an und auf die Trennung der göttlichen Einheit hin. Ich trink Wein – die Menge ist hier wohl eher zweitrangig, hinter einer deutlich demonstrierten, und auf den ersten Blick ungewöhnlichen, Trennung – aus zwei Gläsern. Der Entstehungstag des Gedichts, der 29.11.1969, war ein Samstag, ein Schabbat. An einer Zäsur zu zackern, einer Trennlinie, bedeutet also zunächst möglicherweise die Scheidung des Festtags vom Alltag. Es ist die Königszäsur, an der das lyrische Ich ›zackert‹. Der Gott des Alten Testaments, der seinem Volk befahl den Schabbat zu heiligen, nennt sich König, melech. Wein aus zwei Gläsern zu trinken, bedeutet am Schabbat, zuerst den Kiddusch(Heiligungs)-Becher, also ein Glas zum Eingang, und dann den Hawdalah(Scheidungs)-Becher zum Ausgang des Feiertages rituell zu trinken. Auf den Dichter selbst bezogen, der jüdische Feste und Riten nicht pflegte, kann der Vers Ich trink Wein aus zwei Gläsern auch bedeuten: ›Ich lebe als Jude und deutscher Dichter471 in zwei Welten, bin in mir selbst gespalten und zackere an dieser Zäsur‹ – als Dichter erhoben zwar, aber eben auch an dieser Differenz ›zackernd‹. Dass Celan den Schabbat aber durchaus registrierte, zeigt das Schlusswort seines letzten Gedichts REBLEUTE.
469 470 471
dieser Genius dunkel und versinkt in den bitteren Brunnen seines Herzens…«. (Otto Pöggeler: Lyrik als Sprache unserer Zeit? In: ders.: Der Stein hinterm Aug. Studien zu Celans Gedichten. München: Frank 2000, S. 15–63, S. 58f.). Und vgl. zu den Anstreichungen PCG 875. Heidegger, Wozu Dichter? (wie Anm. 119), S. 271f. Vgl. Bernhard Böschenstein: Hölderlin und Celan. In: Hamacher/Menninghaus, Paul Celan (wie Anm. 2), S. 191–200. Nach Grimm ist ›trink‹ »lautmalend vom gesang der meise« zu verstehen, was im Kontext des Gedichtes auf den Dichter zurückverweist.
3.3 Einigkeit mit Hölderlin und Überführung der Einungsbewegung in Sprache
137
REBLEUTE graben die dunkelstündige Uhr um, Tiefe um Tiefe, du liest, es fordert der Unsichtbare den Wind in die Schranken, du liest, die Offenen tragen den Stein hinterm Aug, der erkennt dich, am Sabbath. (PCG 368)472
Eigentlich ist trink die Imperativform des Verbs473 – ›ich trink (ja)‹ könnte neben der dialektalen Kurzform auch bedeuten, dass einer Aufforderung nachgekommen wird. Das Trinken des Weins aus zwei Gläsern assoziiert aus grammatischer Sicht auch die selten gebrauchte Pluralform von Wein: Weine. Die Akkusativform hieße Weinen (z. B. das Trinken von kostbaren Weinen), und bezieht man das frühe Gedicht DIE WINZER mit in die Überlegungen ein, so ergibt sich eine inhaltliche Anknüpfung. In ICH TRINK WEIN wird an den Mund geführt, was in DIE WINZER gekeltert wurde: Sie herbsten den Wein ihrer Augen, / sie keltern alles Geweinte, auch dieses: / so will es die Nacht, […] Sie herbsten, sie keltern den Wein, / sie pressen die Zeit wie ihr Auge, / sie kellern das Sickernde ein, das Geweinte, / im Sonnengrab, das sie rüsten / mit nachtstarker Hand: auf daß ein Mund danach dürste, später – / ein Spätmund, ähnlich dem ihren: / Blindem entgegengekrümmt und gelähmt – […] (PCG 87f.)474
Bei den zwei Gläsern ist, nimmt man DIE WINZER als Prätext, nicht nur an Augen, sondern auch an die Gläser einer Sanduhr zu denken. Denn das Verrinnen der Zeit findet seine Entsprechung ebenfalls in dem früheren Gedicht – in diesen Wein ist auch Zeit gepresst. Wein, Jajin, gilt als heiliges Getränk, z. B. am Tisch der Weisheit, von ihr selbst gemischt, aber auch als Rauschmittel. Nicht gottgefällig, v. a. bei Priestern und Propheten, ist übermäßiges Trin472
473 474
Deutlich zu erkennen sind hier die Parallelen im Wortmaterial (Rebleute – Wein; du liest – Lesbarkeit; dunkelstündige Uhr – Uhr, Spaltstunde) mit UNLESBARKEIT DER WELT [vgl. hier S. 554]). Vgl. PCG 317 [DAS ANGEBROCHENE JAHR]. [Hervorhebungen; I. F.] Diese Form der Verbindung zwischen Gedichten ist eine Technik Celans, die z. B. an [S]ieben Rosen später … rauscht der Brunnen nachgewiesen wurde. Vgl. hier S. 87f.
138
3 Einung – Das Einen
ken, das zu lallender Rede, Auffassungs- und Übersetzungsschwierigkeiten führt, wie Jesaja 28 veranschaulicht:475 Und auch diese wanken vom Wein und taumeln vom Rauschtrank: Priester und Prophet wanken vom Rauschtrank, sind verwirrt vom Wein, taumeln vom Rauschtrank. Sie wanken beim Weissagen, torkeln beim Rechtsprechen. […] Wen will er Erkenntnis lehren und wem die Botschaft verständlich machen? ‹Kindern›, die von der Milch entwöhnt, die von den Brüsten abgesetzt sind? Denn ‹er sagt›: Zaw la zaw, zaw la zaw, kaw la kaw, kaw la kaw, hier ein wenig, da ein wenig! – Ja durch stammelnde Lippen und durch fremde Sprache wird er zu diesem Volk reden […] Und das Wort des HERRN für sie wird sein: zaw la zaw, zaw la zaw, kaw la kaw, kaw la kaw, hier ein wenig, da ein wenig; damit sie hingehen und rückwärts stürzen und zerschmettert werden, sich verstricken lassen und gefangen werden. […] Dann wird es lauter Schrecken sein, die Botschaft verständlich zu machen. […] Horcht auf und hört meine Stimme! Gebt acht und hört meine Rede! (Jes. 28,7.9-11.13.19.23)
Jener, der am Pindar ›zackert‹, versucht sich an einer Übersetzung. Das aus zwei Gläsern Wein trinkende Ich müht sich an der Spaltung des Königs bzw. der Trennung vom ihm ab. Jener ist als Dichter Hölderlin zu identifizieren, der versucht, Sinn, ausgedrückt in einer Sprache, in eine andere Sprache über-zusetzen. Die Propheten, deren Hauptaufgabe diese Übersetzungsleistung zwischen Gott und den Menschen ist, und der Wein als Rauschmittel, als Taumelwein im Zornesbecher Gottes, der die Menschen in ihr Unglück stolpern lässt, stehen in Jeremias 28 in unmittelbarem Zusammenhang. Es ist ein ›Lallen‹, das jene dann nur noch hervorbringen können, jenes Lallen, das im zweiten offensichtlichen Hölderlin-Gedicht Celans TÜBINGEN, JÄNNER476 seinen mimetischen Ausdruck findet. In ICH TRINK WEIN sollen auf diese Weise Verstehensschwierigkeiten und Schwierigkeiten mit der Übersetzung, dem Transport von Sinn, ausgedrückt werden. Jener Aufsatz Heideggers, mit dem das Celansche Gedicht in Bezug zu setzen ist, da einige Worte und Bilder darauf verweisen, stellt die Frage Hölderlins: Wozu Dichter in dürftiger Zeit? Heidegger argumentiert Hölderlins Dichtung folgend, dass es die Dichter, die Seher sind, die in den Abgrund reichen und dort einer Spur des Göttlichen oder aber des Heiligen folgend die Schutzlosigkeit in ein Bergen wenden: Wie soll das Schutzlossein bergen, wenn nur das Offene die Geborgenheit gewährt, das Schutzlossein jedoch im ständigen Abschied gegen das Offene steht? Das Schutzlossein kann nur dann bergen, wenn die Abkehr gegen das Offene umgekehrt wird, so daß es sich dem Offenen zu – und in dieses wendet. So ist das Schutzlossein als das umgekehrte das Bergende. Hier bedeutet bergen einmal, daß die Umkehrung
475
476
Die Verbindung zwischen dieser Bibelstelle und dem Gedicht stellt bereits SilkeMaria Weineck her. (Silke-Maria Weineck: Logos and Pallaksch. The Loss of Madness and the Survival of Poetry in Paul Celan’s »Tübingen, Jänner«. In: Orbis Litterarum 54 [1999], S. 262–275, S. 266). PCG 133, hier S. 142f.
3.3 Einigkeit mit Hölderlin und Überführung der Einungsbewegung in Sprache
139
des Abschiedes das Bergen vollzieht, zum andern, daß in gewisser Weise das Schutzlossein selbst ein Sichersein gewährt.477
Nach Gott als einer der kleinen Gerechten, dem Gott der Immanenz, ist das Leben einzustimmen, aber man muss den Kammerton auch vernehmen können. Töne wie Sprache müssen den Empfänger verständlich erreichen. Gott gibt die Stimmgabel ab / als … – ›Abgeben‹ kann hier vorerst als ›Übergeben‹, aber auch als ›Sein‹ interpretiert werden.478 Doch es heißt, und darauf wird durch die direkte Folge derselben Anlaute über eine Versgrenze hinweg hingewiesen: ab / als einer der kleinen Gerechten. Das heißt also, dass Gott die Stimmgabel nicht ganz aus der Hand gibt, sondern als einer der kleinen Gerechten unter diesen ist, also doch die Stimmung festlegt. Das drückt sich sprachlich im Gedicht so aus, dass alle Präpositionen auf A lauten, sich also deutlich vernehmbar auf den Stimmton bezogen zeigen. Die Stimmgabel besteht aus einem kurzen einheitlichen Teil, der sich in zwei Gabeln spaltet bzw. teilt – nach dieser Gabel wird die harmonische Stimmung aus einer Pluralität hergestellt, indem sich der einzelne am Klang der Gabel orientiert und Gleichheit oder Vereinigung im Klang mit ihr anstrebt. Wie in einer Partitur hat jeder seinen Platz, aber Gott ist nicht in dieser Partitur, er ist nicht die Partitur, sondern er ist, mit den Gerechten, die Grundstimmung des ganzen Systems. Es bleibt die Überlegung, dass die Erwähnung der Zweiheit in den zwei Gläsern von einer fehlenden Ganzheit her zu erklären ist – also dem zumindest ansatzweise Übergeben des Schicksals in die Hände ›kleinerer‹ Gerechter. Aus dieser Ganzheit, die das Rund der Trommel als Gegenpart der Stimmgabel bildlich verdeutlicht, fällt unser Deut in die nächste Verszeile bzw. unser Schicksal aus der geschlossenen Einheit heraus in die Gespaltenheit der Welt. Gott, der Eine, (über-)gibt die Stimmgabel (ab) als einer der 36 kleinen Gerechten. Aus der Lostrommel, der einen, der runden, fällt der Deut jedes Ein477
478
Heidegger interpretiert hier einen Rilke-Vers in: Wozu Dichter? (wie Anm. 119), S. 299. »Wie die Natur die Wesen überläßt / dem Wagnis ihrer dumpfen Lust und keins / besonders schützt in Scholle und Geäst: / so sind auch wir dem Urgrund unseres Seins / nicht weiter lieb; er wagt uns. Nur daß wir, / mehr noch als Pflanze oder Tier, / mit diesem Wagnis gehen; es wollen; manchmal auch / wagender sind (und nicht aus Eigennutz) / als selbst das Leben ist –, um einen Hauch / wagender …. Dies schafft uns, außerhalb von Schutz, / ein Sichersein, dort wo die Schwerkraft wirkt / der reinen Kräfte; was uns schließlich birgt / ist unser Schutzlossein und daß wir’s so / in’s Offne wandten, da wir’s drohen sahen, / um es, im weitsten Umkreis, irgendwo, / wo das Gesetz uns anrührt, zu bejahen.« (Rilke, Gedichte. 1910–1926 [wie Anm. 237], S. 324). Vgl. dazu auch Böschenstein, Hölderlin und Celan (wie Anm. 470), S. 196 (»Nun wird dieser jüdische Gott Celans zu einem ›der kleinen Gerechten‹, indem er ›die Stimmgabel‹ abgibt. ›Abgeben‹ heißt hier sowohl ›vorstellen‹ als auch ›weggeben‹. Die ›Stimmgabel‹ ist ihrer Form nach der heraklitischen Leier, dem heraklitischen Bogen verwandt, die Einheit und Unterschiedenheit zugleich ausdrücken«. [Hervorhebung, I. F.]).
140
3 Einung – Das Einen
zelnen und ist nun von der bergenden Trommel getrennt. Die Lostrommel des Gedichtes ist möglicherweise eine Anspielung an folgende Passage in Heideggers Wozu Dichter?: Den Grund des Seienden nennt man von Alters her das Sein. Das Verhältnis des gründenden Seins zum gegründeten Seienden […] besteht darin, daß das Sein jeweils das Seiende ›dem Wagnis überläßt‹. Das Sein läßt das Seiende in das Wagnis los. Dieses loswerfende Loslassen ist das eigentliche Wagen. Das Sein des Seienden ist dieses Verhältnis des Loswurfes zum Seienden. Das jeweils Seiende ist das Gewagte. Das Sein ist das Wagnis schlechthin. Es wagt uns, die Menschen.479
So betrachtet, könnten die zwei Gläser des Gedichts auch für Waagschalen stehen. Das Wort »Wage« bedeutet im Mittelalter noch soviel wie Gefahr. Das ist die Lage, in der etwas so oder so ausschlagen kann. Darum heißt das Gerät, das sich in der Weise bewegt, daß es so oder so sich neigt, die Wage. […] Wagen heißt: in den Gang des Spieles bringen, auf die Wage legen, in die Gefahr loslassen. Damit ist das Gewagte zwar ungeschützt, aber, weil es auf der Wage liegt, ist es vom Wagnis einbehalten. Es ist getragen. Es bleibt von seinem Grund her in diesem geborgen. […] Das Sein, das alles Seiende in der Wage hält, zieht so das Seiende stets an sich und auf sich zu, auf sich als die Mitte. Das Sein hält als das Wagnis alles Seiende als das Gewagte in diesem Bezug. Aber diese Mitte des anziehenden Bezuges zieht sich zugleich aus allem Seienden zurück. Dergestalt überläßt die Mitte das Seiende dem Wagen, als welches es gewagt ist. […] Indem das Wagnis das Gewagte loswirft, behält es dieses zugleich in der Wage. Das Wagnis läßt das Gewagte los, so zwar, daß es das Losgeworfene in nichts anderes losläßt als in einen Zug zur Mitte. Das Gewagte ist mit diesem Zug zur Mitte beliehen. Das Wagnis holt das Gewagte in diesem Zug je und je zu sich ein.480
Wozu also Dichter in dürftiger Zeit, in einer Zeit, die von der Zäsur bestimmt ist? Für das jüdische Volk bedeutet die Shoah die Zäsur der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, an die sich die Theodizee-Frage anschließt. Celan unterläuft mit seinem Gedicht die Sicherheit, das Gewisse, das Heideggers Bild zeichnet. Das Seiende ist bei Celan kein Losgeworfenes mehr, es 479
480
Heidegger, Wozu Dichter? (wie Anm. 119), S. 279. Im Verhältnis vom Sein zum Seienden liege, so George Steiner, eine Entwicklung des Denkens bei Heidegger. Hieß es in Was ist Metaphysik? (1934), »daß das Sein wohl west ohne das Seiende, daß niemals aber ein Seiendes ist ohne das Sein«, so werde dieser Kernsatz in der fünften Auflage des Buches einfach umgekehrt, nun west das Sein nie ohne das Seiende. Steiner erkennt in dieser Passage die durch die eingeschränkte Möglichkeit der Sprache gegebene »unbeabsichtigte Rückkehr zum Theologischen«. »Ersetzt man ›Sein‹ in allen Schlüsselpassagen durch ›Gott‹, so wird ihre Bedeutung klar. Ein ›Sein ohne Seiendes‹, wie es Heidegger postulieren muß, wenn er der Anti-Metaphysik und Anti-Theologie seiner Lehren treu bleiben soll, ist auf genau dieselbe Weise undenkbar und unsagbar, wie der deus absconditus, der unbewegte Erste Beweger des aristotelischen und augustinischen Transzendentalismus undenkbar und unsagbar ist.« (Steiner, Martin Heidegger [wie Anm. 398], S. 24f.). Heidegger, Wozu Dichter? (wie Anm. 119), S. 281f.
3.3 Einigkeit mit Hölderlin und Überführung der Einungsbewegung in Sprache
141
fällt aus der Lostrommel (Bruch, Riss), ohne zielgerichtet geworfen bzw. gewagt (gewogen) worden zu sein. Die zwei Gläser deuten eine Zweiheit und damit eine Trennung an, und über die Zäsur auf die Trennung der göttlichen Einheit in mehr als ein ›Gefäß‹ hin. Verstärkt wird die so assoziierte Sefirot-Thematik dann auch durch die exakt 10 Verse des Gedichts.481 Die Königszäsur stehe, so vermutet auch Böschenstein mit Verweis auf Scholem,482 für die Trennung zwischen Gott und den Menschen: Gershom Scholem belehrt uns darüber, daß die zehn Potenzen Gottes, die Sefiroth, als ›Kronen‹ aufgefaßt werden und daß der ›in der Offenbarung seiner Wirkungseinheit‹ sich darstellende männliche Aspekt Gottes anthropomorph als ›Antlitz des Königs‹ gefaßt und unterteilt wird. Alle höheren Sefiroth sind […] im ›Bild des Königs‹ zusammengefaßt. […] Der Weg führt vom ›Ungeschiednen‹ ins Geschiedene der einzelnen Namen, Scherben, Lose, die aus dem einst durchstimmten Ganzen herausgefallen und nun dem Zufall des deutungslosen Deuts […] ausgeliefert sind.483
Diese Trennung ist ein Prozess, der sich innerhalb der Sefirotwelten vollzieht. Angesprochen ist hier aber die Trennung des bereits immanenten Gottes von den Menschen, der transzendente Gott tritt nur unter einer notwendigen Zurücknahme seiner selbst in die Sefirotwelten ein. Dieser Gott der Immanenz verteilt und zerstreut sich,484 und die Welt besteht, so besagt es der Mythos, solange es 36 Gerechte in ihr gibt. Sie stehen für das Gute in der Welt und Gott übergibt sich ihnen und damit in ihnen weiter – aber er ist auch der Ton, auf den die Orchestrierung der Schöpfung eingestimmt ist. Der Schöpfer hat die Allmacht aufgegeben, indem er sich zurückgenommen hat, und auch seine Alleinheit, indem er sich in die Schöpfung verstreut hat – das Schicksal des einzelnen Geschöpfes gleicht dann dem Los in einer Lostrommel.485 Das Sphärische des Einens und dieses selber haben den Charakter des entbergenden Lichtens, innerhalb dessen Anwesendes anwesen kann. Darum nennt Parmenides (Frgm. VIII, 42) das έόν, das Anwesen des Anwesenden, die […] [wohlgerundete Kugel]. Diese wohlgerundete Kugel ist als das Sein des Seienden im Sinne des entbergend-lichtenden Einens zu denken. Dieses überall dergestalt Einende gibt den Anlaß, es die lichtende Kugelschale zu nennen, die als entbergende gerade nicht umgreift, sondern selbst lichtend in das Anwesen entläßt. Diese Kugel des Seins und 481 482
483 484 485
Zahl der Sefirot (Gefäße), vgl. dazu hier S. 20f. Scholem, Von der mystischen Gestalt der Gottheit (wie Anm. 80), S. 88 und S. 44ff.; bzw. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen (wie Anm. 64), S. 248. Böschenstein, Hölderlin und Celan (wie Anm. 470), S. 196 und S. 198. Gott, das lasen wir, ist / ein Teil und ein zweiter, zerstreuter (PCG 128f. und vgl. hier S. 56f.). »In ›Deut‹ [eine holländische Münze mit geringem Wert] ist freilich auch die ›Deutung‹ enthalten, die aber – durch die Nähe zu ›Deut‹ – ihre Bedeutung einzubüßen scheint.« (Böschenstein, Hölderlin und Celan [wie Anm. 470], S. 197).
142
3 Einung – Das Einen
ihr Sphärisches dürfen wir niemals gegenständlich vorstellen. Also ungegenständlich? Nein; das wäre eine bloße Ausflucht in eine Redensart. Zu denken ist das Sphärische aus dem Wesen des anfänglichen Seins im Sinne des entbergenden Anwesens.486
Das Ich trinkt aus zwei Gläsern, den Gefäßen der Waage und zackert an der Zäsur – eine Auspendelbewegung? Die Gegenbewegung der Trennung, das Einen, ist bereits im nachfolgenden Gedicht zu erkennen. Und erst hier wird deutlich, dass das ›Trinken aus zwei Gläsern‹ bereits eine Einungsbewegung darstellte: ES WIRD etwas sein, später, das füllt sich mit dir und hebt sich an einen Mund Aus dem zerscherbten Wahn steh ich auf und seh meiner Hand zu, wie sie den einen einzigen Kreis zieht (PCG 363f.)487
3.3.2 TÜBINGEN, JÄNNER TÜBINGEN, JÄNNER Zur Blindheit überredete Augen. Ihre – »ein Rätsel ist Reinentsprungenes« –, ihre Erinnerung an schwimmende Hölderlintürme, möwenumschwirrt. Besuche ertrunkener Schreiner bei diesen tauchenden Worten: Käme, käme ein Mensch, käme ein Mensch zur Welt, heute, mit 486 487
Heidegger, Wozu Dichter? (wie Anm. 119), S. 301. [Hervorhebungen, I. F.]. Das Gedicht hat in der Tat (sinnigerweise) keinen Schlusspunkt.
3.3 Einigkeit mit Hölderlin und Überführung der Einungsbewegung in Sprache
143
dem Lichtbart der Patriarchen: er dürfte, spräch er von dieser Zeit, er dürfte nur lallen und lallen, immer-, immerzuzu. (»Pallaksch. Pallaksch.«) (PCG 133)
Das »Pallaksch« ist ein sogenanntes ›Wahnsinnswort‹ Hölderlins, ein Neologismus, der nach Auskunft von Hölderlins Zeitgenossen sowohl als ›Ja‹ als auch ›Nein‹ zu verstehen war.488 Am 1961 entstandenen Gedicht TÜBINGEN, JÄNNER soll aufgezeigt werden, wie Celan diesen, in der Hölderlinforschung als ›Wahnsinnswort‹ deklarierten Neologismus als Höhepunkt eines Sprachversuchs setzt, der das Prinzip des ›Einen in sich selbst Unterschiednen‹ verkörpert, ein Ideal also, dem Hölderlin bereits im Hyperion folgt. Denn liest man den Hyperion und das darin behandelte Prinzip des Hen diapheron heauto, des ›Harmonischentgegengesetzten‹, so erkennt man dieses Prinzip im ›Pallaksch‹ als realisiert. TÜBINGEN, JÄNNER beginnt mit seinem Titel fest verankert in einem Ordnungssystem mit den Konstanten Raum und Zeit, durchläuft eine Entwicklung und endet im ›Wahnsinnswort‹. Was in der Forschung aber vordergründig als Abbildung des Lallens am Ende des Gedichts gelesen wurde, wird hier als immer stärkere Verdichtung und Überlappung von Sprache gesehen, die in der doppelten Nennung des semantisch in sich gedoppelten Wortes gipfelt. Bernhard Böschenstein bemerkt, dass Hölderlin in seinen Anmerkungen zum Oedipus489 die Reden des blinden Sehers Tiresias als ›Cäsur‹ bei Sophokles bezeichne.490 Bei Celan entspräche der Hölderlinschen ›Cäsur‹ das »Gegenwort«, die ›Atemwende‹ des Meridian.491 Sollte noch einmal ein blinder Seher auftreten, so müsste sich dieser, laut Sieghild Bogumil, »um die Rätselhaftigkeit erfahrbar zu machen, in einer neuen Form äußern«.492 Die 488
489
490 491 492
Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke. Hg. von Christoph Theodor Schwab. Stuttgart, Tübingen 1846; Bd 2, S. 324; zit. nach Götz Wienold: Paul Celans HölderlinWiderruf. In: Poetica 2 (1968), S. 216–228, S. 225. Friedrich Hölderlin: Anmerkungen zum Oedipus. In: ders.: Sophokles. Hg. von Michael Franz. Basel [u. a.]: Stroemfeld/Roter Stern 1988 (Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe; 16), S. 247–258. Böschenstein, Hölderlin und Celan (wie Anm. 470), S. 193. Vgl. auch Hölderlin, Anmerkungen zum Oedipus (wie Anm. 489), S. 251. Vgl. Böschenstein, Hölderlin und Celan (wie Anm. 470), S. 194. Bogumil, Celans Hölderlinlektüre im Gegenlicht des schlichten Wortes (wie Anm. 465), S. 96. Bogumil bemerkt, dass die Schreibweise sowohl Celans als auch Höl-
144
3 Einung – Das Einen
blinden Augen des Sehers sind nun Bestandteil des Gedichts TÜBINGEN, JÄNNER, das in der Tat zu einer neuen Art des Sprechens findet. So sind auch die Augen hier nicht etwa [von Schnee] geblendete,493 sondern zur Blindheit über-/redete, also mittels Sprache in den Zustand der Blindheit versetzte Augen.494 Kontrast zu den blinden Augen bildet der Lichtbart, der Helligkeit und auch Weisheit zu versprechen scheint. Er ruft die Patriarchen, die Stammesväter des Alten Testaments, und steht für Weisheit, Durchblick und Geist. Erwartet wird ein Wissender, der aber, dieser Zeit entsprechend, nur ›lallend‹ von ihr reden könnte oder dürfte. Der Geist dieser Zeit [ist] möwen-495/umschwirrt, umschattet, was sich dann auch auf die Deutlichkeit der Äußerungen auswirkt. So steht auch das Rätsel in Verbindung mit den Sehern, sprechen diese doch, wenn sie von ihren eingegebenen, also ›reinentsprungenen‹ Visionen berichten, für die Adressaten der Rede in schwer zu enträtselnden Bildern. Das ›Stammeln‹ ist traditionelles Kennzeichen derer, die nicht in Zungen sprechen, sondern im Geist.496 Im Gegensatz dazu steht der Titel des Gedichts: TÜBINGEN, JÄNNER. Er besteht aus einer Orts- und einer Zeitangabe497 und suggeriert zunächst eine Verankerung im Raster menschlicher Erkenntnis mit den beiden Achsen: Raum und (räumlich gedachte) Zeit. Der Seher, dem die sehenden Augen vorenthalten sind, ist prädestiniert für eine Wahrnehmung der anderen Art. Zur Blindheit über-/redete Augen räumen das Feld für eine besondere Wahrnehmungsbegabung, für ein ›Sehen‹ auf der zeitlichen anstatt der räumlichen Achse.498 Über die Struktur des Titels ergibt sich eine Verwandtschaft zu dem
493 494 495 496
497 498
derlins sich insofern decke, als beide die Sprache erschütterten, jedoch historisch bedingt mit »je unterschiedlichen Fremdbestimmungen ihrer sprachlichen Ausdrucksmittel« (Ebd., S. 85). ›Schnee‹ ist bei Celan eine Chiffre für die Shoah, während ›Jänner‹ in engem Zusammenhang mit der Wannseekonferenz zu lesen ist. Vgl. hier S. 145. Vgl. z. B. DEIN HINÜBERSEIN (mit Worten holt ich dich wieder), um zu ermessen, welche Macht Celan der Sprache zumisst. Vgl. hier S. 56f. Möwen sind Raubvögel. Vgl. auch Reinhard Zbikowski: »schwimmende Hölderlintürme«. Paul Celans Gedicht »Tübingen, Jänner« – diaphan. In: »Der glühende Leertext«. Annäherungen an Paul Celans Dichtung. Hg. von Otto Pöggeler und Christoph Jamme. München: Fink 1993, S. 185–211, S. 202 sowie 1. Korinther 14,1–2: »Fleißiget euch der geistlichen Gaben, am meisten aber, daß ihr weissagen möget! Denn der mit Zungen redet, der redet nicht den Menschen, sondern Gott; denn ihm hört niemand zu, im Geist aber redet er die Geheimnisse.« Dabei steht der Name eines deutschen Ortes neben der österreichischen Bezeichnung eines Monats. »Raum und Ausdehnung, seine [Gottes] Darstellungsweisen für uns, sind nicht seine einzigen Darstellungsweisen; sie vermögen nicht, den Umfang und die Kraft seiner gewaltigen Wesenheit zu erschöpfen. Gott ist nicht allein die Weltsubstanz mit den beiden Attributen, unter denen wir die Welt begreifen, sondern er ist die Substanz mit unendlichen Attributen, von denen unserem Erfassen nur zwei zu-
3.3 Einigkeit mit Hölderlin und Überführung der Einungsbewegung in Sprache
145
späteren Gedicht FRANKFURT, SEPTEMBER (PCG 221) und auch in diesem Gedicht trifft man auf ›Blindheit‹ in Kombination mit einem ›Lichtbart‹ (Blinde, licht- / bärtige Stellwand). Spezifische Spracharbeit zeigt TÜBINGEN, JÄNNER bereits in seinem Titel mit zwei Umlauten, wobei das gesamte Gedicht eine ungewöhnliche UmlautDichte aufweist [5 x ü, 6 x ä, 2 x ö].499 Das »Umlauten« erscheint bereits als Ausdruck für die Suche in der Sprache nach einem für diese Zeit geeigneten Ausdrucksmittel. Diese Suche wird im Pallaksch des Schlussverses zur Ruhe kommen. Beginnt TÜBINGEN, JÄNNER mit einer Orts- und Zeitbestimmung, endet es beim Tauchen zu den gelallten Worten im (»Pallaksch. Pallaksch.«), dem jede Bestimmung verweigernden Wort. Die Doppelung potenziert die Unbestimmbarkeit. Der Bezug der beiden einzelstehenden, rahmenden Verse aufeinander wird durch einen Blick auf das Strophenschema: 1 / (8+3) 11 / 11 / 1 deutlich. Das Pallaksch ist ein Neologismus Hölderlins, aus bestehendem Buchstabenschatz zwar, jedoch nicht dem Schema der gängigen Denk- oder Äußerungsweisen folgend, also ›rein Entsprungen‹. »[E]in / Rätsel ist Rein- / entsprungenes« und (»Pallaksch. Pallaksch.«) sind schon allein aufgrund der gemeinsamen Hervorhebung als Zitat in Verbindung zu sehen. Die mit Anführungszeichen versehenen Passagen des Gedichts sind aber nicht ohne weiteres als ausgewiesene Zitate aufzufassen, da sie, mit Celanschen Zeilenbrüchen oder Doppelungen versehen, verfremdet sind. Die erste Anlehnung an Hölderlin im Gedicht bietet sich als Seheraussage an; erinnert – im Sinne Heideggers – wird ein Bild, das nicht mit Augen, sondern in »Er-innerung«500 geschaut wird. Über das Hölderlinzitat ist auch Heidegger angesprochen, in seiner immer wieder am Beispiel Hölderlins demonstrierten Auseinandersetzung mit dem ›Wesen der Dichtung‹. Böschenstein ist der Auffassung, dass die Hölderlinhymne »Der Rhein«, der das Zitat entstammt, von Celan umgekehrt wird: »Statt wie ein Quell zu entspringen […] tauchen die Worte unter […], ist der Hölderlin von heute nur der das unverständliche Eigenwort ›Pallaksch‹ wiederholende«.501 Jedoch kann hier auch der Versuch eines Sprechens in einem ›in sich selbst Unterschiednen‹ beobachtbar sein. Im Tauchen nach der schwimmenden Bedeutung befindet sich der Text am ›Quell‹ einer neu gedachten Sprache, ausgelöst von und verkörpert in Hölderlins Idee des Pallaksch. Neben Tübingen als Ort der Krankheit Hölderlins, Jänner als Celansche Chiffre für das Datum der Wannseekonferenz und Pallaksch, dem angeblichen ›Wahnsinnswort‹ Hölderlins, als Vokabeln, die verschiedene Formen des Wahnsinns vertreten, steht der Turm für die Heimstätte des kranken Hölderlins
499 500 501
gänglich sind.« (Susman, Spinoza und das jüdische Weltgefühl [wie Anm. 365], S. 51–70, S. 56). Der Begriff ›Umlaut‹ geht auf Jacob Grimm zurück. Zur Er-innerung bei Heidegger vgl. Wozu Dichter? (wie Anm. 119), S. 307f. und hier S. 80 und S. 115ff. Böschenstein, Hölderlin und Celan (wie Anm. 470), S. 195.
146
3 Einung – Das Einen
sowie auch als Verkörperung eines spezifischen Wahns, denn der Turm zu Babel steht für den menschlichen Größenwahn. So ist bei der Formulierung schwimmende […]türme an die babylonische Sprachenverwirrung zu denken502 – steht doch Wasser biblisch für Gottesstrafe wie für das Urchaos, und auch in Hölderlins »Rhein« ist abschließend von der »uralte[n] Verwirrung« die Rede. Der Plural der Türme lässt sich insofern sprachbezogen deuten, als das Hölderlinsche Pallaksch ein in seiner Bedeutung ›schwimmender‹ (flatternder, möwen-/umschwirrter) Buchstabenturm ist. Die ›schwimmenden Türme‹ bedeuten also nicht zwingend Wasserspiegelungen, auch wenn z. B. der Zustand einer Flut denkbar wäre, wobei sich die ›ertrunkenen Schreiner‹ als – hölderlin-biographisch betrachtet – Bewohner des Erdgeschoßes, das Schreinerehepaar Zimmer, gut in dieses Bild fügen würden. Die Forschungsliteratur hat zwar darauf hingewiesen, dass mit dem Schreiner des Gedichts vielmehr der »Zeichner und Lithograph Johann Georg Schreiner« gemeint sei, der »Hölderlin im Turmzimmer 1823 und 1825/26« (PCG 681) besuchte und porträtierte, doch sollte auch hier der Plural nicht außer Acht gelassen werden. Robert André macht darauf aufmerksam, dass ein Schreiner dem Sinn der Bezeichnung nach Schreine herstellt, also Aufbewahrungsstätten von Heiligem. In seiner Beschäftigung mit Hölderlin bezeichnet Heidegger dessen Gedichte als »tempellose Schreine, worin das Gedichtete aufbewahrt ist«, und Celan notierte sich (1954) aus der Lektüre von Heideggers Was heißt Denken? in der Tat »tempelloser Schrein«.503 Schreiner sind im ursprünglichen Sinn des Wortes also Handwerker, die Schreine herstellen. Mitten im sprachbezogenen Aspekt der Bedeutung angekommen, stellt sich dann auch die Frage, ob diese Schreiner nicht im selben Sinn ertrunken sind, wie die Augen zur Blindheit überredet wurden. Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass das Gedichtwort Besuche die ›Suche‹ in sich birgt. Der Schreiner ist so auch als der ›Entberger‹504 der »tempellose[n] Schreine« eine Bezeichnung für den Dichter selbst. In seinem »Kunstwerkaufsatz« be502
503 504
Was allerdings verwirrt, ist die Setzung des Turms im Plural: Hier kann an den realen Hölderlinturm in der Vervielfältigung einer Wasserspiegelung des Neckar (kelt. ›wildes Wasser‹) gedacht werden, aber auch die Verbindung zum Turm von Babel liegt nahe, da davon auszugehen ist, daß dieses Gedicht Sprache und Bedeutung zentral thematisiert. Robert André nimmt an, »daß die Worte »Pallaksch. Pallaksch« onomatopoetisch das Eintauchen der Worte ins Wasser ›sagen‹.« (Robert André: Gespräche von Text zu Text. Celan – Heidegger – Hölderlin. Hamburg: Meiner 2001, S. 219f.); Silke-Maria Weineck liest im Pallaksch ein verstecktes Kaddisch. Dazu fehlen aber von den 4 Konsonanten des hebr. Wortes genau die Häfte (Weineck, Logos and Pallaksch [wie Anm. 475], S. 267). Hebräisch Pala bedeutet das Erfüllen eines Gelübdes. Palag bedeutet geteilt werden, spalten, furchen, was mir in diesem Zusammenhang plausibler als kaddisch erscheint, aber diese Überlegung ist müßig, fehlt zur Verbindung dem hebr. Wort doch der 4. Konsonant ( שSchin). André, Gespräche von Text zu Text (wie Anm. 502), S. 206. Vgl. Heidegger, Ursprung des Kunstwerkes (wie Anm. 367), S. 47.
3.3 Einigkeit mit Hölderlin und Überführung der Einungsbewegung in Sprache
147
zeichnet Heidegger das Denken als ein Handwerk,505 und das gelte auch für die Dichtung. Doch sind die Werke, die der Dichter schaffe und wofür dieser selbstverständlich handwerkliches Können vorweisen müsse, nicht von der handwerklichen Anfertigung her zu beurteilen. Handwerk und Kunst seien im Griechischen allein deshalb unter dem einen Begriff τέχνη [techne] zusammengefasst, weil die Griechen darunter das Wissen verstanden, Anwesendes entbergen und derart vernehmen lassen zu können.506 Das ›Reine‹, in enger Verbindung mit der zur Überredung mächtigen Sprache, bestärkt die Vermutung, dass es sich bei TÜBINGEN, JÄNNER um ein Gedicht handelt, das von der Möglichkeit von Sprache handelt. Reinhard Zbikowski erinnert daran, dass Heidegger in seiner Annäherung an das ›Sprechen der Sprache‹ Wert darauf legte, als Untersuchungsmaterial Gedichte zu verwenden, da sie rein Gesprochenes darstellten.507 Das »Rein-/entsprungene« in der Schreibweise Hölderlins, aber mit der Akzentverlagerung durch den Zeilenbruch Celans, ist also auch im Sinne Heideggers als Ursprung der Dichtung lesbar. Diese Lesart bestätigt die Vermutung, dass mit diesem Gedicht ein Versuch vorliegt, sich einer ursprünglichen, einheitlichen Sprache anzunähern. Durch das Zitieren der Rede zweier bekannter Wahnfiguren (neben Hölderlin auch Büchners Woyzeck s.u.) drückt sich in TÜBINGEN, JÄNNER, möglicherweise auch als Reaktion auf die aktuellen Plagiatsvorwürfe,508 ein Verrücktwerden an der Realität dieser Zeit und der des 20. Jänner aus. »In der äußersten Gränze des Leidens bestehet nemlich nichts mehr, als die Bedingungen der Zeit oder des Raums«,509 schreibt Hölderlin in den Anmerkungen zum Oedipus. In einer für Celan typischen Bearbeitung taucht der Wahnzustand Woyzecks: das immer zu, immer zu (im Sinne des ›immer darauf los‹), das Büchners Figur zum Mord treibt, in der Gestalt des immer, immer / zuzu auf. SilkeMaria Weineck510 bemerkt, das immerzu als Zitat sei bereits ein »Wahnsinnswort« – Woyzeck werde von der Erinnerung an dieses halluzinierend zum Mord an der Geliebten getrieben, »immer zu, immer zu« also im Sinne von immer drauf los (aufs Ziel). Aber das zuzu kann, wie das Pallaksch, dialektisch 505 506 507 508
509
510
Ebd., S. 3. Ebd., S. 46f. Vgl. Zbikowski, »schwimmende Hölderlintürme« (wie Anm. 496), S. 194. Das Gedicht entstand, als Celan tiefgetroffen von der schweren Plagiatsanschuldigung durch die Witwe Yvan Golls aus Deutschland zurückkehrte. Siehe dazu: Paul Celan – die Goll-Affäre. Dokumente zu einer ›Infamie‹. Hg. von Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000. Hölderlin, Anmerkungen zum Oedipus (wie Anm. 489), S. 258. Böschenstein berichtet, dass sich Celan aus Wolfgang Binders 1970 in Tübingen gehaltenen Vortrag Hölderlin und Sophokles nur den einen, Hölderlins Sophokles-Erläuterung resümierenden Satz notierte: » … in der äußersten Grenze des Leidens vergißt sich der Mensch.« (Böschenstein, Hölderlin und Celan [wie Anm. 470], S. 195). Weineck, Logos and Pallaksch (wie Anm. 475), S. 264.
148
3 Einung – Das Einen
gelesen werden, als ›in sich verschlossen‹ bzw. ›offen auf etwas/jemanden hin gerichtet‹ – bezeichnenderweise ist jedoch die Verszeile nach dem zuzu leer. Der spezifische Einsatz der ›Wahnsinnsworte‹ als Zitat verwandelt diese in Schlüsselwörter eines Celanschen Sprachcodes. Die Doppelungen im Gedicht verdichten sich zum Ende hin stark: Käme, / käme ein Mensch, / käme ein Mensch zur Welt […] er dürfte, / spräch er von dieser / Zeit, er / dürfte / nur lallen und lallen, / immer-, immer- / zuzu. // (»Pallaksch. Pallaksch.«) und es wird offensichtlich, dass hinter diesem Verfahren weit mehr als der mimetische Ausdruck des ›Lallens‹ steckt. Im Gedicht heißt es von einem Menschen, der heute mit dem Lichtbart der Patriarchen zur Welt käme, d. h. ein Stammesführer bzw. Oberster der Rechtsprechung, dass er nur lallen könnte, spräch er von dieser / Zeit. In Jesaja 28 und in Bezugnahme auf diese Stelle im Paulus-Brief an die Korinther ist von einer Gottesstrafe die Rede, in der das Gericht für die Betroffenen in unverständlicher Sprache, aber gewohnter Struktur, dem ›parallelismus membrorum‹, hervorgebracht wird.511 Die Doppelungen des Gedichts sind also Ausdruck des Lallens wie auch Versuch des Sprechens in einer Zeit, die einer neuen Sprache bedarf. Die Wertigkeit der Worte verschiebt sich wie die dialektische Semantisierung des Pallaksch. Ein typisch Celanscher Akkordaufbau: Käme / käme ein Mensch, / käme ein Mensch, zur Welt, heute, leitet das Lallen ein, gefolgt von einer einfachen Wiederholung er dürfte […] er dürfte. Die Wiederholungsbewegung wird nun in einem weiteren Dreischritt so stark verdichtet: nur lallen und lallen, (1 Wort + 1 Wort), immer-, immer- (1 Wort 2x), dass sie in einer Wortbildung bestehend aus zwei identen Wörtern kumuliert, zuzu, die wiederum mehrere Möglichkeiten der Semantisierung zulässt. Diese Passage der sich steigernden formalen wie semantischen Verdichtung ist damit abgeschlossen – doch darauf folgt das Geklammerte (»Pallaksch. Pallaksch.«) als Höhe- und Schlusspunkt des Gedichts und der Sprachsuche, das Ja und Nein oder beides verbindet, formal in der Wiederholung eines in sich gedoppelten Wortes. Was die Doppelungen betrifft, ist auch dem Aufbau des Gedichts Aufmerksamkeit zu schenken: Zbikowski zufolge markiert die zentrale Strophenfuge zwischen den Versen 12 und 13 eine Zäsur, die zugleich trenne und verbinde, Grenze und Übergang sei.512 Die Aufteilung der Wörter in den Gedichtteilen lautet demnach: 2/ (15+7) 22//(31+2) 33, zwei im Titel der ersten Strophe;513 die gedoppelte Zwei als 22 bis zum Doppelpunkt, einer typischen Celanschen Zäsur, abschließend die gedoppelte Drei: 33.
511 512 513
Vgl. hier S. 32f. und S. 103f. Zbikowski, »schwimmende Hölderlintürme« (wie Anm. 496), S. 188. »Die Unzulänglichkeit, Titelzeilen oder -worte nur im Sinne von Überschriften zu lesen, hat sich in verschiedenen Einzeluntersuchungen Celanscher Gedichte erwiesen.« (Ebd., Anmerkung 15, S. 209).
3.3 Einigkeit mit Hölderlin und Überführung der Einungsbewegung in Sprache
149
Paul Celans Dichtung sucht den Dialog und dieser drückt sich auch in einer Sprache aus, die über ihren Stil hinter eine vordergründige Trennung deutet. Das Konzept der Engführung von Dichotomien im Fall des semantisch ›gedoppelten‹ Wortes Pallaksch zeigt dabei den auf die Spitze getriebenen Versuch, nach dem Turmbau zu Babel eine Sprache der Einheit zu kreieren. Bedingung einer Sprache, die auf eine Einheit verweist, ist notwendigerweise die Überwindung von Dichotomien, die in einer Gleichzeitigkeit vereint werden müssen. In der Dichtung Celans erreicht dieser Versuch seinen Höhepunkt in der Übernahme des Hölderlinschen Pallaksch – jenem Wort der Überwindung absoluter Gegensätze: Sprich – / Doch scheide das Nein nicht vom Ja. / Gib deinem Spruch auch den Sinn: / gib ihm den Schatten. (PCG 85)514
514
SPRICH AUCH DU (2. Strophe).
Fazit
Im Mittelpunkt dieses Buches stand die Beschäftigung mit Gedichten Paul Celans, die ihre Hermetik vor dem Bild eines kabbalistischen Mythos – dem Bruch der Gefäße der lurianischen Kabbala – ein Stück weit öffnen. Die Gliederung des Buches folgt diesem Mythos in seinem charakteristischen Dreischritt von Einheit, Spaltung und Einung. Im Zentrum des ersten Teils stand so die Einheit des Gedichts, dem von Celan sogar eine beseelte Persönlichkeit zugeschrieben wird und das in der Lage ist, den Celanschen Sprach- und Fachpluralimus zu tragen. Trotz der Leistung und Fähigkeit der Celanschen Gedichtsprache bleibt stets die Begrenztheit der Sprache selbst ein wichtiges Thema in den Gedichten. Problematisiert wird durch die Präsenz dieser außerordentlichen Lyrik auch die Beschränktheit der Aufnahmefähigkeit. Nach Babel (Babel bedeutet ›Verwirrung‹) haben die Menschen verlernt, dem anderen verstehend zuzuhören. Die Babylonische Sprachenverwirrung bedeutet nämlich nicht, dass die Menschen nun unterschiedliche Sprachen im Sinne von Fremdsprachen gesprochen hätten, sondern lediglich den Verlust der Fähigkeit, den anderen in der ›eigenen‹ Sprache zu verstehen.515 Die hebräische Sprache gilt allerdings als jene, die der ursprünglichen Sprache am nächsten sei – die jüdische Tradition bestärkt dieses Einheitsgefühl in der Besinnung auf das eine (Gottes-)Volk516 und der Verbindung mit dem wahren Einen gemäß des Bündnisversprechens.517 Der Bruch der göttlichen Einheit bei der Schöpfung nach dem kabbalistischen Schöpfungsmythos bewirkt den Zustand der Spaltung, in dem sich die Welt befindet. Dieses Bild der Spaltung und der sich im Menschen fortsetzende Riss – der Zinnenriß durch ihn, / der dich Vereinzelten / mitmeint518 – spiegelt sich in vielen Gedichten Celans. Der Versuch des Menschen, unter diesen Umständen zu schöpfen und zu restituieren, wird in seinem Scheitern dargestellt. Es ist [a]lles doppelt,519 unlesbar, die Pole / sind in uns, / unübersteig515
516 517 518 519
Vgl. Anna Schreijäg: ›Der Turmbau zu Babel‹ in der frühen klassisch-rabbinischen Literatur. Was war das Vergehen der Generation der Spaltung? Freiburg i. Br.: Dipl. 2005. AUCH MICH (PCG 298). HURIGES SONST (PCG 317). DIE RÜCKWÄRTSGESPROCHENEN (PCG 298). UNLESBARKEIT (PCG 317).
152
Fazit
bar / im Wachen.520 Der von den Mystikern gezeigte Weg zurück zur Quelle der Einheit durch das System der Sefirot wird in einigen Gedichten skizziert, die Schechina wird beschworen,521 immer in enger Verbindung mit einer kritischen und intensiven Auseinandersetzung mit Sprache als dem Ort der Verwirklichung sowohl der Schöpfung selbst durch die göttliche Sprache als auch dem Schöpfungsbereich des Dichters. Dabei konnte gezeigt werden, dass Celan seine Lyrik auch über den Gedankenweg des Hebräischen gestaltet und mitunter auch in Zahlen erzählt, wie auch schon die enge Verbindung von Text (hebr. Sepher) und Zahl (hebr. Sephar) nahelegt, was in AUCH MICH poetisch ausgedrückt ist: doch stehen die Zahlen bereit, der Träne zu leuchten, / die in die Welt schnellt / aus unserm Nabel, // doch geht in die große Silbenschrift ein, / was uns nah kam, einzeln.522 In dieser Auseinandersetzung mit Sprache und Zahl nimmt die Siebenzahl in ihrer großen symbolischen Bedeutung für Judentum und Christentum eine wichtige Rolle auf der zahlensymbolischen Ebene der Gedichte ein. In der Verschränkung der Zahlen 1 und 7 als 17 wird die Zahl zur Frage selbst.523 Und endlich zeigt sich die beidseitige Annäherungsbewegung aufeinander zu von Gespaltenem im Drängen auf Vereinigung,524 dabei wird die bedeutende Rolle der Sprache in diesem Einheitsbestreben offensichtlich, denn Sprache vermag Getrenntes, Gegensätzliches, an einem Ort in einer Gleichzeitigkeit zusammenzuführen.525 Die Sprache ist Träger der Vergangenheit durch die Erinnerung526 als auch Gedächtnis selbst, was Celans Lyrik durch das Spiel mit etymologischen Bedeutungsschichten eindrucksvoll beweist.
520 521 522 523 524 525 526
DIE POLE (PCG 362). (ICH KENNE DICH (PCG 180); KLEIDE DIE WORTHÖHLEN AUS (PCG 252). AUCH MICH (PCG 298). DIE MIR HINTERLASSNE (PCG 291), HURIGES SONST (PCG 317), KEINE SANDKUNST MEHR (PCG 183f.). ES WAR ERDE IN IHNEN (PCG 125); ICH TRINK WEIN (PCG 363). TÜBINGEN, JÄNNER (PCG 133). DU LIEGST (PCG 315).
Literaturverzeichnis
Paul Celan Paul Celan. Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hg. von Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003 [Sigle: PCG]. – Gesammelte Werke in fünf Bänden. 3. Bd. Hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983. – Die Niemandsrose. Historisch-kritische Ausgabe. 6. Bd. 1. Teil. Text. Hg. von Axel Gellhaus [u. a.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. – Lichtzwang. Historisch-kritische Ausgabe. 9. Bd. 1. Teil Text und 2. Teil Apparat. Hg. von Rolf Bücher und Axel Gellhaus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. – Schneepart. Historisch-kritische Ausgabe. 10. Bd. 2. Teil Apparat. Hg. von Rolf Bücher und Axel Gellhaus unter Mitarbeit von Andreas Lohr-Jasperneite. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. – Ausgewählte Gedichte. Zwei Reden. Mit einem Nachwort von Beda Allemann. 7. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977 (edition suhrkamp; 262). – Der Meridian. Endfassung – Entwürfe – Materialien. Hg. von Bernhard Böschenstein und Heino Schmull unter Mitarbeit von Michael Schwarzkopf und Christiane Wittkop. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999 (Paul Celan. Werke. Tübinger Ausgabe). – Gespräch im Gebirg. Mit einem Kommentar von Theo Buck. Hg. von Bernhard Albers und Reinhard Kiefer. Aachen: Rimbaud 2002 (Rimbaud-Taschenbuch; 10, zugleich: Texte aus der Bukowina; 15). Paul Celan / Nelly Sachs. Briefwechsel. Hg. von Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. Paul Celan / Hanne und Hermann Lenz. Briefwechsel. Hg. von Barbara Wiedemann in Verbindung mit Hanne Lenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. Paul Celan / Franz Wurm. Briefwechsel. Hg. von Barbara Wiedemann in Verbindung mit Franz Wurm. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. Paul Celan / Gisèle Celan-Lestrange. Briefwechsel. Gelesen von Bodo Primus und Eva Garg. Auswahl und Einleitung: Barbara Wiedemann. 3 CDs. München: der hörverlag 2002.
Paul Celan – Sekundärliteratur Ackermann, Ingeborg: Am Rande seiner selbst. Zu Paul Celan: EINEM, DER VOR DER TÜR STAND, … Frankfurt am Main: Lang 2003 (Literarhistorische Untersuchungen; 35).
154
Literaturverzeichnis
Ahlbrecht, Wulf H.: Paul Celans späte Gedichte. Versuch an den Grenzen eurozentrischer Wirklichkeit. Bonn: Bouvier 1985. Allemann, Beda: Das Gedicht und seine Wirklichkeit. In: Études Germaniques 25 (1970), H. 3, S. 266–274. – Paul Celans Sprachgebrauch. In: Colin, Argumentum e Silentio, S. 3–15. Allerhand, Jacob: Bibel und Hawdala. Der Beitrag der Judaistik zum Verständnis des Werks von Paul Celan. In: Gaisbauer/Hain/Schuster, Unverloren. Trotz allem, S. 265–286. André, Robert: Gespräche von Text zu Text. Celan – Heidegger – Hölderlin. Hamburg: Meiner 2001. Argumentum e Silentio. International Paul Celan Symposium. Hg. von Amy D. Colin. Berlin, New York: Walter de Gruyter 1987. Baumann, Gerhart: »...Durchgründet vom Nichts...«. In: Études Germaniques 25 (1970), H. 3, S. 277–290. – Erinnerungen an Paul Celan. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986. Behl, Heike Kristina: ›Ohne Zahl sind die Straßen‹. Wege in die Dichtung Paul Celans. San Diego (California): Diss. 1995. – References to Hebrew in Paul Celan’s »Kleide die Worthöhlen aus«. In: Monatshefte (Madison WI) 87 (1995), H. 2, S. 170–186. Bevilacqua, Giuseppe: Auf der Suche nach dem Atemkristall. Celan-Studien. Übersetzt von Peter Goßens und Marianne Schneider. München, Wien: Hanser 2004 (Dichtung und Sprache; 19). Böning, Thomas: Fahlstimmig: Paul Celans ›Einspruch‹ gegen Das Wort Stefan Georges und Martin Heideggers. Ein Versuch. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73 (1999), H. 3, S. 529–561. Böschenstein, Bernhard: Der späte Celan. Dichtung und Übersetzung. In: Lyrik – von allen Seiten. Gedichte und Aufsätze des ersten Lyrikertreffens in Münster. Hg. von Lothar Jordan, Axel Marquardt und Winfried Woesler. Frankfurt am Main: S. Fischer 1981 (Collection S. Fischer; 20), S. 399–411. – Celan als Leser Hölderlins und Jean Pauls. In: Colin, Argumentum e Silentio, S. 183–198. – Hölderlin und Celan. In: Hamacher/Menninghaus, Paul Celan, S. 191–200. Bogumil, Sieghild: Celans Hölderlinlektüre im Gegenlicht des schlichten Wortes. In: Celan-Jahrbuch 1 (1987) (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; 78), S. 81–125. Bohrer, Christiane: Paul Celan – Bibliographie. Frankfurt am Main [u. a.]: Lang 1989 (Literarhistorische Untersuchungen; 14). Bollack, Jean: Vor dem Gericht der Toten. Paul Celans Begegnung mit Martin Heidegger und ihre Bedeutung. Übersetzt von Werner Wögerbauer. In: Paul Celan. Text + Kritik 53/54 (1977), S. 127–156. – ›Eden‹ nach Szondi. Übersetzt von Beatrice Schulze. In: Celan-Jahrbuch 2 (1988) (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; 85), S. 81–105. – Chanson à boire. Über das Gedicht ›Bei Wein und Verlorenheit‹ von Paul Celan. Übersetzt von Beatrice Schulze. In: Celan-Jahrbuch 3 (1989) (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; 103), S. 23–35. – Paul Celan. Poetik der Fremdheit [1999]. Übersetzt von Werner Wögerbauer. Wien: Paul Zsolnay 2000. – Paul Celan unter judaisierten Deutschen. Hg. von Heinrich Meier. München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung 2005 (Reihe »Themen«; 83). Briefe an Hans Bender. Hg. von Volker Neuhaus. München: Hanser 1984.
Literaturverzeichnis
155
Buck, Theo: Angstlandschaft Deutschland: Zu einem Nachkriegssyndrom und seiner Vorgeschichte in einem Gedicht Paul Celans. In: Breuer, Deutsche Lyrik nach 1945, S. 138–165. – Celan und Frankreich. Darstellung mit Interpretation. Celan-Studien V. Aachen: Rimbaud 2002. Büchler, Franz: »Heute und morgen«. In: Neue Deutsche Hefte 11 (1964), H. 97, S. 91–96. Burger, Hermann: Paul Celan. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache. Frankfurt am Main: Fischer 1989 (Fischer Taschenbuch; 1480). Chalfen, Israel: Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend. Frankfurt: Insel 1979. Čivikov, Germinal: Zum Briefwechsel Paul Celan – Nelly Sachs. In: Celan-Jahrbuch 6 (1995) (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; 140), S. 241–245. Datum und Zitat bei Paul Celan. Akten des Internationalen Paul Celan-Colloquiums Haifa 1986. Hg. von Chaim Shoham und Bernd Witte. Bern: Lang 1987 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Kongreßberichte; 21). »Der glühende Leertext«. Annäherungen an Paul Celans Dichtung. Hg. von Otto Pöggeler und Christoph Jamme. München: Fink 1993. Derrida, Jacques: Schibboleth. Für Paul Celan. Hg. von Peter Engelmann. Übersetzt von Wolfgang Sebastian Baur. 2. Aufl. Wien: Passagen 1996 (Edition Passagen; 12). Deutsche Lyrik nach 1945. Hg. von Dieter Breuer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988 (stm; 2088). Dischner, Gisela: Paul Celan und Nelly Sachs – Zur mystischen Dichtung der Moderne. In: Das literarische Paar. Le couple littéraire. Intertextualität der Geschlechterdiskurse. Intertextualité et discours des sexes. Hg. von Gislinde Seybert. Bielefeld: Aisthesis 2003, S. 501–525. Ehgartner, Reinhard: »Gelobt seist du, Niemand«. Psalmen in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Salzburg: Diss. 1995. Eshel, Amir und Thomas Sparr: Celan in Israel. In: Celan-Jahrbuch 4 (1991) (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; 117), S. 197–200. Felstiner, John: »Ziv, that light«: Translation and Tradition in Paul Celan. In: New literary history 18 (1986/87), S. 611–631. – Paul Celan. Eine Biographie [1995]. Übersetzt von Holger Fliessbach. München: Beck 1997. Firges, Jean: Den Acheron durchquert ich. Einführung in die Lyrik Paul Celans. Vier Motivkreise der Lyrik Paul Celans: die Reise, der Tod, der Traum, die Melancholie. Tübingen: Stauffenburg 1998 (Ludwigsburger Hochschulschriften; 18). – Vom Osten gestreut, einzubringen im Westen: Jüdische Mystik in der Dichtung Paul Celans. Annweiler: Sonnenberg 1999. – Paul Celan. Die beiden Türen der Welt. Gedichtinterpretationen. Annweiler: Sonnenberg 2001 (Exemplarische Reihe Literatur und Philosophie; 3). Gadamer, Hans-Georg: Wer bin Ich und wer bist Du? Ein Kommentar zu Paul Celans Gedichtfolge ›Atemkristall‹. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973. – Celans Schlußgedicht. In: Colin, Argumentum e Silentio, S. 58–71. Geier, Manfred: »Zur Blindheit überredete Augen«. Paul Celan / Friedrich Hölderlin: Ein lyrischer Intertext. In: Geier, Die Schrift und die Tradition, S. 17–33 und S. 106–110. Glenn, Jerry und Elizabeth Petuchowski: Zusammentreffende Wellen der Interferenz in Paul Celans Gedicht ›Fahlstimmig‹. In: Celan-Jahrbuch 5 (1993) (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; 128), S. 115–138.
156
Literaturverzeichnis
Günzel, Elke: Das wandernde Zitat. Paul Celan im jüdischen Kontext. Würzburg: Königshausen und Neumann 1995 (Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft; 151) [zugleich Tübingen: Diss. 1994]. Hoffmann, Dieter: Arbeitsbuch deutschsprachige Lyrik seit 1945. Tübingen, Basel: Francke 1998 (UTB Wissenschaft, Mittlere Reihe; 2037). Hünnecke, Evelyn: Aspekte der Sprechinstanz in dialogischer Lyrik. Paul Celans Gedicht Allmählich clowngesichtig. In: Cahiers d’études Germaniques. Qui parle dans le text? Études réunies par Maurice Godé et Marcel Vuillaume 38 (2000/1), S. 37–52. Huppert, Hugo: »Spirituell«. Ein Gespräch mit Paul Celan. In: Hamacher/Menninghaus, Paul Celan, S. 319–324. Janz, Marlies: Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans. Königstein: Athenäum 1976. Klose, Barbara: ›Souvenirs entomologiques‹. Celans Begegnungen mit Jean-Henri Fabre. In: Shoham/Witte, Datum und Zitat bei Paul Celan, S. 122–155. Koelle, Lydia: Paul Celans pneumatisches Judentum. Gott-Rede und menschliche Existenz nach der Shoah. Mainz: Matthias Grünewald 1997 (Theologie und Literatur; 7). – Hoffnungsfunken erjagen. In: Gaisbauer/Hain/Schuster, Unverloren. Trotz allem, S. 85–144. Kommentar zu Paul Celans »Die Niemandsrose«. Hg. von Jürgen Lehmann unter Mitarbeit von Christine Ivanović. Heidelberg: Winter 1997 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; 149). Konietzny, Ulrich: Sinneinheit und Sinnkohärenz des Gedichts bei Paul Celan. Bad Honnef: Bock und Herchen 1985. – »All deine Siegel erbrochen?« Chiffren oder Baumläufer im Spätwerk Paul Celans. In: Celan-Jahrbuch 2 (1988) (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; 85), S. 107–120. Krämer, Heinz Michael: Eine Sprache des Leidens. Zur Lyrik von Paul Celan. München: Kaiser; Mainz: Grünewald 1979 (Gesellschaft und Theologie: Abt. Praxis der Kirche; 31). Lackey, Michael: Poetry as Overt Critique of Theology. A Reading of Paul Celan’s ›Es war Erde in ihnen‹. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 94 (2002), H. 4, S. 433–446. Loewen, Matthias: In Klammern. Zu einem Gedicht von Paul Celan. In: Stimmen der Zeit 199 (1981), H. 5, S. 343–352. Lübbe-Grothues, Grete: Paul Celans Gedicht ›Ich trink Wein‹. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 26 (1985), S. 359–365. Lüdke, Martin: Das Rätsel der Stummen. In: Frankfurter Anthologie. Bd 15. Hg. von Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt am Main, Leipzig: Insel 1992, S. 211–214. Lyon, James K.: »Ganz und gar nicht hermetisch«. Überlegungen zum »richtigen« Lesen von Paul Celans Lyrik. In: Strelka, Psalm und Hawdalah, S. 171–191. – Die (Patho-)Physiologie des Ichs in der Lyrik Paul Celans. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 106 (1987), S. 591–608. – Judentum, Antisemitismus, Verfolgungswahn: Celans »Krise« 1960–1962. In: Celan-Jahrbuch 3 (1989) (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; 103), S. 175–204. Manger, Klaus: Die Königszäsur. Zu Hölderlins Gegenwart in Celans Gedicht. In: Hölderlin Jahrbuch 23 (1982–83), S. 156–165. Markis, Sabine: »Was das Gedicht spricht« – Funktionen der Intertextualität in der Lyrik Paul Celans. In: Études Germaniques 55 (2000), H. 3, S. 521–539.
Literaturverzeichnis
157
Mayer, Peter: Paul Celan als jüdischer Dichter. Landau: Pfalzdruck 1969. Meinecke, Dietlind: Über Paul Celan. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970 (edition suhrkamp; 495), S. 7–30. Menninghaus, Winfried: Wissen oder Nicht-Wissen. Überlegungen zum Problem des Zitats bei Celan und in der Celan-Philologie. In: Shoham/Witte, Datum und Zitat bei Paul Celan, S. 81–96. Neumann, Peter Horst: Wort-Konkordanz zur Lyrik Paul Celans bis 1967. München: Fink 1969. Oelmann, Ute Maria: Deutsche poetologische Lyrik nach 1945: Ingeborg Bachmann, Günter Eich, Paul Celan. Stuttgart: Heinz 1980 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik; 74). Olschner, Leonard Moore: Der feste Buchstab. Erläuterungen zu Paul Celans Gedichtübertragungen. Göttingen, Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht 1985. – Das Spiel der Spiegelungen. Shakespeares Sonett 3 in der Übersetzung durch Rilke und Celan. In: arcadia 32 (1997), H. 1, S. 109–118. Pajević, Marko: Paul Celan: (Ich kenne dich. Das Gedicht als »Lebensschrift«. In: Corbea-Hoisie, Paul Celan. Biographie und Interpretation, S. 214–224. – Zur Poetik Paul Celans: Gedicht und Mensch – die Arbeit am Sinn. Heidelberg: Winter 2000 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte; 177). Paul Celan. Hg. von Werner Hamacher und Winfried Menninghaus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988 (st; 2083). Paul Celan. Biographie und Interpretation. Biographie et interprétation. Hg. von Andrei Corbea-Hoisie. Konstanz [u. a.]: Hartung-Gorre 2000. Paul Celan – die Goll-Affäre. Dokumente zu einer ›Infamie‹. Hg. von Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000. Paul Celan in den Händen von Experten. Über die Bonner historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Bernhard Albers. Aachen: Rimbaud 2000 (Studien zur Literaturgeschichte; 2). Paul Celan: La bibliothèque philosophique / Die philosophische Bibliothek. Catalogue raisonné des annotations établi par Alexandra Richter, Patrik Alac et Bertrand Badiou. Préface de Jean-Pierre Lefebvre. Publié par l’Unité de recherche Paul Celan de l’École normale supérieure. Paris: Éditions Rue d’Ulm 2004 (Presses de l’École Normale Supérieure). Perels, Christoph: Eine Sprache für die Wahrheit. In: Frankfurter Anthologie. Bd 10. Hg. von Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt am Main, Leipzig: Insel 1986, S. 210– 212. Petuchowski, Elizabeth: Bilingual and Multilingual Wortspiele in the Poetry of Paul Celan. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 52 (1978), H. 4, S. 635–651. Pöggeler, Otto: Spur des Worts. Zur Lyrik Paul Celans. Freiburg i. Br., München: Alber 1986. – Sein und Nichts – Mystische Elemente bei Heidegger und Celan. In: Böhme, Zu dir hin, S. 270–301. – Der Stein hinterm Aug. Studien zu Celans Gedichten. München: Frank 2000. – Lyrik als Sprache unserer Zeit? In: Pöggeler, Der Stein hinterm Aug, S. 15–63. – Celans Begegnung mit Heidegger. In: Pöggeler, Der Stein hinterm Aug, S. 159–188. Psalm und Hawdalah. Zum Werk Paul Celans. Akten des Internationalen Paul Celan Kolloquiums New York 1985. Hg. von Joseph P. Strelka. Bern [u. a.]: Lang 1987. Reichert, Klaus: Hebräische Züge in der Sprache Paul Celans. In: Hamacher/Menninghaus, Paul Celan, S. 156–169.
158
Literaturverzeichnis
Sars, Paul: Briefe und Gedichte im Wechselspiel von Daten und Bedeutung. Bemerkungen zum Verhältnis von Biographie und Interpretation. In: Corbea-Hoisie, Paul Celan. Biographie und Interpretation, S. 25–43. Schäfer, Hans Dieter: Zur Spätphase des hermetischen Gedichts. In: Die deutsche Literatur der Gegenwart. Aspekte und Tendenzen. Hg. von Manfred Durzak. 3. erw. Aufl. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1971. Schlesak, Dieter: Die verborgene Partitur. Herkunft und Frühwerk von Paul Celan als Schlüssel zu seiner Metapoesie. In: Die Bukowina. Studien zu einer versunkenen Literaturlandschaft. Hg. von Dietmar Goltschnigg und Anton Schwob unter Mitarbeit von Gerhard Fuchs. Tübingen: Francke 1990 (Edition Orpheus; 3), S. 333–354. Schulze, Joachim: Celan und die Mystiker. Motivtypologische und quellenkundliche Kommentare. Bonn: Bouvier 1976 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik-, und Literaturwissenschaft; 190). – Rauchspur und Sefira. Über die Grundlagen von Paul Celans Kabbala-Rezeption. In: Celan-Jahrbuch 5 (1993) (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; 128), S. 193–246. Schwerin, Christoph: Bitterer Brunnen des Herzens. Erinnerungen an Paul Celan. In: Der Monat 33 (1981), H. 2, S. 73–81. Selbmann, Rolf: »Zur Blindheit über-redete Augen«. Hölderlins Hälfte des Lebens mit Celans Tübingen, Jänner als poetologisches Gedicht gelesen. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 36 (1992), S. 219–228. Seng, Joachim: » … sie werfe das Netz über den Geist«: Zu den Konturen des Sprachgitters in Paul Celans Poesie. In: Études Germaniques 55 (2000), H. 3, S. 615–631. Silbermann, Edith: Begegnungen mit Paul Celan. Erinnerung und Interpretation. 2. Aufl. Aachen: Rimbaud 1995. – Paul Celan im Kontext der Bukowiner Dichtung. In: Silbermann, Begegnungen mit Paul Celan, S. 7–39. – Erinnerungen an Paul Celan [1987]. In: Silbermann, Begegnungen mit Paul Celan, S. 41–70. Sowa-Bettecken, Beate: Sprache der Hinterlassenschaft. Jüdisch-christliche Überlieferung in der Lyrik von Nelly Sachs und Paul Celan. Frankfurt am Main: Lang 1992 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur; 1357). Sparr, Thomas: Celan und Kafka. In: Celan-Jahrbuch 2 (1988) (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; 85), S. 139–154. Speier, Hans-Michael: Paul Celan, Dichter einer neuen Wirklichkeit. Studien zu ›Schneepart‹ (I). In: Celan-Jahrbuch 1 (1987) (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; 78), S. 65–79. – Der Dichter als Übersetzer. In: Celan-Jahrbuch 1 (1987) (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; 78), S. 223–227. Szondi, Peter: Schriften I. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978 (stw; 219). – Eden. In: ders.: Schriften II. Hg. von Jean Bollack [u. a.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978 (stw; 220), S. 390–398 und S. 428–430. [Zuerst veröffentlicht in französischer Übersetzung durch Jean und Mayotte Bollack. In: L’Éphémère 19/20 (1972/73), S. 416–423; und in: Peter Szondi: Celan-Studien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972]. Tück, Jan-Heiner: Gelobt seist Du, Niemand. Paul Celans Dichtung – eine theologische Provokation. Frankfurt am Main: Knecht 2000. Unverloren. Trotz allem. Paul Celan-Symposion Wien 2000. Hg. von Hubert Gaisbauer, Bernhard Hain und Erika Schuster. Wien: Mandelbaum 2000.
Literaturverzeichnis
159
Vitiello, Vincenzo: Gegenwort. Paul Celan und die Sprache der Dichtung. In: CelanJahrbuch 5 (1993) (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; 128), S. 7–22. Voswinckel, Klaus: Paul Celan: verweigerte Poetisierung der Welt. Heidelberg: Lothar Stiehm 1974 (Poesie und Wissenschaft; 36). Waterhouse, Peter: Auf dem Weg zum »Kunst-Freien«. Anmerkungen zur Utopie in der Lyrik Paul Celans. Wien: Diss. 1984. – Im Genesis-Gelände. Versuch über einige Gedichte von Paul Celan und Andrea Zanzotto. In: arcadia 32 (1997), H. 2, S. 301–339. Weineck, Silke-Maria: Logos and Pallaksch. The Loss of Madness and the Survival of Poetry in Paul Celan’s »Tübingen, Jänner«. In: Orbis Litterarum 54 (1999), S. 262– 275. Weissenberger, Klaus: Die Elegie bei Paul Celan. Bern, München: Francke 1969. – Zwischen Stein und Stern. Mystische Formgebung in der Dichtung von Else LaskerSchüler, Nelly Sachs und Paul Celan. Bern, München: Francke 1976. – Der Rhythmus in Paul Celans Dichtung – letztmögliche Manifestation einer immanenten Transzendenz? In: Strelka, Psalm und Hawdalah, S. 113–124. Wiedemann, Barbara: Warum rauscht der Brunnen. Überlegungen zur Selbstreferenz in einem Gedicht von Paul Celan. In: Celan Jahrbuch 6 (1995), S. 107–118. – Das Jahr 1960. In: Corbea-Hoisie, Paul Celan. Biographie und Interpretation, S. 45–59. Wienold, Götz: Paul Celans Hölderlin-Widerruf. In: Poetica 2 (1968), S. 216–228. Zbikowski, Reinhard: »schwimmende Hölderlintürme«. Paul Celans Gedicht »Tübingen, Jänner« – diaphan. In: Pöggeler/Jamme, »Der glühende Leertext«, S. 185–211. Zimmermann, Hans Dieter: Die Entstehung der Moderne aus dem Gedichte der Mystik. Mystische Tendenzen in Philosophie und Kunst eines »atheistischen« Jahrhunderts. In: Mystik ohne Gott? Tendenzen des 20. Jahrhunderts. Hg. von Wolfgang Böhme. Herrenalber Texte 39 (1982), S. 9–31. Zschachlitz, Ralf: Vermittelte Unmittelbarkeit im Gegenwort. Paul Celans kritische Poetik. Frankfurt am Main [u. a.]: Lang 1990 (Literarhistorische Untersuchungen; 15).
Judaica Ariel, David S.: Die Mystik des Judentums. Eine Einführung [1988]. Mit einem Vorwort von Karl Erich Grözinger. Übersetzt von Miriam Magall. München: Diederichs 1993. Bloom, Harold: Die heiligen Wahrheiten stürzen. Dichtung und Glaube von der Bibel bis zur Gegenwart. Übersetzt von Angelika Schweikhart. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. – Kabbala. Poesie und Kritik. Übersetzt von Angelika Schweikhart. 2. Aufl. Basel, Frankfurt am Main: Stroemfeld 1997 (nexus; 17). – Der Bruch der Gefäße. Übersetzt von Angelika Schweikhart. Basel, Frankfurt am Main: Stroemfeld 1995 (nexus; 20). Buber, Martin: Drei Reden über das Judentum. Frankfurt am Main: Literarische Anstalt, Rütten & Loening 1911. – Vom Leben der Chassidim. In: ders.: Werke 3. Schriften zum Chassidismus. München: Kösel; Heidelberg: Schneider 1963, S. 19–45. Das Buch Jezira. In der Übersetzung von Johann Friedrich Meyer. Hg. von Eveline Goodman-Thau und Christoph Schulte. Mit einem Nachwort von Moshe Idel und Wilhelm Schmidt-Biggemann. Berlin: Akademie Verlag 1993 (Jüdische Quellen; 1).
160
Literaturverzeichnis
Davidowicz, Klaus S.: Kabbala. Geheime Traditionen im Judentum. Herausgegeben vom Österreichischen Jüdischen Museum Eisenstadt. o. J. – Gershom Scholem und Martin Buber – Die Geschichte eines Mißverständnisses. Wien: Diss. 1993. Die Pessach Haggada [1998]. Hg. und kommentiert von Rabbiner Michael Shire. Mit Illustrationen aus Handschriften der British Library. Vorwort: Rabbiner Walter Homolka. Übersetzt von Annette Böckler. 2. Aufl. Berlin: Jüdische Verlagsanstalt Berlin 2001. Eshel, Amir: Zeit der Zäsur. Jüdische Dichter im Angesicht der Shoah. Heidelberg: Winter 1999 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3; 169). Freud, Sigmund: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Schriften über die Religion. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 1997. Grözinger, Karl Erich: Jüdisches Denken. Theologie – Philosophie – Mystik. Band 2: Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus. Frankfurt am Main, New York: Campus 2005. Jenni, Ernst: Lehrbuch der hebräischen Sprache des Alten Testaments. Neubearbeitung des »Hebräischen Schulbuchs« von Hollenberg-Budde. Basel, Frankfurt am Main: Helbing & Lichtenhahn 1981. Kushner, Lawrence: Sefer Otijot. Ein mystisches Alefbet. Das Buch der Buchstaben. Übersetzt von Mirjam Pressler. 2. Aufl. Eichenau: Kovar 1997. Maier, Johann: Die Kabbalah. Einführung – Klassische Texte – Erläuterungen. München: Beck 1995. Ouaknin, Marc-Alain: Das verbrannte Buch. Den Talmud lesen [1986]. Übersetzt von Dagmar Jacobsen und Lutz Mai. Weinheim, Berlin: Quadriga 1990. Schreijäg, Anna: ›Der Turmbau zu Babel‹ in der frühen klassisch-rabbinischen Literatur. Was war das Vergehen der Generation der Spaltung? Freiburg i. Br.: Dipl. 2005. Schubert, Kurt: Jüdische Geschichte. 3. Aufl. München: Beck 1999 (C. H. Beck Wissen in der Beck’schen Reihe; 2018). – Die Religion des Judentums. Leipzig: Benno 1992. Schütz, Hans J.: »Eure Sprache ist auch meine«. Eine deutsch-jüdische Literaturgeschichte. Zürich, München: Pendo 2000. »…und alles ist Kabbala«. Gershom Scholem im Gespräch mit Jörg Drews. München: edition text + kritik 1980. Solomon, Norman: Judentum. Eine kurze Einführung [1996]. Übersetzt von Ekkehard Schöller. Stuttgart: Reclam 1999. Stegmaier, Werner: Das Gute inmitten des Bösen. Ethische Orientierung aus Zeichen in der jüdischen Tradition. In: Orientierung in Zeichen. Zeichen und Interpretation III. Hg. von Josef Simon. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 (stw; 1278), S. 107–138. Vom Judentum. Hg. vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba in Prag. Leipzig: Wolff 1913. Weinreb, Friedrich: Der göttliche Bauplan der Welt [1966]. Zürich: Origo 1973. – Die Symbolik der Bibelsprache. Einführung in die Struktur des Hebräischen. Zürich: Origo 1969. Yerushalmi, Yosef Hayim: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis [1982]. Übersetzt von Wolfgang Heuss. Berlin: Wagenbach 1988. Zu dir hin. Über mystische Lebenserfahrung von Meister Eckhart bis Paul Celan. Hg. von Wolfgang Böhme. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990 (st; 1765).
Literaturverzeichnis
161
Gershom Scholem Scholem, Gershom: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen [1957]. 12. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005 (stw; 330). – Der Sohar. II: Die theosophische Lehre des Sohar. In: Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, S. 224–266. – Isaak Luria und seine Schule. In: Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, S. 267–314. – Zur Kabbala und ihrer Symbolik [1960]. Zürich 1973 (stw; 13). – Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala [1962]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973 (Wissenschaftliche Sonderausgabe). – Sitra achra; Gut und Böse in der Kabbala. In: Scholem, Von der mystischen Gestalt der Gottheit, S. 49–82. – Zaddik – Der Gerechte. In: Scholem, Von der mystischen Gestalt der Gottheit, S. 83–134. – Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970 (edition suhrkamp; 414). – Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum. In: Scholem, Über einige Grundbegriffe des Judentums, S. 90–120. – Judaica III. Studien zur jüdischen Mystik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973. – Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala. In: Scholem, Judaica III. Studien zur jüdischen Mystik, S. 7–70. – Alchemie und Kabbala. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. – Judaica VI. Die Wissenschaft vom Judentum. Herausgegeben, aus dem Hebräischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Peter Schäfer in Zusammenarbeit mit Gerold Necker und Ulrike Hirschfelder. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997.
Heilige Texte und theologische Schriften Augustinus, Aurelius: Über den Wortlaut der Genesis. Der große Genesiskommentar in zwölf Büchern. Übersetzt von Carl Johann Perl. I. Band, Buch I–VI. Paderborn: Schöningh 1961. – Confessiones. Hg. von Martinus Skutella. Stuttgart: Teubner 1969. Das Alte Testament. Interlinearübersetzung. Hebräisch-Deutsch; hebr. Text nach der Biblia Hebraica Stuttgartensia. Übersetzt von Rita Maria Steurer. Bd 1 Genesis – Deuteronomium. 2. Aufl. Stuttgart: Hänssler 1989. Elberfelder Studienbibel mit Sprachschlüssel. Das Alte Testament. Revidierte Fassung. Wuppertal: Brockhaus 2001. Fürst, Julius: Hebräisches und Chaldäisches Handwörterbuch über das Alte Testament. Leipzig 1876. Herder, Johann Gottfried: Schriften zum Alten Testament. Hg. von Rolf Smend. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1993 (J. G. Herder, Werke in 10 Bänden; 5). – Vom Geist der Ebräischen Poesie. Eine Anleitung für die Liebhaber derselben und der ältesten Geschichte des menschlichen Geistes. Erster Teil. In: Herder, Schriften zum Alten Testament, S. 663–955. Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd 5. Hg. von Hans Dieter Betz [u. a.]. Tübingen: Mohr (Siebeck) 2002. Scofield-Bibel. Revidierte Elberfelder Übersetzung. 4. Aufl. Wuppertal: Brockhaus 1997.
162
Literaturverzeichnis
Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament. Hg. von Heinz-Josef Fabry und Helmer Ringgren; begr. von Gerhard Johannes Botterweck. Bd 7. Stuttgart, Berlin; Köln: Kohlhammer 1993. Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Bd V. Hg. von Gerhard Friedrich. Stuttgart: Kohlhammer 1954.
Philosophische Schriften Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998 (Gesammelte Schriften; 11). – Satzzeichen. In: Adorno, Noten zur Literatur, S. 106–113. – Parataxis. In: Adorno, Noten zur Literatur, S. 447–491. Bolle, Eric: Die Kunst der Differenz. Philosophische Untersuchungen zur Bestimmung der Kunst bei Martin Heidegger, Friedrich Hölderlin, Paul Celan und Bram van Velde. Amsterdam: B. R. Grüner 1988 (Schriften zur Philosophie der Differenz; 2). Boman, Thorleif: Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen. 5. neubearbeitete und erweiterte Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1968. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften [1966]. Übersetzt von Ulrich Köppen. 8. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989 (stw; 96). Frank, Manfred: Wittgensteins Gang in die Dichtung. In: ders./Gianfranco Soldati: Wittgenstein. Literat und Philosoph. Pfullingen: Neske 1989, S. 7–72. – Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur deutsch-französischen Hermeneutik und Texttheorie. Erweiterte Neuausgabe. 3. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993 (stw; 317). Gadamer, Hans-Georg: Gedicht und Gespräch. Essays. Frankfurt am Main: Insel 1990. – Hermeneutik und Autorität – eine Bilanz (1991). In: ders.: Hermeneutische Entwürfe. Vorträge und Aufsätze. Tübingen: Mohr Siebeck 2000, S. 42–47. Lenk, Hans: Philosophie und Interpretation. Vorlesungen zur Entwicklung konstruktionistischer Interpretationsansätze. Überarbeitet unter Mitarbeit von Ekaterini Kaleri. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993 (stw; 1060). Sarasin, Philipp: Michel Foucault zur Einführung. Hamburg: Junius 2005 (Zur Einführung; 306). Steiner, Georg: Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens [1975]. Erweiterte Neuauflage. Übersetzt von Monika Plessner unter Mitwirkung von Henriette Beese. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. Susman, Margarete: Spinoza und das jüdische Weltgefühl. In: Vom Judentum, S. 51–70. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung [1921]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963 (edition suhrkamp; 12).
Martin Heidegger Heidegger, Martin: Sein und Zeit [1927]. Unveränderter Nachdruck der fünfzehnten, an Hand der Gesamtausgabe durchgesehenen Auflage mit den Randbemerkungen aus dem Handexemplar des Autors im Anhang. 18. Aufl. Tübingen: Niemeyer 2001. – Was ist Metaphysik? [1929] 14. Aufl. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1992. – Der Ursprung des Kunstwerkes [1935/36]. In: Heidegger, Holzwege, S. 1–74.
Literaturverzeichnis
163
– Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung [1937]. 4. Aufl. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1971. – Hölderlin und das Wesen der Dichtung. In: Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, S. 33–48. – Holzwege [1950]. 7. Aufl. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1994. – Wozu Dichter? In: Heidegger, Holzwege, S. 269–320. – Was heißt Denken? Vorlesung Wintersemester 1951/52. Mit einem Nachwort von Heinrich Hüni. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1992 (Universal-Bibliothek; 8805). – Unterwegs zur Sprache. Tübingen: Neske 1959. – Die Sprache. In: Heidegger, Unterwegs zur Sprache, S. 9–33. Steiner, Georg: Martin Heidegger. Eine Einführung [1978]. Übersetzt von Martin Pfeiffer. München, Wien: Hanser 1989.
Friedrich Hölderlin Geier, Ulrich: Hölderlin und der Mythos. In: Terror und Spiel. Hg. von Manfred Fuhrmann. München: Fink 1971 (Poetik und Hermeneutik; 4), S. 295–340. Hölderlin, Friedrich: Friedensfeier. In: ders.: Gesänge II. Hg. von D. E. Sattler. Basel [u. a.]: Stroemfeld/Roter Stern 2000 (Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Bd 8), S. 638–641. – Hyperion I. Hg. von Michael Knaupp und D. E. Sattler. Basel [u. a.]: Stroemfeld/Roter Stern 1982 (Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Bd 10). – Hyperion II. Hg. von Michael Knaupp und D. E. Sattler. Basel [u. a.]: Stroemfeld/Roter Stern 1982 (Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Bd 11). – Anmerkungen zum Oedipus. In: ders.: Sophokles. Hg. von Michael Franz. Basel [u. a.]: Stroemfeld/Roter Stern 1988 (Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Bd 16), S. 247–258. – Zu Jacobis Briefen über die Lehre des Spinoza. In: ders.: Frühe Aufsätze und Übersetzungen. Hg. von Michael Franz, Hans Gerhard Steimer und D. E. Sattler. Basel [u. a.]: Stroemfeld/Roter Stern 1991 (Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Bd 17). Johanning, Antje: Erinnerungs-Flüsse. Gedächtnis und Erinnerung in Friedrich Hölderlins Hymnen Der Rhein und Andenken. In: Schriftgedächtnis – Schriftkulturen. Hg. von Vittoria Borsò [u. a.]. Stuttgart, Weimar: Metzler 2002 (M-&-P Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung: Kulturwissenschaften), S. 15–38. Martens, Gunter: »Das Eine in sich selbst unterschiedne«. Das »Wesen der Schönheit« als Strukturgesetz in Hölderlins »Hyperion«. In: Neue Wege zu Hölderlin. Hg. von Uwe Beyer. Würzburg: Königshausen und Neumann 1994 (Schriften der HölderlinGesellschaft; 18), S. 185–198.
Intertextualität und Autorschaft Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes. Hg. von Rainer Grübel. Übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979 (edition suhrkamp; 967). Barthes, Roland: Der Tod des Autors. In: Jannidis, Texte zur Theorie der Autorschaft, S. 185–193.
164
Literaturverzeichnis
Baßler, Moritz: New Historicism und der Text der Kultur. Zum Problem synchroner Intertextualität. In: Csáky/Reichensperger, Literatur als Text der Kultur, S. 23–40. Dialogizität. Hg. von Renate Lachmann. München: Fink 1982. Eco, Umberto: Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. Übersetzt von Hans Günter Holl. München: dtv 1996. Foucault, Michel: Was ist ein Autor? [1969] In: ders.: Schriften zur Literatur. Übersetzt von Karin von Hofer und Anneliese Botond. Frankfurt am Main: Fischer 1993 (Fischer Wissenschaft; 7405), S. 7–31. Geier, Manfred: Die Schrift und die Tradition. Studien zur Intertextualität. München: Fink 1985. Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe [1982]. Übersetzt nach der ergänzten 2. Auflage von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993 (edition suhrkamp; 1683). Hermerén, Göran: Intention und Interpretation in der Literaturwissenschaft [1975]. In: Hermeneutik. Basistexte zur Einführung in die wissenschaftstheoretischen Grundlagen von Verstehen und Interpretation. Hg. von Axel Bühler. Heidelberg: Synchron 2003, S. 121–154. Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hg. von Ulrich Broich und Manfred Pfister unter Mitarbeit von Bernd Schulte-Middelich. Tübingen: Niemeyer 1985 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft; 35). Intertextuality and the Bible. Hg. von Georg Aichele and Gary A. Phillips. SEMEIA 69/70. An experimental journal for biblical criticism (1995). Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. Literatur als Text der Kultur. Hg. von Moritz Csáky und Richard Reichensperger. Wien: Passagen 1999 (Passagen Literaturtheorie). Reading between Texts. Intertextuality and the Hebrew Bible. Hg. von Danna Nolan Fewell. Louisville, Kentucky: Westminster/John Knox Press 1992. Schulte-Middelich, Bernd: Funktionen intertextueller Textkonstitution. In: Broich/Pfister, Intertextualität, S. 197–242. Stocker, Peter: Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien. Paderborn [u. a.]: Schöningh 1998 (Explicatio). Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. von Fotis Jannidis [u. a.]. Stuttgart: Reclam 2000 (Universal-Bibliothek; 18058). Uffelen, Herbert van: Einfluss anders: Neue Perspektiven auf die Einflussforschung. In: Niederländische Literaturwissenschaft auf neuen Wegen. Hg. von Herbert van Uffelen und Dirk de Geest. Wien: Praesens 2006 (Wiener Schriften zur niederländischen Sprache und Kultur; 4), S. 197–213. Wimsatt, William K. und Monroe C. Beardsley: Der intentionale Fehlschluss. In: Jannidis, Texte zur Theorie der Autorschaft, S. 84–101. Zima, Peter V.: Formen und Funktionen der Intertextualität in Moderne und Postmoderne. In: Csáky/Reichensperger, Literatur als Text der Kultur, S. 41–54.
Andere Literatur Assmann, Aleida: Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien in der Dauer. Köln [u. a.]: Böhlau 1999 (Beiträge zur Geschichtskultur; 15). Assmann, Jan: Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik. In: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen
Literaturverzeichnis
165
Erinnerung. Hg. von Aleida Assmann und Dietrich Harth. Frankfurt am Main: Fischer 1991 (Fischer Wissenschaft; 2990), S. 337–355. Beer-Hofmann, Richard: Schlaflied für Mirjam. In: ders.: Schlaflied für Mirjam. Lyrik und andere verstreute Texte. Hg. und mit einem Nachwort und einem editorischen Anhang versehen von Michael Matthias Schardt. Oldenburg: Igel-Verlag Literatur 1998 (Große Richard Beer-Hofmann-Ausgabe; 1). Böll, Heinrich: Ansichten eines Clowns. In: ders.: Werke. Kölner Ausgabe. Bd 13. Hg. von Árpád Bernáth. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2004. Büchner, Georg: Danton’s Tod. In: ders.: Sämtliche Werke. Briefe und Dokumente. In zwei Bänden. Bd I. Dichtungen. Hg. von Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker; 84), S. 11–90. – Danton’s Tod. Marburger Ausgabe. Bd 3.4 Erläuterungen. Hg. von Burghard Dedner und Thomas Michael Mayer, bearbeitet von Burghard Dedner unter Mitarbeit von Eva-Maria Varing und Werner Weiland. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2000. Büchner-Preis-Reden 1951–1971. Mit einem Vorwort von Ernst Johann. Stuttgart: Reclam 1981 (RUB; 9332). Eich, Günter: Rede vor den Kriegsblinden [1953]. In: Über Günter Eich. Hg. von Susanne Müller-Hanpft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970 (edition suhrkamp; 402), S. 21–24. – Der Schriftsteller vor der Realität [1956]. In: ders.: Gesammelte Werke IV. Vermischte Schriften. Hg. von Heinz F. Schafroth. Frankfurt am Main: Fischer 1973, S. 441f. George, Stefan: Das neue Reich. Berlin: Bondi 1928 (Stefan George. Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgültige Fassung; 9). Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd 3. Leipzig: Hirzel 1862. – Deutsches Wörterbuch. 4. Bd 1/2. Bearbeitet von Rudolf Hildebrand und Hermann Wunderlich. Leipzig: Hirzel 1897. – Deutsches Wörterbuch. Bd 6. Bearbeitet von Dr. Moriz Heyne. Leipzig: Hirzel 1885. – Deutsches Wörterbuch. Bd 15. Hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Leipzig: Hirzel 1956. Hannover-Drück, Elisabeth und Heinrich Hannover: Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Dokumentation eines politischen Verbrechens. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967 (edition suhrkamp; 233). Huchel, Peter: Chausseen Chausseen. Gedichte. Frankfurt am Main: S. Fischer 1963. Kafka, Franz: Das Schloß. Hg. von Malcom Pasley. 2. Aufl. Frankfurt am Main: S. Fischer 1983 (Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe). – Entschlüsse. In: ders.: Drucke zu Lebzeiten. Hg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann. Frankfurt am Main: S. Fischer 1994 (Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe). – Die Verwandlung. Hg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Basel [u. a.]: Stroemfeld/Roter Stern 2003 (Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Oxforder Quartheft; 17). Langhoff, Wolfgang: Die Moorsoldaten. 13 Monate Konzentrationslager. Zürich: Spiegel 1935. Rilke, Rainer Maria: Gedichte. 1895 bis 1910. Hg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn. Frankfurt am Main, Leipzig: Insel 1996 (Rainer Maria Rilke. Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden; 1).
166
Literaturverzeichnis
– Gedichte. 1910–1926. Hg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn. Frankfurt am Main, Leipzig: Insel 1996 (Rainer Maria Rilke. Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden; 2). Sachs, Nelly: Fahrt ins Staublose. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1957. Schiller, Friedrich: Die Räuber. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. 3. Bd. Hg. von Herbert Stubenrauch. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1953. Shakespeare, William: Einundzwanzig Sonette. Deutsch von Paul Celan. Frankfurt am Main: Insel 1967.
Danksagung
Frau Prof. Konstanze Fliedl hat diesem Buch anhaltende Aufmerksamkeit entgegengebracht und mich von Anfang an unterstützt. Prof. Gerhard Langer hat die Betreuung der theologischen und judaistischen Aspekte dieses Buches übernommen und wertvolle Hinweise gegeben. Dr. Monika Dannerer und Prof. Manfred Kern haben mit ihrer Diskussionsbereitschaft geholfen. Mit der Hilfe von Klaus Schiller hat der Text in den Computer und zurück aufs Papier gefunden. Meine Familie, meine Eltern, meine Großmutter und meine Freunde, insbesondere Ann-Florence Loose und Marina Rauchenbacher, haben mir mit ihrer Kritik weitergeholfen und mich mental unterstützt. Für alle Hilfe herzlichen Dank.
Personenregister
Allemann, Beda 29, 130 André, Robert 146 Antschel, Leo 48, 50 Ausländer, Rose 49 Baal Schem Tov 47 Bachmann, Ingeborg 94 Barthes, Roland 4 Baumann, Gerhart 39–40, 47, 112, 119 Beer-Hofmann, Richard 121 Behl, Heike Kristina 33, 81–82 Bender, Hans 39 Bevilacqua, Giuseppe 94–95 Bogumil, Sieghild 143 Bollack, Jean 41, 43 Boman, Thorleif 125 Böning, Thomas 28 Böschenstein, Bernhard 27, 95, 109, 136, 141, 143, 145 Buber, Martin 7, 15, 40, 99 Büchner, Georg 14, 28, 36, 118– 119, 128, 147 Buck, Theo 12, 119 Celan, Eric 60 Celan-Lestrange, Gisèle 57, 74–75 Chalfen, Israel 48, 104 Cordovero, Moshe 17
Eshel, Amir 115–116, 121 Felstiner, John 26, 31 Firges, Jean 7, 15, 60, 119 Foucault, Michel 4, 132 Gadamer, Hans-Georg 6, 9–12, 14– 15, 75 George, Stefan 28–29 Gerning, Johann Isaak von 135 Gikatilla, Josef 24 Ginninger, Chaim 49 Glenn, Jerry 28, 31 Goll, Claire 101 Goll, Yvan 101 Grimm, Jacob 123 Grimm, Wilhelm 123 Günzel, Elke 15 Heidegger, Martin 27–29, 32, 39, 43–44, 80, 108–109, 115, 117, 134, 138, 140, 145–147 Hofmannsthal, Hugo von 49 Hölderlin, Friedrich 8, 29, 57, 72, 117, 130, 134–136, 138, 143, 145–147 Huchel, Peter 120
Dov Ber 47–48
Janz, Marlies 12, 127 Johannes (Evangelist) 29
Eich, Günter 131 Eis, Gerhard 95
Kafka, Franz 49, 70, 113 Koelle, Lydia 15, 31
170 Konietzny, Ulrich 76, 94, 97 Kristeva, Julia 3 Liebknecht, Karl 11–12, 127 Luther, Martin 29, 43 Luxemburg, Rosa 11–12, 127 Lyon, James K. 10, 74–76 Maimonides 35 Mallarmé, Stéphane 4–5 Nietzsche, Friedrich 4 Pajević, Marko 36 Perels, Christoph 43 Petuchowski, Elizabeth 26, 28, 31, 81 Pöggeler, Otto 15, 28, 52–53, 72, 96, 130 Reichert, Klaus 31, 44–46 Rilke, Rainer Maria 49, 66 Sachs, Nelly 46, 60, 104, 125 Sars, Paul 86 Saussure, Ferdinand de 49 Schäfer, Hans Dieter 131–132
Personenregister
Scholem, Gershom 4, 7, 16–17, 19, 60, 63, 99, 141 Schraga, Fritzi 48 Schulze, Joachim 15 Shakespeare, William 49, 65 Shmueli, Ilana 133 Silbermann, Edith 44, 79 Sowa-Bettecken, Beate 15, 76, 85 Speier, Hans-Michael 42 Spinoza, Baruch 106, 135 Susman, Margarete 106 Szondi, Peter 11–12, 126 Thomas von Aquin 99 Valéry, Paul 40 Waterhouse, Peter 88–89 Weineck, Silke-Maria 147 Weinreb, Friedrich 86, 109 Wiedemann, Barbara 25, 95, 97, 128 Wittgenstein, Ludwig 132 Wurm, Franz 47, 101 Zbikowski, Reinhard 147–148