Hanne Handwerk Die Bedeutung von Lyrik in Bildungsprozessen der frühen Adoleszenz
VS RESEARCH
Hanne Handwerk
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Hanne Handwerk Die Bedeutung von Lyrik in Bildungsprozessen der frühen Adoleszenz
VS RESEARCH
Hanne Handwerk
Die Bedeutung von Lyrik in Bildungsprozessen der frühen Adoleszenz Empirische Untersuchung in achten Klassen an Freien Waldorfschulen Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Heiner Ullrich
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 02 Sozialwissenschaften, Medien und Sport der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2009 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Verena Metzger / Britta Göhrisch-Radmacher VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: STRAUSS GMBH, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17802-8
Geleitwort
Welche Rolle spielt die Begegnung und Auseinandersetzung mit Gedichten für frühadoleszente Jugendliche im Prozess der Entdeckung bzw. Konstruktion ihres Selbst? Hanne Handwerk befasst sich in ihrer materialreichen qualitativen Studie mit einer Fragestellung, die für den Diskurs in der Jugendforschung, der Schulforschung und der empirischen Literaturdidaktik gleichermaßen von Interesse ist. Konsequent der Logik der hermeneutischen Sozialforschung folgend, rekonstruiert sie an Hand von vier kontrastiv ausgewählten Fallstudien in höchst detaillierter Weise und methodisch stringent Formen der Rezeption von Lyrik bei Schülerinnen und Schülern der achten Jahrgangsklasse. Zentral fragt sie danach, ob der Umgang mit Gedichten für Heranwachsende heute Relevanz besitzt und aus welchen Formen der Aneignung von Lyrik eine individuelle Bedeutung für den Bildungsprozess des Selbst in der frühen Adoleszenz entspringen kann – sodass lyrische Kunstwerke evtl. sogar zu einem signifikanten inneren Dialogpartner bei der Bewältigung der Adoleszenzkrise werden können. Nicht nur ihr eigener berufsbiographischer Weg als frühere Waldorflehrerin, sondern gerade auch die regelmäßige Konfrontation der Schülerinnen und Schüler mit lyrischer Sprache in der Waldorfschule macht für die Verfasserin diese Schulkultur zum präferierten Untersuchungsfeld für ihre Fragestellung. Denn durch die langjährige, vielfältig inszenierte Praxis der Vermittlung lyrischer Formen und Gehalte im allmorgendlichen Hauptunterricht werden die Schülerinnen und Schüler in der Unterstufe der Waldorfschule kontinuierlich dazu veranlasst, sich mimetisch-performativ, emotional oder reflexiv mit Gedichten auseinanderzusetzen. Das reichhaltige Fallmaterial ermöglicht denn auch einzigartige Einblicke in die sprachästhetische Erfahrungswelt frühadoleszenter Waldorfschülerinnen und -schüler. In den Fallrekonstruktionen wird eine tiefgründige Parallelität zwischen den herausragenden Themen der beginnenden neuen Lebensphase und der Bedeutsamkeit lyrischer Dichtung und ihrer Sinngehalte deutlich. Über den Weg der Fallkontrastierung kann Hanne Handwerk ein aussagekräftiges Schema abstrahieren, mit welchem vier differente Figuren der Aneignung von Lyrik konzeptualisiert werden können – als Selbst-Bezeugung, Selbst-Findung, SelbstBehauptung oder als Selbst-Stabilisierung. Der Umgang mit Gedichten kann demnach zu Beginn der Adoleszenzkrise im Bildungsprozess des Selbst zur
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Geleitwort
Entstehung neuer Potenziale führen; diese reichen von der Entdeckung einer neuen kreativen Ressource über die Spiegelung des Selbst oder die Symbolisierung seiner Abgrenzung bis zur Verwendung als Mittel der Krisenbewältigung. Aus den Ergebnissen der Studie ergeben sich für Hanne Handwerk weitere Forschungsfragen, z.B. im Hinblick auf den Umgang mit Lyrik in anderen Lebensphasen, in anderen Schulkulturen oder bezüglich des Verhältnisses von Familie und Schule bei der Einsozialisation in die Welt der Lyrik, ja der Poesie und der Künste überhaupt. Konzeptionelle und methodische Anschlüsse könnten auch zur medienbiographischen Forschung hergestellt werden. Und natürlich ermöglicht die detailreiche Untersuchung auch den Waldorfschulen eine empirisch fundierte Rückspiegelung ihrer sprachästhetischen und jugendpädagogischen Praxis im Lichte eines anspruchsvollen sozialisationstheoretischen Forschungskonzepts. Die Studie von Hanne Handwerk ist ein bedeutender weiterer Baustein im Gefüge der Mainzer empirischen Forschungsarbeiten zu Waldorfschulen, die im VS Verlag für Sozialwissenschaften erscheinen. Heiner Ullrich
Dank
Diese Arbeit wäre nicht zustande gekommen ohne die Dialogbereitschaft und Freundlichkeit der Achtklässler, die mir Einblick gewährt haben in subtile Bereiche ihrer Lebenspraxis, die mir ihre Gedanken über einen Vers, ihre Erfahrungen und Deutungen im Umgang mit lyrischer Dichtung in ihrer Schule mitgeteilt haben. Besonders wertvoll sind mir die Erstausgaben eigenen lyrischen Schaffens, die Gedichte für Andere, die Selbstreflexionen in Gestalt eines lyrischen Gebildes, erste Liebesgedichte, die mir anvertraut wurden; die Großzügigkeit und das Interesse der Waldorflehrerinnen und -lehrer, die mir in einem sensiblen Moment ihres schulpädagogischen Handelns (dem Begleiten und Unterrichten „ihrer“ achten Klasse) die Türen öffneten und Verständnis dafür aufbrachten, dass die intime Atmosphäre ihres Unterrichts den Durchquerungen von Kabeln, Aufnahmegeräten und anderen Störenfrieden ausgesetzt werden musste; das wohlwollende Interesse meines Gutachters Heiner Ulrich, dessen Hinweise und konstruktive Kritik meine Metamorphose von der ehemaligen Waldorflehrerin zur Forscherin befeuerte; die inspirierende Forscherpersönlichkeit von Ulrich Oevermann, der mir bei der Konzeption meiner Arbeit und der Interpretation meines Materials im Rahmen seiner Sommerkurse und Forschungspraktika ein Höchstmaß an Zeit und Aufmerksamkeit zuwandte; die spontane Bereitschaft von Detlef Garz, mein Dissertationsvorhaben in der von mir gewünschten Form abschließen zu können; die Ausdauer und Lust am Interpretieren, mit denen sich meine Kolleginnen und Kollegen des Frankfurter Forschungspraktikums von Ulrich Oevermann und der Mainzer Doktoranden-Kolloquia meinem Material zugewandt haben; das Interesse von Katharina Kunze, die mir den Einstieg in meine Tätigkeit als Forschende erleichtert hat und eine große Unterstützung bei der Realisierung der Dissertation war; die Bereitschaft von Katharina Liebsch, mich in den Diskurs ihrer Doktorandinnen-Kolloquia einzubinden; meine Kolleginnen und Kollegen der Arbeitsgruppe „Sequenzanalyse“ an der GoetheUniversität Frankfurt/Main, Felix Buchhaupt, Olga Kauz, Nadine Möller, Brigitte Schlick und Gerlinde Uphoff; und die vielen, die von der Verpuppung bis zum Ausschlüpfen des Falters irgendwie mitgewirkt haben. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. Schließlich danke ich der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen in Stuttgart, die mir durch eine großzügige Förderung den
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Geleitwort
Freiraum verschafft hat, mein Projekt mit der notwendigen Akribie und Intensität durchführen zu können. Hanne Handwerk, im Juli 2009
Inhalt
Einleitung .......................................................................................................... 11 1 1.1 1.2 1.3
Forschungsstand und theoretische Bezugnahmen der Kernthemen.. 17 Die Achtklässler: Zum Verständnis der frühen Adoleszenz ..................... 17 Lyrik als Kunstform im Kontext von institutionalisierten Bildungsprozessen .................................................................................... 29 Annäherung an einen Bildungsbegriff...................................................... 37
2 Ausdifferenzierung des Feldes............................................................... 43 2.1 Bildungskonzept und Schulkultur der Freien Waldorfschulen ................. 43 2.1.1 Lyrik im Lehrplan der Freien Waldorfschulen (Klassenstufen 1 bis 8).... 48 2.2 Zum Lehrplan der Freien Waldorfschulen................................................ 61 2.2.1 Horizontale Darstellung............................................................................ 62 2.2.2 Vertikale Darstellung................................................................................ 64 2.3 Die Institutionen und ihre achten Klassen ................................................ 70 2.4 Die achten Klassen und ihre Lehrpersonen .............................................. 73 3 3.1 3.2
Methodologie und Methode ................................................................... 81 Material und Auswahl .............................................................................. 81 Kriterien und Methode der Sequenzanalyse ............................................. 87
4 4.1 4.2 4.3 4.4
Fallrekonstruktionen.............................................................................. 95 Fallrekonstruktion Natalía, Schule B: „Im Aufbruch“.............................. 96 Fallrekonstruktion Moritz, Schule C: „Da bin ich ja!“ ........................... 175 Fallrekonstruktion Filip, Schule A: „Ich war eigentlich nie so richtig beteiligt.“ ................................................................................................ 224 Miniatur der Fallrekonstruktion Celia, Schule C: „Ratlose Liebe“ ........ 295
5 5.1 5.2
Kontrastierungen.................................................................................. 317 Moritz und Filip – „Ich bin es“ versus „Es ist nicht ich“........................ 318 Natalía und Celia –„Es ist wie ich“ versus „Ich gleiche es mir an“........ 335
10 6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6
Geleitwort
Die Entstehung des Neuen durch Lyrikrezeption – Strukturgeneralisierung....................................................................... 341 Erster Fall – Selbst-Bezeugungsfigur: Lyrik als kreative Ressource...... 341 Zweiter Fall – Selbst-Findungsfigur: Lyrik als Spiegel.......................... 348 Dritter Fall – Selbst-Behauptungsfigur: Lyrik als Abgrenzungssymbolik............................................................................. 350 Vierter Fall – Selbst-Stabilisierungsfigur: Lyrik als Symbolik von Selbst-Erkenntnis............................................................................. 353 Zusammenfassung .................................................................................. 355 Schema der Ergebnisse der Kontrastierung ............................................ 360
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Thesen zu einer Theorie der Lyrikrezeption im schulischen Kontext .................................................................................................. 361
8
Ausblick ................................................................................................. 367
9
Literaturliste ......................................................................................... 369
10 10.1 10.2 10.3 10.4
Anhang................................................................................................... 383 Transkript Interview mit Natalía FWS B................................................ 383 Transkript Interview mit Moritz/Schule C (19.6.07) .............................. 393 Transkript Interview mit „Filip“/Schule A (28.2.07).............................. 396 Transkript Interview mit Celia/Schule C (9.3.2007)............................... 400
Einleitung
Ich zeige nicht das Sein, ich zeige den Übergang. Michel de Montaigne
Anlass der vorliegenden Arbeit waren Erfahrungen, die ich als Klassenlehrerin an Freien Waldorfschulen im Zusammenhang mit Lyrikrezeption im Unterricht der Klassenstufen eins bis acht machen konnte. Aus den dabei beobachteten Reaktionen der Schülerinnen und Schüler1 resultierte zunächst die These eines unmittelbaren Wirkenszusammenhangs von ganzheitlich vermittelter und rezipierter Lyrik mit dem Bildungsprozess von Heranwachsenden.2 Diese These sollte im Rahmen einer empirischen Untersuchung überprüft und verifiziert werden. Das Kernproblem bestand von vornherein im Begriff der „Wirkung“, da von meinem Untersuchungsansatz her nicht der methodische Anspruch eines experimentellen „before-after-designs“ erfüllt werden konnte, wie dies häufig von Unterrichtsanalysen gefordert wird. Auch liegt der Nachweis messbarer und kurzfristiger Rezeptionseffekte nicht in meinem Forschungsinteresse, deshalb musste das ursprüngliche Konzept differenziert und auf den mir wesentlichen Aspekt fokussiert werden. Was ich suche, ist eine Antwort auf die Frage, ob und aus welchen Formen der Aneignung von Gedichten eine individuelle Bedeutung für den Bildungsprozess frühadoleszenter Schülerinnen und Schüler generieren kann. Diese Entwicklungsphase interessiert mich vor allem deshalb, weil in ihr nach meiner Erfahrung die unverhoffte Bereitschaft der Heranwachsenden sichtbar wird, ein Kunstwerk ohne begriffliche Instruktion zu erschließen, vertraute Wahrnehmungs- und Empfindungsstrukturen über Bord zu werfen und in Prozessen künstlerischen Gestaltens und Rezipierens völlig neue Bezüge zu Welt und Selbst zu entdecken. Dies kann sich in einem unwillkürlichen Zugang des Schülers zu einem lyrischen Bild, einem jähen Innehalten beim Rezitieren eines Verses, beim Nachdenken über eine befremdliche Metapher äußern oder bei 1 2
Die Begriffe „Schüler“ und „Schülerin(nen)“/„Lehrer“ bzw. „Lehrerin(nen)“ implizieren im Folgenden je nach Kontext auch das jeweils andere Geschlecht. Obwohl keineswegs mehr von einem allgemein verbindlichen, gesellschaftlich verankerten Begriff von Bildung ausgegangen werden kann, soll er im Blick auf die Kernthese der Arbeit beibehalten und in einem gesonderten Abschnitt skizziert werden. Was ich aufzuzeigen versuche, kann durch den Begriff des Lernens allein nicht abgedeckt werden (vgl. Benner 2008, Gruschka 2005, Garz 2000, Blankertz 1974).
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Einleitung
einer davon ausgelösten Frage, die sich in ihrer Intimität oder Dimension von allem abhebt, was durch andere Unterrichtsinhalte evoziert werden kann. Aufgrund dieses spezifischen Interesses am Verhältnis von Jugendlichkeit3 und lyrischer Sprache ist die vorliegende Arbeit so angelegt, dass der Vollzug oder Nichtvollzug der Aneignungsprozesse von Gedichten bei Achtklässlern in situ dahingehend untersucht und geprüft wird, ob und inwieweit durch die waldorfspezifische Lyrikrezeption Bildungsbewegungen angestoßen werden, die sich als feine Veränderung der gesamten Habitusformation, der Individuation, des Selbstentwurfs von Heranwachsenden niederschlagen können. Die Struktur dieser Bildungsbewegungen soll aus dem erhobenen Material jeweils so weit herausgearbeitet werden, dass neben dem Spezifischen sowohl ein Allgemeines als auch Potentiale, d. h. zukünftige Deutungen und Identitätskonzepte darin erkennbar werden können. In dieser Hinsicht sind zeitlicher Umfang und Kontinuität der Lyrikrezeption an Freien Waldorfschulen zu beachten. Ich werde dies weiter unten noch ausführen. Dennoch sind Erfahrungen im Umgang mit Lyrik (i.S.v. ästhetischen Erfahrungen) als Momente eines zukunftsoffenen Prozesses zu fassen, deren Wert sich nicht nach der Anzahl oder der Zeit bemessen kann, in der ein Subjekt sich mit dem Gegenstand auseinandersetzt.4 Auf Lyrik übertragen ließe die simple Gleichung „hoher Zeitaufwand für Lyrikrezeption bewirkt hohe Bildungseffizienz“ unberücksichtigt, dass Potentiale von Bildungsprozessen sich unter Umständen erst viel später bemerkbar machen (vgl. Kokemohr 2007: 24). Dieser Aspekt soll jedoch die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung nicht relativieren, sondern im Sinne eines offenen Horizontes mit gedacht werden. Ein weiteres Problem ergab sich dadurch, dass in Freien Waldorfschulen Gedichte von der zweiten bis zur achten Klasse auch in Gestalt von „Zeugnissprüchen“ (Hellmann 2007, Müller 1977, Ullrich 1986) regelmäßig im Unterricht bearbeitet werden. Da dies, als ein Charakteristikum der Freien Waldorfschulen, eine tägliche sprachästhetische Erfahrung während vieler Jahre und dementsprechend prägend ist, fließen in die Untersuchung auch Erfahrungen der Schüler mit Gedichten ein, die ihnen mit pädagogischer Intention als „Zeugnissprüche“ zur Aneignung übergeben wurden. Dass die Arbeit damit zum Teil auf zwei Gleisen fahren muss und sich Überschneidungen ergeben, ist mir bewusst. Ich nehme dies jedoch in Kauf, weil das Material gezeigt hat, dass sich die Schüler von sich aus zu Lyrik in künstlerischer wie auch in pädagogischer Absicht 3
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Ohne hier schon in den weiter unten zu führenden theoretischen Diskurs zum Begriff von „Jugendlichkeit“ beziehungsweise „Adoleszenz“ und den damit verbundenen Problemkreisen einzusteigen, soll die Lebensphase der Jugendlichkeit zunächst allgemein verstanden werden als die Zeit des Übergangs von der Kindheit zum Erwachsenenalter, in dem die Bildungsrelevanz ästhetischer Erfahrung unverzichtbar ist. (Schulz, in: Mattenklott/Rora 1993: 159) Vgl. Kap. 2.2.2.
Einleitung
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äußerten bzw. oft genug Gedichte und Zeugnissprüche in eine Art Sammelbegriff („Sprüche“) fassten. Auch diesbezüglich wird die zentrale Frage für mich sein, welche Bedeutung aus der Erfahrung mit pädagogischer Absicht im lyrischen Gewand für die jugendlichen Schüler generiert. Aufgrund der Ausgangsfrage der Arbeit und des Lebensalters der Schüler soll im Sinne einer besseren Vergleichbarkeit hier ausschließlich die Verwendung von Kunstgedichten im Unterricht berücksichtigt werden. Ich werde mich daher sowohl auf die Gedichte beziehen, die als Zeugnissprüche gewählt oder gegeben wurden, als auch auf die Gedichte, die in den Klassen als Einzelaufgabe oder in Gruppen erarbeitet wurden. Die von Schülern für ihre Mitschüler verfassten Gedichte bzw. Zeugnissprüche sollen nur in die Untersuchung einbezogen werden, wenn dies im Sinne einer lückenlosen Erschließung des erhobenen Materials erzwungen wird. Die von Lehrern gedichteten Zeugnissprüche hingegen werden in dieser Arbeit nicht berücksichtigt, da sie Ausdruck einer meist langjährigen Lehrer-Schüler-Beziehung sowie eines impliziten pädagogischen Gestaltungswillens und zum Vergleich mit Kunstgedichten ungeeignet sind. Schließlich kam die Notwendigkeit hinzu, die Spannung zwischen meiner Nähe zum Feld einerseits (als ehemalige Waldorflehrerin) und der Anforderung reflexiver Distanz (als Forschende) andererseits zu lösen (Ullrich/Idel 2004: 382; Idel 2007: 21). So wurde die Kernfrage, die mich zu dieser Untersuchung veranlasste, zwar beibehalten, doch darauf eng geführt, wie Schüler – fokussiert auf die achte Klassenstufe – sich mit Lyrik im schulischen Kontext auseinandersetzen, welche Erfahrungen aus der waldorfspezifischen Praxis im Umgang mit Gedichten resultieren und welche Bedeutung ihnen von Heranwachsenden jeweils beigemessen wird. Daran schlossen sich die folgenden Fragen an: Wie lassen sich Prozesse einfangen? Wie werden Gedichte als eigenständige (sprach-) ästhetische Erfahrung von den Schülern verarbeitet und reflektiert? Welche Rolle spielt dabei die Qualität der didaktischen Fundierung und methodischen Differenzierung? Was kann in einem Alter, in dem Sprache völlig neu kodiert wird, für einen Achtklässler zum Beispiel an Gedichtversen wie „Blüht nicht zu früh, / ach, blüht erst, wenn ich komme!“ (aus: Benn, Der Brief nach Meran) oder „Welch entsetzliches Gewässer! / Herr und Meister, hör mich rufen!“ (aus: Goethe, Der Zauberlehrling) reizvoll sein? Wie wollen und können Heranwachsende sich im Rahmen von Interviews dazu äußern? Welche Erfahrungen machen sie beim Vortragen eines Gedichtes vor der Klasse? Welche Schlüsse ziehen sie aus widerständigen Erfahrungen? Wie erleben sie Lyrik mit pädagogischer Absicht (Zeugnissprüche)? Und schließlich: Wie lassen sich die Erfahrungen empirisch analysieren und theoretisch fassen? Welcher methodisch überprüfbare und erschließbare Zugriff wäre geeignet, in dieser Frage zu einem Erkenntnisgewinn zu kommen?
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Einleitung
Im Zentrum des Erkenntnis leitenden Interesses stehen also die heranwachsenden Schüler selber mit Bezug auf die Frage, ob und in welcher Weise gerade das Nicht-Alltägliche und Fremde der lyrischen Sprache (Zirfas 2004, Mattenklott/Rora 2004) eine Bereicherung ihres Erfahrungshorizontes darstellt und ob Gedichte zu einer Art „innerem Dialogpartner“ bei der Bewältigung der Adoleszenzkrise (Erikson 1970 u. 1988; Oevermann 2004) bzw. der Identitätsbildung (Göppel 2005) werden und Anstöße zur Selbstreflexion im Sinne eines Neuen (King 2002: 258) geben können und was das an ein Ritual (Wulf/Zirfas 2004) gebundene, allmähliche Einfließen lyrischer Sprache in den Unterricht in ihnen an Bildungsbewegungen freisetzen oder blockieren kann.5 Daran schließt sich die Frage an, ob und welche Bedeutung in der Lyrikrezeption dem Vollzug des auswendig Sprechens – einzeln und im Chor – dabei zukommt. Aus der Sichtung bisheriger Forschungsarbeiten ergab sich, dass, zumindest zu Beginn meiner Untersuchung 2006, zur Unterrichtsforschung an Freien Waldorfschulen eher wenig, zur spezifischen Fragestellung dieser Arbeit selbst bisher keine empirischen erziehungswissenschaftlichen Studien vorlagen.6 Dazu will die hier vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten und in einem ersten Schritt Bildungsaspekte der Waldorfpädagogik in Beziehung setzen zu modernen Ansätzen der Schulkultur- und Unterrichtsforschung (Helsper 1998 u. 2000). Eine daran anschließende Darstellung versucht, fokussiert auf den Umgang mit Gedichten, einen Überblick zu geben über pädagogisch-didaktische Aspekte der Unterrichtskultur an Freien Waldorfschulen. In einem zweiten Schritt soll das aus der Fülle der Schüler- und Experteninterviews ausgewählte Sample von insgesamt acht interpretierten und analysierten Fällen konzentriert und anhand von vier Einzelfallanalysen beispielhaft dargestellt werden. Die vierte Analyse wird aus darstellungspragmatischen Gründen in Form einer Miniatur ausgeführt. Nach einer resümierenden Darstellung der Eckfälle folgt in einem dritten Schritt schließlich eine zum Teil kontrastierende Zusammenfassung mit dem Ziel, anhand der Fallrekonstruktionen typische Formen von Bedeutungszuschreibung und Aneignung von Gedichten herauszuarbeiten, um daran zu zeigen, welche Bildungsprozesse durch Lyrik in der frühen Adoleszenz motiviert werden können. Dies wird ergänzt durch die Darstellung einer Strukuturgeneralisierung, die auf der Basis der Dimensionen der vier Fallstrukturen expliziert werden, sowie ein kurzes Kapitel, das die Ergebnisse im Aspekt der Entstehung von neuen Qualitäten der Selbst- und Weltbezüge der Heranwachsenden zusammenfasst. 5
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Ich beziehe mich hier auf die Arbeit von Lösener und ziehe den Begriff „Auswendigsprechen“ dem Rezitieren bzw. Deklamieren vor, da er unabhängig ist von der künstlerischen Form eines wiederzugebenden Gedichttextes. Ich verweise auf Ullrich 2006/Idel 2005 u. 2007; Kolbe/Idel/Kunze 2003 u. 2005; Helsper/Ullrich/Idel/Graßhoff/Höblich 2007; Kunze 2008
Einleitung
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Daran schließt sich eine erste Gewichtung der Ergebnisse in Hinsicht darauf, inwieweit die Schule angesichts der veränderten Entwicklungssituation der Heranwachsenden und der Fokussierung auf ergebnisorientiertes Lernen nicht Lyrik wesentlich stärker in den Curricula berücksichtigen müsste (Berg 2005, Gruschka 2005, Krieger 2004, Marti 2006). Ich werde diese Gewichtung in Form einer Skizzierung von empirisch gewonnenen Thesen zu einer Theorie der Lyrikrezeption darstellen. Obgleich die Untersuchung nicht auf eine Kritik der Didaktik der Gedichtrezeption abzielt, erhoffe ich mir ferner anhand der vorgelegten Ergebnisse eine Erkenntnisbasis für alle interessierten Lehrpersonen, ob sie mit waldorfpädagogischen Methoden arbeiten oder nicht, so dass die konstruktive Kritik der Heranwachsenden für pädagogisch „Hellhörige“ bewusst werden und in die Gestaltung des Unterrichts einfließen kann (Purves/Rippere 1974; Rumpf 1996; Gruschka 2005). Nicht zuletzt soll mit der vorliegenden Arbeit ein Beitrag geleistet werden für die zumindest zu Beginn meines Projektes noch magere Forschungslage zur Waldorfpädagogik, der dem tatsächlichen Bildungswirken von Freien Waldorfschulen entspricht, um deren faktischer Bedeutung in der Bildungslandschaft gerecht werden zu können (Idel 2007: 10).7 Dass als Zielgruppe der Untersuchung ausschließlich Schüler Freier Waldorfschulen aus zwei verschiedenen Bundesländern gewählt wurden, ergab sich forschungslogisch aus der Konzeption der Arbeit und war im Sinne einer besseren Vergleichbarkeit ausschlaggebend, da im Unterricht der Regelschulen Gedichte ein relativ seltenes Lernangebot sind und erst in höheren Klassen – meist in der reflexiven Form der Gedichtinterpretation – bearbeitet werden. Demgegenüber kann im Rahmen des Unterrichts an Freien Waldorfschulen von einer ganzheitlichen, mit dem ersten Schuljahr beginnenden und bis zum Ende der achten Klasse in der metaphorischen Sprache der Gedichte aktiv (sprachhandelnd) verweilenden und fächerübergreifenden Arbeit ausgegangen werden (Kiersch 2007/2; Marti 2006; Eller 2007/2), an die in der Oberstufe angeknüpft wird. Da die Studie nicht primär fachdidaktisch motiviert ist, sollen die selbstverständlich latent vorhandenen literaturwissenschaftlichen, sprachästhetischen und didaktischen Aspekte der Gedichtrezeption und der methodischen Umsetzung von Lyrik an Freien Waldorfschulen nur in Bezug auf die Kernfrage thematisch werden.
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Vgl. Randoll in Paschen 2010: 127-151
1 Forschungsstand und theoretische Bezugnahmen der Kernthemen
1.1 Die Achtklässler: Zum Verständnis der frühen Adoleszenz 6RNRPPGDVVZLUGDV2IIHQHVFKDXHQ 'DVVHLQ(LJHQHVZLUVXFKHQVRZHLWHVDXFKLVW " # „Brot und Wein“, 3. Gesang
Da sich meine Ausgangsfrage an jugendliche Schüler richtet, soll zunächst ein möglichst unvoreingenommener Blick auf das Phänomen versucht werden. Welches Bild von dreizehn-, vierzehnjährigen Heranwachsenden ergibt sich gegenwärtig aus der Außenperspektive bzw. wie stellen sich die subjektiv Betroffenen selber dar?8 Die mannigfachen Konnotationen und wechselnden gesellschaftlichen Attribuierungen, die sich mit dem Wort „Jugend“ heute verbinden, vermitteln ein Bild aus vielen sich überlagernden Schattierungen. Aufgrund des breit gefächerten Diskurses zu diesem Thema werde ich mich auf die für die vorliegende Untersuchung wichtigsten Facetten konzentrieren und lediglich das skizzieren, was im Verlauf der Untersuchung in Zusammenhang mit empirischer Erfahrung gebracht, bei der Darstellung der Ergebnisse und ihrer Generalisierung aufgegriffen und ausgearbeitet werden soll. Eine einheitliche theoretische Konzeptualisierung des Phänomens „Jugend“ ist bisher nicht in Sicht. Trotz der Fülle der Literatur zum Thema fehlt eine Konsens stiftende interdisziplinäre Theorie zu diesem Komplex der Sozialisationsforschung (vgl. Hornstein 1974: 319-320). Die Divergenz der verschiedenen disziplinären Positionen stellt eine präzise und adäquate begriffliche Definition vor immense Schwierigkeiten. Plastizität und Wandelbarkeit des Begriffes spiegeln sich gleichsam in der Offenheit und dem innovativen Potential der Akteure, die er bezeichnen soll. Geulen appelliert an einen „Minimalkonsens über Grundannahmen der Sozialisationsforschung“. Er nennt in diesem Zusammenhang erstens Erfahrungen 8
Vgl. Zinnecker, „Jugend“ in: Benner/Oelkers 2004: 482-498; Bühler-Niederberger in Neuland 2007/2: 11-25. „Die ›Jugend‹ gibt es nicht mehr. Die kollektive Identität ist längst einem diffusen Individualismus gewichen, dem jede einheitsstiftende Färbung fehlt. Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Dies ist der zentrale Leitsatz meiner ›Generation‹.“ (21-jähriger ZEITLeser aus: DIE ZEIT Nr. 38 vom 11. September 2008: 64)
H. Handwerk, Die Bedeutung von Lyrik in Bildungsprozessen der frühen Adoleszenz, DOI 10.1007/978-3-531-92737-4_2, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1 Forschungsstand und theoretische Bezugnahmen der Kernthemen
der materiellen, sozialen und kulturellen Umwelt als konstituierende Bedingungen der Epigenese menschlicher Persönlichkeit. Zweitens sei die Art und Weise, wie diese Bedingungen wirksam werden, als Interaktion mit dem sich bildenden Subjekt zu fassen. Drittens sieht er Bildung als einen lebenslangen Prozess, der gesteuert werde von äußeren Ereignissen, aber auch von in vorausgegangenen Sozialisationsprozessen entstandenen Persönlichkeitsstrukturen. Als vierte Grundannahme problematisiert Geulen die Begrifflichkeit selbst (am Beispiel des Abstraktums „Persönlichkeit“) mit dem Hinweis auf das je spezifische Interesse des Forschenden und die normativen Implikationen, die sein Verhältnis zum Forschungsgegenstand beeinflussen können (Geulen 2004: 3-19). Damit ist auch die Schwierigkeit einer eindeutigen Qualifizierung des für die vorliegende Untersuchung fokussierten Begriffes „Jugend“ resp. „Adoleszenz“ und der mit ihm verbundenen Implikationen evident. Da sich meine Forschungsfrage an jugendliche Waldorfschülerinnen und -schüler richtet, ergeben sich aus Kontext und pädagogischem Konzept dieser Schulform weitere komplexe Implikationen, die in einem gesonderten Abschnitt dargestellt werden (vgl. Kap. 2.1.). In einer vorläufigen und pragmatischen Begriffsdefinition von „Jugend“ folge ich in Hinsicht auf eine zeitliche Orientierung zunächst der klassischen Periodisierung des Jugendalters, wonach sich Schüler der achten Klasse im Übergang vom Entwicklungsabschnitt der „Transeszenz“ (dem Abschied von der Kindheit) in die „frühe Adoleszenz“ befinden, in einem Zeitpunkt ihrer Entwicklung also, in dem die körperlichen Umstellungen der Pubertät „weitgehend abgeschlossen“ sind (vgl. Oerter/Montada 1987/2: 312).9 Ich werde hier dem Terminus „Adoleszenz“ bzw. „Frühadoleszenz“ den Vorzug geben, weil er das Phänomen distanzierter, weniger reduziert auf Alltagskonnotationen zu beschreiben erlaubt als der Begriff der „Jugend“ resp. „Jugendlichkeit“, und schließe mich damit an das Verständnis von „Adoleszenz“ an, wie es von King definiert wird. Auch sie geht davon aus, dass der biographische Abschnitt „Jugend“ nicht mehr eindeutig bestimmbar ist, und schlägt einen weiter gefassten Begriff der Adoleszenz vor:
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N. Kluge diagnostitziert in seinen Beiträgen zur Sexualwissenschaft und Sexualpädagogik vom Mai 2006 eine fortschreitende Vorverlagerung der Pubertätsentwicklung und Sexualreife bei Mädchen und Jungen in Deutschland. Er prognostiziert für das Jahr 2010 ein erwartetes Menarchealter von 9,7 bis 10,3 Jahren. (N. Kluge 2008: 2) Erhebungen des Robert-Koch-Institutes, die im Rahmen einer Studie zur Kinder- und Jugendgesundheit (KiGGS) von Mai 2003 bis Mai 2006 die wichtigsten Lebensdaten von 17.641 Jungen und Mädchen in Deutschland abgefragt haben, bestätigen diesen Trend nicht und geben als durchschnittlichen Zeitpunkt des Beginns der Pubertät (konzentriert auf die sexuelle Reifung) bei Mädchen das dreizehnte, bei Jungen das vierzehnte Lebensjahr an. (Vgl. http://www.kiggs.de/experten/downloads/Basispublikation, Abruf v. 5.6.2009)
1.1 Die Achtklässler: Zum Verständnis der frühen Adoleszenz
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„der … nicht einfach auf eine Lebensphase abzielen (soll; HH), sondern zudem auf eine potenzielle Qualität dieser Übergangsphase, nämlich ein psychosozialer Möglichkeitsraum zu sein, der jene weitergehenden psychischen, kognitiven und sozialen Separations-, Entwicklungs- und Integrationsprozesse zulässt, die mit dem Abschied von der Kindheit und der schrittweisen Individuierung im Verhältnis zur Ursprungsfamilie, zu Herkunft und sozialen Kontexten in Zusammenhang stehen.“ (King 2002: 28-29)
King stellt in ihrer Arbeit zwei Charakteristika heraus, die den Eintritt in das Anerkennungsvakuum begleiten und für die vorliegende Arbeit Relevanz haben: zum einen die strukturelle Einsamkeit des Heranwachsenden, zum anderen den strukturellen Kreativitätsprozess im Aspekt der Entstehung eines Neuen, jenes individuellen Einzigartigkeitsentwurfs, der jeweils in Differenz zu den von Eltern und Gesellschaft je gegebenen Möglichkeiten (bei ungleich verteilten Ressourcen) ausbalanciert werden muss. Die Entwicklungsaufgabe ist demnach ein Bewährungs- und Gestaltungsprozess im sozial Gewordenen, ohne sich diesem zu unterwerfen (vgl. King 2002: 259). Diese Tendenz zum Entwerfen und Verwandeln äußert sich in individuellen Selbst- und Zukunftsentwürfen, in einer neuen Form des Selbst- und Weltbezugs, im Pendeln zwischen heteronomen und autonomen Strebungen sowie einem Bedürfnis der Regelung von Nähe und Distanz. Letztere manifestiert sich vor allem in der Priorität der intra-generativen Beziehungen (bzw. einer Beziehung unter Gleichen) und einer distanzierter, selbstbewusster werdenden Position gegenüber der Generation der Erwachsenen (der Anderen). Hinzu kommen die Wahrnehmung der gravierenden körperlichen Umstrukturierungen sowie widerstreitende Gefühle im Zusammenhang mit der erwachenden Sexualität, die das frühere Kohärenzgefühl des kindlichen Ich mit Körper und Leib gehörig verstören können.10 Diesen Übergang von der Kindheit in die Erwachsenenwelt will das Individuum möglichst unabhängig und selbstständig gestalten. Dies vollzieht sich jedoch nicht harmonisch, sondern in einer oszillierenden Bewegung, die, wie jede Neu- und Umgestaltung, krisenhaft verläuft, zugleich aber den Reiz des Kräfte-Messens in sich trägt. Die Anerkennung der Krisenhaftigkeit von Sozialisations- bzw. Bildungsprozessen ist eine erste Prämisse, unter der der hier vertretene Begriff der (frühen) Adoleszenz sich verortet. Darauf werde ich weiter unten zurückkommen. Das für den Menschen konstitutive Bedürfnis zu wachsen, sich zu entwickeln „nach dem Gesetz, wonach du (das Individuum; HH) angetreten“ (Goethe), setzt in der Frühadoleszenz komplexer fort, was seinen Ursprung in der Kindheit hat, nur mit dem Unterschied, dass Jugendliche (selbst)bewusster 10
In der Differenzierung von „Körper“ und „Leib“ beziehe ich mich auf Plessners Begriff der „Exzentrischen Positionalität“ (vgl. Fischer 2000); hier ergeben sich Anschlussmöglichkeiten an die Struktur des auf Entwicklung angelegten Menschenbildes der Waldorfpädagogik (vgl. Leber 2002; Bd. III).
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1 Forschungsstand und theoretische Bezugnahmen der Kernthemen
als ein Kind in die Erwachsenenwelt eindringen, sie zu ihrer Welt machen und ein Stück weit die alte Generation mitsamt ihren Objekten (z. B. Einstellungen, Rituale, Gewohnheiten) dabei ausrangieren wollen.11 Die „selbstwirksame Eigenaktivität der Subjekte“ fließt in den Begriff der Ich-Identität12 ein, wie er von Habermas in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelt worden ist. Habermas bezieht die unterschiedlichen Dimensionen, auf die das Subjekt (Ich) Einfluss nimmt und von denen es gleichzeitig beeinflusst wird, in sein auf Ideen zur „kritischen Theorie“ einer bürgerlichen Gesellschaft rekurrierendes Konzept ein. Basierend auf den klassischen Entwicklungstheorien und der „Idee der Mündigkeit“ als dem Fundament einer freien, kritischen Gesellschaft, gleichzeitig jedoch in Abgrenzung zur Rollentheorie von Parsons, entwirft Habermas als Ziel der Sozialisation die Eventualität kommunikativen Handelns als Potentialität einer „autonomen Ich-Identität“. In sein Konzept eingebettet sind sowohl die Erkenntnisse der Psychoanalyse (z. B. das Lebenszyklus-Konzept Erikson aus der Sicht der analytischen Ich-Psychologie) als auch die Forschungsergebnisse von Piaget, d. h. das Konzept der kognitivistischen Entwicklungspsychologie (Piaget/Inhelder 1973/2) sowie der ethische Diskurs (Kohlbergs Stufen des moralischen Bewusstseins; Kohlberg 2007). Dabei stellt die von Piaget formulierte Fähigkeit des formal-operationalen Denkens zwar die kognitive Voraussetzung der Ich-Identität dar, doch Habermas stellt in seinem Konzept heraus, dass letztere sich erst bilde „in sozialen Interaktionen“ (Habermas 1976: 68).13 „Die Erlangung der Ich-Identität ist […] nicht der natürliche Endpunkt eines universal gültigen Entwicklungskonzepts. Habermas selbst schließt ein, dass autonomes Handeln stets vakant ist und individuelle Reifekrisen sowie kumulative Lernprozesse zur Voraussetzung hat.“14
11
12 13
14
Vgl. dazu Bollas, a.a.O., S. 239: „Wir wissen, dass jede Adoleszenz eine Zeit notwendiger Gewalt zwischen den Generationen ist, wenn die heranwachsende Generation die Eltern und ihre Objekte beseitigen muss, um für ihre eigene Ära eine Vision zu finden.“ Weiter S. 245: „… wir sehen, wie unsere kostbaren Objekte … auf den Abfallhaufen der Geschichte geworfen werden, und in diesem Sinne hat die generative Zeugung etwas Kannibalisches: Die neue Generation schiebt die älteren Generationen beiseite und lässt sie … als Skelett zurück.“ Vgl. Habermas 1976: 63-88 Näheres dazu in: Baumgart 2004/3, Kapitel V, „Kommunikatives Handeln und Ich-Identität – Habermas“, S. 154-181; Schneewind, „Sechs Thesen zur Sozialisationstheorie aus der Sicht der Persönlichkeitspsychologie“, in: Geulen/Veith, a.a.O., S. 117-128. Zum Begriff „Identität“ vgl. Göppel 2005: 219; Erikson 1968/3: 255-258. Zum Begriff „Generativität“ King 2002: 255-257; zum Aspekt von adoleszenter Differenzerfahrung: auszugsweise Mitschrift (der Verfasserin) einer Vorlesung von Vera King an der Goethe-Universität Frankfurt/M. am 24.10.2008 Vgl. Bauer, „Keine Gesinnungsfrage. Der Subjektbegriff in der Sozialisationsforschung“, in: Geulen/Veith 2004: 68; zum Begriff des „autonomen Handelns“ (vgl. Oevermann 1991: 314-326)
1.1 Die Achtklässler: Zum Verständnis der frühen Adoleszenz
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Klassische Konzepte der Adoleszenz In der klassischen Literatur zur Jugendtypologie dominieren die theoretischen Modelle Jugend als Transitionsphase versus Jugend als Moratorium.15 Aus der erstgenannten Perspektive wurden Forschungskonzepte erarbeitet, die den Übergangscharakter, die Vorbereitung auf den Erwachsenenstatus in Verbindung mit konkreten Entwicklungsaufgaben herausstellen. Jugend wird hier gesehen als ein im Lebenslauf eher „transitorisches vorübergehendes Ereignis ohne zwingende, lebensgeschichtliche, sozialisatorische Tiefenwirkung“ (Zinnecker 1991: 9). In Konzepten des Moratoriums hingegen, die sich weitgehend auf die Psychoanalyse beziehen, steht die Idee im Vordergrund, dass Jugend eine Art schöpferischer Pause, „eine Zeit des Aufschubs sei, in deren Verlauf notwendige Identitätsfindungsprozesse stattfinden…eine eigenständige Lebensphase mit spezifischen, von der Erwachsenengesellschaft relativ unabhängigen Ausdrucksformen“ (Reinders 2003: 131). Als klassisches Konzept dieser Position gilt Eriksons Lebenslaufmodell der acht Lebensphasen, in dem Adoleszenz als Phase der Bewältigung der krisenhaften Polarität von „Identität versus Identitätsdiffusion“ formuliert und deren zentrales Phänomen in der Suche nach Identität gesehen wird (Erikson 1992/2: 94-101). Der von Mead eingeführte Begriff der Ich-Identität wird von Erikson aufgegriffen und in der Phase der Adoleszenz verortet: „Das Gefühl der Ich-Identität ist … die angesammelte Zuversicht des Individuums, dass der inneren Gleichheit und Kontinuität auch die Gleichheit und Kontinuität seines Wesens in den Augen anderer entspricht“, jedoch mit der Gefahr „der Rollenkonfusion. … Um sich selbst zusammenzuhalten, überidentifizieren sie sich zeitweise scheinbar bis zum völligen Identitätsverlust mit den Cliquen- oder MassenHelden.“ (Erikson 1968/3: 256)
Dieser Ansatz der Identitätsbildung, die sich im Kampf gegen eine Identitätsdiffusion vollzieht (Kohlberg 2007: 170), zeigte sich für das Herausarbeiten der durch Lyrik eingeleiteten Bildungsprozesse als eine zentrale Erfahrungsdimension und konnte mit den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit vielfach in Beziehung gesetzt werden.
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In einem Versuch, die beiden Ansätze „Jugend als Transition“ und „Jugend als Moratorium“ mit dem Konzept jugendlicher Entwicklungswege zu kombinieren, unterscheidet Reinders vier Jugendtypen, die er „eng an das Zeitbewusstsein und die generationale Orientierung der Jugendlichen“ (an der älteren Generation) knüpft. Diese vier Typen (der Integration, Assimilation, Segregation und Marginalisierung) sind jedoch noch wenig differenziert und keineswegs als Festlegung gedacht, sondern als Grundgerüst, „um von hier aus weitere Differenzierungen leisten zu können.“ (Reinders 2003: 139-140)
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1 Forschungsstand und theoretische Bezugnahmen der Kernthemen
Autoren der strukturtheoretischen Perspektive greifen das Modell Eriksons auf und beschreiben den Individuationsprozess als Folge struktureller Ablösungskrisen (Oevermann 2005 u. 2008), deren Bewältigung zu wachsender Autonomie der Heranwachsenden führt. Ich werde im Abschnitt „Adoleszenz als krisenhafter Prozess“ darauf zurückkommen. Die Konfrontation mit den Werten und Setzungen der Erwachsenenwelt, die Neugestaltung früherer Bindungen und Identifikationen sind das Feld, auf dem Adoleszente sich bewähren und zu einer neuen Qualität eigenständigen Handelns finden müssen (vgl. Helsper a.a.O.: 66). Aufgrund der sich rasant verändernden gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse wird in der jüngeren Identitätsdebatte die Unschärfe des Identitätsbegriffs reflektiert und gefragt, ob in dieser Hinsicht das von Erikson formulierte klassische Konzept der Identitätsbildung als Durchgang durch eine phasenspezifische Krise und die Festlegung auf „bestimmte Ideale, Weltsichten und Zukunftsvorstellungen“ heute so noch tragfähig sei.16 Es wird bezweifelt, „ob jene Art von relativ ganzheitlicher, abgerundeter, kohärenter, harmonischer Identität…als Resultat geglückter Identitätsbildungsprozesse…überhaupt noch möglich, wünschenswert und „zeitgemäß“ sei.“ (Göppel 2005: 219; Hvh. d. Autor). Göppel zitiert diesbezüglich Berichte von (mehrheitlich weiblichen) Adoleszenten, die die Frage „Wer bin ich?“ reflektiert und schriftlich fixiert haben, und klassifiziert ihre Aussagen je nach deren metaphorischem Gehalt sowie unter der Perspektive differenter Erfahrungsweisen von Identität (Göppel, a.a.O.: 220-238). Für Autoren dieser Provenienz ist demnach die Frage, ob vor dem Hintergrund der gesamten sozio-kulturellen Veränderungs- und Modernisierungsprozesse nicht auch der Begriff „Adoleszenz“ obsolet sei bzw. einen Transformationsprozess durchlaufen hat (und durchläuft), der bei seiner Interpretation zu berücksichtigen wäre.
Modernisierungsantinomien der Gesellschaft und Adoleszenz Da das von mir untersuchte Feld von kulturellen, ökonomischen wie auch von somatopsychosozialen Ungewissheiten entgegen mancher Vorannahmen keineswegs ausgenommen werden kann, soll in diesem Abschnitt die Frage der „Wandlungsprozesse des Aufwachsens“ aufgegriffen und skizziert werden.17 16
17
Als gravierendes Beispiel wäre hier die Erschließung und steigende Nutzung von neuen medialen Kommunikationsräumen wie Facebook u. ä. zu nennen; vgl. DIE ZEIT Nr. 3 vom 10.1.2008, S. 17-18, „Das alternative Massenmedium“ Vgl. Geulen, a.a.O., S. 18. Ausführliche Erörterung des sich mit dem gesellschaftlichen Kontext verändernden „Adoleszenz“-Verständnisses (am Beispiel der sechziger bis achtziger Jahre in USA) vgl. Kohlberg 2007: 111-116; Helsper 2003
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Helsper untersucht dies vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Modernisierungsantinomien bzw. -ambivalenzen. Er differenziert diese in vier Einflussbereiche bzw. Milieus und beleuchtet sie in Hinsicht auf ihre pädagogische Relevanz: Unterschieden wird erstens die Individualisierungsantinomie als Widerspruch wachsender Entscheidungsfreiheit bezüglich der vom Individuum als angemessen empfundenen Lebensform bei sinkender direkter sozialer Kontrolle und gleichzeitig neuen Abhängigkeitsformen von indirekten Kontrollmechanismen kaum beeinflussbarer System- und Organisationszwänge. Als eine Folge der Individualisierungsantinomie formuliert Helsper zweitens die Rationalisierungsantinomie, die sich in Gestalt abstrakter Systeme in der persönlichen Sphäre breit mache, etwa durch ununterbrochen sich ändernde bürokratische Strukturen, das imperative mediale Einhämmern von Versicherungs- und Vorsorge„Kulturen“ sowie eine unverlässlicher werdende Arbeitswelt. Als drittes Beispiel der Modernisierungsambivalenzen nennt Helsper die Pluralisierungs- oder Differenzierungsambivalenz, das heißt eine Tendenz der Vermischung von lokalen und regionalen Deutungsvorräten mit global eingespeisten Sinnmustern. Unter Punkt vier wird das Thema Zivilisationsantinomie gefasst, deren Ausdruck der Autor darin sieht, dass das Individuum den sozialen Rationalisierungsanspruch mit dem eigenen Selbst gewissermaßen vereinbaren müsse, eine Anforderung, die jedoch „von gegenläufigen Prozessen konterkariert“ werde. „Diese Gleichzeitigkeit der gesteigerten Anforderung zur Selbstdisziplinierung (des Individuums, HH) und andererseits der expandierenden Ansprüche auf emotionale Anerkennung und Liebe als genau dieser einzigartige Mensch sowie auf ekstatische, sinnliche, ästhetische Erfahrungen kann als ein wesentlicher Ausdruck der Zivilisationsantinomie gefasst werden.“ (Helsper, a.a.O.: 13-20) Die Spannungen, die mit den geschilderten gesellschaftlichen Modernisierungsambivalenzen bzw. -antinomien einhergehen, sind nun insbesondere im Prozess von Individuation und Identitätsbildung während der frühen Adoleszenz, also in der Phase eines fragilen Selbstbildes, virulent: Denn vor dem Hintergrund einer relativ stabilen Gesellschaft können sich Dreizehn-, Vierzehnjährige, deren Selbst noch instabil ist, entspannter und unbekümmerter gegenüber peripheren Zuweisungen verorten als in Zeiten wachsender Ungewissheiten (vgl. dazu auch Kohlberg 2007: 113). Diese lassen sich auch in Form eines sich wandelnden Verhältnisses zwischen Schülern und Lehrern und von Irritationen des strukturell hierarchischen Autoritätsverhältnisses im pädagogischen Alltag nachweisen: Die am Schulleben beteiligten Akteure müssen Nähe und Distanz, Symmetrie und Asymmetrie, Autonomie und Heteronomie sowie Kollektivität und Individualität jeweils neu bestimmen und ausbalancieren (Helsper, a. a. O.: 38-74). Diese Dimensionen sollen im weiteren Verlauf der Untersuchung aufgegriffen und vor allem bei der Bearbeitung der Fallstrukturen konkretisiert werden.
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Bei der Frage, ob diese Entwicklung so neu sei, ist zu berücksichtigen, dass Wandlungsprozesse des Aufwachsens immer schon auf der Folie des historischen Kontextes gesehen werden konnten. Von daher stellen sie keinen jähen Bruch dar, dessen problematische Seite sich erst für die „Jugend der zweiten Moderne“ (Böhnisch 2008) zeigt, sondern „Adoleszenz“ war auch früher verknüpft mit gesellschaftlichen Umbrüchen. Als deren Folge können Wandlungsprozesse jugendlichen Aufwachsens gesehen werden. Der Begriff „Adoleszenz“ bleibt demnach „durch die spezifische Verflechtung von Individuations- und Integrationsprozessen…abgrenzbar“ und behält einen „eigenständigen Stellenwert im menschlichen Lebenslauf“ (Hurrelmann 1999: 288).
Adoleszenz als krisenhafter Prozess Im Folgenden kehre ich zurück zur Prämisse der Krisenhaftigkeit von Sozialisations- bzw. Bildungsprozessen. Aus strukturtheoretischer Sicht wird Sozialisation als Prozess der Krisenbewältigung verstanden, der sich im Spannungsfeld von Krise und Routine vollzieht.18 Dieses Verständnis von Adoleszenz ist für die vorliegende Arbeit sowohl epistemologisch als auch methodologisch attraktiv, da die von Oevermann entwickelte und im Rahmen seiner Untersuchungen angewandte Erschließungsmethode der objektiven Hermeneutik bei den hier vorliegenden Fallanalysen angewendet werden wird. Das Konzept von Krise und Routine wie auch die von Oevermann formulierten Strukturprinzipien von Bildungsprozessen (Oevermann 2005: 45-90) zeigen sich in bestimmten Aspekten, etwa in dem erweiterten Bildungsbegriff und der Forderung eines autonomen Bildungswesens, anschlussfähig an Kerngedanken der Waldorfpädagogik. Sowohl von Methode und Methodologie der objektiven Hermeneutik als auch von Oevermanns Verständnis von Adoleszenz und Bildung sind inspirierende Impulse für die vorliegende Studie ausgegangen, auf die ich mich im Rahmen der Fallrekonstruktionen und der Darstellung der Ergebnisse beziehen werde (vgl. Kap. 1.3.). Daher soll zur Klärung des Adoleszenzbegriffs das Sozialisationskonzept von Oevermann etwas ausführlicher dargestellt werden. Vorausgeschickt werden muss zunächst, dass Oevermanns Krisenbegriff kein Untergangsszenario heraufbeschwören will, sondern Krise im ursprünglichen 18
Auf das Problem einer mangelnden Übereinstimmung bezüglich des Begriffs „Sozialisation“ wie auch des theoretischen Hintergrundes wurde weiter oben bereits hingewiesen. Vgl. dazu auch Geulen/Veith 2004, S. VII. Vgl. auch die Definition von Hurrelmann: „Sozialisation bezeichnet den Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und dinglich-materiellen Umwelt.“ (Hurrelmann 1986, in: Baumgart, a.a.O.: 19)
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Wortsinn von (griechisch) krísis = Entscheidung19 verwendet und – als der Polarität von Routine – als „Chance zum Aufschwung auf eine neue Bildungsstufe … aber auch mit dem Risiko des folgenreichen, bis zur Pathologie gehenden Scheiterns“ gesehen wird (Oevermann in: Kufeld 2005: 74). In diesem Aspekt birgt die Krise immer auch die Chance zur Ausbildung eines Neuen und ist für die Gattung Mensch konstitutiv. Oevermann unterscheidet drei Typen von Krise, deren selbstständige Bewältigung dem Individuum jeweils eine spezifische Qualität von Autonomie ermöglichen kann: Erstens die traumatische Krise, die hervorgerufen wird von mannigfachen leiblichen oder von der Natur ausgehenden Erfahrungen bzw. von sozialen Ereignissen, die jedoch vom Handeln des in der Krise Befindlichen gar nicht verursacht worden und von ihm aus auch nicht steuerbar sind (z. B. traumatische Überraschungen oder andere äußere Ereignisse, die verletzend oder auch beglückend auf das Individuum wirken können). Der zweite Krisentypus, die Entscheidungskrise, ist konstitutiv für die Lebenspraxis.20 Sie ist eine Art von Krise, die die daran beteiligten Akteure nicht von außen „überfällt“, sondern die zumindest zum Teil selbst mit verursacht wurde. Dazu muss der Handelnde sich verhalten, sich wie auch immer entscheiden (Wegscheiden-Situation). In dieser Perspektive ist die Adoleszenzkrise die Entscheidungskrise par excellence. Innerhalb einer individuellen Biographie sind Übergänge und Abstufungen markiert, die tendenziell zu einem wenn auch je vorläufigen Abschluss drängen. Die Bewältigung der Adoleszenzskrise als letzte der vier großen Ablösungskrisen ist in diesem Aspekt Prototyp einer autonomen Krisenbewältigung. Es ist in Hinsicht auf Bildungsprozesse sinnvoll, die hier vertretene Auffassung der spezifischen Bedeutung und des Stellenwerts der Adoleszenzkrisenbewältigung genauer zu betrachten. Oevermann subsumiert unter die vier großen Ablösungskrisen die Geburt (0 J.), die Trennung der Mutter-Kind-Symbiose (1½-2 J.), die Abkehr von der familialen ödipalen Triade, die Trennung von mütterlichem und väterlichen Ich (5-6 J.) und schließlich die Adoleszenzkrise (Beginn 12-13 J.). Er begründet damit ein Modell von fünf Phasen des individuellen Bildungsprozesses, in den er die Embryonale Phase, den vorgeburtlichen Zustand einbezieht (Oevermann in: Kufeld 2005: 78-79).
19 20
Vgl. zum Begriff ‚krisis’ Benner 2008: 180-184 Ich beziehe mich hier auf Oevermanns Begriff von „Lebenspraxis“: „Lebenspraxis stellt sich dynamisch durch … Vollzüge in einem Sprechakt eines ›I‹, im Präsens und … der Wirklichkeitsform her, sie ist nicht einfach statisch da. Der Begriff der Lebenspraxis bezieht sich also auf eine an sich dynamische Entität, die als kulturelle Amplifikation der Dynamik des biologischen Lebens gelten kann: Es ist eine Größe, die als diese Dynamik von biologischer kultureller Lebendigkeit zugleich sinnlich in Erscheinung tritt, aber als Lebenspraxis an sich abstrakt ist, d.h. sinnlich anschaulich nicht mehr fassbar ist, aber dennoch ganz konkret als in den objektiven Sinnstrukturen ihrer Ausdrucksgestalten rekonstruierbare Fallstruktur vor uns tritt.“ (Abschiedsvorlesung Ulrich Oevermann am 28. 04. 2008, S. 17)
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Spätestens mit dem Abschluss der Adoleszenz muss der Mensch zumindest „grundsätzlich Stellung bezogen haben zum universellen Problem der…nicht stillstellbaren Bewährungsdynamik“ (Oevermann ebd.). Diese Bewährungsdynamik des Erwachsenen, zu der Adoleszente sich in ein mehr und mehr bewusstes Verhältnis setzen müssen, kommt auf drei Ebenen („Karrieren“) in Betracht: erstens der Beteiligung an der sexuellen Reproduktion, zweitens der Leistung und des Berufes, drittens der Übernahme von Pflichten gegenüber dem Gemeinwohl. Oevermann schlägt vor, die individuelle Gesamtbiographie eines Menschen nicht nur in sich gestuft zu sehen, „sondern auch als zu einem – je vorläufigen – Abschluß drängend … Heuristisch bietet sich das Ende der Adoleszenzkrisenbewältigung als dieser Abschlußpunkt an. Danach muß der Adoleszent sich voll selbstverantwortlich den gesellschaftlichen Zumutungen stellen und darf an den für sie charakteristischen inneren Widersprüchen und Konflikten nicht zugrunde gehen. Das kann er nur in dem Maße bewältigen, indem er sich dagegen durch einen stabilen Selbstentwurf von Einzigartigkeit und personaler Identität immunisiert und wappnet. Diesen wiederum erlangt er nur in dem Maße, indem er sich im Moratorium der Adoleszenz dem Erproben vielfältiger und auch extremer Lebensmodelle hingegeben hat.“ (Oevermann a.a.O.: 76)
Die (jugendlichen) Akteure, die für das Hereinbrechen der Krise zumindest mit verantwortlich sind und sich darin nun bewähren müssen, haben damit gleichzeitig Teil am „Prozess der systematischen Erzeugung des Neuen in der Polarität von Krise und Routine“ (Oevermann in: Baumgart 2004/3: 177; ders., in: Kufeld 2005: 74-90). Mit anderen Worten: Das heranwachsende Individuum erfährt sich in der produktiv-reflexiven Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Außenwelt einerseits in seiner unverwechselbaren Individuiertheit, andererseits ist es mehr und mehr in der Lage, auch sein Verbundensein mit bzw. seine Abhängigkeit von der Außenwelt zu reflektieren und dies in seinem Handeln zu berücksichtigen.21 Als dritter Typus wird die Krise durch Muße und ästhetische Erfahrung beschrieben. Auf diese werde ich in Kap. 1.3. im Zusammenhang des Verständnisses von „Aneignung“ eingehen.
Adoleszenz und Waldorfpädagogik Dem ganzheitlichen Entwicklungskonzept der Waldorfpädagogik und der von Steiner formulierten dreigliedrigen Einheit von Leib, Seele und Geist folgend wird Entwicklung als eine sich in rhythmischen Prozessen vollziehende Verbin21
Vgl. die unterschiedlichen Aspekte der Begriffe „I“ und „Me“ von Mead; Baumgart, a.a.O.: 122-125
1.1 Die Achtklässler: Zum Verständnis der frühen Adoleszenz
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dung bzw. Harmonisierung der (seelisch-geistigen) Ich-Organisation des Menschen mit seinem vererbten stofflichen (physischen) Leib beschrieben. Diese Dreigliedrigkeit ist nicht zu denken wie eine strikte „Einteilung“, sondern als ein gedankliches Konstrukt, das die Differenzierung und Qualifizierung unterschiedlicher, ineinander wirkender Prinzipien innerhalb einer Gesamtheit ermöglicht. Leitendes Prinzip dieser Gesamtheit ist das ›Ich‹ als rein geistige Realität.22 Das ›Ich‹ hat zwar den Impuls, sich vom Zeitpunkt der Geburt an sukzessive mit der vererbten Leiblichkeit zu verbinden und diese seiner Eigenart gemäß zu adaptieren, doch es selber entstammt nicht der physischen Welt. Es kann darum nur „an sich selbst vererben“, was es aus dem Geiste (als Ich-Individualität) „mitbringt“, und dies im Prozess der Individuation seiner ererbten Leiblichkeit einprägen. „Leib und Seele geben sich dem ›Ich‹ hin, um ihm zu dienen; das ›Ich‹ aber gibt sich dem Geist hin, dass er es erfülle. Das ›Ich‹ lebt in Leib und Seele; der Geist aber lebt im ›Ich‹. Und was vom Geiste im Ich ist, das ist ewig. Denn das Ich erhält Wesen und Bedeutung von dem, womit es verbunden ist.“ (Steiner 1962: 40)
Daraus ergeben sich zwei für das Verständnis der Waldorfpädagogik wesentliche Implikationen. Erstens: Die Biografie des Menschen ist nach zwei Richtungen hin offen; das heißt, das ›Ich‹ ist sowohl eine pränatale als auch eine postmortale (geistige) Realität.23 Es trägt seine Erfahrungen von Leben zu Leben weiter, um sie jeweils zu bereichern bzw. zu verwandeln. Zweitens: Das ›Ich‹ selber ist sinnlich nicht wahrnehmbar, sondern nur an seinen Wirkungen, als leibliche, kognitive und psychische Prägung zu erkennen. Die anderen Wirkmächtigkeiten, etwa die der Mitwelt und der je „signifikanten Anderen“ auf den Prozess einer Individuation, sind damit keineswegs ausgeschlossen. Die „ewige“, da rein geistige Realität des ›Ich‹ soll lediglich als eine weitere, treffender: als religiöse
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23
Der hier verwendete Begriff des ›Ich‹, wie Steiner ihn entwickelt hat, ist nicht identisch mit dem Ich-Begriff der modernen Ich-Psychologie bzw. Soziologie. Der in der Waldorfpädagogik verwendete Ich-Begriff bezeichnet die geistige Organisation des Menschen als das Zentrum seines Wesens. In seiner „Philosophie der Freiheit“ charakterisiert Steiner das ›Ich‹ folgendermaßen: „Innerhalb des Eigenwesens des Denkens liegt wohl das wirkliche ›Ich‹, nicht aber das ›Ich-Bewußtsein‹. … Das ›Ich‹ ist innerhalb des Denkens zu finden; das ›Ich-Bewußtsein‹ tritt dadurch auf, dass im allgemeinen Bewußtsein sich die Spuren der Denktätigkeit in dem oben gekennzeichneten Sinne eingraben. (Durch die Leibesorganisation entsteht also das IchBewußtsein.)“ (Steiner 1894, Dornach 1973/13: 117-118) Der für die Waldorfpädagogik konstitutive religiöse Aspekt des ›Ich‹ impliziert die Idee der wiederholten Erdenleben, der schicksalhaften Verbundenheit des Menschen mit seinen Taten (Karma) und dem Kosmos und ist für das Verständnis der Waldorfpädagogik von grundlegender Bedeutung. Ausführlich dazu: Leber 2002; Abschnitte zum Thema ›Ich‹ in den Bänden I, II und III); Hübner 2005: 347-350
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1 Forschungsstand und theoretische Bezugnahmen der Kernthemen
Dimension des Menschseins, die für die Waldorfpädagogik konstitutiv ist, in den Blick genommen werden. Dieser Eingliederungsprozess der Ich-Organisation in die Leiblichkeit (Inkarnation) wird getragen bzw. vermittelt von der verbindenden Einflussnahme des Seelischen auf kognitiver, psychischer und sozialer Ebene. Steiner unterscheidet dabei zwei Entwicklungsstränge: einen phylogenetisch wirksamen, biologischen („äußeren“) Reifungsvorgang, der eher regelmäßig verläuft und von der Individualität nicht unmittelbar gesteuert werden kann, sowie einen biografisch höchst individuell verlaufenden („unregelmäßigen“ oder auch „inneren“) Entwicklungsstrang, in dem die Fähigkeiten und Begabungen der Individualität zum Tragen kommen und sich entfalten (vgl. Leber 2002: 104). Goethes Idee von der Entwicklung alles Lebendigen als einem Zusammenwirken von Polarität und Steigerung aufgreifend, sieht Steiner die menschliche Entwicklung der leiblichen, seelischen und geistigen Fähigkeiten als Metamorphose, die sich rhythmisch, in etwa gleichen Zeitabständen (so genannten „Jahrsiebten“) und vom ›Ich‹ gesteuert vollzieht. Jeder dieser Entwicklungsprozesse ist verbunden mit charakteristischen Merkmalen, Fähigkeiten und Bedürfnissen und fordert von den beteiligten Pädagogen spezifische „Erzieher-Tugenden“, mit deren Hilfe das Kind bzw. der Jugendliche möglichst viel von der in seiner Individualität verborgenen Potentialität in einem Selbstentfaltungsprozess hervorbringen kann. Dabei verstehen sich diese „Jahrsiebte“ nicht (wie etwa bei Erikson) als Ergebnisse, „die durch die Erfahrung auf früheren Stufen determiniert“ sind (Kohlberg 2007: 328), sondern ergebnisoffen, als Auftauchen eines Neuen (etwa neue Fähigkeiten der Perzeption, Reflexion und Kognition), als Metamorphose früherer Wirksamkeiten und Energien, die durch die vorausgegangenen Stufen zwar vorbereitet, nicht aber im Sinne eines kumulativen Lernens aufgeschichtet und weiter getragen werden. Es handelt sich vielmehr um einen durchgreifenden inneren Strukturwandel, einen „Stirb und Werde“-Vorgang: die Ablösung vom Alten, der Untergang eines Erreichten und die Schöpfung bzw. die „Geburt“ eines Neuen.24 Die im Laufe der Kindheit (erstes Jahrsiebt: Geburt bis Zahnwechsel; zweites Jahrsiebt: Schulreife bis Pubertät) ausgebildeten leiblich-seelischen und kognitiven Fähigkeiten werden nun, beginnend ungefähr im dreizehnten, vierzehnten Lebensjahr (der frühen Adoleszenz), vom Individuum weiter umgewandelt und den individuellen Intentionen angepasst. Die frühe Adoleszenzphase bezeichnet so den Übergang des Jugendlichen in eine dritte, bereits fortgeschrittene Reifungsstufe (das dritte Jahrsiebt). Dies manifestiert sich leiblich unter anderem in 24
Der Ausdruck „Stirb und werde“ ist Goethes Gedicht „Selige Sehnsucht“ entnommen, in dem es heißt: „Und so lang du das nicht hast, Dieses: Stirb und Werde! Bist du nur ein trüber Gast Auf der dunklen Erde.“ (Goethe 1998: 18)
1.2 Lyrik als Kunstform im Kontext von institutionalisierten Bildungsprozessen
29
Gestalt des Gliedmaßenwachstums, der Veränderung der Haut, der Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale und der biologischen Möglichkeit zur Reproduktion bzw. der erwachenden Sexualität. Bewegungsabläufe und Gestik werden individuell ausdrucksvoll und bewusster. Mit der körperlich sichtbaren Individuation gehen starke Divergenzen der Empfindungen und Gefühle einher, gleichzeitig steigern sich Reflexions- und Abstraktionsfähigkeit, das Ich-Bewusstsein sowie die Fähigkeit, ein auf eigener Erkenntnis fußendes Urteil zu fällen. Wie weiter oben dargestellt, greift hier der individuell-unregelmäßig, mehr innerlich verlaufende Entwicklungsstrom, der sich in der leiblichen Zeugungsfähigkeit keineswegs erschöpft, sondern sich zu einer umfassend und allgemein werdenden Liebe-Fähigkeit (zum Selbst, zur Menschheit, zur Erde, zu einem Ideal, zu einer selbst bestimmten Aufgabe) steigern kann und tendenziell immer eigenverantwortlicher agieren will.25
1.2 Lyrik als Kunstform im Kontext von institutionalisierten Bildungsprozessen ,QHLQHPZDKUKDIWVFK|QHQ.XQVWZHUNVROOGHU,QKDOWQLFKWVGLH)RUPDEHUDOOHVWXQ GHQQGXUFKGLH)RUPZLUGDXIGDV*DQ]HGHV0HQVFKHQGXUFKGHQ,QKDOWKLQJHJHQ QXUDXIHLQ]HOQH.UlIWHJHZLUNW Friedrich Schiller, „Briefe …“, 22. Brief
Gedichte sind zunächst einmal Text, aber weder im Sinne von Wissen, noch von alltäglicher Verständigung. Sie stehen nach Jandl „zwischen Sprachnorm und Autonomie“ und können gerade durch dieses „Zwischen“ für Prozesse der SelbstBildung in der frühen Adoleszenz zur Anregung werden. Von der Suggestivität lyrischer Dichtung kann eine Faszination ausgehen, die – wie zu zeigen sein wird – für den Prozess der Identitätsfindung besonders attraktiv wird, wenn unbewusste oder krisenbehaftete Erfahrungen in der metaphorischen Sprache eines Kunstwerkes verobjektiviert, aussprechbar und damit bewusstseinsfähig werden. Daher sei im Folgenden der Aspekt der Selbst-Bildung die Folie, vor der Lyrik als Kunstform erörtert werden soll. Novalis sagt von der Dichtkunst, sie schaffe „nichts mit Werkzeugen und Händen; das Auge und das Ohr vernehmen nichts davon: denn das bloße Hören der Worte ist nicht die eigentliche Wirkung dieser geheimen Kunst. Es ist alles innerlich, und wie jene Künstler (Maler, Bildhauer; HH) die äußern Sinne mit angenehmen Empfindungen erfüllen, so erfüllt der Dichter das
25
Zech spricht im Aspekt dieses innerlich verlaufenden Entwicklungsstroms vom Zustand der Adoleszenz als einem „Schwanger(-sein; HH) mit dem Ich.“ (Zech 2008: 9-13)
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1 Forschungsstand und theoretische Bezugnahmen der Kernthemen
inwendige Heiligthum des Gemüths mit neuen, wunderbaren, und gefälligen Gedanken.“ (Novalis; Heinrich von Ofterdingen – Die Erwartung; 1981: 255)
Dem entspricht die Problematik der vorliegenden Arbeit, dieses Neue, Wunderbare im Bildungsprozess von Heranwachsenden nachzuweisen. Vorausgeschickt sei als eine erste Annäherung ein – allerdings grob vereinfachender – Blick in die Geschichte der Poetik und die seit Aristoteles übliche Differenzierung in eine epische, dramatische und lyrische Kunstform, die je nach Intention des Künstlers eine spezifische innere Haltung desselben voraussetzt. Ein Charakteristikum des Epischen ist, dass der Dichter aus einer zeitlichen Distanz vergangene Ereignisse anschaulich macht. Im Drama stehen die handelnden Personen im Mittelpunkt. Charakteristisch ist hierbei nicht die nuancierte Wiedergabe eines vergangenen Geschehens durch die Kunst des Erzählenden, sondern die Akteure selber, ihr tragisches Verstricktsein, an dem sich die Dynamik der Handlung entzündet, sind Träger der dramatischen Dichtung. Im Lyrischen schließlich tritt der Dichter als Subjekt in Erscheinung; er selber spricht sich als „das dichterische Ich […] monologisch aus“ (Hvh. Urbanek).26 Daraus ergibt sich ein gewisser Gegensatz des Lyrischen vor allem zum Epischen, aber auch zum Dramatischen: Der lyrische Dichter spricht weder aus der Distanz eines epischen Erzählers, noch geht er in den Gestalten seines Werkes auf wie der Dramatiker. Er gibt vielmehr die Empfindungen und Gedanken kund, die ihm in der augenblicklichen Begegnung mit einem bestimmten Gegenstand bedeutungsvoll wurden und die er nun zum lyrischen Bild verdichtet. Der eigentliche Gehalt lyrischer Dichtkunst ist „die Subjektivität als solche“.27 Der Sprechende bzw. der Dichter wird zum „lyrischen Ich“, von dem eine suggestive Kraft ausgeht, die der Rezipient unmittelbar übernehmen und zu seiner eigenen machen kann. So kann ein Gedicht zum Ausdruck eigener Gefühle und Gedanken, zu einem Spiegel werden, in dem sich Erfahrung aktualisieren und Unsagbares ausdrücken kann. Dies deutet auf eine zweite Möglichkeit, sich dem Thema anzunähern: die Frage nach dem Entstehungsakt eines Gedichtes. Diesen beschreibt Platon in seinem Dialog „Ion“ als einen Schöpfungsakt, in dem der Dichter, „geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewußtlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt“28, das Wort von den Göttern empfängt, während Aristoteles die handwerkliche Gestaltungskunst des Dichters hervorhebt. Im Spannungsfeld dieses Gegensatzes eines intuitiv emp26 27 28
Vgl. Urbanek 1995/2: 451-455 Hegel 1971; S. 203-205; Scholz nennt Lyrik die „subjektivste aller Dichtungsgattungen“ (Scholz 1994: 11) Platon 1957: 102-104
1.2 Lyrik als Kunstform im Kontext von institutionalisierten Bildungsprozessen
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fangenden und eines artifiziell gestaltenden Prozesses bewegt sich die Deutung dichterischen Handelns.29 Die Aneignung eines lyrischen Kunstwerks kann so zu einem kreativen Akt, einem „aneignenden Weiterdichten“ werden (Schneider 2004: 305; vgl. Kap. 1.3.), insbesondere für Heranwachsende zum Dialog mit einem „signifikanten Anderen“ in einer Zeit, in der die Grenze zwischen Innen und Außen noch nicht festgelegt ist. Hegel spricht in seiner Ästhetik in diesem Zusammenhang von einer weiteren wichtigen Voraussetzung, die mit der zuvor genannten spontanen Empfänglichkeit für die Bedeutung eines Phänomens korrespondiert. Er sagt, es müsse „das (lyrische; HH) Individuum in sich selber poetisch, phantasiereich, empfindungsvoll oder großartig und tief in Betrachtungen und Gedanken und vor allem selbständig in sich, als eine für sich abgeschlossene innere Welt erscheinen.“ (Hegel 1971: 206)
Die innere Gestimmtheit des lyrischen Dichters selber, seine Sensibilität für eine im Augenblick eingefangene Eigenart, sein Gefühl für das Besondere im Alltäglichen sind entscheidend für das Aufscheinen eines poetischen Bildes. Die Etymologie des Wortes „Lyrik“ (griechisch lyra = Leier; vgl. Urbanek a.a.O.) deutet auf einen Zusammenhang mit der Musik, der für lyrische Dichtung konstitutiv ist. Das Lyrische war ursprünglich „eine Dichtung, die bei gewissen Anlässen erklang und die Weise und Ton in sich vereinte“ (Hervorhbg. Urbanek; a.a.O.). Der Lyriker muss also das Ohr haben, das „Lied“ zu hören, das „in allen Dingen“ schläft (Novalis): Alles hängt davon ab, ob ein äußerer Anlass in seinem Inneren als lyrisches Bild auftaucht und ob er dieses innere Bild in ein Zusammenspiel von Klang und Laut, eine rhythmisierte, sprachlichmusikalische Form bringen kann. Diese wird auf kleinstem Raum realisiert und kann metrisch gebunden oder in freien rhythmischen Versen gestaltet sein. Mit wenigen Worten kann alles gesagt werden, und doch ist alles für neue Deutung offen. Zum Vergleich könnten hier Romain Rolland und Charles Baudelaire zitiert werden; jener, der in seinem Roman „Jean Christophe“ in epischer Breite eine flüchtige Begegnung des jugendlichen Helden Jean Christophe mit einer Unbekannten schildert; dieser, der in seinem Gedicht „À une passante“ in nur wenigen Zeilen ein Universum aufbaut. Unabhängig von ihrer mehr oder weniger strengen Form lässt lyrische Sprache den Rezipienten frei, je nach Lebhaftigkeit seiner Einbildungskraft, seines inneren Standortes das Werk zu erschließen, seinen Sinn zu entdecken, ihm seine subjektive Bedeutung beizumessen bzw.
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„Die Entstehung eines guten Gedichts ist im Grunde ein Geheimnis für immer.“ (Urbanek, a.a.O.: 455)
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umgekehrt: eine „fremde Individualitaet wahrhaft in sich zu erwecken“ (Novalis 1965, 2. Band, S. 535). Die Sinndeutung, die in keinem Kunstwerk an der Oberfläche liegt, sondern vom Subjekt jeweils neu gesucht und konzipiert werden muss, ist ein aktiver Vorgang des Entdeckens im Modus der Phantasie bzw. der Einbildungskraft, jenes „wunderbare[n] Sinn[s], der uns alle Sinne ersetzen kann – und der so sehr schon in unserer Willkühr steht. Wenn die äußern Sinne ganz unter mechanischen Gesetzen zu stehen scheinen – so ist die Einbildungskraft offenbar nicht an die Gegenwart und Berührung äußrer Reitze gebunden.“ (Novalis 1965, 2. Band: 650; Hvh. i. O.; vgl. Kamper 1990: 9)
Diese Art des Entdeckens durch Einbildungskraft korrespondiert mit einem zentralen Thema der Adoleszenz: dem Entwerfen eines Neuen, von individuellen Zukunftsperspektiven. In diesem Aspekt bildet ein lyrisches Kunstwerk in seiner unabgeschlossenen Metaphorik, seinem Deutungsreichtum eine Analogie zu jener Offenheit und Ungewissheit, die für Heranwachsende konstitutiv ist. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf etwas, was zunächst über den Horizont gehen mag (Rumpf 2004:50), wozu das Herz sich sonderbarerweise aber hingezogen fühlt. So kann es zum Anlass für eine Art von Selbst-Erkenntnis werden, die nicht ausschließlich Folge einer kognitiv-interpretativen Auseinandersetzung mit dem Text zu sein braucht. Das Aneignen und Entziffern eines Gedichtes muss weder den perzeptiven Akt noch die Empfindungen und Emotionen aussparen, die diesen Prozess begleiten. Sich sprechend und wahrnehmend mit Lyrik auseinanderzusetzen, sie als eine verbale und akustische Kunst zu rezipieren, kann dazu anregen, Widersprüche aufzulösen, das Kryptische eines lyrischen Bildes in „Freiheitsgrade nach innen und außen“ zu transformieren.30 An dieser Stelle sei, allerdings sehr kursorisch, auf zwei „Modalitäten“ hingewiesen, die Kristeva aus semiologischer Perspektive im Zusammenhang mit dem Subjekt und seinem Verhältnis zu Sprache und Musik formuliert: eine erste Modalität, die sie als „das Semiotische“ (als vorsprachliches Moment von Affektivität und Körperlichkeit; HH), eine zweite, die sie als „das Symbolische“ (als Moment der Praxis des aussagenden Subjekts bzw. des Verhältnisses von Signifikat/Signifikant; HH) bezeichnet, die beide vom „Prozess der Sinngebung“ nicht zu trennen seien: „…über die Dialektik, die beide Modalitäten unterhält, lassen sich einzelne Diskurstypen definieren (Erzählung, Metasprache, Theorie, Dichtung, etc.), soll heißen: die sogenannte „natürliche“ Sprache lässt verschiedene Artikulationsweisen des Semio-
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„Das gedicht als stabilisator, als orientierungspunkt eines ichs. Das gedicht als akt der gewinnung von freiheitsgraden nach innen und außen.“ (Kunze 1972: 65)
1.2 Lyrik als Kunstform im Kontext von institutionalisierten Bildungsprozessen
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tischen mit dem Symbolischen zu. Andererseits gibt es nicht-verbale Zeichensysteme, die ausschließlich auf dem Semiotischen aufbauen (wie die Musik z. B.), […] Da das Subjekt immer semiotisch und symbolisch ist, kann kein Zeichensystem, das von ihm erzeugt wird, ausschließlich „semiotisch“ oder „symbolisch“ sein, sondern verdankt sich sowohl dem einen wie dem anderen.“ (vgl. Kristeva 1978: 33-35; Hvh. Kristeva)
Dass sowohl im Roman als auch im Drama lyrische Stimmung enthalten sein kann, ist unbestritten,31 doch das Charakteristische der lyrischen Dichtung kommt am fühlbarsten im Gedicht zum Ausdruck, in seinem Oszillieren zwischen Wort und Ton, Sprache und Gesang.32 Die vom Dichter intendierte, in nichts zufällige Komposition von Wort und Versmaß, von Reim und Rhythmus bestimmt die Qualität des Lyrischen. Ossip Mandelstam drückt dies folgendermaßen aus: „Aus guten Gedichten kann man heraushören, wie die Schädelnähte gesteppt werden, wie der Mund an Kraft/und an sinnlicher Bitternis/gewinnt und wie/die Stirnhöhlen Luft einziehen, die Aorten sich erschöpfen/das Blut umspringt mit dem Salz des Ozeans.“ (Mandelstam 1991: 124)
Auch Mandelstam spricht von perzeptiven Vorgängen (Hören, Sprechen, Atmen etc.) und sieht die sinnlich-verbale Erfahrung eines gesprochenen Gedichtes als eine der lesenden Interpretation adäquate Dimension an. Schneider bezeichnet Lyrik als „ins Ohr geschrieben(e)“ Texte. In seiner Kritik der Lyrikrezeption vergleicht er das bloße Lesen eines Gedichtes mit dem „akustischen Erlebnis, das dieser Text intendiert bzw. evoziert“, und plädiert für eine Komposition von Sprachklang und Sprachrhythmus als zentrale Kategorie der Interpretation von Lyrik. Das Spannungsverhältnis beider Rezeptionsformen bezeichnet er als eine Konstituente lyrischer Gebilde, die alle kulturellen Differenzen integriere (Schneider 2004: 299). Am Beispiel der Lyrik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und der mündlichen Interpretationskunst der Dichter des Göttinger Hains appelliert er in Anlehnung an Herder an eine „Betrachtungsweise, die hinter die nur vermeintlichen Grundgefühle (für Wahres, Gutes und Schönes; HH) dringt, indem sie Wahrnehmung und Empfindung als komplexe Prozesse aufschlüsselt“ (Schneider a.a.O.:116). An einigen Beispielen zeigt Schneider, dass Sprachakus31 32
Formen wie das dramatische bzw. epische Gedicht (wie die Ballade bzw. das Heldenepos) zeigen, dass umgekehrt ein ähnlicher Einfluss stattgefunden hat. Der Zusammenhang von Lied und Gedicht lässt sich leicht im Inhaltsverzeichnis jeder guten Anthologie nachweisen durch zahlreiche Beispiele, die bereits im Titel auf den Liedcharakter von Gedichten hinweisen, z. B. „Mailied“, „Gesang der Geister über den Wassern“, „Wanderers Nachtlied“ (Goethe); „Das Lied von der Glocke“ (Schiller); „Lieder auf der Flucht“ (Bachmann); „Ein Lied an Gott“ (Lasker-Schüler); „Fisches Nachtgesang (Morgenstern); „Kriegslied“ (Claudius) u.v.m.
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1 Forschungsstand und theoretische Bezugnahmen der Kernthemen
tik und Mündlichkeit für die (deutschsprachige) Lyrik der Gegenwart nach wie vor entscheidende Kategorien der Poetik sind (Schneider a.a.O.: 299). Voraussetzung ist, dass der Rezipient auch „ein offenes Ohr“ mitbringe, in das ein Gedicht gesprochen werden bzw. das eine derart konzentrierte Textform „hören“, in sich aufnehmen will und kann. Denn die fiktionale Wirklichkeit des Kunstwerks, die sich dem Rezipienten mitteilt, „kehrt…von der höchsten Stufe der Künstlichkeit in die Natürlichkeit zurück...wirkt ausschließlich durch die unmittelbar gegebene Suggestivität der sinnlichen Präsenz seiner Ausdrucksmaterialität“ (Oevermann 2001: 12), im Falle eines lyrischen Kunstwerks also durch die Vermittlung des Gehörs. Was die dabei auftauchenden inneren Bilder betrifft, geschieht dies nicht bloß aufgrund der unmittelbaren (Hör- oder Sprech-)Wahrnehmung, sondern schon das Mit-Hören, der Gedanke an das Gelesene löst – neurologisch betrachtet – den (unhörbaren) Ansatz einer Sprechbewegung aus (Piaget/Inhelder 1973/2: 75). Vor diesem Hintergrund erhellt sich die Bedeutung lyrischen Sprechens, wie Stückl und Lösener dies in ihren Arbeiten ausgeführt haben (Stückl 2000; Lösener 2007). Die Konsolidation der lyrischen Sprache in der leiblich-seelischen Verfasstheit eines Rezipienten könnte in ursächlichem Zusammenhang stehen damit, dass manche Menschen sich in bestimmten Situationen an Gedichte als an etwas Unzerstörbares, Bleibendes erinnern33, das sie reaktivieren, aus dem sie – um im Bild Mandelstams zu bleiben – „Luft einziehen“ und Lebensmut schöpfen konnten.34 Ein möglicherweise phylogenetisch-entwicklungs-psychologischer Zusammenhang von rhythmisch-musikalischen Prozessen auf die Leiblichkeit und der Entwicklung von Sprechen und Denken kann hier nur angedeutet werden. Die genetische Verbundenheit von gesprochenem Wort und Gesang ist aus der Frühzeit der Dichtkunst im Mythos tradiert; Levi-Strauss spricht diesbezüglich von einer „dem Mythos und dem musikalischen Werk gemeinsamen Eigenschaft, Sprachen zu sein, die jede auf ihre Weise die Ebene der artikulierten Sprache transzendiert und…eine zeitliche Dimension erheischt, um sich zu offenbaren.“ (Levi-Strauss 1976: 31)
Ist also in dem Satz „Ein Gedicht ist für mich, wenn sich was reimt“, d. h. mit dem rhythmisch-musikalischen Aspekt schon das entscheidende Kriterium benannt, wie viele Schüler zunächst denken (Lösener 2007: 17)? Aus welchem Stoff muss ein „gutes Gedicht“ im Sinne eines gelungenen Kunstwerks (Oever33
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Hannah Arendt äußerte sich in ähnlicher Form im Rahmen eines Interviews auf die Frage von Günther Gaus, was ihr denn geblieben sei von Deutschland: „Geblieben ist die Sprache. … Im Deutschen kenne ich einen ziemlich großen Teil von Gedichten auswendig. Die bewegen sich da immer irgendwie im Hinterkopf – in the back of my mind.“ (zit. nach Berg 2005:172) Beispielhaft verweise ich auf Primo Levi/Jewgenija Ginsburg/Marcel Reich-Ranicki 2003/Ulla Hahn/Ruth Klüger/Jorge Semprun/Etty Hillesum u. a.
1.2 Lyrik als Kunstform im Kontext von institutionalisierten Bildungsprozessen
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mann 2001: 6-7 u. 11-12) gemacht sein, damit Rezitieren und AuswendigSprechen im Kontext von Unterricht bei Heranwachsenden Freude und Verlangen nach Lyrik hervorrufen?35 (vgl. Kap. 2.1.1. sowie 2.1.1.1.) Wie und wovon müsste es sprechen, damit Heranwachsende sich aus fremder Prägung Eigenes erschließen können? Schließlich: In welcher Form, unter welchen Bedingungen wird ein Gedicht bildungsrelevant?36 Ginge es um Themen, ließe sich die Frage mit einer Kanonisierung entsprechender Titel leicht beantworten. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass es damit nicht getan ist, schon gar nicht im schulischen Kontext. Stückl weist in ihrer Arbeit darauf hin, dass diskursorientierte Maßnahmen der inhaltlichen Auslegung von Gedichttexten nicht ausschlaggebend dafür seien, Schülern den Weg zur Lyrik zu eröffnen (oder zu erhalten), sondern „dass es für die Realisierung ästhetischer Erfahrung wesentlich darum gehen müsste, das Gestaltungsprinzip der Texte sinnlich erfahrbar zu machen…in einem gemeinsamen, textkonstituierenden Handeln“, das heißt auch durch „Einverleiben“ lyrischer Texte u. a. in Form von Rezitation (Stückl 2000: 288), durch „lyrisches Sprechen“ im Verständnis von Identität bildendem Sprechen (Stückl 2000: 381). Dies aber ist im Kontext von Unterricht eine Frage des gemeinsamen Erschließens, nicht der Vermittlung scheinbar gesicherter Deutungsmuster.37 Bezug nehmend auf empirische Untersuchungen des Deutsch-Unterrichts von Gruschka müsste man sogar darauf hinweisen, dass manche „didaktische“ Zurichtung einen Zugang zum Textinhalt eher verschütten kann und den neugierigen, erfahrungsoffenen Blick von Schülern auf das Phänomen ablenkt auf das, was der Lehrer hören will (Gruschka 2002: 325; 2005: 187-207). Wichtigste Bedingung einer erschließenden Rezeption ist die Möglichkeit des mußevollen Auf-sich-wirken-Lassens (Oevermann 2001: 30-33), das Goethe
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Kunstwerke sind als artifizielle Gebilde „Darstellung und Ausdruck einer ihnen immanenten, eigenlogischen und deshalb fiktionalen Wirklichkeit, … die sich von … Natur radikal entfernt haben. Sie sind … sinnlich gewordener reiner Geist.“ Ein Kunstwerk „wirkt ausschließlich … durch die sinnliche Präsenz seiner Ausdrucksmaterialität. … Gelungen ist ein Werk in dem Maße, in dem es seine Suggestivität qua sinnlicher Präsenz gegen jegliche Voreinstellung des Rezipienten durchzusetzen vermag, vorausgesetzt der Rezipient öffnet bedingungslos seine Sinne. … Ob ein Werk gelungen ist oder nicht, erweist sich … allein und in sich schlüssig aus der konkreten Werkanalyse, die die Sache selbst zum Sprechen bringt“ (Oevermann 2001: 1112, 16). Diese Unauslotbarkeit des autonomen Kunstwerkes ist in dem zu sehen, was Adorno den „Rätselcharakter“ eines Kunstwerkes bezeichnete, der „sich nicht verbraucht, sondern zwingend immer wieder von neuem herstellt.“ (ebd., S. 17) Vgl. Schulz 1993, zit. nach Hentschel, in: Mattenklott/Rora 2004: 18; vgl. Randoll 2007: 175 Gruschka 2002:401: „Schließlich hat der Lehrer sich darum zu bemühen, den Schüler nicht zum Echo seiner Deutungsangebote zu machen … Denn die Schüler werden so, anstatt ihre Neugier auf die Sache ihrer Bildung zu richten, umgelenkt auf die Anpassung an das vom Lehrer Gebotene: Was will er wissen, wie will er es haben?“
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1 Forschungsstand und theoretische Bezugnahmen der Kernthemen
– allerdings bezogen auf die Wahrnehmung des Sehens – von seiner ersten Italienreise an Herder in folgende Worte fasste: „Ich will … die Augen auftun, bescheiden sehen und erwarten, was sich mir in der Seele bildet.“ (zit. nach Englert-Faye 1984: 18)
Übertragen wir diese innere Haltung auf die Rezeption eines lyrischen Kunstwerks, zeigt sich, wie unerlässlich auch hier offene Sinne, ein uneingeschränktes Sich-Einlassen auf die künstlerische Ausdrucksgestalt und vor allem Zeit sind, damit der innere Gehalt eines Gedichtes im Rezipienten zu sprechen beginne. Dieser Prozess ist jedoch im Schulstunden-Takt ohne radikale Beschneidung der künstlerischen Qualität und vorheriges Klassifizieren einzelner Elemente kaum zu erreichen. Hier ist es sinnvoll, auf den Begriff der „ästhetischen Erfahrung“38 zurückzukommen. Dies soll unter Bezugnahme auf Oevermanns Aufsatz „Bausteine einer Theorie künstlerischen Handelns“ geschehen.39 Im dort ausführlich erläuterten dritten Krisen-Typus, der Krise durch Muße und ästhetische Erfahrung, vollzieht sich ein Prozess, der für die Frage der Lyrikrezeption insofern relevant ist, als der Mensch dabei eine ästhetische Wahrnehmungshandlung vollzieht und sich gegen andere Eindrücke von außen quasi immunisieren muss. Er muss also genau das Gegenteil von dem tun, was häufig zu beobachten ist, dass dasjenige wahrgenommen wird, worauf die Sinne von außen (durch Schilder, Kopfhörer etc.) gelenkt werden: Er muss sich der ihn interessierenden Sache (hier: dem Gedicht) in Muße und um ihrer selbst willen mit offenen, unbefangenen Sinnesorganen hingeben. Diese Unmittelbarkeit der leiblichen Sinnesempfindung verbindet sich mit der Intimität der kontemplativen Wahrnehmung, die „etwas bewahren (will; HH), was der Aufmerksamkeit zufiel“: In der Wahrnehmung wird dem Gegenstand eine Struktur entnommen, die in der Wahrnehmung schon vorgeprägt ist. Ein bisher nicht vorhandenes Wissen wird veranlasst, indem „der Zusammenschluss von Wahrnehmungsorganisation und Gegenstandsstruktur sich spiralförmig nach vorne erweitert und evolutiv ausdifferenziert. Ästhetische Wahrnehmung (Oevermann spricht in anderen Darstellungskonzepten von „ästhetischem Bewusstsein“; HH) ist gegenüber der routinisierten alltäglichen maximal gesteigert und muss als selbstgenügsame Wahrnehmung losgelöst vom Typus rationalen Handelns betrachtet werden. Eine selbstgenügsame Wahrnehmungshandlung ist durch die Wirklichkeit einer Praxis-Räumlichkeit (der Zuwendung zum Gegenstand) und Praxis-Zeitlichkeit (der Be-Eindruckbarkeit durch den Gegenstand) gegeben.“ (Oevermann 2002: 7) 38 39
Zum Begriff des Ästhetischen in Hinsicht auf Ästhetische Erziehung vgl. Krieger 2004; aber auch König 1974: 63-80 Oevermann 2001
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1.3 Annäherung an einen Bildungsbegriff
In einer derart intensiven Hinwendung zur Sache kann Bedeutung und das innere Gestaltungsprinzip eines Kunstwerkes bewusst werden, ohne durch vorherige didaktisierende „Hinführungen“ den irritierenden, vielfach auch verstörenden Reiz abzuschwächen. Die Frage, ob nicht die Metaphorik der Kunstgedichte selbst die Gattung so schwer zugänglich gemacht habe für ihre Verwendung im schulischen Kontext, beantwortet Ingeborg Bachmann mit der Erklärung: „… ich glaube auch, daß man die alten Bilder, so wie sie etwa MÖRIKE verwendet hat oder GOETHE, nicht mehr verwenden darf, weil sie sich in unserer Zeit unwahr ausnehmen würden. Wir müssen wahre Sätze finden, die unserer eigenen Bewußtseinslage und dieser veränderten Welt entsprechen.“ (Bachmann, zit. nach Scholz a. a.O.: 11)
Diese Äußerung bezieht sich jedoch auf das künstlerische Handeln selbst, also den Dichter, nicht auf den im Unterricht anzubahnenden Initiationsprozess in lyrische Kunstwerke. Auf Aspekte der methodisch-didaktischen Vorgehensweisen werde ich in Kapitel 2 ausführlicher eingehen und die theoretische Orientierung der Kernthemen im folgenden Abschnitt durch eine Skizzierung des Begriffs „Bildung“ abschließen.
1.3 Annäherung an einen Bildungsbegriff 'LHK|FKVWH$XIJDEHGHU%LOGXQJLVWVLFKVHLQHVWUDQVFHQGHQWDOHQ6HOEVW]XEHPlFK WLJHQGDV,FKVHLQHV,FK¶V]XJOHLFK]XVH\Q F. v. Hardenberg 1981, Blüthenstaub, 28. Vers
Entgegen einer immer stärkeren Bezogenheit der Idee von „Bildung“ auf die Logik des Arbeitsmarktes sowie der Expertise, der Begriff als solcher sei aufgrund seiner Vieldeutigkeit obsolet geworden und durch „Lernen“ zu ersetzen, will die vorliegende Untersuchung auf ihn nicht verzichten. Ich werde Aneignungsformen und Bedeutung von Lyrik in den Fallrekonstruktionen bewusst mit der Frage nach ihrer Relevanz für den Bildungsprozess herausarbeiten, während die selbstverständlich auch daran beteiligten Lernprozesse im Hintergrund bleiben. Vor Beginn des empirischen Teils ist es daher unabdingbar, den Gehalt wie auch die Differenz der Begriffe „Lernen“ und „Bildung“ skizzierend darzustellen. In diesem Sinne habe ich den vorliegenden Abschnitt als eine „Annäherung“ bezeichnet. Ein ausführlicher Diskurs der Einflüsse von Pädagogik, z. B. in Hinsicht auf den Wandel, den allein das Verständnis des zu bildenden Subjekts
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1 Forschungsstand und theoretische Bezugnahmen der Kernthemen
durchlaufen hat (Ullrich 1999), von Philosophie und Gesellschaftswissenschaft, heute verstärkt von Ökonomie40 auf die Entwicklung des Bildungsbegriffs und die damit einhergehenden Paradigmenwechsel kann hier weder geleistet werden, noch liegt er in meinem unmittelbaren Forschungsinteresse. Eine detaillierte Diskussion des Bildungsbegriffs klammere ich daher aus mit dem Hinweis auf die dazu vorliegende Literatur, für die ich beispielhaft nenne Benner 2008, Woll 2006, Sesnik 2000/2001, Baumgart 2004/3, Rihm 2006/2, Koller et al. 2007. Ich werde die begriffliche Verortung fokussieren auf Bildungstheorien, die mich bei der Bearbeitung meiner Frage inspiriert und weiter gebracht haben, und mich konzentrieren auf diejenigen Kategorien, mit denen ich im Rahmen meiner Untersuchung gearbeitet habe. Auf das Bildungsverständnis der Waldorfpädagogik werde ich in einem gesonderten Abschnitt in Kapitel 2 eingehen. An Letzteres schließt sich Oevermanns Bildungsidee nach Art einer Polarität an, die sich eben wegen mancher Reibungsflächen für den Diskurs gewinnbringend zeigte und forschungslogisch entscheidende Impulse gab. Nicht zuletzt aufgrund späterer methodologischer Bezugnahmen soll darum der von Oevermann formulierte Ansatz in diesem Abschnitt etwas ausführlicher besprochen werden (vgl. Oevermann 1996 u. 2005). Mit dem Zitat von Novalis ist bereits die erste Prämisse für das von mir vertretene Verständnis von Ich bzw. Selbst benannt: deren gedachte Integrität als eine „selbst-referenzielle Grundlegungsfigur des transzendentalen Subjekts“ (Schäfer in: Koller et al, 2007: 96), das sich als eine differenzierte Ganzheit entwickelt und in einer prozesshaften Bewegung jeweils neue Gestaltungs- und Ausdrucksformen seiner selbst zu erreichen sucht, die sich in der Interaktion mit der Welt herausbilden und als Identität manifestieren.41 Damit beziehe ich mich auf den ursprünglich von Mead eingeführten und vor allem von Erikson ausgearbeiteten Begriff der IchIdentität (vgl. Erikson 1968/3; 1970; 1992/2). Erikson sieht in einer gezielten Berufsbezogenheit von Bildung neben einer Beeinträchtigung des (kindlichen) Identitätsgefühls aufgrund seines sozialen Milieus „eine weitere, fundamentalere Bedrohung, nämlich die Selbstbeschränkung des Menschen und die Einengung seines Horizonts, so daß er nur noch seine Arbeit umfaßt, zu der er, gemäß der Heiligen Schrift, nach der Austreibung aus dem Paradies 40
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So sprechen Klieme/Maag-Merki et al. in einer Expertise im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung 2007 von „Arbeits- und Bildungsmärkten“ und halten „die Frage nach der Produktivität des Bildungswesens“ für eine „gesellschaftliche Kernfrage.“ (Klieme et al. 2007: 5; Hvh. HH) Im Kern Ähnliches meint Kohut mit dem Begriff des Selbst in seinen verschiedenen Repräsentationsformen (visuelles Selbstbild/propriozeptives Selbstgefühl/kognitives Selbstkonzept). Zum Begriff der Ich-Identität vgl. auch Eriksons Theorie der Identitätsbildung, auf die in Kap. 1.1. eingegangen wurde.
1.3 Annäherung an einen Bildungsbegriff
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verurteilt wurde. Wenn er die Arbeit als einzige Verpflichtung auffaßt, und das, was ›etwas bewirkt‹ … als einziges Kriterium dessen, was sich lohnt, kann er zum konformistischen, gedankenlosen Sklaven seiner Technologie und derer werden, die in der Lage sind, sie auszubeuten.“ (ERIKSON 1968: 255)
Sein Identitätsbegriff wurde später u. a. von Habermas aufgenommen und zu einer der Grundlagen seines Sozialisationskonzepts. Habermas stellt das als Autonomie verstandene Streben nach Freiheit heraus als ein Grundbedürfnis, das konstitutiv sei für das Bewusstsein des vernunftbegabten Menschen der Moderne. Er formuliert daher eine „autonome Ich-Identität“ als Ziel eines jeden Sozialisations- bzw. Bildungsprozesses (vgl. Kap. 1.1.).42 Oevermann schließt in seinem Ansatz sowohl den Begriff der Ich-Identität von Mead als auch den Autonomiebegriff als „Prinzip des Ichs“ (Freud) ein, indem er die Strukturprinzipien von Bildungsprozessen herausarbeitet und sie fasst als „Prozesse der Mensch- und Subjektwerdung, die mit den … Begriffen von Individuierung und Autonomisierung bezeichnet werden müssen und denen wir die Begriffe von Bewährung und Bildung hinzufügen können.“ (Oevermann in: Kufeld 2005: 47)
In diesem Sinne werde ich mich in den Analysen und der Darstellung der Ergebnisse auf die Begriffe Autonomiebildung und Individuierung sowohl als einer deskriptiv-analytischen als auch einer normativen Kategorie beziehen.43 Dabei ist mir bewusst, dass in einigen aktuellen soziologischen Ansätzen zur Identitätstheorie Begriffe wie der einer Ich-Instanz, die Identität aufzubauen und zu erhalten sucht, ersetzt werden durch die Integration festgelegter Rollen und Normen (vgl. Parsons 1987) bzw. auf den Subjektbegriff verzichtet wird, weil Subjekte als Marionetten gesellschaftlicher Systeme gedeutet werden (Foucault 1976).44 In Differenz zum Lernbegriff stellt Sesnik die Reflexivität des Bildungsbegriffs sowie dessen Bezug zur Pädagogik heraus. Er bezeichnet den Autonomieanspruch des modernen Menschen mit dem Begriff der Selbstbestimmung als einer Notwendigkeit und als spezifische Qualität von Bildung:
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Eine ausführliche Diskussion des Ich-Identitätsbegriffs von Habermas und der individuellen Identität der Person bestreitenden Positionen findet sich bei Straub, J./Renn, J. 2002, „Transitorische Identität – Der Prozesscharakter des modernen Selbst“. Vgl. Oevermann 2008: 63 Im Unterschied zu einem konstruktivistischen Verständnis des Bildungsbegriffs fassen Autoren wie Kokemohr den Begriff „Bildung“ als „qualitativ spezifischen Prozess“ auf, der durch die Erfahrung des Fremden herausgefordert werde und den Vorteil habe, „das Krisenhafte von Bildungsprozessen in den Blick zu bringen und das grundsätzlich Prekäre eines jeden Welt- und Selbstentwurfs gegenwärtig zu halten.“ (Kokemohr in Koller et al. 2007: 16)
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1 Forschungsstand und theoretische Bezugnahmen der Kernthemen
„Bildung ist der Versuch, im Entwicklungsprozess eines Menschen der Notwendigkeit (nicht dem Zwang; HH) zur Selbstbestimmung zu entsprechen. … Als notwendige Realität … ist sie eine Bewegung hin zur Wendung einer Not; und enthält insofern einen Anspruch, dessen Erfüllung scheitern kann.“ (SESINK 2000/2001:8-9)
Der in dieser Arbeit verwendete Begriff Identität meint „einen kreativen Selbstausdruck des Individuums“ (Krappmann 1993/8:17), und zwar nicht im Sinne eines mechanistisch-akkumulativen Sich-selber-Konstruierens, sondern eines aufgrund der in sich integralen Eigengesetzlichkeit des Individuums Sich-Bildens und Sich-Erneuerns, in dem die Dialektik von Emergenz und Determination als allgemeine Ablauffigur von realer Interaktion enthalten ist (Oevermann 2001: 3). Oevermanns Bildungsverständnis ist eingebettet in das Konzept von Krise und Routine: „Es gibt nichts krisenhafteres als die Ontogenese und den Bildungsprozess“, in dem „systematisch Neues erzeugt wird“ (Oevermann in: Helsper et al. 2008: 63; ders. 2008: 13). Hier zeigt sich eine Wahlverwandtschaft Oevermanns mit Humboldts Bildungsideal, z. B. in dem Gedanken, dass Menschenbildung nicht – wie die naturhafte Bildung etwa der Pflanze – „in Einförmigkeit aus(…)arte“, sondern ein jeweils Neues hervorbringe (Weisz 2005: 206). Sehr verkürzt lässt sich Humboldts Bildungstheorie darstellen als Prinzip der Bildung als Lebensgestaltung in vier Foci: 1. als Selbstbildung, 2. als Ausgleich von Einseitigkeiten (vor allem im Umgang mit Menschen), 3. als Wissensaneignung und schließlich 4. als Bildung am Anderen, gemäß dem Urbild einer liebevollen Eltern-Kind-Beziehung. Als ideales Ziel von Bildung formuliert Humboldt: „Die letzte Aufgabe unsres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unserer Person … durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen … allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung.“ (Humboldt in: Weisz 2005: 200; Hvh. HH)45
Dieses Bildungsprinzip, „das im Kern in der charakterbildenden Wirkung der Selbständigkeit der Krisenbewältigung des sich autonomisierenden Subjekts besteht“, greift Oevermann auf und fasst Bildung als ein allgemeines Prinzip von Lebenspraxis, als Strukturzustände, die
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Ich verweise hier auf die Arbeit von Peter Weisz, der die Zusammenhänge zwischen Bildungstheorie und schriftlich gespiegelter Beziehungserfahrung auf der Basis des Briefwechsels von Wilhelm und Caroline von Humboldt untersucht. (Weisz 2005)
1.3 Annäherung an einen Bildungsbegriff
41
„die empirische Wirklichkeit menschlicher Praxis konstituieren, … Ideale, die der Realität selbst konstitutiv wie Gesetzmäßigkeiten zugrundeliegen, aber als Zustände nie ganz erfüllt werden.“ (Oevermann in: Kufeld 2005: 59)
In dieser Hinsicht bezeichnet Gebildet-Sein keinen normativen Zustand, sondern „jeweils das Maß an Bildung, das ein konkretes Leben angesichts seiner Anregungsgeschichte maximal erreichen konnte.“ (Oevermann in: Helsper et al. 2008: 61)
Oevermann bezieht Prozesse von Bildung und Strukturtransformation nicht nur auf den Kontext von Schule und Beruf, sondern auch auf die soziokulturelle Ebene und schließt in sein Konzept der Subjektbildung bereits das sich auf Elternschaft vorbereitende Paar mit ein. Diese Amplifikation des Bezugsfeldes bedeutet konkret, dass schon ein neugeborenes Kind umfassend gebildet ist. Ich greife hier nochmals zurück auf Kapitel 1.1. (Adoleszenz als krisenhafter Prozess), in dem die Geburt als die erste große Ablösungskrise des Bildungsprozesses bezeichnet wird. Deren erfolgreiche Bewältigung prägt sich ins Leibgedächtnis des Neugeborenen als basale Habitusformation des strukturellen Optimismus im Sinne von „Im Zweifelsfalle geht es gut“ ein. Diesen Aspekt einzubeziehen ist wichtig, weil er in einer der Fallrekonstruktionen relevant wird.46 Zur Differenzierung von Bildung und Lernen zitiert Oevermann Forschungen zur künstlichen Intelligenz, die nachweisen, dass selbst Maschinen „lernen“, nicht aber Bildungsprozesse durchlaufen können, da sie nicht mit Subjektivität ausgestattet sind. Die „Totalität aller Lernprozesse verdichtet sich noch nicht zur Konstitution des Subjekts“ (Oevermann in: Kufeld 2005:48). Er sieht den Lernbegriff deshalb als unterkomplex an und begreift Bildungsprozesse des Subjekts als Herausforderung zur (autonomen) Krisenbewältigung, d. h. zu einer je neuen Stufe der Strukturtransformation. In diesem Verständnis können sich Bildungsprozesse nicht in Lernen erschöpfen, sie sind aber auch nicht wie dieses als eine lebenslang notwendige Bewegung zu konzipieren. Die individuelle (Bildungs-) Biographie eines Menschen wird vielmehr gesehen in deutlichen Abstufungen, die „zu einem – je vorläufigen – Abschluß“ drängen.47 Fokussiert auf den Kontext der Institution Schule zeigt sich, dass diese sowohl auf der Ebene von Lernen als auch von Bildung arbeitet: im ersten Fall durch die Vermittlung von Wissen, im zweiten Fall in Verbindung mit dem Typus der Krise durch Muße und ästhetische Erfahrung (vgl. Kap.1.1.)48 Eine reine Lernschu46 47 48
Zur Problematik der Frühgeburtlichkeit vgl. Schlick 2009 Oevermann a.a.O.:74-75; vgl. Kapitel 1.1., Abschnitt „Adoleszenz als krisenhafter Prozess“ „Dieser die ästhetische Erfahrung konstituierende Krisentyp ist derjenige“, an dem man sieht, dass er „jegliche Bildung strukturell bestimmt, die gezielt und institutionalisiert eingerichtet
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1 Forschungsstand und theoretische Bezugnahmen der Kernthemen
le wäre nach Oevermann erstens durch die Verzahnung institutioneller Bildungsprozesse mit Anforderungen des Arbeitsmarktes, zweitens durch die gesetzliche Schulpflicht „mehr oder weniger standardisierter Drill“ (a.a.O.:61) Lernprozesse werden in strukturtheoretischer Sicht als ein in sich routinehafter Verlauf gesehen und in ihrer Bedeutung anerkannt, gleichzeitig aber abgegrenzt gegenüber Prozessen von Bildung und der mit ihr stets einhergehenden Individuierung (a.a.O.:73). In diesem Verständnis ist eine standardisierte Erfassung von Bildungsprozessen, die immer mit Prozessen der Krisenbewältigung einhergehen, ein Widerspruch in sich, vor allem dann, wenn es sich um eine durch ästhetische Erfahrung hervorgerufene Krise wie beispielsweise eine Gedichtrezeption handelt (vgl. Oevermann 2004b: 471).49
49
wird, also alle schulischen Bildungsprozesse bestimmen sollte, wenn sie nicht sich im Drill und der Routine bloßen Lernens erschöpfen sollen.“ (Oevermann 2005: 82) Vgl. zu diesem Thema ausführlich Sünkel: „Die Not aber besteht darin, dass ›Bildung‹ zu einem quantitativen Begriff verkommen ist.“ Bildung, so Sünkel, könne nicht gemessen werden an der Zahl der Abiturienten, sondern habe als qualitativer Begriff mit der Form des Geistes zu tun.“ (Sünkel 1994: 61)
2 Ausdifferenzierung des Feldes
2.1 Bildungskonzept und Schulkultur der Freien Waldorfschulen Der Diskussion des Bildungskonzepts der Waldorfpädagogik sei zunächst eine Bemerkung in Hinsicht auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Institution Schule und die damit verbundenen Konsequenzen für das pädagogische Handeln vorangestellt.50 Der Begriff „Schule“ geht zurück auf das griechische Wort scholè als Synonym für „Ort der Muße“ (Kluge 2002: 827). Das heißt, die Tätigkeit des Lernens in der Schule war ursprünglich an die Bedingung der Muße geknüpft und beruhte auf einer freiwilligen pädagogischen Vereinbarung zwischen dem aufs Lernen Bedachten und demjenigen, der sich ihm als Lehrer zur Verfügung stellte. Die Einführung der gesetzlichen Schulpflicht hat dazu geführt, dass aus einer beiderseitigen Willenserklärung – d. h. einem professionellen Arbeitsbündnis (Parsons) – ein Zwang wurde, der die Schule heute zu einem Ort gemacht hat, an dem den Schülern der freie Wille zum Lernen, damit die Qualität der „Neugier als Konstitutionsbedingung eines pädagogischen Arbeitsbündnisses systematisch aberkannt und disqualifiziert (und) … das pädagogische Arbeitsbündnis als notwendiges Fundament professionalisierten pädagogischen Handelns … systematisch behindert wird.“ (Oevermann 2006/2: 79-81; Hvh. HH)51
Durch diese strukturelle Veränderung der Bedingungen und die damit verknüpften Abhängigkeiten werden Bildungsprozesse vielfach erschwert oder verhindert bzw. auf Lernprozesse schulischen Wissens reduziert, was sich insbesondere bei der Vermittlung außer-alltäglicher Bildungsinhalte, z. B. von Lyrik, negativ bemerkbar macht. Die relative Offenheit des Forschungsfeldes sowie seine Durchlässigkeit zu Schulpädagogik, Entwicklungspsychologie und Germanistik stellen gleichermaßen eine Einschränkung wie auch eine potentielle Erweiterung des vorliegenden Untersuchungshorizonts dar: Einschränkung, da die Kernfrage bestimmte Aspekte der 50 51
Ich beziehe mich dabei vor allem auf Combe/Helsper 1996; Oevermann 2006 Auf die hier mit „Neugier“ bezeichnete, dem Menschen konstitutive Fähigkeit verweist ein Vers des von Steiner verfassten „Morgenspruches“, der in den Klassen eins bis vier an Freien Waldorfschulen täglich gesprochen wird. Es heißt dort: „dass ich kann arbeitsam/und lernbegierig sein“, Neuffer 1997
H. Handwerk, Die Bedeutung von Lyrik in Bildungsprozessen der frühen Adoleszenz, DOI 10.1007/978-3-531-92737-4_3, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2 Ausdifferenzierung des Feldes
einzelnen Forschungsrichtungen oft nur am Rande berührt und vielfach in der Andeutung bleibt; potentielle Erweiterung, wenn die genannte Durchlässigkeit dazu anregt, das aus den verschiedenen Ergebnissen generierende Gesamtbild zum Anlass zu nehmen, das mehr und mehr ergebnis- und wettbewerbsorientierte Lernund Bildungsangebot um den meines Erachtens unverzichtbaren entwicklungsproduktiven Ansatz einer frühzeitig in den Unterricht implementierten, holistischen Erfahrung von Lyrik zu ergänzen und einen deutlicheren Blick für deren konkrete Bedeutung für den Bildungsprozess Heranwachsender zu gewinnen. Auf eine umfassende Darstellung der Waldorfpädagogik, ihrer Geschichte und Spezifika soll daher verzichtet werden. Zur weiterführenden Orientierung sei auf eine Fülle von einführenden52 sowie ausführlichen Veröffentlichungen verwiesen53. Aus Sicht der Erziehungswissenschaft seien die empirischen Untersuchungen zur Waldorfpädagogik empfohlen, so vor allem die grundlegenden Arbeiten von Ullrich 1989, 2007 und 2008; Idel 2007; Ullrich/Idel/Kunze 2004; Helsper/ Ullrich/Graßhoff/Höblich 2007; Kunze 2008; sowie Keller 2008; Randoll 1999; Barz/Randoll 2007. Da die hier vorliegende Studie sich als Beitrag zum aktuellen erziehungswissenschaftlichen Diskurs versteht, erscheint es vor dem Hintergrund modernisierungstheoretischer Diagnosen der Schulkultur (z. B. der Pluralisierung, Enttraditionalisierung und Individualisierung; vgl. Kunze 2004) sinnvoll, das pädagogische Konzept der Freien Waldorfschulen hier – allerdings sehr verkürzt – mit dem Konzept der Schulkultur (Helsper 1998, 2000; Kramer 2002; Ullrich 2008) in Beziehung zu setzen.54 Letzteres „lässt sich…entfalten als das spannungsvolle Verhältnis zwischen drei Sinn-Ebenen“ (Ullrich in: Helsper et al. 2007: 117). Bezogen auf die erste, die Sinn-Ebene des Realen, verstehen sich die Waldorfschulen als dem Ideal bzw. latenten Sinn nach von staatlicher Trägerschaft freie Schulen. Dass diese Freiheit der schulpädagogischen Handlungspraxis derzeit durch rigider werdende Zielvorgaben beeinträchtigt und vorstrukturiert wird, ebenso wie die Tatsache, dass der Idee der Waldorfpädagogik widersprechende Anregungen an die konzeptuelle Freiheit (z. B. des Lehrplanes) entfremdend herangetragen werden, verursacht ein Widerspruchsverhältnis, mit dem jedoch auch andere Schulen mit einer besonderen pädagogischen Prägung zu kämpfen haben.
52 53 54
Kranich 1984; Leber 2001; Kiersch Stuttgart 2007/11 Hierfür sei stellvertretend genannt Leber 2002; Kranich 1984; Bohnsack/Kranich (Hrsg.) 1994/2; Bauer/Schneider 2006. In Anlehnung an Helsper und Kramer sowie an meine Mainzer Kolleginnen und Kollegen (Ullrich/Idel/Kunze/Graßhoff u. a.) fasse ich unter Schulkultur die Gesamtheit der Gestaltungsprinzipien von Schulleben und -leitung, der Unterrichtsprozesse und der Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern, wie sie sich in jeder einzelnen Schule herausgebildet haben.
2.1 Bildungskonzept und Schulkultur der Freien Waldorfschulen
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Auf der Sinn-Ebene des Symbolischen lassen sich „die konkreten alltäglichen Interaktionsprozesse der schulischen Akteure im Unterricht und im Schulleben“ beschreiben. Auf der dritten Ebene, der Sinn-Ebene des Imaginären, wird das Selbstverständnis der einzelnen Schule ins Auge gefasst, wie sie sich in der Öffentlichkeit repräsentiert, auf welche individuellen programmatischen Schwerpunkte sie zusteuert und in welcher Form sie diese vertritt. Von dieser dreifachen Stufung der Sinn-Ebenen lässt sich ein horizontal aufzuspannendes und konfliktträchtiges Gefüge von Sinn-Dimensionen unterscheiden, das jede einzelne Schule individuell ausbalancieren muss und in dem Freie Waldorfschulen von anderen Schulformen stark abweichen können, wie z. B. bei der Einstellung zu schulischer Leistung und Selektion, bei der Gestaltung der Stundentafel und der Gewichtung der Unterrichtsinhalte, in der pädagogischen Orientierung und Metaphorik oder im Umgang mit Regeln und Dissens (Ullrich a.a.O.). Hier ist zum Beispiel die herausragende Rolle (Autorität) des Klassenlehrers einzuordnen, der die konkreten Interaktionsprozesse zwischen Schülern und Lehrer bzw. Schüler und Schüler dem pädagogischen Konzept der Waldorfpädagogik entsprechend im Idealfall über die ersten sechs bis acht Schuljahre hin prägt. Da die Reziprozitätskonstitution von Schüler und Klassenlehrer in dieser Studie mehrfach thematisch werden wird, soll dies etwas ausführlicher dargestellt werden. Auf der strukturellen Ebene der Sozialbeziehungen würde man das Verhältnis Klassenlehrer-Schüler zu den rollenförmigen Beziehungen zählen. Unter Berücksichtigung eines Kerngedankens der Waldorfpädagogik55 jedoch erschöpft sich der ideelle Entwurf eines Waldorflehrers (in besonderer Weise eines Waldorf-Klassenlehrers) nicht in stellvertretender professioneller Krisenbewältigung (Oevermann 1996 und 2008) und der Vermittlung von Lernstoff.56 Er stellt nicht nur Postulate auf, um von der ersten Klasse an eine positive und von intersubjektiver Anerkennung getragene Arbeitsatmosphäre zu schaffen, sondern er sollte das Gute, Wahre und Schöne (in der klassischen Verbindung von Ästhetik und Ethik) vorleben und vermitteln durch das, was und wie er etwas sagt, durch seine gesamte Persönlichkeit. Er ist also beides: Vermittlungsautorität und Erzieher (vgl. Helsper 2007:77). In diesem Verständnis müsste seine Beziehung zu den Schülern nicht nur als eine rollenförmige, sondern in Anlehnung an Oever55
56
Gemeint ist die Idee der schicksalhaften Prägung der Lehrer-Schüler-Beziehung. Dieses Verhältnis von Erzieher und zu Erziehendem kann als karmisch, d. h. schicksalhaft geprägt verstanden werden; vgl. Kranich 1984, Götte/Loebell et al. 2009) Oevermann arbeitet in seinem Konzept den Zusammenhang von Professionen und zentralen gesellschaftlichen Werten heraus, durch die sich Professionalisierungsbedürftigkeit erst begründet: Diese sind erstens die Gewährleistung der somato-psycho-sozialen Integrität einer je konkreten Lebenspraxis und zweitens die Gewährleistung von Gerechtigkeit im Zusammenleben von Gemeinschaften. (Oevermann 2002: 22)
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2 Ausdifferenzierung des Feldes
manns Professionalisierungsmodell auch als diffuse Sozialbeziehung57 beschrieben werden, weil sie nach Auffassung der Waldorfpädagogik nicht allein Arbeitsbündnis sondern eine schicksalhaft geprägte menschliche Beziehung und in diesem Verständnis zumindest im Rahmen der Klassenlehrerzeit weder kündbar noch austauschbar ist.58 Der Waldorf-Klassenlehrer steht also „im umfassenden Sinne als Vorbild und Autorität“ (Helsper 2007: 77) vor seinen Schülern. Steiner charakterisiert dieses Lehrer-Schüler-Verhältnis folgendermaßen: „Beikommen können wir dem Kinde in diesem Lebensalter nur, wenn wir ihm gegenüberstehen als eine selbstverständliche Autorität … Wenn dann der Lehrer…dem entspricht, was das Kind in diesem Lebensalter bedarf, dann erwächst in dem Kinde allmählich…der innere ästhetische Sinn…auch für das Moralische. Da sind wir als Erzieher und Unterrichter schon praktische Freiheitsphilosophen, …wir werden immerfort Erwecker der kindlichen Seele, nicht Ausstopfer dieser Seele.“ (STEINER 1974/5: 77-79)59
Als Sachautorität hingegen ist der Klassenlehrer weniger als „über nahezu alle Fachbezüge hinweg kompetent Wissender entworfen“ (Helsper a.a.O.; Hvh. HH), sondern als Fragender, der den Schülern über sein eigenes Interesse, über das, was er sich über den Unterrichtsgegenstand erarbeitet hat, einen Zugang eröffnet. Das heißt nicht etwa, dass er sich gründliche Kenntnisse von einem Sachverhalt nicht aneignen müsste, er muss sich diese im Gegenteil so weit angeeignet haben, dass er das Charakteristische bildhaft-anschaulich und in freier Rede darstellen kann, dass es „genügend stark lebt.“ (Steiner 1972/2: 61-62) Es geht also um einen Lernkulturbegriff, dem in der Waldorfpädagogik zum einen die Idee einer prozessualen psycho-physischen (Selbst-) Bildung des Individuums, zum anderen der Entwicklungsproduktivität von auf Dauer angelegten, zugleich zukunftsoffenen, holistischen Prozessen und Beziehungen zugrunde liegt. Waldorfpädagogisches Handeln kann also dem Ideal nach niemals Trichterpädagogik sein im Sinne eines Auffüllens von Leere. Die pädagogische Metaphorik, die in das professionelle Selbstverständnis von Waldorflehrern einfließt, entspricht eher dem, was Sünkel im Zusammenhang mit der Klärung eines Bildungsbegriffs als Curativ-Metaphorik oder andernfalls als „synkretistisches Super-Bild“ beschreibt; synkretistisch deshalb, weil in dieser Metaphorik ein Bild aufgebaut wird, das alle anderen in den Bildungsbegriff einfließenden metaphorischen Traditionen umfasst, „damit ein vernunftbegabtes und zu Operationen nter Ordnung fähiges Lebewesen in der Welt zurechtkommt“ (Sünkel in: Marotz57 58 59
Vgl. Oevermann in: Combe/Helsper 1996: 109-134 Vgl. Oevermann 2006 Vgl. Garz 2000: 125-126
2.1 Bildungskonzept und Schulkultur der Freien Waldorfschulen
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ki/Wigger 2008: 66). Bezogen auf Waldorflehrer heißt dies, ein (Klassen-)Lehrer ist im Prinzip konzipiert als Autorität, die verlässlich und kompetent sowohl lenkt als auch hilft, sowohl formt als auch pflegt, damit zum Vorschein komme, was ein Individuum an Potentialität und Eigen-Art bereits „mitbringt“ (vgl. Leber 2002,I: 155). Ein uneingeschränkter Respekt vor dem sich mit jeder Geburt inkarnierenden Selbst bzw. Ich eines jeden Schülers, d. h. mit anderen Worten vor seiner individuellen Autonomie und Lebensgesetzlichkeit60, bestimmt das Professionsethos von Waldorflehrern. Es ist für den unmittelbaren pädagogischen Zugriff tabu, Schule und Lehrer haben lediglich die günstigsten Bedingungen auf allen Ebenen des Lernens und der Bildung zu schaffen, damit es sich entwickle.61 Von daher ist es berechtigt, Waldorfpädagogik als maieutisches pädagogisches Konzept und den Klassenlehrer als eine Art „Geburtshelfer“ zu verstehen, dessen Aufgabe es ist, den ihm anvertrauten „Fremdlingen“ Türen zu öffnen bzw. offen zu halten.62 Dass dies auf emotionale Nähe und Asymmetrie angelegte Verhältnis gerade für heranwachsende Schüler Probleme bergen kann, zeigen u. a. Beispiele aus den empirischen Studien von Idel 2007 und Helsper/Ullrich et al. 2007. Helsper resümiert dazu kritisch: „Waldorfschulen mit ihrem Konzept des Klassenlehrers stellen … eine reflexiv ›entmodernisierende pädagogische Antwort‹ dar…auf die Auseinandersetzung mit Modernisierungsambivalenzen“ (Helsper a.a.O.:75-78; Ullrich in: Helsper/Ullrich et al. 2007:80-93). Da der Aspekt der „karmischen“ Verbundenheit einer Lehrer-Schüler-Beziehung (Leber, a.a.O.:42) methodisch überprüfbar nicht nachgewiesen werden kann, auf der Sinn-Ebene des Symbolischen und damit im intersubjektiven Binnenverhältnis von Schüler und Waldorflehrer jedoch durchaus relevant ist, ergeben sich daraus Verwerfungen, die einen wissenschaftlichen Diskurs erschweren können. Nach dieser allgemein gehaltenen Einführung in das pädagogische Konzept der Freien Waldorfschulen soll sich die nachfolgende, sehr kursorische Darstellung auf die methodisch-didaktischen Vermittlungsform lyrischer Dichtung im 60
61 62
Am Beispiel der Biographie Eugène Delacroix’ betrachtet Oevermann die faktisch gegebene familiale, gesellschaftliche, kulturelle Konstellation, die zwar den Rahmen für ein künftiges Leben gebe, aber nicht i. S. seiner vollständigen Determination. Diesem Rahmen „steht das strukturelle Potential einer individuellen Autonomie gegenüber. Dessen Entfaltung ist der Rahmen vorgegeben, aber dieser läßt sich in der Entfaltung verändern. …Diese Verschränkung von Determination und individueller Autonomie gilt grundsätzlich, für jede Lebensgeschichte“ (Oevermann 1986/87: 19-21; zit. nach Garz 2000: 90) Zur Professionalisierung von Waldorflehrern vgl. Kunze 2008 „Wahrhaft erziehen werde ich ihn (den Menschen; HH) nur, wenn ich nicht eingreife in sein Selbst, sondern abwarte, bis dieses Selbst selbst eingreifen kann in das, was ich…veranlagt habe. Und so lebe ich mit dem Kinde demjenigen Zeitpunkte entgegen, wo ich sagen kann: Da wird das Selbst in seiner Freiheit geboren; ich habe ihm nur den Boden bereitet, dass es sich selber gewahr werden kann.“ (Steiner 1974/5: 74)
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2 Ausdifferenzierung des Feldes
Rahmen der ersten acht Schuljahre konzentrieren, die den Hintergrund von Erfahrungen bilden, die in den Fallanalysen thematisch werden.
2.1.1 Lyrik im Lehrplan der Freien Waldorfschulen (Klassenstufen 1 bis 8) Das Wirkliche erfahren von einem selbst, das kann man, glaub ich, nur über die Literatur und über die Kunst. (aus einem Interview mit einer ehemaligen Schülerin)
Die Frage, wozu in der Schule Gedichte angeeignet werden sollen, stellt sich nicht erst heute, aber sie verlangt mit Blick auf das Argumentationsspiel in bildungs- bzw. schulpolitischen Programmen mehr denn je eine pädagogische Begründung.63 Mit einer „Wiederentdeckung des Gedächtnisses“ (Berg 2005: 172174) durch das Aneignen von Gedichten oder mit der Notwendigkeit, kulturelle Schätze zu tradieren, lässt sich dies heute weder gegenüber Schülern noch Eltern oder Lehrern überzeugend begründen. Nachdem ab Mitte der sechziger bis weit in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein eine „Neuvermessung“ (Ulshöfer) des an Schüler zu vermittelnden Literaturkanons vorgenommen wurde, zeigt sich, dass im Zuge dieser Neuorientierung vieles verloren ging, was in Reaktion auf den Missbrauch der Sprache während der Nazidiktatur abgelehnt wurde und aufgrund seiner inhumanen, undemokratischen und unemanzipierten Inhalte nicht mehr tradiert werden sollte. Mit der Absage an diese sowie an die verdummende Form des chorischen Skandierens und Absingens von Hetzliedern waren das Rezitieren von Gedichten und das Singen generell obsolet geworden.64 Das betraf auch das Erlernen von Gedichten. Ein Blick in Adornos „Theorie der Halbbildung“ zeigt diesbezüglich jedoch bemerkenswerte, fast mahnende Wendungen, wenn dort retrospektiv von „Verinnerlichung von Geistigem“ gesprochen wird, an dem „Freiheit haftete“, von Nahrung, an der „Geist … sich erst bildet.“65 Das Aneignen und Verstehen von lyrischer Dichtung gar durch Aus63 64 65
Domin 1971/1995 Ich verweise diesbezüglich auf die anregende und ausführliche Arbeit von Spychinger et al. 2008 Adorno 2006: 29-31: „Der Traditionsverlust durch die Entzauberung der Welt aber terminiert in einem Stand von Bilderlosigkeit, einer Verödung des zum bloßen Mittel sich zurichtenden Geistes, die vorweg mit Bildung inkompatibel ist. Nichts verhält mehr den Geist zur leibhaftigen Fühlung mit Ideen. Autorität vermittelte, mehr schlecht als recht, zwischen der Tradition und den Subjekten. Wie, Freud zufolge, die Autonomie, das Prinzip des Ichs, in der Identifikation mit der Vaterfigur entspringt, während dann die an dieser gewonnenen Kategorien gegen die Irrationalität des familialen Verhältnisses gewandt werden, so entfaltete gesellschaftlich sich Bildung. Die Schulreformen, an deren humaner Notwendigkeit kein Zweifel ist, haben die veraltete Autorität beseitigt; damit aber auch die ohnehin schwindende Zueignung und Verin-
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49
wendigsprechen war als Relikt aus autoritären Zeiten verpönt und rückte in der Lyrikdidaktik fast vollständig in den Hintergrund (vgl. Lösener 2007: 19-23). Interessant an diesem Prozess ist, dass der Eigenwert von Lyrik, der besonders in Zeit der nationalsozialistischen Diktatur für viele Menschen lebensrettend sein konnte, sich erst viel später wieder im öffentlichen Bewusstsein bemerkbar machte. Vor allem in den letzten Jahren richtet sich die Aufmerksamkeit mit Bezug auf Literatur-Rezeption (vgl. Anders 2001) und -Didaktik jedoch wieder verstärkt auf den Erfahrungs- und Bildungswert von Gedichten. Mit Blick auf eine Identität stiftende Bedeutung von Lyrik im schulischen Kontext wird herauszuarbeiten versucht, ob guten Gedichten etwas inhärent sei, was deren Erkenntnisgehalt nicht nur nicht verwischt, sondern in Gestalt einer „metaphorischen Wahrheit“ sogar steigert.66 Daran schließt sich die Frage, inwieweit und unter welchen Bedingungen dies von Heranwachsenden empfunden, erschlossen und zu einem „Augenblick von Freiheit“ (Domin), zu einer Begegnung mit fremden Seiten des Selbst werden kann, die Zukunftsentwürfe bereichern und der Identität integriert werden können. In einigen Ansätzen wird dabei die Bedeutung des Auswendigsprechens bzw. Auswendigwissens lyrischer Texte wieder stärker wahrgenommen und in neue didaktische Konzepte einbezogen (Anders 2001; Lösener 2007, Stückl 2000). Die zuletzt genannten Forschungsergebnisse sind für die meiner Arbeit zugrunde liegende Frage von besonderem Interesse, da sie mit der Lyrikdidaktik der Freien Waldorfschulen in weiten Teilen konvergieren und die sprech-künstlerische Gedichtinterpretation, die die Basis lyrischer Erfahrung und Sprachbildung an Freien Waldorfschulen bildet, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Die Schüler verfügen noch über wenig „Wissen“ über Lyrik, haben je nach Ambitioniertheit der jeweiligen Lehrperson lediglich eine sehr anfängliche Begrifflichkeit. Aber „das (dichterische; HH) Bild in seiner Einfachheit bedarf keines Wissens. Es ist die Frucht eines naiven Bewusstseins. In seinem Ausdruck ist es junge Sprache. Der Dichter ist in der Neuheit seiner Bilder stets Ursprung der Sprache. [ … ], um zu klären, dass das Bild vor dem Denken liegt, müsste man sagen, dass die Dichtung weniger eine Phänomenologie des Geistes als eine Phänomenologie der Seele ist.“ (Bachelard 1987: 10)
66
nerlichung von Geistigem weiter geschwächt, an der Freiheit haftete. Wer, der noch ein Gymnasium besuchte, hätte nicht zuweilen unter den Schillergedichten und Horazoden gestöhnt, die er auswendig lernen musste; …Kaum jemand wäre wohl noch zum Memorieren zu bringen; aufs Geistlose, Mechanische daran beriefe sich bereits der Geistloseste. Aber durch solche Prozesse wird dem Geist etwas von der Nahrung entzogen, an der er sich erst bildet.“ Vgl. Tebartz van Elst 1994
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2 Ausdifferenzierung des Feldes
Im Bildungskonzept der Waldorfpädagogik ist der hohe Stellenwert von Sprache generell und Dichtung im Besonderen unbestritten und auf einen ganzheitlichen Vollzug angelegt. Sowohl Lyrik als auch Prosa haben in der Unterrichtskultur der Freien Waldorfschulen von der ersten Klassenstufe an ihren Platz. Schülern und Lehrern bieten sich vielfältige Möglichkeiten, mit Gedichten zu leben und zu interagieren, ohne dass dies dem Fach Deutsch vorbehalten bliebe.67 Meine Erfahrung während der Erhebungsphase zeigt jedoch, dass der Umgang mit Gedichten auch im Kontext der Waldorfschule vor dem Hintergrund einer „Zunahme von Strukturen der Selbstbezüglichkeit“ und Individualisierung (Ziehe in: Kunze 2004: 65) neu gewichtet und mit der Frage nach einer eventuellen Aktualisierung der Aneignungsmethoden wie auch der rituellen Rahmung untersucht werden sollte. In Kapitel 1.1. („Die Achtklässler: Zum Verständnis der frühen Adoleszenz“) wurden unter dem Stichpunkt „Adoleszenz und Waldorfpädagogik“ Aspekte aufgezeigt, die für das pädagogische Handeln an einer Waldorfschule konstitutiv sind: erstens das Verständnis vom Menschen als einer durch das ›Ich‹ individualisierten Gesamtheit naturgegebener, sozial-emotionaler und geistiger Potentialität als Grundlage des pädagogischen Handelns, das idealiter als Hilfe zur „Geburt“ des Selbst aufgefasst wird (vgl. Steiner 1973: 134-137); zweitens das Verständnis von spezifisch menschlicher Entwicklung als eines sich in rhythmischen Prozessen auf leiblicher, emotional-psychischer und geistiger Ebene vollziehenden Vorgangs, in dem sich im Verlauf der Ontogenese mehr oder weniger deutlich bestimmte Phasen der phylogenetischen Entwicklung widerspiegeln. Vor diesem Hintergrund etabliert sich in Sprache das bedeutendste und gleichzeitig entwicklungsbedürftigste Medium des Individuums: sich handelnd, empfindend und denkend seiner Individuiertheit entsprechend ausdrücken zu können. Mit Bezug auf Sprachbildung und Unterrichtsgestaltung heißt es bei Steiner: „(Das Kind, HH) muss hineinwachsen in die schöne Nachbildung … So müssen wir die ganze Volksschulzeit hindurch (d. h. bis etwa zum 14. Lebensjahr) acht geben, dass wir in der richtigen Weise das Schönheitsgefühl ausbilden.“ (Steiner lt. Vortrags-Mitschrift 1921, Dornach 1978: 135)
Im Rahmen eines Konferenzgespräches wurde er von einem Kollegen um „Direktiven…für den Ästhetikunterricht“ gebeten; dazu äußerte er sich wie folgt:
67
Vgl. Stockmeyer 1976: 46 ff. Auch in aktuellen Lehrplänen der Jahrgangsstufen 7 und 8 für das Fach Deutsch an Förderstufen bzw. Gymnasien mehrerer Bundesländer ist unter der Rubrik „Umgang mit literarischen Texten“ das Erarbeiten von Gedichten und Balladen explizit aufgeführt. Diese sollen zunächst kennen gelernt, in gemalte Bilder umgesetzt, mit themenverwandten Gedichten verglichen, interpretierend vorgetragen (!) oder auch nur interpretiert werden.
2.1 Bildungskonzept und Schulkultur der Freien Waldorfschulen
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„Ich würde versuchen … den Kindern an wirklichen Beispielen den Begriff des Schönen, der Kunst als solcher beizubringen; Metamorphosen des Schönen durch die Stilperioden hindurch: das Griechisch-Schöne, das Renaissance-Schöne und so weiter. Es ist von besonderer Bedeutung für dieses kindliche Alter (gedacht war hier an vierzehnbis sechzehnjährige Schüler, HH), dasjenige, was sonst in einer abstrakten Form herangebracht wird, auszugestalten mit einer gewissen Konkretheit. ….Auf der anderen Seite veredelt es ungemein in bezug auf das Ideale, wenn das Kind in diesem Alter in die Möglichkeit versetzt wird, zu verstehen: Was ist das Schöne, was ist das Erhabene? Was ist das Komische, wie realisiert (es, HH) sich … in der Dichtung?“ (Steiner mündlich in der Konferenz vom 11.9.1921, Dornach 1975/4: 41)
Steiner bezieht sich damit, wie er selber mehrfach expliziert, auf die Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, die Schiller 1795 an den Herzog von Holstein-Augustenburg schrieb. Diese siebenundzwanzig Briefe verfasste Schiller in Auseinandersetzung mit den Folgen der Französischen Revolution und entwickelte dort ein Konzept des ästhetischen Staates mit der These, dass einzig „es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert“ (Zweiter Brief). Im achtzehnten Brief heißt es: „Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet; durch die Schönheit wird der geistige Mensch zur Materie zurückgeführt und der Sinnenwelt wiedergegeben.“
Und im zweiundzwanzigsten Brief schließlich: „Alle anderen Übungen geben dem Gemüt irgend ein besonderes Geschick, aber setzen ihm dafür auch eine besondere Grenze; die ästhetische allein führt zum Unbegrenzten. …Nur der ästhetische (Zustand, HH) ist ein Ganzes in sich selbst …Hier allein fühlen wir uns wie aus der Zeit gerissen, und unsere Menschheit äußert sich mit einer Reinheit und Integrität (Hvh. v. Schiller), als hätte sie von der Einwirkung äußrer Kräfte noch keinen Abbruch erfahren.“ (Schiller, Stuttgart o.J., Seite 5-89; vgl. dazu auch Leber 2002, Band II, Seite 298-306)
Ziehen wir die bildungspolitische Situation der Zeit nach dem ersten Weltkrieg hinzu sowie Steiners pädagogischen Impuls, der im Jahre 1919 zur Gründung der ersten Freien Waldorfschule in Stuttgart führte, wird der Bezug zu Schillers „Briefen“ deutlich.68 Dieser ästhetische Aspekt wie auch die Idee eines weit gespannten Bildungsangebots der Schüler, deren genuine Entwicklungsfähigkeit sich an möglichst reichhaltigen Inhalten erproben soll, durchzieht sämtliche Fachbereiche des klas68
Steiner 1972/2 : 25-31
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sischen Lehrplans der Freien Waldorfschulen (v. Heydebrad 1983/7; Stockmeyer 1976; Richter 2003). Dem Ideal eines freien Bildungswesens entsprechend jedoch ist er nicht als programmatische Handlungsanweisung aufzufassen, sondern gedacht als ein an der psycho-physischen und geistigen Entwicklung der Heranwachsenden orientiertes pädagogisches Kompendium mit exemplarischen Anregungen, die dem ersten Lehrerkollegium von Steiner gegeben wurden. Ein an einer „genetischen Textur“ sich orientierender Lehrplan (Ullrich 1986) impliziert, dass die dort aufgeführten Anregungen und Beispiele in der konkreten Umsetzung immer auch mit der realen Entwicklungssituation der Schüler und dem lebensweltlichen, kulturellen und bildungspolitischen Kontext abgestimmt bzw. entsprechend verwandelt werden müssen. Mit Rücksicht auf den Strukturwandel des Heranwachsens und die enormen kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen wurde vom Bund der Freien Waldorfschulen daher kürzlich ein Bildungsplan herausgegeben, der den klassischen Lehrplan ergänzende Kompetenzen benennt, die „im Bildungsgang eines Kindes erworben werden sollten.“ (Götte et al. 2009: 11)69 Zur Frage der Sprachkompetenz wird dort u. a. „die Erfahrung unterschiedlicher Ausdrucksmöglichkeiten“ aufgrund der Vielfalt sprachlicher Erfahrungen im gesamten Unterricht der Freien Waldorfschulen (z. B. Erzählungen, Gedichtrezitationen, szenische Spiele, Theaterprojekte, Eurythmie) hervorgehoben und mit Identitätsbildung und Resilienz der Heranwachsenden in Beziehung gesetzt (Götte et al., a.a.O.: 57).
2.1.1.1 Der Umgang mit Gedichten In einem seiner Vortragskurse anlässlich der Eröffnung der ersten Freien Waldorfschule in Stuttgart äußert sich Steiner zum Thema Lyrik vor dem Hintergrund einer Polarität von „plastisch-bildnerischer“ und „musikalisch-dichterischer“ Kunstform, deren je unterschiedliche Bedeutung für Bildung und Entwicklung der Schüler er wie folgt charakterisiert: „Alles Plastisch-Bildnerische (arbeitet, HH) auf die Individualisierung der Menschen…hin, alles Musikalisch-Dichterische dagegen auf die Förderung des sozialen 69
Der Begriff Kompetenz ist dem lat. Verb competere (zusammentreffen, etwas gemeinsam erstreben, gesetzlich erfordern) entlehnt (Kluge 2002: 515); Bezugsquellen des Abstraktums Kompetenz, wie es im erziehungs-wissenschaftlichen und bildungspolitischen Diskurs verwendet wird, sind: die generative Transformationsgrammatik von Cchomsky (wo Kompetenz „als ein abstraktes Konstrukt zu gelten hat, von dem alle (mögliche) Rede ableitbar ist“) und Habermas’ Konzept der kommunikativen Kompetenz, das soziale, psychische und situative Faktoren der menschlichen Kommunikation berücksichtigt (Homberger 2003: 266). Hier ist mit Kompetenz die „verborgene Disposition zum Handeln gemeint (vgl. Götte et al. 2009: 29).
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Lebens. …Das Dichterische wird aus der Einsamkeit der Seele heraus erzeugt …es wird verstanden durch die menschliche Gemeinschaft.“ (Steiner 1975: 46)
Im Sinne eines holistischen Bildungskonzepts soll der Unterricht an Waldorfschulen den Schülern die Begegnung mit beiden künstlerischen Gestaltungsprinzipien von der ersten Klasse an ermöglichen. Zum Musikalisch-Dichterischen heißt es im oben zitierten Vortrag etwas später, dass „Freude vor allen Dingen und Verlangen gegenüber dem Musikalischen und Dichterischen“ im heranwachsenden Schüler geweckt werden möge. Steiner betont die „lebendige Verbindung“ von Musik und Dichtung und legt Wert darauf, dass beim Erarbeiten von Gedichten zunächst nicht das Semantisch-Inhaltliche, sondern das rhythmisch-musikalische Element im Vordergrund stehen sollte. „Die allgemeine Melodie ist das, woran der Inhalt hängt, und das Dichterische erschöpft sich dann an der Formung des Sprachlichen, nicht in dem Inhaltlichen, sondern in dem Takt, in dem Rhythmus, in der Reimerhaltung, also in dem dem Dichterischen zugrunde liegenden Musikalischen.“ (Steiner, a.a.O., S. 46-47)
Diese Bevorzugung des Rhythmisch-Musikalischen gegenüber dem Inhaltlichen eines Gedichtes sollte nicht so missverstanden werden, dass letzteres nach Steiners Auffassung keine Rolle spiele. Vielmehr ist es Aufgabe der Lehrer, das, was den Schülern zum inhaltlichen Verständnis eines Gedichtes nötig ist, vorher in anschaulichen Erklärungen und Interpretationen zu erschließen (Stockmeyer 1976: 75). Dieses vorherige Eröffnen (im Fachjargon der Waldorfpädagogik „Einführung“ genannt) ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass Gedichte nicht stumpf repetiert und damit ihrer Wirkmächtigkeit, ihrer „Schönheit“ beraubt werden, wie eine Schülerin dies ausdrückte. Im Idealfall werden Gedichte nicht als „Lerngedichte“ behandelt und auswendig gelernt, sondern durch kontinuierliches Rezitieren im Kollektiv – zweckfrei und von Zeitdruck relativ unbehelligt – in einem ungezwungenen, organischen Prozess des Sich-Einprägens (Inwendiglernens)70 aufgenommen: „Lyrik, als Kunst, ist jenes ›verweile doch‹ und weiter nichts. Es handelt sich um einen Prozeß der Verwandlung und Aufhebung von Zeit.“ (DOMIN 2005:20)
Jorge Semprun beschreibt diesen Zustand inneren Herausgehobenseins – den Schiller „wie aus der Zeit gerissen“ nennt – aus dem „wirklichen Leben“ im Konzentrationslager mit den Worten:
70
Hartmut von Hentig fragt, ob man nicht im Zeitalter der Wortspeicher „inwendig“ lernen müsse. Vgl. Lösener 2007: 46
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„Ein einziger, innerer, geheimnisvoller Faden verband die Sprache meiner Kindheit noch mit meinem wirklichen Leben, der Faden der Poesie. ….Vor allem aber hat die Poesie, im Hintergrund, auf einer tiefen Ebene absoluter Gnade und Zweckfreiheit die Beziehung zu meiner Muttersprache in mir lebendig erhalten.“ (Semprun 2002: 83f)
Auf die Tatsache, dass lyrische Sprache in Freien Waldorfschulen in einer Art windstillen Zone, das heißt in einer von Belehrungsabsicht und routinehaftem Akkumulieren von Wissen weitgehend befreiten Unterrichtssequenz (dem so genannten „Rhythmischen Teil“)71 vermittelt und angeeignet werden kann, wird an späterer Stelle eingegangen werden. Da die Voraussetzung der Ergebnisoffenheit und des mußevollen Verweilens an einem Gegenstand hier weitgehend gegeben ist, bleibt die Aufgabe der Lehrer, in der Interaktion mit den Schülern jene irritierende, spannende oder auch krisenhafte Substanz aus einem Gedicht, jene „Musik der Seele“ (Herder) herauszuarbeiten und lebendig zu halten, damit auch im rituellen Vollzug der gemeinsamen Rezitation die „Schönheit“ eines lyrischen Gebildes nicht verloren gehe. Darin können latente Fragen, Gefühle und Gedanken der Heranwachsenden in metaphorischer Sprache zum Ausdruck kommen und zum unzerstörbaren Teil von Identität werden. Zur Frage der didaktischen Vermittlung heißt es bei Steiner weiter: „Aber nicht indem man an der Hand des Gedichtes von Zeile zu Zeile geht, sondern so, dass man das, was über dem Inhaltlichen liegt, dem Kinde vorbringt“ und dabei Wert legt „auf die künstlerische Mitteilung des Künstlerischen.“ (Steiner, a.a.O.: 48)
Fasst man das Jahr der Schulgründung (1919) ins Auge, ist die Formulierung „künstlerisches Mitteilen des Künstlerischen“ sicher aus dem Impuls Steiners zu verstehen, Schule und Lernen aus Enge und Muff des wilhelminischen Kaiserreiches zu befreien und vollständig zu reformieren. Nicht etwas Pedantisches, nicht das „Aufsagen“ oder gar stereotypes „Einpauken“ von Gedichten war sein Anliegen, sondern das perzeptive, handlungsgeleitete Erleben von ästhetischer Sprache, eine zuerst „sprechkünstlerische Gedichtinterpretation“ (vgl. Anders 2001:9; Hvhg. HH) und ein sukzessives Erwachen für die Sinn- und Bedeutungsebene von Lyrik. Es geht also zunächst nicht um sprachästhetische Begrifflichkeiten wie das Zählen von Hebungen und Senkungen oder um Reimformen, sondern um ein SichVerbinden mit „des Wohllauts mächtige(r) Gottheit“ (Goethe), um – indem Gedichte gesprochen, gehört und gefühlt werden – für den Bedeutungswert lyrischer Sprache zu erwachen. Hier sei daran erinnert, dass in der Waldorfpädagogik dem Verständnis von Lernen als einem ganzheitlichen Hineinwachsen – hier: in das 71
Vgl. Leber 2002: 588-591
2.1 Bildungskonzept und Schulkultur der Freien Waldorfschulen
55
„Künstlerische“ – die Idee des „werdenden“ Menschen zugrunde liegt, das mit dem auf Pestalozzi zurückgehenden Begriff des „ganzheitlichen Lernens“ (KopfHerz-Hand) aus der Reformpädagogik korrespondiert. Lernen wird hier gesehen als eine zunächst imitative Praktik des Zusammenwirkens kognitiv-intellektueller, leiblich-sinnlicher und affektiv-emotionaler Aspekte. Im erziehungswissenschaftlichen Diskurs ergeben sich so teilweise Überschneidungen mit dem Ansatz des „performativen Lernens“, seiner Berücksichtigung des konkreten Vollzugs sowie der damit verknüpften gegenständlichen, spielerischen, körperlichen, rituellen und metaphorischen Perspektiven.72 Mit der in Kapitel 1.1. bereits skizzierten Idee der Einheit von leiblicher, seelischer und geistiger Dimension des Menschen verbindet sich der Gedanke, dass die motorischen, psychischen und kognitiven Fähigkeiten eines Kindes, die im Vorschulalter noch miteinander verschmolzen sind, sich allmählich voneinander emanzipieren und erst im Laufe der Adoleszenz bewusst gesteuert werden können. Dieser sich metamorphosierende Individuierungsprozess wird in der Waldorfpädagogik als ein Vorgang des Freiwerdens („Geborenwerdens“) aufgefasst und generiert ein methodisch-didaktisches Modell eines Unterrichts, das die leibliche und psychische Gesundheit der Schüler unterstützen will. Es wird darin ein schülerorientiertes Ausbalancieren von aktivem Handeln, Wahrnehmungsund Gefühlserfahrungen sowie reflexiv-kognitiven Tätigkeiten entsprechend der Entwicklungsidee und deren konkreter Manifestation im einzelnen Schüler angestrebt, das das vergleichsweise spät einsetzende bewusste Erschließen der Sinnund Bedeutungsstrukturen von Gedichten legitimiert.73 Diese methodische Vorgehensweise, die von Steiner vielfach ausgeführt und aus verschiedenen Perspektiven begründet wurde, bezieht sich zunächst auf den Unterricht der ersten Schuljahre, während sich die Text bzw. Sinn erschließende Aneignungsform auf die Arbeit höherer Klassenstufen konzentriert.74 Dies hängt mit einem weiteren wichtigen Bezug zusammen, der an dieser Stelle nur angedeutet werden kann. Im entwicklungstheoretischen Konzept der Waldorfpädagogik („Menschenkunde“) haben Leib aufbauende und gesundheitliche Aspekte (Resilienz) eine hohe Bedeutung, denn „der Unterricht ist keineswegs der Nabel der Welt für das Kind“, denn dieses hat gleichzeitig die leibliche Umgestaltung zwischen Kindheit und Erwachsensein zu bewältigen (Leber 2002,
72 73
74
Zum Thema „performatives Lernen“ vgl. Sünkel 1994 Zur Verarbeitung des Tageserlebens im Schlaf vgl. Leber 2002: 114-121; BOLLNOW 1956/3:93: „Der tiefe Sinn des ›Beschlafens‹ einer schwierigen Frage liegt auch nicht nur in der Gewinnung eines größeren zeitlichen Abstandes, sondern tiefer in der aufschließenden Kraft der morgendlichen Heiterkeit, in der sich die des Abends unlösbar verwickelt erscheinenden Fragen wie von selbst auseinander- und zurechtlegen.“ Steiner 1973 u. 1975
56
2 Ausdifferenzierung des Feldes
Band III, S. 307).75 Auf diese Aufbau- und Umgestaltungsprozesse darf der Unterricht nicht störend einwirken, sondern soll sie nach Kräften unterstützen. So wird zum Beispiel dem Verhältnis von Respiration und Pulsation besondere Aufmerksamkeit gewidmet, da die Gesundheit der Schüler hiervon langfristig wesentlich beeinflusst wird. Dieses Verhältnis von Atmung und Pulsation liegt beim gesunden Erwachsenen ungefähr bei 1:4, während es vor der Pubertät noch relativ instabil ist und sich erst um das zwölfte Lebensjahr einpendelt (Kranich 1999: 187; Leber 2002/I: 80-85). Ein regelmäßiges, an Metrik, Musik und Rhythmus eines Gedichtes sich orientierendes Rezitieren im Unterricht wird daher als ein probates Mittel angesehen, zur Harmonisierung des Puls-Atem-Verhältnisses beizutragen (Leber 2002/II: 307-312; Steiner 1919, Dornach 1975/5: 23-36).76 Damit ist eine weitere Begründung dafür gegeben, dass lyrische Dichtung an Waldorfschulen zunächst vorwiegend als verbale und akustische Kunst, auf dem Wege der „leibhaftigen Fühlung“ (Adorno) und – durch das häufige gemeinsame Rezitieren – in Form einer kommunikativen ästhetischen Grunderfahrung vermittelt und angeeignet wird, bevor der einzelne Schüler diese durch bewusste Reflexion in ein autonomes, Sinn erschließendes ästhetisches Urteil transformieren kann. Wahrnehmungs- und Handlungsvollzüge bilden so die Grundlage reflexiven Erkennens.77 Neuere Untersuchungen, die an anderen Schulformen durchgeführt wurden, zeigen auch dort ein verstärktes Interesse am Verhältnis von perzeptiv-sprechkünstlerischer Gedichtrezeption als körperlich fundiertem Prozess von Bedeutungsentwicklung einerseits und einem reflexiv-kognitiven Sinn-Erschließen auf der anderen Seite (Stückl 2000; Anders 2001). Dass darüber hinaus durch gemeinsames Auswendigsprechen der Gedichte Gemeinschaft gestiftet und ein „gemeinschaftliches Selbstverständnis über die Zeit hinweg“ (Brumlik) gebildet werden kann, wurde bereits erwähnt und durch andere Untersuchungen bestätigt (Lösener 2007: 42-44). Erikson sieht Ritualisierung unter der Prämisse, dass sie „ein Bindeglied zwischen den sich entwickelnden Egos und dem Ethos ihrer Gemeinschaft darstellt, dann … lebende Sprachen als eine der bedeutendsten Formen von Ritualisierung betrachtet werden (müssen; HH), insofern sie in den durch ritua-
75 76
77
Der von Steiner geprägte Begriff „Menschenkunde“ fasst in einer elaborierten Begrifflichkeit das Verständnis der Entwicklungsgesetzmäßigkeiten der Waldorfpädagogik; vgl. Steiner 1953 Vgl. ausführlich zum Begriff der „Salutogenese“ Antonovsky 1997; Hübner 2005; Marti 2006; „DER MERKURSTAB“, Sonderdruck, 58. Jg., Heft 2 und 3 2005, „Wirkungen von Sprachtherapie auf die kardio-respiratorische Interaktion – Teil 1: Synchronisation durch HexameterRezitation“; Leber 2002/III: 245-249 Vgl. Meyer-Drawe 1991: 96
2.1 Bildungskonzept und Schulkultur der Freien Waldorfschulen
57
lisierten Austausch übermittelten Werten sowohl allgemein Menschliches wie kulturell Spezifisches zum Ausdruck bringen.“ (Erikson 1992/2: 71)
Eine langjährige rituelle Rahmung birgt gleichzeitig vor allem in der frühen Adoleszenz die Gefahr, dass das Ritual zwar (noch) routinemäßig abläuft (weil es „dazugehört“, der Lehrer es will etc.), die innere Beteiligung der Schüler jedoch verblasst, weil die rituelle Rahmung dem Selbstverständnis und den Autonomiebestrebungen der Heranwachsenden nicht mehr entspricht und ihnen dadurch der Zugang zum Text eher verbaut als eröffnet wird. Das Vermittlungskonzept der Waldorfpädagogik zielt also zunächst auf aktiven Sprachvollzug (Rezitation, Deklamation) und Wahrnehmung lyrischer Sprache (Perzeption): der unter-schiedlichen Lautqualität der Worte, der Prosodie der Verse, dem Klang der Vokale, der inneren Plastik der Konsonanten, der Wahrnehmung der eigenen Stimme und ihrer Variabilität etc. Daraus kann sich ein Gefühl für die sprachliche Schönheit eines Gedichtes entwickeln. Auf dieser Basis könne sich „der Sprach- und Atemraum der Kinder weiten“ (SlezakSchindler 1978:6), um der Verbindung von ›Ich‹ und Leiblichkeit im Sinne einer harmonischen Individuierung Raum zu geben (vgl. Kap. 1.1. Abschnitt „Adoleszenz und Waldorfpädagogik“). Fasst man die wichtigsten Aspekte zusammen, lassen sich auf der SinnEbene des Symbolischen folgende Erfahrungsbereiche im Umgang mit Gedichten differenzieren:
Performanz (aktiver Rezeptionsprozess) Perzeption (mußevolles, nicht primär ergebnisorientiertes Wahrnehmen) Emotionen (ästhetische Erfahrung von Schönheit, Fremdheit, Sperrigkeit, Ausdruckskraft etc. der lyrischen Sprache) Vergemeinschaftung (rituelle Rahmung, chorische Rezitation) Resilienz (Stabilisierung und Harmonisierung der Atmung; Stimmbildung) Individuierung (autonome Urteilsbildung auf der Bedeutungsebene von Lyrik)
Bereits in der Einführung wurde auf die Tradition der Zeugnissprüche hingewiesen, die als eine für Waldorfschulen spezifische pädagogische Umgangsform mit Lyrik für Schüler und Lehrer von weit reichender Bedeutung sein kann. Da sich die Schüler der oberen Klassen der „Klassenlehrerzeit“ (1. bis 8. Schuljahr) mit beiden Formen – Lyrik als Kunstgedicht sowie Lyrik als pädagogischer Anmutung – auseinandersetzen müssen, soll auf letzteres im folgenden Abschnitt eingegangen werden.
58
2 Ausdifferenzierung des Feldes
2.1.1.2 Zeugnissprüche: Geschichte einer pädagogischen Nebenbühne Im Unterschied zu den meisten reformpädagogisch geprägten Schulformen haben die Freien Waldorfschulen das Textzeugnis in Form eines vom Klassenlehrer zu verfassenden fallspezifischen Entwicklungs-Gutachtens, vervollständigt durch Beurteilungen der Lernfortschritte durch die jeweiligen Fachlehrer, beibehalten.78 Dieses Textzeugnis wird in der Regel auch heute noch bis ins achte Schuljahr hinein ergänzt durch einen vom Klassenlehrer für jeden Schüler ausgewählten oder von ihm selbst verfassten so genannten „Zeugnisspruch“ (da dieser Spruch den Schülern in der Regel zusammen mit dem Zeugnis übergeben wird). In einer hoch ritualisierten Form sollen die Schüler mit diesem Spruch umgehen und sich ihn im Lauf des folgenden Schuljahres aneignen. Rückblickend auf Konferenzen Steiners mit dem Kollegium der ersten Freien Waldorfschule in Stuttgart im Gründungsjahr 1919 ist festzustellen, dass die Gestaltung der Zeugnisse damals noch relativ offen war. In den pädagogischen Ausführungen Steiners aus der Gründungszeit der Freien Waldorfschulen wird deutlich, dass er ähnlich wie die meisten anderen Reformpädagogen nach neuen Formen der Beurteilung anstelle des Notenzeugnisses suchte. Im Juni 1920 äußert Steiner, dass die Kollegen „einzelnes hervorzuheben versuchen, aber nicht in pedantischer Weise. ...für jedes Kind ...individualisieren (sollen HH) und so, dass man sich selbst den Text bildet. Jeder wird nach seinem Genius den Schüler charakterisieren. ...indem man, ohne zu zensieren, charakterisiert“. (Steiner 1975:147; Konferenz v. 14.6.1920)
Offensichtlich war der Anspruch, dass die Kolleginnen und Kollegen im Textzeugnis beschreiben sollten, welche Entwicklungs- und Lernschritte sie im Laufe des Schuljahres an ihren Schülern beobachtet hatten. Erste Hinweise Steiners auf einen Zeugnisspruch für jedes Kind finden sich in der Literatur erst im Jahr 1921, ebenfalls im Rahmen einer Konferenz: „Und wiederum für jedes Kind einen Spruch ins Zeugnis, der für die Individualität des Kindes richtunggebend sein kann, als Leitmotiv für die Zukunft.“ (Steiner 1975:285; Konferenz v. 26.5.1921)
In Einführungsvorträgen zur anthroposophischen Pädagogik und Didaktik, die Steiner 1921 in Dornach für Waldorflehrer gehalten hat79, äußert er:
78 79
Ullrich 1986 und 2007 Steiner 1978: 155
2.1 Bildungskonzept und Schulkultur der Freien Waldorfschulen
59
„Und dann lassen wir einen Spruch folgen, ganz individualisiert für jedes Kind, den jedes Kind in sein Zeugnis hineingeschrieben bekommt. Und dieser Spruch bildet dann für das nächste Jahr eine Art Lebensgeleitspruch.“
1922 ergänzt Steiner frühere Ausführungen: „danach formen wir für jede einzelne Kindesindividualität ... einen Kernspruch. ... Der soll eine Richtschnur für das ganze nächste Schuljahr sein. Das Kind nimmt diesen Kernspruch so auf, dass es immer daran denken muss. Und dieser Kernspruch hat dann die Eigenschaft, auf den Willen oder auf die Affekte oder Gemütseigenschaften in entsprechender Weise ausgleichend, kontrollierend einzuwirken. So hat das Zeugnis nicht nur einen intellektuellen Ausdruck dafür, was das Kind geleistet hat, sondern es hat eine Kraft in sich, es wirkt, bis das Kind wiederum ein neues Zeugnis bekommt.“80
Das Textzeugnis bzw. Gutachten sah Steiner demnach als etwas, was sich auf vergangene Vorgänge bezieht; der Zeugnisspruch hingegen war dazu gedacht, das Kind zu motivieren und ihm eine Richtung in die Zukunft zu weisen. Eine pädagogische Begründung von Steiner selber dafür, dass Zeugnissprüche während der gesamten Klassenlehrerzeit (also für acht Schuljahre) gegeben werden sollten, lässt sich daraus zunächst nicht ableiten. Die Suche des Klassenlehrers nach einem solchen „Kernspruch“ bedeutet nun, dass er sich intensiv mit jedem einzelnen Schüler wahrnehmend und seine Beobachtungen reflektierend auseinandersetzen muss, bevor er, oft erst nach einem mühevollen kreativen Prozess, das „Wesensbild“ des Kindes in einem passenden sprachlichen Bild fassen oder finden kann. Dieser intensive innere Dialog des Lehrers mit jedem einzelnen seiner Schüler, um sich Jahr für Jahr mit neuen Fragen jeder Schülerindividualität zuwenden zu können, ist nicht nur eine Erkenntnishilfe für den Lehrer, sondern auch eine der Voraussetzungen für eine stabile Schüler-Lehrer-Beziehung. Aus einer heutigen Außenperspektive kann die Bezeichnung „Zeugnisspruch“ allerdings irritieren, denn einerseits sollte er, so Steiner, dem „Kind in sein Zeugnis hineingeschrieben“, also Teil eines offiziellen Dokuments werden; andererseits aber sollte er „Richtung gebend“ bzw. „Leitmotiv“, also tendenziell zukunftsweisend sein. Streng genommen kann er daher nicht den Charakter eines „Zeugnisses“ haben, woraus sich eine gewisse Unstimmigkeit ergibt. In den wenigen dokumentierten Ausführungen von Steiner zu diesem Thema spricht er explizit immer nur von einem „Spruch“ (siehe obige Zitate). Da dieser Spruch aber faktisch jedem betreffenden Schüler mit dem Zeugnis überreicht wird, ist 80
Steiner Dornach 1972/2: 64
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2 Ausdifferenzierung des Feldes
die Bezeichnung „Zeugnisspruch“ zwar nahe liegend, doch irreführend. Von einigen Waldorflehrern wird der Spruch darum auch nicht direkt auf das Zeugnisformular geschrieben, sondern den Schülern in ansprechender Form, etwa auf einem aparten Papier festgehalten, übergeben. Von daher wäre zu überlegen, ob nicht nach eindeutigeren Bezeichnungen gesucht werden sollte. Auch fragt sich, ob die spürbare Sensibilität vieler Heranwachsender gegenüber jeglicher Zuschreibung von Außenstehenden durch die Bezeichnung „Zeugnisspruch“ nicht verstärkt wird. Mit diesem Zeugnisspruch bzw. Lebensgeleitspruch sollen die Schüler sich nun für ein Schuljahr verbinden, sollen „immer daran denken“ und sich der Herausforderung einer wöchentlich sich wiederholenden performativen, für Frühadoleszente krisenbehafteten Anforderung vor der Klasse stellen, um die Sprachkompetenz zu steigern und Selbstsicherheit zu gewinnen.81 Mit diesem Ritual hat sich in den Freien Waldorfschulen ein sprachästhetisches und performatives Übungsfeld herausgebildet, eine Art pädagogischer Nebenbühne, auf der frei von zeitlichen Zwängen und Lernzielvorgaben vom Beginn des zweiten Schuljahres an kontinuierlich individuell sprachbildend mit den Schülern gearbeitet werden kann. Die Differenzierung und Gestaltung des Rituals liegt je nach Alter bzw. Entwicklung der Klasse bzw. der Schülerindividualität in der Hand der beteiligten Akteure. Die Regel ist bisher, dass bis zum achten Schuljahr Zeugnissprüche vom Klassenlehrer gegeben und von den Schülern einmal wöchentlich vorgetragen werden. Allerdings tritt dies häufig ab der siebten Klasse zugunsten anderer (sprach-)künstlerischer Aktivitäten wie Klassenspiel oder Präsentation der Jahresarbeiten allmählich in den Hintergrund. Der Anspruch, der Zeugnisspruch möge „den Willen kontrollieren“ und auf (störende) „Affekte und Gemütseigenschaften ausgleichend wirken“, die damit verbundenen Zuschreibungen und Erwartungen der Lehrer wie auch das ritualisierte Arrangement sind für manche Schüler problematisch und können zu einem „mit Scham besetzten Ritual“ (Idel 2007: 238) werden.82 Das Ideal, dass Klassenlehrer die Zeugnissprüche möglichst selbst verfassen, wird auch heute noch angestrebt. Da sich viele Waldorflehrer jedoch nicht oder nur teilweise dazu in der Lage sehen, wird häufig zu einschlägigen Zeugnisspruch-Sammlungen von erfahrenen Kollegen gegriffen, um daraus das Passende auszuwählen.83 Die entwicklungsbedingte Distanzierungsbewegung der Heran81 82
83
Vgl. Stockmeyer 1976: 48-57 Dies bestätigen sowohl einige dieser Arbeit zugrunde liegenden Schüler-, Ehemaligen- und Experteninterviews als auch die bereits oben zitierten empirischen Untersuchungen (Ullrich/Idel/Kunze 2004; Idel 2007 u. Helsper/Ullrich et al. 2007). Vgl. auch Helmut Neuffer, Stuttgart 1997, S. 1117–1144; „Erziehungskunst“, Heft 5, Mai 1990, S. 380-397; Horst Hellmann, „Zeugnissprüche“, Erziehungskunst 5/2007, S. 511ff. Müller 1995/3; Tittmann 1994/2; Schäfer 1980, v. Kügelgen, Stuttgart o.J.
2.2 Zum Lehrplan der Freien Waldorfschulen
61
wachsenden, die sich ab der fünften, sechsten Klasse, also etwa im zwölften Lebensjahr der Kinder beobachten lässt, veranlasst viele Waldorflehrer dazu, in den oberen Mittelstufenklassen nicht mehr selbst verfasste Zeugnissprüche zu geben, sondern Gedichte aus dem Literaturkanon zu verwenden, sowohl um deren dichterischen Qualität willen, als auch um den Distanzierungsbestrebungen der heranwachsenden Schüler Rechnung zu tragen. Damit soll ihnen die Möglichkeit gegeben werden, in lyrisch verfremdeter Form Gedanken, Zukunftsentwürfe und Gefühle auszudrücken, die sie mit eigenen Worten nur unvollkommen oder gar nicht artikulieren können. Die Tradition, die sich – bei aller Gestaltungsfreiheit der am Ritual beteiligten Akteure – in Freien Waldorfschulen herausgebildet und weitgehend erhalten hat, lässt sich als symbolischer Interakt eines „Hauptdarstellers“ (des Schülers, der seinen Zeugnisspruch rezitiert) vor den auf seinen Vortrag konzentrierten schulischen Mitspielern (Nebenrollen, Bühnenarbeiter wie Statisten) beschreiben. Das Spektrum der sich im Laufe der Jahre aufschichtenden Erfahrungen kann dem von Steiner anvisierten Ideal entsprechend zum „Lebensgeleit“ der Kindesindividualität, zum Dialog mit dem idealen imaginären Anderen werden (Helsper 2003: 142-145). Es kann dieses Ideal aber – im negativen Fall oder in instabilen psychischen Situationen wie beispielsweise der Adoleszenz – auch zur Darbietung einer peinlichen Selbst(ent)äußerung geraten (vgl. Ullrich 2000).84 Die Schrecken und Frustrationserfahrungen, die mit dem Auswendigsprechen von Gedichten vor einem Publikum verbunden sein können, hat Lösener am Beispiel von Hanno Buddenbrook aus Thomas Manns Roman „Die Buddenbrooks“ eindrücklich gezeigt und ihren Argumenten für den Wert des Auswendigsprechens vorangestellt.85
2.2 Zum Lehrplan der Freien Waldorfschulen Um nachzuvollziehen, wo die im Lehrplan empfohlenen und begründeten Beispiele für einen kontinuierlichen Umgang mit Lyrik im Unterricht jeweils eingesetzt werden können, soll in Hinsicht auf entwicklungspsychologische und pädagogische Aspekte ein kurzer Überblick über den horizontalen sowie den vertikalen Lehrplan der Freien Waldorfschulen gegeben werden.
84
85
Für beides lassen sich Beispiele finden. Vgl. Gilbert von Kerckhovenin: „Erziehungskunst“, Heft 5, Mai 1998; Expertengespräch mit R. Wermbter; Lehrerinterview mit Frau B vom 23.2.07; Interviews mit Ehemaligen Vgl. Lösener 2007: 27-49
62
2 Ausdifferenzierung des Feldes
2.2.1 Horizontale Darstellung Zunächst sei an ein Phänomen erinnert, das sich vor allem in der frühen Kindheit, aber auch noch in den ersten Schuljahren äußert: Die spontane Freude von Vorschulkindern an gebundener, rhythmisierter Sprache, an allem, was sich reimt, was sich sprechend bewegen, zu Bewegung sprechen lässt. Zu beobachten ist dies bei Kindern, die Gedichte mit häufigen Verswiederholungen hören (wie z. B. „Der Herr, der schickt den Jockel aus“, „Das bucklige Männlein“ u.v.m.), die gereimte Handgestenspiele oder Verse aus Märchen aufnehmen und immer wieder nachsprechen wollen (etwa Rumpelstilzchens Ruf: „Ach, wie gut dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß!“).86 An diese Freude am Rhythmisch-Musikalischen der Sprache knüpft die methodisch-didaktische Vermittlung von Lyrik in Waldorfschulen an. In Verbindung mit den Lehrplanbeispielen von Steiner und den langjährigen praktischen Erfahrungen ist daraus eine gewisse Tradition mit Variationen entstanden, die als Basis des Grammatikunterrichts und der Sprachkompetenz der Schüler gesehen wird. Vom ersten Schuljahr an beginnt (zumindest in bundesdeutschen Freien Waldorfschulen) die vom Klassenlehrer etwa zwischen acht und zehn Uhr vormittags durchgeführte Unterrichtseinheit (im Fachjargon der Waldorflehrer meist „Hauptunterricht“ genannt) täglich mit dem so genannten „rhythmischen Teil“. Hier werden im Wechsel Artikulationsübungen, Gedichte und Zeugnissprüche erarbeitet, es wird gesungen, musiziert; Geschicklichkeitsübungen können folgen, Gespräche über bestimmte Erlebnisse einzelner Schüler oder auch reizvolle Naturerscheinungen können geführt werden. In den ersten beiden Schuljahren kann dieser rhythmische Teil eine halbe Stunde in Anspruch nehmen, während dies im Verlauf der höheren Klassenstufen, begründet durch die sich wandelnden Lernbedürfnisse der Schüler, zeitlich bis auf wenige Minuten eingeschränkt wird.
86
Zur Verbindung von Sprache und Musik in vorschriftlichen Kulturen und die Tatsache, dass frühe Formen menschlicher „Literatur“ im Medium gesprochen-gesungener Dichtung tradiert wurden, vgl. Kapitel 1.2. Vgl. auch Milosz 1974:40 „Jeder Mensch und jede Menschengruppe, dessen oder deren Weg in die Literalität führt, legt zuerst in der Welt der Oralität ein Fundament für das Beherrschen des Lesens und Schreibens. Die Oralität trägt die Literalität, liefert den Antrieb zu deren Ausformung.“ Sanders 1995:10 Hier wären magische Sprüche von Priestern und Medizinmännern – aus unserem Kulturkreis etwa der „Lorscher Bienensegen“, der „Merseburger Zauberspruch“ – zu nennen. Mythen wie die „Edda“, das estnische Nationalepos „Kalevipoeg“ oder der finnische Schöpfungsmythos „Kalevala“ wurden ursprünglich in einer Art Sprechgesang „erzählt“ (vgl. Hübner 2005:27 bis 35). Das kirgisische Heldenepos „Manas“ wird noch bis zum heutigen Tag von zwei eigens für diese Darbietungsform ausgebildeten Sängern „gesungen“, besser: „gerufen“. Auch Ilias und Odyssee, deren Hexameter-Verse von Homer als „Gesänge“ überliefert sind, weisen auf die enge Verbundenheit von Sprache und Musik.
2.2 Zum Lehrplan der Freien Waldorfschulen
63
Mit Bezug auf die Gedichtrezeption ist also entscheidend, dass diese eingebettet ist in ein hoch ritualisiertes Lernarrangement, in dem die Schüler sich Gedichte nicht durch Auswendiglernen, sondern durch kontinuierliches, anfangs meist chorisches Auswendigsprechen mit dem Lehrer aneignen. Ritualisierte Rahmungen von Unterricht und Lernarrangements – wie hier die der Gedichtrezeption im „rhythmischen Teil“ – werden unabhängig von Waldorfschulkultur in den letzten Jahren wieder stärker in den Blick genommen und in empirischen Arbeiten dargestellt: „Rituale sind körperliche Aufführungen, in denen das Soziale symbolisch dargestellt und mimetisch hervorgebracht wird…(das; HH) Differenzen innerhalb der Gemeinschaft wie zwischen den Gemeinschaften generiert und bearbeitet. …für Prozesse des Lernens (ist; HH) das selbstständige praktische Tun und Erfahren bedeutsam. …(Es ist; HH) ein Handeln, welches sich nicht auf Sprache beschränkt, sondern den Körper und das auf Materialität bezogene Tun, also weitere bedeutsame Aspekte des Performativen, einschließt.“ (Wagner-Willi in: Wulf et al. 2007: 57)
So vollzieht sich ein flexibler, mimetischer Aneignungsprozess von Gedichten, der weiter oben mit „Hineinwachsen“ bezeichnet wurde, ohne dass diese Erfahrung sogleich mit inhaltlichen Deutungen und Begrifflichkeiten der Lyrik besetzt würde. Von erziehungswissenschaftlicher Seite könnte diese Aneignungsform mit rituellen Praktiken und mimetischen Prozessen verglichen werden, deren Bedeutung für Kreativität und Selbstkompetenz wie folgt hervorgehoben wird: „Der mimetische Prozess führt … nicht zu einer bloßen Kopie des ihm zugrunde liegenden ästhetischen Werks; vielmehr kommt es zu einem eigenen ästhetischen Produkt (hier: dem auswendig gesprochenen und damit interpretierten Gedicht; HH), bei dessen Herstellung sich das Ausmaß der Kreativität der Kinder jedoch erheblich unterscheidet. Wichtig ist sodann der körperbasierte performative Charakter des poietischen Prozesses, in dessen Verlauf das ästhetische Werk entsteht.“ (Wulf et al. 2007: 119)
Die Lyrik-Didaktik an Waldorfschulen zielt so über die ersten Schuljahre hinweg auf ein intensiv wahrnehmendes, performatives Integrieren der klanglichlautlichen und metrischen Ausdrucksgestalt eines Gedichtes, eine Art fühlendes Erfassen, ein „Einatmen“ (Domin) des Textes, das die Schüler nicht festlegt, sondern ihre Erfahrungen einem späteren (individuellen) Entdecken (oder Aberkennen) von Sinn und Bedeutung überlassen kann. Steiner hat der Qualität eines retrospektiven entdeckenden Verstehens von zunächst mit dem Gedächtnis aufgenommenen Inhalten einen hohen Wert für Selbst-Bildung und Individuierung
64
2 Ausdifferenzierung des Feldes
beigemessen.87 Hierin korrespondiert die Unterrichtsmethode in der Freien Waldorfschule auch mit Bezug auf Lyrik und insbesondere während der Klassenlehrerzeit der „genetische(n) Lehrkunst Wagenscheins (als; HH) Modellfall eines romantischen und zugleich revolutionären pädagogisch-didaktischen Projekts, denn hierin wird deutlich, dass der Lehrende durch die Entfaltung seiner sinnverstehend-rekonstruierenden Kompetenz zum professionellen Spezialisten für die Initiierung und Begleitung von individuellen und gemeinschaftlichen Bildungsprozessen werden kann.“ (Ullrich 1999: 177)
Auch im Fremdsprachen-Unterricht werden Gedichte rezitiert, um sich einem fremden Land und seiner Kultur über dessen Lyrik anzunähern.88 Ähnliche Möglichkeiten bieten sich in Fächern wie Geographie, Biologie oder Geschichte, gelegentlich sogar, um ein neues naturwissenschaftliches Sachgebiet einzuführen, zu reflektieren oder aus einem bestimmten Blickwinkel (nämlich dem persönlichen des Dichters) zu betrachten. Wie neuere Forschungsarbeiten zeigen, wurde die Idee der Integration von Lyrik und Landeskunde bzw. (Fremd-) Sprachunterricht in letzter Zeit auch von anderen Schulformen vor allem im Hinblick auf interkulturelles Lernen umgesetzt, etwa durch das Erarbeiten von Konkreter Poesie als möglichem „Motor“ für das Erlernen einer Fremdsprache (Reisinger 2008: 112). Kurze rhythmische Verse begleiten im Handarbeits- oder Werkunterricht der ersten beiden Schuljahre die Schüler beim Führen der Werkzeuge, um ihnen die Koordination von Blick und Feinmotorik zu erleichtern. Eine herausragende Stellung im Zusammenhang mit Lyrik hat das Unterrichtsfach Eurythmie, in dem die Schüler während ihrer gesamten Schulzeit, das heißt von der ersten bis zur zwölften Klasse gruppenweise ein bis zwei Mal wöchentlich Musik und Sprache dem eigenen Gefühl und der individuellen Gestaltungsmöglichkeit entsprechend in ästhetische Bewegung umsetzen lernen.89
2.2.2 Vertikale Darstellung Entscheidend ist auch hier, dass die Schüler Sprache grundsätzlich in ihrer Gesamtheit, als „autarke Totalität“ (Milosz 1984:30) erfahren, die verankert ist im Handeln und im Fühlen, mit allen Schattierungen von Sympathie und Antipathie, zum anderen in Vorstellung und Erkenntnis, die sich inhaltlich in ihr (der Spra87 88
89
Steiner 1974/5: 42-44; Leber/I: 169 Es existieren seit geraumer Zeit auf Alter und Entwicklung der Schüler bezogene Lehrpläne für den Fremdsprachenunterricht an Freien Waldorfschulen, an denen die Kollegien und Ausbildungsstätten kontinuierlich weiter arbeiten. Vgl. zur Eurythmie Dubach-Donath 1983, Siegloch 1997, Barfod et al. 2001
2.2 Zum Lehrplan der Freien Waldorfschulen
65
che) ausdrückt (vgl. Steiner 1973/7, 11. Vortrag; Leber 2002, Band III:263-271). Mit diesem Verständnis von Sprachbildung ist eine Schnittstelle zur aktuellen Ritualforschung markiert, die „die Performativität als wichtige Dimension von Lernkulturen unterstreicht“ (Wagner-Willi; a.a.O.). Auch die Rezitationsübungen der ersten Unterrichtssequenz (dem rhythmischen Teil) werden auf die leibliche, psychische und kognitive Entwicklung der Schüler abgestimmt. Darin begründet sich beispielsweise die Beschäftigung mit Stabreim-Dichtungen im vierten, mit dem Versmaß des Hexameter im fünften und mit dramatischen Texten und Balladen sowie zarter Liebes-Lyrik im siebenten und achten Schuljahr.90 Oft werden die Gedicht-Rezitationen von Artikulations- und Atemübungen begleitet, einer Art Gymnastik der Sprachorgane mit dem Ziel, die Schüler an deutlich artikulierendes, „schönes“ Sprechen zu gewöhnen. Während die Gedichte in den unteren Klassen in der Regel chorisch rezitiert werden, löst sich diese Form der Performanz in den höheren Schulstufen auf. Die Schüler haben dann mehr und mehr Gelegenheit, in Gruppen oder auch einzeln, meist vor der Klasse stehend, bei Schulfesten auch vor einem größeren Publikum zu rezitieren. In der siebenten und achten Klasse kann das Sinn-Erschließen eines Gedichtes in Form von Unterrichtsgesprächen größeren Raum einnehmen. Hier können auch, basierend auf dem langjährig gepflegten Wechsel von Auswendigsprechen und Zuhören, fundamentale lyrische Gestaltungsformen erarbeitet werden. Wie dies von einzelnen Lehrern jeweils umgesetzt wird, ist im Lehrplan der Freien Waldorfschulen nicht explizit vorgegeben, sondern bleibt der Phantasie, den künstlerischen Fähigkeiten und dem Urteilsvermögen jedes Lehrers überlassen wie auch den Ideen, die sich aus der gemeinsamen Arbeit und der Reziprozität der Schüler-Lehrer-Beziehung entfalten. Dass sich Waldorflehrer bei ihren Auswahlkriterien weitgehend an den Literaturkanon von Kunstgedichten halten, ist der oben zitierten Idee geschuldet, im Unterricht Werke zu erarbeiten, die beispielhaft sind für den „Begriff des Schönen“, in denen sich die „Idee ausbildet und auslebt…wo wir in der äußeren Erscheinung unmittelbar das Gesetz wahrnehmen“ (Steiner 1961/2: 24).91 90 91
Als Einführung in das waldorfspezifische didaktische Modell mögen die oben angeführten Zitate genügen. Näheres dazu vgl. Slezak-Schindler, Stuttgart 2007 Zur Begriffsbestimmung „Kanon“ führt Reisinger aus: „Bei aller Verschiedenheit von möglichen Kanonkonzepten herrscht aber in der Literaturwissenschaft Einigkeit darüber, dass ein Kanon niemals eine feste und überzeitliche Größe darstellt, die in Form eines Dokuments greifbar wäre, sondern dass er stets selbst einem Wandel unterworfen ist. …Wenn also vom Kanon als Bewahrer des kulturellen Erbes einer bestimmten Gesellschaft die Rede ist, handelt es sich nicht um eine feststehende Literaturliste, sondern um ein gedankliches Konstrukt. Letzteres umfasst das Ensemble dessen, was von einer dominanten Gruppe innerhalb einer Gesellschaft als ausgezeichnet, identitätsstiftend und überlieferungswürdig eingeschätzt wird. Dieser (Kanon; HH) …wird in konkreter Gestalt in Lesebüchern, Anthologien, Nachschlagewerken, Literaturgeschichten und Werkausgaben nachweisbar.“ (Reisinger 2008: 177)
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2 Ausdifferenzierung des Feldes
Der Literaturkanon ist in diesem Sinne als eine Art Leitfaden gedacht und hat im Unterschied zu einem Lektürekanon, wie er vielfach an anderen Schulformen verpflichtend ist, keinen Anspruch auf Verbindlichkeit. Unter der Prämisse, dass dieser Literaturkanon eine Fülle von alten und neuen, im Sinne Mandelstams „guten“ Gedichten (siehe Kap. 1.2) enthält, oder die – wie Domin in ihrer Lyriktheorie sagt – musterhaft, authentisch und einmalig sind (Domin 1971/2005: 145-146), deren künstlerische Qualität eine bestimmte Situation, ein Thema, einen Konflikt im Unterrichtsgespräch erhellen und bereichern kann, sollte dies für die Qualität einer ästhetischen Erfahrung und die Ausbildung eines autonomen ästhetischen Urteils der Heranwachsenden kein Nachteil sein und schließt eigene lyrische Etüden von Schülern oder Lehrern keineswegs aus. Im nächsten Abschnitt soll der Frage nachgegangen werden, was im Zusammenhang mit Lyrik im schulischen Kontext unter dem Begriff der „ästhetischen Erfahrung“ zu verstehen ist und inwieweit diese für die Identitätsbildung von Bedeutung werden kann. Da der Begriff der „ästhetischen Erfahrung“ im wissenschaftlichen Diskurs sehr unterschiedlich interpretiert wird, soll er in Form eines Exkurses näher bestimmt und zugleich theoretisch verortet werden. Exkurs: Zum Verständnis ästhetischer Erfahrung In seiner Einleitung zu „Ästhetische Erfahrung und literarisches Lernen“ kennzeichnet Dehn ästhetische Erfahrung vorläufig als „eine Beziehung zur Umwelt in zeichenhaftem Entwurf, bei der das Subjekt sich als spontanes ›Ich‹ artikuliert“ (Dehn 1974). In diesem Sinne könnte man die für die ersten acht Schuljahre spezifische Aneignungsform von Gedichten an Freien Waldorfschulen als zeichenhafte Entwürfe sehen, in denen sich die Schüler vital und unvoreingenommen zu Lyrik in Beziehung setzen und Erfahrungen machen können. „Erfahrungen sind Durchquerungen, sie sind an ein Fortschreiten gebunden, das mit jedem Schritt andere Erfahrungs- und Denkräume öffnet.“ (Zirfas in: Mattenklott/Rora 2004: 77) „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ ist der Titel eines Sonderforschungsbereichs der Freien Universität Berlin, der zum selben Thema im November 2003 eine Jahrestagung veranstaltete und in diesem Rahmen zu der Einschätzung kam, dass die Definition von ästhetischer Erfahrung heute immer schwieriger, wenn nicht unmöglich geworden sei (Mattenklott 2004: 12-13). Die Durchsicht des Diskurses zu diesem Thema zeigt ein breit gefächertes Spektrum von Deutungen, dessen Ende auf der einen Seite von Positionen eingenommen wird, die auf der Basis des Begriffs der Aisthesis jedwedem sinnlich Wahrnehmbaren eine grundsätzliche Möglichkeit zu ästhetischer Erfahrung mit der Gefahr der absoluten Beliebigkeit zuschreiben. Diese Definition impliziert die Zukunftsoffenheit von Erfahrung generell und wird vertreten von
2.2 Zum Lehrplan der Freien Waldorfschulen
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Dewey, der jeglicher Erfahrung ein ästhetisches Moment zuschreibt (Dewey 1980: 48). Im Gegensatz zur Reflexion, die uns zwinge zu wählen und zu fokussieren, sei – so Dewey – „die unbestimmte, alles durchdringende Qualität einer Erfahrung die, welche alle bestimmten Elemente, die Objekte, von denen wir ein fokales Bewusstsein haben, verbindet und ein Ganzes daraus macht.“ (zit. nach Eco 1977: 62)
Das andere Ende wird repräsentiert von Positionen, die eine grundsätzliche Differenz ästhetischer Erfahrung zu jeder anderen Art der Perzeption formulieren. Autoren dieser Richtung verstehen unter ästhetischer Erfahrung ein aus der Alltagssituation und der aktuellen Zeit vollkommen herausgehobenes Erleben („Überwältigungserfahrung“).92 In Abgrenzung dazu knüpft z. B. Zirfas ästhetische Erfahrung an die Bedingung eines Bruchs mit alltäglichen Wahrnehmungen: „Ästhetische Erfahrungen bringen eine Differenz zur Geltung, indem sie eine Bewegung des Selbst in Bezug auf das Andere inaugurieren und damit dasjenige thematisieren, was das Selbst erst konstituiert. …Das Andere, Fremde ist Ausgangspunkt der Erfahrung, es wird in der ästhetischen Erfahrung zum Ausdruck einer möglichen Welt.“ (Zirfas, a.a.O.: 78-79)
Ähnlich sieht dies Parmentier. Dewey kritisierend betrachtet er „ästhetische Lust“ weder als Funktionslust noch als Zufriedenheit. Mit diesem Verständnis von „ästhetischer Erfahrung“ als einem herausgehobenen Erleben korrespondiert der in Kapitel 1.1. erwähnte dritte Krisentypus in Oevermanns Konzept von Krise und Routine, der Krise durch Muße und ästhetische Erfahrung. Diese ist eine „durch bewusst herbeigeführte Wahrnehmung innerer oder äußerer Realität … selbstgenügsame vollgültige Handlung“. (vgl. Oevermann 2004: 155-179) Mit Bezug auf den Begriff der Lebenspraxis stellt sich dieser Krisentypus dar als
92
Das nachstehend zitierte Erlebnis des Geigers Daniel Hope kann einerseits den Begriff „Überwältigungserfahrung“ veranschaulichen, andererseits soll es mit der Behauptung einer eingeschränkten Merk- bzw. Reflexionsfähigkeit von Kindern kontrastiert werden: „Das erste Mal hörte ich das Mendelssohn-Violinkonzert, als ich fünf Jahre alt war …der Geiger war Pinchas Zukerman. …Wie er dort stand, die Geige am Kinn, aufrecht, bereit zu spielen, war ich überzeugt, dass ich gerade eines Giganten ansichtig geworden war. Dann hob der Dirigent die Arme, die ersten Geigen begannen ihre dramatische Phrase zu spielen, und zwei Sekunden später hörte ich Pinchas Zukerman. …Das Stück dauert etwa 25 Minuten, aber für mich war es, als ob die Zeit angehalten würde. Die Musik verführte meine Ohren, mein Herz, meine Seele. Als das Konzert zu Ende war und wir die Royal Festival Hall verließen, zupfte ich meinen Vater am Ärmel und sagte, dass ich das auch spielen wolle.“ (Hope 2007, „Familienstücke“, S. 141-142; Hvh. HH)
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2 Ausdifferenzierung des Feldes
„Krise, die sich dadurch herstellt, daß wir etwas in der erfahrbaren Welt als Selbstzweck, um seiner selbst willen, wahrnehmen, worin wir also die Wahrnehmung von etwas unpraktisch zur selbstgenügsamen Handlung erheben und nicht als eine Phase eines praktischen Handelns vollziehen. Unter dieser Bedingung einer müßigen Wahrnehmung von etwas wächst die Wahrscheinlichkeit, daß wir an einem sonst bekannten Gegenstand etwas Neues, Überraschendes entdecken, das wir nun …bestimmen müssen. In dieser Krise konstituiert sich die ästhetische Erfahrung.“ (Oevermann, Abschiedsvorlesung vom 28.4.2008, S.18 der Textfassung)93
Darauf werde ich an späterer Stelle dieses Abschnitts noch näher eingehen. Ungeachtet derart divergierender Deutungen wird in allen dort genannten Theorien „die Kunst im Ensemble der Objekte oder Erscheinungen, an denen ästhetische Erfahrungen gemacht werden, an einen herausragenden Platz“ gestellt (Mattenklott 2004: 16). Dabei wird die ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit von Kindern in der Diskussion bisher wenig beachtet, wenn nicht gar mit dem Hinweis auf „Beschränktheit der Merkwelt“, mangelnde Reflexionsfähigkeit oder das noch „undifferenzierte Gesamterleben“ von Kindern ausgeschlossen (vgl. Mattenklott, a.a.O., S. 20).94 Diese Einschätzung wird durch die in Fußnote (89) zitierte Episode, die mit einer visuellen Wahrnehmung beginnt, teilweise widerlegt: Der Blick des Kindes ist fasziniert vom Auftritt des Künstlers, dessen Erscheinung in ihm den spontanen Eindruck erweckt, sich einem „Giganten“ gegenüber zu sehen („wie er dort stand … aufrecht, bereit zu spielen“). Diese Wahrnehmung kann das Kind noch nicht begrifflich fassen, geschweige denn als bewusste Transformation vollziehen; sein Denken hat sich noch nicht von der Empfindung emanzipiert. Doch der Sinneseindruck ist derart überwältigend, dass das Kind ihn spontan im Bild des mythischen Riesen aufnimmt. Auch die kurz darauf folgende Gebärde des Dirigenten, der zum Zeichen des Orchestereinsatzes die Arme hebt, haftet als Bild im Gedächtnis des Kindes. Die Authentizität und der anhaltende Eindruck dieser Wahrnehmung sind nicht von Hopes späterer Tätigkeit als Geiger und seiner intimen Kenntnis jenes hoch konzentrierten Augenblicks aus zu erschließen, sonst hätte sich das Geschehen nicht zu einer derart deutlichen Erinnerungsspur 93
94
Ich verweise auf die interdisziplinär fundierte Arbeit von Wolfgang Krieger, der ein radikalkonstruktivistisches Konzept der ästhetischen Wahrnehmung bzw. des ästhetischen Verhaltens formuliert und daraus ein neues Verständnis von ästhetischer Erziehung ableitet. Er sieht die Förderung ästhetischer Kompetenz und ästhetischen Verstehens als eine zentrale Bildungsaufgabe, die als eine Konsequenz – und dies ist besonders bemerkenswert – eine „ästhetische Erziehungshaltung“ mit Bezug auf pädagogisches Handeln fordere. (Krieger 2004) Mattenklott/Rora 2004:11-22; Parmentier nennt (in Anlehnung an Parsons) als generelle Voraussetzung für ästhetische Erfahrungen, dass sie sich „ganz und gar zwanglos, allmählich und selbstverständlich“ vollziehen (Parmentier, „Ästhetische Erziehung“ in: Benner/Oelkers 2004: 28f).
2.2 Zum Lehrplan der Freien Waldorfschulen
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verdichten können. Mit dem Einsetzen des Orchesters, mehr noch des Solisten, ist das Kind an die akustische Wahrnehmung hingegeben, selbstvergessen lauscht es einer Musik, die ihm Herz und Seele „verführte“. Ihm war, „als ob die Zeit angehalten würde.“ Es vollzieht sich damit in diesem Fünfjährigen das Gleiche, was weiter oben als „Überwältigungserfahrung“ bzw. als „Krise durch Muße“ bezeichnet wurde: ein Herausgehobensein aus Raum und Zeit, die Konzentration aller Sinne auf ein Ereignis, das dem Kind fremd und irritierend entgegenkommt, dessen „Suggestivität sich jenseits der begrifflich-methodischen Erschließung rein über die Wahrnehmung mitteilt.“ (Oevermann 2004: 197) In seinem Konzept zur Struktureigenschaft ästhetischer Erfahrung bezeichnet Oevermann die Wahrnehmung(shandlung) als „Ursprungsort der ästhetischen Erfahrung“ (Oevermann 1996: 1) und arbeitet die Differenz zwischen einer zweckgerichteten und einer selbstgenügsamen Wahrnehmung heraus, indem er Letztere jenem Typus von Handeln zuordnet, das sich zwischen der Leibhaftigkeit der Sinneswahrnehmung auf der Seite der Natur und der Selbstgenügsamkeit auf der Seite des Sozialen vollzieht. Selbstgenügsames (ästhetisches) Wahrnehmen müsse losgelöst vom Typus rationalen Handelns betrachtet werden, da mit ihm „unter der Bedingung der Krise…das Neue“ emergiere, das sich erst in Zukunft entweder bewähren oder scheitern kann (Oevermann 1996:5). In diesem Sinne ist die Wahrnehmung des Kindes Daniel Hope eine ästhetische Erfahrung par excellence. Die kindliche Merkwelt ist zwar noch präreflexiv, doch keineswegs „beschränkt“, sondern eine vollkommen zweckfreie, selbstgenügsame und bedingungslose Hinwendung zum Phänomen. Sinneseindrücke und Gefühle überwältigen das Kind; es fühlte sich „verführt“ mit der Folge, dass die Anspannung (die Krise) den Entschluss evoziert: Diese Musik will ich spielen! Die charakteristischen Merkmale der ästhetischen Erfahrung, wie Parmentier sie auffasst, werden hier offenkundig: „Leibgebundenheit, starke innere Bewegung sowie eigene Passivität und Entmächtigung“ im Sinne eines HerausgehobenSeins, an dem sich ein neuer Impuls entzündet (Parmentier in Benner/Oelkers 2004: 28). Mollenhauer spricht in seinem Konzept der ästhetischen Bildung statt von „ästhetischer Erfahrung“ von „ästhetischen Empfindungen bzw. Tätigkeiten“. Die Differenz zwischen einer gewöhnlichen und einer ästhetischen Empfindung sieht Mollenhauer in einem „gewissen Bewusstheitsgrad“ gegeben (Engel 2004: 49). Allerdings bezweifelt er die Anschlussmöglichkeiten ästhetischer Empfindungen an die „praktischen, nützlichen und erkenntnisfördernden Ebenen der Pädagogik“. Sein Vorschlag ist darum die Zerstückelung (Alphabetisierung) der spezifisch ästhetischen Erfahrungsanteile, damit sie „in die pädagogische Kiste passen“ (zit. nach Engel 2004: 48), was m. E. einer Beeinträchtigung der originä-
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2 Ausdifferenzierung des Feldes
ren und unmittelbaren Erfahrung einer künstlerischen Ausdrucksgestalt gleichkäme. Eine davon stark abweichende Auffassung vertritt Selle mit seinem Begriff der „ästhetischen Arbeit“, den er als Gegenmodell zur üblichen Form schulischen Lernens formuliert und als „Vorbereitung…auf einen sinnstiftenden Umgang“ in Verbindung bringt „mit der…Situation der Arbeitslosigkeit in unserer Gesellschaft“ (zit. nach Engel a.a.O., S. 41). Die in Form von „ästhetischen Projekten“ durch eine existentielle Begegnung mit Kunstwerken sich steigernde ästhetische Subjekt-Aktivität in Wahrnehmen, Empfinden und Denken führe zu einer Form der Selbstwahrnehmung, die Selle mit dem Begriff der ästhetischen Intelligenz charakterisiert, im Sinne einer wahrnehmend-reflexiven Haltung und gesteigerten Bereitschaft des Individuums, „sich neuen Erprobungen auszusetzen“ (Selle 1998, zit. nach Engel 2004: 42).95 Demgegenüber wird ästhetische Erfahrung in der Waldorfpädagogik nicht als von anderen Lern- und Bildungsangeboten zu differenzierender Sonderfall betrachtet, sondern sie ist ein Aspekt des holistischen Bildungskonzepts und mehr oder weniger in alle Interaktionsprozesse eines Waldorfschul-Unterrichts eingebettet. Ein autonomes Kunstwerk (wie beispielsweise ein Gedicht) pädagogisch-strategisch zu zerstückeln, um es den Schülern auf einen Schlag lesbar zu machen, wäre aus waldorfpädagogischer Perspektive eher kontraproduktiv und würde gerade jene Erfahrung von Fremdheit vereiteln, die zur Quelle transformatorischer Bildungsprozesse werden kann (vgl. Kokemohr 2007). Wie notwendig es ist, die Erfahrung künstlerischer Gebilde im Kontext Schule aus den „Fängen der Didaktik“ zu befreien und die Sache selbst zum Sprechen zu bringen, hat Gruschka in einer Studie zu Unterrichtsanalysen eindrucksvoll gezeigt (Gruschka 2005b).
2.3 Die Institutionen und ihre achten Klassen Freie Waldorfschulen verstehen sich als autonom arbeitende Bildungseinrichtungen, die im Aspekt von Schulkultur eine je individuelle Gestalt mit spezifischem pädagogischem Konzept, eigenen Sinn-Ebenen und Sinn-Dimensionen ausgebildet haben (vgl. Ullrich 2007). Da die in der vorliegenden Arbeit zu untersuchen95
Von einer ähnlichen Forschungsfrage geht Martin Sexl aus, indem er berufsbiographische und Alltags-Erfahrungen von Krankenpflegerinnen bezieht auf deren Erfahrungen mit klassischen literarischen Texten. Zentrale Frage der Untersuchung ist, ob Literatur Worte finden könne für berufliche Erfahrungsgehalte, die vielfach unformulierbar blieben. (Sexl 2003 und 2006) Gottfried Fischer sieht Kunst als Objekt dialektischer Erfahrung als Möglichkeit zur „Selbstreflexion der Psychoanalyse“ und versteht – in Anlehnung an Freud – Kunsterfahrung als zwischen Wissenschaft und Kunst vermittelnde Kraft. (Fischer 2005)
2.3 Die Institutionen und ihre achten Klassen
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den Fälle sich nur indirekt auf den Gesamtkontext Schule und Unterricht beziehen, war ein Kriterium für die Auswahl der Institutionen die Gewähr einer gewissen Homogenität. Nachdem eine der Institutionen ihre Zusage jedoch hatte zurückziehen müssen, ergab sich mit der vierten Schule eine Variante, die im Sinne einer maximalen Kontrastierung gewinnbringend war: Zwei Einrichtungen befinden sich in räumlicher Nähe zu einer Großstadt, zwei in einem eher ländlich geprägten Umfeld. Die beiden achten Klassen der Großstadtschulen wie auch der ländlich strukturierten Schulen wurden je von einer weiblichen und einer männlichen Lehrperson geführt. Alle vier Schulen liegen in den alten Bundesländern. Zur Explikation der Rahmung des Forschungsfeldes werde ich mich aus Datenschutzgründen auf eine Skizzierung beschränken. Schule A Die Freie Waldorfschule A gehört zu den zahlreichen, von einer Elterninitiative ausgehenden Gründungen aus den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, die mit dem Aufbau eines Kindergartens begann und mit der Schulgründung sukzessive bis zur dreizehnten Klasse gewachsen ist. In räumlicher Nähe einer Großstadt und mehrerer benachbarter Waldorfschulen gelegen, umfasst das Einzugsgebiet ihrer Schülerschaft einen angrenzenden Landkreis. In einer der dazugehörigen Kleinstädte entstand Anfang der neunziger Jahre das neue Gebäude für die einzügige Schule. Zum Erhebungszeitraum wurden dort über vierhundert Schülerinnen und Schüler unterrichtet. Der Klassenraum der achten Klasse liegt im ersten Obergeschoss des Schulgebäudes. Der Grundriss des Raumes entspricht einem Rechteck mit einer Fensterfront nach Süden zum Schulhof und dem weitläufigen Schulgartengelände hin. Während des Untersuchungszeitraums blieb die Sitzordnung konstant mit in lockerer U-Form aufgereihten Tischen und Bänken mit Blick zur Tafel, seitlich befand sich der Lehrertisch, im Hintergrund war eine Pin-Wand angebracht mit Schülerarbeiten, Entwürfen, Unterrichtsmaterial o. ä. Der Klassenlehrer, nennen wir ihn Herrn A, übernahm seine jetzt achte Klasse entgegen dem waldorfpädagogischen Ideal einer in den ersten sechs bis acht Jahren kontinuierlichen Klassenführung erst mit Beginn des zweiten Schuljahres und unterrichtete darin im Untersuchungszeitraum achtzehn Schülerinnen und fünfzehn Schüler. Schule B Etwa zur gleichen Zeit wie Schule A wurde die Freie Waldorfschule B gegründet. Ihr Einzugsgebiet liegt im Norden einer Großstadt in einer weitgehend von ländlich-kleinstädtischen Strukturen geprägten Umgebung. Seit einigen Jahren arbeitet die Schule ab der fünften Klasse zweizügig und unterrichtet über 450 Schülerinnen und Schüler. Der achte Jahrgang der Schule B hat einen deutlichen
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2 Ausdifferenzierung des Feldes
„Mädchen-Überschuss“: Zweiundzwanzig Schülerinnen und dreizehn Schüler besuchen diese Klasse. Auch hier gab es – wie in Schule A – einen Lehrerwechsel im Laufe des zweiten Schuljahres zu einer weiblichen Lehrperson, nennen wir sie der Schule entsprechend Frau B. Der Raum der achten Klasse liegt im ersten Obergeschoss des Schulgebäudes. Durch die lange Fensterfront nach Südosten blickt man auf den hinteren Teil des Schulgeländes, auf wenige benachbarte Wohn- oder Geschäftsgebäude, Baumgruppen und weites Feld. Der Klassenraum scheint dem Kommunikationsund Bewegungsbedürfnis von fünfunddreißig Heranwachsenden kaum Stand zu halten. Auf den Fensterbänken ranken sich Topfpflanzen, in einer vorderen Raumecke steht ein kleiner Tisch mit Souvenirs von Klassenfahrten und Unterrichtsgängen. Neben der Tafel auf dem Fußboden liegt allmorgendlich ein Stapel Tageszeitungen, aus dem sich die Schülerinnen und Schüler bedienen und lesen können. Der Raum hat Rechteckform mit deutlicher Orientierung zur Tafel und zum Lehrertisch hin. Auf der gegenüberliegenden Seite ist eine Pin-Wand mit aktuellen Schülerarbeiten angebracht. Die Anordnung der Schülertische wurde im Laufe des Schuljahres mehrmals verändert. Je nach dem zu behandelnden Unterrichtsstoff standen die Tische entweder in doppelter U-Form oder in Gruppen. Wenn der Geräuschpegel zu hoch wurde und nicht ruhig genug gearbeitet werden konnte, ordnete die Klassenlehrerin für einige Tage eine Sitzordnung in Reihen mit Blick zur Tafel an, die zu gegebener Zeit von den Schülern wieder geändert werden konnte. Schule C Die Freie Waldorfschule C liegt in einer ruhigen Hanglage am Rand einer großen bundesdeutschen Handels- und Industriestadt. Sie wurde kurz nach Kriegsende gegründet, ist also wesentlich älter als die Schulen A und B. Seit längerer Zeit arbeitet die Institution zweizügig und unterrichtet etwa 840 Schülerinnen und Schüler, deren Klassenräume sich auf mehrere Gebäudetrakte verteilen. Das gesamte, vielfach gegliederte Schulgelände schmiegt sich organisch der hügeligen Landschaft oberhalb des Stadtzentrums an. Im ersten Stock des Mittelstufentraktes befinden sich in unmittelbarer Nachbarschaft die Räume der beiden achten Klassen. Der Unterschied zu den Achtklass-Räumen in Schule A und B ist spürbar: Trotz der hohen Schülerzahl (Klasse C hat siebzehn Schülerinnen und sechzehn Schüler) wirkt der Klassenraum nicht eng; man merkt, dass die Gebäude errichtet wurden, als die Einrichtungen noch großzügiger planen konnten. Tische und Stühle sind in mehreren losen Reihen in einer leichten U-Form zur Tafel bzw. zum in der Mitte stehenden Lehrertisch hin orientiert. Diese achte Klasse wurde von Anfang an von derselben Lehrperson – Frau C – unterrichtet.
2.4 Die achten Klassen und ihre Lehrpersonen
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Schule D Die Freie Waldorfschule D wurde Anfang der siebziger Jahre gegründet und ist damit Teil einer schon älteren Schulgeneration. In unmittelbarer Nähe befindet sich eine Ausbildungsstätte für Waldorflehrer sowie mehrere waldorfpädagogische Institutionen, die eine institutionsübergreifende Zusammenarbeitet ermöglichen. Seit längerer Zeit arbeitet die Schule von Klasse 1 bis 12 zweizügig mit einer zusätzlichen Abiturvorbereitungsklasse. Die meisten der fast 900 Schülerinnen und Schüler kommen aus der näheren Umgebung der stark von Industrie und Handel geprägten Großstadt. Ein gewisser Prozentsatz reist täglich aus einem Umkreis von bis zu 50 km an. Grund dafür ist u. a., dass in höheren Klassenstufen Schüler aus einer benachbarten Waldorfschule aufgenommen werden, die noch mit dem Aufbau der Oberstufe beschäftigt ist. Dies gilt auch für die von mir ausgewählte achte Klasse, die aus dem genannten Grund mit Schuljahresbeginn auf vierzig Schülerinnen und Schüler angewachsen war. Die Lehrperson – Herr D – hat die Klassenführung mit dem ersten Schultag übernommen. Der Klassenraum der achten Klasse liegt im zweiten Obergeschoss des weitläufigen Gebäudes und öffnet sich dem Blick nach Süden auf den Baum bestandenen Schulhof sowie benachbarte Schulgebäude. Trotz seiner Größe ist der Raum der Kommunikations- und Bewegungslust der Achtklässler kaum gewachsen; dicht an dicht stehen die Tisch- und Stuhlreihen, auch hier mit Blick zu Tafel und dem seitwärts stehenden Lehrertisch. Eine Veränderung der Sitzordnung scheint schon an der räumlichen Enge zu scheitern. 2.4 Die achten Klassen und ihre Lehrpersonen: Zum methodischdidaktischen Setting in den vier Klassen bei der Gedicht- und Zeugnisspruchrezeption 2.4 Die achten Klassen und ihre Lehrpersonen Im folgenden Kapitel soll versucht werden, das methodische Vorgehen bei der Vermittlung von Lyrik sowie die Art und Weise des Rezipierens nachzuzeichnen, wie es an den vier Schulen vorgenommen und von mir aufgezeichnet wurde. Die in Versalien wiedergegebenen Passagen sind wörtlich übernommene Zitate aus den Experteninterviews mit den Lehrpersonen. Klasse A Am Unterricht der achten Klasse nahm ich im Schuljahr 2006/07 insgesamt sieben Mal teil. Ein erster Besuch zum gegenseitigen Kennenlernen war bereits Ende der siebten Klasse (Juni 2006) erfolgt. Die erste Unterrichtshospitation im achten Schuljahr (September 2006) wurde in Form von Feldnotizen dokumentiert. Die darauf folgenden Besuche galten zunächst der Beobachtung und Aufzeichnung der Unterrichts-Sequenz „Zeugnisspruch- bzw. Gedicht-Rezitation“.
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2 Ausdifferenzierung des Feldes
Der überwiegende Zeitraum blieb jedoch den Interviews mit einzelnen Schülern vorbehalten. Bevor es zum Unterrichtsbeginn läutet, ist der Interaktionsrahmen der Schüler offen: Einige sitzen an ihren Plätzen und lesen oder schreiben, andere stehen in Grüppchen, lachen, rangeln, umarmen und unterhalten sich. Herr A steht meist neben seinem Lehrertisch seitlich vor der Klasse, spricht mit einzelnen oder mehreren Schülern, schaut hier und da Hausarbeiten nach oder bittet jemanden, das Verteilen von Schulpost u. ä. zu übernehmen. Hat es zum Unterrichtsbeginn geläutet, wird die Tür des Klassenraums geschlossen und Herr A eröffnet mit einem ritualisierten Begrüßungsdialog. Es folgen je nach Bedarf kurze Gespräche zu aktuellen Ereignissen oder Fragen, die einzelne Schüler mit ihrer Klasse diskutieren möchten. Anschließend folgt ein kurzer Informationsaustausch über fehlende Schüler. Wurde während der Eröffnungsphase an die Tür geklopft, nahmen zunächst weder Herr A noch die Klasse weiter Notiz davon; der laufende Interakt wurde nicht unterbrochen. Erst wenn in der betreffenden Sequenz eine Zäsur vorgenommen werden konnte (also jeweils nach dem Morgenspruch, nach dem Geburtstagslied o. ä.), bat Herr A einen Schüler, BITTE MAL DIE ZUSPÄTKOMMER reinzuholen. Diese in der Außensicht eher rigide Regelung war mit den Schülern vereinbart worden und wurde konsequent eingehalten. Nach meiner Wahrnehmung stand an oberster Stelle der Regelhierarchie dieser achten Klasse die Verantwortlichkeit jedes einzelnen Schülers für die Klassen-Gemeinschaft, hier bezogen auf eine ruhige und geordnete Arbeitsatmosphäre. Im direkten Umgang mit seinen Schülern zeigte Herr A Bewusstsein für die Reziprozität des Schüler- wie auch des Lehrerhandelns und ein klares Autoritätskonzept, in dessen sicherem Rahmen er jedoch in der konkreten Interaktion flexibel und in einer verständnisvoll-permissiven Haltung agierte. So kam es beispielsweise nach dem Türöffnen für die „Zuspätkommer“ nicht zu inquisitorischem Nachfragen, höchstens zu einer sachlichen Mitteilung, wenn dies für den Arbeitsprozess notwendig war. Danach folgte in der Regel das Ritual der Zeugnissprüche: Eine bestimmte Anzahl von Schülerinnen und Schülern erhob sich, um sich vor die Klasse zu begeben. Dies entsprach jedoch nicht der üblichen Form der rituellen Praktik, sondern war einer technisch möglichst einwandfreien Aufnahme dieser Unterrichtssequenz geschuldet. Im Expertengespräch schilderte Herr A die Veränderung, die er im Laufe der Jahre in der Gestaltung des Rituals nach Maßgabe seiner Beobachtung des Entwicklungsstands der Schüler vorgenommen hatte. Er habe sich gefragt WAS MUSS EIGENTLICH PASSIEREN DAMIT DIE ZEUGNISSPRÜCHE NICHT ZU EINEM HOHLEN RITUAL WERDEN. In der sechsten Klasse habe er darum DIESES FRONTAL-SPRECHEN AUFGELÖST und sei dazu übergegangen, die Rezitation im Kreis vorzunehmen und mit je wechselnden Vorstellungs-
2.4 Die achten Klassen und ihre Lehrpersonen
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übungen zu verbinden. So habe z. B. die Gruppe der Vortragenden die Aufgabe, die Reihenfolge so zu alternieren, dass die Form eines Fünfsterns entstehe o. ä. Für ihn als Klassenlehrer sei vor allem in den letzten Schuljahren das Zeugnisspruch-Ritual Gelegenheit gewesen, DASS ICH SIE (= die jeweils sprechenden Schüler) EINMAL IN DER WOCHE…GANZ INDIVIDUELL WAHRNEHMEN KONNTE UND…DEN EINDRUCK HATTE DASS IHNEN DAS AUCH GUT TAT. Es gebe frühadoleszente Schüler, die an manchen Tagen SO VOLLSTÄNDIG ABTAUCHTEN DASS DAS ALLEIN DIE SACHE WERT WAR. An der Art des Vortragens, OB SIE BEREITWILLIG …ODER ABLEHNEND GEGENÜBER STANDEN, habe der Klassenlehrer wahrnehmen können, OB DA VIELLEICHT IRGENDWAS NICH STIMMT. Für seine zukünftige Klasse wolle er jedoch SCHAUEN DASS DIE KINDER FRÜHER IHREN EIGENEN ZUGANG ZU DEN SPRÜCHEN SUCHEN.
Da ein bestimmter Wochentag für meine Besuche vereinbart war, trugen jeweils dieselben Personen ihren Zeugnisspruch vor.96 Herr A stellte sich manchmal seitlich, manchmal vis-à-vis zur Phalanx der frontal zur Klasse gewendeten Rezitatoren in den Hintergrund des Raumes. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis es ruhig wurde in der Klasse und der erste Schüler beginnen konnte. Herr A ließ den Betreffenden zunächst den gesamten Text sprechen und korrigierte erst anschließend in einer ruhigen, unprätentiösen Art oder regte für das nächste Mal Änderungen in Hinsicht auf Klangadäquatheit bzw. Vortragsqualität je nach Gestaltungsprinzip des Zeugnisspruch-Textes an. Da die Schüler zu Beginn des Schuljahres noch nicht ganz textsicher waren, half er an entsprechender Stelle, falls dies gewünscht wurde. Insgesamt war der Aufbau dieser Unterrichtssequenz klar strukturiert, die Atmosphäre der Klasse geprägt von Interesse, Fairness und gegenseitiger Akzeptanz. Einige Male bot sich die Gelegenheit, an den zu dieser Sequenz gehörenden chorischen Sprechübungen im Klassenkollektiv sowie am Erarbeiten eines Gedichttextes teilzunehmen.97 Im Interview schilderte Herr A, er habe von sich aus wenig Nähe zu lyrischer Sprache gehabt (DAS IST NICH MEIN STECKENPFERD) und habe sich mit Gedichten lediglich im Zusammenhang mit seiner Klassenlehrertätigkeit beschäftigt. Mit Bezug auf Lyrik sei er EIGENTLICH MIT DEN KINDERN GEWACHSEN. Sein didaktischer Zugriff sei das AUFMERKSAM-MACHEN AUF BESTIMMTE ASPEKTE gewesen. Er habe den Schülern nie Texte zum Auswendiglernen in die Hand gegeben, sondern den Inhalt jeweils verbunden mit einer Frage WAS BEGEGNET MIR DA/WAS PASSIERT DA EIGENTLICH. Mit DIESER SUCHENDEN GESTE habe sich das Rezitieren SOFORT VERWANDELT. Sein Anliegen sei, dass eine Gedichtrezitation NICHT ZU SO EINEM SCHLÄFRI96 97
Vgl. Kapitel 2.1.1.2. In der Regel wurde jedoch fast die gesamte Hospitations-Zeit für Interviews mit einzelnen Schülern in einem der benachbarten Räume genutzt.
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2 Ausdifferenzierung des Feldes
GEN CHORISCHEN GEDRÖHNE, sondern IRGENDWIE LEBENDIG werde. Darum
habe er ab der sechsten, siebten Klasse metrische Gesichtspunkte in die Erarbeitung eines Gedichtes einfließen lassen. So habe er z. B. bei Balladen deren Versund Strophenbau aufgezeigt, wie sich etwa die erste in der letzten Strophe spiegele, wie eine Strophe in der Mitte Ausdruck einer Konzentration oder Wendung sein könne o. ä. Damit habe er das Interesse der Schüler anregen und über ästhetische Gesichtspunkte eines lyrischen Kunstwerkes anhand konkreter Erfahrungen sprechen können. Klasse B Seit Juni 2006 nahm ich am Unterricht dieser Klasse in unregelmäßigen Abständen an insgesamt zwölf Vormittagen teil. Um die Schüler mit der ungewohnten Situation einer im Unterricht anwesenden Forscherin vertraut zu machen, wurde eine erste Hospitation zum gegenseitigen Kennenlernen am Ende des siebten Schuljahres vereinbart und durch Feldnotizen dokumentiert. Dieser Besuch brachte die Besonderheit mit sich, dass die Schüler von ihrer Lehrerin die Aufgabe bekommen hatten, im Rahmen eines Hauptunterrichtes für jeweils zwei ihrer Mitschüler selber einen Zeugnisspruch zu dichten. Frau B gab mir die Gelegenheit, am Tag der Übergabe dieser peer-internen lyrischen Zueignungen zu hospitieren, so dass dieser Prozess mit Hilfe eines Minidisc-Recorders – und ergänzt durch Feldnotizen – aufgezeichnet werden konnte. Zwei spätere Unterrichtsbesuche wurden videographisch festgehalten, um etwaige Veränderungsprozesse in der Performanz einzelner Schüler möglichst naturwüchsig einfangen zu können. Während der folgenden Hospitationen wurden jedoch auch hier fast ausschließlich Einzelinterviews geführt und akustisch aufgezeichnet. Ab halb acht Uhr begannen die Schülerinnen und Schüler in der Klasse einzutreffen. Sie begrüßten ihre Freundinnen und Freunde, oftmals mit Küsschen und Umarmungen, dann ihre Lehrerin mit einem gewohnheitsmäßigen Händedruck, hier und da ergänzt von einem kurzen Gespräch. Das Zeichen zum Unterrichtsbeginn wurde durch eine zentral installierte elektrische Glocke markiert, nach der sich die Schüler je nach Tagesstimmung zügig oder gemächlich auf ihre Plätze begaben. Nach dieser informellen Eröffnung folgte der „richtige Unterrichtsbeginn“, meist in Form einer ruhigen Aufforderung der Lehrerin SO KÖNNEN WIR ANFANGEN(’) STEHT BITTE AUF. Dabei glitt ihr Blick durch die Reihen, um zu sehen, ob die Schüler ruhig und aufrecht standen. Wenn sich jemand anlehnte oder auf den Tisch stützte, mahnte sie eine frei stehende Haltung an: GUT STEHEN. Dies geschah mit einer freundlich-fürsorglichen Konnotation. Im direkten Umgang mit den Schülern zeigte Frau B eine curativ-permissive pädagogische Orientierung und hohe Empathiefähigkeit. Im Expertengespräch teilte sie mit, sie erlebe ihre Klasse als GENERELL … SEHR BEGEISTERT …ÜBER JEGLICHE AUFGABENSTELLUNG. Dies erfülle sie manchmal MIT
2.4 Die achten Klassen und ihre Lehrpersonen
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STAUNEN UND EHRFURCHT VOR DIESEN PERSÖNLICHKEITEN. Ein wesentliches Anliegen sei ihr IN JEGLICHER ARBEIT MIT DER KLASSE …DIESES SICHVERBINDEN MIT DER ERDE … DIESES JA-SAGEN … DIESES DRAUFZUGEHEN … DIESES MUTIGE WOLLEN und GERNE ERGREIFEN. Dies finde sie das Wichtigste für heutige Schüler, DIE SO VIELES IN DIESER ANTIPATHIE ERLEBEN UND IN DIESEM ZURÜCKSCHRECKEN UND DIESEM ENTTÄUSCHTSEIN. Problematisch für viele Schüler ihrer Klasse sei DIESES HEIMATLOS-SEIN … DIESE VIELEN GETRENNTEN FAMILIEN … DIESE … TRAUMATISCHEN SITUATIONEN … DIE…DIE FREUDE AM LEBEN ODER DIESES GERNE-DA-SEIN TRÜBT. Ein Motiv für ihre Unterrichtsgestaltung sei daher, den Schülern zu dem Gefühl zu verhelfen, ES SIND HIER VERHÄLTNISSE DIE GUT FÜR UNS SIND … AUCH WENN SIE MANCHMAL NICH SO SCHEINEN. Als einen weiteren Schwerpunkt ihrer Arbeit nannte Frau B das SELBST-DICHTEN UND DIE POESIE. Ihr persönlicher Zugang zur Poesie zeigte sich z. B. an jener
Aufgabe, die sie ihren Schülern gegeben hatte: Jeder sollte an ihrer Stelle für zwei Mitschüler ein passendes Gedicht schreiben, das die Funktion eines Zeugnisspruchs für das achte Schuljahr haben sollte. Im Expertengespräch mit Frau B sagte sie im Rückblick auf diesen Prozess, sie habe bei der Durchsicht der Werke IN VIELEN GEDICHTEN GEFUNDEN DAS IST EIGENTLICH AUCH EIN SPRUCH FÜR DICH SELBST (d. h. für den Autor). Im Lauf der Sommerferien sollten die
Schüler sich mit den beiden ihnen zugeschriebenen Gedichten beschäftigen und danach entscheiden, welches sie vortragen wollen. Einige Schüler fanden beide Gedichte für sich passend und wollten darum eine Weile das eine, nach einiger Zeit das andere sprechen. Frau B hatte mit der Klasse bereits in der siebten Klasse die rituelle Rahmung verändert und vereinbart, dass die Schüler ihren Spruch von ihrem Platz aus stehend vortragen sollten. Diese Praktik wurde jedoch ebenso wie in Schule A nach Absprache mit mir zugunsten der Aufnahmequalität verändert. Die Schüler stellten sich vor der Klasse zum Rezitieren auf, während Frau B je nach Tischanordnung seitlich oder im Hintergrund blieb. Die BEGEISTERUNG, von der Frau B zuvor gesprochen hatte, äußerte sich mit Bezug auf die Zeugnissprüche der Peergroup besonders in den ersten Schulwochen, und zwar an einem intensiveren Kontakt zwischen Rezitator und hinhörender Klasse, an einem erhöhten Interesse am Textinhalt, aber auch an der Art, wie dieser Inhalt vorgetragen wurde. Im Laufe der Zeit war zu beobachten, dass eine Reihe von Schülern durch den langjährigen kontinuierlichen Umgang mit Gedichten ein spontanes Gefühl für die Qualität einer Dichtung entwickelt hatte. Diesen Qualitätsanspruch konnten nur wenige der Erstlingswerke erfüllen, so dass die Begeisterung bald nachließ und die Theaterarbeit ab Januar eine gute Gelegenheit war, das Zeugnisspruch-Ritual zu beenden. Frau B hatte sich zur Form der peer-internen Zuschreibung entschlossen aufgrund eines wachsenden Interesses ihrer Schüler ZU FORSCHEN UND
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2 Ausdifferenzierung des Feldes
SICH SELBST … UND AUCH DEN ANDEREN … JETZT DEUTLICHER ZU SEHEN.
Sie fand, der Aufwand habe sich GELOHNT FÜR ALLE. Ihre hohe Reflexionsund Empathiefähigkeit, mit denen sie die Bedürfnisse der Schüler wahrnehmen und in ihr Konzept einbeziehen konnte, zeigte sich am Tag der Übergabe. Im Expertengespräch (14. Februar, also fast acht Monate später) erinnerte sie sich daran und kommentierte ihr Vorgehen kritisch: DIESER ÜBERGABE-AKT (IST) SO WICHTIG …GOTT SEI DANK HAT SICH JA DANN NE SCHÜLERIN GEMELDET UND GESAGT DAS WOLLEN WIR PERSÖNLICH ÜBERGEBEN … DA WAR ICH SO DANKBAR WEIL ICH DAS ANDERS GEMACHT HÄTTE UND SO DASS ES NICHT GUT GEWESEN WÄRE UND DIESE SCHÜLERIN … HAT MICH GERETTET. Frau B sieht die Aufgabe, den Schülern Zeugnissprüche zu geben, generell als EINE LEBENSHILFE FÜR DIE KINDER EGAL OB SIES JETZT IN DEN ERSTEN JAHREN EBEN ALS GESCHENK UND IRGENDWANN ALS AUFGABE ERGREIFEN … ES HAT IN ALLEN KLASSENSTUFEN GROSSE BERECHTIGUNG GROSSE BEDEUTUNG FÜR DIE KINDER.
Klasse C Frau C führt die jetzige achte Klasse seit dem ersten Schuljahr. Hier fand die erste Hospitation erst im September 2006 statt, unter anderem aufgrund des in diesem Bundesland späteren Schuljahresbeginns. Um 7.50 Uhr ertönen die Klänge mehrerer Gongs, um den Beginn des Unterrichtes anzukündigen. Die meisten Schülerinnen und Schüler sitzen bereits auf ihren Stühlen in vier leicht gerundeten, zur Tafel und dem Lehrertisch hin offenen Querreihen. Einige haben noch etwas im Klassenraum zu tun; die Lehrerin steht am Lehrertisch vorne und markiert mit einem „so“ den regulären Unterrichtsbeginn. Zunächst werden Dienste für die Gemeinschaft verhandelt (Pausenverkauf, Tafeldienst etc.). Danach folgt das Begrüßungsritual, an das sich der Morgenspruch und verschiedene Artikulations-Übungen anschließen, die chorisch oder gruppenweise in zahlreichen Variationen ausgeführt werden. Frau C hatte ihre Nähe zu Lyrik bereits in der Auswahlphase der Schulen bewiesen, als sie nach dem Ausfall einer der ursprünglich von mir ausgewählten achten Klassen spontan bereit war, mein Forschungsprojekt zu ermöglichen. Im Expertengespräch äußerte sie sich über ihre Beziehung zu Gedichten mit einem Rückblick auf ihre eigene Schulzeit: DAS MUSS SECHSTE SIEBTE KLASSE GEWESEN SEIN DASS ICH MIT EINER UNGLAUBLICHEN HINGABE UND LIEBE GEDICHTE AUSWENDIG GELERNT HABE UND ICH VIEL GEBLÄTTERT HABE IN BÜCHERN UM GEDICHTE ZU FINDEN. In ihrem Mann fand Frau C einen kompetenten Gesprächspartner in der Vorbereitung und stellte fest, DASS DAS GANZ UNTERSCHIEDLICH IST WAS DER EINE ERLEBT UND WAS DER ANDERE ERLEBT.
Dementsprechend war diese Phase des Unterrichts geprägt von hoher Intensität und Differenziertheit in der Gestaltung der Rezitationsübungen. Dabei sei
2.4 Die achten Klassen und ihre Lehrpersonen
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ihr wichtig gewesen, dass die Schüler ALLEINE GESTANDEN HABEN NIE IN DER GRUPPE SONDERN WIRKLICH DAS GEFÜHL HATTEN ICH STEH JETZT HIER ALLEINE UND TRAGE DAS VOR (,) GENAUSO AUCH (,) IM CHORISCHEN IMMER MAL WIEDER EINZELNE EH INN KREIS TRETEN LASSEN. Sie habe im Laufe der acht Jahre die Schüler IMMER WIEDER SELBER GEDICHTE SCHREIBEN LASSEN IMMER WIEDER. Ausführlich äußert sich Frau C zu den Zeugnissprüchen. Ihr sei aufgefallen, dass MANCHE DOCH AUCH DRÜBER NACHGEDACHT HABEN … UND SICH DAMIT AUSEINANDER-GESETZT HABEN. Im siebten und achten Schuljahr habe sie verstärkt das Gefühl gehabt, ES MUSS MAL NE PAUSE SEIN; sie habe es darum in der achten Klasse SO GEMACHT DASS SIE SICH GEDICHTE GESUCHT HABEN … STATT DER ZEUGNISSPRÜCHE … DA HATTEN SIE SO DAS GEFÜHL … ICH HAB MIR WAS AUSGESUCHT UND MIR IST DAS JETZT WICHTIG DAS WAR GUT JA DAS WAR GUT.
Klasse D Die achte Klasse der Freien Waldorfschule D war zu Schuljahresbeginn auf vierzig Schülerinnen und Schüler angewachsen. Das Verhältnis von weiblichen und männlichen Schülern blieb ausgeglichen. Der Klassenlehrer, Herr D, unterrichtet die Klasse seit dem ersten Schuljahr. Auf die Frage nach seinem persönlichen Zugang zu Lyrik äußerte Herr D, der Bezug zu Gedichten sei zunächst einmal GAR NICHT DA, ABER DURCH DAS KLASSENLEHRER-DASEIN habe er die Möglichkeit, sich damit ZU BEFASSEN. Dies führe jedoch nicht zu einem DAUERHAFTEN Interesse, sondern DAS RUHT DANN WIEDER. Nachdem er sich mit der Klasse im vergangenen Schuljahr intensiver zwei Balladen erarbeitet habe, sei Lyrik in der achten Klasse SEHR STIEFMÜTTERLICH BEHANDELT WORDEN. Er brauche viel Zeit, um sich mit einem Gedicht intensiv zu beschäftigen. Ihm BEDEUTEN DIE GEDICHTE WAS ABER ALLEINE FEHLT MIR DA DER ZUGANG ODER DIE INITIATIVE UND AUS MIR HERAUS WÜRD ICH DAS GAR NICH SO MACHEN. Hier wird der
hohe Anspruch an Initiative und Entwicklungsfähigkeit deutlich, der mit der Aufgabe eines Klassenlehrers an Freien Waldorfschulen verbunden ist. Wie mit den anderen Lehrpersonen hatte ich auch mit Herrn D verabredet, dass die Schüler Gelegenheit haben sollten, sich ein Gedicht auszusuchen, um es in einer von ihm und der Klasse zu bestimmenden Form einzuführen und zu rezitieren. Herr D ließ den Schülern bei der Auswahl der Gedichte freie Hand, so dass die Schüler sich tatsächlich ganz nach ihrem persönlichen Geschmack richten konnten. Aus diesem didaktischen Vorgehen ergab sich ein Kanon, in dem von Anakreontischem bis zum Zweizeiler sämtliche lyrischen Epochen und Gattungen vertreten waren.
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2 Ausdifferenzierung des Feldes
Im Rahmen meiner Hospitationen wurden nach dem Begrüßungsritual von einer Reihe von Schülern die von ihnen gewählten Gedichte vorgelesen. Zu einem Gespräch darüber oder einer kurzen Einführung kam es nicht, möglicherweise aufgrund fehlender Motivation oder einem deutlich wahrnehmbaren Überdruss an dieser Arbeitsphase von Seiten der Schüler, aber auch, weil die meisten von ihnen mit der eigenverantwortlichen Gestaltung dieses ganz offenen Konzepts der Lyrikrezeption noch überfordert waren. Nach Sichtung und Interpretation der ersten Schülerinterviews hätte sich das eine oder andere Protokoll gut für eine Darstellung in der vorliegenden Untersuchung geeignet. Aus Gründen einer maximalen Kontrastierung der Eckfälle ergab es sich jedoch, dass kein Schüler aus Schule D in das Sample aufgenommen wurde.
3 Methodologie und Methode
3.1 Material und Auswahl Forschungsleitende Idee der vorliegenden Arbeit ist die einer individuellen Bedeutungsgenerierung auf der Erfahrungsbasis eines praxisorientierten, vom ersten Schuljahr an regelmäßigen Umgangs mit Gedichten für Bildungsprozesse von Heranwachsenden. Da es mir nicht auf einen Vergleich unterschiedlicher didaktischer Vermittlungsformen von Lyrik an verschiedenen Schulformen ankommt, gleichzeitig die genannten Voraussetzungen in der für meine Frage notwendigen Konsequenz und Kontinuität so lediglich in der Unterrichtskultur Freier Waldorfschulen gegeben sind, begründet sich damit die Ausschließlichkeit meiner Entscheidung für das gewählte Feld. Die Tatsache, dass ich selber über viele Jahre als Klassenlehrerin in die Waldorfpädagogik bzw. Schulkultur von Freien Waldorfschulen eingebunden war, ist als eine erste, inspirierende Quelle meines Forschungsanliegens konzediert und bringt den Vorteil einer grundlegenden Kenntnis des zu beforschenden Feldes mit sich. Dieser Vorteil geriet jedoch insofern zum Nachteil, als der Habitus der ehemaligen Lehrerin sich besonders am Anfang eher störend auf meine Rolle als Forscherin auswirkte, das heißt der pädagogische dem forschenden Blick oft genug in die Quere kam. Hinzu kamen Skrupel gegenüber den früheren Kolleginnen und Kollegen, die Interesse an meinem Projekt geäußert und für dessen Durchführung ihre Unterstützung zugesagt hatten. Diese Skrupel machten sich anfangs bei der Interviewführung – etwa wenn Schüler sich zu Lehrern oder zu bestimmten Unterrichtspraktiken kritisch äußerten – aber auch bei den Fallinterpretationen bemerkbar und konnten oft erst bei den Analysen aufgedeckt bzw. mit zunehmender Einsozialisierung in meine Forscherrolle aufgelöst werden. Ausgangspunkt und Zentrum der vorliegenden Untersuchung bildet das in Form von nicht standardisierten Interviews mit Dreizehn- bis Fünfzehnjährigen erhobene empirische Material. Für die Form des nicht standardisierten Interviews entschied ich mich aus zwei Gründen: Der erste ergab sich aus meiner Frage, in der es nicht um die Beforschung eines Wissensstandes der Schüler, sondern um die spezifische Bedeutung von Lyrik in Bildungsprozessen geht, die sich – da sie immer auch Prozesse von Individuation sind – meines Erachtens nur an der Oberfläche mit standardisierten Messverfahren erschließen lassen (vgl. Oevermann 2005: 73-76). Zweites Entscheidungskriterium für ein nicht standardisiertes Erhebungsverfahren war – obwohl auch dieses für die Forschung eigens veranlasst ist – seine faktische Nähe zu einem naturwüchsigen Gespräch, das „als H. Handwerk, Die Bedeutung von Lyrik in Bildungsprozessen der frühen Adoleszenz, DOI 10.1007/978-3-531-92737-4_4, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 Methodologie und Methode
eine lebendige Praxis selbstgenügsam, d. h. um seiner selbst und seiner eigenen Interessantheit willen praktiziert wird“ (Oevermann 2004: 447). Es impliziert eine weitgehende Offenheit und Voraussetzungslosigkeit von Seiten des Interviewenden in Hinsicht auf das Thema, auf das ein Schüler im Interview eingehen will. Nach einer ersten Sichtung des Materials entschied ich mich dafür, die videographischen Aufnahmen von Unterrichtssequenzen in die Studie nicht einzubeziehen, weil es mir im Wesentlichen um die Erschließung latenter Sinnstrukturen der Schüleräußerungen und nur in deren unmittelbarem Zusammenhang um die Rekonstruktion von Interaktionsprozessen aus dem Unterricht geht. Dies setzt genau jenen fremden Blick auf das Feld voraus, den ich mir als ehemaliges Mitglied des (waldorf-) pädagogischen Settings erst aneignen musste. Insgesamt wurden über fünfzig Schülerinterviews von mir geführt und aufgezeichnet, von denen zweiundvierzig in transkribierter Form vorliegen. Die Materialfülle ergab sich zum einen aus forschungspragmatischen Gründen, da ich alles mitnehmen wollte, was das Feld mir bot, um eine größtmögliche Vielfalt der von Schülern geäußerten Erfahrungen und Deutungen zur Verfügung zu haben.98 Zum anderen wollte ich vermeiden, Schüler abzulehnen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – freiwillig zu einem Interview bereit erklärt hatten. Der nicht verschriftete Rest des aufgezeichneten Datenmaterials ergab sich aus einer Anzahl von misslungenen bzw. lückenhaften Aufzeichnungen (starke Nebengeräusche von Pausenhof- oder Probensituationen, technische Pannen) – darunter leider auch das einzige Gruppeninterview – deren Qualität derart beeinträchtigt war, dass eine qualifizierte Transkription nicht gewährleistet werden konnte. Zusätzlich zu den Einzelinterviews mit Achtklässlern, die noch weitgehend in das aktuelle Geschehen ihres Schulalltags eingebunden sind, wurden drei ausführliche Interviews mit ehemaligen Waldorfschülern aufgezeichnet, um auch distanziert-reflexive Positionen zum Thema „Was bedeuten mir die Gedichte, die ich in der Schule gelernt habe“ einfangen zu können. Interviewt wurden ein 27jähriger ehemaliger Waldorfschüler, eine 20-jährige sowie eine etwa 40-jährige ehemalige Waldorfschülerin. Dieses Material wurde jedoch nur an wenigen Stellen zur Illustration herangezogen. Weitere Datenaufzeichnungen liegen vor (Unterrichtsaufnahmen aus den Klassenstufen 11 und 12; eine Videofilmaufnahme einer szenischen Darstellung der Ballade „Die Bürgschaft“ von Schiller, die eine der achten Klassen meines Samples selbst erarbeitet und mit einem Thema des Geschichtsunterrichts verbunden hatte), bleiben aber aufgrund ihrer Umfänglichkeit einer möglichen späteren Studie vorbehalten. 98
Aus einer Klasse meines Samples liegen mir z. B. Bilder und Zeichnungen der Schüler vor, die jeweils zu den von Mitschülern gedichteten Zeugnissprüchen gemalt und gezeichnet wurden. Auch liegen von einigen Schülern schriftliche Aperç$us zum Thema „Was verstehe ich unter einem guten Gedicht“ vor.
3.1 Material und Auswahl
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Hinzu kamen Experteninterviews mit den vier Lehrpersonen (zwei Klassenlehrerinnen und zwei Klassenlehrern), die sämtlich transkribiert sowie teils ausführlich, teils ansatzweise interpretiert wurden. Aus den oben genannten Gründen wurden auch die Experteninterviews lediglich in die Ausdifferenzierung des Feldes einbezogen sowie dann, wenn sich dies im Verlauf einer Einzelfallrekonstruktion als notwendig erwies. Zugang zum Feld Auf der Suche nach Freien Waldorfschulen, die meinem Forschungsvorhaben möglicherweise grünes Licht geben würden, zeigte sich meine ehemalige Zugehörigkeit zum gewählten Feld als großer Vorteil, da ich auf eine Vielfalt informeller wie auch formeller Kontakte zurückgreifen konnte. Nach ersten Gesprächen mit Klassenlehrern von zukünftigen achten Klassen wandte ich mich zunächst an die Gesamtkonferenz der entsprechenden Schulen, stellte mein Projekt schriftlich vor und bat um die grundsätzliche Zustimmung des Kollegiums. Nachdem ich von insgesamt vier Freien Waldorfschulen eine Zusage erhalten hatte, konnte ich von einem Sample von vier achten Klassen ausgehen, die mit Bezug auf den institutionellen Kontext (Milieu, Alter und Größe der Schule) ein maximal kontrastierendes Bild ergaben. In einem der letzten Elternabende gegen Ende der siebten Klasse bekam ich von den Klassenlehrern jeweils Gelegenheit, den Eltern mein Projekt persönlich vorzustellen. Aufgrund des Lebensalters der Probanden war neben der Zustimmung des Kollegiums auch die der Eltern Voraussetzung für videographische bzw. akustische Aufnahmen von Unterrichtssequenzen und Interviews. Im Rahmen der Elternabende wurde diese in allen vier Klassen gegeben. Zeitlicher Rahmen der Erhebungsphase Als zentrale Erhebungsphase konnte das gesamte Schuljahr 2006/2007 vereinbart werden, da so mögliche prozessuale Veränderungen der Schüler im Zusammenhang mit Lyrikrezeption eingefangen werden konnten. Die Hospitationen wurden je nach Unterrichtssituation der Klasse mit den Lehrpersonen abgesprochen. Gedacht war, dass in unregelmäßigen Abständen im Verlauf des Schuljahres ungefähr acht Mal während der ersten beiden Unterrichtsstunden (ca. 8 bis 10 Uhr) Hospitationen erfolgen und Schülerinterviews ermöglicht werden sollten. Sowohl von Seiten der Klassen als auch aus forschungspragmatischen Gründen ergab sich jedoch, dass die Anzahl der Hospitationen in den einzelnen Schulen leicht differierten. Fallauswahl In jeder der vier achten Klassen sollten zwei Präferenzschüler (je eine weibliche und eine männliche Person) ausgewählt und während der Erhebungsphase in den
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3 Methodologie und Methode
Fokus der Beobachtung genommen werden. Obwohl meine Studie nicht auf geschlechtsspezifische Aspekte fokussiert ist, war mir ein ausgewogenes Verhältnis von Schülerinnen und Schülern wichtig, weil so eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse eher gewährleistet war und Verzerrungen vermieden werden konnten. Bei der Auswahl war zunächst das Kriterium einer maximalen Nähe bzw. maximalen Distanz der Schüler zu lyrischer Dichtung leitend. Da ich nicht nach der Logik einer Stichprobenauswahl verfahren wollte, habe ich mich anfangs an den Vorschlägen der betreffenden Klassenlehrer orientiert, welche Schüler sie etwa aufgrund von diskursiven Fähigkeiten oder Interesse an Lyrik für geeignet hielten, sich zu meiner Frage authentisch äußern zu können. Dies hatte zur Folge, dass die Vorauswahl eher aus einer pädagogischen bzw. Lehrer-Perspektive getroffen wurde, was zusätzlich zur bereits genannten Problematik (Forscherin ist ehemalige Lehrerin) auch bei den befragten Schülern zu einer gewissen Irritation hinsichtlich meiner Position als Interviewerin führte. Nachdem erste Interviews transkribiert und interpretiert worden waren, entschloss ich mich daher, die Auswahl der Präferenzschüler zu modifizieren bzw. Schüler hinzuzunehmen, deren Rezeption von Gedichten oder Zeugnissprüchen mir während meiner Hospitationen aufgefallen war, die sich in einer interessanten oder widersprüchlichen Weise dazu geäußert hatten, die damit in besonders kreativer Weise umgegangen waren oder auf den ersten Blick eher widerständig wirkten. Da aus Gründen des Umfangs auf eine Darstellung aller Fallrekonstruktionen verzichtet werden musste, entschloss ich mich zu einer ausführlichen Darstellungsform von vier kontrastierenden Fällen, deren Erfahrungen mit Gedichten im schulischen Kontext in Zusammenhang gebracht werden konnten mit Prozessen der Individuierung und Autonomisierung. Die Auswahl der Kontrastfälle erfolgte nach den Kriterien größtmögliche Reichhaltigkeit und Dichte der individuellen Deutungen, maximale bzw. minimale Vergleichsmöglichkeit der Äußerungen zur Erfahrung mit Lyrik im Unterricht. Auf der Basis der Analysen zeigte sich, dass ein weiteres Kriterium des Kontrastierens die unterschiedliche Geschlechtlichkeit der betreffenden Schüler war, die sich zumindest indirekt in Deutungsmustern und Aneignungsformen von Lyrik abbildeten. Dieses Kriterium wurde in die Auswahl der hier dargestellten Eckfälle einbezogen. Interviewablauf Vor dem ersten Schülerinterview, in drei der vier Klassen bereits gegen Ende des siebten Schuljahres, gaben mir die Klassenlehrer Gelegenheit, mein Forschungsvorhaben im Rahmen eines Unterrichtsbesuches vorzustellen und auf Fragen der
3.1 Material und Auswahl
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Schüler einzugehen. Unmittelbar nach Beginn des Schuljahres 2006/2007 erfolgte eine erste Hospitation in allen vier achten Klassen während eines gesamten Hauptunterrichts, um mich den Achtklässlern wieder in Erinnerung zu bringen. Erste Beobachtungen und Eindrücke wurden in Form von Feldnotizen in einem Forschungstagebuch festgehalten. Erst in den darauf folgenden Hospitationen wurden Schülerinterviews geführt. Die Schülerinnen und Schüler, die an den betreffenden Tagen für ein Interview vorgesehen waren, wurden von mir gefragt, ob sie zu einem Interview bereit seien, wofür sie – von einer Ausnahme abgesehen – mit höchst differenzierter Konnotation ihre Zustimmung gaben: Die meisten vermittelten mir den Eindruck, mit einer gewissen Neugier, einige wenige von einem persönlichen Interesse am Thema geleitet auf das Interview zuzugehen. Andere bejahten eher gleichgültig oder weil sie es für sozial bzw. institutionell erwünscht hielten. Zwei Schüler teilten unumwunden mit, es sei ihnen „scheißegal“. Es gab jedoch auch einige, die von sich aus zu verstehen gaben, dass sie unbedingt interviewt werden wollten, sowie eine Schülerin, die ein Interview ablehnte. Ort der Interviews war je nach Raumauslastung der Schule entweder ein freier Fachunterrichtsraum oder das Elternsprechzimmer. In einigen Fällen fand es im Umkleideraum der Bühne statt, da die Klasse zu dieser Zeit bei der Probenarbeit ihres Achtklass-Spieles war. Auf dem Weg vom Raum der achten Klasse zum Ort des Interviews kam es in der Regel zu einer ersten Interaktion mit den zu Interviewenden: Die Schüler wollten erfahren, was ich von ihnen wissen wolle bzw. mit ihren Äußerungen vorhabe oder warum ich ausgerechnet sie ausgewählt hätte. Da ich das MinidiscGerät, mit dem das Interview aufgenommen werden sollte, meist mit mir trug, ergaben sich naturwüchsig schon vor Interviewbeginn Fragen von Seiten der Schüler bzw. die Bitte um Zustimmung zur Aufnahme von meiner Seite. Der Interviewstimulus war in der Regel in eine ähnliche Frage gefasst, etwa: „Mich interessiert, was dir die Gedichte bedeuten, die du in der Schule gelernt hast. Wie war das für dich?“ Durch eine derartige Formulierung konnte jeder Schüler von einem konkreten Forschungsinteresse an seinen persönlichen Erfahrungen ausgehen.99 Zugleich musste in Anbetracht des aktuellen Kontextes sowie der unterschiedlichen reflexiven und narrativen Fähigkeiten der Schüler die Frage jeweils leicht variiert werden. Mein Anliegen war, dass die Schüler 99
Die Interessensbekundung in Form einer Äußerung wie: „Mich interessiert …“ gehört nach Oevermann zu den wenigen Prinzipien einer guten (d.h. geduldigen, zulassenden und Neugier zeigenden) Führung eines nicht-standardisierten Interviews. Dieses werde umso ertragreicher, je mehr sich das Interview in Richtung einer lebendigen Gesprächspraktik annähere. Das Interesse des Forschers wie auch seine Achtung vor dem Interviewee manifestiere sich in Anschlussfragen, Geduld und Ernstnehmen des Interviewees von Seiten des Interviewenden (Oevermann mündlich im Forschungspraktikum am 18.3.2009).
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3 Methodologie und Methode
spontan ein Thema aufgreifen und entweder stärker auf ihren Umgang mit Kunstgedichten im Unterricht oder eher auf Lyrik im Fall von Zeugnissprüchen eingehen konnten. Auf keinen Fall sollte ein vorher von mir festgelegter Fragenkatalog abgearbeitet werden, so dass sich nicht in jedem Protokoll Äußerungen zu beiden Themen finden. Aus paritätischen Gründen bestand der Abschluss des Interviews meist darin, den Schülern Gelegenheit zu geben, eventuelle Fragen ihrerseits an mich zu richten, was jedoch eher selten und fast ausschließlich von Schülerinnen in Anspruch genommen wurde. Das kürzeste der Interviews hatte eine Dauer von weniger als fünf, das längste von ca. fünfzig Minuten. Aufzeichnungsformen Sämtliche Interviews wurden mit einem Minidisc-Gerät aufgezeichnet, anschließend abgehört und in fast allen Fällen lückenlos transkribiert. Ausnahmen beziehen sich auf Interviews, die sich inhaltlich sehr weit von dem hier zu bearbeitenden Fall entfernten und in denen die Schüler z. B. von Familienfesten, ihren Freizeitbeschäftigungen o. ä. erzählten. Beim Sichten der Transkriptionen, die zunächst nach Differenz und Häufigkeit der von den Schülern thematisierten Spezifika zusammengefasst wurden, habe ich darum die Transkription der für die vorliegende Untersuchung nicht relevanten Passagen (meisten gegen Ende des Interviews) in wenigen Fällen ausgespart. Interpretation des Materials Alle Interpretationen der Protokolle wurden vor der Analyse in Gruppen durchgeführt, die meisten davon in den Forschungspraktika von Ulrich Oevermann, einige im Doktorandenkolloquium mit Heiner Ullrich, einige in der Arbeitsgruppe „Sequenzanalyse“ der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Einige Bemerkungen zur Analyse Den Prinzipien der objektiv hermeneutischen Methode entsprechend werden auch die von der Interviewerin gestellten Fragen analysiert, da durch diese immer Anschlüsse ermöglicht oder auch verbaut werden. Wie in den Fallrekonstruktionen deutlich werden wird, besteht das Problem ihrer Nähe zum Forschungsfeld viel eher für sie selber als für die jeweils interviewte Person, was der bewusst einem „natürlichen Gespräch“ sich annähernden Form des nichtstandardisierten Interviews entspricht. Selbst wenn die von der Interviewerin gefühlte Ambiguität latent spürbar ist, wird sie – der Kunstlehre entsprechend – jedoch nur dann analysiert, wenn ihr Problem im Protokoll der Schüleräußerungen markiert sein sollte.
3.2 Kriterien und Methode der Sequenzanalyse
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Damit spreche ich ein weiteres Problem an, vor das ich mich bei der Analyse der Protokolle einzelner Sequenzen aus dem Unterricht oder aus den Experteninterviews mit den Klassenlehrern gestellt sah und das mit meiner Nähe zum Forschungsfeld zusammenhängt. Dennoch werde ich – wie bei den Interviewfragen auch – bei der Analyse dieses Materials die Worte auf die Goldwaage legen, um Sinn- und Bedeutungsstrukturen herausarbeiten zu können. Wenn ich dabei auf pädagogische Probleme oder „Kunstfehler“ hinweise, erkenne ich darin immer zuerst meine eigenen. Objektive Daten der Präferenzschüler Namen und familiärer Kontext der Schülerinnen und Schüler werden ausschließlich in maskierter Form wiedergegeben. Auch die objektiven Daten werden nicht, wie es den Prinzipien der objektiven Hermeneutik entspräche, den Einzelfallrekonstruktionen vorangestellt, sondern auf Wunsch der Eltern aus Datenschutzgründen in der schriftlichen Darstellung der Arbeit zurückgehalten. Transkriptionslegende Die Transkriptionslegende umfasst folgende Bezeichnungen: 1 I: 1 C: Unterstrichenes Wort oder Silbe: Mit – unterbrochenes Wort (weil-l): (’) (.) (Zahl) (,) oder . oder , (kursiver Text in Klammer) Wort[ /…
durchnummerierte Anzahl der Äußerungen der interviewenden Person (I) dito des interviewten Schülers (C, F, M oder N) dynamischer Akzent: betont oder laut gesprochene Äußerung gedehnt gesprochen Stimmhebung Stimmsenkung Anzahl der Sekunden einer Pause Zäsur kürzer als eine Sekunde im Material hörbare Kontextinformation Äußerung von I oder F wird bei [unterbrochen Zäsur analysebedingt, Äußerung wird fortgesetzt
3.2 Kriterien und Methode der Sequenzanalyse Ein überprüfbares Untersuchungsverfahren zu finden für ein Material, das ohne vorheriges glättendes Eingreifen erschlossen werden soll, zeigte sich anfangs als recht schwierig, um so mehr, als mein Erkenntnisinteresse nicht auf ein zur These der Bildungsproduktivität von Lyrik „passendes“ Ergebnis festgelegt war. Es geht in der vorliegenden Arbeit vielmehr um eine intersubjektiv überprüfbare wissenschaftliche Analyse von authentischen Akten des Aneignens und Verste-
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3 Methodologie und Methode
hens, von Bedeutungszuschreibungen frühadoleszenter Subjektivität im Zusammenhang mit einer Lyrikrezeption, wie sie an Freien Waldorfschulen als integraler Bestandteil des Lehrplanes vorgesehen ist und geübt wird. Dabei bestand für mich vor allem am Anfang das Problem des „heißen Gegenstands“, dies zwar nicht aufgrund eines Drucks, eins zu eins umsetzbare Ergebnisse für die Lyrikdidaktik vorweisen zu müssen, sondern aufgrund meiner früheren Nähe zum Forschungsgegenstand. Den unvoreingenommenen Blick auf Material und Feld musste ich mir erst mühsam aneignen, mich von manchen „Gewissheiten“ verabschieden und erfahrungsbasierte Vorannahmen bewusst machen. Umso wichtiger war darum die Frage einer methodologisch abgesicherten Verfahrensweise, durch die vorschnelle Schlüsse und Zuschreibungen vermieden werden zugunsten eines gegenstandsadäquaten Erschließens des vorliegenden Materials als der Sache, um die es geht. Das soziale Arrangement der Datenerhebung dieser Arbeit ist die Form von nicht-standardisierten Interviews. Wie weiter oben ausgeführt, differiert deren Länge etwa zwischen fünf und fünfzig Minuten. Es handelt sich dabei in den seltensten Fällen um die Beschreibung längerer biographischer Verläufe, sondern faktisch um Episodenhaftes, das in der Totalität des Erfahrungsfeldes Schule eher eine marginale Rolle spielt. Aus dem den vielfach präreflexiven oder auch sprachlich fragmentarischen Äußerungen der Heranwachsenden entnommenen Material in welcher Logik auch immer subsumierbare Teile zu parzellieren oder zu kodieren, wäre auf eine Art „Zuschnitt“ hinausgelaufen, den ich nicht zuletzt aufgrund meiner Nähe zum Forschungsfeld unter allen Umständen vermeiden wollte. Die Distanz von persönlicher berufsbiographischer Verbundenheit war also ein erstes Kriterium auf der Suche nach einer angemessenen Methode. Ein zweites, forschungspraktisch wichtigeres Kriterium war durch den Forschungsgegenstand Lyrik selbst gegeben, der mit Blick auf ihre konkreten lebenspraktischen Erfahrungen bei den Heranwachsenden oft eine stille Verwunderung hervorrief. Nach Sichtung verschiedener Erschließungsmethoden, vor allem nach der Teilnahme an zwei Sommerkursen zur Methodologie und Methode der objektiven Hermeneutik und der regelmäßigen Teilnahme an wöchentlichen Forschungspraktika bei Oevermann orientierte ich mich mit Bezug auf die Datenerhebung an den dort gegebenen Anregungen und entschied mich hinsichtlich der Datenauswertung für das Verfahren der objektiven Hermeneutik als der meiner Absicht und Fragestellung angemessenen Erschließungsmethode. Soweit dies für das Verständnis der vorliegenden Arbeit unabdingbar ist, werden die wichtigsten Kriterien der Methodologie sowie Grundprinzipien des methodischen Verfahrens der objektiven Hermeneutik in den folgenden Abschnitten in kursorischer Form vorgestellt. Zum vertiefenden Studium sei auf die
3.2 Kriterien und Methode der Sequenzanalyse
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ausführlichen methodologischen und methodischen Ausführungen von Oevermann sowie die dazu zahlreich vorliegende Sekundärliteratur verwiesen.100 Zur Methodologie der objektiven (auch: strukturalen) Hermeneutik In der sozialisationstheoretischen Theoriebildung Sinn verstehender Sozialwissenschaften hat seit den siebziger Jahren ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Mit den Arbeiten von Oevermann u. a.101 steht nicht mehr die Legimitation von ‚Sinn’ als einem Grundbegriff der Sozialwissenschaften im Vordergrund des theoretischen Diskurses, sondern die Grenzziehung zwischen rekonstruktionslogischer und subsumtionslogischer Vorgehensweise. In Kenntnis der hermeneutischen Dimension des sozialwissenschaftlichen Forschungsgegenstands hat die von Oevermann formulierte Methodologie der objektiven Hermeneutik daher den Begriff von ‚Sinn’ unter Rückbezug auf eine generelle ‚Regelgeleitetheit’ sozialen Handelns als forschungsleitendes Kriterium empirischer Untersuchungen eingeführt. Oevermann rekurriert in seiner strukturtheoretischen Konzeptualisierung des sozialwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstands zum einen auf das von Mead beschriebene I-ME-Verhältnis als der jeglicher Bedeutungsgenerierung konstitutionslogisch zugrunde liegenden Figur des sozialen Aktes; zum anderen auf sprachtheoretische Konzepte von Chomsky und Searle sowie auf die Psychoanalyse von Freud bzw. die kognitive Entwicklungspsychologie Piagets (vgl. Sutter 1997: 10-13).102 Die Bedeutung des von Oevermann ausgearbeiteten Theorie- und Forschungsprogramms für die Sozialwissenschaften erweist sich zum einen in der Möglichkeit einer nicht-relativistischen soziologischen Sozialisationstheorie, „in der universalistische und differentielle Erklärungsansätze systematisch aufeinander bezogen werden.“ Zum anderen lassen sich auf der Basis von Oevermanns erweitertem Strukturbegriff (verstanden 1. als Reproduktionsprozess, d. h. dem sich identischen Neu-Schaffen einer Struktur; 2. als Transformationsprozess, der Strukturveränderung aufgrund innerer oder äußerer Bedingungen; vgl. Oevermann 2002: 10) „die psychischen und sozialen Konstitutionsbedingungen von Prozessen der Individuierung einer Analyse zuführen und individuelle wie soziohistorische Bildungsprozesse material rekonstruieren“ (Sutter 1997: 13; Oevermann 2003: 32). Über die systematische Verknüpfung der genannten Perspekti100 Oevermann 1986: 19-83; 1991; 1993; 2002; 2003: 27-44, 2008; Wernet 2000; Schneider in: Garz/Kraimer 1994 101 Vgl. Oevermann/Allert/Konau/Krambek 1977 102 In Hinsicht auf die kritischen Einwände und Vorwürfe gegenüber der von Oevermann entwickelten Theorie der sozialen Konstitution des Subjekts, z. B. der Kombination des strukturtheoretischen Paradigmas mit hermeneutischer Sinnrekonstruktion, wie auch die Würdigung von Oevermanns Theorieprogramm sei auf die sachliche und ausführliche Kritik von Sutter 1997 verwiesen.
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3 Methodologie und Methode
ven gewinnt Oevermann eine theoretisch eigenständige Konzeption und gelangt zu einer Amplifikation des Begriffs objektiver sozialer Strukturen, der „die Reduktion auf mentale Repräsentanzen oder Bewusstseinsstrukturen einerseits“ und den handelnden Subjekten äußerlich bleibende verdinglichte Strukturen andererseits überwindet (vgl. Sutter a.a.O.: 14). Das von Oevermann formulierte strukturtheoretische Paradigma von Krise und Routine schafft die begriffliche Voraussetzung für eine sozialwissenschaftliche Forschungsmethode, die Subjektbildung weder ausschließlich als Folge sozialer Strukturen (Sozialisation), noch als Ergebnis psychobiologischer Entwicklungsprozesse (Individuierung) allein versteht, sondern als Prozess, in dem „sich das Subjekt in der Logik der Krisenbewältigung als Selbst konstituiert auf der Basis seiner Positionalität als lebendiges Wesen bzw. als Leib.“ (Oevermann 2008: 14; zu Plessners Kategorie der exzentrischen Positionalität vgl. Fischer 2000:265-288). Zentraler Aspekt von Oevermanns Theorie der Bildungsprozesse ist „die Explikation der Struktur eines sozialisierten Subjekts“, dargestellt am vorläufig formulierten „Strukturmodell eines autonom handlungsfähigen, mit sich identischen Subjekts“ (Sutter a.a.O.: 20; Hvh. HS).103 Prozesse des Sich-Bildens, SichBewährens, Sich-Individuierens umschreibt Oevermann mit dem Grundbegriff der Lebenspraxis, der im Konzept der Autonomie der Lebenspraxis gefasst und in der objektiven Hermeneutik „als widersprüchliche Einheit von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung“ verstanden wird (Oevermann 2002: 11; Hvh. i. O.). Mit Bezug auf den begrifflichen Status ist anzumerken, dass Begriffe wie „sich bilden“ oder „sich autonomisieren“ in dieser Sicht analytisch und normativ zugleich verwendet werden: „deskriptiv-analytisch…zur Bezeichnung des Strukturproblems, vor das jedes Leben in der Gattung Mensch gestellt ist…und (das es; HH) mehr oder weniger gut lösen (kann; HH). Um dann…den Grad der Lösung, den ein Leben dafür entwickelt hat, bezeichnen zu können, braucht man im normativen Sinne dieselben Begriffe noch einmal.“ (Oevermann 2008: 62; Fußn. 9)
Die Methodologie der objektiven Hermeneutik unterscheidet kategorial zwischen der sinnlich direkt zugänglichen, messbaren (stochastischen) Welt und dem sinnlich nicht wahrnehmbaren (nicht messbaren) Gegenstandsbereich der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Im Gegensatz zum Empiriebegriff der Wahrnehmbarkeit, mit dem sich Gegenstände der Naturwissenschaften untersuchen lassen, arbeitet die objektive Hermeneutik zur Erschließung von Gegenständen der Sozialwissenschaften – die immer an die je entwickelte Sprachfähigkeit bzw. im weitesten Sinne Ausdrucksfähigkeit eines Subjekts geknüpft ist – mit dem 103 Zur historischen Entwicklung des Subjekt-Begriffs vgl. Oevermann 2008: 10
3.2 Kriterien und Methode der Sequenzanalyse
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Empiriebegriff der „Verstehbar- bzw. Lesbarkeit von Strukturen“ (Oevermann 2002: 2). Diesem Empirieverständnis liegt die Erkenntnis der konstitutionellen Intransparenz sozialer Prozesse (Durkheim) zugrunde, wonach die subjektive Beschaffenheit jeder Äußerung menschlichen Handelns, Denkens und Fühlens nur auf einem Umweg erkannt werden kann. Dieser Umweg besteht darin, dass – im Gegensatz zur sinnlich erfahrbaren Welt – die „sinnstrukturierte Welt“ als solche empirisch und damit methodisch überprüfbar nur vermittelt durch ihre Ausdrucksgestalt zugänglich wird. Damit geht die objektive Hermeneutik in ihrem Verständnis von Empirie über den von Hume geprägten Empiriebegriff insofern hinaus, als sie unter dem Begriff des methodologischen Realismus alles das fasst, „was sich durch Methoden der Geltungsüberprüfung in der Gegenständlichkeit erfahrbarer Welt nachweisen lässt“ (Oevermann 2002: 3). Unter dem Schlüsselbegriff Ausdrucksgestalt sind also jene abstrakten Sinngebilde zu verstehen, in denen die psychischen, sozialen und kulturellen Phänomene in der widersprüchlichen Einheit ihrer objektiven (weil sinnlich gegebenen) Bedeutungs- und latenten (weil sinnlich nicht wahrnehmbaren) Sinnstrukturiertheit empirisch und damit erfahrungswissenschaftlich analysierbar werden. Auf das Verstehen bzw. Lesen dieser grundsätzlich abstrakten Sinn- und Bedeutungsstrukturen richtet sich das Verfahren der objektiven Hermeneutik.104 Der latente Sinn eines menschlichen Handelns lässt sich als Struktur jedoch stichhaltig nur erschließen, wenn zuvor die objektive Bedeutungsstruktur entschlüsselt wurde. Dies impliziert, dass die objektive Hermeneutik methodisch nicht mit naturwissenschaftlichen Messdaten arbeiten kann, sondern auf die Kategorie der Ausdrucksgestalt zum Datum des Erschließens zurückgreifen muss. Insofern sie Sinn und Bedeutung symbolisieren, werden Ausdrucksgestalten in einem erweiterten Begriff als Texte gefasst, die alle Äußerungen konkreter menschlicher Lebenspraxis (die protokollierende Wirklichkeit) umfassen. Demgegenüber sind Ausdrucksgestalten im Aspekt ihrer ausdrucksmaterialen Erscheinung und Dauerhaftigkeit als Protokolle (als protokollierte Wirklichkeit, z. B. in Form von technischen Aufnahmen) zu behandeln. Letzteres ist vor allem hinsichtlich der Inter-Subjektivität als eines zentralen Aspekts der Geltungsüberprüfung wichtig, da „eine Datenbasis in Form von Protokollen beliebig oft…gelesen und…zur Überprüfung der Geltung von Konjekturen herangezogen werden kann“ (Oevermann 2004: 425). Dieser Bezug zur je konkreten Lebenspraxis eines Subjekts verweist auf den Aspekt der Entstehung eines Neuen, das konstitutiv ist für jeden Bildungspro104 In anderen Darstellungen fasst Oevermann diese Dialektik in die Parameter I, d. h. die universale Struktur als der objektiven Geltungsbasis, die einen Spielraum von Möglichkeiten erzeugt, und Parameter II, d. h. das Gesamt der Dispositionen einer konkreten Lebenspraxis (Oevermann 1996: 76-77; vgl. Böhme 2000: 31).
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3 Methodologie und Methode
zess, und erhellt den kategorialen Unterschied zwischen Formen des induktiven bzw. deduktiven Schließens und jener Form des Er-Schließens (eines Neuen), die Oevermann mit dem Begriff des abduktiven Schließens bezeichnet. (Oevermann 2002: 14) Zur Methode der objektiven Hermeneutik In einigen einführenden Darstellungen wird die Methode der objektiven Hermeneutik den qualitativen Methoden der empirischen Sozialforschung zugeordnet. (vgl. Flick 2005: 300-307; Oevermann 2004: 468-469) Dies ist insofern nicht plausibel, als auch an letzteren kontrastierend gegenübergestellten quantitativen Forschungsmethoden jeweils qualitativ-interpretative Momente beteiligt sind. Die entscheidende Differenz besteht vielmehr in einer auf quantifizierendes Messen zielenden Methodologie auf Seiten der quantitativen Sozialforschung und einer solchen, die – wie oben dargestellt – die subjektive Gegebenheit einer konkret vorliegenden (daher „objektiven“) Lebenspraxis methodisch kontrolliert in Form von aus dem Material abzugrenzenden „Fällen“ rekonstruiert und auf deren Strukturanalyse abzielt.105 Die objektive Hermeneutik stellt demnach eine eigenständige (da rekonstruktions-logische) methodische Praxis dar, die ein unterschiedliches Verständnis der Methode der Datenerhebung und der Datenauswertung impliziert (vgl. Oevermann 2002: 18-21). Dieses Forschungsverfahren beruht auf der Feststellung der Sequenziertheit als einem Konstitutivum humaner Lebenspraxis, d. h. dem „Umstand, daß jegliches Handeln … qua Regelerzeugtheit soziales Handeln ist. …Jedes scheinbare Einzel-Handeln ist sequentiell im Sinne wohlgeformter, regelhafter Verknüpfung an ein vorausgehendes Handeln angeschlossen worden und eröffnet seinerseits einen Spielraum für wohlgeformte, regelgemäße Anschlüsse.“ (Oevermann 2003: 30-31)
105 Zum Fall-Begriff: „In der objektiven Hermeneutik werden soziale Gebilde, die als Träger von Strukturen gelten, als Fälle bezeichnet. Unter einem Fall können darum einzelne Personen, historische Institutionen oder Organisationen verstanden werden.“ (Gärtner 1991: 10) In der vorliegenden Arbeit wird jede Einzelfallrekonstruktion eines quasi als natürliches Protokoll von Lebenspraxis vorliegenden Materials einen aus der Analyse entwickelten Titel erhalten, um das Vertrauen und die Kommunikationsbereitschaft der Jugendlichen zu würdigen, die sie mir im Rahmen der Interviews entgegen gebracht haben. Da ein Teil der Interviews nur in themenrelevanten Auszügen rekonstruiert wird, ziehe ich für deren Darstellung den Begriff „Miniatur“ dem der „Fallvignette“ vor. Dies zum einen, weil dem Begriff der Vignette m. E. eine Konnotation von Etikettierung anhaftet. Der Begriff Miniatur hingegen hat seinen Ursprung in der Malerei und bezeichnete dort die sorgfältige, höchst konzentrierte Gestaltung eines Objektes auf kleinstem Raum.
3.2 Kriterien und Methode der Sequenzanalyse
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Dementsprechend konzentriert sich das objektiv hermeneutische Verfahren auf die Operation der Sequenzanalyse, die im Sinne einer höchst möglichen Fallibilität und Exaktheit der materialen Analyse an folgende Verfahrensprinzipien geknüpft ist: 1.
2.
3.
Sequentialität: Dieses Prinzip steht im Zentrum des Verfahrens und bedeutet ein schrittweises Rekonstruieren eines Protokolls, ohne die Bedeutung einer Textsequenz dem weiteren Interaktionsverlauf zu entnehmen. Angefangen von der Initialsequenz eröffnet jede Einzelsequenz ein breites Spektrum von Anschlussoptionen des Interaktionsaktes und verweist damit auf die Auslegung der pragmatischen Erfüllungsbedingungen im Aspekt der Frage: Was spricht sich in der betreffenden Sequenzstelle aus, wie reagiert sie auf die vorausgegangene und welche Anschlussmöglichkeiten sind durch sie ermöglicht? Aus der Auswahl der denkbaren Anschlussmöglichkeiten, die in einer Interaktionspraxis jeweils vorgenommen wird, ergibt sich der innere Kontext. Anders gesagt: Die Rekonstruktion der Dynamik von Optionen und Selektion von wohlgeformten, verständlichen Anschlüssen ergibt die spezifische Struktur des Falles (vgl. Gruschka 2005: 62-63). Kontextfreiheit: Zwei Arten von Vorwissen werden unterschieden: erstens ein Wissen von „gegenstands- bzw. fallübergreifenden bedeutungserzeugenden Regeln“ sowie dem sequenzanalytisch erschlossenen inneren Kontext. Beim Analysieren muss sich der objektive Hermeneut diesem Wissen gegenüber mit „künstlicher Naivität“ wappnen und eine fragliche Äußerung zunächst gedankenexperimentell auf Situationen anwenden, in denen sie als wohlgeformt erscheint. Erst nach einer kontextunabhängigen Rekonstruktion kann diese Art des Vorwissens herangezogen werden. Die zweite Art, das Wissen um äußere gegenstandsspezifische bzw. historisch-kulturelle Gegebenheiten, ist für den objektiv hermeneutisch Forschenden tabu, da es den unvoreingenommenen Blick auf den Gegenstand trübt und Deutungen zulässt, die zwar denkbar, aber material nicht gedeckt sind. Wörtlichkeit: Das Prinzip der Wörtlichkeit meint ein absolutes Sich-Halten am objektiv Gesagten. Auszulegen ist nicht das, was gefällt, sondern die protokollierte Wirklichkeit einer objektiv gegebenen Ausdrucksgestalt: „Denn nichts ist in unseren Wissenschaften einfacher und unstrittiger und eben auch objektiver als ein methodisch gesichertes Urteil über die Relation der Kompatibilität zwischen einer auslegenden Lesart und einem auszulegenden Bedeutungselement einer Ausdrucksgestalt.“ (Oevermann 2001: 21)
4.
Sparsamkeit: Dieses zentrale Prinzip ist im Grunde das Pendant des Wörtlichkeitsprinzips, doch wesentlich schwieriger einzuhalten, weil es der Lesartenphantastik Grenzen setzt:
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3 Methodologie und Methode
„…problematischer dagegen ist (die; HH)…Trennung innerhalb der kompatiblen Lesarten. Da gibt es solche, die…zwar übereinstimmen, aber nicht zwingend aus ihr hervorgehen, weil sie nicht in ihr markiert sind und deshalb auch nicht zwingend aus ihr erschlossen werden können, und solche, …die…unter Beachtung des Totalitätsprinzips zwingend aus den Markierungen im Text geschlossen werden müssen. Mindestens müssen wir Argumente anstreben, die das Kriterium ›kann nicht sein‹ erfüllen, besser noch…›muss so sein‹, weil solche Urteile Gesetzmäßigkeiten behaupten.“ (ders., a.a.O.; Hvh. i.O.)
5.
Es dürfen also nur diejenigen Lesarten zugelassen werden, die durch den objektiv vorliegenden Text gedeckt bzw. die regelgeleitet, vernunftgemäß und nicht pathologisch sind. Extensivität bildet das Komplement zum Sparsamkeitsprinzip: Es muss ausnahmslos alles – jedes Wort, jede Pause, jedes Abbrechen eines Interakts, jede durch den Text gedeckte Lesart – ausgelegt werden. Eine besondere Sorgfalt gilt hierbei der Eröffnungssequenz, denn hier macht der Analysierende die typische Erfahrung, „daß initiale Interaktionszüge bei der Eröffnung einer gemeinsamen Interaktionspraxis in starkem Maße den pragmatischen Typus dieser Praxis determinieren und festschreiben, so daß dadurch auch ein hohes Maß an Orientiertheit für die Beteiligten gesichert ist.“ (Oevermann 2003: 62)
So lassen sich aus den einzelnen Fällen je objektive innere Fallstrukturgesetzlichkeiten rekonstruieren, die in sich bereits eine Generalisierung darstellen, „weil sie allgemein gültig und methodisch kontrolliert falsifizierbar die innere Systematik im Handeln und in der Entwicklung einer konkreten Lebenspraxis zu erklären vermögen.“ (Oevermann 2003: 33)
Mit diesem Verfahren wird in der vorliegenden Arbeit auf der Basis der Fallrekonstruktionen eine allgemeine Strukturlogik von durch Lyrik angeregten Bildungsbewegungen herausgearbeitet, deren Gültigkeit sich nicht aus einer quantitativen Häufigkeit ergibt, sondern auf der Basis der Verdichtung der wesentlichen Dimensionen der untersuchten Einzelfälle und aus der Bestimmung von Typen konkreter Erfahrungen und Bedeutungszuschreibungen in der frühen Adoleszenz.
4 Fallrekonstruktionen
Mit diesem Kapitel wenden wir uns dem eigentlichen Forschungsgegenstand zu: den Achtklässlerinnen und Achtklässlern mit der Frage nach ihren Erfahrungen mit Lyrik im Unterricht. Damit ist der Leser mit dem Problem der Geduld konfrontiert, die ihm – sozusagen als Polarität der Akribie des Analysanden beim Ausarbeiten der einzelnen Analyseschritte – abverlangt wird. In der Darstellung der vier Eckfälle folge ich der Logik der Eröffnung und beginne mit der ersten Analyse, die ich im Verlauf dieser Untersuchung durchgeführt habe. Den Prinzipien der objektiven Hermeneutik entsprechend werde ich die Initialsequenz (d. h. auch die Eröffnungsfrage der Interviewerin)106 in der gebotenen Ausführlichkeit darstellen, da meist schon dabei eine erste Spur gelegt wird, die den Verlauf des weiteren Weges – und damit die Fallstruktur – bestimmt. In den drei darauf folgenden Fällen werde ich mich mit Bezug auf die Auslegung der Initialfrage der Interviewerin kürzer fassen. Vorausgeschickt werden muss noch die Beschreibung einer Aufgabe, die für meine Untersuchungsfrage besonders relevant war und die die vier Lehrpersonen ihren Schülern im Laufe des achten Schuljahres stellen sollten. Es wurde vereinbart, dass sich alle Schüler der vier Klassen ein Kunstgedicht aussuchen, sich aneignen und zu gegebener Zeit in ihrer Klasse rezitieren sollten. Dabei sollten sie frei sein, aus sämtlichen Gedichtgattungen sich für das zu entscheiden, was ihnen gefällt und wovon sie angesprochen werden. Die Angabe von Quellen und das didaktische Konzept der Aufgabe waren den Lehrpersonen überlassen. Auf diese Aufgabe bezieht sich ein Schüler bzw. die Interviewerin, wenn „das Gedicht, das du dir/ich mir gewählt hast/habe“ thematisch wird.
106 Siehe Kapitel 3.1.: Einige Bemerkungen zur Analyse
H. Handwerk, Die Bedeutung von Lyrik in Bildungsprozessen der frühen Adoleszenz, DOI 10.1007/978-3-531-92737-4_5, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4 Fallrekonstruktionen
4.1 Fallrekonstruktion Natalía, Schule B: „Im Aufbruch“ (Interview vom 23.1.2007, Dauer: 32 Min., Ort: Besprechungszimmer der Schule) I.
Initiale Interaktionssequenz
1 I: ja (,) ich nehm’s wie immer alles auf (.) (4) Durch den gemeinsamen Weg der beteiligten Personen vom Klassenraum in das Besprechungszimmer kann davon ausgegangen werden, dass mit dem „ja“ der Interviewerin der Abschluss der zwar nicht dokumentierten, aber als gültig vorauszusetzenden Interaktion auf dem Weg nach oben abgeschlossen und zugleich die folgende Interaktion eröffnet ist. Da I die Person ist, die zuerst das Wort ergreift, zeigt sie, dass sie sich für die Zusammenkunft verantwortlich und berechtigt fühlt, das Zeichen für den Beginn der Interaktion zu geben. Da keine Frage vorausging, indiziert ihr „ja“ zugleich unaufgefordert eine Zustimmung zu dem, was I in diesem Zusammenhang von sich selbst und der Person erwartet, mit der sie kommunizieren will.107 Die Formulierung „ich nehm’s wie immer“ bezeichnet ein neutrales Objekt („ich nehm’s“ d.i. „ich nehme es“); demnach kann eine Person, etwa die Interviewpartnerin selbst, hier nicht gemeint sein. Indem I auf frühere Situationen verweist und der zu befragenden Schülerin Natalía (nachfolgend „N“) ihre Absicht mitteilt, dass sie („wie immer alles“) aufzunehmen gedenke, wird in ihrem Vorgehen eine gewisse Routine sichtbar. Ähnliche Zusammenkünfte haben offensichtlich schon mehrfach stattgefunden, so dass davon ausgegangen werden kann, dass auch für N das soziale Setting bekannt ist. „Es aufnehmen“ bedeutet, dass jemand einen Gegenstand, einen Vorgang oder einen Gedankeninhalt nehmen will, um ihn einzuordnen, einzufangen, zu notieren oder in irgendeiner anderen Weise zu fixieren. Als Objekt dafür käme sowohl eine Wasserlache auf dem Fußboden infrage, die mit Hilfe eines Tuches aufgenommen werden soll, als auch Gedanken oder Ereignisse, die mit Hilfe eines Mediums (Schreibmaterial, Mal- oder Zeichengerät, Filmkamera, Tonband) zur späteren Verwendung oder als Gedächtnisstütze festgehalten werden sollen. Durch den Zusatz „wie immer“ kann hier ausgeschlossen werden, das aufzunehmende Objekt („es“) wäre ein verschüttetes Getränk o. ä. Es muss sich vielmehr um etwas handeln, was in irgendeinem Sinnzusammenhang steht mit der soeben eröffneten Interaktion zwischen I und N. Da es sich um ein Schülerinterview handelt, dessen Beginn mit dem Druck auf den Recorder-Knopf mar107 Zum einführenden „Ja“ vgl. Oevermann 2003: 48
4.1 Fallrekonstruktion Natalía, Schule B: „Im Aufbruch“
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kiert wurde, kann es sinnlogisch nur der Inhalt der Interaktion selbst sein, den I unter Zuhilfenahme eines Minidisc-Recorders aufzuzeichnen im Begriff ist. I zeigt sich also erstens bezüglich der Interaktionsstruktur und zweitens aufgrund ihres Vorwissens in Bezug auf das, was sie von ihrer Interaktionspartnerin erwartet, in dominanter Position: Sie allein ist es, die die Bühne freigibt und ihre Intention mitteilt, „wie immer“ das, was auf dieser Bühne im Folgenden gespielt werden wird, zu fixieren und so gewissermaßen „in der Hand zu halten“. Während der Pause von vier Sekunden sind Geräusche des Aufnahmegerätes zu hören; möglicherweise wird dessen Funktionsbereitschaft von I nochmals sichergestellt. 2 I: stört dich das (’) Stimmhebung und Inhalt markieren den Fragecharakter der Äußerung. I fragt ihre Partnerin, ob sie „das“ störe, wobei die sinnlogische und sparsamste Lesart ist, dass sich „das“ auf das Aufnehmen bezieht. Damit fragt I zwar nach der Befindlichkeit bzw. Stimmung von N, nicht aber nach deren Zustimmung, etwa in Form von „Darf ich?“. Da N unmittelbar zuvor mit der unzweifelhaften Absicht von I konfrontiert wurde, dass alles aufgenommen werde, ergibt sich einerseits ein gewisser Widerspruch; andererseits erhält N dadurch die Möglichkeit, die Frage zu bejahen oder zu verneinen. Mit der Eröffnung dieser Option riskiert I im Falle einer Bestätigung, dass die geplante Interaktion entweder unter erschwerten Bedingungen stattfindet oder im Extremfall sogar abgebrochen werden muss. Daraus folgt zum einen, dass I von vornherein die Entscheidung von N akzeptiert, zum anderen, dass die Sache, um die es I geht, bedeutsam für sie sein muss, sonst würde sie sich um die Befindlichkeit und Stimmung ihres Gegenübers keine Gedanken machen. Die Anrede mit „du“ zeigt zugleich, dass N ihr entweder sehr vertraut sein oder sich ihr gegenüber in einer Generationendifferenz befinden muss. Da der erste Fall ausgeschlossen werden kann, ist klar, dass das „du“ der Position und dem Altersunterschied von I gegenüber der Achtklässlerin geschuldet ist. Obwohl I ihr Vorhaben deutlich in den Vordergrund stellt und die Interaktionsstruktur tendenziell asymmetrisch ist, kann die Frage von I durch den Wunsch motivierbar gemacht werden, das Interview möge in einer offenen, entspannten Atmosphäre stattfinden. Damit liegt es auch ohne eine explizite Frage um Erlaubnis (ob I aufnehmen dürfe) jetzt an N, über den weiteren Verlauf der Interaktion zu entscheiden. 1 N: ach nö (2) is schon (2) okay (lacht kurz) N verneint die Frage von I. Das umgangssprachliche „nö“ wird jedoch von einem kleinen „ach“ begleitet, was darauf hindeutet, dass N auf Distanz geht in der
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4 Fallrekonstruktionen
Befürchtung, die Sache könnte vielleicht heikel werden. Obwohl das Procedere ihr prinzipiell bekannt sein müsste (vgl. 1 I „wie immer“), weiß sie noch nicht genau, zu welchem konkreten Thema I sie heute befragen will. Nach einer kurzen Pause setzt N hinzu: „is schon okay“. Durch das fehlende Subjekt („[es] is schon okay“) indiziert die verkürzte Form der Äußerung eine Art „Abwinken“ in bündiger Form, als ob N sagen wolle, das Aufnehmen sei für sie eher belanglos und man müsse kein weiteres Wort darüber verlieren. Mit der eher lockeren Formulierung „okay“ gibt sie ihre grundsätzliche Zustimmung. „Schon okay“ könnte nun heißen, dass die Zustimmung sich auf die gesamte Interaktion, also auch die inhaltliche Seite bezieht. Das Wort „schon“ wäre dann im ursprünglichen adverbialen Sinne von „schön“ gebraucht.108 Es könnte jedoch mit „schon okay“ auch eine gewisse Einschränkung und damit eine kaum merkliche Distanzierung gemeint sein. In diesem Fall wäre „schon“ als Modalpartikel gebraucht und hätte das semantische Merkmal einer Abschwächung (vgl. Weinrich 2005/3: 849f). Für Letzteres spräche das anschließende kurze Lachen von N, das durch ihre Unsicherheit motiviert wäre, die sie überspielen will, um möglichst unbefangen auf das zugehen zu können, was von ihr erwartet wird. N ratifiziert an dieser Stelle zunächst nur die Situation, nämlich dass aufgenommen wird, noch nicht aber die inhaltliche Seite der Sache. Sie wird sich durch die Frage der Interviewerin bewusst, dass diese in Bezug auf das Thema noch der Zustimmung ihrer Interviewpartnerin bedarf, um ihr Vorhaben durchführen zu können. Demnach ist die Interaktion weniger hierarchisch strukturiert, als sich dies zunächst andeutete. 3 I: ihr seid’s ja jetzt schon gewöhnt ne (.)/ … „Ihr“ gibt Aufschluss darüber, dass N momentan zwar als Einzelperson befragt wird, dass sie aber gleichzeitig Mitglied einer größeren Personengruppe sein muss. Eine ähnliche Interaktion wie die aktuelle zwischen I und N muss demnach auch mit anderen Partnern, d. h. mehrmals stattgefunden haben, auf die I zurückblickt. Der temporale Bezug ist markiert, indem „schon“ hier als TempusAdverb gebraucht ist und eine Art stillschweigender Erwartung impliziert. Die Verbindung mit „ja jetzt“ weist auf einen Kontrast hin, d. h. „jetzt“ muss einen Unterschied zu dem Zurückliegenden bezeichnen. Dieser Kontrast wird durch das Wort „gewöhnt“ deutlich gemacht, womit I sagt, dass sie alle (die Gruppe) „es“ (das Aufgenommen-Werden) schon so oft gemacht hätten, dass sie es jetzt schon gewöhnt seien. I beschließt ihre Annahme mit „ne“, was im Sinne von 108 Zur Etymologie des Wortes „schon“ vgl. hier Jacob und Wilhelm Grimm 1984: 1145, Abschnitt e)
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„nicht wahr“ gemeint und Bestätigung erheischend ist, keine wirkliche Frage (etwa im Sinne von „Das ist doch so, oder?“), auf die N antworten könnte. Das Thema der Zusammenkünfte muss also für I wichtig und für N zumindest nicht gleichgültig sein, sonst würde I nicht annehmen, es handle sich hier um einen Interakt, der für die daran teilnehmende Person gewöhnungsbedürftig oder störend sein könnte. Für N hingegen kann die Sache schon darum nicht völlig gleichgültig sein, weil sie an entscheidender Stelle ihrer Zustimmung trotz grundsätzlicher Gesprächsbereitschaft eine gewisse Distanzierung vornimmt. N hätte damit die Möglichkeit, das Begehren von I abzuwehren oder auf das Risiko einzugehen und es zu ratifizieren. 4 I: ja also /… I setzt jedoch ihre Äußerung fort und beschließt ihre Bemerkung („ihr seid’s … gewöhnt“) mit „ja“. Unmittelbar danach eröffnet sie durch „also“ ein neues Thema. Man vermutet nun eine unmittelbare Aufklärung darüber, was I von N erwartet. 5 I: über Zeugnissprüche hatten wir uns ja schon unterhalten (.) „Über Zeugnissprüche“109 heißt, dass I sich mit ihrer Partnerin über das Thema „Zeugnissprüche“ im Allgemeinen ausgetauscht hat, wie sich aus der Pluralform („Zeugnissprüche“) und dem fehlenden Artikel schließen lässt. Durch „hatten wir … schon“ wird von I festgestellt, dass es bereits eine ähnliche Zusammenkunft zwischen ihr und N gegeben hat, wobei offen bleibt, ob „wir“ sich lediglich auf I und die Schülerin bezieht, oder ob damals noch weitere Personen beteiligt waren. Der Gebrauch des Plusquamperfekts legt nahe, dass für I das unlängst besprochene Thema („Zeugnissprüche“) abgeschlossen ist und sie ihre Interviewpartnerin heute zu etwas anderem befragen will. I verwendet für die letzte gemeinsame Interaktion den Ausdruck, sie habe sich mit N (und möglicherweise auch anderen) darüber „unterhalten“. Die Formulierung „sich unterhalten“ wird in der Regel dann verwendet, wenn es sich um einen Gesprächsinhalt handelt, der für keinen der Beteiligten prekär werden könnte, über den alle sich unbefangen, in einer entspannten Atmosphäre austauschen können. Durch eine gewisse emotionale Distanz zum Inhalt werden die Gesprächspartner, selbst wenn die Unterhaltung lebhaft werden sollte, in ihren persönlichen Emotionen weniger tangiert, sind weniger verletzlich als in anderen Formen des Dialogs (wie z. B. in einem Vorstellungsgespräch, einer Beichte, 109 Ausführlich dazu vgl. Kap. 2.1.1.2.
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4 Fallrekonstruktionen
einer mündlichen Prüfung). Dadurch entsteht in unserem Fall eine gewisse Diskrepanz zum Vorigen, nämlich der durch die Absicht des Aufnehmens markierten Wichtigkeit der Sache für I selbst. I vermittelt mit dieser legeren Formulierung den Eindruck, man habe sich (über Zeugnissprüche) unterhalten wie zwei Partner gleichen Alters oder in gleicher Position bzw. wie zwei Gleichgesinnte. Dies wäre motivierbar unter der Prämisse, dass I untertreibt und die Bewährungsanforderung an N herunterspielt, um – ähnlich wie ihre Entspannungsabsicht in 2 I – ihrer Interviewpartnerin den Gesprächseinstieg zu erleichtern. Damit wissen wir erstens, dass sich das „ihr“ in 3 I auf N und ihre Klasse bezogen haben muss. Zweitens ist durch den Gebrauch des Terminus „Zeugnissprüche“ klar, dass N Schülerin einer Freien Waldorfschule sein muss, da dies die einzige Schulform ist, in der den Schülerinnen und Schülern ergänzend zur verbalen Leistungsbeurteilung so genannte „Zeugnissprüche“ gegeben werden. N müsste nun in bestätigender oder widersprechender Form auf die Feststellung von I reagieren. 2 N: m-ja (.) Bevor sie antwortet, spricht N eine Art „m“, so wie wenn jemand bei geschlossenem Mund ausatmet, um einen winzigen Augenblick zu überlegen. Das „m“ markiert auch hier einen Moment der Reflexion, bevor N der Äußerung von I aus 5 I zustimmt. 6 I: und jetzt interessiert mich einfach em wie sieht es aus mit der Gedichtarbeit jetzt (2) I leitet über zu einem neuen Thema („und“), dem sie eine zeitliche Orientierung in einer eher neutralen Perspektive hinzufügt („jetzt“)110 sowie die Mitteilung, sie sei an etwas „interessiert“. Damit wird die Ebene der Routine wie auch der Rekurs auf vorausgegangene Unterhaltungen verlassen. Die Interaktion erhält so eine Richtung, eine Nuance positiven Gespanntseins von I auf das, was ihrem Interesse entgegen kommen könnte. Sie benennt dieses Interesse mit der Frage („wie“), wie es mit der „Gedichtarbeit“ aussehe. Damit sind zwei Dinge gesagt: Erstens bringt I Gedichte in Zusammenhang mit „Arbeit“, also einem Handlungsaspekt. Ihr Interesse richtet sich demnach nicht vorzüglich auf eine inhaltliche Auslegung, eher im Sinne der Frage: „Wie seid ihr damit umgegangen?“ o. ä. Zweitens markiert die Betonung auf dem Wort „Gedicht“ einen Kontrast zu dem Thema Zeugnissprüche und bekräftigt, dass dieses abgeschlossenen ist. Dies 110 Zu „jetzt“ Kluge 2002: 452; Weinrich 2005/3: 573
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impliziert, auch von N solle es möglichst nicht mehr berücksichtigt werden. Durch den Zusatz von „einfach“ wird das Interesse von I eine Spur zurückgenommen, was motivierbar wird unter der Voraussetzung, dass I die Bewährungsanforderung an N abschwächen will, etwa im Sinne von: „Das interessiert mich, aber geh einfach auf das ein, was dir dazu einfällt, was du denkst.“ Dem korrespondiert auch die Wendung „wie sieht es aus“, die häufig dann gebraucht wird, wenn jemand einen gewissen Überblick über etwas gewinnen will. Ein Beispiel dafür wäre etwa das Treffen von zwei Freunden, die sich längere Zeit nicht gesehen haben, und der eine den anderen fragt: „Sag mal, wie sieht’s denn aus mit deiner neuen Stelle, gefällt sie dir?“ oder „Wie sieht’s denn aus mit deiner Gesundheit?“ Ähnlich erwartet auch I von N zunächst einen ersten, allgemeinen Einstieg ins Thema. Dies wird durch das zweite „jetzt“ am Ende der Sequenzstelle unterstrichen. I interessiert sich explizit für das Jetzt, also die augenblickliche Situation, die N thematisch fokussieren soll. I will – wie schon die Wortverbindung von „Gedicht“ und „Arbeit“ zeigt – nicht allein inhaltlich über Gedichte sprechen, sondern sie interessiert sich ganz allgemein dafür, wie damit gearbeitet wurde, das heißt auch für die Art der Rezeption, die konkrete Unterrichtspraxis („wie sieht es aus“). Damit ist für N zwar klar, in welche Richtung das Interesse von I geht, nicht aber, an wen genau die Äußerung adressiert ist. N muss sich nun fragen, ob sie sich zu ihren eigenen Erfahrungen oder zu allgemeinen Eindrücken ihrer gesamten Klasse oder einer bestimmten Gruppe äußern soll. 7 I: und da würd ich gern wissen (2) I leitet nach einer kurzen Pause mit der Konjunktion „und“ über zu „da“, woraus wir unter Einbezug von 6 I zwingend auf einen Bezug zur Gedichtarbeit schließen können, etwa im Sinne von „in Bezug darauf“. Im Zusammenhang damit „würd(e)“ I gern etwas „wissen“. Die konjunktivische Formulierung verweist darauf, dass an das, was I gern wissen würde, die Zustimmung oder Bereitschaft ihres Adressaten geknüpft ist, ihr dieses Wissen wie auch immer zu verschaffen. Da sie den Adressaten nicht direkt nennt, kann hier lediglich vermutet werden, dass sie N anspricht. Durch den Zusatz von „gern“ kleidet sie ihr Begehren quasi in die Form eines noch unerfüllten Wunsches. Zugleich widerspricht die Formulierung ihrer Äußerung aus 6 I, in der sie ein Interesse bekundete, und gerät stattdessen in das Fahrwasser von Wissensfragen. Falls N gemeint ist, riskiert I damit, dass erstere sich nicht mehr allgemein als Person, sondern in ihrer Rolle als Schülerin angesprochen fühlt, deren Wissenstand geprüft werden soll. Durch die implizite Bedingung der Zustimmung von N wird dies jedoch weniger riskant, denn diese hat nun die Möglichkeit, auf das Wissensbegehren von I entweder einzugehen oder es im Extremfall auch abzulehnen. I macht am Ende der
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4 Fallrekonstruktionen
Sequenzstelle eine kurze Pause. Sie müsste nun fortfahren mit einer Explikation dessen, was sie von wem auch immer wissen will, etwa: „Was hat dir/euch an der Gedichtarbeit gefallen?“ oder: „Wie war das für dich?“. 8 I: was sie erinnern aus den Jahren davor (2) I wendet sich mit einer Frage („was“) an „sie“, wobei offen bleibt, an wen dieses „sie“ gerichtet ist. Dafür gibt es im Grunde nur eine Erklärungsmöglichkeit. Um die Analyse nicht zu verwässern, möchte ich die zweite, grundsätzlich zwar denkbare, aber unsinnige Lesart, mit „sie“ könnten mehrere, am Interview nicht beteiligte Außenstehende gemeint sein, z. B. die Klasse von N, sogleich ausschließen. Da wir grundsätzlich vernunftgeleitetes Handeln voraussetzen dürfen, wäre es höchst erklärungsbedürftig, warum I mit N über etwas sprechen wollte, was die gesamte Klasse oder eine Gruppe daraus betrifft, d. h. was diese („sie“) „erinnern“. Die schlüssige Lesart des „sie“ ist vielmehr ein unerwartetes, allerdings ebenso erklärungsbedürftiges Übergehen der I vom „Du“ (vgl. 2 I) zum „Sie“. Motivierbar wäre dies unter der Voraussetzung, dass I aus irgendeinem Grund in ihrem Verhältnis zu N unsicher geworden wäre, z. B. weil ihr ihre Ungeschicklichkeit aus 7 I bewusst wird. Diese Unsicherheit – die durch die kurze Pause gedeckt wäre – käme hier in Form einer ambivalenten Beziehungsstruktur zum Ausdruck. Entsprechend müsste das „sie“ in dieser Sequenzstelle groß geschrieben werden („Sie“). Wir können also davon ausgehen, dass I fragt, was N erinnert „aus den Jahren davor“. N soll demnach nicht nur zu „jetzt“ etwas sagen (wie in 6 I), sondern auf die „Jahre davor“ zurückblicken. Diese plötzliche Erweiterung des Zeitrahmens auf etwa acht Schuljahre (von „jetzt“ zu „aus den Jahren davor“) wäre dann gerechtfertigt, 1.
2.
wenn I, während sie formuliert, Aspekte ihrer Fragestellung bewusst geworden wären, die eine Korrektur des Zeitrahmens sinnvoll erscheinen lassen. Auch dafür sprächen die beiden kurzen Pausen, die I jeweils nach 7 I und 8 I macht; oder wenn I um der Wichtigkeit des Themas willen den Zeitaspekt vergrößert hätte, damit ihr auch weiter zurück liegende Erinnerungen, Gefühle und Gedanken von N nicht verloren gehen.
Ziehen wir die Lesarten aus 6 I hinzu, lässt das erste „jetzt“ auf einen Bezug zur gegenwärtigen Situation von N (in der achten Klasse), das zweite auf das gesamte Zeitfenster der vergangenen acht Schuljahre schließen. I rekurriert damit auf ihre diffuse Anforderung aus 6 I: Sie erwartet von N, dass sie sich generell dazu
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äußert, wie es mit der Gedichtarbeit „jetzt“ und in „den Jahren davor“ (d. h. vor der achten Klasse) aussieht. 9 I: gibt’s da Gedichte die Ihnen besonders gut gefallen ham /… Nach einer kurzen Pause nimmt I einen weiteren Anlauf mit dem Ausdruck „gibt’s da“, der in der sparsamsten Lesart auf einen Bezug zur Gedichtarbeit schließen lässt („da“ d. h. in Bezug darauf, d.h. auf die Gedichtarbeit). Durch die Formulierung „gibt’s da Gedichte“ und den Gebrauch der Pluralform wird N allerdings eher zu einer Aufzählung als zu einer persönlichen Stellungnahme angeregt, etwa im Sinne von „ja, da gab es dieses und dieses und…“. Weiterhin bleibt unklar, welche Perspektive I an dieser Stelle übernimmt, d. h. die Forscherin befindet sich in gefährlicher Nähe der Lehrerin. Sie bleibt allerdings dabei, N zu siezen (was sie als deren Lehrerin nicht täte) und fragt nun nach Gedichten, die N „besonders gut gefallen“ haben. Damit ist N persönlich adressiert und gefragt, was ihr „besonders gut gefallen“ habe. Sie muss also nicht abheben auf eine „literaturwissenschaftliche“ Interpretationsebene, sondern es geht zunächst einmal um ein Gefühlsurteil. 10 I: die ihr gesprochen habt zusammen im rhythmischen Teil (.) I grenzt ihre Frage nach Gedichten ein auf diejenigen, „die ihr gesprochen habt zusammen“, wobei „ihr“ sich sinnlogisch auf N und ihre Klasse bezieht. Wiederum wechselt sie die Anredeform: I befindet sich auf der einen Seite, auf der anderen Seite agieren N und ihre Klasse („ihr“) in Form einer gemeinsamen Rezitation. Der Schwerpunkt der Frage von I liegt hier auf dem Aspekt des Sprachhandelns111 (Gedichte, die „gesprochen“ wurden). Sie will von N also etwas wissen über die gemeinsame Erfahrung der Schülerinnen und Schüler im konkreten Unterrichtsvollzug. Durch den Gebrauch des in der Waldorfschule gebräuchlichen Terminus „im rhythmischen Teil“112 zeigt sie ihre genaue Kenntnis von den Unterrichtsabläufen in dieser Schulform. Sie setzt dieses Insiderwissen unausgesprochen auch bei N voraus. Falls N den Terminus kennt, kann sie problemlos auf das gemeinsame Rezitieren eingehen. Kennt sie ihn nicht, könnte dies eine leichte Verunsicherung ihrerseits zur Folge haben, etwa im Sinne eines unausgesprochenen Selbstzweifels: „Rhythmischer Teil? Ist das etwas, was ich im Zusammenhang mit Gedichten kennen oder wissen müsste?“ In diesem Falle müsste N Verständnisfragen stellen, was eine gewisse Hürde für sie bedeutete und die Fortsetzung des Gesprächs erschweren könnte. 3 N: in der Schule oder zu Hause (.) 111 Mattenklott 2004: 18 ff; Bilstein ebd., S. 133 ff; Nilsson 2003; Urbanek 1995/2: 473 112 Genaueres dazu siehe Kap.2.1.
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N geht auf den Terminus „rhythmischer Teil“ nicht ein, sondern stellt eine Gegenfrage, die durch die Konjunktion „oder“ darauf hinweist, dass N eine der beiden Bezugsebenen ausschließen will. Wir erfahren zunächst einmal, dass für N neben der Schule auch ihr Elternhaus ein möglicher Ort ist, wo Gedichte „zusammen gesprochen“ werden. Konkret müsste man sich demnach vorstellen, dass Natalías gesamte Familie oder einige ihrer Mitglieder zu Hause gemeinsam Gedichte rezitieren. Dies ist insofern erklärungsbedürftig, als I in keiner ihrer vorherigen Äußerungen auf die Familie von N referierte bzw. sich in 10 I explizit auf die Klasse von N bezieht („ihr … zusammen“). Dies könnte motivierbar gemacht werden unter der Prämisse, dass N durch den Terminus „rhythmischer Teil“ verunsichert worden wäre und diese Unsicherheit durch einen erweiterten Bezugsrahmen überspielen will. Diese Lesart ist jedoch insofern schwach, als I bisher an keiner Stelle auf die Bedeutung von Lyrik innerhalb der Familie von N Bezug genommen hat bzw. sich in 6 I explizit nach „der Gedichtarbeit jetzt“ (also im Unterricht) erkundigt. Es muss also einen anderen Grund dafür geben, dass N im Ungewissen darüber ist, auf welchen Ort sie sich momentan beziehen soll. Das Signifikante an dieser Stelle ist die Wichtigkeit, die N der Verortung beimisst. Logisch wäre gewesen, dass sie sich den Begriff rhythmischer Teil hätte erklären lassen. Stattdessen stellt sie als erstes die Frage der Differenzierung (Schule oder zu Hause). Zunächst einmal ratifiziert N implizit ihre Gesprächsbereitschaft in Bezug auf den Gegenstand der Zusammenkunft, nämlich das Thema „Gedichte“, und drückt zugleich ein unmittelbares Bedürfnis aus, dass sie sich in der sie betreffenden Bezugsgruppe situieren will, bevor sie sich weiter äußert. 11 I: in der Schule (,) wie hat sie das jetzt mit euch besprochen /… I beantwortet die Frage von N mit der knappen Feststellung, dass sich ihr Interesse auf die Schule beziehe und fragt anschließend danach, wie „sie“ (womit sicher nicht die Schule, sondern eine Lehrerin von N gemeint ist) „das jetzt mit euch besprochen“ habe. Aus dem bisher Gesagten lässt sich erschließen, dass „das“ in einem nicht näher explizierten Zusammenhang mit der „Gedichtarbeit“ stehen muss, die im Unterricht praktiziert wurde. Damit eröffnet I ein weiteres Thema. Sie möchte erfahren, in welcher Art und Weise („wie“) die Lehrerin etwas noch nicht Bestimmtes „mit euch“, also nicht mit N allein, sondern mit der gesamten Klasse besprochen habe. Der Themenhorizont wird dahingehend erweitert, dass N die Frage nach dem Umgang mit Gedichten auch in Hinsicht darauf beantworten soll, in welcher Art und Weise eine Kommunikation über einen noch nicht näher qualifizierten Unter-Fall des Themas „Gedichte“ von der Lehrerin durchgeführt worden sei.
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12 I: und nach welchen Kriterien habt ihr die ausgesucht (2) I fügt ihrer Fragestellung eine weitere Ebene hinzu und erkundigt sich nach Kriterien. Mit dem Begriff „Kriterien“ bezeichnet man die „unterscheidenden Merkmale“ (vgl. Kluge 2002:540) eines Gegenstandes, um diesen zu kennzeichnen und einzuordnen. Demnach soll N nun Merkmale nennen, wonach „ihr“, also die Klasse, „die ausgesucht“ habe. In 6 I und 9 I ging I aus von der generellen Frage nach der „Gedichtarbeit“ und nach Gedichten, die „ihr gesprochen habt“ bzw. die N gefallen haben. Demnach wäre die sparsamste Lesart dieser Sequenzstelle, dass „die“ sich hier auf mehrere Gedichte bezieht, die in der Klasse („ihr“) besprochen und ausgesucht wurden bzw. werden sollten. Unter Einbezug von 11 I differenziert I ihr Thema weiter aus und fragt erstens nach der Art und Weise, wie die Lehrerin „das“ (eine Rezitation vor einem größeren Publikum, ein Gedicht-Projekt, eine Klassenarbeit zum Thema o. ä.) besprochen, und zweitens, nach welchen Kriterien die Klasse Gedichte ausgesucht habe. Bisher hat N noch keine Möglichkeit, auf die Fragen von I zu antworten. Mit der Erweiterung auf mehrere Unterebenen muss ihr einerseits die Komplexität der Ausgangsfrage deutlich werden. Andererseits stiften die Umwege, mit denen I das Kernthema umschweift, tendenziell Verwirrung. Dies könnte zur Folge haben, dass N misstrauisch wird und sich fragt, was I denn nun tatsächlich von ihr wissen wolle, ob sie ihre ursprünglich locker eingeführte Frage („wie sieht es aus mit der Gedichtarbeit jetzt“) nun erweitere, ob sie das Thema wechsle u. ä. Die Anforderung an N wird damit faktisch erhöht. 13 I: aber jetzt mal zunächst ganz allgemein wie (1) was erinnern Sie aus der Vergangenheit (.) Durch die kurze Pause und die sich anschließende Formulierung „aber jetzt mal zunächst“ setzt I zu einem vorläufigen Resümee an. Man erwartet eine Art Zusammenfassung, vielmehr erhofft eine Eingrenzung ihrer Fragestellung, um N den Gesprächseinstieg zu erleichtern. Mit „zunächst“ deutet I an, dass das Thema keineswegs erschöpft ist, sondern dass sich Weiteres ergeben könnte. Stattdessen gibt I mit den Worten „ganz allgemein wie“ den Blick wieder frei auf den gesamten Fragehorizont. Vorher eröffnete Unterthemen (Art und Weise, Kriterien) werden damit wieder gebündelt zu der generalisierenden Frage „ganz allgemein wie“. I könnte nun zum Beispiel fortfahren: „Ganz allgemein: wie war das denn?“ Nach einer weiteren kurzen Pause verbessert I sich jedoch, indem sie das „wie“ durch das betont gesprochene „was“ ersetzt. Sie ist also nicht ausschließlich am Wie der Gedichtarbeit interessiert, sondern rekurriert wieder „ganz allgemein“ auf alles, was N „aus der Vergangenheit“ im Zusammenhang mit Ge-
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dichten erinnern kann. Durch diese Korrektur wird die Frage zwar nicht überschaubarer, doch eröffnet sich für N die Möglichkeit, an einem Punkt anzuknüpfen, zu dem sie einen individuellen Zugang hat oder von sich aus eine Beziehung herstellen kann. Wüssten wir nicht, dass N Achtklässlerin ist, dürften wir aus den Worten „aus der Vergangenheit“ schließen, dass N sich bereits in einer höheren Klassenstufe befindet. Das Festhalten an der Höflichkeitsform gegenüber N wird auch hier motivierbar aus einer gewissen Unsicherheit von I in Hinsicht auf den Status von N. Das distanzierte „Sie“ von I gegenüber N ist im Kontext von Forschung durchaus angemessen und heißt, dass sie mit ihrer Interviewpartnerin hier nicht aus der Perspektive der ehemaligen Lehrerin, sondern als Außenstehende kommunizieren will. Die Interaktionsstruktur kann somit als inhaltlich unklar, auf der Beziehungsebene jedoch als ausgeglichen bezeichnet werden. Nun folgt eine längere Pause. N nimmt sich Zeit zum Überlegen, bevor sie zu antworten beginnt. 4 N: ja also wir ham eigentlich schon immer viel gesprochen so Gedichte /… N ratifiziert mit ihrem „ja“, dass sie sich auf die Frage einlassen will, und beginnt nun, angekündigt durch das unmittelbare „also“, ihre Beschreibung. Sie hat sich von der umständlichen Gesprächsführung der I und den damit verbundenen hohen Bewährungsanforderungen nicht beirren lassen und kann sich offen und risikobereit dem von I angeschnittenen Hauptthema „Gedichte“ zuwenden. Zunächst einmal spricht sie aus der Perspektive ihrer schulischen Mitakteure („wir“ d. h. Lehrer u. Peers). Etymologisch geht der Ausdruck „eigentlich“ auf „selbst“, „besonders“, aber auch „wirklich“ zurück.113 Semantisch markiert die Modalpartikel „eigentlich“ eine anstehende Wendung bzw. einen Themenwechsel. In der Umgangssprache kommt diese Nuance zum Ausdruck, wenn jemand mit eigentlich ausdrücken will, dass er das Wesentliche einer Sache, eines Vorgangs oder Gefühls, eben das, was hinter dem Augenschein liegt, erfahren möchte. Fragt beispielsweise jemand: „Sagst du mir eigentlich die Wahrheit?“ oder „Hast du mich eigentlich gern?“, drückt er mit eigentlich einen leisen Zweifel, eine Frage oder Unsicherheit bezüglich der Äußerungen oder Gefühle des Anderen aus. Er möchte die ganze Wahrheit wissen, möchte sicher sein, dass nichts „dahinter steckt“, dass das Gedachte sich deckt mit den Worten, die ihm gesagt werden.
113 Bei Jacob und Wilhelm Grimm (7a) findet sich zu „eigentlich“, dass es ursprünglich als Synonym für „proprius, eigen bzw. proprie, accurate“ aber auch für „selbst bzw. seltsam und besonders“ gebraucht wurde. Im Etymologischen Wörterbuch des Deutschen (7b) wird zu „eigentlich“ bemerkt, dass es ursprünglich im Sinne von „wirklich, in Wirklichkeit, genau genommen“; dann aber häufig auch ähnlich wie „denn“ oder „überhaupt“ gebraucht werde.
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Das Wort eigentlich verwendet man jedoch auch bei gewissen Vorbehalten, Fragen oder Zweifeln an der eigenen Aussage. Man sagt zum Beispiel eigentlich, wenn man eine Frage oder einen Widerspruch nicht absolut oder allzu direkt sagen möchte, etwa: „Eigentlich ist er ein netter Zeitgenosse“ oder „Eigentlich muss ich jetzt nach Hause“; ein kleines „aber“ schwingt in beiden Fällen unausgesprochen mit. Bezogen auf diese Sequenzstelle verwendet N „eigentlich“ i. S. einer Wendung: Sie wendet sich der Frage zu und instruiert den Adressaten darüber, dass sie sich nun dem anstehenden Thema zuwenden wird (vgl. Weinrich 2005/3: 853). Aus dem „wir“ können wir schließen, dass sie sich mit ihrer Klasse vergemeinschaftet und sich auf die Realität des Unterrichts bezieht. Sie hätten „schon immer viel gesprochen“, sagt N. „Viel gesprochen“ kann uns einen ersten Aufschluss darüber geben, wie N und ihre Klasse „schon immer“ Gedichte bearbeitet haben. Durch die Verwendung des Wortes „gesprochen“ statt „besprochen“ (i.S.v. etwas auslegen) wird nämlich deutlich, dass N Gedichte bisher („schon immer“) maßgeblich als geformte Rede, also sprachhandelnd erlebt hat. „So Gedichte“ sagt sie anschließend, nimmt dabei aber keine Klassifizierung im Sinne einer Poetik vor. „So Gedichte“ kann heißen, dass N für Gedichte unempfänglich oder ihrer überdrüssig wäre, weil sie ihr in der Schule „viel“, vielleicht täglich begegnen (vgl. 3 N). Von daher hätte die Formulierung „so Gedichte“ vielleicht sogar einen leicht pejorativen Beigeschmack, zumindest würde N sich damit vom Umgang mit Gedichten distanzieren wollen. Es könnte aber auch heißen, dass N zuerst das aufgreift, was ihrer Erfahrung nach für die von I nachgefragte „Gedichtarbeit“ „schon immer“, also in den vergangenen Jahren, prägend war, nämlich das Rezitieren, d. h. das Erarbeiten von Gedichten als verbalakustische Kunstform. Unter Einbezug der Lesart aus 10 I ergibt sich zweite Lesart als die stärkere. 5 N: viele (,) verschiedene (,) ganz verschiedene (,) eigentlich /… Nachdem uns N in 4 N mitgeteilt hat, dass sie „immer viel (Gedichte) gesprochen“ haben, bekräftigt sie dies nochmals („viele“), d. h. es wurde eine große Anzahl von Gedichten rezitiert. Anschließend gibt sie uns zu verstehen, dass es „verschiedene“, „ganz verschiedene (Gedichte; HH) eigentlich“ gewesen seien. Ihre betont gesprochene Äußerung zeigt, dass sie hier nicht nur verschiedene Inhalte meint, sondern sie nimmt eine spontane, noch von ihrem Gefühl geleitete Differenzierung lyrischer Gattungen vor. Dies deutet auf eine hohe Sensibilität von N für poetische Sprache, die ihr zumindest auch durch den Unterricht vermittelt wurde und mit der sie charakteristische Merkmale von Gedichten intuitiv erkennen kann, sonst könnte sie nicht derart dezidiert von „verschiedenen“, „ganz verschiedenen“ Gedichten sprechen. Der Zusatz des Wortes „eigentlich“
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markiert, dass N die hohe Differenziertheit (das „ganz verschiedene“) von Gedichten hier nicht abstrakt, sondern spontan-gefühlsmäßig und aufgrund einer gewissen Empfänglichkeit für das Wesentliche von Lyrik fasst. N könnte nun fortsetzen, indem sie auf konkrete Beispiele zu sprechen kommt. 6 N: also jetzt in den höheren Klassen kommen halt auch /… Diese Anschlussmöglichkeit greift N nicht auf, sondern sie richtet den Fokus zunächst auf die „höheren Klassen“, denen sie sich offensichtlich zugehörig fühlt. Mit „jetzt“ bezieht sie sich also auf ihre gegenwärtige Schulstufe, die achte Klasse, aus deren Perspektive sie auf „niedere“ bzw. jüngere Klassenstufen zurück- oder hinunterblickt. Die folgende Wendung „kommen halt auch“ kündigt durch „auch“ etwas an, was einem Vorgang, einer Sache, einer Person oder Personengruppe hinzugefügt wird bzw. was zusätzlich bewältigt, bearbeitet oder sonst wie geleistet werden muss. Während N vorher den Blick auf das richtete, was gemeinsam getan („gesprochen“) wurde, wird an dieser Stelle thematisch, was aus der Perspektive der höheren Klassen zu der tätig-sinnlichen Erfahrung von Lyrik („auch“) auf sie zukommt oder kommen könnte. Dem inneren Kontext des Falles entsprechend könnte ein wohlgeformter Anschluss von N zum Beispiel sein: „Jetzt in den höheren Klassen kommen halt auch noch andere Aufgaben dazu“ oder „Jetzt in den höheren Klassen kommen halt auch die inhaltlichen Gedichtanalysen und die Formen der Lyrik hinzu“. 7 N: weist sie oft oftmals darauf hin /… Hier unterbricht N ihren Gedankengang, korrigiert ihre vorige Position („wir ham“) und setzt sich mit der Einführung einer „sie“ in eine unmittelbare Beziehung zu jemandem, der „hinweist“.114 Wir können aufgrund der Sparsamkeitsregel annehmen, dass mit „sie“ die Lehrerin von N gemeint ist, die auf etwas noch 114 Zu „weisen“ zunächst Kluge 2002:981: „Die Bildung gehört sicher zu (ig.) [indogermanisch HH] *weid- ‹erscheinen, sehen, wissen›…, bei der auch die Bedeutung ‹bestimmen, anweisen› auftritt. Die morphologischen Zusammenhänge sind aber unklar; eine Ableitung von ‹weise› ist unwahrscheinlich.“ Im alltäglichen Umgang gebraucht man das Wort „hinweisen“, wenn etwa jemand die Orientierung verloren hat oder in seinen Gedanken bzw. einer Arbeit nicht weiterkommt und ein anderer ihn nun auf seinen Fehler oder eine entscheidende Stelle „hinweist“. Beispielsweise könnte eine freundliche Lehrperson in der Mathematikarbeit einen Schüler auf einen entscheidenden Fehler „hinweisen“, der, würde er nicht verbessert, den Fortgang der Arbeit erschwerte. Es dreht sich bei einem „Hinweis“ also weniger um eine Vorschrift, sondern um einen Fingerzeig, einen Wink, etwas, was entscheidende Folgen haben kann, aber doch „mit leichter Hand“ gegeben wird. Mit Hilfe eines Hinweises kann der Betreffende sich selbstständig aus der Zwickmühle befreien, aber er kann ihn auch außer Acht lassen. Wer auf etwas hingewiesen wird, kann damit also freier umgehen als jemand, der eine Maßregel oder Vorschrift zu befolgen hat.
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Unausgesprochenes hinweist. Offensichtlich hat N diese Lehrerin bereits längere Zeit, denn die Formulierung „jetzt in den höheren Klassen“ impliziert das Äquivalent einer früheren Zeit und weist auf eine Veränderung hin, die sich anbahnt und die N unterschwellig zu beschäftigen scheint, wie das Insistieren auf der Häufigkeit ausdrückt („oft oftmals“). N zieht also an dieser Stelle einen Vergleich: „Sie (die Lehrerin) in Klasse 1 oder 2“ vs. „sie…jetzt“. Die Lehrerin erklärt nicht, sie schreibt nicht vor, sie „weist auf etwas hin“. Die Gebärde des Hinweisens auf etwas anderes oder jemand anderen ist eine Bewegung von der Lehrerin nach außen hin; sie lenkt die Aufmerksamkeitsrichtung der Schüler weg von ihrer Person. Dies lässt darauf schließen, dass sie einen Teil ihrer personalen Autorität abgeben kann und den Schülern die Möglichkeit eröffnet, sich anderen Personen, Sachautoritäten oder Inhalten zuzuwenden. N müsste nun anschließen und das Objekt nennen, auf das ihre Lehrerin hinweist. 8 N: dass wir em em schauen sollen auf den tieferen Sinn /… Die Konjunktion „dass“, mit der N erwartungsgemäß fortsetzt, deutet den Zweck an, den die Lehrerin mit ihrem Hinweis beabsichtigt. Dabei verhaspelt sich N, so als ob sie schneller denke als spreche („em em“). Die Schüler sollen „auf den tieferen Sinn schauen“, sagt sie dann. Dem inneren Zusammenhang entsprechend muss „schauen“ hier im übertragenen Sinn gemeint sein; d. h. die Schüler sollen auf den tieferen Sinn „achten“. Die Worte „tieferen Sinn“ spricht N betont. Sie sondert jedoch nicht einen tieferen Sinn von einem „höheren“ nach Maßgabe eines Oben und Unten. Vielmehr hat sie ihre Lehrerin dem Zitat entsprechend so verstanden, dass die Schüler nicht auf das Oberflächliche, Äußere, den bloßen Inhalt, sondern auf das achten sollen, was über das Augenscheinliche hinaus den „tieferen Sinn“, mit anderen Worten die substanzielle Ausdrucksgestalt eines Gedichtes ausmachen könnte. Zugleich ergibt sich eine weitere Gegensätzlichkeit durch „in höheren Klassen“ und „den tieferen Sinn“. Dies passt zu einem tendenziellen Bedürfnis nach innerer Verortung. 9 N: das sind dann halt Gedichte die (,) vielleicht von was handeln /… Gedichte, die „vielleicht von was handeln“ haben einen narrativen Gehalt, einen externen Referenten; sie schildern einen realen äußeren Vorgang. Ein Beispiel hierfür wären Balladen; sie sind repräsentativ für Gedichte, die „von was handeln“, sei es nun von einer historischen Begebenheit, einer gefährlichen Situation oder etwas häufig Wiederkehrendes, das der Autor zur gebundenen Form „verdichtet“. Somit bestätigt sich unsere Vermutung aus 5 N, dass N zumindest zwei Gedichtgattungen unterscheiden kann: Sie weiß, dass es Gedichte gibt, die trotz unterschiedlicher Thematik doch immer mit davon leben, dass sie auf eine äuße-
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re Handlung referieren (N nennt es „von was handeln“), und andere, die von äußeren Ereignissen unabhängig sind und einer eigenen Logik folgen. Mit ihrem „vielleicht“ deutet N gleichzeitig an, dass ihr Gedankengang noch nicht abgeschlossen und nun eine adversative Konjunktion o. ä. zu erwarten ist. 10 N: aber eigentlich gar nicht das Handeln im Vordergrund steht sondern (,) dass es’n tieferen Sinn hat (1) Sie schließt nun wie erwartet an („aber“) und deutet mit „eigentlich gar nicht“ auf etwas Gegensätzliches hin, was sich sinnlogisch auf das Gedicht bzw. unter Einbezug ihrer Äußerung aus 9 N auf dessen Handlungsgehalt beziehen müsste, im Zusammenhang etwa wie: „die vielleicht von was handeln, aber so ist es gar nicht.“ Dies führt sie näher aus mit der Bemerkung „das Handeln im Vordergrund steht“. Nehmen wir die Äußerungen aus 7, 8, 9 N bis hierher zusammen, könnte man sie paraphrasieren wie folgt: „Die Gedichte, auf die meine Lehrerin hinweist, haben vielleicht einen Handlungsgehalt, aber dieser steht nicht im Vordergrund“. Das heißt, Gedichte mit narrativem Gehalt sollen von jenen unterschieden werden, die „eigentlich“ nicht um eines äußeren Ereignisses willen erzählt werden. Das „sondern“ lässt eine Art Korrektur erwarten, die N anschließend näher bezeichnen müsste. Sie tut dies, indem sie unterscheidet zwischen Gedichten mit narrativem Gehalt und solchen, denen ein „tieferer Sinn“ inhärent ist. Mit anderen Worten: N konzentriert sich an dieser Stelle nicht auf die eher äußere Handlungslogik eines lyrischen Gebildes, sondern sie deutet mit dem Adjektiv tief auf etwas hin, was einem Gedicht als innerer Gehalt, das Eigentliche („eigentlich“) zugrunde liegt und was sie auf irgendeine Weise beeindruckt hat. Dann macht sie eine kurze Pause. Sie könnte nun fortsetzen und sich entweder weiter dazu äußern, was sie mit „tieferen Sinn“ meint, oder auch dazu, wie die Schüler („wir“ aus 8 N) mit dem Hinweis der Lehrerin umgegangen sind. 11 N: und das hat sich halt schon verändert in der ersten Klasse spricht man andere Gedichte als (2) oben /… Mit „und das“ verbindet N die vorangegangene Sequenzstelle mit der Fortsetzung ihrer Äußerung und geht zu einem neuen Aspekt über: einer Veränderung, die sie bemerkt hat. Durch die Konjunktion „und“ wie auch „das“ ist zwingend, dass sich die Veränderung auf die zuvor von N konstatierte Differenz zwischen Gedichten, bei denen die Handlung im Vordergrund steht, und solchen mit „tieferem Sinn“ bezieht. Diese Veränderung müsste sie nun näher erläutern. Dies tut sie in Form einer Replik: „in der ersten Klasse spricht man“. Dies könnte sich ausschließlich auf Erfahrungen beziehen, die N in ihrer eigenen ersten Klasse gemacht hat, doch das generalisierende „man“ weist darauf hin, dass sie hier
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einen größeren Zeit- bzw. schulkulturellen Rahmen ins Auge fasst, sonst hätte sie sagen müssen: „In der ersten Klasse haben wir“. Der eher eingeschränkte Fokus auf ihr erstes Schuljahr wird hier erweitert und richtet sich nun auf den gesamten, zumindest an ihrer Schule in allen Klassen allgemein üblichen Umgang mit Gedichten. Aus dieser übergreifenden Perspektive kommt sie zu einer generalisierenden Einschätzung und sagt sinngemäß: „Man rezitiert in der ersten Klasse andere Gedichte als“; nun folgt eine kurze Pause, dann fügt sie mit Nachdruck hinzu „oben“, das heißt in höheren Schulstufen. Sich selbst, ihr Hier und Jetzt, sieht N noch nicht „oben“, sondern eher auf der Schwelle, zwischen „oben“ und „der ersten Klasse“, sonst hätte sie sagen müssen: „In der ersten Klasse spricht man andere Gedichte als wir“. Indem sie zurückblickt, erkennt sie so, dass bestimmte Dinge sich verändert haben; hier sind es der Inhalt der Gedichte und ihre metaphorische Sprache, die anders wurden. Obwohl ihr bewusst wird, dass sie selbst längst Distanz genommen hat von ihrer ersten Schulzeit, kann sie sich zu den höheren Klassen auch noch nicht zählen, denn mit „oben“ kann sie nur etwas bezeichnen, was aus ihrer jetzigen Perspektive noch ein Höheres oder Entferntes ist. Es deutet sich an dieser Stelle eine bedeutsame Veränderung in Bezug auf Wahrnehmungshorizont und Abstraktionsfähigkeit von N an, die dadurch zum Ausdruck kommt, dass sie jetzt von eigener Erfahrung abstrahieren und größere Zusammenhänge erfassen kann. 12 N: und das hat man auch schon gemerkt weil mein Bruder ist jetzt in der dritten (schluckt) und meine Schwester in der sechsten Klasse /… N setzt ihre Äußerung fort („und“) und bekundet, dass man auch schon etwas gemerkt habe. Dabei bleibt sie in der generalisierenden Form („man“). N sagt hier nicht „das hat man beobachtet“ oder „gespürt“, sondern verwendet das Wort „bemerken“. „Bemerken“ heißt so viel wie „kennzeichnen“.115 Bemerken kann man nur, was man mit offenen Sinnen wahrnimmt und anschließend reflektiert. Damit ist ein weiterer Hinweis gegeben auf die reflexiv-kognitiven Fähigkeiten von N und ihr hohes Abstraktionsniveau. Umgangssprachlich verwendet jemand den Ausdruck „das hat man auch schon gemerkt“, wenn der Sprechende über einen gewissen Zeitraum etwas aufmerksam wahrgenommen oder beobachtet hat und dabei zu einem bestimmten Eindruck, einer Anschauung, einer Erkenntnis gekommen ist, die er jedoch nicht unmittelbar, sondern erst in einem passenden Moment mitteilt.
115 Vgl. Kluge 2002: 614
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Gedankenexperimentell könnte man sich die folgende Situation vorstellen: Mehrere Erwachsenen sitzen zusammen und sprechen über einen abwesenden Bekannten, einen Geschäftsmann vielleicht, der aufgrund wirtschaftlicher Probleme einen gesundheitlichen Zusammenbruch erlitten hat. Dies wird nun von einem der Teilnehmer kommentiert mit den Worten: „Und das hat man letztes Mal auch schon gemerkt; da sah Herr Y so schlecht aus, dass ich den Eindruck hatte, er sei krank“. Das Charakteristische der Wendung „das hat man auch schon gemerkt“ ist demnach ein Bezug zu Symptomen, die jemand – meist an anderen Menschen – bemerkt, reflektiert, aber nicht verbalisiert hat. Erst im Nachhinein, im Zusammensein mit Anderen, wird auf diese bemerkten Symptome Bezug genommen und das vorher („schon“) Gemerkte/Gedachte ausgesprochen. Übertragen wir dies auf unseren Fall, müsste N uns nun entsprechend mitteilen, was sie „schon gemerkt“ hat. Sie setzt jedoch zunächst zu einer kausalen Begründung für das von ihr Bemerkte an („weil“) und lässt einen weiteren Einschub folgen mit der Mitteilung, ihr Bruder sei jetzt (also zum Zeitpunkt des Interviews) in der dritten, ihre Schwester in der fünften Klasse. Mit dieser eingeschobenen Episode erfahren wir, dass N einen etwa neunjährigen Bruder und eine Schwester von etwa zwölf Jahren hat. Möglicherweise ist sie die älteste von drei Geschwistern; auch ist anzunehmen, dass alle drei die Freie Waldorfschule B besuchen. Motivierbar kann diese eingeschobene Episode gemacht werden unter der Voraussetzung, dass die Geschwister in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem von N Bemerkten stehen. Zu erwarten wäre jetzt eine genauere Schilderung dessen, was N an ihren Geschwistern in letzter Zeit („schon“) wahrgenommen hat. 13 N: und das ist halt schon em lustig weil die ham genau machen genau das was ich auch gemacht hab und (2) N schließt jedoch ohne Unterbrechung an mit der Wendung „und das ist halt schon“. Das „ist“ deutet an dieser Stelle auf einen Zustand, der in irgendeiner Weise mit den Geschwistern zusammenhängen müsste. N könnte nachfolgend z. B. auf das Verhältnis der Geschwister zur Schule, zu ihr o. ä. zu sprechen kommen. Im Sinne der Sparsamkeitsregel und gedeckt durch den nicht unterbrochenen Redefluss von N ist es jedoch sinnvoll, dass „das ist“ mit ihren Geschwistern und dem Thema „Gedichte“ in Zusammenhang steht. N hält danach kurz inne („em“), bevor sie ausdrückt, was „ist“, nämlich das ist „lustig“. Das Gefühl, etwas sei lustig, mit der bloßen Tatsache, ihr Bruder besuche die dritte und ihre Schwester die sechste Klasse zu begründen, wäre unsinnig. Es muss also eine andere Erklärung für Natalías Empfindung geben. Scheinbar merkt sie diese logische Lücke auch und leitet mit „weil“ eine nähere Erklärung über den Grund ihrer Belustigung ein: „weil die (gemeint sind die Geschwister) ham genau“; hier
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unterbricht sie sich. N könnte nun sagen: „weil die ham genau die gleichen Gedichte rezitiert“ oder „weil die ham genau die gleichen Probleme wie ich sie hatte“. Sie korrigiert sich jedoch und knüpft wieder an ihren Gedanken aus 12 N an, nämlich dass „man“ etwas „merkt“, was sie unmittelbar anschließend ausspricht: Die Geschwister machen genau das, was sie auch gemacht hat. Dies ist der Anlass für eine gewisse positive Irritation, die sich in ihrem Gefühl und den Worten ausdrückt: „das ist halt schon em lustig“. Mit anderen Worten: Es macht ihr „Lust“116, ihren eigenen Umgang mit Gedichten mit dem zu vergleichen, den ihre Geschwister praktizieren, und im Blick darauf ihr eigenes Lernen zu reflektieren. N bewegt sich damit auf zwei Vergleichsebenen: Auf der ersten Ebene, in 11 N, hat sie ihre Erfahrungen der ersten Schuljahre reflektiert, hat darüber nachgedacht, ihre Eindrücke von damals verglichen mit dem Umgang mit Gedichten, wie sie ihn im Augenblick selber betreibt, und ist zu einem authentischen Urteil gekommen, das sie zunächst einmal generalisiert: In der ersten Klasse spricht man andere Gedichte als in der Oberstufe. Hier, in 13 N, vergleicht sie auf einer zweiten Ebene ihr eigenes Lernen, ihre eigenen Erfahrungen im Umgang mit Gedichten in der Schule mit dem, was ihre Geschwister machen; das heißt sie vergleicht die Übungssituation, den Handlungsaspekt bei der Erarbeitung von Gedichten (was sie „machen“). Dabei stellt sie fest, dass der Vorgang des Rezitierens bei den Geschwistern grundsätzlich identisch ist mit dem, was sie einstmals selbst geübt und erlebt hat. Offensichtlich wird auch zu Hause über Gedichte und das Rezitieren in der Schule gesprochen, zumindest unter den Geschwistern muss ein Austausch darüber stattgefunden haben, sonst könnte N nicht wissen, dass sie „genau das“ machen, „was ich auch gemacht hab“. Damit können wir die erste Lesart aus 4 N ausschließen, denn wenn N Gedichte uninteressant fände oder wenn sie ihrer überdrüssig wäre, würde sie mit ihren Geschwistern darüber nicht kommunizieren. Auch bestätigt sich die Annahme aus 12 N, dass alle drei Geschwister die Freie Waldorfschule B besuchen. 14 N: und das is (2) ja man merkt schon dass sie halt anders die Gedichte verstehn zum Beispiel einfach (2) 116 Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm 1984, Band 12: 1337-1339; „lust, in milderem sinne, von dem verlangen, welches durch seelische und verstandeskräfte bestimmt wird, hinneigung zu einem thun oder einem zustande“
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Nach den ersten Worten unterbricht sich N und macht eine kurze Pause. Ihre Formulierung „und das is“ könnte nun eine Replik auf 14 N sein, so als ob sie sagen wollte: „Und das (nämlich dieser Veränderungsprozess) ist es, was ich halt schon em lustig finde.“ Wahrscheinlich markiert sie jedoch durch ihr „ja“ die Eröffnung ihrer nächsten Ausführung. N verbleibt in der generalisierenden Form und sagt: „man merkt schon“, wobei „schon“ hier nicht temporal-deiktisch gemeint ist, sondern im Sinne einer gewissen Offensichtlichkeit. N stellt damit einen Bezug her zwischen den Geschwistern und den Erwartungen der I: Für sie ist es offensichtlich, „dass sie (d. h. die Geschwister) halt anders die Gedichte verstehn“. Während sie in 13 N eher die Gemeinsamkeit betonte („die machen genau dasselbe wie ich“), konzentriert N sich an dieser Stelle auf den Unterschied in Bezug auf das Verständnis (für den „tieferen Sinn“ eines Gedichtes, wie sie weiter oben sagte), das bei ihren Geschwistern „halt anders“ sei. Worin genau dieses anders geartete Verständnis der Jüngeren besteht, expliziert N nicht; sie konstatiert nur, dass es sich unterscheidet. Damit wird N im Blick auf ihre Geschwister die Veränderung ihres eigenen Lern- und Bildungsprozesses bewusst: a) auf der Ebene einer Passung von lyrischer Metaphorik und Entwicklungsstufe (11 N: „in der ersten Klasse spricht man andere Gedichte als …oben“); b) auf der Ebene von SinnVerstehen (14 N: „dass sie halt anders die Gedichte verstehn“). Auf der Basis ihrer eigenen Wahrnehmung und Reflexion entwickelt sie so eine eigene Theorie über die an Zeit gebundene Wandlung in der Aneignungsform von Gedichten, im Zugang zu lyrischer Sprache. Da N die Erfahrungsebenen beispielhaft anführt, lässt sich erwarten, dass sie diese später noch ergänzen werde. Sie beschließt die Sequenz mit dem Wort „einfach“, so als wolle sie bekräftigend sagen: „So ist das einfach.“ Danach macht sie eine kurze Pause. 15 N: sie könnens viel leichter auswendig lernen verstehn aber auch nich genmanchmal nich genau um was es da geht (I: hmhm) (3) In ihrer Reflexion über die Gedichtrezeption ihrer Geschwister („sie“) konkretisiert N nun, was sie an ihnen beobachtet hat, indem sie auf die kindliche Leichtigkeit hinweist, mit der diese „das“ (was sich hier nicht ausschließlich auf Gedichte beziehen muss) „auswendig lernen“ können. Sie fügt also den beiden zuvor genannten Ebenen eine weitere hinzu: c) das kumulative Lernen als Aufspeichern von Wissen („sie könnens viel leichter auswendig lernen“). Neben der Fähigkeit, etwas viel leichter auswendig zu lernen, sieht N eine weitere, die sie im Gegensatz oder als Ergänzung zur Kompetenz des Auswendiglernens sieht (deshalb fügt sie das adversative „aber auch“ hinzu). Was die jüngeren Geschwister („sie“) noch nicht können, benennt N mit der Erklärung: „sie…verstehn aber auch nich gen-“ (hier unterbricht sie sich und sagt ein-
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schränkend:) „manchmal nich genau um was es da geht.“ Dieses Manchmalnicht-genau-Verstehen des Wesentlichen lässt sich nun wieder verbinden mit dem von N zitierten Hinweis ihrer Lehrerin, dass die Schüler „schauen sollen auf den tieferen Sinn“ (siehe 8 N). Die Lehrerin traut ihren Schülern also etwas zu, was jüngere Kinder eben – hier macht N eine zeitliche Einschränkung („manchmal“) – „nich genau“ verstehen. „Nich genau“ heißt hier nicht, dass N ihrer Schwester und ihrem Bruder ein Verstehen generell abspricht, sondern nur, dass dieses Verstehen anders geartet, eben nicht „genau“ sei. Die Worte von N paraphrasierend könnte dies heißen: „Sie verstehen aber auch manchmal nicht so realistisch oder auch so abstrakt wie wir bzw. wie die Erwachsenen“. N zeigt hier eindrucksvoll, dass sie nicht nur in der Lage ist, dies alles zu bemerken, sondern sie kann ihre eigene Entwicklung reflektieren und von einem höheren Niveau aus den Vergleich des eigenen Umgangs mit Gedichten mit dem der Geschwister zu einem eigenständigen Urteil zusammenfassen. Erstes Zwischenresümee und Entwurf einer Fallstrukturhypothese Unmittelbar nachdem Natalía Inhalt und Procedere des Interviews ratifiziert hat, will sie sich darüber informieren, auf welche Bezugsgruppe sie sich einstellen soll. Dies ist insofern erklärungsbedürftig, als die Interviewerin ihr bisher keinen Hinweis dafür gegeben hat, auch der Umgang mit Gedichten im Elternhaus könne für sie von Interesse sein. Dass N mit ihrer Anschlussfrage („in der Schule oder zu Hause“) eine der beiden Bezugsgruppen ausschließen will, kann unter der Prämisse einer latenten „Ortsungewissheit“ als Stabilisierungs- oder Orientierungsversuch motivierbar gemacht werden. Auf die Frage der Interviewerin vergegenwärtigt sich Natalía ihr eigenes Lernen aus einer nachträglichen Perspektive am Beispiel von Bruder und Schwester und zeigt dabei für ihr Lebensalter bemerkenswerte reflexive Fähigkeiten. Durch den Prozess dieser Vergegenwärtigung und dem, was Natalía dabei „gemerkt“ hat und verbalisiert, hat sie die Möglichkeit, im Blick auf ihre Geschwister das eigene Lernen (und seine Verwandlung) nicht nur als Reproduktion, als „Lernen“ im Sinne eines Aneinanderreihens („die machen genau das, was ich auch gemacht habe“) zu sehen, sondern den Umgang mit Gedichten als einen individuellen Gestaltungsprozess zu reflektieren und zu formulieren. Dies wiederum wurde dadurch ermöglicht, dass sie sich von lyrischer Sprache zumindest andeutungsweise berühren ließ. Der Schritt zur Abstraktionsfähigkeit vollzieht sich bei N hier mit einer gewissen Leichtigkeit. Was sie bemerkt, „das ist halt schon lustig“. Sie wundert sich nicht oder sagt „das ist langweilig“, dass die Geschwister genau dasselbe
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machen, sondern drückt ihre Gedanken und das, was sie beobachtet hat, wie eine Art sinnlich-ästhetisches Genießen aus: Es macht ihr offensichtlich Lust, die eigene Entwicklung in der Retrospektive auf die Jüngeren zu erkennen, sie genießt ihre erwachende kognitiv-reflexive Fähigkeit, die ihr Veränderungen verständlich machen und aufgrund deren sie die Welt nun wie mit neuen Augen betrachten kann. Die Kontrastierung, aber auch die Gemeinsamkeit, die Natalía in Bezug auf Schwester und Bruder erlebt, sind für sie auch insofern interessant, als ihre aktuellen Erfahrungen im Zusammenhang mit Gedichten dadurch verstärkt werden. Durch den Veränderungsprozess, den sie an den Geschwistern bemerkt, vergegenwärtigt sie sich noch einmal, wie sie selber den Umgang mit Gedichten praktiziert und die Metamorphose vom leichteren Auswendiglernen hin zum Verstehen des inneren Gehalts (des „tieferen Sinns“) eines Gedichts erlebt hat. Zugleich zeigt sie, dass Gedichte für sie etwas sind, was sich nicht im Aufsagen oder Auswendiglernen erschöpft, sondern mit dem sie lebendigen Umgang pflegt, das sie sich zu eigen macht, einzeln, aber auch im Rahmen der täglichen Übungen im gemeinsamen Erfahrungshorizont der Klasse. Damit kann folgende vorläufige Fallstrukturhypothese formuliert werden: 1. Natalía befindet sich – wie ihr Stabilisierungsversuch gleich zu Beginn des Interviews zeigt – momentan in einer kaum merkbaren inneren Verunsicherung. Das Interview, in dem diese Verunsicherung zum Ausdruck kommt, fällt zwar als Interaktionstypus aus der Routine von Unterrichtsabläufen heraus, doch lässt sich material nicht nachweisen, dass dies die Ursache von Natalías latenter Verunsicherung sein könnte. Die Empathie, mit der sie auf die Fragen der Interviewerin eingeht, lässt vielmehr auf eine bemerkenswerte Kommunikationsbereitschaft und Offenheit im Umgang mit Lyrik schließen. 2. Aufgrund ihrer Erfahrungen und eines retrospektiven Vergleichs der eigenen Gedichtrezeption in der Schule mit dem, wie diese von ihren beiden Geschwistern praktiziert wird, kann Natalía in höchst eigenständiger Prägung Auskunft über einen Bildungsprozess geben, der durch lyrische Dichtung eingeleitet und dessen sie sich nun bewusst wurde. II. Sequenzen anfänglicher Äußerungen zum Gedicht „Die Stadt“ und dessen Interpretation 16 N: (3) ja (1) und sonst also (2) Bevor sie weiter spricht, macht N eine längere Pause, bestätigt mit „ja“ ihre Äußerungen zu dem, was sie an ihren Geschwistern und sich selber bemerkt hat und markiert zugleich ein Beschließen des Gesagten. Mit „und sonst also“ eröff-
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net sie nach einer weiteren kurzen Pause ein neues Thema, wobei „sonst“ durch das verbindende „und“ wie auch im Sinne der Sparsamkeitsregel hier sicher nicht mit der dem Wort häufig inhärenten Drohgebärde zu lesen ist („Sei still, sonst …“). Denkbar wäre, dass N sich an dieser Stelle auf die Ausgangsfrage von I und die vielen Unterthemen besinnen muss, so als wolle sie sagen: „Und was war das, was sie darüber hinaus noch wissen wollte?“. Mit „also“ leitet sie nun auf einen nächsten Gedanken über. Wir dürfen neugierig sein darauf, auf welchen der vielen von I genannten Aspekte sie eingehen wird (woran sie sich erinnere, was sie rezitiert habe, was ihr besonders gefallen habe, wie die Lehrerin es mit der Klasse besprochen habe, nach welchen Kriterien ausgewählt wurde und schließlich, woran N sich ganz allgemein erinnere). 17 N: wir ham das ausgewählt eigentlich (,) nach gar keinen Kriterien /… N wählt keine der zuvor genannten Anschlussmöglichkeiten, sondern positioniert sich nun wieder als Mitglied ihrer Klassengemeinschaft („wir“), nachdem sie zuvor ihre Wahrnehmungen und Reflexionen bezogen auf ihre Geschwister und sich in Form von Ich-Aussagen artikuliert hat. Damit zeigt sie eine klare Differenzierungsfähigkeit zwischen Aussagen, die lediglich sie selbst bzw. ihre Familie, und solche, die sie und ihre schulischen Mitakteure betreffen. Obwohl sie nun aus der Perspektive der Klassengemeinschaft spricht, stehen der Ausführung der Aufgabe „Gedicht auswählen“ zwei Möglichkeiten offen:
Erstens kann diese Auswahl eine gemeinsame Interaktion gewesen sein, d. h. die Lehrerin hätte eine (Vor-)Auswahl von ihr selbst als geeignet empfundener Gedichte getroffen und diese im Unterricht an die Schüler weitergegeben. Aus dieser Vorauswahl hätten die Schüler sich für ein passendes entscheiden können. Eine zweite Option wäre, dass jeder Schüler die an alle gerichtete Aufgabe selbstständig löste und wo auch immer Objekte seiner Wahl suchte.
N verwendet an dieser Stelle nicht wie I das Wort „ausgesucht“, sondern spricht von „ausgewählt“. „Auswählen“ heißt, dass aus mehreren Möglichkeiten ein bestimmtes Objekt herausgegriffen werden kann. Durch „auswählen“ wird eher die erste Option gestärkt, die besagt, dass die Auswahl Bestandteil des didaktischen Modells im Unterricht ist und weitgehend in der Hand der Lehrerin liegt. Wie die didaktischen Schritte im Einzelnen weiter vorgenommen wurden, wird nicht mitgeteilt. „Eigentlich“, fährt N dann fort, zögert kurz und fügt entschieden hinzu: „nach gar keinen Kriterien“. N schließt damit an die Frage von I aus 12 I an. Sie sagt damit, dass ihre Klasse und sie keine bestimmten Kriterien für die Auswahl
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der Gedichte herangezogen, sondern aus einem spontanen Impuls gewählt haben. Zu erwarten wäre nun, dass N Alternativen nennt, wonach sonst – wenn nicht nach bestimmten Kriterien – die Gedichte ausgewählt wurden. 18 N: wir ham einfach sie hat einfach ganz viele Gedichte em zusammengesucht und auch ab- alle schön abgeschrieben /…(I: hmhm) Indem N sich hier verbessert und aus dem „wir ham einfach“ „sie hat einfach“ macht, wird die erste Lesart aus 17 N konsistent: „Sie“, die Lehrerin, „hat einfach ganz viele Gedichte zusammengesucht“. Das Wort „zusammengesucht“ hat etwas Willkürliches (etwa wie „da und dort gesucht“), fast etwas Zufälliges (als wollte sie sagen: „wo immer sie etwas finden konnte“). Die Lehrerin hat also Gedichte aus mehreren Quellen (verschiedene Gedichtbände, ältere Lesebücher, Internet u. ä.) gesucht und sie den Schülerinnen und Schülern zur Wahl angeboten. Nachvollziehbare Kriterien, die die Lehrerin bei dieser Zusammenstellung womöglich geleitet haben, sind N nicht bekannt. Dann habe die Lehrerin sie alle ab-, hier bricht sie das Wort ab und verbessert sich: „alle schön abgeschrieben“. Vermutlich korrigiert sie sich, um die Bemühung ihrer Lehrerin durch das qualifizierende „schön“ anzuerkennen. I signalisiert zwischendurch Verständnis, N setzt die Episode fort. 19 N: und ab und zu mal welche vorgelesen /… Das Vorlesen der Gedichte durch die Lehrerin fand also „ab und zu“, das heißt in unregelmäßigen Zeitabständen statt bzw. erfolgte je nachdem, welche Augenblicke eines Unterrichtes die Lehrerin als geeignet sah. Das Vorlesen war demnach nicht an ein festes Programm oder eine bestimmte Unterrichtseinheit wie zum Beispiel den Deutschunterricht gebunden und hatte so für N einen gewissen Zufälligkeitsgrad. 20 N: und wenn’s ei’m angesprochen hat oder einem gefallen hat /… N beschreibt nun die didaktische Vorgehensweise ihrer Lehrerin bei der Einführung der Gedichte. Das Entscheidungskriterium für die Schüler war demnach, dass es „ei’m (= einem) angesprochen oder einem gefallen hat“. Die Formulierung „es hat mich angesprochen“ und „es hat mir gefallen“ wird gewöhnlich dann verwendet, wenn etwas von außen, etwa eine Farbe, eine Musik, ein Bild, eine Fotografie oder eben auch ein Gedicht so auf jemanden wirkt, dass er sich dazu wie durch einen Zuruf angeregt fühlen kann, sich mit dem Objekt zu beschäftigen.
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Um sich von etwas ansprechen zu lassen, ist in der Regel ein Augenblick der Muße, des Herausgehobenseins aus dem Alltag oder ein starker Reiz nötig. Was in einem solchen Augenblick in positiver oder auch befremdender Weise „anspricht“, kann zum Nachdenken, zum Abstandnehmen, zu einem anderen Blick auf die Welt, auf sich selbst anregen. Anders verhält es sich mit dem Wort „gefallen“. Ursprünglich wurde es gebraucht im Sinne von „etwas zufallen“, oft auch in Verbindung mit dem qualifizierenden Adverb „wohl-“. Etwas „erregt mein Wohlgefallen“ sagte man früher, oder auch „etwas wohlgefällig aufnehmen“ (zum Beispiel ein Opfer im Alten Testament); oder auch „er sah sie mit wohlgefälligen Blicken an“. Nach wie vor ist dem Ausdruck „es hat mir gefallen“ der Charakter des (Mir-)Zugefallenen inhärent: Etwas kann spontan entzücken, mit Bewunderung erfüllen oder einfach gefällig und bis ins Körperliche hinein angenehm sein. „Das hat mir gefallen!“ ist ein Gefühlsurteil, das in der Regel spontan getroffen wird. Während „Es hat mich angesprochen“ sich eher auf der reflexiven Ebene abspielt, ist der Ausdruck „Es hat mir gefallen“ eher emotional tingiert. Mit dieser Formulierung verweist N auf das Zusammenspiel der beiden Ebenen: Etwas teilt sich ihr mit auf der Ebene des spontanen Gefühls, schlägt Wurzeln in ihr, und indem sie es sich aneignet, beginnt es von innen heraus zu ihr zu sprechen. Diese feine Differenzierung des sprachlichen Ausdrucks für das, was sie beobachtet, korrespondiert mit dem, was bereits beim Vergleich des eigenen mit dem Lernen ihrer Geschwister als Differenzierungsfähigkeit von N festgehalten wurde. 21 N: dann konnte man sich melden und das (,) dann nehmen (.) N nennt nun sehr genau die weiteren Schritte der methodischen Vermittlung. Wenn „man“ sich angesprochen fühlte bzw. an einem Gedicht Gefallen fand, „dann konnte man sich melden und das“ – hier zögert sie kurz, wie um das passende Wort für das zu finden, was sie sagen will – und setzt dann fort: „dann nehmen“. Die etymologischen Zusammenhänge des Verbums „nehmen“ sind komplex; erhellend ist in diesem Fall die Verbindung zu griechisch némô = „ich teile aus, eigne mir an, besitze“.117 Auch hier bestätigt sich, wie präzise N formuliert. Sie sagt nicht: „man konnte das haben“ oder „man konnte das kriegen“, sondern verwendet das Verb „nehmen“ im Sinn des Ergreifens. Mit anderen Worten könnte sie sagen: „Man konnte das mit dem Gedicht beschriebene Blatt dann als eine persönliche Gabe in Empfang nehmen, um es sich zu eigen zu machen“.
117 Kluge, a.a.O., S. 648
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14 I: hmhm (1) das heißt ihr habt sie erst mal gehört von ihr (N: hmhm) und dann spontan euch entschlossen aha das könnt’s sein (N: ja) Während N den Vorgang des Auswählens als eine vom Gefühl des Gefallens, des Angesprochen-Seins ausgelöste Tätigkeit schildert (melden, nehmen), reflektiert I auf die Ebene der Perzeption und geht vom Gehört-Haben als dem entscheidenden Faktor für die Gedichtwahl aus, wobei sie jeweils von N bestätigt wird. Demnach muss der Faktor Wahrnehmung für I von Interesse sein. Motivierbar wäre die Rückfrage aufgrund des breiten Interessensspektrums der I, also auch an der perzeptiv-aktiven Seite der Gedichtrezeption. 15 I: hmhm (,) schön (,) und jetzt dieses die Stadt (2) em [N unterbricht: Theodor Storm (’)] ja (2) Mit dem bestätigenden „hmhm“ von I wird das Resümee der didaktischen Vorgehensweise der Lehrerin mit einer dem zustimmenden „ja“ gleichbedeutenden, Übereinstimmung signalisierenden Dialogpartikel („schön“) abgeschlossen. Nach einer Zäsur leitet I mit dem akzentuierten „und jetzt dieses“ einen Anschluss ein, der zunächst irritiert („die Stadt“), weil er rein grammatisch unstimmig ist. Ziehen wir jedoch hinzu, wie I in 14 I begonnen hat („ihr habt’s gehört … dann spontan euch entschlossen aha das“), wäre die sparsamste Lesart für diese Formulierung, dass I den impliziten Bezug herstellt von einem von jedem Schüler als passend zu bestimmenden Gedicht („das könnt’s sein“) zu dem, was von N selber gewählt wurde. Stillschweigend setzt sie voraus, dass N weiß, was ausformuliert etwa hieße: „Und jetzt möchte ich mit dir sprechen über das, was du dir gewählt hast, nämlich das Gedicht „Die Stadt“. Die grammatisch korrekte schriftliche Darstellung müsste also Gänsefüßchen oder andere Formen des Hervorhebens zu Hilfe nehmen, um kenntlich zu machen, dass es sich bei „Die Stadt“ um einen Titel (hier: eines Gedichtes) handelt. Damit wissen wir zugleich, dass I bereits vorher durch wen auch immer über die Entscheidung von N informiert worden war.118 Nun macht I eine kurze Pause. Unmittelbar nachdem sie zur Fortsetzung ihrer Äußerung ansetzt, nennt N den Namen des Dichters. Diese Unterbrechung wäre ein begründeter Sprechakt unter der Prämisse, dass N sich vergewissern wollte, ob sie und I vom selben Gegenstand bzw. Gedicht sprechen, da im Lyrikkanon mehrere Gedichte dieses Titels vorliegen. I bestätigt mit einem knappen „ja“, lässt den Einwurf von N aber auf sich beruhen und macht 118 Um in der Analyse keine überflüssigen Umwege zu machen, sei an dieser Stelle ein „Sprung“ in den Kontext gestattet: Frau B hatte der I gesagt, welche Gedichte ihre Schüler jeweils zur Aneignung ausgesucht und in Form besagter Abschrift mitgenommen hatten. Daher wusste sie, dass N sich für das Gedicht „Die Stadt“ von Theodor Storm entschieden hatte.
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eine Pause. Wir wissen damit erstens, dass I mit N über Storms Gedicht „Die Stadt“ sprechen will und zweitens, dass N dieses Gedicht zur Aneignung ausgewählt hat. Ein direkter Anschluss wäre nun, dass I den von N geworfenen Köder („Theodor Storm“) schnappt und a) auf den Dichter, b) auf den Textinhalt des Gedichtes oder c) darauf eingehen wird, wie N zu ihrem Gedicht gefunden habe. Eine andere Anschlussmöglichkeit wäre, dass sie sich d) mit einer Art Begründungsbegehren an N wendet. 16 I: können Sie mir’n bisschen sagen (,) warum Sie das gewählt haben (,) was hat Sie denn angesprochen daran /… I setzt an mit Anschlussmöglichkeit d), indem sie N mit der Frage konfrontiert, ob N ihr etwas sagen könne. Sie schwächt ihr Begehren jedoch gleichzeitig ab mit der etwas lockeren Zuhilfenahme der Wendung „n bisschen“. Nachdem sie in 15 I die Sprache auf das von N gewählte Gedicht gebracht und damit den Erzählimpuls ihrer Interaktionspartnerin angeregt hat, fokussiert I das weite Feld all dessen, was mit dem Gedicht zusammenhängt, auf den schmalen Grat des „Warum“. Dadurch werden die Ebenen des Gefühls, der individuellen Aneignung und Reflexion, die N zuvor schon thematisiert hatte, gekappt. Die Möglichkeit einer eigenständigen Schilderung von N, wie sie persönlich zu „ihrem“ Gedicht gefunden, was ihr daran gefallen habe (das einzige Entscheidungskriterium der Lehrerin!), ist damit nur noch schwer zugänglich, da sie nun zu einer argumentativen Begründung aufgefordert ist. I merkt offensichtlich, dass sie N mit dieser Anforderung einschränkt, und versucht dies zu heilen, indem sie die Bühne wiederum vergrößert, die Formulierung von N aus 20 N aufgreift und schließlich fragt, „was“ N daran „angesprochen“ habe. Damit hat N die Möglichkeit, zumindest auf einen von ihr selbst genannten Aspekt der Gedichtwahl einzugehen: der eher bewusst-reflexiven Auseinandersetzung. 17 I: vielleicht lesen Sie’s mir grade mal vor dann können wir mal vergleichen /… I setzt fort, indem sie ihr Anliegen weder in Form einer direkten Frage (etwa: „Würden Sie’s mir mal vorlesen?“), noch einer Bitte formuliert („Bitte lesen Sie’s mir mal vor.“). Zwar impliziert das „vielleicht“ am Anfang die Alternative eines „vielleicht auch nicht“, doch tendenziell hat ihre Formulierung eher den Charakter einer Aufforderung, und zwar gerade durch den abschwächenden Zusatz von „grade mal“. Die Aufforderung von I gerät so zur Nebensächlichkeit im Sinne von „Machen Sie das doch eben mal, es ist ja nicht schwer!“ und bringt zugleich zum Ausdruck, dass I nicht daran zweifelt, N werde der Aufforderung nachkommen. I begründet ihre Aufforderung mit dem Ziel „dann können wir mal vergleichen“. Offensichtlich müssen beide das Gedicht in schriftlicher Form
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vorliegen haben, denn sonst wäre der Vorschlag von I, die Texte zu vergleichen, unsinnig. Den Äußerungen von N aus 18 N zufolge könnte es so sein, dass diese ihr von der Lehrerin mit dem Gedicht beschriebenes Blatt und I einen Gedichtband bzw. eine Textabschrift mitgebracht hat. 18 I: manchmal ist der Druck anders [N: also öm] ein Wörtchen vielleicht anders (,) darauf kommt’s ja auch an (.) I begründet ihr Anliegen aus 17 I damit, dass „der Druck“ oder „ein Wörtchen vielleicht“ manchmal anders – sie meint wahrscheinlich fehlerhaft – sei. „Der Druck“ könnte sich auf den Druck des Gedichtes in einem Gedichtband beziehen. Dabei wird sie von N unterbrochen, die mit „also öm“ etwas zögerlich zum Sprechen ansetzt. I schließt ihr Bestreben um philologische Genauigkeit mit der Bemerkung ab, dass es darauf, nämlich auf angemessene und originalgetreue Drucklegung, ja auch ankomme. Motivierbar wäre die Aufforderung zum Textabgleich unter der Voraussetzung, dass I in dieser Hinsicht negative Erfahrungen gemacht hätte (nicht sorgfältig edierte Gedichtbände, fehlerhafte Wiedergabe im Internet etc.). Damit türmt sie die Anforderung an N auf, die nun weiß, dass ihr in I eine „Expertin“ gegenüber sitzt, der es buchstäblich auf jedes „Wörtchen“ ankommt. Die Aufforderung zum Vorlesen könnte indessen auch dadurch motiviert sein, dass I selbst hören will, wie N die Verse liest, ob sie ein Gefühl hat für Reim und Versmaß, auch ob das, was N zuvor mit „tieferem Sinn“ bezeichnet hat, sich in Stimme und Betonung ausdrückt. Dies wiederum korrespondiert mit der Nachfrage von I (vgl. 14 I) mit Bezug auf das Hören bei der Gedichtwahl. Allerdings käme I einer Rollenübernahme – von der Forscherin zur Lehrerin von N – gefährlich nahe. 22 N: „Am grauen Strand , am grauen Meer / und seitab lieg- (N stockt kurz, fährt aber unmittelbar danach fort:) liegt die Stadt / der Nebel drückt die Dächer schwer / und durch die Stille braust das Meer / eintönig um die Stadt / es rauscht kein Wald / es schlägt im Mai kein Vogel ohne119 Unterlass / die Wandergans mit hartem Schrei / nur fliegt in Herbstesnacht vorbei / am Strande weht das Gras / doch hängt mein ganzes Herz an dir / du graue Stadt am Meer / der Jugend Zauber für und für / ruht lächelnd doch auf dir, auf dir / du graue Stadt am Meer (.)120
119 In der Originalfassung heißt es: „es schlägt im Mai kein Vogel ohn’ Unterlass“ 120 N hat deutlich artikuliert vorgelesen. Ihr Sprachduktus ist insgesamt geprägt von starker Affektivität. Sie hat ihren Sprechrhythmus dem Versmaß Jambus angepasst, aber die einzelnen Verse dabei doch so betont, wie es ihrer persönlichen Interpretation entsprach. Die notierte Zeileneinteilung folgt der Betonung und Atemführung, die N beim Lesen des Gedichtes gemacht hat.
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Um den weiteren Verlauf des Interviews erschließen zu können, muss zunächst das Gedicht interpretiert werden. Zwar wäre es möglich, auf bereits existierende Interpretationen zurückzugreifen, doch sehe ich es im Sinne der Genauigkeit der Sequenzanalyse als sinnvoll an, dies zumindest skizzenhaft selbst vorzunehmen. Ich werde dabei allerdings, da es sich hier um ein bewusst ediertes künstlerisches Gebilde handelt, etwas freier vorgehen als bei der Analyse des Interviews.121 Exkurs: Interpretation des Gedichtes „Die Stadt“ von Th. Storm (1817-1888) Natalía hat den Titel des Gedichtes nicht mitgelesen. Aus der Analyse wissen wir aber bereits, dass es sich um das Gedicht „Die Stadt“ von Theodor Storm handelt, das dieser seiner Heimatstadt Husum als Ausdruck seiner fortdauernden Verbundenheit gewidmet hat. Trüge das Gedicht die Überschrift „Husum“, wäre lediglich ein Bezug auf ihren (geographischen und historischen) Eigennamen gegeben, der für jeden Fremden der gleiche wäre. Auch wenn das Gedicht „Eine Stadt“ hieße, wäre dadurch nicht die individuelle Vertrautheit bezeugt für einen Ort, an dem man wie der Storm Kindheit und Jugend persönlich erlebt hat. Hier also drückt sich bereits in der Überschrift durch den Gebrauch des bestimmten Artikels mehr aus, nämlich die Entschiedenheit für etwas Bestimmtes, eben für „die“ Stadt. „Der bestimmte Artikel schafft assoziative Beziehungen zu Erlebnissen, die wir gewissermaßen ‚vor’ dem Gedicht denken müssen, Unbestimmtes erhält das Gewicht des Bestimmten, Bedeutungsschweren“ (Urbanek, a.a.O.: 515).
Das Bild führt uns in eine Landschaft „am grauen Strand, am grauen Meer“; der Betrachter (Leser, Rezitierende oder Zuhörer) befindet sich im Übergangsbereich zwischen offenem Meer und festem Land. Durch die Reihung des Wortes „grau“ gleich in der ersten Verszeile wird angedeutet, dass die Stimmung nichts von südlicher Heiterkeit hat. Selten scheint die Sonne, über der gesamten Atmosphäre liegt eine leise Melancholie. Das abgeschattete Licht des Himmels scheint alle Farbigkeit von Meer und Land zu schlucken und in eine einheitliche Farbe einzuhüllen: in Grau. Das Graue erscheint aus der Mischung aller anderen Farben, die sich gegenseitig neutralisieren (vgl. Goethe, Werke, Band XIII, 1975/7: 314523). Es verändert sich je nachdem, welcher Farbanteil dominierend ist. Dadurch ergibt sich eine Fülle verschiedenster Nuancen von Grau: ein schwefliges Grau bei heranziehendem Gewitter, ein rosiges Grau nach Sonnenuntergang, ein Bleigrau an schweren Regenwolken. So auch in unserem Gedicht: Grau ist das Meer, grau der Sand, grau der Schlick des Wattenmeeres. Und doch kann dieses anscheinend so eintönige Grau sich nach allen Schattierungen hin verändern; an121 Vgl. Oevermann 2001: 8
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ders ausgedrückt: in ihm sind alle Möglichkeiten zur Veränderung und Nuancierung enthalten. Unentwegt verändert sich auch die Übergangslinie vom Meer zum festen Land hin durch den Wechsel von Ebbe und Flut; im Vergleich zu einer felsigen Küstenlandschaft mit ihren harten Konturen wirkt der Nordseestrand eher unbestimmt. Wechsel und Bewegung gehen vom Meer aus, das Land liegt passiv, wie in ruhiger Erwartung der Wellen. Der Blick des Betrachters ist auf die Weite des Horizontes gerichtet. Im zweiten Vers taucht etwas Neues auf: „und seitab liegt die Stadt“. Durch diese lakonische Gegenüberstellung von Meer und der „seitab“ liegenden Stadt wird das Grau von Strand und Meer zu einem Gemälde mit einer noch unbestimmten Dynamik. In der Zeit vor der Technisierung waren die Möglichkeiten zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Bewohner einer solchen Stadt ähnlich hart und beschwerlich wie im Hochgebirge. Die Erhabenheit einer extremen Landschaft schuf Bedingungen, durch die man gezwungen war, die Heimat zu verlassen und in der Fremde (hier: auf See oder in fremden Ländern) den Lebensunterhalt zu sichern. Gleichzeitig waren die Menschen gerade dort besonders heimatverwurzelt, wo sie sich dieses „Beheimatet-Sein“ besonders hart erkämpfen mussten. Selbst in der Fremde war die Heimat irgendwie gegenwärtig. Nicht zufällig also wird Theodor Storm für die Lage der Stadt das ältere Wort „seitab“ (für „abseits“) gewählt haben, bedenkt man, dass er ein anderes Gedicht mit dem Wort „Abseits“ überschrieben hat. In jenem Gedicht handelt es sich um ein einsames Haus, das tatsächlich „abseits“ von einem entfernten Dorf liegt. Kontrastiert man nun in unserem Gedicht „seitab“ mit „abseits“ oder „an der Seite“, wird deutlich, welche der drei genannten Möglichkeiten die hier stimmige ist. Schon die Vokalfolge wird um eine Nuance ausdrucksloser, wenn man statt der Originalfassung läse: „und abseits liegt die Stadt“. Läge die Stadt „abseits“, wäre sie in unserem Bild höchstens mit der Kirch-turmspitze sichtbar; die betonte Silbe wäre „ab“. Als das abseits Liegende wäre die Stadt unbedeutend. Hier aber liegt die Stadt „seitab“, das heißt zwar irgendwo an der Seite, in einer flachen, höchstens sanft gewellten Küstenlandschaft, doch der Blickwinkel des Betrachters ist so geweitet, dass er neben Strand und Meer die seitab liegende Stadt zumindest umrisshaft immer auch vor Augen (oder in der Erinnerung) hat. Die Form „und an der Seite liegt die Stadt“ scheidet wahrscheinlich deshalb aus, weil der Dichter in dieser Verszeile das zuvor verwendete Versmaß des jambischen Zweihebers absichtlich verkürzt hat, um die letzte Silbe („Stadt“) besonders zu betonen. Dies wäre nicht mehr gegeben, wenn Storm die Formulierung „und an der Seite liegt die Stadt“ gewählt hätte, denn erst durch die Verkürzung erhält das Wort „die Stadt“ besonderes Gewicht. Dies wird deutlich, wenn man sich beide Möglichkeiten vor Augen führt, besser: vorspricht:
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„Am grauen Strand, am grauen Meer oder: „Am grauen Strand, am grauen Meer Und seitab liegt die Stadt.“ Und an der Seite liegt die Stadt …“ Die folgende Zeile „der Nebel drückt die Dächer schwer“ lässt sogleich das Bild der „Stadt in Grau“ auftauchen: Nicht nur Strand und Meer liegen vor uns in allen Grauschattierungen, auch die „Dächer“ (als Synekdoche für die gesamte Stadt) werden „schwer gedrückt“ vom Grau des Nebels. Sie sind nicht nur Schutz, sie belasten und bedrücken auch. In Form eines Oxymorons beschreibt Storm die Widersprüchlichkeit zwischen der Stille der Stadt und dem brausenden Auf- und Abschwellen des Meeres: „und durch die Stille braust das Meer“. Das Meer braust durch die Stille hindurch, ist untrennbar mit ihr verwoben. „Stille“ ist das Abstraktum des mittelhochdeutschen Adjektivs „stille“, das im Außergermanischen vergleichbar wäre mit „schlafen“, „verstummen“, auch „überreden, besänftigen“ (Kluge, 2002: 885). Das heißt, das Leben der Stadt, sonst Zentrum urbaner Geschäftigkeit, ist hier weitgehend verstummt, wie der einzelne Farbton im Grau neutralisiert ist; die Stadt ist zur Funktion des Meeres geworden. „Brausen“ ist demgegenüber ein Ausdruck der Tätigkeit und dürfte in der Bedeutung von „schäumen, sieden“ aus dem Umkreis von „brauen“ stammen. „Die Bedeutung ‹stürmen› kann damit zusammenhängen, aber auch auf einer unabhängigen Lautmalerei beruhen“ (Kluge, 2002: 147). Storm bezeichnet also die Stadt durch ein Abstraktum („die Stille“), wohingegen er das Verb benutzt, um die nimmermüde Tätigkeit des Meeres („braust“) auszudrücken. Dieses Brausen hat trotz seiner Kraft etwas Monotones: „eintönig“ braust es um die Stadt. Es ist ein stürmisches und doch immer gleiches Geräusch, in dem jede Differenzierung verschluckt wird. „Eintönig“ ist so das akustische Pendant zum Einheitsgrau, in dem alle Farben aufgehoben sind. Von eintönigem Brausen ist die Stadt vollständig eingehüllt. Wer hier lebt, für den wird sowohl akustisch wie auch visuell alles vom Meer bzw. vom wässrigen Element dominiert. Es überwältigt alles, die Stadt kommt mit ihrem Leben nicht dagegen an. Mit dem brausenden Meer wird nun eine völlig andere Naturerscheinung in Beziehung gesetzt und variiert: „Es rauscht kein Wald“. Das Gehör bleibt weiter affiziert: Das brausende Meer wird verglichen mit dem Geräusch, das der Wald mit den Kronen seiner belaubten Bäume macht: Es rauscht. Dies Geräusch ist wohl auch einheitlich, doch wesentlich modulierter. Die ähnliche Vokalfolge in den Worten „braust“ und „rauscht“, die Kombination von „Meer“ und „Wald“ „wird vom Leser [oder Hörer] im Nacheinander als kunstvolles Gewebe und Bezugssystem [oder als Musikalität] wahrgenommen oder zumindest empfunden.“ (Urbanek 1995/2: 508)
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Hier aber, in „der Stadt“, „rauscht kein Wald“; nur das Meer braust „durch die Stille“ und der Wind raschelt nicht in den Baumkronen, sondern höchstens im Strandhafer. Hier weht er so stark, dass sich unmittelbar am Strande ein Wald nicht halten könnte. Im nächsten Vers: „es schlägt im Mai kein Vogel ohn’ Unterlass“ gibt es eine auffällige rhythmische Brechung, die sich jedoch klärt, wenn man die Struktur der drei Strophen bezüglich des Versmaßes betrachtet. Das Prinzip ist jeweils: 1. 2. 3. 4. 5.
zwei Mal jambischer Zweiheber: dito katalektisch: wie 1. wie 1. wie 2.
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Würde man den entsprechenden Vers nun wie N lesen, nämlich: „es schlägt im Mai kein Vogel ohne Unterlass“, wäre diese klare Struktur durch die fehlende Verkürzung in Vers zwei sinnlos gebrochen und nicht die beabsichtigte Wirkung erreicht. Diese wird deutlich, wenn man die zweite Silbe des Wortes „Vogel“ fast unterdrückt bzw. mit „ohn’“ zu einer einzigen Silbe zusammenzieht. Demnach heißt es (meines Erachtens in Übereinstimmung mit dem unaufhörlichen Schlagen der Singvögel): „es schlägt im Mai / kein Vog’l ohn’ Unterlass“. In den nächsten beiden Versen „Die Wandergans mit hartem Schrei / nur fliegt in Herbstesnacht vorbei“ wird die Wirkung des Kontrastes zwischen der grauen Meerlandschaft und dem Wald noch verstärkt, indem Storm den Wald in die schönste Phase seiner Wachstumsperiode verlegt: in die Zeit des Grünens im Mai, wenn am frühen Morgen „ohn’ Unterlass“, das heißt ununterbrochen, die Stimmen von Hunderten von heimischen Singvögeln in den Wipfeln der Bäume erklingen und nachts das Lied der Nachtigall zu hören ist. Wie anders in den Gefilden der Nordsee, wo im Gedicht nur die sibirischen Gänse („Wandergans“ nennt Storm sie) mit ihren lauten, nasalen Stimmen rufen, wenn sie „in Herbstesnacht“ vorbeifliegen, um in wärmere Gegenden zu ziehen. Das lärmende Schreien und Pfeifen der zahlreichen Wasser- und Brachvögel des Wattenmeeres ist zwar vorhanden, wird aber vom Brausen des Meeres übertönt. Ihre Stimmen wie auch die Rufe der rückkehrenden Gänse im Frühjahr spart Storm um des Kontrastes willen aus. Weiter heißt es fast lakonisch: „Am Strande weht das Gras.“ Damit wird noch einmal ein Gegensatz aufgebaut: Das Rauschen des Windes im jungen Grün des Waldes und das eher trockene Rascheln, das er verursacht, wenn er durch den Strandhafer weht. „Doch hängt mein ganzes Herz an dir, du graue Stadt am Meer“. So auch in der Liebeserklärung Storms an seine Heimatstadt: Alles Graue, Drückende, Eintö-
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nige wird nun durch „doch“ konzentriert im Blick auf „die Stadt“. Wie verlockend zuvor südlicher Glanz mit dem nebligen Grau der Stadt und ihrem reduzierten, vom Meer abhängigen Leben auch immer konkurriert haben mag („es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai kein Vogel“), es kann den Dichter nicht daran hindern zu bekennen, dass „doch“, mit anderen Worten „trotz allem“, sein ganzes Herz an ihr hängt, der grauen Stadt am Meer. Ihr gegenüber spricht Storm wie ein Jugendlicher aus dem überschwänglichen Gefühl einer ersten Liebe. Das Graue wird bedeutungslos, „die Stadt“ wird ihm zum Du, an das er sich persönlich wendet: „du graue Stadt“, so als wolle er sagen: „An dir hängt mein ganzes Herz; mögen andere Städte bunter, wärmer, glänzender sein: du bist es, die ich liebe“. Es mag sein, dass er ausgewandert ist und sein tatsächlicher Wohnort sich längst woanders befindet, das Gefühl der inneren Sesshaftigkeit verbindet er nach wie vor mit Husum, der grauen Stadt am Meer: Sie ist es, die das Gefühl uneingeschränkter Vertrautheit und Zuneigung (wie zu einem „Du“) im Dichter geweckt hat. Die nächste Verszeile: „der Jugend Zauber für und für“ könnte sich nun entweder auf wärmere Städte beziehen, von denen vorher gesprochen wurde, so als wollte Storm sagen: „Diese Fülle jugendlicher Lebendigkeit und Frische ist dir nicht gegeben…“ Eine weitere mögliche Lesart wäre, dass der Dichter hier seine Zuneigung zart andeutend begründen wollte, indem er etwa sagte: „Der Jugend Anmut, ihre Frische, ihre Träume und ihre Fülle sind es, die dich mir so lieb gemacht haben.“ Es muss also zunächst noch offen bleiben, ob sich „der Jugend Zauber“ hier auf „die Stadt“ bezieht. Durch „für und für“ wird die Bedeutung des jugendlichen Zaubers noch gesteigert. „Für“ im ursprünglichen Sinne von „vor; vorne, früh, erster“ (vgl. Kluge 2002: 322) würde etwa heißen, dass hier „der Jugend Zauber vor allem bzw. zu allererst“ (im Dichter) etwas noch Unausgesprochenes ausgelöst hat. Heute wird „für“ nur noch im übertragenen Sinne verwendet; hier ist es sinnvoll, es als Reihung der Worte „weiter“, „fort“ oder auch „mehr“ zu lesen: „Der Jugend Zauber (hat) mehr und mehr bzw. fort und fort (das verursacht, was…)“. Spürbar wird in jedem Falle die Temposteigerung, die treibende Kraft, die durch „für und für“ aus dem Vers spricht. Im folgenden Versabschnitt sagt der Dichter Näheres über den Zauber der Jugend: Er „ruht lächelnd“. Der Jugend Zauber ist also mit etwas untrennbar verbunden; er ruht auf dem, was noch unausgesprochen ist. Dieses Ruhen wird nun mit „lächelnd“ atmosphärisch bestimmt. Der Jugend Zauber hat hier nichts Geräuschvolles, nichts Lautes, er „ruht“. Beziehen wir an dieser Stelle den Aspekt der Lautsymbolik mit ein, fallen bei Storms Wortwahl sogleich die beiden „L“ in dem Wort „lächelnd“ auf. In Weinhebers „Ode an die Buchstaben“ heißt es zum „L“: „Gott ist milde und lässt dir / Leise folgen der Liebe L“ (zit. nach Urbanek 1995/2: 513). Mit dem Versmaß des jambischen Zweihebers fällt das nachfolgende „doch“ wiederum auf eine betonte Silbe: „ruht lächelnd doch“. Durch dieses
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zweite „doch“ wird ein unmittelbarer Bezug hergestellt zu dem vorausgehenden in: „doch hängt mein ganzes Herz an dir, du graue Stadt“. Das zweite „doch“ (auch hier im Sinne von „trotz allem“) wirkt wie eine Steigerung des ersten: Man erwartet nun endgültig Aufklärung darüber, worauf denn „der Jugend Zauber für und für“ lächelnd ruhe. Dies drückt der Dichter mit emphatischer Betonung durch den Zuruf aus: „auf dir, auf dir!“ Diese Stelle hat durch das jambische Versmaß und die Wiederholung etwas von einer freudigen Bestätigung, die der Dichter seiner Heimatstadt zuruft. Im letzten Vers rundet er sein Preislied ab, indem er die Stadt abschließend mit dem Namen anspricht, den er ihr als dem Ort seines inneren VerwurzeltSeins gegeben hat: „du graue Stadt am Meer.“
Zweites Zwischenresümee Natalía ist in der Lage, nach dem Vergleich mit den Geschwistern von sich aus auf das von I gewünschte Thema zu rekurrieren. Während sie den Vorgang des Auswählens so beschreibt, dass der Impuls vom Gefühl (des Gefallens und des Angesprochen-Seins) ausging und zum Entschluss führte, greift I das Thema von einer anderen Seite auf, indem sie bei ihrer Bestätigung den entscheidenden Grund für die Wahl in der Wahrnehmung (Hören) sieht. Die Möglichkeit, dass Natalía erzählen könnte, wie sie zu ihrem Gedicht gekommen sei, wird von I damit verbaut. Stattdessen fordert sie ihre Partnerin erstens zu einer argumentativen Begründung für ihre Wahl auf, zweitens dazu, die Verse zum gemeinsamen Textabgleich vorzulesen. Damit wird die Bewährungsanforderung an Natalía um den philologischen Aspekt erhöht. Eine Erklärung für den anfänglichen Stabilisierungsversuch von N gibt es bisher nicht. Der Aspekt von innerer Unsicherheit bzw. Ortsungewissheit aus der Fallstrukturhypothese hat sich demnach nicht bestätigt. III. Sequenzen des Zugangs zum Gedicht und subjektiver Bezug 19 I: hmhm Der kurze Sprechakt von I markiert eine Art mündlichen Beifall, um das Vorlesen von N zu würdigen und zugleich abzuschließen. Da I das Vorlesen des Textes nicht weiter kommentiert, zeigt sie ihre Erwartung, N möge ihre Frage aus 16 I aufgreifen und sich dazu äußern. Damit gibt sie N zugleich die Gelegenheit, der Begründungsfrage auszuweichen und in einer anderen als der von I angesprochenen Form auf das Gedicht (etwa die Gedichtarbeit) einzugehen.
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23 N: em keine-Ahnung /… Nachdem N zu Ende gelesen hat, füllt „em“ zunächst die kleine Pause, die sie braucht, bevor sie zu der von I gewünschten Begründung für ihre Entscheidung (18 I) ansetzt. Die im Jugendalter häufiger gebrauchte soziolektale Wendung „keine-Ahnung“122, womit sie unmittelbar anschließt, wäre motivierbar durch eine kleine Verlegenheit nach dem Vorlesen der Verse, die N mit dieser Wendung überwinden will. Sie spürt, dass sie hier affektiv berührt und verletzbar ist, darum braucht sie Zeit, um von der Suggestivität der poetischen Sprache wieder zur Alltagssprache zurückzufinden. Das „keine-Ahnung“ fungiert an dieser Stelle aber nicht bloß als Pausenfüller, sondern bezieht sich gleichzeitig auf die von I zuvor gestellte Frage, warum N das Gedicht gewählt habe. Mit „keine-Ahnung“ markiert N also eine Art Vorsichtsmaßnahme dahingehend, dass sie von I nicht zu sehr auf ihre folgende Begründung für die Gedichtwahl bzw. auf ihr noch laienhaftes Kunsturteil festgelegt werde. 24 N: es hat mich irgendwie (2) angesprochen weil (,) N beginnt mit der Wendung „es hat mich irgendwie“ und macht eine kurze Pause, bevor sie weiter spricht. Mit der reflexiven Wendung „es hat mich“ bestätigt sich unsere Vermutung, dass von dem Gedicht etwas ausgegangen ist, das sie berührte. In der Umgangssprache drückt die Wendung „es hat mich irgendwie“ aus, dass die sprechende Person nicht bestimmt weiß, auf welche Art und Weise, wodurch das affektive oder gedankliche Berührtsein im Einzelnen ausgelöst wurde; es bleibt eher unterbewusst, ist schwer zu rationalisieren. Es ist mehr die gesamte Szene, die Mannigfaltigkeit von Gebärden oder Stimmungen, zu denen dieser Ausdruck passt. Da N schon an mehreren Stellen ihre sprachliche und kognitive Differenzierungsfähigkeit erwiesen hat, können wir hier ausschließen, dass das Wort „irgendwie“ Ausdruck einer habituellen Vagheit oder Unbestimmtheit wäre. Was sie sagen will, ist: Sie weiß nicht genau, was es war, was das emotionale Angezogensein bei ihr hervorgerufen hat, daher kann sie es nur „irgendwie“ und nicht differenzierter ausrücken. Nach der Pause von zwei Sekunden fügt N „angesprochen“ hinzu. Sie nimmt damit den Faden von I aus 16 I auf und bezieht sich auf eine Art inneren Dialog zwischen ihr und dem Gedicht bzw. dem Dichter. Es ist also genau das eingetreten, was sie selbst zuvor schon als entscheidend (im Sinne eines intrinsischen Kriteriums) für ihre Wahl genannt hatte: ein Gedicht zu nehmen, von dem sie unmittelbar berührt, „angesprochen“ wurde. Nach einer winzigen Pause setzt N mit „weil“ zu einer Begründung an: 122 Vgl. Neuland 2007/2
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25 N: keine-Ahnung (,) weil man manchmal (schöpft Atem) /… Wie schwer N diese Begründung fällt, wird durch das floskelhafte „keine Ahnung“ markiert. Sie hat die Entscheidung getroffen, weil sie sich „irgendwie angesprochen“ fühlte. Nun ist sie durch I (in 16 I) dazu angehalten, dieses Gefühl zu rationalisieren. Weil ihr dies Mühe macht, nimmt sie wiederum die Formulierung „keine Ahnung“ zu Hilfe als unausgesprochene Bitte um wohlwollendes Verständnis. Dann schließt sie an „weil man manchmal“ und schöpft tief Atem. Während sie in 24 N noch von sich selbst gesprochen hat („es hat mich irgendwie“), geht sie jetzt über von der reflexiven Form zum „man“, entweder um sich zu distanzieren oder um dem hohen Begründungsanspruch von I zu entsprechen. Ihre Anspannung zeigt sich hier an der stockenden Rede und dem Atemschöpfen. So versucht sie, sich durch eine generalisierende Form ihrer Aussage („man“) zu schützen bzw. Distanz zu nehmen. N schließt diese Sequenzstelle ab mit dem Wort „manchmal“, wodurch auf die Frequenz einer Häufigkeit hingewiesen wird. Das Folgende vollzieht sich also nicht häufig, immer oder selten, sondern manchmal, mit anderen Worten: bisweilen, ab und zu, gelegentlich. Nun ist erstens die Frage, wie sie nun anschließen könnte, zweitens wie ihre Äußerung mit dem Vorigen zusammenhängt. Die eine Möglichkeit wäre, dass N a) auf das zu sprechen kommt, was ihr „manchmal“ begegnet und das für sie Relevante ist, was ihr im und durch das Gedicht bewusst oder aussprechbar wird. So könnte sie zum Beispiel sagen: „Weil man manchmal in einem Gedicht genau das findet, was man selber schon gedacht oder erlebt hat.“ Eine Variante dieser Option wäre, dass sie sich b) mehr auf eine Gefühlslage bezieht und sagen will: „Weil man manchmal in so einer Stimmung ist, wie sie im Gedicht ausgedrückt wird.“ Diese Option wäre insofern konsistent, als das Gedicht in poetischer Sprache eine Fülle nuancierter Gefühle und Stimmungen in der Metapher des „Einheitsgrau“ (als einer visuellen Gesamtheit) und des „Eintönigen“ (als eines akustischen Zusammenklangs) zum Ausdruck bringt. 26 N: in so’ner Phase is/… Beziehen wir das Wort „manchmal“ aus 30 N mit ein, empfindet sich N ab und zu in einer außergewöhnlichen Gemütslage, die sie „Phase“ nennt.123 Der Begriff Phase bezeichnet in der Alltagssprache etwas, was wie ein Naturvorgang, etwa eine Jahreszeit, eine Erscheinung des Wetters kommt und wieder vergeht. Bezogen auf den Menschen wäre dies als ein aus dem Alltäglichen herausgehobener Zustand, zum Beispiel als Phase eines Hochgefühls, eines Schmerzes, einer Be123 Kluge 2002: 699: „Die Entwicklung der modernen Bedeutung geht aus von den Erscheinungsformen des Mondes und der Planeten; dann Verallgemeinerung.“
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drückung oder einer Melancholie bemerkbar. Das Besondere dieser Befindlichkeit (Phase) ist einerseits, dass sie kommt und wieder verschwindet, dass der Betroffene jedoch andererseits von diesem Zustand zunächst wie von außen, gewissermaßen fremdbestimmt ergriffen wird, aus dem er sich nur mit besonderer Anstrengung befreien kann. Über dieses Gefühl, in einer Phase zu sein, ist N sich im Klaren.124 Sie realisiert ihre Befindlichkeit und weiß zugleich, dass sie wieder verschwinden wird. Sie könnte ihre Äußerung nun damit fortsetzen, dass sie sagt, sie sei gerade jetzt „in so’ner Phase“, die sie für diese Art von Gedichten empfänglich mache.125 27 N: wo man was anderes aufgibt und woanders hingeht (2) N schließt an mit den Worten „wo man was … aufgibt“. Das Verb „aufgeben“, ursprünglich im Sinne von „etwas übergeben“, benutzt man gegenwärtig häufig in der Bedeutung von „aufhören, verzichten“ (vgl. Kluge 2002:71); es drückt etwas Endgültiges aus, etwas, was nicht zu ändern und meist mit Verlustgefühlen verbunden ist. N fühlt sich also in einem Zustand, in dem etwas zu Ende geht bzw. in dem sie etwas verlässt oder verlassen muss. Gleichzeitig weiß sie, dass dieser Zustand des Aufgebens vorübergehend, eben eine „Phase“ ist. Mit der Formulierung: „in so’ner Phase wo man“ kündigt N etwas an, was sie nachfolgend erklären müsste, etwa wie: eine „Phase, wo man besonders empfindlich“ oder „besonders aufgeregt ist“ o. ä. Aufgeben könnte sich jedoch auch beziehen auf das, was N als „was anderes“ bezeichnet hat. Damit wiese das Pronomen „wo“ auf einen Zusammenhang mit einem Ort (möglicherweise ihrem Wohnort) hin. Wodurch könnte die widersprüchliche Kombination von „etwas …aufgeben“, was für sie gleichzeitig „was anderes“ ist, motiviert sein? 1.
2.
In einer ersten Lesart schiebt N zwei nicht kompatible Zeitperspektiven ineinander: Einmal nimmt sie die Perspektive ein, dass sie etwas verlässt (das Eine, was sie „aufgibt“) und zu einem Anderen sich hinbegibt. Diese Lesart wird konsistent durch ihre Formulierung „und woanders hingeht“. In einer zweiten Option nimmt sie die (zukünftige) Perspektive des „Woanders“ ein und spricht so, als hätte sie sich das Andere schon so stark angeeignet (entweder in ihrer Vorstellung oder in der Realität), dass bezogen
124 Göppel 2005: 220: „Jugendliche … die heute aufwachsen, haben in der Regel – auch wenn sie nicht so recht wissen, was dies bedeutet … – durchaus ein Bewusstsein davon, dass sie sich in einer Lebensphase befinden, in der die „Identitätsfindung“ als wichtige Entwicklungsaufgabe ansteht.“ 125 Gamm 1991: 13
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3.
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darauf das Verlassene (was „man aufgibt“) schon zum (vergangenen) Anderen geworden ist. In Verbindung mit dem Gedicht imaginiert sie das vergangene Andere als noch gegenwärtig, was in ihr das Gefühl des VerlassenWerdens bzw. Verlassen-Müssens auslöst, das sie in dieser komplizierten Wendung ausdrückt. In einer Variante der ersten Lesart ließe sich die Widersprüchlichkeit unter Angabe anderer Randbedingungen auflösen, und zwar dann, wenn N „was anderes“ mit einer Referenz identifizierte, die tatsächlich immer das Andere ist. Das heißt, wenn N als das Andere einen Ort bezeichnete, der von vorneherein nicht die Stetigkeit des Einen hat. Ein Beispiel dafür wäre etwa ein Ferienort, an dem N sich schon öfter aufgehalten hätte und der für N immer eine Ausnahme (das Andere) darstellte. Das Gedicht evozierte in diesem Falle das Gefühl, das N jedes Mal am Ende der Ferien empfindet, wenn sie dieses Andere verlassen muss. Die Formulierung „was anderes“ wäre so durch das Außeralltägliche gedeckt.
Nehmen wir das „wo“ vom Anfang der Sequenz zusammen mit „und woanders hingeht“, ergibt sich aus dem ersten „wo“ im Sinne des objektiven Sagens ein Zusammenhang mit „woanders hingeht“, das heißt mit dem in der Zukunft liegenden Anderen. Subjektiv bezieht N sich aber auf eine Referenz, die mit der ersten Lesart markiert ist, nämlich entweder auf „in so’ner Phase, wo man“, oder auf die zweite Lesart „wo man was anderes aufgibt“, also auf etwas in der Vergangenheit Liegendes. Aufgeben kann man nur etwas, was man einmal hatte bzw. was man noch hat. Indem N nun davon spricht, „was anderes“ aufzugeben und „woanders“ hinzugehen und damit beide Richtungen als „das Andere“ bezeichnet, entsteht eine signifikante Verschränkung von (zwei) Perspektiven. Denn „was anderes“ wäre ja im Grunde erst das Kommende, das „Woanders“, zu dem sie erst hingehen wird. Aus der Perspektive des gewohnten Ortes müsste sie eigentlich sagen: „Weil man manchmal in so’ner Phase is, wo man das Eine aufgibt und sich etwas Anderem zuwendet.“ Hier aber ist von dem Einen gar keine Rede, sondern N blickt gleichzeitig in zwei gegenläufige Richtungen, die sich miteinander verschränken: einmal vom Standpunkt des Aufzugebenden (dem Einen) aus, von dem aus sie woanders (zum Anderen) hingeht; das andere Mal blickt sie aus der Perspektive des Neuen (des Einen) auf das Zurückgelassene (das Andere). N denkt also vom Zeitpunkt des Verlassens aus in die Zukunft, und gleichzeitig vom Zeitpunkt des Schon-verlassen-Habens in die Vergangenheit. Sie nimmt zwei Zeitperspektiven gleichzeitig ein, von deren Schnittstelle aus sowohl das Aufzugebende als auch das Neue das jeweils Andere ist. Diese Differenz zwischen dem objektiv Gesagten und dem subjektiv Gemeinten, die sprachlich widersprüchliche Kombination (von „was anderes“ und „aufgeben“), bemerkt N im Vollzug des Aussprechens, bzw. nachdem es bereits
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ausgesprochen ist. Daher korrigiert sie sich und sagt (im Sinne einer sekundären Kodierung): „woanders hingeht.“ Wie lässt sich verstehen, dass N in der Gegenwart des Sprechens diese janusköpfige Perspektive eingenommen hat? 4.
5.
6.
Angeregt durch das Gedicht könnte N aktuelle Gedanken und Gefühle reflektieren, die mit ihrem frühadoleszenten Lebensalter zusammenhängen und ihrem Bewusstsein bisher unzugänglich waren. Wie sie in 26 N sagt, empfindet sie sich in einer Phase ihrer Entwicklung, die zwischen dem Einen (der Kindheit) und dem Anderen (dem Jugendalter) liegt. Der Perspektivwechsel wäre in dieser Lesart ihrer ungewissen Befindlichkeit geschuldet, dem Oszillieren zwischen zwei Zuständen: Im einen fühlt sie sich nicht mehr, im andern noch nicht heimisch. Ähnlich wie vorher, jedoch könnten in dieser Lesart die durch das Gedicht evozierten Gedanken und Stimmungen mit dem familialen Hintergrund von N (Umzug, gravierende Erkrankung, Trennung der Eltern) zusammenhängen. So wäre die Verschränkung beider Zeitperspektiven erklärbar durch Ns Unsicherheit bezüglich einer bevorstehenden Veränderung. Die Verschränkung der Perspektiven könnte auch dadurch motivierbar werden, dass N zum Beispiel ihre Ferien an einem fremden Ort verbracht und dort einschneidende Erlebnisse gehabt (sich z. B. verliebt) hätte. Von diesem Ort könnte sie sagen, er sei „was anderes“, da sie sich von dort auf jeden Fall wieder hätte verabschieden müssen. Ihre Formulierung: „wo man was anderes aufgibt“ wäre in diesem Falle gedeckt durch das Außeralltägliche.
Anschließend macht N eine kurze Pause. Es ist nun zu erwarten, dass sie das „wo“, d. h. den noch nicht eindeutig zu bestimmenden Ort anschließend qualifizieren wird. 28 N: wo man sich irgendwie eigentlich auch (1) (nun wird ein Schwanken ihrer Stimme hörbar:) gar nich so gern weg will /… Dazu setzt sie an mit einer weiteren Lokativ-Bildung („wo“), die sich entweder auf das unmittelbar vorausgehende „woanders hingeht“, also den außeralltäglichen Ort (Ferienort), oder auf das erste „wo“, nämlich ihren gegenwärtigen Wohnort beziehen müsste. In der distanzierten Aussageform („man“) verbleibend, schließt N an mit der Wendung „wo man sich irgendwie“. Wie schon in 24 N markiert das Wort „irgendwie“, dass das, was sie sagen will, mit affektiven oder gedanklichen Regungen zusammenhängt, die sie noch nicht rationalisieren kann. Ein möglicher Anschluss könnte nun sein „wo man sich irgendwie wohl fühlt“ oder „zu Hause
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fühlt“ als Ausdruck dafür, dass N mit dem Ort konkrete Gefühle, Erlebnisse oder Eindrücke verbindet. Diese könnten sich sowohl auf ihr alltägliches Zuhause als auch auf den Ferienort beziehen. Uneingeschränkt will sie dies jedoch nicht sagen, denn der Zusatz von „eigentlich auch“ zeigt, dass Alternativen für N denkbar sind. Es könnte demnach einen Ort geben, wo für N „auch“ (im Sinne einer Hinzufügung, etwa von „außerdem“) das Realität wäre, was sie nicht verbalisiert oder noch nicht ausdrücken kann. In beiden Fällen werden durch die Bezugnahme auf welchen Ort auch immer die Lesarten Vier bzw. Fünf aus 27 N stark gemacht, allerdings unter Berücksichtigung von Lesart Drei. Mit dem eingeschobenen „irgendwie“ versucht N also, eine Stimmung auszudrücken, die mit dem Ort bzw. ihrem Abschied von ihm zusammenhängt, die sie bisher aber weder reflektieren noch verbalisieren konnte. Ausdruck dieser Unsicherheit bzw. dieses Hin-und-her-gerissen-Seins ist hier das „eigentlich“. Unterschwellig klingt eine leise Frage mit, eine Einschränkung, ein Zweifel an dem, wozu N durch „wo man sich“ zwar ansetzt, was sie aber nicht ausspricht. Nun macht N eine kurze Pause und fährt mit schwankender Stimme fort: „gar nich so gern weg will“, wobei sie die beiden letzten Worte relativ laut spricht, fast hinaus ruft. Die grammatische Unstimmigkeit des Anschlusses von „wo man sich … auch“ an „gar nicht so gern weg will“ wäre motivierbar, wenn N sich während der kurzen Pause innerlich für eine Perspektive entschieden hätte und sich jetzt auf den Ort bezöge, von dem sie ausdrücklich „gar nicht so gern weg will“. Damit verstärkt N das Gefühl des Bedauerns, dieses „wo“ verlassen zu müssen, das sie zuvor als das Andere bezeichnet hat und mit dem sie sich dennoch verbunden fühlt, was durch das lauter und betonter werdende Sprechen gedeckt wäre. Die Vermutung, dass sie ihr jetziges Zuhause meint, liegt zwar nahe, ist aber noch nicht zwingend. Auch sagt sie nicht lapidar: „wo ich einfach nicht weg will“, sondern sie setzt den begonnenen Satz in der unbestimmten Form fort und schränkt ihre Aussage wieder ein mit „nich so gern“. Es muss demnach ein „hartes Muss“ geben, dem sie sich zu beugen hat, aber sie tut es „nich so gern“, wobei das zuvor gesagte „gar“ an dieser Stelle als Adverb gebraucht ist und ihre Einschränkung steigert. Durch „so“ erwartet man nun ein Äquivalent (so wie); N könnte mit „so“ sagen wollen: „wo man überhaupt nicht so gern weg will, wie ihr das denkt“. Es ist demnach kein vollständiges SichFügen in das „harte Muss“, sondern es rumort aus dem Untergrund ein Eigenwille, den N nicht aufgeben will und der hier (merkbar an Stimmführung und sprachlichen Unstimmigkeiten) hervorbricht. Nimmt man die Äußerungen von N aus 24 N bis 28 N zusammen (das Gedicht hat N „irgendwie angesprochen“, weil „man manchmal in so’ner Phase“ ist, wo „man was anderes aufgibt und woanders hingeht“, wo „man sich irgend-
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wie eigentlich auch“ und „gar nich so gern weg will“), besteht die Schwierigkeit des Erschließens im mehrmaligen Perspektivwechsel bzw. in der Verschränkung verschiedener Blickrichtungen auf Orte und Zeiten. Es bleibt die Frage nach ihrem gegenwärtig offensichtlich unsicheren Ausgangspunkt, von dem aus sie das Andere jeweils betrachtet, und danach, welches „Wo“ dasjenige ist, von dem N „gar nich so gern weg will“. In jedem Fall ist die Sesshaftigkeit für N im Augenblick unsicher und Anlass ihrer Gemütsbewegung. Dabei formuliert sie ihre Äußerungen jeweils vorsichtig distanzierend bzw. einschränkend (durch „eigentlich“ bzw. „gar nich so gern“) oder sie greift zur unpersönlichen Form („man“). So sagt sie beispielsweise nicht kategorisch: „Ich will da überhaupt nicht weg!“, sondern spielt ihre Abwehrhaltung eher herunter und sagt: „wo man eigentlich gar nicht so gern weg will.“ 29 N: von manchen Sachen (3) N grenzt ein. Sie will demnach nicht allein von einem „wo“, einem Ort nicht gern weg, sondern „von manchen Sachen“. Der Annahme, dass sie sich hier tatsächlich auf Gegenstände, also greifbare Dinge beziehen wollte, widerspricht die hohe Affektbesetztheit ihrer vorhergehenden Äußerungen (Betonung, schwankende Stimme). Dieser plötzliche Sachbezug wird jedoch verständlich unter der Prämisse der Distanznahme Natalías von ihrer Erregung, indem sie verdinglicht, wovon sie „gar nich so gern weg will“. Gleichzeitig trifft sie eine Auswahl, indem sie sagt: „von manchen Sachen“. Es gibt demnach Dinge, von denen sie sich durchaus leicht trennen könnte. Von diesen verzichtbaren Dingen isoliert sie hier diejenigen, die ihr wichtig sind. N macht nun eine längere Pause, bevor sie weiter spricht: 30 N: es hat mir einfach (,) gefallen/… Mit „es“ könnte N verschiedene Bezüge aufnehmen. 1. Möglich wäre, dass mit „es“ das Gedicht selbst gemeint ist, da N das Wort „gefallen“ verwendet (und betont), das damit eine Replik wäre auf 20 N („und wenn’s ei’m gefallen hat“; [mit „’s“ war das zur Wahl stehende Gedicht gemeint]). Stark wird diese Lesart auch erstens durch die längere Pause, die N macht, bevor sie weiter spricht, wie um sich wieder auf die Ausgangsfrage von I zu besinnen; zweitens durch das Wort „einfach“, das sie hinzufügt und das sich möglicherweise auf den Begründungswunsch (der Gedichtwahl) von I bezieht. Diesen Wunsch möchte N abweisen, so als wollte sie sagen: „Es nützt gar nichts, weiter nach dem Warum zu fragen: Es hat mir einfach (hier zögert sie und sagt dann kurz und bündig:) gefallen, basta!“
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Eine weitere Option wäre der Bezug zu Orten: 2a) der gegenwärtige Wohnort könnte „es“ sein, was ihr „gefallen“ hat. In diesem Falle wäre die Formulierung „es hat mir einfach gefallen“ allerdings ungewöhnlich, fast oberflächlich, da es sich hier um den Ort handelte, mit dem N intensiv verbunden war und von dem sie nach ihren eigenen Worten „gar nich so gern weg will“. 2b) „Es“ könnte ihr auch da „gefallen“ haben, wohin sie möglicherweise wird umziehen müssen; hier wäre der Ausdruck „es hat mir einfach gefallen“ angemessen, da sie sich mit diesem Ort aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht intensiver verbunden hat. 2c) „Es“ könnte der außeralltägliche Ort (Ferienort) sein, der Attraktivität entwickelt und ihr „einfach gefallen“ hat.
31 N: es is zwar’n bisschen traurig aber (2) N bezeichnet etwas („es“) als „zwar’n bisschen traurig“; sie bestätigt, dass dieses „es“ in Wahrheit („zwar“) traurig sei, doch mit den Worten „’n bisschen“ räumt sie ein, dass „es“ auch noch unter einem anderen Aspekt betrachtet werden kann. Auf diesen anderen Aspekt weist sie mit dem adversativen „aber“ hin und eröffnet damit mehrere Interpretationsmöglichkeiten: 1.
2.
Bezieht sich die Äußerung auf eine familiäre Veränderung, könnte sie im Sinne einer Selbstbeschwichtigung bzw. Rationalisierung sagen wollen: „Es ist zwar traurig, dass ich jetzt hier fort muss, aber es ist nicht zu ändern.“ Ebenfalls im Sinne einer Selbstbeschwichtigung, die sich aber im Unterschied zu Lesart Eins auf den Verlust des Ferienortes beziehen könnte, sagte sie: „Es ist zwar traurig, dass ich den X jetzt nicht mehr sehen kann, aber ich werde schon darüber hinweg kommen.“
Beiden Lesarten ist gemeinsam, dass N die Realität (das, was nicht zu ändern ist) nicht aus dem Auge verlieren will. 3.
4.
Falls sich die Äußerung ausschließlich auf das Gedicht bezieht, könnte es ein Begründungsversuch für ihre Entscheidung sein, etwa derart: „Das Gedicht ist zwar ein bisschen traurig, aber mir hat es doch gefallen.“ Dem methodischen Ansatz ihrer Lehrerin entsprechend konnte sie ihre Wahl ja aus einem spontanen Gefühl heraus (nämlich ihrer Traurigkeit, ihres Hin-undHer-gerissen-Seins) treffen. Ähnlich wie in Lesart drei beschrieben, doch mit einem deutlichen Bezug zu ihrer aktuellen Situation, die ihr in der Begegnung mit der metaphorischen Sprache des Gedichtes bewusst und verbalisierbar wurde. Das heißt,
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die Verbindung zum Gedicht wäre in dieser Lesart das Gefühl von N, etwas Geschätztes verlassen zu müssen. Dieses Gefühl wäre durch das Gedicht evoziert worden und hätte ihr gerade deswegen gefallen. „Aber“ könnte dann heißen: „Es ist zwar traurig, aber es beschreibt eine ganz ähnliche Situation und Stimmung, wie ich sie gerade erlebe.“ Durch das adversative „aber“ hat N nun zu einem gewissen Gegensatz übergeleitet, den sie im Folgenden klären müsste. Sie nimmt sich einen kleinen Augenblick Zeit, bevor sie weiterspricht. 32 N: am Ende eigentlich (1) N richtet den Fokus nun auf das, was „am Ende“ ist oder sein wird. Sie ist also in der Lage, weiter zu blicken als auf das, was ihr im Augenblick das Gefühl der Traurigkeit vermittelt und evoziert damit, dass es „am Ende“ völlig anders und womöglich gar nicht mehr so traurig aussehen könnte, wie sie es selbst („eigentlich“) gegenwärtig empfindet. 33 N: obwohl die Stadt nich so schön is (I: hmhm) oder so (2) Mit der konzessiven Konjunktion „obwohl“ leitet N eine Begründung ein, die damit den Charakter eines Einspruchs oder Gegengrunds erhält.126 Der Tatsache, dass „die Stadt nich so schön is“, steht also etwas entgegen („obwohl“), was das mangelnde „schön“ aufwiegt. Damit werden die Lesart Eins aus 30 N sowie die Lesarten Drei bzw. Vier aus 31 N stärker. Das heißt, nach der sparsamsten Lesart ist mit „es“ in beiden Fällen das Gedicht gemeint, sonst würde N sich hier nicht auf die Stadt beziehen. Auch wäre es wenig schlüssig anzunehmen, dass N einen etwaigen zukünftigen Wohnort meinte, da sie diesen „woanders“ genannten Ort vermutlich eher wenig oder gar nicht kennt. Man könnte nun einwenden, der Kontext der Sprachlichkeit ließe offen, ob N sich mit den Worten „obwohl die Stadt“ auf die Stadt Husum selbst bezieht oder auf das Gedicht „Die Stadt“. Dieser Einwand kann jedoch mit Hinweis auf die Sequenzstelle 20 N kassiert werden, da N zur Begründung für ihre Entscheidung angab, das Gedicht habe ihr gefallen. Nehmen wir die Äußerungen von 31 bis 33 N zusammen, könnte N hier etwa Folgendes sagen wollen: „Das Gedicht ist zwar etwas traurig, aber am Ende wird eigentlich, obwohl die Stadt nicht so schön ist, ...“ Hier macht sie eine Zäsur und fügt anschließend ihrem Urteil (dass die Stadt nicht so schön sei) „oder so“ hinzu. Als Äquivalent für „oder so“ könnte N sagen „nicht so attraktiv“ o. ä. 126 Vgl. Weinrich 2005/3: 761; Kluge 2002: 660
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Sie hält mit dieser etwas vagen Andeutung andere Alternativen für möglich, als wolle sie ihr Urteil ein Stück weit zurücknehmen. Erwartungsgemäß müsste sie nun an die durch „obwohl“ eröffnete Einwendung anschließen und erklären, was sie in 32 N mit „am Ende“ angekündigt hat. Die kurze Pause danach markiert einen Moment des Nachdenkens. 34 N: hängt man eigentlich schon dran und an den Freunden und (I: hmhm) (2) Obwohl N sich immer noch in der distanzierten Form („man“) ausdrückt, identifiziert sie sich mit dem lyrischen Ich, indem sie sagt: „man hängt dran“ (d. h. „daran“). Sie greift hier variierend Storms Formulierung auf „doch hängt mein ganzes Herz an dir“, was eine Bezugnahme auf ihre jetzige Heimatstadt nahe legt. Allerdings gibt N ihre Gefühle nicht vollständig preis, darum bleibt sie bei „man“ und kleidet ihr Bekenntnis (dass sie an etwas „dranhängt“) in die vorsichtige Formulierung „eigentlich schon“, die ihr eine spätere Korrektur ermöglicht. Nachdem sie sich zunächst auf das Gedicht bezogen und sich sozusagen hinter die Worte des Dichters gestellt hat, drückt sie in der folgenden Sequenz „und an den Freunden“ Persönliches aus. Dies markiert sie auch durch den wiederholten Gebrauch des Wortes „eigentlich“ (in 32 und 34 N). Im Grunde genommen sagt sie damit, dass es nicht allein der Ort der äußeren Sesshaftigkeit ist, an dem sie hängt, sondern sie hängt mindestens genau so „an den Freunden und …“. Das unmittelbar angeschlossene „und“ markiert das spontane Bedürfnis von N, ihre Aufzählung zu ergänzen um all das, was außer dem Ort und den Freunden noch zu dem gehört, woran sie hängt. Damit verdichtet sich die Lesart Fünf aus 27 N, dass N sich aus familiären Gründen von ihrem bisherigen Heimatort, zumindest jedoch von ihrer Schule (und damit von den Freunden) wird trennen müssen. Nach der kurzen Zustimmung von I fährt N sogleich fort mit „und“, was darauf schließen ließe, sie wolle noch mehr nennen von dem, woran sie hängt. Sie bricht jedoch ab und macht wiederum eine deutliche Gesprächspause. 35 N: es passt halt grade ganz gut zu meiner Situation (.) Mit „es“ wird etwas eröffnet, dessen Bezug zunächst noch unklar ist. Erst wenn man den inneren Kontext einbezieht, wird die Lesart aus 30 und 31 N konsistent, dass „es“ sich auf das Gedicht bezogen hat. Daran knüpft N an mit der Erklärung, „es“ (nämlich das Gedicht) „passt“ zu ihrer persönlichen Situation, die als solche noch klärungsbedürftig ist. Sie spricht allerdings nicht von einer absoluten Konkordanz, sondern grenzt ihre Deutung ein auf: „es passt halt ganz gut“. Sie verwendet „ganz“ auch hier eher relativierend („ganz gut“ i. S. v. „verhältnismäßig gut“). Die Herkunft des Wortes „halt“ ist unklar, kann jedoch in diesem
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Zusammenhang nicht im Sinne von „halten“, sondern nur von „eben“ gemeint sein, wie wenn man etwas hinnähme mit den Worten: „So ist das eben.“ Das Wort „grade“, mit dem N „es passt“ qualifiziert, verwendet sie als zeitliche Einschränkung, das heißt im Sinne von „jetzt“ oder „im Augenblick“. Mit anderen Worten drückt sie damit eine relative Übereinstimmung von Gedicht und ihrer augenblicklichen Situation eines Übergangs, eines Gefühls der inneren und äußeren Heimatlosigkeit und Nicht-Sesshaftigkeit aus.
Drittes Zwischenresümee und Fallstrukturhypothese Natalía wählt das Gedicht, weil sie sich auf mehreren Gefühlsebenen lyrisch angesprochen fühlt: einmal von der melancholischen Stimmung der in der Vielschichtigkeit des Grau aufgehobenen, von ihm eingehüllten Stadt; zum anderen vom Gefühl des Verwurzeltseins mit einem Ort, von dem sie sich möglicherweise wird lösen müssen, einem Gefühl der Verbundenheit mit Freunden, an denen sie hängt, die sie nun „aufgeben“ soll. Die Tatsache, etwas Geschätztes verlassen zu müssen, löst bei Natalía ambivalente Gefühle aus: Traurigkeit, Zuversicht, Fügsamkeit, leise Opposition, Melancholie, Zuneigung und eine Art „vorauseilendes Heimweh“, da das Objekt, worauf sich dieses Heimweh bezieht, noch nicht expliziert wurde. Diese widerstreitenden Gefühle sind die Verbindung zu dem Gedicht, das sie gewählt hat. Was sie bisher unbewusst beschäftigt, vielleicht belastet, was sie nicht in Worte fassen kann, wird durch das Gedicht evoziert und kommt in Gestalt eines poetischen Bildes zum Ausdruck. Es wäre nun leicht möglich, im Einzelnen die Bezüge zwischen Gedicht und persönlicher Situation aufzuzeigen, die für Natalía relevant sein können. Der verdichteten Form des Lyrischen entspricht es jedoch meines Erachtens eher, hier davon auszugehen, dass Natalía Storms Verse in ihrer sprachkünstlerischen Geschlossenheit rezipiert hat und das poetische Bild für sie als Gesamtheit beeindruckend ist. Sie formuliert dies auch, indem sie sagt, es habe ihr „einfach gefallen“. Für Natalías Entscheidung ist also zuerst die melancholische Grundstimmung ausschlaggebend, sicher auch in Verbindung mit den zahlreichen Kontrastierungen (Kargheit und Fülle, Ferne und Nähe, Heimatverbundenheit und Aufbruchsstimmung) und all dem, was im lyrischen Bild der grauen Stadt am Meer anklingt und mit ihren widerstreitenden Gefühlen korrespondiert. Stimmungen, die für Natalía vorher schwer greifbar sind, tauchen in den Metaphern des Gedichtes auf, klingen in ihr nach, werden verbalisierbar und ihrem Bewusstsein zugänglich. Im Dialog mit dem Kunstwerk erkennt sie sich und ihre Situation und bringt diese mit dem „tieferen Sinn“ des Gedichtes in Verbindung. Diese innere Gestalt erlebt sie nach ihren eigenen Worten als etwas zu ihrer persönli-
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chen Situation Passendes. Die Beschäftigung mit ihm wird so zur stellvertretenden künstlerischen Verarbeitung durch die lyrische Sprache. Ohne die in der Fallstrukturhypothese formulierte Offenheit und spontane Empfänglichkeit für Gedichte hätte Natalía diese Passungsdiagnose nicht stellen können. Durch das Gedicht ist so ein Prozess angeregt, der Natalía zwar höhere Abstraktions- und Reflexionsfähigkeit ermöglichte, der ihr bezüglich seiner sprachlichen Ausgestaltung jedoch zuweilen noch Schwierigkeiten macht. Dies zeigen die häufigen Unterbrechungen und sprachlichen Unebenheiten. Sie schwankt sprachlich in den Perspektiven hin und her und kann so nur ansatzweise ihre Unsicherheit erklären und auf die Begründungsaufforderung der Interviewerin eingehen. In ihrem Gefühl jedoch ist Natalía sicher und kommt so zu einem höchst eigen-ständigen Ausdruck davon, dass sich in Stimmung und innerem Gehalt des Gedichtes jene Ambiguität der Gefühle, jene Unsicherheit spiegeln, die sie selbst gegenwärtig empfindet und in temperamentvoll-expressiver Weise zum Ausdruck bringen kann. Mit Vorbehalt gesprochen könnten ihre Worte „es passt halt grade ganz gut zu meiner Situation“ auch auf einen Zusammenhang mit dem zweiten Aspekt der Fallstrukturhypothese (innere Unsicherheit/ Ortsungewissheit) hinweisen.
IV. Sequenzen der persönlichen Situation und Befindlichkeit 20 I: wie ist die (’) I greift die Bezugnahme von N (persönliche Situation zum Gedicht) auf und will nun genau wissen, wie die Situation sei. Damit geht sie einen deutlichen Schritt über ihre eigentliche Frage (nach dem Umgang mit Gedichten) hinaus und riskiert, dass N dies als Übergriff erlebt und abwehrt. 36 N: (3) ja also (2) das sollt ich eigentlich nich unbedingt sagen also aber/… Nach längerem Zögern setzt N zunächst zu einer Antwort an („ja also“), unterbricht sich, macht wiederum eine Pause und wehrt die Frage zunächst ab mit dem Hinweis, dass sie das „eigentlich nich unbedingt sagen“ sollte. Es muss also eine Instanz geben (wahrscheinlich ihre Eltern), die ihr dies verboten hat („Du sollst das nicht sagen!“). Mit „eigentlich“ drückt sie hier einen leisen Zweifel, eine Unsicherheit darüber aus, ob das Verbot auch in dieser Situation und gegenüber I gültig sei. Daher schwächt sie es durch die Formulierung („eigentlich nicht unbedingt“) ab. Mit „nich unbedingt“ sagt sie, dass es Bedingungen gibt, unter denen das Schweigegebot ungültig werden könnte.
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Unmittelbar danach fährt sie fort mit „also aber“, womit sie zum einen das Verbot bestätigt („also“ im Sinne von „so ist das alles“), zum anderen mit „aber“ ihre grundsätzliche Aussagewilligkeit zeigt, so als wollte sie sagen: „Das ist zwar alles so (dass ich es eigentlich nicht sagen sollte), aber ich will mich jetzt (unter den gegebenen Bedingungen bzw. unter uns) doch darüber hinwegsetzen und es trotzdem sagen“. Nun ist eine Aufklärung darüber zu erwarten, was N eigentlich verschweigen sollte. 37 N: em n bisschen im Aufbruch sind wir/… N muss einen kleinen Anlauf nehmen („em“), bevor sie antwortet: „n bisschen im Aufbruch sind wir“. Die merkwürdig verdrehte Satzstellung könnte ein Hinweis darauf sein, dass sie sich nur zögernd über das Schweigegebot hinwegsetzt. „Im Aufbruch sein“ bezeichnet im Blick auf die Vergangenheit einen gewissen Abschluss; im Blick auf die Zukunft handelt es sich jedoch um ein Eröffnen, einen Anfang, etwa den Beginn einer Reise, eines Weges, auch einer tief greifenden Veränderung der persönlichen Lebensumstände. Jemand bricht eine vollzogene Lebenspraxis ab, beendet sie und bricht dann auf zu etwas Neuem. Damit sagt N, dass auch ihr ein Bruch, eine Veränderung bevorstehe. Sie schwächt ihre Äußerung aber sofort wieder ab, indem sie sagt „n bisschen“. Sie und noch jemand („wir“) befinden sich zwar im Aufbruch, aber nur „n bisschen“. Dies könnte bedeuten, dass der Aufbruch eventuell noch ungewiss sein, sich noch verschieben oder sich ganz und gar als überflüssig erweisen bzw. nur teilweise stattfinden könnte. Nun ist die Frage, wer ist dieses „wir“, das „n bisschen“ im Aufbruch ist? Es könnte N und ihre Familie, sie und ihre Klasse sein. Oder N sagt „wir“ im Sinne von „alle Jugendlichen meiner Generation“. Ziehen wir das Schweigegebot aus 36 N hinzu, das ihr auferlegt wurde, ist die sparsamste Lesart, dass N mit „wir“ sich und ihre Familie meint. Sie könnte nun anschließen mit den Worten „weil mein Vater versetzt wird“ oder „weil meine Eltern sich trennen“ o. ä. 38 N: (2) e- i- ei- in allem eigentlich (,) auch zu Hause und (2) (schöpft Atem) insgesamt (.) Von mehreren Pausen und Sprechansätzen unterbrochen sagt N an dieser Stelle, dass sie sich „in allem eigentlich“ in einer Aufbruchssituation befinde. Sie drückt also zunächst generalisierend aus, worauf sich das Im-Aufbruch-Sein bezieht, indem sie sagt „in allem eigentlich“. Das Wesentliche ihrer Befindlichkeit ist demnach hier, dass sie „in allem“ im Aufbruch ist. Die nachgeschobene Einschränkung „auch zu Hause und“ bestätigt dies: Der mögliche Umzug ist nur ein
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Teil der allgemeinen Umbruchssituation. Da N ihn erst an zweiter Stelle nennt, vielleicht sogar der ihr weniger bedeutsame. Das unmittelbar anschließende „und“ bestätigt, dass sie noch etwas hinzufügen will. Hier bricht sie jedoch ab, macht eine kurze Pause, schöpft Atem und schließt mit einer weiteren Generalisierung: „insgesamt“. Dieses Oszillieren der Blickrichtung (zuerst ist sie „in allem“, dann „auch zu Hause“, dann „insgesamt“ im Aufbruch) zeigt, wie beunruhigend dieser Zustand für N sein muss. Sie bemüht sich zwar, durch eine etwas formelhafte Ausdrucksweise der Frage von I (wie ihre persönliche Situation sei) auszuweichen und quasi „um den heißen Brei“ herum zu reden, da sie darüber eigentlich nicht sprechen sollte. Eine gewisse Unsicherheit bis hin zur Atemlosigkeit (beeinträchtigter Sprechduktus) kommt dabei unmittelbar zum Ausdruck. Durch die Stimmsenkung am Ende dieser Sequenzstelle ist eine Zäsur markiert. N hätte damit die Möglichkeit, von einem Thema, das sie sichtlich berührt, durch einen Rekurs auf das Gedicht abzulenken. Kurze Zeit später fügt sie jedoch hinzu: 39 N: es is (2) es kommt auf’n (nicht eindeutig verständlich) Schulwechsel und so (.) Wiederum setzt N an und macht gleich darauf eine Pause, bevor sie weiter spricht. Leider ist diese Sequenzstelle nicht sicher zu identifizieren. Sinngemäß sagt sie etwa: „Es kommt ein Schulwechsel auf uns zu.“ Wichtigstes Thema für N ist demnach der Schulwechsel. Alles andere zählt für sie zu „und so“. Offenbar fällt es ihr schwer, sich darüber näher auszusprechen, was durch das Abbrechen ihrer Einleitung („es is“) und die relativ lange Pause danach deutlich wird. Auch die Sprechweise von N, die hier im Gegensatz zu ihrer bisher klaren Artikulation teilweise unverständlich wird, könnte mit affektiven Spannungen in Bezug auf das Thema „Schulwechsel“ zusammenhängen. 21 I: hmhm (,) und dann verändern sich Freundschaften (.) I bestätigt und übernimmt die Interaktionsführung, indem sie rekurriert auf das bereits in 34 N von N selbst angesprochene Thema „Freunde“. Sie sagte an dieser Stelle, dass Freunde zu dem gehören, woran man hängt. Damit hat N nun die Möglichkeit, den Fokus wieder auf den Kontext Schule zu richten, sich zu ihren Freunden bzw. Mitschülern zu äußern oder auf ihr Verhältnis zur Peergroup einzugehen. 40 N: jaa wenn man halt (,) weg (,) muss (,) von hier (I: hmhm) N geht ohne zu zögern auf die Anspielung von I ein und bestätigt das von I angedeutete Problem (Veränderung von Freundschaften) mit einem nachdrückli-
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chen „jaa“. Unmittelbar danach kehrt sie jedoch zurück zu dem Thema, das sie sichtlich am stärksten betrifft: der Schulwechsel. Ihre Stimme gerät wieder etwas ins Schwanken, die Mitteilung, dass „man halt (,) weg (,) muss (,) von hier“ ist von mehreren Zäsuren unterbrochen. I signalisiert, dass sie verstanden hat („hmhm“). N sieht zwar der Realität ins Auge („dass man halt weg muss“), wobei sie mit „halt“ so etwas wie stille Resignation, ein „wörtliches Schulterzucken“ ausdrückt. Es macht ihr offenbar Mühe, dieses „Muss“ zu akzeptieren. Auch hier ist ein gewisser Vorbehalt markiert („wenn“), das Weg-Müssen scheint noch nicht sicher zu sein. Offen bleibt, ob N mit „hier“ lediglich die Schule meint oder ob sie auch von ihrem der-zeitigen Wohnort „weg muss“. Wie weiter oben angedeutet, könnte es beispielsweise sein, dass N zwar an ihrem alten Wohnort, nicht aber in ihrer Schule bleiben kann. 41 N: is-s dann halt schon ne Veränderung (I: hmhm) (,) also es steht halt (,) noch nich ganz fest deswegen solln wir nich so viel drüber reden (I: hmhm) weil wenn man vorher schon sagt ja wir ziehn um dann ist das anders als wenn man (,) s jetz schon ganz genau weiß/… N hat hier „ist es“ zusammengezogen zu „is-s“. Ähnlich wie in 40 N verwendet sie „halt“ im Sinne von „so ist das eben“ und signalisiert damit ihre Bereitschaft, dem Entschluss (ihrer Eltern) zu „folgen“ bzw. ihn mit zu tragen. Für die starke Gemütsbewegung, die N zuvor zum Ausdruck brachte, ist die anschließende Formulierung „schon ne Veränderung“ merkwürdig blass. Eher wäre eine Formulierung wie: „Wenn man weg muss von hier, ist das schon schlimm“ oder Ähnliches zu erwarten gewesen. So aber greift N die eher sachliche Formulierung von I aus 21 I („dann verändern sich Freundschaften“) im Sinne einer Bestätigung auf. Mit dem folgenden „also“ nach einer winzigen Pause klärt N uns über die Ursache ihrer zurückhaltenden Formulierungen bezüglich der Aufbruchssituation auf: „es steht halt noch nich ganz fest“. Es handelt sich also um einen Umzug der gesamten Familie, der jedoch noch in der Schwebe ist. Damit ist die Lesart Zwei aus 27 N (Situation der Familie) konsistent. In der noch bestehenden Unsicherheit ist das Gebot der Eltern begründet: „deswegen solln wir (die drei Kinder; HH) nich so viel drüber reden“. In der Haltung von N gegenüber dem Gebot der Eltern („ich sollte“, „wir sollen“) deutet sich ein klar hierarchisch strukturiertes Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern an, das zumindest von N mit einer gewissen Selbstverständlichkeit (bezogen auf ihre Familiensituation) und bewusst hingenommen wird, so als würde sie sagen: „Das ist halt so bei uns“. Das Zögern von N ist demnach dadurch verursacht, dass der bevorstehende Umzug noch unsicher ist und auch in ihr Unsicherheit auslöst. Die unausgespro-
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chene Frage von N: „Ziehen wir nun um oder nicht?“ lässt sich verbinden mit der Lesart Eins aus 27 N (Verschränkung der Zeitperspektiven): Einmal wäre die Perspektive, dass der Umzug gewiss ist. In diesem Falle könnte N antizipieren, dass das Andere (das Neue) schon das Eine ist, aus dessen Sicht das Ursprüngliche, das (noch gegenwärtige) Eine schon das Andere geworden ist. Das andere Mal wäre die Perspektive, dass der Umzug noch höchst ungewiss ist. In diesem Falle ist das Eine das, was man vielleicht aufgibt, und das Andere ist das Zukünftige. Diese parallele Ambivalenz, bzw. die beiden unterschiedlichen Positionalitäten für „Hier“ (im Sinne einer „Ortsmarke“; vgl. 40 N) und „Jetzt“ (im Sinne einer „Zeitmarke“) kann N deutlich empfinden und präzise ausdrücken, indem sie sagt „wenn man vorher (wenn es noch ungewiss ist, HH) schon sagt ja wir ziehn um dann ist das anders als wenn man’s jetzt schon ganz genau weiß“. „Jetzt“ steht an dieser Stelle temporal-deiktisch für den in Frage stehenden Zeitpunkt, nämlich dann, wenn es gewiss ist. 42 N: für mich is es halt schwer (I: hmhm) weil ich fand’s hier immer schon ganz schön und es ist auch für mich nich so einfach immer Freunde zu finden /… An dieser Stelle drückt N offen ihre gegenwärtige Befindlichkeit aus mit dem lapidaren Satz: „Für mich is es halt schwer“. Offenbar hält sie sich für eine Persönlichkeit, für die etwas (nämlich das „es“, was noch expliziert werden muss) schwer ist und differenziert sich damit von all jenen, für die das noch Ungesagte nicht schwer sei. Zugleich kommt auch hier durch die Verwendung der Formulierung „halt“ Selbst-Akzeptanz und ein gewisses Selbstbewusstsein zum Ausdruck. Man erwartete nun Aufschluss darüber, was „halt schwer“ sei. Stattdessen setzt N mit „weil“ zu einer Begründung an (vermutlich dafür, warum es ihr schwer ist, weggehen zu müssen). Zunächst beschreibt sie sehr allgemein eine Stimmung: „Ich fand’s hier immer“. Sie nimmt weder eine örtliche noch eine zeitliche Qualifizierung vor, sondern meint mit „hier“ ihren gesamten Lebens-Horizont, das Milieu der Familie, der Schule, der Stadt, der Gleichaltrigen. Mit „immer schon“ sagt sie sinngemäß: „Das war immer schon so, seit ich hier bin“ oder „seit ich denken kann“. Mit erhobener Stimme und starker Betonung ergänzt sie: „ganz schön“. „Ganz“ könnte nun erstens heißen „vollkommen schön“ im Sinne einer Totalität. Eine andere Lesart wäre, dass es einschränkend gemeint ist im Sinne von: „Es war im Großen und Ganzen schön, aber“; in diesem Falle wäre „ganz“ ein Ausdruck für „insgesamt“. Dies bedeutete, dass N die Angelegenheit zwar insgesamt schön fand, dass es aber dennoch Teile gab, die auch anders beurteilt werden könnten; in diesem Falle müsste ein „Aber“ folgen.
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Unmittelbar danach äußert sich N zu dem, was für sie „halt schwer“ sei, nämlich Freunde zu finden: Erst einmal sagt sie damit, es sei „halt schwer“, fortgehen zu müssen von einem Ort („hier“), den sie „immer ganz schön“ fand. Diesem Gefühl der Trauer fügt sie dann hinzu („es ist auch“ im Sinne von „es ist ebenso“), was der ersten Äußerung im Grunde widerspricht, nämlich dass es ihr schwer sei, Freunde zu finden. Das aber kann sie nicht immer schön gefunden haben. Aus diesem Widerspruch klärt sich zwingend, dass es doch innerhalb des Immer-ganz-Schönen Teile gegeben haben muss, die andere Spuren hinterlassen haben. Die Frage ist nun erstens: Wie ließe sich ihre Trauer über den Verlust von etwas, was sie „immer ganz schön“ fand, vereinbaren damit, dass es „auch“ für sie „nich so einfach“ ist „immer Freunde zu finden“. Zweitens sagt sie mit „(es sei, HH) nich so einfach immer“ entweder, es sei nicht immer einfach, oder es sei nie einfach, Freunde zu finden. Halten wir fest: Die Trauer, die durch das Gedicht von Storm evoziert wurde, begründete N zunächst mit ihrem Gefühl der Verbundenheit mit der ihr vertrauten, „schönen“ Umgebung. Unmittelbar danach fügt sie nun eine zweite Begründung hinzu („es ist auch für mich nich so einfach immer Freunde zu finden“), die indessen keine Begründung ist, sondern ein Hinweis darauf, dass die Traurigkeit über den Verlust nur die Oberfläche einer tiefer liegenden Problematik von N ausdrückt: ihre Beziehung zu Gleichaltrigen bzw. die Möglichkeit, solche Beziehungen überhaupt zu knüpfen. In diesem Falle ergäbe sich hier ein weiteres Motiv für ihr Gefühl, im Aufbruch zu sein (der sich entsprechend ihrer Äußerung in 38 N auf alles bezieht), nämlich durch ihren Blick auf die Zukunft (den neuen Wohnort) in der Sorge, neue Freunde zu finden. 43 N: und (2) irgendwie (,) ja (,) und deswegen hat mir das irgendwie voll gut gefallen (I: dies Gedicht?) ja (.) Nach der vorausgegangenen, von affektiven Spannungen bestimmten Schilderung erwartet man durch „und“ eine Fortsetzung ihrer zuvor begonnenen Generalisierung. N macht jedoch eine kurze Pause und markiert mit „irgendwie“ eine gewisse Unsicherheit. Diese könnte im Zusammenhang stehen damit, dass sie nicht versteht, warum die sozialen Kontakte mit Gleichaltrigen für sie so kompliziert sind und ihre Angst vor einem neuen Umfeld ausdrücken, so als ob sie sagen wollte: „Und irgendwie weiß ich jetzt auch nicht, wie das alles weitergehen wird.“ Mit „ja“ bestätigt und beschließt N das vorher Gesagte und rekurriert unmittelbar danach mit „deswegen“ auf die Begründungsaufforderung von I (vgl. 16 I), indem sie sagt, das Gedicht habe ihr deswegen „irgendwie voll gut“ gefallen, wobei sie mit dem soziolektalen Ausdruck „voll gut“ nach der von Affektivi-
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tät geprägten Beschreibung ihrer Erfahrung mit der Peergroup nun wieder Distanz nimmt und auf der rationalen Ebene in der normalen Umgangssprache weiter kommunizieren will. Daher bezieht sie sich wieder auf das Gedicht und die damit zusammenhängende Begründungserwartung von I und bestätigt ihre Auffassung aus 35 N („es passt…zu meiner Situation“) mit dem eher vagen Fazit („irgendwie“), deswegen habe es ihr gefallen. Das Merkwürdige ist: Objektiv betrachtet passt das Gedicht, von dem N sagt, es habe ihr „deswegen“ gefallen, in Anbetracht ihrer vorigen Äußerungen im Grunde gerade nicht haargenau zu ihrer Situation. Zwar wird in seinen Bildern ein melancholisches Gefühl, Trauer über den Verlust von Beziehungen evoziert; aber dies sind Bilder eines bodenständigen und sicheren Verbundenheitsgefühles, einer langjährigen Vertrautheit, die weiter besteht, auch wenn man sie vielleicht verlassen muss. Ein ähnliches Gefühl verbindet N auf den ersten Blick mit den Versen zwar auch: Die melancholische Stimmung, das Verhüllte und Vielschichtige der grauen Stadt am grauen Meer trifft wohl die Stimmung, in der sie sich gegenwärtig selbst befindet. Aber das Gedicht evoziert nicht das Gefühl, etwas erst kurze Zeit Liebgewonnenes verlassen zu müssen, um das man (wie N) acht Jahre hat kämpfen müssen, ein Gefühl also, in dem nach wie vor Unsicherheit und Verlustängste mitschwingen. Trotzdem ist es hier die Begegnung mit dem Gedicht, die jene Beziehungsproblematik beleuchtet, die N offensichtlich schon mehrere Jahre belastet. Diese Begegnung regt ein Bewusstwerden an, zumindest wird es N möglich, es deutlich zu benennen und sich zugleich die Frage nach einer Begründung zu stellen („ich verstand eigentlich auch gar nich warum das so war“). Die Vielschichtigkeit und Schwere des für sie so belastenden Problems kann N indessen hier nur andeuten („irgendwie“), eben weil der Prozess des Aufbrechens noch andauert und sie damit in einer Situation verweilt, von der sie sich noch nicht distanzieren kann. Viertes Zwischenresümee Das „vorauseilende Heimweh“ nach dem vertrauten (äußeren) Ort ist die erste Schicht, auf der N ihre Lage mit dem Stormschen Gedicht vergleicht und beides in einer gewissen Übereinstimmung erleben kann. Ihre Einschätzung „es passt halt grade ganz gut zu meiner Situation“ war zunächst nur auf den möglichen Abschied von der alten Heimat gemünzt. Mit dem Gedicht nur indirekt verbunden blitzt in einer zweiten Schicht ein weiteres Heimweh auf, besser: die Sehnsucht nach Freunden, nach einer Gemeinschaft mit Gleichaltrigen, von denen N akzeptiert wird, mit denen sie umgehen kann, um den größer werdenden sozialen Raum zu gestalten. Dieses Ge-
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fühl ist auf die Zukunft von N gerichtet, während sich das vorauseilende Heimweh auf eine Vergangenheit bezieht, die augenblicklich noch Gegenwart von N ist. Wiederum werden, korrespondierend mit 27 N und 28 N, Perspektiven ineinander geschoben und zeigen das Ausmaß der Verunsicherung von N, ihr Gefühl, hin und her gerissen zu sein zwischen Orten, die beide für sie „was anderes“ sind. Damit bestätigt sich die Interpretation aus 28 N. Melancholische Abschiedsstimmung und Verlustängste bilden so nur die kaschierende Hülle des unterschwelligen, bedrückenden Gefühles der Angst von N, der Aufbau neuer und tragfähiger Beziehungen zu Gleichaltrigen könnte wieder so lange wie einst dauern oder ihr nicht gelingen. Diese zweite Ebene ist für N noch schwieriger greifbar als die derzeit ungewisse Familiensituation, faktisch wird N davon jedoch viel stärker tangiert als von der Vorstellung eines Umzugs. Deutlich wird dies an ihrem Sprechduktus (stockender Sprachfluss, affektive Betonung, laute Ausrufe, häufige Pausen) und ihrer von Betroffenheit geprägten, originären Ausdrucksweise („als wär ich irgendwie’n bisschen giftig“; vgl. TZ 69). Was von jener ersten Schicht verdeckt wurde, kommt nun, auf dem Umweg über das Gedicht, in für N reflexiv nicht erschließbarer Weise (vgl. TZ 67 und 74) in Form einer „verdeckten Kompatibilität“ zum Ausdruck und ist zugleich eine weitere Bestätigung jenes Teils der Strukturhypothese, die zu Beginn als innere Ortsungewissheit formuliert wurde. Vorläufig können wir konstatieren, dass der Dialog mit dem Gedicht in N über die Reflexion der eigenen Entwicklung und das Erleben und Aussprechbarmachen widersprüchlicher Gefühle hinaus einen Prozess angeregt bzw. verstärkt hat, in dem latente Fragen der Adoleszenzkrise: „Wer bin ich, wohin geht mein Weg? Wer gehört zu mir, mit wem kann ich mich verbinden“127 bewusst wurden und die in ihren Worten, sie sei „in allem“ bzw. „insgesamt … im Aufbruch“ virulent sind (vgl. 37 und 38 N).
V.
Sequenzstellen zum Thema „Gedichte“
Die folgende Sequenz schließt unmittelbar an die Äußerung von N aus 43 N an, so dass der Bezug zum Umgang mit Gedichten gegeben ist. 22 I: hilft Ihnen das (’) I eröffnet ein neues Thema mit der Frage, ob N die Arbeit am Gedicht bzw. an Gedichten bezogen auf ihre aktuelle Situation als Hilfe erlebt. 127 Göppel 2005:227f
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44 N: (5) das kann ich jetzt eigentlich noch gar nich so sagen/… N überlegt längere Zeit (5 Sekunden), bevor sie antwortet, dass sie eine längerfristige Hilfe durch den Umgang mit Gedichten „jetzt“, also zu diesem Zeitpunkt „eigentlich128 noch gar nich so sagen“ könne. Mit anderen Worten könnte das heißen: „Ich kann es im Augenblick noch nicht so sagen, dass es eine allgemein gültige Aussage wäre.“ Eine Variante dieser Lesart wäre, dass N mit „so“ Distanz nimmt in dem Sinne, dass sie dies nicht so sagen könne, wie es entsprechend der angesprochenen Komplexität der Fragestellung von I vielleicht erwartet werde (vgl. Initialsequenz des Interviews und 18 I). 45 N: (2) also (,) ja also mir hilft es schon (2) Gedichte helfen schon meistens/… N hat in 44 N die Antwort auf die Frage von I in die Zukunft verschoben. Nach einer kurzen Pause eröffnet sie mit „also“ und dem wie eine Art SelbstAufforderung gesprochenen „ja“ eine der ersten widersprechende persönliche Einschätzung der Frage: „mir hilft es schon“, was erklärungsbedürftig ist. Eine generalisierende Einschätzung gibt N an dieser Stelle nicht ab. Ziehen wir jedoch ihre Äußerungen aus den vorangegangenen Sequenzen im Zusammenhang ihrer Erfahrungen mit dem Stormschen Gedicht hinzu, wird ihr Zögern verständlich: Die (aus)lösende Wirkung eines Kunstwerkes, in unserem Falle eines Gedichtes auf ihre Stimmung, ihre Befindlichkeit hat N gewissermaßen am eigenen Leibe erlebt; sie sieht dies jedoch ausschließlich in Bezug auf sich selbst und möchte kein allgemein gültiges Urteil darüber abgeben. Daher relativiert sie das Gesagte unter betonter Bezugnahme auf eigene Erfahrungen und sagt: „Mir hilft es schon“, so als wollte sie sagen: „Wie es anderen geht, weiß ich nicht, aber mir hilft es schon“ („schon“ hier im Sinne eines Abgeschlossenen, einer Gewissheit; vgl. Kluge 2002: 822-823). Danach macht N wiederum eine kurze Pause und kommt schließlich doch zu einem generalisierenden Urteil („Gedichte helfen schon“), das sie allerdings zeitlich einschränkt („meistens“). 46 N: weil wenn man das gewöhnt is mit Gedichten aufzuleben dann können die einem toll helfen aber wenn man damit einfach konfrontiert wird ohne dass man eigentlich genau weiß wie man damit umgehen soll (I: hmhm) (,) das verwirrt einen ziemlich (,) weil (,) manche Gedichte sind auch (,) man braucht ne bestimmte Reife um sie zu verstehn wenn man nie mit Gedichten gearbeitet hat (,) dann merkt man richtig hä (’) was soll ich jetzt eigentlich mit den Zeilen die sind ja total sinnlos (I: hmhm) 128 Vgl. Weinrich 2005:853 sowie Fußnote zu 4 N.
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Mit „weil“ eröffnet N eine Kausalität, die mit bestimmten Voraussetzungen verbunden sind („wenn“): wenn man „das“ gewöhnt ist. Wiederum verwendet sie die unpersönliche Form („man“) und spricht aus der reflexiv-kognitiven Distanz, die sie bereits beim Vergleich zur Entwicklung ihrer Geschwister eingenommen hat (vgl. 12 bis 15 N). Die Voraussetzung ist demnach das Gewöhnt-Sein an etwas, was sie unmittelbar danach bekundet mit der eher kuriosen Formulierung „mit Gedichten aufzuleben“. Die in diesem Zusammenhang merkwürdige Wendung „mit Gedichten aufleben“ benutzt N entweder analog zu „aufwachsen“, oder sie hat im Laufe des Sprechens die Worte „mit Gedichten aufzuwachsen“ und „mit Gedichten zu leben“ zu einem Ausdruck verschmolzen: „mit Gedichten aufzuleben“. „Aufleben“ bedeutet jedoch „sich regenerieren“ im Sinne der Verbesserung einer Befindlichkeit, die man nur durch oder nach etwas erreicht, zum Beispiel könnte man sagen: „Durch die Musik bin ich aufgelebt“ oder „Nach dem ersten Schluck Wasser bin ich wieder aufgelebt“. Beziehen wir die Erfahrungen ein, die N sowohl im Unterricht als auch in ihrer Familie machen konnte, ist die erste Lesart die stärkere, da sie der realen Situation von N entspricht. Sie ist mit Gedichten aufgewachsen. Vorsichtig könnte man formulieren: Sie lebt mit Lyrik auf mehreren Ebenen: in der rituellen Praxis des Unterrichts; im Dialog mit ihren Eltern und „Leitsprüchen“, die diese ihr zukommen lassen; im Austausch mit ihren Geschwistern bzw. im Vergleich ihrer eigenen Gedichtrezeption mit dem von Schwester und Bruder. Dies nennt N als Voraussetzung dafür, dass Gedichte „einem toll helfen“ können, wobei sie ihre Äußerung mit „toll“ („sehr“) verstärkt und damit impliziert, dass sie bei sich selbst die Voraussetzung erfüllt sieht. Das einschränkende „aber“ lässt einen Einwand erwarten, so als wollte sie sagen: „Was aber, wenn diese Voraussetzung nicht gegeben ist?!“ Nun skizziert sie eine Art Gegenbild: Eine Konfrontation mit Gedichten, ohne zu wissen, wie man damit umgehen soll, stiftet Verwirrung. Wieder stellt sie einen kausalen Zusammenhang her: „weil (kurze Pause) manche Gedichte sind auch “. Man erwartet hier eine Qualifizierung, indem sie beispielsweise erklärte: „sind schwer zu verstehen“. Sie zögert jedoch einen Augenblick und setzt dann, grammatisch etwas versetzt, hinzu: „man braucht ne bestimmte Reife um sie zu verstehn“. Hier greift sie ihre Einschätzung aus der Initialsequenz (17 bis 19 N) wieder auf, in der sie bemerkt, dass ihre Geschwister die Gedichte „anders verstehn“ bzw. „nicht genau verstehn…um was es da geht“. Gleichzeitig bringt sie damit zum Ausdruck, dass sie selbst die zu diesem Verständnis nötige Reife in sich empfindet. Unmittelbar danach schließt sie wieder an das Gegenbild an (Verwirrung durch mangelndes Wissen, wie mit Gedichten umzugehen sei) und bezieht sich nun auf die Arbeit an Gedichten im Unterricht: „wenn man nie mit Gedichten
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gearbeitet hat“ – hier hält sie wieder kurz inne – und folgert nun: „dann merkt man richtig“, „wie schwer das ist“ könnte sie fortsetzen. Stattdessen kommt hier ein für Jugendliche typischer Ausruf „hä?“, der in Situationen der Verblüffung oder absoluten Verständnislosigkeit ausgestoßen wird. N versetzt sich hier innerlich in die Situation eines Schülers, der „nie mit Gedichten gearbeitet hat“ (vielleicht die eines „Seiteneinsteigers“ in die Freie Waldorfschule), der also zum ersten Mal Zeuge einer morgendlichen Rezitation in der Klasse wird und aus einer gewissen Fassungslosigkeit einen Laut der Verblüffung ausstößt: „Hä?“. Er kann das Gedicht weder inhaltlich noch in seiner Geformtheit noch den Sinn der Übung verstehen, eben weil ihm die von N genannte Voraussetzung fehlt, daran gewöhnt zu sein, „mit Gedichten aufzuleben“. Das macht ihn hilflos, und die Verse werden für ihn zu Zeilen, zu Reihen oder Linien (vgl. Kluge 2002: 1006), die nicht Bedeutungsträger sind, sondern ihm sinnlos scheinen, von denen er sich fragt, was er „jetzt eigentlich damit soll“. 47 N: aber (,) wenn man also wir ham zu Hause immer Gedichte gesprochen und (I: hmhm) und (,) das war halt bei uns einfach normal dann (1 Wort ?) find ich einfach Gedichte keine Ahnung (I: hmhm) einfach gehörn so’n bisschen dazu [I: zum Leben (’)] ja (.) Mit „aber wenn man“ knüpft N an ihren vorigen Gedanken an („wenn man das gewöhnt is mit Gedichten aufzuleben“) und spricht nun als positives Gegenbeispiel davon, wie sie mit Gedichten gelebt habe, so als wollte sie sagen: „also (d. h. bei uns sieht das so aus) wir ham zu Hause immer Gedichte gesprochen“. Das heißt, sie hat mit ihren Eltern und ihren Geschwistern nicht nur ausnahmsweise und über Gedichte gesprochen, sondern sie wurden auch gesprochen, waren also als gewohnheitsmäßige sinnlich-ästhetische Erfahrung129 ins Familienleben integriert („das war halt bei uns einfach normal“). Daher findet N Gedichte – nun kommt wieder die soziolektale Floskel „keine Ahnung“ – „einfach gehörn so’n bisschen dazu“. Dieses „so’n bisschen“ ist einerseits restriktiv gemeint (Gedichte füllen nicht das gesamte Leben zu Hause aus), andererseits bestätigt die Formulierung einen gewissen Gewöhnungseffekt (man ist es gewöhnt, sie gehören dazu), von dem N auch zuvor sprach. Dieses Thema wird von I nicht weiter verfolgt. Sie nimmt die Gelegenheit nicht wahr, beispielsweise Genaueres darüber zu erfahren, von welchem ihrer Familienmitglieder die Initiative zum Gedichte-Sprechen ausgeht, um dies in die Analyse aufnehmen zu können. Sie vergewissert sich lediglich darüber, ob N sagen wollte, dass Gedichte „zum Leben“ dazugehören, was diese mit „ja“ beantwortet. 129 Vgl. Adorno 1977/3: 513f; Mattenklott 2004; Berg 2005
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Kurz darauf erzählt N, ihre Mutter habe ihr einen Spruch ins Poesie-Album geschrieben, den sie „irgendwie sehr schön“ fand. Von ihrem Vater habe sie einen „Leitspruch“ bekommen, „der einen durch’s Leben so trägt“; wobei der Ausdruck „Leitspruch“, den sie hier für die Verse des Vaters benutzt, darauf hindeutet, dass sie dessen Autorität als leitendes Prinzip ihres eigenen Handelns betrachtet. Beide Sprüche130 rezitiert N von sich aus, unbefangen und mit lebhafter Konnotation; dann sagt sie: 48 N: und so einfach so einige Sprüche die fand ich irgendwie total schön und die (,) nun die ham mich einfach begleitet (.) Nachdem N das Interesse ihrer Eltern an lyrischer Dichtung an Beispielen (Spruch für ihr Poesie-Album und „Leitspruch“) konkretisiert hat, formuliert sie ein ästhetisches Urteil mit den Worten, sie habe „so einfach so einige Sprüche … irgendwie total schön“ gefunden. Da sie von „so einigen“, also von mehr als den beiden zuvor genannten spricht, bekräftigt sie, dass Sprüche131 oder Gedichte, wie weiter oben bereits angedeutet (vgl. auch 14 N), einen festen Platz im Leben der Familie, vor allem von N haben. Mit dem Zusatz „einige“ schränkt N ihre Bewertung etwas ein; es waren nicht alle, sondern „einige Sprüche“, die sie schön fand, wobei sie nicht näher erklärt, was genau oder wie sie zu diesem Urteil gefunden hat. Diese Einigen aber qualifiziert N mit dem von Heranwachsenden öfter zu hörenden „total“ (im Sinne von „ganz und gar“) und bezieht dies auf Inhalt, sprachlichen Ausdruck, Reimform und Rhythmus. Sie benutzt nicht wie vorher „es hat mir einfach gefallen“, sondern verwendet stattdessen den fast belanglos gewordenen Ausdruck „schön“. In seiner ursprünglichen Bedeutung bezeichnet „total schön“ jedoch genau die Qualität, die N hier meint: „Einige sind für mein Empfinden in sich vollkommen, harmonisch“. Mit „und die“ setzt sie zu einer weiteren (charakterisierenden) Bezugnahme zu Sprüchen an. Hier zögert sie kurz, bevor sie das Wort „nun“ anschließt.
130 N sagt: „Also mein Vater hat mir geschrieben ›Geht es aufwärts niemals stolz . geht es abwärts niemals feige . behalte . deinen Weg im Auge und zeige . dass du bist aus edlem Holz‹“ (I: hmhm) „irgendwie so .. ähnlich .. und .. der von meiner Mutter .. das weiß ich gar nich mehr so genau (lacht). em . das handelt von nem Licht . den man im Herzen hat (I: hmhm) ›„Das Leben der Tod . o Herr sie sind dein . die Spanne dazwischen . das Leben ist mein . und irr ich im Dunkeln und find nicht heraus . bei dir Herr ist Klarheit .. und Licht ist dein Haus.‹“ (vgl. TZ 100-101) 131 Später äußert N sich auch zu Gedichten aus dem Englisch-Unterricht: „Wir sprechen im Unterricht so tolle englische Gedichte (I: hmhm) die sind so klasse (nennt Beispiel: ›„Be the best of whatever you are“‹) … egal ob du was du bist …. aber sei das Beste was du sein kannst (I: hmhm) und das war eigentlich so die Aussage und das war supergut das Gedicht und ich fand die einfach toll“. Dass N gerade dieses Gedicht „supergut“ fand, könnte auch ein Hinweis sein auf einen hohen Selbstanspruch bzw. Ehrgeiz von N.
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Der Ausdruck „nun“, ursprünglich abgeleitet aus „jetzt“ (vgl. Kluge 2002: 658), gehört text-grammatisch zu den neutralen Tempus-Adverbien, die auf eine neutrale Perspektive, d. h. die Perspektive zwischen Rück- und Vorausschau hinweisen (vgl. Weinrich 2005: 573). „Nun“ lässt in der Alltagssprache eine zusammenfassende Erklärung erwarten, ist jedoch als Eröffnung für eine Vierzehnjährige eher selten, klingt ein wenig antiquiert: „nun die ham mich einfach begleitet“. Mehrmals verwendet N hier wie auch in 47 N den Ausdruck „einfach“: „es war…einfach normal“; „Gedichte gehören einfach dazu“, dann im Zusammenhang damit, dass sie „einfach…einige Sprüche…total schön“ findet. Auch hier bezieht „einfach“ sich auf die alltägliche Situation von N, so als ob sie sagen wollte: „Es ist gar nichts Besonderes dabei: Gedichte haben mich immer begleitet, das ist einfach so.“ Völlig unprätentiös bringt N zum Ausdruck, dass sie sich in Bezug auf Gedichte ihrer Sache sicher ist und bekräftigt damit ihre Äußerung aus 47 N („Gedichte gehören…dazu“). „Begleiten“ ist eine Ableitung des Ausdrucks „das Geleit geben“ (vgl. Kluge 2002:102) und bedeutet: Es ist jemand neben mir und leitet mich in die von mir gewünschte Richtung bzw. hilft mir, auf meinem Weg zu bleiben. N sagt nicht: „Gedichte haben mich geführt“, was eher einem von außen bzw. von anderen Gesteuert-Werden, das heißt einem passiven Vorgang gleich käme. Wer „geführt“ wird, hat nicht die Zügel in der Hand, sondern wird durch andere, vielleicht sogar unbemerkt, gelenkt. Werde ich „begleitet“, ist der Begleitende neben mir; ich kann ihn sehen, er ist auf gleicher Höhe mit mir, ich kann mit ihm kommunizieren. Dieses Gefühl hat N in Bezug auf die Gedichte, mit denen sie bisher umgegangen ist: Sie hat sie kennen gelernt, hat sich mit ihnen auseinander gesetzt, hat Gefühle damit verbunden und sie als etwas erlebt, was sie im Alltag begleitet. Damit modifiziert N gleichzeitig ihre vorherige Einschätzung in Bezug auf die Frage von I, ob Gedichte ihr geholfen haben. Nehmen wir ihre Äußerung aus 44 N hinzu, kann sie dies generell noch nicht sagen. Was sie unter der Voraussetzung von „gewöhnt sein“ und „Reife“ mit Bezug auf sich persönlich sagen kann, ist: „die ham mich einfach begleitet“. Fünftes Zwischenresümee N ist in der Situation, dass sie Gedichte über die gesamte Zeit der ersten acht Schuljahre als lebendige Erfahrung sowohl in ihrem Elternhaus als auch in der Schule machen konnte, und zwar in Muße begrifflich weitgehend unverstellt, auf dem Weg eines gefühlsgebundenen, perzeptiv-aktiven Umgangs. Dass sie die Gedichte und Sprüche ihrer ersten Schuljahre daher als etwas bezeichnet, was sie begleitet, zeigt, dass N auch hier den qualitativen Unterschied zwischen der Aneignung eines Kunstwerkes durch ästhetische Erfahrung und der
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Aneignung von Wissen erkennen kann. Das Wissen, das N sich angeeignet hat, würde sie wahrscheinlich nicht als etwas bezeichnen, was sie „begleitet“. Gelerntes Wissen bezeichnet eher eine Art Ausstattung, die ein Mensch im Laufe seines Lebens anwenden und nutzen kann, während das, was einen Menschen begleitet, Äquivalent für etwas Lebendiges ist, etwas Wandelbares und Anpassungsfähiges, das ständig präsent ist und unabhängig von Zweckmäßigkeitsdenken. Diese qualitative Differenz drückt N präzise aus mit der Kontrastierung von „mit Gedichten aufleben“ und „konfrontiert werden mit Zeilen“. Darüber hinaus kann sie sehen, dass eine Sinn stiftende Initiation in die Sprache der Lyrik – so, dass „Gedichte helfen“ bzw. „begleiten“ – an bestimmte Bedingungen geknüpft ist: erstens an die Gewohnheit der Rezeption, zweitens an eine bestimmte Reife des Rezipienten. VI. Sequenzstelle zu Natalías Gedicht und dessen Interpretation Um die Analyse nicht unnötig zu verlängern, werde ich an dieser Stelle die Regel der Sequenzialität brechen und einen Sprung in den äußeren Kontext machen, der jedoch die Genauigkeit nicht beeinträchtigen dürfte. Ich fasse zusammen: I bezieht sich an der unmittelbar vorausgehenden Sequenzstelle auf einen früheren Interakt mit N (TZ 113-114), in dem diese ihr mitgeteilt hat, dass sie selber „sich auf dichterischen Spuren bewege“, wie I sagt. Kurz vor dem heutigen Interview habe sie einer Andeutung von N ihr gegenüber entnommen, dass diese zufällig eines ihrer Gedichte dabei habe. Dies wird von N bejaht, während I auf das Buch deutet, das N zu Beginn des Interviews vor sich auf den Tisch gelegt hat. Da N dies unaufgefordert aus dem Klassenraum mitbrachte, können wir daraus schließen, dass sie von vornherein die Absicht hatte, I einen Einblick in ihre dichterischen Versuche zu gewähren. Zu diesem Buch erklärt sie etwas später: „Also dieses Buch … da schreib ich nur die wichtigsten Sachen die mir im Leben am wichtigsten sind.“ (TZ 118-119) Mit einer darauf hinweisenden Gebärde teilt N mit, „das“ habe sie „jetzt…am 7.11. geschrieben“, wobei „das“ sich sinnlogisch auf einen der von ihr geschriebenen Texte bezieht. Das Ansinnen der I, N möge ihr etwas aus dem Buch der „wichtigsten Sachen“ zeigen, bedeutet für diese – obwohl sie das Buch eigens zu diesem Zweck mitgebracht hat – eine große Herausforderung, vor der sie sich mit der Bitte um allgemeines Verständnis absichern (TZ 146-147) und mit einem Lachen aus einer leisen Verlegenheit retten will. Dieser Absicherungsversuch gilt zugleich Natalías Sorge, I könnte das von ihr verfasste Gedicht mit dem vergleichen, wozu sie sich zuvor geäußert hat, und löst ein Erheischen um Nachsicht von I aus, die das Gedicht von Theodor Storm auf keinen Fall zum Maßstab für das von N selbst geschriebene nehmen soll. Nachdem I nach mehreren umständlichen Umwegen die Zu-
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stimmung von N erhalten hat, auch den Gedichttext aufnehmen zu dürfen, sagt N kurz entschlossen: 49 N: vielleicht wollen Sie das vorlesen (.) N versucht die Rollen zu tauschen und eröffnet ihren Vorschlag mit einem vorsichtigen „vielleicht“. Während in 19 N die „Frage“ „vielleicht lesen Sie’s mir grade mal vor“ von I ausging und die Bewährungsanforderung an N herunterspielen sollte, ist es an dieser Stelle N, die ihre Aufforderung in eine ähnlich rhetorische Formulierung kleidet: „vielleicht wollen Sie das vorlesen“. Motivierbar wäre der Wunsch nach einem Rollentausch unter der Prämisse, dass N zwar bereit ist (bzw. gehofft hat), I ihr selbst verfasstes Gedicht zur Kenntnis zu geben. Aber dies vor einer ihr fremden Person vorzulesen, davor scheut sie sich. Daher ist ihre Äußerung keine Frage an I, die immer auch das Risiko des Verneinens birgt, sondern eher eine letzte Möglichkeit, der Peinlichkeit einer plötzlichen „Autorenlesung“ aus dem Wege zu gehen. 23 I: ja gut (lacht) I ratifiziert den Vorschlag von N („ja“) und findet – sichtlich erheitert – den Rollentausch „gut“. 50 N: Sie können’s vorlesen (,) ich weiß ja dass ich möcht’s n-ich kann das irgendwie nich (I:hmhm) Der Satz: „Sie können’s vorlesen“, mit dem N anschließt, bezeichnet nicht das Ausräumen eines Zweifels (etwa daran, ob I lesen könne), sondern ist eher im Sinne eines entschiedenen Von-sich-Schiebens gemeint, so als wolle N die vorher mit „vielleicht“ kaschierte Aufforderung hier noch einmal wahrheitsgemäß und ihrer eigentlichen Intention entsprechend zum Ausdruck bringen: „Lesen Sie es!“ Mit dieser Aufforderung übergibt N ihr Werk (was sie „da geschrieben“ hat) in die Hände von I. Sie zeigt damit gegenüber I erstens ein hohes Maß an Autonomie und Entschiedenheit. Zweitens bringt sie ihrer Interviewerin großes Vertrauen entgegen. Sie weiß, wie wichtig I das Thema „Gedichte“ ist, und gibt ihr mit dem selbst verfassten Gedicht etwas in die Hand, was I einen Einblick in eine höchst private Sphäre von N erlaubt, die sie nun nicht mehr vollständig kontrollieren kann. In diesem Aspekt drückt sie mit den Worten „sie können’s vorlesen“ eine Art Sicherheitsvorkehrung aus im Sinne von: „Sie können damit umgehen“ oder „Sie lachen mich ja nicht aus“. Mit der anschließenden Wendung „ich weiß ja dass“ setzt N an zu einer Erklärung, so als wolle sie sagen: „Ich weiß ja, dass ich das auch selber könnte“ oder „dass das alles noch unvollkom-
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men ist“. Sie bricht jedoch wiederum ab, wobei ein unausgesprochenes „aber“ mitschwingt und einen Gegensatz erwarten lässt. N schließt unmittelbar an mit den Worten: „ich möcht’s n-“, als wolle sie sagen: „Ich weiß ja, dass ich es könnte, aber ich möcht’s nicht“. Auch das „nicht“ bricht sie ab und sagt schließlich: „ich kann das irgendwie nich“. Die Sequenzstelle zeigt, wie schwer es N fällt, nach der entschlossenen Übergabe des Gedichtes an I auszudrücken, was dabei in ihr vorgeht. Es überschneidet sich die Bereitschaft, I gefällig zu sein, mit der Sorge um Autonomieverlust durch die Preisgabe von Intimität; zugleich schwingt eine Art feiner Stolz von N mit, dass sie I – die aus ihrer Perspektive Expertin ist – selbst schon etwas vorweisen kann. Dies impliziert die Gefahr, I werde ihr Geschöpf nach äußeren Kriterien beurteilen. Diese unterschiedlichen und widersprüchlichen Gefühlsnuancen finden ihren Ausdruck in den vielen Abbrüchen dieser Sequenzstelle, wofür I mit „hmhm“ Verständnis ausdrückt. 24 I (I liest vor:) Fort von hier (,) fort von allem was ich liebe weg von dem was ich hier bin herausgerissen aus diesem Leben und in ein andres reingesetzt fort von allem was ich kenne weg von dem was ich hier wollte und von mir wird dann erwartet dass ich drüber glücklich bin niemand merkt (,) wie ich dran leide wie ich traurig drüber bin winkt aber doch am andren Ende nochmals ein weitrer Neubeginn hin und her gerissen zwischen den Gefühlen will ich bleiben (,) will doch fort und bin (,) eh ich mich versehe an einem ganz andren neuen Ort vielleicht ist das die große Chance der Blick auf die Zukunft liegt nun frei doch alles trübt der Schmerz des Abschiedes dieses Leben ist vorbei fühle mich ganz klein und hilflos mitten auf dem weiten Meer andrer Menschen und Gedanken aber es wird weiter gehen
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langsam doch (,) doch stetig aufwärts und ich werde (,) so ich hoffe Menschen finden (,) die mich verstehn in der Aufregung des Aufbruchs bemerkt keiner das kleine Kind das endgültig schwimmt davon auf dem Ozean des Lebens muss nun groß sein wie die andern und das werd ich (,) wird’s auch schwer hab ich doch (,) geheim (,) verborgen ein Stück des Kindes noch in mir (3 Sek. Pause) siebter elfter zweitausendsechs (.)
Exkurs: Interpretation des Gedichtes von Natalía Da es sich bei dem Gedicht um einen edierten Text, nicht wie bei einem Interviewtranskript um ein natürliches Protokoll handelt, werde ich bei der Interpretation in unterschiedlicher Detailliertheit und nicht streng sequenziell vorgehen. Auch werde ich mich, obwohl material nachweisbar ist, dass Natalía und das lyrische Ich identisch sind, um der Deutungsoffenheit willen auf die Autorschaft nur in der indirekten Form beziehen und den inneren Kontext der Analyse unberücksichtigt lassen. Mit dem ersten Vers des Gedichtes, der wahrscheinlich als Überschrift gedacht ist, wird mit einem fallenden Rhythmus das Thema angeschlagen: Fort von hier! Obwohl das Subjekt nicht genannt wird, taucht unmittelbar das Bild eines Menschen auf, der von einer elementaren Kraft ergriffen wird und diese ersten drei Worte in einem Gefühl des Überwältigtseins oder des Schmerzes ausruft. Spannung entsteht vor allem durch die Kontrastierung der Adverbien „fort“ und „hier“, ersteres als Direktionsadverb, das „nicht an die Sprecher-Position gebunden ist“ und eine Bewegung bezeichnet, „die von irgendeiner Referenz-Position ihren Ausgang nimmt.“132 Das zweite wird als Positionsadverb gebraucht, „um eine Äußerung innerhalb der kommunikativen Dyade ausdrücklich beim Sprecher zu situieren.“ (vgl. Weinrich a.a.O.: 561) Die Kontrastierung wird noch verstärkt durch die Komposition der Laute. Die Anfangskonsonanten der beiden ersten Worte („f“ und 132 Positionsadverbien dienen zur Charakterisierung der räumlichen Bedingungen einer Kommunikation; des konkret anschaulichen (deiktischen) Kommunikations-Raumes, wie er durch die leibliche Konfiguration der miteinander sprechenden Personen gebildet ist; vgl. Weinrich 2005: 565
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„v“), denen sich der gleiche Vokal („o“) anschließt, wirken wie ein Windstoß, der den Sprechenden (das lyrische Ich) aufhebt und fort nimmt aus seinem Hier. Dieses Hier ist ebenso unbestimmt wie komplex, meint jedenfalls mehr als eine zufällige Lokativbildung. Zwischen „fort“ und „hier“ entsteht eine abrupte Bewegung auf mehreren Ebenen: erstens lautlich (durch den Wechsel von den eher dunklen Vokalen [„o“ in „fort von“] zum hellsten [„i“ in „hier“]); zweitens auf der Ebene des lokalen Bezugs (durch die Vorstellung, von einem bekannten zu einem unbekannten Ort „fort“ zu müssen); schließlich des temporalen Bezugs (durch die Vorstellung eines Übergangs vom gegenwärtigen „hier“ zu einem zukünftigen Zustand). Diese dramatische Spannung evoziert das Bild einer existentiellen Auseinandersetzung mit noch unbenannten Forderungen oder Mächten, deren sich das lyrische Ich von vornherein nicht erwehren kann. Der folgende Vers „Fort von allem was ich liebe“ wiederholt nicht nur das Positionsadverb „fort“, sondern auch in gesteigerter Form den wie schwere Tränen fallenden trochäischen Rhythmus. Das lyrische Ich wird explizit gemacht („ich“), was uns die Gewissheit gibt, dass Natalía und das lyrische Ich identisch sind. Im Vergleich zu dem ähnlich verwendbaren Adverb „weg“ ist „fort“ durch die Verbindung mit „von allem“ an dieser Stelle stärker. Es drückt sich in ersterem eher etwas Temporäres, Aktives, Intendiertes aus (etwa wie Kerkelings: „Ich bin dann mal weg.“), aber auch etwas so Expressives wie Wut (im Sinne von: „Mir reicht’s, ich will hier weg!“), einem Aus-demWeg-schaffen-Wollen:„Weg mit dir!“. In „fort“ hingegen äußert sich eher Endgültigkeit oder auch Verzweiflung über ein von außen erzwungenes Muss. Durch den Bezug auf alles, was der Sprechende liebt, wird das „fort“ des ersten Verses zum Ausdruck einer totalen Entwurzelung: Jemand muss nicht nur seinen Wohnort verlassen, sondern seine Familie, alle Freunde, seinen gesamten Kulturkreis, in dem er verwurzelt ist und der einen Teil seiner Identität bildet. Fort zu müssen von allem, was man liebt, bedeutet den Verlust aller Bindungen, deren Quelle die Gefühle von Liebe und Zuneigung sind. Ein Mensch ohne Bindungen jedoch ist im Grunde nicht lebensfähig. Stärker noch als im ersten Vers bzw. der Überschrift drückt sich in diesem ein Gefühl totaler De-Autonomisierung aus: Bilder von gewaltsamer Vertreibung (Straflager, Landesverweis) werden evoziert mit der Konsequenz einer Auflösung aller substantiellen Bindungen. Mit „weg von dem was ich hier bin“ wird im folgenden Vers das Thema variiert. Hier wird jedoch statt „fort“ das Synonym „weg“ verwendet und die soziale Identität des Sprechenden avisiert („was ich hier bin“). Der Fokus liegt weniger auf der Position des Sprechenden, sondern mehr auf seiner Rolle als „sozial definierte und institutionell abgesicherte Verhaltenserwartung(en)“ und ist damit weniger basal (vgl. Krappmann 1993/8: 98). Der Sprechende sieht sich demnach gezwungen, einen Teil seiner sozialen Identität („was ich hier [also nach außen] bin“) weggeben zu müssen.
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In den folgenden beiden Versen wird ein anderer Kontext eröffnet: der Lebensumkreis des lyrischen Ich in Verbindung mit einer Pflanzenmetaphorik. Der Vers „herausgerissen aus diesem Leben“ wäre für sich genommen eine Todesvision. Erst die Fortsetzung „und in ein andres reingesetzt“ ruft statt des totalen Herausgerissen-Werdens (quasi einer Ent-Leibung) das Bild einer Pflanze hervor, die mit kruder Hand umgetopft wird: Aus „diesem Leben“, in das der Sprechende hineingewachsen, das mit seinem Bildungsprozess verbunden ist, fühlt er sich herausgerissen und „in ein andres reingesetzt“. Das Empfinden eines rücksichtslosen und fremdbestimmten Ver-Ortens wird noch verstärkt dadurch, dass statt von „eingesetzt“ von „reingesetzt“ gesprochen wird. Das lyrische Ich hat demnach nicht das Gefühl, es werde mit gärtnerischer Sorgfalt besseren Wachstumsbedingungen anvertraut. Die nächsten Verse sind eine Art zweiter Aufgesang des Hauptthemas. Das lyrische Ich kommt als Akteur ins Spiel, indem es sich zunächst distanziert, persönliche Erfahrungen reflektiert und seine Gedanken mit den bereits anfangs gebrauchten Positionsadverbien eröffnet. Signifikant dabei ist, dass in sämtlichen bisher interpretierten Versen genau das fehlt, was dem Sprechenden faktisch so sehr zu schaffen macht: das in künstlerischer Handlungsfreiheit unausgesprochene, aber höchst virulente „Ich muss“ bzw. das „Ich werde“ (im passiven Sinne, etwa wie „mir widerfährt etwas“). Dies den entsprechenden Versanfängen vorangestellt, würde es z. B. heißen: „Ich muss fort von allem … ich werde herausgerissen“ etc. Dem schließen sich zwei Verse an, in denen eine unterschwellige Empörung ausbricht: „und von mir wird dann erwartet / dass ich drüber glücklich bin“. Das lyrische Ich spürt die Beziehungsfalle: Dieselbe Macht, die es aus diesem Leben herausreißen will, hat zugleich die Erwartung, es müsse „glücklich drüber“ sein. Um in der Metaphorik des mittelalterlichen Liedes zu bleiben, bilden die beiden folgenden Verse den Abgesang und drücken in einer expressiven Klage unmissverständlich aus, dass sich das lyrische Ich „von aller Welt verlassen“ fühlt, denn „niemand merkt, wie ich dran leide“. Die Klagestimmung währt jedoch nicht lang. Neues „winkt“ und wird gleich dreifach angekündigt: als eine Wiederholung („nochmals“, „ein weitrer“) und mit der Tautologiebildung „NeuBeginn“. Mit einer überraschenden Kehrtwendung und zugleich ein wenig aufmüpfig nimmt der Sprechende („aber doch“) die Zukunft in den Blick, die hier im Bild des „andren Endes“ eingeführt wird und Ausdruck einer ungebrochenen Hoffnung ist. Der Sprechende befindet sich also in einer Position zwischen einem Vergangenen und einem Neuen. Während in den ersten beiden Strophen spontan der Eindruck entsteht, das lyrische Ich rede aus der Distanz eines eher fortgeschrittenen Lebensalters, bricht sich hier – und stärker noch in den folgenden Versen – die wechselhafte Stimmung von „himmelhoch jauchzend“ / „zu
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Tode betrübt“ eines heranwachsenden Selbst Bahn. Die zuvor ausgerufene Klage wird abgeschwächt, das fast durchweg verwendete Versmaß des Trochäus löst sich auf, wird ein unregelmäßiges Pulsieren. Dem korrespondiert der häufige Wechsel von Stimmungen und Motiven: Die Rede ist vom Hin-und-her-gerissenSein zwischen den Gefühlen, vom Bleiben-, vom Fort-Wollen, vom „ganz andren neuen Ort“. Der Sprechende findet zwar einen authentischen und kreativen Ausdruck für sein Leid und seine Trauer, doch im nächsten Atemzug schon wird daraus etwas ganz anderes, „die große Chance“. Mehr noch, der Wink vom andren Ende wird zu einer Art Befreiung: „Nun“, sagt das lyrische Ich, liege der Blick auf die Zukunft frei. Dieses „nun“ impliziert den Bezug auf die Situation „Fort von hier“ und steht im Widerspruch zur schmerzlichen Klage vom Anfang des Gedichtes. Im Blick auf die Zukunft („nun“) wird der Verlust des Alten zu einem Akt der Befreiung: „Jetzt, da ich fort muss, liegt der Blick…frei.“ Auffällig ist die Blickrichtung, die an dieser Stelle von oben nach unten weist. Der Sprechende befindet sich nicht auf gleicher Ebene mit der Zukunft und blickt in ihre Weite, sondern in einer eher herausgehobenen Position. Man könnte auch sagen, er blickt aus einer Distanz zum Selbst auf die Zukunft, die unter ihm liegt, auf die er aus dieser Perspektive nicht zugehen, in die er nur fallen kann. In den folgenden Versen reproduziert sich die Dynamik. Das lyrische Ich beklagt den Abschiedsschmerz, greift noch einmal zurück auf die Todesmetaphorik mit dem Vers „Dieses Leben ist vorbei“. Wieder klingt die Spannung auf zwischen einem winzigen Ego und einem übermächtigen Alter, diesmal ins Bild des kleinen, hilflosen Kindes „mitten auf dem weiten Meer andrer Menschen und Gedanken“ gefasst. Gleich darauf ertönt wiederum die Stimme der Vernunft mit der etwas formelhaften Maxime „Aber es wird weiter gehen“. Erst in den letzten Versen findet der Sprechende einen authentischen Ausdruck für das spannungsvolle Verhältnis von Autonomie und Heteronomie, beginnend mit den Worten: „Muss nun groß sein wie die Andern.“ Das harte „Ich muss“, das vorher unausgesprochen blieb, wird hier zu einer Art SelbstErmutigung, einem Entschluss, den das lyrische Ich fasst: „und das werd ich / wird’s auch schwer“. Erst ganz zum Schluss des Gedichtes verrät uns der Sprechende den Quell seiner Hoffnung, sein Geheimnis, das er wie eine kostbare und zugleich ermutigende Habe in sich fühlt („hab ich doch“): Es ist das „Stück des Kindes“, das er „geheim, verborgen“ in sich trägt und das ihm hilft, schmerzliche Gefühle, die am Anfang des Gedichtes so bitter beklagt wurden, zu überwinden. So erhält das Gedicht zum Schluss eine Qualität, die mehr ausdrückt als frühadoleszente Gefühlsschwankungen bzw. den Kampf zwischen autonomen und heteronomen Bestrebungen. Das „Stück des Kindes“ wird zum Synonym für die Habitusformel eines strukturellen Optimismus, die sich mit der Bewältigung der ersten großen Ablösungskrise (der Geburt) im Individuum gebildet hat und wie ein verborgenes „Wissen“ der angesammelten Zuversicht in ihm lebt.
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Fortsetzung der Analyse: 51 N:
(lacht kurz auf) ja also manchmal hab ich so/ …
I macht nach dem Vorlesen eine längere Pause und nennt anschließend ein Datum. Da dies auf den Gedichttext folgt, handelt es sich vermutlich um den Tag, an dem N das Gedicht geschrieben hat. Unmittelbar danach lacht N auf. Erinnern wir uns daran, dass sie sich vorher nicht in der Lage fühlte, ihr Werk selber vorzulesen („ich kann das irgendwie nich“, 50 N). Beim Vortrag von I wurde sie nun zur Zuhörerin ihrer eigenen Schöpfung und stand höchst wahrscheinlich unter einer bis ins Leibliche spürbaren Anspannung. Von daher ist ihr Lachen eine Reaktion auf eine Art Ablösungskrise, quasi eine körpernahe Erleichterung in einer höchst angespannten Situation. Sie wartet nicht auf einen Kommentar von I, sondern setzt an mit einer typischen, atmosphärischen Konsens stiftenden Anfangsmarkierung („ja also“), so als wolle sie ihr Gedicht kommentieren. Motivierbar gemacht werden könnte dieser unvermittelte Übergang unter der Prämisse eines ausgeprägten Selbstbewusstseins von N im Sinne von „dazu kann/ sollte/ darf keiner außer mir selber etwas sagen“, oder dass N mit diesem etwas vorschnellen Anschließen eine gewisse Verlegenheit überspielen wollte. Das Erste wäre gedeckt durch die Bereitwilligkeit, mit der N der Interviewerin ihr Gedicht eigens zum Zweck seiner Kenntnisnahme mitgebracht und ihr damit einen Einblick in ihre Privatsphäre gewährt hat. Das Zweite hingegen wäre gedeckt durch die situative Anspannung, die insgesamt expressive Konnotation ihrer Äußerungen (Auflachen) und das wie Nachsicht erheischende „ja also“, was alles eher für die zuletzt genannte Lesart spricht. Mit „manchmal hab ich“ erwartet man ein Resümee oder eine Erklärung von N, die zeitlich begrenzt („manchmal“) und durch das Adverb „so“ profiliert wird (vgl. Weinrich 2005: 583). Referenzobjekt des Folgenden müsste dem inneren Kontext nach ihr Gedicht sein. N könnte nun z. B. anschließen mit: „Manchmal hab ich so Stimmungen/ Erlebnisse/ Ideen, die ich unbedingt in einem Gedicht beschreiben will“ o. ä., im Sinne einer Erklärung oder auch Rechtfertigung, warum oder bei welcher Gelegenheit sie Gedichte schreibe. 52 N: Phasen da bin ich total (,) traurig (,) und manchmal/ … Im Anschluss an das Vorige verwendet N (wie schon in 26 N) den Ausdruck „Phasen“. Sie drückt damit aus, dass sie sich in einem Zustand fühlt, der sie von außen ergreift und nicht unmittelbar von ihr beeinflusst werden kann. Zugleich weiß sie, dass eine Phase zeitlich relativ stark abgegrenzt ist und wieder vorübergeht. „Da“, in diesen Phasen, „bin ich total“, d. h. mit allen Fasern wird sie von einem Gefühl ergriffen: einer absoluten Traurigkeit. Das kurze Zögern vor
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und nach dem Wort „traurig“ deutet darauf hin, dass es ihr nicht unwillkürlich über die Lippen kommt, sondern dass sie es bewusst verwendet. Mit der anschließenden Konjunktion „und“ erwartet man nun, dass den „Phasen“ des Traurigseins aus 51 N ein Gefühlsäquivalent angereiht wird, vor allem auch durch das gleiche Frequenz-Adverb („manchmal“), so als wolle sie sagen: „Manchmal bin ich total traurig und manchmal unheimlich lustig“ (vgl. Weinrich 2005: 582). 53 N: eigentlich bin ich dann auch (,) N setzt neu an und markiert mit dem Einschub der Modalpartikel „eigentlich“ eine Art Wendung, möglicherweise einen anstehenden Themenwechsel, der an dieser Stelle dem inneren Kontext zufolge eine Einschränkung des erwarteten Gefühlsäquivalents ausdrücken könnte. Durch dieses vorsichtige Einbeziehen einer Einschränkung (oder Zweifels) verliert die noch unvollständige Reihung „traurig vs. X“ an Deutlichkeit. N drückt damit aus, sie befinde sich in einer solchen Phase nicht in einem absoluten Gegensatz zum „total“ Traurig-Sein, sondern in einem eher verhaltenen Zustand von Fröhlichkeit o. ä. Mit dem „auch“ nimmt sie nochmals Bezug auf ihr Traurigsein, so als wolle sie sagen: „Manchmal ist es so, aber dann gibt es Zeiten/Phasen/Tage, da ist es auch anders.“ Das Entscheidende dieser Sequenzstelle ist die Zurückhaltung beim Ausdrücken einer positiven Stimmung, während N sich vom Traurigsein „total“ ergriffen fühlt. Wiederum macht sie eine kurze Zäsur. Man darf also gespannt sein, mit welchem Gefühl N ihr Traurigsein kontrastieren wird. 54 N: ja N schließt jedoch mit „ja“ an, so als wolle sie durch dessen Eröffnungscharakter das Folgende eigens hervorheben und suche noch nach einem passenden Antonym für das, was sie kontrastierend zu „total traurig“ anführen will. Eine andere Option wäre, die Dialogpartikel „ja“ markiere hier den Wunsch nach einem positiven Gesprächsklima und nach Verständnis von I für etwas, das auszusprechen für sie problematisch, kurz: mit dem sie nicht ganz einig ist. 55 N: is ja auch ne neue Chance (,) wenn man (,) was Neues (,) dann machen kann (I: hmhm) und so aber (1) N wählt die zweite Option, unterdrückt damit das Benennen des Gefühlsäquivalents zum totalen Traurigsein und schließt in etwas verkürzter Form an („is“ d. h. „es ist“), indem sie mit „ja“ anzeigt, dass I Kenntnis hat von dem, was im Folgenden thematisch ist. Mit „auch“ führt sie ein Argument ein, das vorige Äußerungen ergänzen soll, nämlich dass sie etwas als „ne neue Chance“ sieht. Diese
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Wendung könnte motivierbar werden unter der Prämisse, dass N ihre Traurigkeit, das vorauseilende Heimweh und die Verlustängste durch den Hinweis auf „ne neue Chance“ zu beschwichtigen suche. Der Einwand, sie habe Scheu oder Bedenken, vor der Interviewerin ihre persönlichen Gefühle auszubreiten, kann kassiert werden mit dem Hinweis auf die ungewöhnlich bereitwillige und offene Haltung, mit der N zuvor (trotz des Schweigegebots!) über ihre Familiensituation gesprochen und I sogar Einblick in das von ihr verfasste Gedicht gewährt hat. Mit dem Attribut „neu“ ergibt sich aus der Chance, die N sich für die Zukunft zuspricht, ein latenter Bezug zu ihrer Beziehungsproblematik zu Gleichaltrigen, so als ob sie sagen wolle: „Ich hatte schon einmal die Chance, Freunde zu finden; wenn ich umziehen muss, dann habe ich ja eine neue.“ Sie bricht also die Reflexion ihrer persönlichen Gefühle ab, geht über zu einer eher generalisierenden Sichtweise und betrachtet sich und ihre Situation von einer Außenposition her: Im Falle eines Umzugs („wenn“) bestehe „ne neue Chance“, dass „man …dann“ was Neues „machen“ könne. Der zweifache Hinweis auf den Aspekt des Neuen gibt der Äußerung etwas Redundantes, das gut zur Lesart der Selbstbeschwichtigung passt. Das Wort „machen“, das N kurz danach verwendet, macht einerseits die Lesart der Selbstbeschwichtigung stark – etwa im Sinne von „Es lässt sich daran ja etwas machen!“ – Andererseits drückt diese Wendung die zuversichtliche Grundhaltung von N aus, die Intention, ihre Situation trotz des Leids und ihrer Verlustängste aktiv zu gestalten. Worin genau das Neue und das Machbare bestehen könnte, lässt N an dieser Stelle im Vagen („und so“). Unmittelbar danach setzt sie ihre Äußerung mit einem „aber“ fort. Die Chance des Neuen, die sie zuvor im Aspekt der Vernunft beschworen hat, und die Bereitschaft, sich in die Entscheidung ihrer Eltern zu schicken, kippen hier wieder um. Dem inneren Kontext entsprechend wäre nach dem adversativen „aber“ zu erwarten, dass N wieder zur Darstellung ihrer persönlichen Befindlichkeit umschwenken wird, die sie in 53 N abgebrochen hat. Die nachfolgende kurze Pause lässt jedoch ahnen, wie schwer es N fällt, sich dazu mitzuteilen. 56 N: ja und/ … Auch hier vermeidet es N, sich zu dem auszusprechen, was denn der Chance des Neuen entgegenstehe. Stattdessen bricht sie ihre vorige Äußerung ab und eröffnet mit „ja und“ einen neuen Sprechakt. N hätte nun die Möglichkeit, trotz des mehrfachen Abbrechens und Zögerns an ihre persönliche Befindlichkeit bzw. Verlustangst anzuschließen, im Sinne von: „Ja und dann ist es wieder genauso wie vor acht Jahren“. Eine andere Option wäre, dass sie zu einem Resümee ansetzt, etwa als wolle sie sagen: „Ja und das ist es eben, was mir schwer fällt/mir stinkt/mir Kummer macht/wogegen ich ja nichts machen kann.“
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57 N: das is’n bisschen (1) manchmal’n bisschen hin und her (I: hmhm) (,) zwischen’ander (1) was (1) N wählt die zweite Anschlussmöglichkeit und setzt zu einer resümierenden Bezugnahme auf ihre gesamte Situation und Befindlichkeit („das“) an. Dies müsste sie im Folgenden näher ausführen. Bevor sie jedoch wie auch immer darauf eingeht, schränkt sie ein („n bisschen“). Eine weitere, diesmal temporale Einschränkung folgt nach einer kurzen Pause wiederum mit dem Frequenz-Adverb „manchmal“. „Das“, um was es ihr hier geht, erfasst sie also nicht „total“ wie das Traurigsein in 52 N, sondern „n bisschen“ und nicht immer, sondern „manchmal“. Nach diesen Einschränkungen verwendet N für ihre Erklärung zwei Wendungen: „hin und her“ sowie – nach einer Verständnisbekundung der I – die vieldeutige Wortschöpfung „zwischen’ander“. Der Ausdruck „hin und her“ ist eine Verbindung von zwei Direktionsadverbien, die „zusätzlich zur Position eine Richtung angeben“, und zwar geht die Bewegung einmal vom Sprechenden aus („hin“), im anderen Fall auf ihn zu („her“). In der Umgangssprache wird er in dieser Kombination u. a. verwendet, um eine Unentschiedenheit, ein Fassen und wieder Zurücknehmen von Entschlüssen oder auch eine eher nicht gerichtete, oft ziellose Bewegung zu kennzeichnen (vgl. Weinrich 2005: 564-565). Sinngemäß sagt N damit: „Ich habe das Gefühl, hin und her gerissen zu sein.“ Die Wortschöpfung „zwischen’ander“ ist eine Zusammensetzung aus der Präposition „zwischen“ (als Ausdruck einer Position) und „ander“ als Ausdruck von Alterität. Sie bezeichnet die Spanne der kommunikativen Dyade (von N und ihren Eltern) im Sinne eines Zwischenzwei-Stühlen-Sitzens (vgl. Weinrich 2005: 647). Hier gibt sie sowohl einen Hinweis auf die noch ungeklärte familiale Situation von N (Umziehen oder Dableiben) als auch auf ihre tiefe Verunsicherung mit Bezug auf ihre Erfahrung beim Aufbau von Peer-Beziehungen (Freunde finden oder nicht finden). Man könnte die originäre Wendung „zwischen’ander“ auch damit paraphrasieren, dass N sich in einem Zustand „zwischen Anderen“ erlebt. Dass N das tatsächliche Durcheinander eines Umzugs antizipiert, schwingt dabei latent mit. Dann folgt nach einer kurzen Pause eine unbestimmte, wie ins Leere laufende Frage („was“), ein Ausdruck absoluter Ratlosigkeit, so als wolle sie sagen: „Was weiß ich?“ oder „Was kann ich denn in dieser Situation machen?“ Dem „was“ folgt jedoch keine weitere Erklärung oder Präzisierung ihrer Frage, sondern N bricht wiederum ab und macht eine kurze Pause. N müsste nun entweder doch noch ihre Was-Frage stellen oder auf irgendeine andere Weise auf ihre Befindlichkeit eingehen. 58 N: ja also ich kann mich jetz auch nich unbedingt entscheiden das wird ja einfach von (2)
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N eröffnet mit der gleichen Anfangsmarkierung, die sie in 51 N verwendete, eine authentische Aussage (sie spricht von „ich“) zu den konkreten Bedingungen, die unter Einbezug des inneren Kontextes einen Hinweis auf ihren Leidensdruck (ihre Befindlichkeit) geben: Als Achtklässlerin („jetz“) verfügt sie noch nicht über die „unbedingt(e)“ Freiheit, d. h. sie lebt noch unter Bedingungen, unter denen ihr eine autonome Entscheidung in der Frage des Wohnortes weder abverlangt noch erlaubt werden kann. In diesem Sinne stellt die Modalpartikel „auch“ eine Verbindung her zu vorigen, den befürchteten Umzug betreffenden Äußerungen (vgl. Weinrich 2005: 847). Sie ist der Realistik geschuldet, die N ihr Abhängigkeitsverhältnis von den Entscheidungen der Eltern vor Augen führt, so als wolle sie sagen: „Es ist ja nicht nur das Hin und Her schwer für mich, sondern auch die Tatsache, dass ich nicht diejenige sein kann, die sich entscheidet.“ Erklärungsbedürftig bleibt erstens das Wort „kann“, zweitens die Reflexivität ihrer Wortwahl, indem sie sagt: „Ich kann mich …nich…entscheiden.“ Konsistent wäre die obige Lesart, wenn sie gesagt hätte: „Ich bin nicht diejenige, die das entscheidet.“ Die von ihr gebrauchte Formulierung impliziert, dass N unterschwellig das Bedürfnis zum Ausdruck bringt, sie sei diejenige, die vor einer Wahl stünde und sich nicht entscheiden könne, sie sei auch hier die Aktive, die agiert und „was Neues…machen kann“ (vgl. 55 N). Motivierbar wäre diese widersprüchliche Formulierung erstens im Hinblick auf ihre dem frühadoleszenten Status entsprechenden Autonomiebestrebungen, zweitens unter Berücksichtigung ihrer existentiellen Verunsicherung quasi als Ausdruck ihrer inneren Ortsunsicherheit. Unmittelbar darauf schließt N an mit dem Satz „das wird ja“, wobei „das“ sich sinnlogisch auf das bezieht, was die Ursache ihrer Verunsicherung ist: die Ungewissheit des Wegziehens oder Dableibens. Dies bestätigt die passive Form des Folgenden, denn diesem „das“ geschieht etwas, es „wird ja einfach von“, so als wolle sie sagen „Das wird ja einfach von meinen Eltern entschieden.“ An dieser Stelle bricht N wiederum ab und macht eine etwas längere Pause. 59 N: ich kann ja nich sagen ich bleib trotzdem hier (I: hmhm) weil (,) N behält die direkte Form der Aussage bei und verstärkt mit ihrer Bekundung das im vorigen Abschnitt Herausgearbeitete. Zu sagen, sie bleibe trotzdem hier, kann dem inneren Kontext entsprechend nur an ihre Eltern adressiert sein. Dies aber: Wenn der Rest der Familie umziehen sollte, trotzdem hier zu bleiben, das kann N nicht. Unmittelbar nach der Verständnisbekundung von I setzt N zu einer Begründung an („weil“). 60 N: ich muss dann vielleicht auch irgendwann weg aber (1)
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Der folgende Sprechakt („ich muss“) ist ein vollständiger Satz und als Anschluss an das Vorige zwar gebräuchlich, doch rein grammatisch fehlerhaft. N setzt damit neu an und avisiert einen Moment, der sich durch den Zusatz von „vielleicht“ und „irgendwann“ nicht auf ihre momentane Ungewissheit beziehen kann, sondern eine zukünftige Situation antizipiert („dann“). Die einfachste Lesart wäre nun, dass damit der noch ungewisse Umzug gemeint sei. Eine zweite Lesart wäre, dass sie z. B. ihre Volljährigkeit, die Zeit nach der Schule, wenn sie erwachsen ist o. ä. meint. Dies würde kontrastierend anschließen an ihre Äußerung aus 58 N, („ich kann mich jetz…nich entscheiden das wird ja einfach“), d. h. N würde auf das „jetz“ zurückgreifen, nun aber die Zukunft ins Auge fassen, nämlich „dann“, wenn sie selber Entscheidungen treffen kann. „Jetz“ meint die Gegenwart, in der sie vielfach noch fremdbestimmt ist und über sie entschieden wird (vgl. 58 N „das wird ja einfach von“). Sie kann sich aber auch schon eine Zeit der Unabhängigkeit vorstellen und weiß, dass sie „dann vielleicht…“, so wie andere Heranwachsende („auch“), weg muss. In der zweiten Lesart würde sich also das Muss auf Geheiß der Eltern (vgl. TZ 53) mit einem Muss aufgrund autonom getroffener Entscheidungszwänge vermischen. Stark gemacht wird die zweite Lesart durch das unmittelbar anschließende „aber“, das die Virulenz der Adoleszenzkrise von N und ihr wachsendes Autonomiebedürfnis markiert, als wolle sie sagen: „Aber das ist ja dann etwas anderes, das hängt ja dann mit meinen Entscheidungen zusammen.“ Eine Variante dieser Lesart wäre, dass N mit „aber“ auf die für sie problematische Entscheidungshoheit ihrer Eltern zurückgreift, als wolle sie sagen: „Aber jetzt muss ich ja noch tun, was meine Eltern von mir erwarten.“ Auch die Variante wäre eine Bestätigung für die Lesart der latent spürbaren Adoleszenzkrise. Von entscheidender Bedeutung ist jetzt, für welche Form des Anschließens sich N entscheiden wird. 61 N: m’muss halt’s Beste draus machen m’s manchmal (,) aber trotzdem (,) manchmal (,) is’s dann auch (I: hmhm) (2) bisschen (,) schade (.) Nachdem N in den vorangegangenen Sequenzstellen in der Ich-Form gesprochen hat, geht sie hier zur unpersönlichen Form über („man“). Sie vermeidet damit zu explizieren, was durch das adversative „aber“ in 60 N zu erwarten war, und geht auf Distanz, indem sie – sich zugleich wieder selbst beschwichtigend – mit einer Art allgemein gültiger Handlungsmaxime aufwartet: „M’(d. i. man) muss…das Beste draus machen.“ Das klingt vernünftig, doch der moralische Anspruch erhält durch das hinzugefügte Wort „halt“ einen leicht resignierten Unterton. Auch die an dieser Stelle undeutlich werdende Artikulation zeigt, dass N dieser Maxime nicht uneingeschränkt zustimmen kann. Dies wird sowohl durch das folgende,
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leider nicht eindeutig zu identifizierende „m’s manchmal“ markiert (im Sinne eines kurzen Zögerns [„em“], das N zusammenzieht mit dem Subjekt [„es“]), als auch die adversative Wendung „aber trotzdem“, wodurch das hohe Lied des DasBeste-draus-machen-Müssens mit einer Art Kontrapunkt versehen wird. Wiederum zögert N kurz, als hielte sie etwas davor zurück, die durch das „aber“ zu erwartende Gegenposition in Worte zu fassen. Umgangssprachlich würde man diese Sequenzstelle paraphrasieren mit der Wendung: „Sie will nicht heraus mit der Sprache“. Danach wiederholt sie die zeitliche Einschränkung („manchmal“) und setzt – von mehreren Zäsuren und Pausen unterbrochen – erneut dazu an, der zuvor verkündeten Handlungsmaxime nun ihre persönliche Haltung zum konkreten Problem (des Wegziehens oder Dableibens) Ausdruck zu geben. N macht eine kurze Zäsur, bevor sie den begonnenen Satz mit dem Prädikat „schade“ abschließt. Der Ausdruck „schade“, der in der heutigen Umgangssprache oft als Ausruf gebraucht wird, hängt etymologisch zusammen mit „Schaden, Nachteil“ (vgl. Kluge 2002: 790). In der vorliegenden Sequenzstelle sagt N damit, „es“ – nämlich die Situation – sei für sie mit Nachteilen verbunden. Dieses Bekenntnis auszusprechen fällt ihr nicht nur schwer, sondern sie weiß zugleich, dass mit Nachteilen immer auch Vorteile (vgl. 55 N; „ne Chance“, „was Neues“) einhergehen, die vielfach erst im Nachhinein sichtbar werden. Dies korrespondiert ihrem Ausdruck aus 57 N: Sie empfindet auch hier ein „hin und her“, ein „zwischen’ander“ von möglichem Gewinn und Verlust. In diesem Aspekt bestätigte sich in der Einschränkung des Adjektivs „schade“ mit dem Wort „bisschen“, dass N sich mit Hilfe ihrer reflexiv-kognitiven Fähigkeiten und Realistik von ihren Verlustängsten zu distanzieren versucht. Nicht auszuschließen ist, dass dabei eine gewisse Vorsicht von N mitschwingt, sie wolle gegenüber I nicht zu viel von sich preisgeben, d. h. aus Sorge um einen Autonomieverlust.133
Sechstes Zwischenresümee Im letzten der hier dargestellten Segmente konzentrieren sich die ambivalenten Gefühle und die tiefe Verunsicherung von Natalía. Ein Ablaufmuster wird sichtbar: Sequenzstellen, in denen sie über ihre Verlustängste, ihr Sich-zwischenAnderen-Fühlen räsoniert, wechseln ab mit solchen, in denen sie aufgrund eines für ihren frühadoleszenten Status erstaunlichen Reflexionsgrades rationale Erklä133 Gedeckt wäre dies durch eine Äußerung, sie habe sich gegenüber anderen Schülern über ihren Vater/ihre Eltern kritisch geäußert und dabei sehr negative Erfahrungen gemacht: „ich mag’s nich so gern wenn andere Leute so viel über mich wissen weil manchmal ziehn die Schlüsse die ich überhaupt nich weiß und dann wissen sie mehr über mich als ich selbst über mich“ (vgl. TZ 137-146).
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rungen findet, mit denen sie ihre Gefühle in Schach halten kann. Doch unmittelbar danach kippt die Stimmung wieder um, sie wiederholt ihre Klage und das Muster reproduziert sich. Was wirklich in ihr vorgeht, das Gefühl, „herausgerissen“ zu werden, sich von ihren nach langen Kämpfen und Misserfolgen endlich gefundenen Freunden vielleicht verabschieden zu müssen (und darüber glücklich sein zu sollen), wird in diesem eher verhaltenen Stimmungsbarometer nicht deutlich; man erfährt es in seiner existentiellen Bedrohung nur aus den Versen des von ihr verfassten Gedichtes. Dass Natalía dies der Interviewerin nicht selbst vorlesen (und es damit in gewisser Weise herausgeben bzw. veröffentlichen) kann, ist verständlich. Was Heranwachsende schreiben oder dichten, ist Versuch der Reflexion, Entlastung von Gefühlsüberschwang, Konzentration auf Gedanken, die der Betreffende in der Regel mit niemandem anderen, nur mit sich selbst besprechen will. Natalía hat ihr Gedicht in jenes Buch geschrieben, von dem sie sagte, sie schreibe dort „nur die wichtigsten Sachen die mir im Leben am wichtigsten sind“ auf. Das Buch ist demnach ein wesentlicher Teil ihrer Privatsphäre. Aus dem Gang der Fallrekonstruktion können wir schließen, dass ihre Bereitschaft, der Interviewerin Einblick in dieses „geheime“ Buch (ihr Gedicht) zu geben, dem nicht widerspricht. Sie wird vielmehr motivierbar mit Natalías Zugang zu Lyrik und einem Bedürfnis, sich weniger der Person der I als der „Expertin für Lyrik“ auf der kreativen Ebene mitzuteilen. Schlussresümee und Ergebnis Fallrekonstruktion Natalía Wie die Analyse zeigt, verfügt Natalía über ein hohes Maß an narrativer und reflexiver Kompetenz. Der Tenor der Darstellungsform ihrer Erfahrungen liegt in einer vergleichenden Betrachtung, und zwar erstens auf der Ebene des Verstehens von Gedichten; zweitens auf der Ebene von unterschiedlichen Zeitperspektiven; drittens auf der des Lernens sowie viertens auf der Ebene eines sich verändernden Selbst- und Weltbezugs. Auffallend ist gleich am Anfang Natalías Bedürfnis, sich im Raum zu orientieren, sich des (inneren und äußeren) „Ortes“ gewiss zu werden. Dies zeigt sie mit ihrer Frage: „In der Schule oder zu Hause?“. Sie will Klarheit haben über den Bezugsrahmen, zu dem sie sich im Zusammenhang mit Lyrik äußern soll (TZ 7). Dies impliziert nicht nur, dass Gedichte sowohl in der Schule als auch in ihrer Familie thematisch sein können, sondern auch eine bemerkenswerte Differenzierungsfähigkeit, den qualitativen Unterschied von institutionellem und privatem Rahmen überhaupt wahrnehmen zu können. Aus einem bestimmten Grund muss es für Natalía wichtig sein, diesen Unterschied im Interview ent-
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sprechend zu berücksichtigen. Aus der Rekonstruktion des ersten InterviewSegments ergab sich aufgrund der Fraglichkeit des Bezugsrahmens für Natalía und ihres dezidierten Wunsches nach einer eindeutigen inneren „Verortung“ die riskante Strukturhypothese einer latenten und diffusen Verunsicherung bzw. einer spezifischen Form innerer „Ortsungewissheit“. Aus dem breiten Spektrum von Fragen, mit denen die Interviewerin Natalía konfrontiert, greift die Schülerin spontan jene Erfahrung heraus, die mit Bezug auf Gedichte ihren Schulalltag prägt: die Praxis des täglichen Rezitierens (vgl. TZ 1112). Auch hier erweist sich ihre Differenzierungsfähigkeit, diesmal indem sie Gedichte in ihrer Verschiedenartigkeit erkennen kann. Diese wird von Natalía auf zwei Ebenen identifiziert. Die erste Ebene betrifft Veränderungen in Bezug auf den Textinhalt („in der ersten Klasse spricht man andere Gedichte als oben“; TZ 1516), die zweite Ebene bezieht sich auf den Aneignungsprozess von Gedichten. Zunächst kommt sie auf etwas zu sprechen, was sie „schon gemerkt“ hat (TZ 16): dass es Gedichte gibt, „die vielleicht von was handeln, bei denen aber das Handeln nicht im Vordergrund steht“, und solche, die einen „tieferen Sinn“ haben. Von diesen sagt sie später, man brauche eine bestimmte Reife, um ihn zu erkennen (TZ 76-77). Dass ihr dieser Zuwachs an Reife und Reflexionsfähigkeit wichtig ist, lässt sich daran ablesen, wie Natalía das Erkennen der Sinnhaftigkeit von Lyrik damit kontrastiert, wie ihre Geschwister sich Gedichte aneignen (TZ 16-20). Ein erster Zugang zu Gedichten eröffnet sich für Natalía durch eine Spontanrezeption („es hat mir einfach gefallen … hat mich angesprochen“; vgl. TZ 38, 68) und ihre hohe Sensibilität für die Qualität einer lyrischen Ausdrucksgestalt, wie u. a. eine spätere Äußerung zeigt: „Manche Gedichte sind einfach besser als andere“ (TZ 97-98). In diesem Gefühl ist sie sich sicher, ohne ihr Urteil argumentativ begründen zu können. Auch das Erkennen des „tieferen Sinns“ lyrischer Dichtung ist das Ergebnis einer Differenzierung, die ihr aufgrund von Vergleichen klar wird: In der Retrospektive auf das eigene Lernen stellt Natalía die Aneignungsform der jüngeren Geschwister ihrer eigenen gegenüber. Sie erkennt sowohl Gemeinsamkeiten als auch Gegensätze und schildert in einer kurzen Episode die Veränderung, die ihr dabei aufgefallen ist. Der Weg von der Leichtigkeit, mit der in den unteren Klassen Wissen aufgenommen und reproduziert wird, hin zum Verstehen des inneren Gehalts eines lyrischen Gebildes „oben“ wird ihr als ein individueller Transformationsprozess bewusst. Dies muss von positiven Gefühlen begleitet sein, denn Natalía spricht davon, es sei „lustig“ zu merken, dass ihre Geschwister Gedichte einfach „anders“ verstehen als sie selber. Für sie sei jetzt der Sinngehalt des Kunstwerks wichtiger geworden als dessen Handlung. Sie könne nun verstehen, „um was es da geht“ (TZ 20). Dies impliziert, dass Natalía Gedichte nicht nur auswendig lernt, sondern eine spontane Affinität zu lyrischer Sprache empfindet und mit ihrer Metaphorik umgehen kann. Mit dem erweiterten Deutungsformat
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wird ihr zugleich bewusst, dass sie in einem Ablösungsprozess von ihrer eigenen Kindheit begriffen ist und einen anderen Weltzugang gewonnen hat: Vom Alten hat sie sich distanziert. Nun steht sie auf der Schwelle zu einem Neuen, das sie als eine Veränderung zwar „merkt“, aber sprachlich noch schwer fassen kann, wie sich am Ineinanderschieben von (Zeit-)Perspektiven zeigt. Sie spricht – während sie ihre augenblicklich ungewisse Situation reflektiert – z. B. davon, „man“ sei manchmal „in so’ner Phase“ (TZ 36). Es ist ihr also bewusst, dass der an betreffender Stelle gemeinte Zustand vorübergehend ist. Den Begriff der „Phase“ verwendet Natalía an einer späteren Stelle nochmals, und zwar, nachdem das von ihr verfasste Gedicht von der Interviewerin vorgelesen wurde, beim Nachsinnen über ihre zuweilen schwankende Stimmung mit der Äußerung „ manchmal hab ich so Phasen“ (TZ 170). Von der erhöhten Bewährungsanforderung der Interviewerin im Zusammenhang mit dem Gedicht, das sie sich gewählt hat (argumentative Entscheidungsbegründung, Vorlesen zum Textabgleich; TZ 28-29), lässt Natalía sich nicht verunsichern. Sie setzt deren Anliegen ohne zu zögern in die Tat um, liest den Text vor und beginnt unmittelbar danach zu begründen, warum das Gedicht sie „angesprochen“ habe. In stark verdichteter Form erfahren wir von höchst ambiguen Gefühlen, die durch die Textmetaphorik in Natalía ausgelöst wurden und zur Sprache brachten, was sie bisher unbewusst beschäftigte und belastete: der drohende Verlust ihres alten Heimatortes. Die wehmütig-melancholische Stimmung des Gedichtes sieht Natalía als Äquivalent ihrer persönlichen Situation: Die Ungewissheit über den möglichen Ortswechsel korrespondiert dem unbestimmten Grau der Stadt am Meer, in dem klare Konturen verschwimmen. In den widerstreitenden Stimmungsbildern von Heimatverbundenheit und Aufbruch, Verwurzeltsein und Getrenntsein, Gedrängtheit und Weite der Stadt am Meer sieht Natalía eine Entsprechung ihrer eigenen „traurigen“ Grundstimmung. Auch hier zieht sie einen Vergleich, indem sie die eigene Situation mit der des lyrischen Ich identifiziert. Sie resümiert dies mit den Worten: „Es passt halt grade ganz gut zu meiner Situation“ (TZ 40). In diesem Aspekt ist allerdings interessant, dass ihre innere Ungewissheit gerade nicht dem entspricht, was das lyrische Ich in Storms Gedicht aus dem Gefühl eines innigen Verwurzeltseins in der Heimatstadt zum Ausdruck bringt, während Natalía sowohl ihren gegenwärtigen wie auch den zukünftigen Wohnort jeweils als „Anderes“ bezeichnet. Ihre Position ist die eines inneren und äußeren, eines generativen wie individuellen Übergangs. Natalía näherte sich dem von ihr gewählten Gedicht über die Intensität ihres Gefühles und ihrer wachsenden Reflexionsfähigkeit. Was sie darüber zu sagen hat, ist authentisch und an entsprechenden Stellen stark affektbetont (Betonung, Lachen, Wechsel der Lautstärke beim Sprechen, Abbrüche). In ihrem Urteil stützt sie sich einzig auf das, was sie aufgrund ihres Gefühls für Metrik und Ei-
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genlogik lyrischer Sprache findet (z. B. das Gefühl, es höre sich in einem Vers etwas „gebrochen“ an; TZ 301), ihre Erfahrungen und die Gedanken, die sie sich über den Text selber macht. Dabei ist Natalía in ihrem Autonomiebegehren nicht blind für Argumente von anderen. In Hinsicht darauf zeigt sich ihre Empathiefähigkeit z. B. daran, dass sie gegenüber der Interviewerin für die von ihrer Lehrerin leicht veränderte Textfassung plädiert („ohne Unterlass“ statt „ohn’ Unterlass“). Mit den Worten „weil sie ganz genau weiß“ (TZ 310-311) schreibt Natalía ihrer Lehrerin nicht nur Kompetenz zu, sondern gibt zugleich einen impliziten Hinweis auf eine stabile Lehrer-Schüler-Beziehung. Sie braucht noch keine Begrifflichkeit der Lyrik, um sich die Bilder des Gedichtes in einem ersten Umriss erschließen und seine Sprache verstehen zu können. Würde sie es unter ein Kurzurteil entsprechend den gängigen Kategorien der Lyrik fassen, wäre für sie damit äußerlich zwar alles Widerspenstige eingeebnet, aber es bliebe lediglich bei einem Routineeindruck. So aber hat das Gedicht bei Natalía eine Art Krise hervorgerufen: Gefühle wurden in ihr angerührt, die sie noch nicht klar artikulieren, Vorstellungen wurden geweckt, die sie vorher nicht einordnen konnte. Nun, über das Medium des Kunstwerkes und in minimaler Distanz zum lyrischen Ich, ist es ihr möglich, ihre persönliche Situation deutlicher zu sehen und ihre Befindlichkeit im Einklang mit den Worten des Dichters aussprechbar zu machen. Aus einer tieferen Schicht als der einer Verlustangst um den (äußeren) Ort meldet sich alsbald noch ein älteres „Heimweh“ von Natalía: das Heimweh nach Gleichaltrigen, mir denen sie sich verstehen und befreunden kann. Unmittelbar nach der Mitteilung, die gesamte Familie sei „n bisschen im Aufbruch“ (TZ 4243), schließt sie an mit dem Bekenntnis: „Für mich is es halt schwer…wei …es ist auch für mich nich so einfach immer Freunde zu finden.“ In der ersten Schicht rumort also die Ungewissheit, ob sie den vertrauten Ort wird verlassen müssen. Dies löst das „vorauseilende Heimweh“ bei Natalía aus und eröffnet ihr zugleich einen Zugang zu Storms Gedicht. In dieser Stimmung wird sie empfänglich für den leise melancholischen Grundton, den sie aus den Versen von Theodor Storm hört, überträgt ihn auf ihre noch ungewisse Zukunftssituation, ihr Schwanken zwischen Aufbruchsstimmung und Abschiedsschmerz und erfährt dies als Kompatibilität von eigener Befindlichkeit und Gedichttext („es passt halt grade“; TZ 40). In einem zwei Wochen später mit ihr geführten Ergänzungsinterview äußert sie sich dazu in einer nahezu identischen Formulierung: „Ich weiß nich ob’s mir hilft aber es entspricht eben so ziemlich genau (,) meiner Situation“ (TZ 431-432). Die Interviewpassage, die sich auf eine mögliche Trennung vom alten Wohnort bezieht, ist jedoch vergleichsweise kurz und von Anfang an verquickt mit der Sorge um den Verlust der Freunde, die sie endlich gefunden hat, an denen sie „hängt“ (TZ 40). Die Traurigkeit über einen möglichen Wohnortswechsel
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ist nur die Schwelle zu einer zweiten Schicht, in der ein Problem aufbricht, das Natalía viel intensiver beunruhigt und schwerer für sie zu greifen ist als die Ablösung von einer vertrauten Umgebung. Sie schildert nun ausführlich und eindrucksvoll ihren fünfjährigen Leidensweg, ihr von zahlreichen Misserfolgen begleitetes Ringen darum, Freunde zu finden und tragfähige Beziehungen zu ihrer Peergroup aufzubauen. Der stockende Sprachfluss und Natalías originäre Formulierungen spiegeln ihre noch nicht überwundene Betroffenheit (TZ 65-68). Was von der ersten Schicht verdeckt wurde (die Angst vor dem Verlust des vertrauten Ortes), kommt nun, auf dem Umweg über das Gedicht, für sie in einer Art „verdeckter Kompatibilität“ zum Ausdruck. Die Angst davor, dass das Problem (Freunde zu finden) sie in einer neuen Umgebung wieder einholen könnte, ist also die primäre Ursache von Natalías Sorge und Traurigkeit, die sie mit Blick auf ihre Zukunft bedrücken. Zu ihrer Traurigkeit kommt hinzu, dass für sie das eigentliche Problem reflexiv noch nicht erschließbar ist, dass sie nicht versteht, „warum das so war“ (TZ 64). Nicht zuletzt mit dieser langjährigen inneren Einsamkeit könnte ihre spontane Empfänglichkeit für Gedichte zusammenhängen. Darauf deutet wenig später die Erklärung, sie könne sich mit manchen Gedichten überhaupt nicht „anfreunden“ (TZ 98). Dies impliziert die Möglichkeit, dass ein Gedicht ihr zum Freund werden könnte. In Anbetracht der Wichtigkeit, die das Verstehen für Natalía inzwischen gewonnen hat, muss die latente Frage nach dem Warum besonders irritierend für sie sein. Das Ausmaß von Natalías Verunsicherung zeigt sich – wie zuvor im Ineinanderschieben von Zeitperspektiven – nun in einem Ineinanderschieben von Ortsperspektiven, das sich in Äußerungen manifestiert, in denen Natalía beide Orte – den vertrauten jetzigen wie auch den möglichen zukünftigen – als „was Anderes“ bezeichnet (vgl. 27 N der Analyse). An späterer Stelle geht sie nochmals darauf ein und bringt ihre innere Verunsicherung zum Ausdruck mit Worten wie „das is’n bisschen…hin und her“, „wenn man einfach rausgerissen wird“ sowie der höchst kreativen Wendung, ihr Zustand wäre ein „zwischen’ander“ (TZ 173), d. h. ein Zustand zwischen Dazwischen und Durcheinander. Damit deutet sie sowohl auf ihre Gemütslage (das Oszillieren zwischen Gefühlen der Vertrautheit und des Fremdseins; das zwischen Anderen Stehen, aber auch zwischen Kind- und Adoleszent-Sein), als auch auf die äußere Aufbruchsstimmung, in der sie das Durcheinander des Umzugs antizipiert. Mit der anschließenden Begründung für ihre Gedicht-Wahl („deswegen hat mir das irgendwie voll gut gefallen“) verweist Natalía auf das Zusammenspiel von Gefühl und Sprache: In einem lyrischen Gebilde teilt sich ihr etwas auf der Ebene des spontanen Gefühls mit, schlägt Wurzeln in ihr und beginnt, indem sie es sich aneignet, von innen heraus zu ihr zu sprechen („es hat mich irgendwie angesprochen“; TZ 35).
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Wir können als bisheriges Ergebnis festhalten, dass Natalía über den Blick auf Aneignungs- und Lernformen ihrer Geschwister zunächst zu einer Reflexion ihres eigenen Lern- und Entwicklungsweges kam und mit der Erkenntnis einer Sinnstruktur lyrischer Kunstwerke eine durchgreifende Veränderung bei sich selber konstatierte: das Verstehen, worum es geht. Im Dialog mit einem Gedicht von Theodor Storm wurde darüber hinaus in Natalía ein Prozess angeregt, widersprüchliche, belastende Befindlichkeiten und Erfahrungen metaphorisch „aufzubrechen“, latente Fragen auf ein dichterisches Bild zu transformieren und so aussprechbar zu machen. Ihre Erklärung, das Gedicht habe ihr deshalb „gefallen“, es habe sie „einfach angesprochen“ weist auf ihre Möglichkeit hin, ein sprachliches Kunstwerk, seinen inneren Gehalt intuitiv, in der unmittelbaren Begegnung mit ihm zu erfassen. Auf der Basis von Erfahrungen, die sie im Umgang mit Lyrik in der Schule machen konnte, und der Reflexion ihres eigenen Entwicklungsprozesses im Vergleich zu den Geschwistern hat sie so gewissermaßen einen intrinsischen Modus der Gedichtrezeption entwickeln können. Angeregt durch den Unterricht verfügt sie zur Deutung von Gedichten über einen handlungs- und gefühlsbasierten Zugang, der sich nicht in abstrakten Etikettierungen erschöpft. Sie schätzt das Humorvolle wie auch das Ernste eines Gedichtes und kann dies mit den unterschiedlichen Interessen oder Eigenheiten ihrer Mitschüler in Verbindung bringen („für viele war das Lustige…wichtig…andere brauchen auch was Trauriges“, TZ 238-239). Aufgrund der Veränderungen, die sie im Vergleich zu ihren Geschwistern an sich selbst und ihrer Beziehung zur Welt erkannt und mit dem Begriff einer „bestimmten Reife“ gefasst hat, entwickelt Natalía eine eigene Theorie der Gedichtrezeption: Schüler der achten Klasse bräuchten „irgendwie andre Gedichte“, „die’n bisschen nich so schwer zu ergründen aber auch nich so einfach nich so langweilig sind“ (TZ 236-238). Der durch Lyrik angestoßene Bildungsprozess von Natalía manifestiert sich in prägnanten und eigenständigen Deutungen, die sie in Hinsicht auf ihre Beziehung zu Gedichten gefunden hat und artikuliert. Resümierend lässt sich dies auf der Basis der vorliegenden Analyse in zwei Bezugsrahmen darstellen: Der erste Bezugsrahmen ergibt sich aus Natalías Erfahrungen mit Lyrik in der Schule, die ihr ermöglichen, den inneren Gehalt eines sprachlichen Kunstwerks „intuitiv“, in der unmittelbaren Begegnung und Bearbeitung zu erschließen und daran ihren eigenen Entwicklungsprozess zu reflektieren. In diesem Bezugsrahmen lässt sich Natalías Bildungsprozess in folgenden Aspekten fassen: 1. 2. 3.
dem Aspekt des Vergleichens und reflexiv-kognitiven Verstehens unter der Voraussetzung einer „bestimmten Reife“; der ästhetischen Erfahrung in Schule/Unterricht und Elternhaus; der krisenhaften Erfahrung (Adoleszenz, Antinomie von Autonomie- und Heteronomiestreben, widersprüchliche Gefühle etc.), die sie in lyrischen
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Texten abgebildet sieht; Gedichte sind nicht einfach nur „Zeilen“, sondern „können…einem toll helfen“; der Empathiefähigkeit; vgl. z. B. ihre Äußerung zur Entscheidung von Mitschülern (TZ 198-204) des individuellen Zugangs; der Rationalisierung (vgl. 51 N ff).
Als zweiter Bezugsrahmen kann aufgrund der Verschränkung von Natalías persönlicher Situation mit ihrem Gedichttext Oevermanns Modell von Krise und Routine hinzugezogen werden. Hierbei wäre in Natalías Fall der dritte Krisentypus relevant, d. h. die durch Muße und ästhetische Erfahrung herbeigeführte Krise, die sie selber mit Bezug auf ihre persönliche Situation oder auch im Blick auf ihre Mitschüler als hilfreich bezeichnet (TZ 72-78). Fassbar werden kann dies in Aspekten 1.
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der Erfahrung eines zuvor Unsagbaren bzw. einer Art Einsamkeits- oder Fremdheitsgefühl, das in der ästhetischen Erfahrung (hier: einem Gedicht) erkennbar und aussprechbar wird. Dies konstatiert Natalía nicht nur bei sich selber, sondern auch bei Mitschülern: „ich denk auch dass manche Leute was sagen werden warum sie das Gedicht genommen ham … also (1) und das is manchmal auch richtig offensichtlich“ (TZ 198-199); der Transformation (Kompatibilität von individueller Erfahrung und Text); und schließlich des Kreativitätspotentials, das sich in Form eigener lyrischer Schöpfungen manifestiert.
Der Bildungsprozess, der bei Natalía durch Lyrik angestoßen wurde, verläuft in zwei Strängen, die voneinander getrennt betrachtet werden müssen. Der erste Strang betrifft den Prozess der Rezeption. Hier wird in ihrem Fall die Bedeutung ersichtlich, die für Natalía aus dem lebendigen, aktiven Umgang mit bestimmten Gedichten generiert: Lyrik bekommt für sie einen Eigenwert, wird zu etwas, was sie begleitet, was einfach dazu gehört. Der zweite Strang bezieht sich auf die inhaltliche Interpretation, die sich bei Natalía noch auf einer präreflexiven Stufe vollzieht, indem sie von einem Gedicht angesprochen wird und einen spontan-intuitiven Zugang zu seinem inneren Gehalt findet. In einer belastenden Situation geht von lyrischer Sprache etwas aus, was sie inhaltlich – aufgrund der metaphorisch verfremdeten Ausdrucksgestalt – als etwas zu ihr Passendes erkennt, womit sie sich „anfreunden“ kann (oder nicht) und für dessen Qualität sie eine originäre Sensibilität entwickelt hat. Dieser Prozess ist – wie das Beispiel des Gedichtes „Die Stadt“ zeigt – nicht bloße Rezeption, sondern Modifikation oder Anverwandlung, die in der Dimension von Kreativität fassbar
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wird. Was sie aus dem Gedicht von Theodor Storm liest (die Traurigkeit über einen Verlust), ist nur ein erster Orientierungspunkt, der in ihr ganz eigene Imaginationen und Deutungen weckt. Das für sie Entscheidende an diesem Gedicht sind die letzten beiden Verse, die einzigen übrigens, mit denen sie sich explizit auf den Text bezieht. Sie sagt an einer Stelle: „Theodor Storm sagt ja auch… doch hängt mein ganzes Herz an dir du graue Stadt am Meer…ich weiß schon denke ich recht genau um was es geht...ich…kann ich mir recht gut vorstellen...wie es für ihn war“ (Ergänzungsinterview TZ 432-434). Ihre Deutung des Gedichtes ist so die Folge eines Konvergenzgefühls mit einem signifikanten Anderen, dessen künstlerische Ausdrucksgestalt ihr zum Identifikationsobjekt wird: „das is eigentlich ganz gut wenn man sich so vorstellen kann warum der Dichter so was geschrieben hat“ (TZ 434-435). Durch die Gedichtrezeption, wie sie der Schülerin im Unterricht angeboten und vom familialen Kontext gefördert wird, hat die Schülerin so etwas empfangen, mit dem sie gleichsam im Schutz der künstlerischen Distanz allen persönlichen Schmerz, alle Unsicherheit aussprechen kann. Als herausragendes Ergebnis des durch Gedichtrezeption angebahnten Bildungsprozesses von Natalía kann die Fähigkeit formuliert werden, mit ihrer auf mehreren Ebenen virulenten Ablösungskrise kreativ umzugehen. Aus der konkret gelebten, intensiven Beziehung, die sie durch den Unterricht – verstärkt durch das Interesse ihrer Eltern – zu Lyrik aufbauen konnte, emergierte ein Potential, krisenhafte Erfahrungen, innere Ungewissheiten und Stimmungsschwankungen schöpferisch zu bearbeiten, sie in Form eines lyrischen Gebildes zu erkennen und zu fassen. Ihr Leid und ihre latente Klage über den Entschluss der Eltern sind ihr, aus welchem Grund auch immer (Bedürfnis nach Vergemeinschaftung, Empathie), auf der Realitätsebene unaussprechbar. In lyrischer Form aber gelingt es ihr, das Unaussprechbare in ein sprachliches Bild zu projizieren und so zumindest einen Teil ihrer Last abzulegen. Das Ausbalancieren dieser widerstreitenden heteronomen und autonomen Strebungen kann in der Dimension von Selbstbezeugung dargestellt werden. Der Prozess der Krisenbewältigung ist bei Natalía zwar noch in vollem Gange, und auch in ihrem Gedicht mischt sich in die authentische Metaphorik existentieller Ängste immer wieder die verallgemeinernd-abschwächende Stimme der Vernunft, der Natalía Gehör schenkt, um trotz aller Verlustängste und Zukunftssorgen in der Ungewissheit eine „neue Chance“ zu sehen. Dies gelingt ihr zum einen durch ihre energisch-zupackende, zuweilen expressive Haltung134 und ihre hohen reflexiv-kognitiven Fähigkeiten, zum anderen durch eine innere Beweglichkeit und Offenheit, die Perspektive von anderen (Personen, Umständen, Zeiten), z. B. ihrer Geschwister, ihrer Lehrerin, des Dichters, der Zukunft in 134 TZ 363-387
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eigene Überlegungen einbeziehen zu können. Diese innere Beweglichkeit Natalías deutet bei aller in der Analyse herausgearbeiteten Verunsicherung auf ein stabiles Selbstgefühl, das an mehreren Stellen des Interviews auch material nachweisbar ist und aus dem sich ein gewisser Widerspruch zu ihrer inneren „Ortsungewissheit“ herleiten ließe. Im Blick auf den gesamten Bildungsprozess werden beide Tendenzen sichtbar: die melancholische wie die expressive, die traurige wie die zuversichtliche als ein Ausdruck der großen Ablösungskrise, die Natalía je nach Bedarf mit Kreativität oder Rationalisierung zu überwinden versucht. Beides hilft ihr, die in der konkreten Situation immer wieder aufbrandenden Widersprüche, das „Zwischen’ander“ von Selbst- und Fremdansprüchen auszubalancieren. Aufgrund eines für ihr Alter erstaunlich hohen Reflexionsgrads kann sie Verlust- und Trennungsängste relativieren und aus der Perspektive der Vernunft betrachten. Das Leid, das durch Einsichtigkeit und Relativierungsstrategien nur mühsam gebändigt wird, bricht immer wieder auf und ist in gewöhnlichem Sprachgebrauch unsagbar. Aufgrund ihrer Kreativitätspotentiale kann Natalía es jedoch in einer ins Bild enthobenen Sprache zum Ausdruck bringen. Am Ende des von ihr verfassten Gedichts kommt sie zu einer Art SelbstErmutigung, indem sie entschlossen sagt: „Muss nun groß sein wie die andern / und das werd ich (,) wird’s auch schwer / hab ich doch (,) geheim (,) verborgen / ein Stück des Kindes noch in mir.“ Inmitten der Turbulenzen der Adoleszenzkrise ist sie sich in dem Gefühl sicher, dass sie – für die Außensicht verborgen – ein Geheimnis bewahrt („hab ich doch“), das sie in aller Ungewissheit und Unsicherheit tragen wird. Mit den letzten beiden Versen ihres Gedichtes schließt sich der Kreis: Mit dem vergleichenden Blick auf Lern- und Aneignungsformen ihrer Geschwister hat Natalía ihre Reflexion begonnen und erkannt, dass die Gedichte, die sie in der Schule gelernt hat und denen sie zu Hause begegnet ist, für sie einen „tieferen Sinn“ haben. Nun – am Ende ihrer Überlegungen – weiß sie, dass Gedichte für sie „so’n bisschen dazugehören“, dass sie sie begleiten und ihr helfen können, den schwer greifbaren emotionalen Untergrund (Verlustängste, Zukunftssorgen, Klage), der die Ebene des rational Vernünftigen immer wieder durchzittert, angemessen zum Ausdruck zu bringen.
4.2 Fallrekonstruktion Moritz, Schule C: „Da bin ich ja!“ (Interview vom 19.6.2007; Dauer: 18 Min; Ort: Das Interview findet im Umkleideraum hinter der Bühne statt, auf der ein Teil der Klasse für eine Theateraufführung probt und andere zuschauen. Hier und da kommt jemand herein, um Requisiten zu holen oder sich umzuziehen. Der Geräuschpegel im Hintergrund ist zeitweise relativ hoch.)
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Initiale Interaktionssequenz
1 I: ja M (2) kannst du mir maln bisschen erzählen welches Gedicht (,) du dir ausgewählt hast (,) als ihr euch die Gedichte auswählen solltet (M: ähhh) (,) zum Vortragen in der Klasse135 I eröffnet die Interaktion („ja“)136 und fordert M nach einer kurzen Pause dazu auf zu erzählen, welches Gedicht er sich ausgewählt habe. Mit der Formulierung „maln bisschen“ schraubt sie ihre Anforderung an M etwas zurück: Sie erwartet keine literaturwissenschaftlichen Ausführungen, sondern schlägt vor, dass M ihr „maln bisschen erzählt“, so als wolle sie sagen: „Es gibt mehrere Möglichkeiten, du kannst einfach mit dem Erzählen beginnen.“ Damit breitet I ein gewisses Spektrum von Möglichkeiten vor M aus, so dass er die des Erzählens, aber auch eine andere ergreifen kann. Den Ausdruck „erzählen“ verwendet man in der Alltagssprache dann, wenn der zum Erzählen Aufgeforderte und auch der Zuhörer sich Zeit dafür nehmen können, dass ein bestimmtes Ereignis oder eine Erfahrung mit einer gewissen epischen Breite geschildert und angehört werden kann. „Erzählen“ impliziert jedoch auch eine gewisse Unklarheit in der Fragestellung. Damit gibt I ihrem Interaktionspartner die Möglichkeit, entspannt und ohne Zeitdruck zunächst einmal ins Thema („welches Gedicht“) einzusteigen, sich inhaltlich dazu zu äußern oder auch nur mit dem Titel des Gedichtes zu beginnen. Anschließend präzisiert I ihre Aufforderung, indem sie sich auf einen bestimmten Zeitpunkt bezieht („als“ im Sinne von „damals als“) und im Plural von Gedichten spricht („die Gedichte“), die sich die Schüler („ihr euch“) jeweils auswählen sollten. Sie referiert damit auf eine bestimmte Aufgabe, die nicht nur M, sondern allen Schülern im Rahmen des Unterrichts gestellt worden war („zum Vortragen in der Klasse“). Dabei wird sie von M kurz unterbrochen („ähhh“), womit ein Zögern seinerseits markiert wird, das sich auf die vermutete Unklarheit der „Erzählaufforderung“ von I beziehen muss. 1 M: (1) ähh (,) jaa (,) das war (2) war’n Spruch über ne Stadt (,) die beschrieben wird (,) wo die liegt und so / … M ratifiziert die Aufforderung von I („jaa“). Der Zusatz „zum Vortragen in der Klasse“ hat offensichtlich dazu geführt, dass M nun weiß, auf welches Thema I mit ihrer Aufforderung zusteuert. Er überlegt einen Augenblick, was „das war“, wobei mit „das“ jenes Gedicht gemeint ist, das er gewählt hat. M nennt daraufhin jedoch nicht dessen Titel, sondern geht unmittelbar auf den Inhalt ein, indem 135 Das Thema des Interviews steht im Zusammenhang mit der Aufgabe, die zu Beginn dieses Kapitels eingeführt wurde. Siehe S. 95 136 Zur Interpretation des eröffnenden „Ja“ vgl. Oevermann 2003: 48
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er sagt, das sei „’n Spruch über ne Stadt“ 137 gewesen, die „beschrieben“ werde. Umgangssprachlich hat die Wendung „’n Spruch“ eine eher abschätzige Konnotation. Wenn jemand zum Beispiel sagt: „Was is’n das für’n Spruch?“ ist dies eine eher floskelhafte Redensart, die in der Regel meint, dass ein Gesprächspartner entweder übertreibt, „angibt“ oder die Unwahrheit sagt; man kann denjenigen nicht recht ernst nehmen, er ist eben ein „Sprücheklopfer“! Es ist darum nicht völlig auszuschließen, dass M sich dieser Aufgabe nur deshalb unterzieht, weil ihm diese von seiner Lehrerin aufgetragen wurde. Man darf darum gespannt sein, wie M sich zu diesem „Spruch“ weiterhin äußert. Thema des Gedichtes ist nach seinen Worten nicht eine historische Begebenheit, wie etwa bei Mörikes Idylle vom Alten Turmhahn in Cleversulzbach138, sondern es wird „über“ eine Stadt etwas gesagt, über ihre Lage („wo die liegt“), in einem noch unbestimmten Kontext („und so“), z. B. über ihre Atmosphäre, die Art des bürgerlichen Lebens, die landschaftliche Umgebung. Signifikant ist hier der Gebrauch des Wortes „über“, der umgangssprachlich in Verbindung mit „sprechen“ bzw. „schildern“ eine gewisse Distanzierung des Sprechenden vom unmittelbaren Geschehen ausdrückt. Sowohl in der Wendung „ein Spruch über eine Stadt“ als auch in dem Wort „beschrieben“ wird ein gewisser Abstand vom Geschehen deutlich, auch wenn dieses selbst aufregend und ereignisreich gewesen sein sollte. Der spontane Reiz, der von diesem Gedicht ausgegangen ist, wirft die Frage nach dessen Relevanz für M auf, da es für einen Schüler dieses Alters eine eher ungewöhnliche Wahl ist. 2 I: hmhm (,) welches war das (’) Nachdem M auf die Frage („kannst du mir mal’n bisschen erzählen“) zunächst inhaltlich eingegangen ist, kommt I auf den zweiten Teil ihrer Initialfrage zurück. Das Wort „welches“ eröffnet die Frage von jemandem, der es wissen muss, der über eine gewisse Bandbreite von Gedichten (über Städte) verfügt und 137 An dieser Stelle sei unter Verweis auf die einführende Darstellung des Lehrplanes der Freien Waldorfschulen (Kap. 2.1. und 2.2.) ein kleiner Exkurs erlaubt: Im Laufe der Erhebungsphase ergab sich sehr oft, dass Schüler Gedichte zur Kategorie „Spruch“ zählten. Dies hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass das Rezitieren der Zeugnissprüche und Gedichte sowie des so genannten „Morgenspruchs“ über viele Jahre ein wie auch immer gestaltetes Ritual des Unterrichtsalltags in der Waldorfschule ist und einen Teil der Schulkultur ausmacht. Da die Schüler dabei bis in die siebte, achte Klasse weitgehend unbelastet von Begrifflichkeiten der Lyrik und Poetik bleiben, haben sie noch eine gewisse Unbefangenheit oder Unbedarftheit, mit der alles Dichterische „in einen Topf“ geworfen und als „Spruch“ etikettiert wird. Gedichte sind so nicht ein hoch stehendes, abgehobenes Kulturgut, das gelernt und tradiert werden muss, sondern Gedichte sind etwas, was „zum Leben gehört“, wie es eine Schülerin ausdrückte. 138 Mörike 1961: 126
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nun wissen möchte, um welches Gedicht es sich genau handelt. I möchte also den Titel des Gedichtes erfahren im Sinne von „Weißt du noch, wie es hieß?“ Sie stellt M damit eine Art „Prüfungsfrage“, mit der sie gravierende Folgen für den weiteren Verlauf des Interviews riskiert: Im Falle, dass M die Gedichtüberschrift kennt, kann er sie nennen und hätte die Aufgabe sozusagen gelöst. Weiß er sie jedoch nicht, besteht die Gefahr, dass M sich durch die Frage von I bloßgestellt fühlt und einen Rückzug einleitet. 2 M: ähmm (1) die Stadt von (2) soll ich’s vortr- ich’s vorsagen oder (’) 139 M überlegt einen Augenblick. Mit den Worten „die Stadt“ ergibt sich ein sinnlogischer Anschluss an die Frage von I, d. h. M nennt den Titel des Gedichtes und markiert mit „von“ einen Bezug zu dessen Urheber. Hier macht er eine kurze Pause, in der er sich an den Namen des Dichters zu erinnern versucht, der ihm jedoch nicht einfällt. Eine erste Erklärung dafür könnte sein, dass der Name für ihn einfach nebensächlich ist. Während einer weiteren Pause versucht er offensichtlich, sich an den Namen des Dichters zu erinnern, doch stattdessen fällt ihm etwas anderes ein: Er fragt, ob er es („’s“, d. i. das Gedicht) „vortr-“ solle. Damit greift er zu einer Art Verhandlungsstrategie, als wolle er sagen: „Den Autor kann ich nicht sagen, aber die Sache, um die es eigentlich geht, nämlich das Gedicht.“ Mit dem Ausdruck „soll ich’s vortr-“ (er möchte sagen „vortragen“) verwendet M spontan eine Formulierung, die der Situation einer Gedichtrezitation adäquat ist. Er hat also durch die hoch ritualisierte Form verinnerlicht, dass ein Gedicht in einem gewissen Rahmen „vorgetragen“, nicht einfach „vorgesagt“ wird. M besitzt demnach zum einen im Zusammenhang mit einer Rezitation ein gewisses Formgefühl und empfindet, dass dazu eine minimale Rahmung gehört. Zum anderen schätzt er das Gedicht selbst als etwas Besonderes, als sprachliches Kunstwerk, sonst hätte er nicht spontan das Wort „vortragen“ benutzt. Mitten im Wort bricht er ab, verbessert sich und setzt seine Frage mit „vorsagen“ fort. Ein kleines Dilemma entsteht dadurch, dass M hier zwei unterschiedliche Erfahrungen sprachlich miteinander verschränkt: Die eine bezeichnet etwas Besonderes in Gestalt des Gedichtes, für das M sich entschieden, mit dessen Inhalt er sich schon befasst hat. Die zweite Erfahrung hingegen betrifft eine Gewohnheit und bezieht sich auf die schulalltägliche Praxis von M. Für ihn ist das Rezitieren eben keine künstliche, sondern eine vertraute Situation, darum greift er lieber zu dem schlichteren Wort „vorsagen“. Im schulischen Kontext wird „vorsagen“ allerdings meist im Sinne von „die Lösung heimlich bzw. leise vorsagen“ gebraucht und passt an dieser Stelle eigentlich nicht. Sinnlogisch hätte M fragen 139 M hat das Gedicht „Die Stadt“ von Theodor Storm gewählt, das bereits im Verlauf der Analyse der Schülerin N interpretiert wurde; vgl. Kap. 4.1., S. 123-128
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müssen: „Soll ich es aufsagen?“ Das Verb „aufsagen“ wiederum beschwört leicht Assoziationen von Familienfeiern herauf, beispielsweise „zu Großmutters Geburtstag ein Gedicht aufsagen“, womit meist eine eher peinliche Konnotation verbunden ist. Da M vorher spontan und der Wertschätzung „seines“ Gedichtes durchaus angemessen das Wort „vortragen“ verwendete, nun aber „auf kleinerer Flamme weiterkochen“ möchte, rettet er sich, indem er „vortragen“ und „aufsagen“ zusammenzieht zu „Soll ich’s vorsagen?“ Die Frage impliziert, dass M den Text tatsächlich parat hat und ihn vorsagen könnte, falls I darauf einginge.
Die erste Lesart wäre, dass M eine freundliche Bereitwilligkeit, fast etwas Übereifriges gegenüber der Frage von I („soll ich?“) zeigt. Selbstbewusster hätte er sagen können: „Ich könnte es Ihnen vorsagen, wenn Sie wollen“, denn er hat den Text ja im Gedächtnis. Durch das anschließende „oder?“ könnte man die Aussage aber auch im Sinne eines Zustimmung Erheischens paraphrasieren, etwa wie „Sie meinten doch nicht einfach den Namen des Dichters, sondern den Inhalt des Gedichts, um den es ja eigentlich geht, oder?“ Demnach gäbe es eine zweite Lesart, wonach M mit dem als Frage formulierten Vorschlag, das Gedicht vorzutragen, eine gewisse Unzufriedenheit mit sich selbst, eine leise Beschämung darüber überspielte, dass ihm der Name des Dichters vorher nicht eingefallen ist. Dies würde durch die Vermutung aus 2 I bekräftigt mit dem Unterschied, dass M mit seinem Vorschlag nicht den Rückzug einleitet, sondern im Gegenteil geschickt, bereitwillig oder am Gespräch mit I interessiert genug ist, um eine Bewährungsanforderung seinen Möglichkeiten anzupassen bzw. zu variieren.
3 I: wie du willst (.) I überlässt die Entscheidung M. 3 M: n-nee ich s’hieß die Stadt von (,) irgend so’m (,) Dichter (.) Da er die Wahl hat, zieht M sich gewitzt aus der Patsche: („n-nee ich“). Er möchte „s“ (d. i. „es“, das Gedicht) doch lieber nicht vortragen und schließt blitzschnell an, indem er stattdessen den Titel wiederholt („s’hieß ‚Die Stadt’“). Dann fügt er hinzu „von irgend so’m Dichter“. Da I vorher lediglich danach gefragt hat, „welches“ Gedicht es gewesen sei, hätte M gar nicht sagen müssen, dass er den Namen des Dichters nicht weiß. Dass er dies so unbefangen sagen kann, zeigt, dass er damit kein Problem hat. Er braucht demnach nicht, wie in 2 M befürchtet, das Gefühl einer Bloßstellung, einer Unzufriedenheit mit sich selbst zu überspielen, sondern der Dichter ist für M einfach „irgend so einer“, als
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wolle er sagen: „Na ja, Sie wissen schon, so einer …“, wobei nach dem Wort „so“ eigentlich ein Vergleich zu erwarten wäre, etwa wie „von irgend so einem Dichter wie Schiller“. Dieser Vergleich bleibt aber aus bzw. wird nicht explizit. Dass es sich um einen Dichter handelt, ist M jedoch bewusst, sonst hätte er sich an dieser Stelle vielleicht auf die „Kategorie Spruch“ (vgl. 1 M) beziehen und von „irgend so’m Sprücheklopfer“ oder einfach „von irgendwem“ sprechen bzw. überhaupt nicht auf den Namen des Autors eingehen können. Erstes Zwischenresümee M geht bereitwillig darauf ein, die Fragen von I zu beantworten. Er wählte ein Gedicht „über ne Stadt“, weil das, was darin „beschrieben“ wird, einen unwillkürlichen Reiz in ihm ausgelöst haben und in irgendeiner Weise für ihn von Relevanz sein muss. Der spontane Zugang zu dem Textinhalt oder der dichterischen Gestaltung sowie die ambitionierte Art, mit der er sich das Gedicht angeeignet hat, drücken sich aus in seinem Angebot, es für I sozusagen „aus dem Stegreif“ zu rezitieren. 4 I: hmhm (1) und warum hast du das gewählt (’) I fragt nach einer kleinen Pause direkt nach der Begründung für die Entscheidung von M. Damit wird die Bewährungsanforderung an ihn gesteigert und die Ebene des unbefangenen „Mal’n bisschen Erzählens“ verlassen. M steht nun vor der Aufgabe zu begründen, „warum“ er sich gerade dieses Gedicht ausgesucht hat. 4 M: weil’s mich auch so’n bissel/ … M setzt unmittelbar nach dem Begründungsbegehren von I zu einer Antwort an und stimmt damit stillschweigend zu, auf ihre Frage einzugehen. Seine Begründung beginnt mit einer Selbstreferenz („weil’s mich“). Damit stellt er einen direkten persönlichen Bezug zum Gedicht her, wobei er selber in eine passive Position rückt.
Das Gedicht wird zum Subjekt, das mit M etwas macht, von dem ihm etwas widerfährt („weil’s mich“, d. i. weil es mich“).
Mit „auch“ markiert M eine gewisse Relativierung bzw. Abschwächung.
Die einfachste Erklärung dafür wäre, dass M mit „auch“ ausdrücken will, dass es mehrere Gründe und Assoziationsmöglichkeiten für seine Entschei-
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dung gebe. In diesem Falle wäre „auch“ eine Absicherung gegenüber weiteren Gründen. Eine Variante dieser Lesart wäre, dass M hier an ihm nicht bekannte Gründe denkt, von denen er meint, dass sie aus der Sicht von I als wichtiger einzuschätzen seien. In diesem Falle würde M die Perspektive von I übernehmen, um eine „Blamage“ zu vermeiden. Dies wäre insofern plausibel, als er sich durch das Begründungsbegehren von I ernst genommen fühlt und sich daher angemessen zum Thema äußern möchte. Eine andere Lesart dafür wäre, dass M es benutzt, um seiner Äußerung nicht allzu viel „Gewicht“ zu geben. Da das Interview im schulischen Kontext stattfindet, hat er möglicherweise im Hinterkopf, dass I jetzt eine Art „Aufzählung“ entsprechend den Kriterien eines Deutschunterrichtes von ihm erwarte und weitere Fragen stellen werde. Dies möchte er verhindern, sich nicht allzu festlegen und damit weniger angreifbar machen. Dem entspräche auch sein eher verhaltener Sprachstil.
5 M: ich hab ja grad gesagt dass ich in (nennt Hafenstadt eines südeuropäischen Landes; nennen wir sie hier: Beauville) gewohnt hab und da in der Schule also (,) und das hat mich an die Stadt son bissel erinnert (,) und (1) das fand ich halt schön (1) da wo ich gewohnt hab (1) M bricht den begonnenen Satz jedoch ab und greift nachfolgend auf einen Interakt zurück, der offensichtlich unmittelbar („grad“) vor dem Interview stattgefunden hat, indem er Aufschluss darüber gibt, „dass ich in Beauville gewohnt hab und da (im Sinne von „dort“) in der Schule“ („war“, muss sinnlogisch hier ergänzt werden).140 Die Etymologie des Wortes „wohnen“ bedeutete ursprünglich „zufrieden sein“ und wurde im Sinne von „etwa ›lieben, schätzen‹“ verwendet (Kluge, a.a. O.: 995). Heute bezeichnet „wohnen“ vor allem in der frühen Kindheit jedoch nicht nur einen äußeren Ort, sondern umfassend alles, was ein Kind braucht, um sich leiblich und seelisch wohl und geborgen zu fühlen: einen festen Boden unter den Füßen, eine schützende Abgrenzung nach außen, ein Dach über dem Kopf gegen Wind und Wetter, die Möglichkeit zum Wärmen, Ruhen, Essen und Trinken, zu Tätigkeit und Kommunikation mit Jemandem, der diese Bedingungen wie auch immer schafft. „Wohnen“ bedeutet, sich mit seiner Umgebung verbinden, ihre Sprache, ihre Gewohnheiten anzunehmen, sich im übertragenen Sinne 140 M bezieht sich hier beide Male auf ein dem Interview vorausgehendes kurzes Gespräch, in dem er erwähnt, dass er erst im dritten Schuljahr, also in seinem neunten Lebensjahr, in die Freie Waldorfschule C kam, die er inzwischen fünfeinhalb Jahre besucht. Die ersten beiden Schuljahre verbrachte er in der Grundschule in Beauville.
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zu „verwurzeln“; es bedeutet zu Hause sein mit Menschen, die man liebt, die zu einem gehören. Mit der Wendung „dass ich in Beauville gewohnt hab“ sagt M damit, dass er dort einmal seinen tragenden Lebensmittelpunkt hatte. Indem M die Perfektform verwendet, erfahren wir gleichzeitig, dass er sich von diesem Lebensmittelpunkt hat trennen müssen. Mit „also“ schließt M seinen Bezug auf die vorausgegangene Erläuterung ab und kehrt zur Ausgangsfrage zurück, indem er als Grund für seine Entscheidung angibt, „das“ (d. h. das Gedicht) habe ihn an die Stadt seiner Kindheit „so’n bissel erinnert (,) und (1) das fand ich halt schön“. Wiederum sagt er „so’n bissel“, als wäre es ihm peinlich, die Freude an einem Gedicht mit schönen Kindheitserinnerungen zu begründen. Dieser Eindruck eines verhaltenen Zögerns oder einer gewissen Scheu bei aller Bereitwilligkeit, mit der M auf die Fragen von I eingeht, wird durch die kurzen Pausen und Stockungen, die seinen Redefluss begleiten, noch verstärkt. Die letzte Äußerung („und (1) das fand ich halt schön (1)“ markiert eine abschließende Einschätzung: M fand es schön dort. Es muss nicht weiter darüber gesprochen werden, das ist „halt“ so! Damit werden weitere Fragen von I gleichzeitig abgewehrt. Nochmals folgt eine kleine Zäsur, bevor M die Wendung „da wo ich gewohnt hab (1)“ wiederholt. Zäsur und Wiederholung heben die Bedeutung hervor, die die Stadt am Meer für ihn noch immer haben muss, und sie deuten an, dass es nicht leicht für M gewesen sein muss, sich von diesem Ort zu trennen. Die innere Verbundenheit trägt noch immer. Um dies zu beschreiben, sagt M nicht „das war toll“ oder „das war super“, sondern er verwendet das Adjektiv „schön“ in einer schlichten, ursprünglichen Bedeutung: „schön“ als Harmonie zwischen Anziehendem und Abstoßendem. Man könnte die Wendung auch als Ausdruck seines Umherschweifens zwischen der häuslichen Wohnung und fremden Gassen, zwischen freiem Feld und urbanem Leben paraphrasieren, an das M sich hier erinnert. Die Annahme aus 1 M, dass der Begriff „Spruch“ abschätzig gemeint sei, kann vor diesem Hintergrund nicht aufrechterhalten werden. Die erste Lesart aus 4 M (das Gedicht wird zum Subjekt und macht etwas mit ihm) erhält somit Konsistenz durch den Zusammenhang, den M selber zwischen dem von ihm gewählten Gedicht und eigenen Erfahrungen herstellt. Ziehen wir das frühadoleszente Lebensalter von M hinzu, wird seine Entscheidung für dieses Gedicht noch signifikanter. Bezeichnenderweise war Husum auch für Storm nicht irgendeine, sondern eben „die Stadt“ schlechthin, ein Ort, den er liebte, den er wie eine vertraute Freundin mit „du“ ansprechen und von der er noch als Erwachsener sagen konnte: „Doch hängt mein ganzes Herz an dir“.
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Zweites Zwischenresümee Persönliche Erinnerungen (wo ich „gewohnt hab und da in der Schule“) und damit verbundene Gefühle („das fand ich…schön“) werden durch die Begegnung mit dem Gedicht in M wach gerufen. Auf der Basis der Konvergenz von Gedicht und biografischer Erfahrung, die sich bereits am Anfang des Interviews in Form seiner Bezugnahme auf den Inhalt andeutete (was das Gedicht „beschreibt“), könnte riskant formuliert werden, dass das Gedicht schon beim ersten Lesen Erinnerungsbilder evozierte und die Empfindung in ihm auslöste: Was hier beschrieben wird, ist die Stadt, in der ich mich verwurzelt fühle! Da M seine Kindheit jedoch nicht in einer kühlen, wolkenverhangenen, sondern vermutlich in einer von Licht und Wärme erfüllten Stadt im mediterranen Süden verbrachte, kann nicht äußere Ähnlichkeit ein derartiges Déjà-vu-Erlebnis evoziert und seine Entscheidung für dieses Gedicht verursacht haben. Die Ähnlichkeit bezieht sich vielmehr auf die Ambivalenz seiner Gefühle: Dies sind einerseits Geborgenheit und Sesshaftigkeit, die die prägenden Erfahrungen seiner frühen Kindheit begleitet haben (erste Schritte in eine frühkindliche Selbstständigkeit, mannigfaltige Sinneseindrücke, vertraute Menschen). Andererseits drückt sich gerade in dieser spontan empfundenen Übereinstimmung des Verbundenheitsgefühl von M mit der Anhänglichkeit Storms an seine Heimatstadt (2) ein unausgesprochenes Verlustgefühl, ein leises Bedauern aus („wo ich gewohnt hab“), das seine Erinnerungen zwar überschattet, gleichzeitig aber dem Bewusstsein zugänglich und reflexiv-kognitiv gefasst werden kann. Die Ambivalenz der Gefühle, die M an den Versen Storms berührt (TZ 2122; „das fand ich halt schön“), impliziert Nähe und Distanz zugleich: Nah ist ihm alles, was die Bilder und Stimmungen des Gedichtes evozieren; Distanz entsteht durch dessen metaphorische Sprache. Durch diese Distanz aber wird es M erst möglich, über das Nahe zu sprechen. 5 I: in Beauville (.) I möchte sich vergewissern, ob M sich auf die Stadt seiner Kindheit bezieht. 6 M: in Beauville ja (.) M wiederholt nochmals den Namen der Stadt und bejaht die Frage von I. 6 I:(1) hmhm (,) und dieses (,) hat das jetzt genau diese Situation auch der Stadt am Meer beschrieben oder (’)
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Mit einer sprachlich etwas verunglückten Wendung möchte I das Thema vertiefen, indem sie danach fragt, ob „auch“ dieses (gemeint ist das Gedicht „Die Stadt“) die Situation von M in „seiner“ Stadt am Meer beschreibe „oder“ ob ihn etwas anderes an Storms Versen angezogen habe.141 M hat damit die Möglichkeit, anhand von konkreten Beispielen persönliche Erfahrungen zu schildern, sie mit dem Gedicht in Beziehung zu setzen und zu vergleichen. 7 M: ja (,) war ne Stadt am Meer und (,) die hatte halt au nich nur ihre schönen Seiten (,) oder (,) hatte auch also so Gassen so hässliche und so und (,) das hat mich halt alles so da dran erinnert und deswegen (,) fand ich das so schön (.) M bestätigt („ja“), dass auch („au“, d. i. sinnlogisch hier ein verkürzt gesprochenes „auch“) seine Stadt „ne Stadt am Meer“ gewesen sei. Er greift also die von I eröffnete Möglichkeit auf und vergleicht. Das erste, was ihm dabei einfällt, ist die Lage am Meer, die die Atmosphäre beider Städte prägt. Als nächstes stellt er fest, dass seine Stadt – ähnlich wie Husum – „halt au nich nur ihre schönen Seiten“ hatte. Es ist demnach nicht nur ein verschwommener Eindruck, den er sich von seiner alten Heimat bewahrt hat, sondern ein differenziertes Bild mit mindestens zwei verschiedenen Seiten. Dann setzt M erneut an, wie um sich i. S. v. „oder besser gesagt“ zu korrigieren („oder“). Auf die graue, eintönige und drückende Seite der Stormschen Stadt referierend, benennt er die weniger schönen Seiten seiner Stadt, indem er hinzusetzt, sie habe „also so Gassen so hässliche“ gehabt. Da M „und so“ hinzufügt und im Plural spricht, könnte es außer hässlichen Gassen auch noch andere hässliche Seiten gegeben haben. M muss demnach schon als Kind bestimmte Eindrücke von der Stadt mit der Empfindung des Hässlichen bzw. des Schönen verbunden haben. Diese Eindrücke werden durch die Begegnung mit dem Gedicht reaktiviert, gleichzeitig erkennt er daran die Unterschiedlichkeit als ein Charakteristikum seiner Stadt. Mit „und“ leitet M ein Resümee ein, indem er sagt, „das“ (d. h. die Gassen, die weniger schönen Seiten) habe ihn „halt alles so da dran erinnert“, wobei „alles“ bekräftigt, dass M eben alle Seiten seiner ursprünglichen Heimatstadt kannte, nicht nur die geglättete Postkarten-Ansicht, sondern auch die negativen Seiten. „So“ habe er sich in seiner Stadt gefühlt, wie er es in den Versen des Dichters ausgedrückt fand. Damit zieht M nochmals eine Art Vergleich zwischen seinem eigenen Gefühl (zu der Stadt seiner Kindheit) und dem Gefühl, das er dem inneren Gehalt der Stormschen Verse entnehmen konnte. Sinngemäß sagt er damit: „Ich fand sie genau so schön wie der Dichter seine Heimatstadt, zu der er – wie ich – sagen kann ‚doch hängt mein ganzes Herz an dir / du graue Stadt am Meer / der Jugend Zauber für und für / ruht lächelnd doch auf dir / auf dir / du graue Stadt am Meer’.“ 141 Ausgesprochen im ersten Vers der dritten Strophe: „Doch hängt mein ganzes Herz an dir“
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An das Begründungsbegehren von I anknüpfend, schließt M sein Resümee ab: „deswegen fand ich das so schön“. Mit diesem „deswegen“ bekräftigt er, was bereits weiter oben vermerkt wurde: Er fand genau das „schön“, was durch den scheinbaren Antagonismus von äußerer Hässlichkeit und innerem Wohlgefühl wieder hervorgerufen wurde, nämlich die alte Vertrautheit mit allen Seiten seiner Stadt. Auf einer zweiten Ebene war es die Übereinstimmung von Gedichttext und eigener Erfahrung, die er schön fand und die für seine Entscheidung ausschlaggebend war. Damit korrespondiert, dass M diese Art der Erfahrung in einem Lebensalter macht, in dem das Individuum einerseits eine Verletzung der Gefühle als Verletzung seines Selbst bewusst erlebt, in der es andererseits für die ästhetische Form von Erfahrung besonders empfänglich werden kann. Für M bringt das Gedicht Erfahrungen zum Ausdruck, die er – wie sichtbar – sprachlich nur schwer vermitteln kann. Erinnerungen und damit verbundene Gefühle werden durch die metaphorische Sprache des Gedichtes nicht evoziert im Sinne eines Reproduzierens, sondern M sieht seine alte Heimat (und sich selber in ihr) wie mit neuen Augen: Das Gedicht wird ihm zu einer Art Spiegel, dessen Oberfläche jedoch nicht in Alltagssprache Auszusprechendes zurückwirft: Etwas bisher Unsagbares kann in der verfremdeten Sprache eines Kunstwerkes ausgedrückt werden, die gleichzeitig so viel Distanz schafft, dass ein Sich-selber-Anschauen in einer neuen Perspektive möglich wird. Ziehen wir nun zusammen, was M in 5 M geäußert hat („das hat mich an die Stadt so’n bissel erinnert, und (1) das fand ich halt schön (1) da wo ich gewohnt hab (1)“ und was er in 7 M erneut aufgreift und wiederholt („das hat mich halt alles so da dran erinnert und deswegen (,) fand ich das so schön“), werden die zitierten Wendungen insbesondere durch die Wiederholung hoch signifikant. M beurteilt an dieser Stelle nicht nur eine bestimmte ästhetische Erfahrung, sondern sein resümierendes (ästhetisches) Urteil „das fand ich so schön“ erhält durch die zweimalige Referenz auf die Erinnerung („deswegen“) eine fast schmerzliche Konnotation, die die in 4 M vorgetragene Lesart (kausaler Zusammenhang von Gedichttext und eigener Erfahrung) bekräftigt. Motivierbar wäre dies durch das einschneidende Erlebnis der Migration, die mit einer entwicklungspsychologisch generell markanten Phase um das neunte Lebensjahr kollidiert und sich als unterschwellig wirksames Gefühl von Trauer und Verlust äußert.142 142 Den Altersabschnitt zwischen 8 ½ und 9 ½ Jahren nennt Sullivan das „stille Wunder der Präadoleszenz“, das sich in der Aufnahme von Freundschaften mit „jemandem, der dem Selbst ähnlich ist und bei dem man sich wohl fühlt“ manifestiert. Dem schreibt Sullivan zwei ethische Tendenzen zu: „Die erste ist der Beginn der Fähigkeit, ›deinen Nachbarn wie dich selbst zu lieben‹; die zweite die Entdeckung des Gefühls der allgemeinen Humanität“; Kohlberg 2000: 122-125; vgl. Erikson 1970 u. 1992/2; Piaget 2003, Müller-Wiedemann 1980
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Drittes Zwischenresümee und Fallstrukturhypothese Das Gefühl der Vertrautheit auf der Basis kindlicher Erfahrungen bildet die Brücke, über die M das Gedicht zugänglich wird. Das Bild der Stadt am grauen Meer ruft in M die Erinnerung an jene Stadt am Meer herauf, in der er die ersten, prägenden Jahre seiner Kindheit verbrachte und die mit intensiven Eindrücken und Erlebnissen verbunden ist. Die Verse machen all das wieder lebendig, was er früher erlebte und was er auch aus der Retrospektive als schön empfinden kann, so dass er mit den Worten des Dichters sagen kann: Das war einfach die Stadt. Es ist jedoch nicht der distanzierte Blick eines reifen Erwachsenen, der den Ort seiner Jugend mit ihrem Zauber, ihrer Leichtigkeit in metaphorischer Sprache verklärt. M blickt aus der zukunftsoffenen, ungewissen Perspektive eines Vierzehnjährigen auf einen vertrauten Ort, den er verlassen musste und der nun, durch die metaphorische Sprache des Gedichtes evoziert, in seiner Erinnerung auftaucht und ihm in neuer Bedeutung bewusst wird. Indem M selber diesen unmittelbaren Bezug herstellt und sich mit dem Bild verbindet, wird das Gedicht zum Bestandteil seiner Identität. Signifikant ist dabei, dass er es ausschließlich auf die Heimat seiner Kindheit bezieht und nicht auch mit aktuellen Erfahrungen verknüpft, die er an dem Ort gemacht hat und macht, an dem er augenblicklich lebt – und dies immerhin seit mehr als fünf Jahren. Das Gedicht ist im Augenblick für M Anlass zur biografischen Bearbeitung einschneidender Erfahrungen und die Möglichkeit, Gewesenes einzuordnen. Da von M selber der frühere Wohnort thematisiert wurde, ist es im Sinne einer möglichst riskanten Strukturhypothese an dieser Stelle angemessen, einen in diesem Zusammenhang relevanten Aspekt aus dem Kontextwissen einzubeziehen. Auf Nachfrage bei der Lehrerin stellte sich heraus, dass M nicht nur einmal, sondern bereits zwei Mal die auch im günstigsten Fall für ein Kind krisenhafte Migrationserfahrung hat machen müssen, und zwar vor Ablauf seines ersten Lebensjahres eine erste durch den Umzug von Deutschland nach Beauville, schließlich die zweite von dort zurück nach Deutschland im Alter von etwa neun Jahren. Da die Rückkehr nach Deutschland mit der Trennung seiner Eltern verbunden war, wird die Signifikanz des Ereignisses vor allem unter Berücksichtigung der in diesem Lebensalter stattfindenden psychischen Distanzierungsbewegung erhöht. Vor diesem Hintergrund muss es sich zumindest beim zweiten Umzug um eine mehr oder minder offensichtliche traumatische Krise gehandelt haben, die durch die Begegnung mit dem Gedicht bzw. durch die dabei aufsteigenden Erinnerungen und Gefühle im Bewusstsein von M aktualisiert, gleichzeitig aber reflexionsfähig wird. Mit dieser Begründung kann die Hypothese aufgestellt werden, dass die Beziehung von M zum Gedicht noch eine unbewusste, verdrängte Ebene berührt und Ausdruck von schmerzhafter Erfahrung generell ist, die er bereits mehrmals ge-
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macht hat und von der er ahnt, dass er sie im Leben noch öfter wird bewältigen müssen. Seine Entscheidung gerade für dieses Gedicht erhält so Plausibilität: Die leise Melancholie, mit der das Bild der grauen Stadt im drückenden Nebel gemalt ist, sieht M als Analogie seiner eigenen melancholischen Stimmung im Zusammenhang mit seinen Verlusterfahrungen, die er jetzt in Gestalt des dichterischen Bildes jedoch artikulieren kann. So ist die Aneignung des Gedichtes gleichzeitig eine Möglichkeit, latent vorhandene krisenhafte Erfahrungen bewusstseinsfähig zu machen und in den Prozess seiner Identitätsfindung zu integrieren. Was sich M in der Auseinandersetzung mit dem Gedicht subjektiv erschließt, kann er in einer sehr verhaltenen, doch präzisen Sprache artikulieren. Dabei ist ihm weniger wichtig, dass er den Text der Verse im Sinne eines Wissens „hat“ oder den Namen des Dichters kennt: Die Übereinstimmung von eigenen Erfahrungen, Gedanken und Gefühlen mit dem inneren Gehalt des Gedichtes ist es, die er erkennt und als schön empfindet. Als ein erstes Ergebnis kann damit formuliert werden: M kann sich eigenen – zum Teil traumatischen – Erfahrungen über bestimmte Aspekte eines lyrischen Gebildes wieder annähern. Er kann diese wie auch sich selber im inneren Gehalt des Gedichtes spiegeln, Ähnlichkeiten erkennen und dies in ein schlichtes, originäres Urteil fassen: „Das fand ich schön.“
II. Analyse der Sequenzen zur Verdichtung und Modifikation der Strukturhypothese I fragt, wo M das Gedicht gefunden habe, das er sich aussuchen sollte.143 8 M: die Frau C hat uns so (,) Zettel gegeben (,) und da warn ganz viel Gedichte drauf und (,) da konnten wir uns eins aussuchen ma konnt sich aber auch irgendwo aus nem Buch oder so irgendwas n Gedicht raussuchen was ei’m gefällt (.) Der dem Namen der Lehrerin vorgestellte Artikel („die Frau C“) ist an dieser Stelle vermutlich der Umgangssprache unter Schülern geschuldet. Es könnte jedoch auch auf eine langjährige, sehr enge Beziehung zwischen M und seiner Lehrerin hindeuten und wäre so im Sinne einer uneingeschränkten Akzeptanz ihrer Persönlichkeit zu lesen, als wolle er sagen, Frau C sei einfach die Lehrerin. M schildert anschließend das Procedere der Entscheidungsfindung: Zunächst wurden den Schülern „so (,) Zettel gegeben“. Die kleine Zäsur vor dem Begriff „Zettel“ könnte dahingehend verstanden werden, dass M dieses Wort nicht unbedingt für adäquat hält für die Auswahl von Gedichten, die die Lehrerin für die 143 Näheres dazu in der Vorbemerkung zu Kapitel 4
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Klasse zusammengestellt und in Form eines Readers jedem Einzelnen ausgehändigt hatte. Von diesen „ganz viel Gedichte(n)“ konnte jeder Schüler sich eines aussuchen. Die Möglichkeit, auf anderen Wegen fündig zu werden („aus nem Buch oder so irgendwas“, also auch aus Internet, elterlichem Bücherschrank etc.), war demnach ebenfalls gegeben. Entscheidend sollte nach der Äußerung von M das sein, „was ei’m gefällt“, womit er bekräftigt, was auch weiter oben schon artikuliert wurde („das fand ich halt schön“, „das fand ich so schön“), nämlich dass es dieses Gedicht war, was ihm gefallen hat. 7 I: hmhm (,) und das hat dir spontan gefallen (.) (M: ja (,) ja) Nachdem I bestätigt, dass sie seine Worte verstanden habe, möchte sie von M nochmals direkt bestätigt haben, ob es „das“ (d. h. das Gedicht „Die Stadt“) gewesen sei, was ihm „spontan“ gefallen habe, das heißt ob er in einer Art „Liebe auf den ersten Blick“ Zugang zu seinem Gedicht gefunden habe. Dies wird durch zweimaliges, von einer winzigen Zäsur unterbrochenes „ja“ von M bestätigt, wodurch die Ernsthaftigkeit seiner Antwort hervorgehoben wird. 8 I: du bist ja aus ’ner andern Schule gekommen wo vielleicht so was gar nich üblich war dass man (,) Gedichte spricht in der Klasse oder war das doch so? (M: nein nein) in Beauville (,) nich (M: nee) wie war das jetzt für dich (,) insgesamt wenn du jetzt so diesen ganzen Zeitraum nimmst kannst du das mal’n bisschen beschreiben also du bist gekommen und (,) hat sich da was entwickelt hat sich was verändert (1) und wie war das jetzt im letzten Jahr (’) I konfrontiert M mit einem wahrhaften Feuerwerk von Fragen. Zunächst eröffnet sie mit ihrem Bezug auf die ersten Schuljahre von M in Beauville das Thema des ganzheitlichen, performativen Erarbeitens von Gedichten („dass man Gedichte spricht in der Klasse“) mit der Vermutung, dass „vielleicht so was“ in der Schule, aus der M „gekommen“ war, „gar nich üblich“ gewesen sei. Diese Vermutung wird von M mehrfach bestätigt („nein“), im Sinne von „nein, das war nicht üblich“. I möchte anschließend wissen, wie „das“, nämlich dieser Aspekt seines Wechsels an eine Freie Waldorfschule, „insgesamt“ für M gewesen sei. Sie fordert M dazu auf, „diesen ganzen Zeitraum“ zu nehmen (also die letzten viereinhalb Schuljahre) und ihn von dem Moment seiner Ankunft in seiner jetzigen Schule an („also du bist gekommen“) zu beschreiben. I möchte demnach Verschiedenes von M wissen, erstens „hat sich da was entwickelt“, zweitens „hat sich was verändert“. Nach einer kurzen Pause fasst sie die verschiedenen Aspekte ihrer Frage zusammen, indem sie – wieder eher allgemein werdend – danach fragt: „wie war das“, den ursprünglich angesprochenen „ganzen Zeitraum“ hier jedoch einschränkt auf „jetzt im letzten Jahr“. Damit hat I ihre zunächst auf das Thema des
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Gedichte-Rezitierens in der Klasse bezogene Frage erweitert und gleich mehrere Themen und Zeiträume genannt, zu denen M sich äußern könnte. Sie hat M damit zwei Möglichkeiten eröffnet: Einmal kann er sich auf ihre an ihn persönlich adressierte Frage zum Thema „Gedichtrezitation in der Klasse“ beziehen („wie war das für dich“). Zum anderen hat er die Möglichkeit, sich zu mehr allgemeinen Erfahrungen seines Schulwechsels zu äußern. Der Einstieg in ein Gespräch wäre für M auf diesem zweiten Weg möglicherweise einfacher, und I könnte an geeigneter Stelle, sozusagen auf Umwegen, zum Thema zurückkommen. 9 M: was die Gedichte anbetrifft (’) M hat verstanden, dass ihm mehrere Möglichkeiten offen stehen. Da er sich innerlich schon auf die Ausgangsfrage von I konzentriert hat, wird er durch den von I erweiterten Fragehorizont eher verunsichert und will sich vergewissern, wozu er sich nun tatsächlich äußern soll. So greift er systematisch auf den Kern der Frage von I zurück („wie war das jetzt für dich…insgesamt“) und nimmt sich aus der Themenvielfalt das heraus, was für ihn das Nächstliegende ist: die konkrete Alltagspraxis in der Schule („die Gedichte“). Damit fragt er, ob I nun seine Meinung dazu oder doch etwas anderes von ihm erwarte. 9 I: ja und auch die Situation also da zusammen in der Klasse aufstehn (,) rezitieren (,) und so weiter (,) von Anfang (,) bis jetzt (,) beschreib das doch bitte mal’n bisschen (.) Die Frage von M wird zunächst bejaht; unmittelbar danach konkretisiert I ihre Anforderung („also“), indem sie sagt, es gehe ihr vor allem um „die Situation“. I bezieht sich an dieser Stelle auf die Praktik des gemeinsamen Rezitierens von Gedichten in der Klasse. Diese Situation („also da“; etwa im Sinne von: „also da ist das doch immer so bei euch“) wird von I nachfolgend durch einzelne Ritualisierungen skizziert („zusammen in der Klasse aufstehn, rezitieren, und so weiter“). Anschließend fasst sie die Aufgabe für M mit der Bitte zusammen, er möge „das“ (das Ritual des Rezitierens) „mal’n bisschen“ beschreiben. 10 M: (3) oah da kann ich mich gar nich mehr dran erinnern wie’s am Anfang war (,) wie ich das da empfunden hab (4) (atmet aus) m-m (4) (schnauft leicht) (3) also ich (,) bin auf jeden Fall froh dass wir (,) diese Gedichte machen (,) also mir macht’s mir macht nich jedes Gedicht Spaß (,) aber (,) viele find ich auch schön und (1) find ich auch schön Gedichte zu lernen in der Schule weil sonst würd ich das nie lernen (I: hmhm) (2) joaa (.) M überlegt eine Weile. Wie mit tiefem Seufzen atmet er aus („oah“), als wolle er sagen, dass ihm die Komplexität der Fragestellung zu schaffen macht oder
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dass er sich davon überfordert fühlt. Offensichtlich nimmt er die Fragen von I jedoch so ernst, dass sie ihn dazu motiviert, sie gewissermaßen chronologisch „abzuarbeiten“, indem er sich zuerst darauf bezieht, „wie’s am Anfang war“. Er kann sich jedoch „gar nich mehr“ erinnern, „wie ich das da empfunden hab“. Das folgende „m-m“ ist nicht verneinend, sondern Ausdruck seiner Nachdenklichkeit, der Mühe auch, die M sich damit gibt, auf die Fragen von I ernsthaft zu antworten. Es folgen längere Pausen, die von Schnaufen und Ausatmen begleitet werden. Mit „also ich“ setzt er erneut an, was eine resümierende Einschätzung erwarten lässt. Mit der winzigen Zäsur nach „ich“ betont er, dass es hierbei um seine Meinung geht, indem er sagt, er sei „auf jeden Fall froh dass wir (,) diese Gedichte machen“. In der Alltagssprache wird der Ausdruck „ich bin auf jeden Fall froh“ meist im Sinne eines Resümierens verwendet. Frohsein bezieht sich auf ein elementares Gefühl, das der Sprechende empfindet. „Ich bin froh, dass du kommst!“ heißt zum Beispiel, dass er dieses Kommen eines anderen Menschen als etwas empfindet, worüber er uneingeschränkt froh ist. In „ich bin auf jeden Fall froh“ wird das elementare Frohsein zunächst tendenziell eingeschränkt, das heißt es sind grundsätzlich Faktoren denkbar, die das Frohgefühl beeinträchtigen könnten. Hätte der Sprechende nun Konkretes vor Augen, würde er sagen „in jedem Fall“, während die Wendung „auf jeden Fall“ eher einen generalisierenden Charakter hat. Dadurch erhält der Ausdruck eine Konnotation von Gewissheit (oder Entschiedenheit), denn das Resümee des Sprechenden bedeutet, dass keiner der denkbaren Faktoren sein Frohsein einschränkt. Auf die Formulierung von M übertragen, sagt er damit sinngemäß: „Wie auch immer es für andere sein mag, ich bin auf jeden Fall froh, dass wir diese Gedichte machen“. Er ist sich darüber gewiss, dass – wie sich weiter oben zeigte – lyrische Sprache zu einem Teil seiner Identität geworden ist. Der bestimmte Artikel („diese“) lässt nun einerseits darauf schließen, dass M hier bestimmte Gedichte meint. Andererseits impliziert die Pluralform, dass M nicht nur froh ist über die Aneignung dieses einen Gedichtes („Die Stadt“), sondern seine Äußerung geht eher in Richtung einer Generalisierung („dass wir … Gedichte machen“). Die Formulierung „Gedichte machen“ ist nicht nur einem verbreiteten Schülerjargon geschuldet in der ganz allgemeinen Bedeutung, dass im Unterricht wie auch immer ein Thema „behandelt“, das heißt hier: mit Gedichten nicht nur reflexiv, sondern auch handelnd umgegangen wird. In diesem Sinne werden Gedichte „gemacht“, wie Schüler von einem anderen Lernstoff sagen würden „wir machen das Einmaleins, wir machen Grammatik, in Geografie machen wir grade die Weltmeere“. In dem Verb „machen“ schwingt jedoch gleichzeitig etwas mit, was „einzelsprachlich […] verschiedene Anwendungen auf handwerkliche Sonderbereiche“ andeutet, das heißt die aktive Seite eines Vorgangs betont (vgl. Kluge 2002: 587). Im aktuellen Sprachgebrauch wird das Wort „ma-
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chen“ auch in substantivierter Form zum Beispiel in Zusammenhang mit kreativem Handeln verwendet, etwa in Begriffen wie „Liedermacher“ oder „Filmemacher“. Zieht man die vorausgegangenen Äußerungen von M hinzu, steht „machen“ hier also für „Gedichte rezitieren“ und betont den performativen bzw. Handlungs-Aspekt im Sinne eines aktiven Sich-zu-eigen-Machens. Nach einer winzigen Zäsur setzt M hinzu „also mir macht’s“, wobei er seinen Gedanken unterbricht und sogleich leicht restriktiv hinzufügt „mir macht nich jedes Gedicht Spaß“. Ausformuliert sagt er damit sinngemäß: „Also mir macht’s im Grunde genommen Spaß, aber es gibt auch Gedichte, die ich nicht so gerne rezitiere bzw. nicht so schön finde wie zum Beispiel das, was ich mir ausgesucht habe“. Die pauschale Zustimmung vom Beginn der Sequenz wird dadurch relativiert bzw. differenziert („nich jedes“). Mit „also mir macht’s“ wiederholt sich, was M weiter oben bereits betonte, nämlich dass er hier einzig für seine persönliche Auffassung steht. Dies impliziert, dass es in der Klasse auch Schüler gibt, die in Bezug auf Gedichte und auf die Praktik des gemeinsamen Rezitierens möglicherweise eine andere Auffassung vertreten als M. Er verwendet konsequent die persönliche Form („ich“). M hat demnach kein Problem damit, sich von der Meinung anderer abzugrenzen und für sein eigenes Urteil einzutreten. Nun greift M mit einem „aber“ wieder seinen zuvor geäußerten Gedanken („ich bin auf jeden Fall froh…“) auf, als wolle er sagen: „Aber obwohl es Gedichte gibt, die ich nicht so gerne habe, bleibt das Positive der Erfahrung erhalten.“ Diese Einleitung lässt wiederum eine Art Resümee erwarten. M drückt dies aus in dem Satz „viele find ich auch schön“. Es gibt also Gedichte, die M weniger gut gefallen, aber es sind – wenn auch nicht die meisten – doch „viele“, die er „auch schön und“ findet. Da er an das Attribut „schön“ die Konjunktion „und“ anschließt, deutet er an, dass auch noch andere Aspekte denkbar sind, die ihm an Gedichten gefallen. Auf einen dieser Aspekte bezieht M sich nach einer kleine Pause, indem er sagt, dass er es „auch schön“ finde, in der Schule Gedichte zu lernen. Zwei Mal benutzt M in dieser Sequenzstelle das Wort „finden“, was sich sinnlogisch auf den Aneignungsprozess von Gedichten bezieht. Dementsprechend könnte man seine Worte folgendermaßen paraphrasieren: „In etwas bisher Alltäglichem (dem gewohnheitsmäßigen Rezitieren von Gedichten) habe ich ein Besonderes, bei bestimmten Gedichten einen Sinngehalt gefunden und nenne diese (ästhetische) Erfahrung ›schön‹.“ Er findet demnach nicht nur den Inhalt bestimmter Gedichte schön, sondern schließt den gemeinsamen Aneignungsprozess (in der Schule) explizit ein. Mit dem Finden des Besonderen generiert eine Bedeutung, die auch das alltägliche Ritual in neuem Licht erscheinen lassen. M begründet dies sogleich („weil“) mit den Worten „sonst würd ich das nie lernen“. Dies könnte in folgenden Lesarten einen Sinn ergeben:
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M verwendet hier zwei Mal das Wort „lernen“ in einem Zusammenhang, der auf den ersten Blick irritierend ist. Eine Art Übereifer schwingt auch in diesen Worten wieder mit (vgl. Lesart 1 aus 2 M). Überspitzt könnte man sagen, M spricht entweder nach, was ihm von Erwachsenen zu Ohren gekommen ist, oder er sagt etwas, was I seiner Meinung nach von ihm erwartet (etwa: dass man Gedichte lernen solle). Dem widerspricht allerdings, dass M in der gesamten Passage ausschließlich die persönliche Form verwendet („ich“). Auffallend ist jedoch, dass M seine Einschätzung überhaupt begründet. Es würde doch genügen, dass er die Gedichte und den Umgang damit in der Schule schön findet. Aber gerade diese Tatsache eröffnet eine zweite Lesart: Indem M seine Einschätzung explizit begründet, hebt er das Lernen von Gedichten ab von Fächern wie Mathematik oder Englisch, bei denen für jeden selbstverständlich ist (und eben nicht begründungsbedürftig), dass sie gelernt werden müssen. Dies impliziert, dass bestimmte Gedichte für M etwas sind, was einen anderen Stellenwert hat als die üblichen Lernstoffe. Wenn er also nicht Schüler dieser Schule wäre („sonst“), müsste er auf diese Erfahrung verzichten. Mit anderen Worten könnte er sagen: „Wenn ich in der Schule keine Gedichte geboten bekäme, würde ich nie damit in Berührung kommen, nicht durch meine Eltern, nicht durch meine Freunde, nicht aus mir selber. Es würde dann etwas ungenutzt bleiben, etwas brach liegen, was ich als etwas Elementares und Wichtiges für mein Leben ansehe, worauf ich sonst verzichten müsste. Darum finde ich es schön, dass wir das lernen.“ Das Wort „lernen“ verwendet er dabei nicht im Sinne eines (kumulativen) Lernens von Wissensinhalten, sondern eines Kennenlernens, einer Begegnung, die etwas mit ihm macht (vgl. 4 M) und ihn berührt. Nehmen wir die vorherige Formulierung „ich bin auf jeden Fall froh“ hinzu, wird deutlich, wie bewusst M hier zum Thema „Gedichte“ spricht. Zwei Aspekte zieht er dabei zusammen, nämlich einmal den der Gedichte selbst, das heißt unter Berücksichtigung seiner Äußerungen in 5 M und 7 M vornehmlich ihren Inhalt, zum anderen die Situation des gemeinsamen, ganzheitlichen Lernens, den performativen Vollzug in der Schule. Beides findet er schön: den inneren Gehalt von Gedichten, weil sie ihn zum Nachdenken, zum Vergleich anregen bzw. Erinnerungen in ihm wecken; das Lernangebot in der Schule, weil er sonst keine Möglichkeiten der Begegnung mit lyrischer Sprache sieht, die ihm für seinen Bildungsprozess inzwischen wichtig sind. Beziehen wir ein, wie ernsthaft M bereits in 2 M auf die Fragen von I eingegangen ist, belegen seine Äußerungen eine gelungene Anpassungsleistung an die Interview-Situation.
Damit kann die erste Lesart, nach der M sozusagen „eine Rechnung aufmachen“ und sich pflichtschuldig einer „Meinung“ anpassen würde, nicht aufrechterhalten
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werden. Seine Formulierung „sonst würd ich das nie lernen“ ist an dieser Stelle vielmehr der authentische Ausdruck einer Erfahrung, die man etwa paraphrasieren könnte mit den Worten: „sonst würd ich den Wert von Gedichten, von lyrischer Sprache nie schätzen lernen“. M bezieht sich mit seinen Äußerungen auf jenen Teil der Aufforderung von I, der die Situation des Lernens von Gedichten betraf (vgl. 8 I). Dies stützt den Erklärungsansatz aus 10 M, dass M sich die verschiedenen Aspekte der Aufforderung gewissermaßen chronologisch vornimmt, um sukzessive seine jeweils begründete Einschätzung zu geben. Im Anschluss daran macht M eine Pause und setzt, wie um das zuvor Gesagte zu bekräftigen und abzuschließen, ein nachdrücklich gesprochenes „joaa“ hinzu. Es ist nun zu erwarten, dass M seine Bedeutungsbegründung abschließt. Er setzt seine Ausführungen jedoch nach einem langen Atemzug fort. Viertes Zwischenresümee M differenziert: Es ist eine bestimmte Art von Gedichten, denen er eine Bedeutung für seine persönliche Entwicklung und (Selbst-)Bildung beimisst. Dies sagt er zwar nicht explizit, aber es kann aus der Kontrastierung erschlossen werden, indem er sagt, dass er „sonst“ nie Gedichte lernte, also darauf verzichten müsste. Durch den Kontext von Schule und Unterricht ist er zwar dazu verpflichtet, sich mit Gedichten zu beschäftigen, aber M sieht dies durchaus positiv, denn gerade dadurch fühlt er sich zu dieser nicht alltäglichen Form der ästhetischen Erfahrung angeregt. Auf diesem Wege hat M Gedichte für sich entdeckt als ein Mittel, um daran etwas über sich selber zu „lernen“, das heißt um bestimmte Aspekte seines Selbst, seine persönliche Situation in einer Facette des Gedichtes zu erkennen, sich mit seinem inneren Gehalt in Beziehung zu setzen und etwas vorher noch Unbewusstes, Unsagbares, in Hinsicht auf seine Verlusterfahrungen auch Schmerzhaftes ausdrücken zu können. Seine insgesamt positive Meinung dazu bleibt erhalten, auch wenn er das eine oder andere Gedicht inhaltlich weniger schön findet und es Mitschüler gibt, die eine davon abweichende Meinung vertreten. Daraus ergibt sich eine Übereinstimmung mit dem, was weiter oben als Authentizität des Urteilens bzw. als Einstehen für die eigene Meinung skizziert wurde. 11 M: (atmet aus) und Entwicklung (’) (1) M rekonstruiert peu-à-peu den gesamten Fragehorizont, den I aufgespannt hat, und nähert sich mit seiner Überlegung nun dem letzten Aspekt (vgl. 7 I „hat sich da was entwickelt“), indem er sich sozusagen bei sich selbst erkundigt, im Sinne von: „Hat diesbezüglich eine Entwicklung stattgefunden oder nicht?“. Danach macht er wiederum eine kurze Pause.
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10 I: warum findest du das schön (’) I geht auf die Frage nach einer Entwicklung (im Umgang mit Gedichten), um die M sich augenblicklich Gedanken macht, leider nicht ein bzw. wartet nicht lange genug auf das, was er dazu sagen könnte. Stattdessen unterbricht sie seinen Gedankengang und greift auf das kurz zuvor von M Gesagte zurück, indem sie wiederum eine Begründung dafür einfordert, warum er „das“, nämlich das Lernen von Gedichten in der Schule, schön finde. M hat sich in seinen Äußerungen bisher immer auf konkrete Erfahrungen seiner Biografie (Kindheit in einer anderen Stadt, Schule, Unterricht) beziehen können. Mit ihrem Begründungsbegehren, warum er Gedichte schön finde, muss M sich auf ein ihm noch wenig bekanntes Terrain begeben. Nun geht es nicht nur um den Namen eines Dichters oder den genauen Titel eines Gedichtes, das er sich angeeignet hat, sondern es wird von ihm erwartet, dass er ein mit einer eher außer-gewöhnlichen Textform („Gedichte“) verknüpftes Gefühl (etwas schön zu finden) argumentativ erläutern soll. I riskiert an dieser Stelle, dass ihr Begründungsbegehren eine Art Krise in M auslöst und seine Gesprächsbereitschaft beeinträchtigt. Damit sind M mehrere Möglichkeiten eröffnet, auf die Frage von I eigenständig zu antworten:
M könnte auf den Aspekt des Lernens zurückgreifen und wiederholen, was er bereits vorher angegeben hat, indem er etwa sagte: „Weil ich das sonst nie lernen würde und weil es mir wichtig ist.“ Eine zweite Möglichkeit wäre, dass M mit der Wendung „find ich auch schön Gedichte zu lernen in der Schule“ auf den performativen Vorgang referierte und die Situation des Rezitierens vor einem vertrauten Publikum selbst als Bestätigung erlebte. Drittens wäre denkbar, dass M – da er von I in seinem Gedankengang unterbrochen wurde – aus Gründen einer gewissen Irritation auf eine generalisierende Ebene abhöbe, was die Authentizität seiner Einschätzungen eher beeinträchtigen würde.
12 M: (2) weil-l (,) des auch so’n Stück äm Kultur is find ich also Gedichte das (,) gehört einfach dazu und das find ich schön wenn das (1) nich einfach äm (,) so weggeschmissen wird (,) sondern so wie hier in der Waldorfschule weitergereicht wird (.) Die von I erheischte Begründung („warum“) ist für M überraschend. In der relativ langen Pause und dem gedehnt gesprochenen „weil-l“ kommt zum Ausdruck, dass ihn die Unterbrechung seines Gedankengangs tatsächlich irritiert und die Frage von I ihn mit erhöhten Erwartungen konfrontiert. Daher muss er einen Augenblick überlegen und greift dann zögernd zu einer Verallgemeinerung: Weil Gedichte ein
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Stück Kultur seien und einfach dazu gehörten. M wählt demnach die dritte Lesart aus 9 I und wechselt auf die sichere Seite allgemein anerkannter Wertungen,
indem er entweder die Perspektive von Erwachsenen übernimmt und „etwas abliefert“, von dem er denkt, dass I Entsprechendes von ihm erwarte; oder er greift zu Generalisierungen, um sich gegenüber der hohen Bewährungsanforderung von I zu bewähren und gleichzeitig die Situation abzuschließen.
Ziehen wir die Ernsthaftigkeit und das Bemühen, die M bezüglich der Fragen von I bisher gezeigt hat, die ihn irritierende Unterbrechung seines Gedankengangs durch I in 9 I („warum?“) sowie eine gewisse Erschöpfung von M hinzu, die in den häufiger auftretenden Zäsuren, ein leises „äm“, um eine Verlegenheitspause zu füllen, und klischeehaften Wendungen („gehört einfach dazu“) zum Ausdruck kommt, wiegt die zweite Option schwerer. Die Begründung von M wäre auch an dieser Stelle Ausdruck seiner Fähigkeit, auf die Interviewerin trotz ihrer Intervention einzugehen. Durch diese Perspektivenübernahme wirkt er zwar weniger autonom als in seinen vorigen Äußerungen (vgl. 9 M), doch wird deren Authentizität dadurch nicht entkräftet. Er rechtfertigt sich nicht dafür, dass ein derart prekäres Begründungsbegehren für ihn eine große Herausforderung darstellt und er sich deshalb auf die Ebene allgemeiner Werthaltungen stützt. Er kann dazu noch kein so differenziertes Urteil abgeben wie zu einem Sachverhalt, den er konkret erfahren hat und auf der Basis eigenen Erlebens auf sein Gedicht („Die Stadt“) transformieren konnte. Darum sagt er „das gehört einfach dazu“, im Sinne von „das ist einfach so“, um weitere Fragen abzuwehren. Unmittelbar danach fügt M hinzu, dass er schön findet, „wenn das“ – gemeint ist das Kulturgut Lyrik – nicht „einfach so weggeschmissen“ werde. Pausen, kurzes Zögern und „äm“ zeigen, dass ihm das Ganze weniger leicht von den Lippen geht als seine persönliche Meinung zu etwas, was (wie das Rezitieren) seine tägliche Erfahrung im Schulalltag ist. Seine Berührtheit über das, was er durch die Aneignung des Gedichtes gewonnen hat (den Zugang zu etwas Außeralltäglichem; vgl. 10 M), spricht sich aus in den Worten „das find ich schön wenn das“ (d. h. die Gedichte) – hier zögert er, sucht nach der passenden Formulierung – und schließt spontan die Worte an „nich einfach äm (,)…so weggeschmissen wird“.144 „Wegschmeißen“ wird in der Umgangssprache verwendet für etwas, was mehr oder weniger intensiv gebraucht wurde, inzwischen 144 „Weg“ steht ursprünglich im Zusammenhang mit „auf dem Weg“, aber auch mit „drauf los“ (vgl. Kluge 2002:976). In Verbindung mit dem Verb „schmeißen“, das im Zusammenhang steht mit „schmieren“, aber auch „werfen“ (vgl. Kluge S. 812) heißt dies, etwas wird weggeworfen, um es loszuwerden.
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abgenutzt oder obsolet ist und was schließlich – um es loszuwerden – im Mülleimer landet. In dem fast aggressiv tingierten Wort „wegschmeißen“ drückt M aus, dass Gedichte für ihn etwas sind, was eben nicht „einfach so“ (im Sinne von „so wie üblicherweise“) wie etwas Überflüssiges „weggeschmissen“ werden sollte. Dabei betont die negative Form („nich…weggeschmissen“) die Entschiedenheit seiner Äußerung. Sie impliziert seine klare Distanzierung von der Gruppe der „Kulturwegschmeißer“. Nun folgt eine kleine Zäsur, die eine Idee von M hinsichtlich einer alternativen Verhaltensweise zum Kulturwegschmeißen erwarten lässt, einen Vorschlag zur Absonderung vom gemeinen Weg („sondern“). Im jugendlichen Sprachgebrauch ist das Wort „sondern“ eher selten. So würden Schüler dieses Alters in einer entsprechenden Situation statt: „Wir haben jetzt nicht Englisch, sondern Mathe!“ eher sagen: „Wir haben jetzt nicht Englisch, wir haben Mathe!“ „Sondern“ markiert, dass etwas unterschieden und abgesondert wird. Bezogen auf unseren Fall deutet M mit dem Wort „sondern“ an, etwas, was ihm selber so wertvoll ist wie „Gedichte“, sei vom Alltagsweltlichen abzusondern, gehöre nicht „weggeschmissen“. Die zu erwartende Alternative expliziert M nun, indem er sagt „sondern so wie hier in der Waldorfschule weitergereicht wird“. M markiert damit eine identifikatorische Bewegung mit dem „besonderen Weg“ seiner konkreten Schulgemeinschaft („hier in der Waldorfschule“), wo Gedichte nicht weggeschmissen, „sondern…weitergereicht“ werden. M benutzt auch hier ein Verb, das in der Umgangssprache eher selten, im Sprachgebrauch von Jugendlichen vielleicht im Rahmen einer Klassenfahrt auftaucht, wenn beispielsweise am Frühstückstisch die Butter weitergereicht werden soll. Ziehen wir den Aspekt des Formgefühls gegenüber einem herausgehobenen Inhalt hinzu, den M bereits in 2 M zeigte („soll ich’s vortr-[agen]“), wird sein Bemühen deutlich, sich einer Sache angemessen auszudrücken. Er differenziert also: Handelt es sich um alltägliche Dinge wie beispielsweise Informationen, Butter oder Teller, wird etwas weitergegeben; da es sich hier jedoch um Gedichte handelt, zieht er das Wort „weiterreichen“ vor. Damit wird konsistent, was in der Strukturhypothese weiter oben formuliert wurde: Bestimmte Gedichte (vgl. 10 M, „nich jedes“) sind für M zu einem Teil seiner Identität geworden. Die vorliegende Sequenzstelle berücksichtigend müsste modifizierend ergänzt werden: M hat Gedichte als etwas erfahren, was er zunächst für sich selber schätzenswert („schön“) findet. Seine Idee führt jedoch weiter: Eine bestimmte Art von lyrischer Dichtung – die er bisher noch nicht näher qualifiziert hat – findet er nicht nur für sich selber wertvoll, sondern auch für andere. Darum soll sie „so wie hier in der Waldorfschule“ weitergereicht werden. Dies ergibt sich sinnlogisch aus dem Wort „weiterreichen“, an dem das Entscheidende das dem Verb voran gesetzte Adjektiv „weiter“ ist, das hier präpositional gebraucht wird und darauf hinweist, dass etwas weitergehen bzw. nicht abgebrochen werden möge. Die Idee von M, aufgrund seiner positiven Erfahrung Gedichte zu tradieren und
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so für alle verfügbar zu machen, bekräftigt seine bereits zuvor bezeichnete Identifikation mit der Unterrichtskultur seiner Schule („sondern“): Was er für sich schön findet (sich selber in einem signifikanten Anderen, hier: einem Gedicht erkennen zu können), will er darum an andere „weiterreichen“. Unter Berücksichtigung des etymologischen Hintergrundes und des dort identifizierten Zusammenhangs von „reichen“ mit „lenken, richten und leiten“145 bestätigt sich, dass M an dieser Stelle eine Generalisierung vornimmt, obwohl er deren Adressaten nicht explizit bestimmt. In diesem Aspekt hätte seine Äußerung noch eine weitere Nuance, als wolle er sagen: „Gedichte sind nichts Überflüssiges, was man wegschmeißen kann wie Müll, sondern sie sind etwas, was weiter reicht oder sich auf einen anderen Bereich richtet als Mathe und Englisch, was über das Alltägliche und die persönliche Zukunft hinausweisen und von Generation zu Generation gehen kann.“ Ziehen wir die frühkindlichen Verlusterfahrungen von M hinzu, wäre seine Idee, Gedichte zu tradieren, auch an dieser Stelle Ausdruck eines Bedürfnisses nach Stabilisierung durch Vergemeinschaftung im Sinne von „etwas Schönes muss für alle bewahrt und darf nicht weggeschmissen werden.“ 10 I: hmhm weitergereicht wie meinst du das jetzt [weitergereicht (’) I hat verstanden, was M gesagt hat. Bei dem Wort „weitergereicht“ interveniert sie und will genauer wissen, wie M „jetzt“ dieses „weitergereicht“ meine. Während sie das Wort „weitergereicht“ wiederholt, wird sie von M unterbrochen. 12 M: [also (,) dass nich (,) weil ich glaub nich dass ich mich jetz mit Gedichten beschäftigen würd wenn ich nich auf der (,) hier auf der Schule wär (I: hmhm) und (,) damit das einfach verloren geht (,) also nich verloren geht (,) das (,) find ich gut und (,) ja Gedichte so (2) häm ja (atmet aus) hab ich auch da drin schon geschrieben (,) gefallen mir auch mehr so die wo ne wahre Begebenheit haben (,) wo was erzählen (.) Die Unterbrechung von I lässt darauf schließen, dass M sich mit wachsendem Engagement zum Thema äußert. Er beginnt („also“) zu argumentieren, unterbricht seinen Erklärungsansatz jedoch sogleich („dass nich“) und wiederholt danach seine Begründung aus 10 M: Er glaube nicht, dass er sich je mit Gedichten beschäftigen würde, wenn er nicht auf dieser Schule wäre. Indem er das Wort „beschäftigen“146 verwendet, betont er wiederum, dass er Gedichte nicht ausschließlich als gelesenen Text in sein Lernen einbezieht, sondern sie sich auch 145 Die semantische Wurzel des Verbums „reichen“ ist nach Kluge schwer festzustellen (vgl. Kluge 2002:753); es gibt jedoch einen Zusammenhang mit „lenken, richten bzw. leiten“, der hier in Hinsicht etwa des „Weiterreichens von Werten etc.“ aufschlussreich sein könnte. 146 Das Wort „beschäftigen“ steht im Zusammenhang mit „schaffen“, vgl. Kluge 2002: 113
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aktiv zu Eigen machen will. Dies ergibt eine Übereinstimmung mit der Sequenzstelle 10 M, wo M davon spricht, dass bestimmte Gedichte für ihn schätzenswert seien, weil er in ihnen etwas ausgedrückt finde, was er selber ähnlich erlebe und darum schön finde. Danach folgen wiederum eher generalisierende Äußerungen, die sich teils widersprechen („und (,) damit das einfach verloren geht (,) also nich verloren geht“) oder unterbrochen werden und schließlich nochmals zusammenfassen, was M bereits weiter oben geäußert hat: Er findet „gut“, dass „das“ nicht einfach verloren geht und steuert mit dem nachfolgenden „und“ auf einen neuen Gedanken zu, indem er – wiederum nach einer Zäsur – sagt: „(,) ja“, als wolle er seine vorige Aussage nun abschließen und zu einem Resümee überleiten. Dann fügt er das Wort „Gedichte“ hinzu, als wolle er sagen: „Ja, das ist es, was ich zum Thema Gedichte sagen kann.“ Diese sehr bruchstückhafte Äußerung bekräftigt M mit dem Wörtchen „so“, das sinnlogisch an dieser Stelle als Beschließung gelesen werden kann, etwa im Sinne von: „So! Jetzt habe ich genug dazu gesagt“ oder „So, das war’s!“ Der Beschließungscharakter dieser letzten Äußerung wird durch die folgende längere Pause noch unterstrichen. „Häm ja“ zeigt, dass M sich noch weiter um eine Antwort bemüht und zu einem neuen Gedanken ansetzt. Dies wird ihm offensichtlich immer schwerer, wie sein tiefes Ausatmen zeigt. Im Grunde hat er doch alles gesagt, was er zu dem Thema sagen will und kann. Darum will er sich jetzt vor weiteren Begründungsbegehren von I retten und nimmt etwas zu Hilfe, was er „auch da drin schon geschrieben“ hat. Mit „da drin“ bezieht M sich auf ein Papier, auf dem er vorher schriftlich skizziert hatte, was ihm zu der von I gestellten Frage „Was muss ein Gedicht haben, damit es mir gefällt?“ eingefallen war. Er will demnach seine mündlichen Aussagen mit etwas Geschriebenem, konkret Greifbaren ersetzen, um I endlich zufrieden zu stellen und weitere Anforderungen ihrerseits abzuwehren. Was er „schon geschrieben“ hat, wiederholt M nun nochmals in Worten: Ihm gefallen „auch mehr so die wo ne wahre Begebenheit haben (,) wo was erzählen“. Damit begibt M sich (stimmungsmäßig) wieder in den vertrauten Kreis seiner Mitschüler, die wie er „auch“ Gedichte vorziehen, die reale Begebenheiten erzählen, wie beispielsweise Balladen. Da M sich hier auf eine schriftliche Fassung seiner Gedanken bezieht, soll diese nachfolgend in Form eines Exkurses interpretiert werden.
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Exkurs: „Was ein Gedicht haben sollte, damit es mir gefällt“ M schrieb dazu: „Ein Gedicht, das mir gefällt, muss Spannung aufbauen, die dann zum Schluss aufgelöst wird. Am meisten gefällt es mir, wenn über eine wahre Begebenheit berichtet wird. Es darf kein Altdeutsch sein, lieber moderne Sprache.“
In Differenz zu seinen mündlichen Erklärungen äußert M sich schriftlich aus einer insgesamt größeren Distanz. Hier ist er persönlich weniger involviert; er kann auf der allgemeinen Ebene bleiben und (wie viele andere Interviewees aus dem Sample) die Angelegenheit unter dem Aspekt der Spannung beurteilen. Dazu greift er zu einer Art Fachausdruck, indem er sagt, ihm gefalle „Spannung“, die „aufgebaut“ und „zum Schluss aufgelöst“ werde. Signifikant ist hier, dass er explizit erwähnt, dass die Spannung zum Schluss wieder aufgelöst werden müsse, was in gewisser Weise korrespondiert mit seinem Bedürfnis nach Vergemeinschaftung (er will das Schöne mit der Nachwelt teilen bzw. es an sie weiterreichen). Im zweiten Satz hierarchisiert er: „Am meisten“ gefalle ihm, wenn über eine wahre Begebenheit berichtet werde. Dies kontrastiert deutlich mit der Nähe zur lyrischen Sprache des Gedichtes, mit dem M sich zuvor identifizierte. Die Distanz des Graphems ermöglicht es ihm, den anderen, für ihn ebenso wichtigen Aspekt sprachlichen Ausdrucks zu realisieren: Am meisten gefällt ihm ein Gedicht, wenn es wahr ist (im Sinne von realitätsnah), wenn es sich tatsächlich begeben hat, wenn es über etwas berichtet (im Sinne einer sachlichen, nicht metaphorischen Wiedergabe eines Gewesenen). Im letzten Satz formuliert M eine Art kategorischer Forderung: „Es darf kein Altdeutsch sein, lieber moderne Sprache.“ Mit Bezug auf die Fragestellung sagt er damit: „Wenn es Altdeutsch ist, dann gefällt es mir nicht!“ Mit dem Wort „Altdeutsch“ kann M an dieser Stelle nicht „Althochdeutsch“ meinen, sondern sinnlogisch ein altertümliches Deutsch, als Kontrast zu dem, was M „lieber“ ist: eine moderne, alltagsweltlich vertraute und nicht verfremdete Sprache. Was M pauschal mit dem Etikett „Altdeutsch“ belegt, hat hier eher eine pejorative Konnotation. Fortsetzung der Analyse: Signifikant ist die Differenz zwischen den Äußerungen von M zu dem von ihm gewählten Gedicht „Die Stadt“, die seine Berührtheit und persönliche Betroffenheit relativ verhalten, doch überzeugend ausdrücken, und seiner Äußerung in 12 M. Darin teilt er mit, ihm gefielen mehr jene Gedichte, die eine „wahre Begebenheit haben“ und „was erzählen“, was mit seiner schriftlichen Ausführung übereinstimmt und sich wenig unterscheidet von dem, was andere Schüler dazu
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geschrieben haben. Die erste Einschätzung ist das Ergebnis einer Transformation von persönlicher Erfahrung auf einen lyrischen Text. Der Anlass für M, sich für „Die Stadt“ zu entscheiden, war zunächst die Nähe von Text und frühkindlicher Biographie. Diese Nähe bekam durch die suggestive und zugleich Distanz schaffende Kraft der poetischen Sprache ein neues Gesicht und ermöglichte M, die „nicht nur schönen Seiten“ seiner Stadt bzw. Kindheit am Beispiel des Gedichtes bewusst zu machen und bildungsproduktiv zu bearbeiten. Die anderen Äußerungen zu Gedichten, die ihm gefallen, trifft M sowohl mündlich als auch schriftlich aus einer mehr distanzierten Position. Sie sind Ausdruck einer anderen Art von Nähe, nämlich seines alltagsweltlichen Bedürfnisses, zu wissen, wie die Realität der Welt tatsächlich und unverfremdet aussieht. Daher gefällt M „am meisten, wenn über wahre Begebenheiten berichtet wird“. Indem M von sich aus einen Bezug zwischen Interview und schriftlicher Erklärung herstellt, kommt deren Authentizität zum Ausdruck und wird durch die in 12 M stärker dialektal gefärbten Wendungen („die wo ne wahre Begebenheit haben…die wo was erzählen“) noch betont. Beide Aussagen sind fundiert: „moderne Sprache“ ist ihm „lieber“, weil sie der Alltagswelt von M entspricht. Lyrische Sprache findet M „schön“ (womit er ausdrückt, dass es um ästhetische Erfahrung geht), weil er erfahren hat, dass sie ihn „etwas angeht“ (im Sinne von „berührt“), insofern er bisher Unsagbares im Medium eines Gedichtes sinnbildlich zum Ausdruck bringen konnte. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der letzte Satz seines Statements („kein Altdeutsch“), der im Widerspruch zu dem steht, was M weiter oben zum Gedicht von Theodor Storm äußert: Dies fand er trotz (oder wegen) seiner „altdeutschen“ (im Sinne von „außeralltäglichen“) Ausdrucksweise doch deshalb „schön“, weil ihm hier durch metaphorisch verfremdete Sprache ermöglich wurde, schmerzhafte Erinnerungen reflexiv zu verarbeiten. 11 I: hmhm aber ich meine was ist denn daran jetzt so dass man’s weiterreichen sollte? Was wäre jetzt schlimm da dran wenn (,) s vergangen und (,) vergessen wäre (’) I hat verstanden, was M gesagt hat, gibt sich jedoch damit nicht zufrieden, sondern eröffnet mit ihrer restriktiven Einwendung („aber“) eine adversative Position („ich meine“). Damit gleitet sie ab von der sie interessierenden Ausgangsfrage („wie war das für dich?“) und geht über zu dem, was sie selber meint („ich meine“) und damit auf eine allgemeine Ebene. Etymologisch besteht ein Zusammenhang von „meinen“ und „Wechsel, Tausch“: „Meinen ist ursprünglich ›der Reihe nach, im Wechsel, seine Meinung äußern‹. (Kluge a.a.O.: 610). Dieser Eröffnung entsprechend müsste I nun erklären, was genau sie – sinnlogisch auf Gedichte bezogen – meine. Ihr Abgleiten auf die Ebene ihres Meinens hat hier starkes Gewicht und bringt M in die Bredouille, auf einem Brett mitzuspie-
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len, dessen Felder er zwar erfahren hat, das ihm als abstraktes Gebilde und „Wissensgebiet“ jedoch eher fremd ist. I insistiert also auf ihrem Begründungsbegehren, leitet ihre Eröffnung von ihrem Meinen aber in der folgenden Sequenzstelle wieder in eine Frage um („was ist“), indem sie das Wort „weiterreichen“ von M aufgreift und von ihm wissen möchte, was „denn daran“ sei „jetzt so“, dass man Gedichte überhaupt weiterreichen solle. Damit wird die Zielrichtung ihrer Frage abstrakter, denn M wird nicht mehr nach seinen Erfahrungen und Ideen gefragt, sondern thematisch wird ein eher abfragbares Wissen. Signifikant ist, dass I die unpersönliche Form („man“) verwendet, während M immer in Ich-Botschaften spricht. Er soll also argumentativ begründen, was „jetzt“ (im Sinne von „heute“) für Jugendliche noch „daran“ (nämlich an Gedichten) „so“ interessant sein könnte, um zu rechtfertigen, dass Gedichte an sie (die Schüler und nächste Generationen) weitergereicht werden sollten. Unmittelbar anschließend wiederholt I die Frage aus der negativen Perspektive: „was wäre jetzt schlimm da dran wenn (,) s vergangen und (,) vergessen wäre?“, d. h. wenn es eben nicht weitergereicht würde. Mit beiden Fragen (was an Gedichten „daran“ sei bzw. was „schlimm“ am Vergessen wäre) erhöht I die Bewährungsanforderung an M, indem sie – ähnlich wie in 9 I – nun auch noch wissen will, was das Besondere, Spezifische an Gedichten generell sei („was ist denn daran?“), das heißt implizit, dass I unterstellt, M verfüge zumindest ansatzweise schon über Kriterien der Lyrik. Hier erinnert die Formulierung von I an typische Lehrerfragen, so als ob I etwas Spezielles (im Unterricht Behandeltes) von M erfahren wolle. In diesem Aspekt könnte man pointiert die These aufstellen: Die Situation hat sich verschoben, indem I die Beziehung von Interviewer zu Interviewee durch ihr verschärftes Nachfragen zu einer Art Schüler-Lehrer-Beziehung umwandelt. Das heißt, M wird nicht mehr nach seinen persönlichen Erfahrungen gefragt, sondern die „Lehrerin“ I, die die fertige Antwort weiß, will diese im Sinne einer „Entwicklungsfrage“ von M expressis verbis hören. Gedichte als literarische Gattung aber sind für diesen noch etwas Un-Bestimmtes im positiven Sinne, sonst hätte er I schon längst fertige Urteile präsentieren können. Durch diese Beziehungsverschiebung wird M nun I gegenüber zum Schüler, der ein Gelerntes wiedergeben soll. Die Möglichkeit, dass I von ihm nun Authentisches zum Thema Gedichte erfährt, ist damit zumindest erschwert. 13 M: (3) Gedichte sind halt auch was Schönes wo man sich ausdrücken kann und so (2) (I: du dich?) ich mich m-hm (atmet ein wenig aus wie fragend oder zweifelnd) (.) M macht eine längere Pause, bevor er zu seiner Antwort ansetzt, indem er sagt, Gedichte seien „halt“, als wolle er sagen „das ist eben so“. Wie das folgende
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„auch“ zeigt, ist M sich bewusst, dass er über Gedichte als Kunstform noch nicht sehr viel weiß, so als wolle er sagen: „Gedichte sind vieles andere auch, was ich noch nicht so genau weiß, aber unter anderem sind sie halt“ Nachdem I nun durch mehrfaches Intervenieren („warum“, „wie meinst du das“, „was ist denn daran“) das Buch des „Wissens über Gedichte“ aufgeschlagen hat, sind M nun zwei Möglichkeiten eröffnet:
Er könnte – auf die von I anvisierte allgemeine Wissensebene genötigt – versuchen, ihr das Stichwort zu geben, von dem er glaubt, dass sie es hören wolle, oder seine früheren Äußerungen in modifizierter Form wiederholen.
Nach der Pause sagt er, sie „sind halt auch was …“. „Was“ benutzt M an dieser Stelle nicht als Fragewort, sondern (aus seiner Perspektive präzise) im Sinne von „etwas, was noch unbestimmt ist“147, ein Etwas, das zu seiner Identität gehört, über dessen künstlerische Form er sich aber lediglich relativ allgemein äußern kann. Er fängt nicht an zu schwadronieren, sondern greift seine schlichte Formulierung von vorher wieder auf, indem er – wie weitere Fragen abwehrend – sagt, Gedichte seien „halt auch was Schönes“. Da er die Pluralform („Gedichte sind“) benutzt, bezieht er sich nicht auf eine solitäre, sondern eine mehrfach gemachte ästhetische Erfahrung in einer Unterrichtskultur, die seine positive Grundeinstellung zu Gedichten als Teil von Kultur generell begründet (vgl. 12 M). Unmittelbar danach fügt M hinzu „wo man sich ausdrücken kann und so“. Dieses Schöne bezieht sich nicht auf einen zu erstrebenden Bildungsgrad, sondern auf ein spontanes Gefühl von M, das für ihn mit der Fähigkeit sich ausdrücken zu können zusammenhängt. Hier verwendet er zum ersten Mal die unpersönliche Form („man“) und drückt damit aus, dass er auf die Frage nach einer Begründung für das Tradieren von Gedichten zwei Dinge anführen kann: Sie seien „was Schönes“, was ihm einen inneren Raum eröffne, „wo man sich ausdrücken“ könne. M steigt so zwar auf die von I eingeführte Wissensfrage um, bleibt in seinen Bezugnahmen jedoch auf der Basis dessen, was er selber unmittelbar erfahren hat, z. B. dass ein Dichter Worte findet für eigene Gefühle und Erlebnisse. Aber es muss seiner Meinung nach noch mehr geben, was zur Frage von I gesagt werden könnte, was ihm jedoch zurzeit noch nicht möglich ist, nicht einfällt oder was er einfach nicht wichtig findet („und so“). Es folgt eine kurze nachdenkliche Pause von M, die I für eine Rückfrage nutzt, indem sie – nach wie vor in der unpersönlichen Form („man“) – unvermittelt wieder in Richtung einer persönlichen Stellungnahme von M umschwenkt. Sie will also erfahren, ob M sagen wolle, er könne 147 Vgl. Spaemann 1996
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sich selber in Gedichten ausdrücken („du dich?“). M antwortet konsequent in eigener Person sprechend („ich“), indem er zunächst wie bejahend entgegnet: „ich mich“, gleich darauf jedoch ein gedehnt gesprochenes „m-hm“ hinzusetzt und damit andeutet, dass dieser neuerliche Schwenk von I (von einer Wissensfrage zur authentischen Stellungnahme) ihn verunsichert. 14 M: (2) pff nee eigentlich nich aber (1) s-das gehört einfach dazu (,) find ich (,) ’s-em (,) ja (1) ahm (2) ja das gehört ich find das gehört einfach dann dazu (I: wozu) zur Kultur einfach (.) (I: hmhm) Diese Verunsicherung drückt sich in der kurzen Pause, vor allem aber in dem geräuschvollen Ausatmen zu Beginn der Sequenzstelle aus, als ob sich eine Spannung entladen müsse („pff“). M befindet sich hier in echter Begründungsnot. Da in den vorigen Sequenzstellen weniger die Frage nach eigenen Erfahrungen gestellt wurde, gerät er nun durch den „Frontalangriff“ der I auf ihn selber ins Schlingern und sieht sich fast genötigt, seine vorherige Erklärung (dass Gedichte etwas seien, in denen man sich ausdrücken könne) zu widerrufen („nee eigentlich nich“). Diese Äußerung ist jedoch nicht der Unsicherheit von M geschuldet, sondern entspricht lediglich der Tatsache, denn er hat sich in lyrischer Form selbst noch nicht ausgedrückt. Vielmehr fand er eigene Erfahrungen im Medium eines dichterischen Gebildes gespiegelt. Die so entstandene Divergenz zwischen seinen jetzigen und früheren Äußerungen („man kann sich ausdrücken“), die er auf verschärftes Nachfragen von I präzisiert hat („ich“), wird M im Aussprechen selbst bewusst. Er versucht nun eine Themenwechsel einzuleiten („nee eigentlich nich“)148 eine Art Widerruf. Gleich darauf bringt er mit „aber“ zum Ausdruck, dass noch ein Zusatzargument bedacht werden muss149, und rettet sich, indem er sich auf Äußerungen bezieht, die er bereits weiter oben angeführt hat (vgl. 12 M, 13 M). Er nimmt den alten Duktus aus 12 M wieder auf, indem er zwei Mal wiederholt, er („ich“) finde, es gehöre „einfach dazu“. Signifikant ist an dieser Stelle die Wendung „ich finde“, die mit früheren Sequenzstellen korrespondiert und eine authentische Eigentheoretisierung der Fragestellung von I markiert. Auch hier erweist sich wieder die Fähigkeit von M, auf die Fragen der I positiv einzugehen und ihrer zuweilen sprunghaften Interviewführung zu folgen. Dass ihm dies dennoch Schwierigkeiten bereitet, zeigt er in den häufiger werdenden Unterbrechungen und sprachlichen Unstimmigkeiten. Mit seinen bisherigen Erklärungsansätzen („das gehört einfach dann dazu“) ist I jedoch noch nicht zufrieden. Sie insistiert („wozu?“) und riskiert damit eine Art Entlarvung von M, der den vielen Facetten ihrer Frage aufgrund ihrer Abstraktheit 148 Vgl. zu „eigentlich“ Analyse Natalía Sequenzstelle 4 N. 149 Vgl. Weinrich 2005/3: 604
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noch nicht gewachsen ist. Auf die Rückfrage von I entgegnet er „zur Kultur“ und markiert mit dem Wort „einfach“ einen deutlichen Abschluss, so als wolle er sagen: „Das ist doch einfach so! Ich hab’s doch schon einmal gesagt, da braucht man doch nicht weiter zu fragen!“ I hat verstanden („hmhm“). An dieser Stelle wird das Interview durch zwei Schüler unterbrochen, die den Umkleideraum betreten und nach denen M sich umschaut. I fragt ihn darauf, ob er sich durch die Schüler gestört fühle, was M mit „ja“ beantwortet. I schlägt darum vor, in einen anderen Raum zu gehen. Damit hätte M die Gelegenheit, ohne Probleme eines Gesichtsverlustes ein Ende des Interviews anzusteuern. M lehnt jedoch ab, er möchte im Umkleideraum bleiben. Dies impliziert ein fortgesetztes Interesse von M am Gespräch mit I. Aus der hier entstehenden Gesprächspause ergibt sich gleichzeitig eine quasi natürliche Zäsur der Interpretation, die an einer späteren Sequenzstelle fortgesetzt werden soll. Fünftes Zwischenresümee Eine Kontrastierung der mündlichen mit den schriftlichen Äußerungen von M zeigt, dass ihm ein Zugang zu Gedichten von zwei Seiten her möglich ist: Einen ersten Zugang findet er, wenn sich Eigenes in den Bildern eines Gedichtes spiegeln und M mit ihnen in einen Dialog treten kann. Am Beispiel von „Die Stadt“ wurden Erinnerungen evoziert, die durch die künstlerische Distanz eines lyrischen Gebildes in M zur Sprache gebracht werden konnten. Persönliche Erlebnisse, die M in den Versen ausgesprochen findet, eröffnen ihm so einen originären Zugang zu einem lyrischen Kunstwerk und gleichzeitig eine neue Perspektive auf Gewesenes. Was dabei im Bewusstsein von M aufleuchtet, ergibt – wie die wenigen von ihm verwendeten Adjektive zeigen – selbst durch die mit den schönen Seiten kontrastierende „hässliche Seite“ der Stadt auf der Basis seines Erinnerungsbildes ein unanfechtbares Gefühlsurteil: „Auch für mich war das ›Die Stadt‹“. Seine Beschreibung bleibt dicht an der Realität, die Einschätzung eigener Gefühle und Gedanken ist unspektakulär, fast noch naiv. Doch gerade dies verbürgt die Authentizität seiner Worte. Ein anderer Zugang zu lyrischer Sprache eröffnet sich Moritz durch die Wirklichkeitsnähe eines Gedichtes. In seinen mündlichen wie schriftlichen Äußerungen übereinstimmend sagt M, ihm seien die Gedichte „am liebsten“, die „wahre Begebenheiten berichten“ bzw. etwas „erzählen“. Trotz der zahlreichen Interventionen von I bemüht sich M um eine eigenständige Antwort auf ihre Fragen. Überzeugend bekundet er sein Interesse an Lyrik, an der Schönheit der dichterischen Sprache bestimmter Gedichte, und ambitioniert tritt er dafür ein, diese als „zur Kultur gehörig“ zu tradieren.
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III. Interpretation der Äußerungsfolge zum Thema „Zeugnissprüche“ Da M sich im Laufe des Interviews mehrfach auf einen bestimmten Zeugnisspruch bezieht, ist es sinnvoll, eine kurze Interpretation in Form eines Exkurses der Analyse der entsprechenden Sequenz voranzustellen.
Exkurs: Zeugnisspruch von M aus dem 6. Schuljahr Was ist der Kreis? Ein Punkt, der um sich selber kreist Und seinen Umfang wölbt. So weite sich mein Geist! Was ist der Punkt? Ein Kreis, der sich in seinem Kerne Zusammenfasst gleich wie die Welt im Sonnensterne. Er zeigt, wie ich in mir die Mitte finden lerne. (Martin Tittmann)
Der Spruch beginnt mit der Frage nach einer geometrischen Figur, dem Kreis. Der bestimmte Artikel gibt der Frage etwas Generalisierendes: Der Autor fragt nicht nach einem konkret sichtbaren Kreis, sondern nach dem Wesen, der Qualität des Kreisförmigen. Gleichzeitig wirkt die Frage durch den bestimmten Artikel weniger formalisiert; Assoziationen anderer geometrischer Figuren wie Viereck, Ellipse, Trapez tauchen kaum auf, eher Derivationen wie „Umkreis“ oder „Kreisbahn“. In der zweiten Zeile wird als Kontrast ein Punkt gesetzt, und zwar ein Punkt, der nicht still steht, sondern „der um sich selber kreist“. Das hat sofort etwas Irritierendes, denn im Gegensatz zum Kreis, der als Linie weder Anfang noch Ende hat, ist der Punkt sozusagen der Abschluss, der Stillstand per se, etwa wie der Punkt am Ende eines Satzes. Anders gesagt: Vorstellbar ist, dass der Kreis sich so weit zusammenzieht, dass schließlich ein Punkt entsteht, aber als Punkt ist er unendlich klein, hat eine dichte Mitte und keine Ausdehnung mehr. Er kann zwar um sich selber rotieren, aber nichts mehr einschließen und ist streng geometrisch gesehen als Punkt dann auch kein Kreis mehr. Es wird mit diesem Bild etwas Geheimnisvolles, eine Art Gleichnis eingeführt, das an dieser Stelle aber noch nicht erkennbar ist. In der dritten Zeile „wölbt“ der um sich selber kreisende Punkt „seinen Umfang“, wobei das Verb „wölben“ wiederum eine räumliche Vorstellung evoziert, eine Kugel vielleicht, weniger eine sich weitende Kreisfläche, an die der Autor an dieser Stelle wahrscheinlich gedacht hat. Als nächstes folgt eine Art Appell, der mit einem Ausrufezeichen markiert ist: „So weite sich mein Geist!“ Durch das Wort „mein“ wird deutlich, dass der Autor
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nicht einen an den betreffenden Schüler gerichteten Befehl ausspricht, sondern er spricht aus dessen Perspektive, in dessen Namen einen Wunsch aus. So wie der winzige Punkt sich weiten und immer größer werden kann, „so weite sich mein Geist“. Dies impliziert, dass der Autor, bzw. in diesem Falle die Lehrerin, die den Spruch von Martin Tittmann übernommen hat, etwas bereits Vorhandenes in M voraussetzt, das sich auch weiten kann. Sie geht demnach hier von einem Bildungsprozess aus, an dem M als sich bildendes Subjekt aktiv beteiligt ist. Das Bild des Punktes, der sich zum Kreis weiten möge, hat etwas allgemein Gültiges. Der Wunsch oder Appell wird zwar von einer anderen Person an den Schüler herangetragen, doch da es um den menschlichen Geist geht als allgemeines Bildungsziel, hat die Sache nichts Zwingendes. Aus der Sicht eines Mathematikers müsste man zwar sagen, das Verhältnis von Punkt und Kreis sei „wissenschaftlich nicht gesichert“. Anders die Sprache der Metapher: Möglicherweise hatte der Autor einen Stein im Sinn, der in einen See geworfen wird und dessen Fall nach außen sich weitende Kreise im Wasser verursacht. Dieses kleine Ereignis verbindet er nun mit einer Entwicklungsaufgabe für M und fasst ihn in ein sprachliches Bild, als wolle er sagen: Dein Geist, deine Kraft möge sich entfalten, möge weit werden, aber du bleibst in deiner Mitte, deinem Selbst als Gestalt erhalten. Die nächste Zeile bringt die Spiegelung, indem kontrastierend nach dem gefragt wird, was der Punkt sei: ein Kreis, der „sich in seinem Kerne zusammenfasst“. Durch diese Polarisierung wird der Spruch zu einer Art poetischen Parabel. Zum Vergleich könnte Sprichwörtliches herangezogen werden, etwa: „Sei nicht Schale, sondern Kern!“ oder: „Er hat eine raue Schale, aber einen guten Kern!“ Auch hier wählt der Autor seine Worte nicht dem astrophysikalischen Wissen entsprechend, sondern er beschreibt das, was der Mensch sinnlich wahrnimmt. Am Ende rundet sich das Bild ab, indem gesagt wird: Er, der Kreis, zeigt mir, wie ich meine Mitte finden lerne. Dieser Bezug auf die menschliche Mitte ist sehr beziehungsreich. Assoziationen von „Mitte“ tauchen auf im Sinne einer Harmonie von Innen und Außen, Distanz und Nähe, oder von Sympathie und Antipathie, Denken und Handeln, eine Harmonie also, die es mit Beginn der Adoleszenz auszubalancieren gilt. In diesem Aspekt wäre der Zeugnisspruch für einen frühadoleszenten Schüler durchaus angemessen. Der feine inhaltliche Widerspruch (das um sich selber Kreisen und das weit Werden), der aus naturwissenschaftlicher Perspektive diagnostiziert wurde, wirkt vor diesem Hintergrund wie Beckmesserei. Ziehen wir beispielsweise zum Vergleich einen Vers des in der Analyse der Schülerin N interpretierten Gedichts von Theodor Storm (das auch M sich gewählt hat)150 heran, in dem es heißt:
150 Siehe Exkurs S. 123
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„Die Wandergans mit hartem Schrei Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei“
Hier taucht eine Vogelart auf, die unter diesem Namen in der Natur ebenso wenig vorkommt, wie in der Geometrie ein Punkt, der „seinen Umfang wölbt“. Was beide lyrischen Bilder ausdrücken, lässt sich nur zwischen den Zeilen erschließen, dann, wenn der Leser oder Rezitator sich in jene Sphäre aufschwingt, in der ihm die schöpferische Kraft des dichterischen Bildes zugänglich wird. Der Autor Martin Tittmann oder auch die Lehrerin von M könnten auf der Suche nach einem geeigneten Zeugnisspruch ein Bild aus Hegels „Phänomenologie des Geistes“ im Bewusstsein gehabt haben: „Das Tun hat daher das Ansehen der Bewegung eines Kreises, welcher frei im Leeren sich in sich selbst bewegt, ungehindert bald sich erweitert, bald verengt, und vollkommen zufrieden nur in und mit sich selbst spielt.“ (Hegel 1970: 225)
Fortsetzung der Analyse: 12 I: (1) wie war denn das mit den Zeugnissprüchen für dich (1) das war ja auch was Neues ne (’) I eröffnet ein neues Thema, indem sie M danach fragt, wie „das mit den Zeugnissprüchen“ für M gewesen sei. Nach einer kurzen Pause fügt sie eine Bestätigung erheischende Frage („ne?“ im Sinne von „nicht wahr?“) hinzu, indem sie gleichzeitig vorwegnimmt, dass dies sicher („ja“) auch etwas Neues für ihn gewesen sei. 15 M: jaa (atmet aus) Zeugnissprüche die hab ich am Anfang (,) war ich mir gar nich so der- ihrer Bedeutung bewusst/ … Mit einem gedehnt gesprochenen „jaa“ bestätigt M, das Thema Zeugnissprüche151 sei neu für ihn gewesen; gleichzeitig stimmt er damit zu, sich dazu zu äußern. Dem Ja folgt ein Ausatmen, was an dieser Stelle eine Art Befreiungsbewegung (von einer Aufgabe, von einer Last) bezeichnet, als wolle M darauf hinweisen, dass es ihm nicht schwer fällt, auf das von I angeschlagene Thema „Zeugnissprüche“ einzugehen. Durch das nachgestellte „die“ entsteht eine Verdoppelung und damit eine Betonung des Subjekts, wie wenn jemand sagte: „Äpfel, die esse ich gerne!“ Nach dieser Eröffnung sagt M: „die hab ich am Anfang“, und unterbricht sich unmittelbar danach. Dieses „die“ in Verbindung mit „hab ich“ lässt die Beschreibung einer Tätigkeit oder einer starken Emotion in 151 Zum Thema Zeugnissprüche vgl. Kap. 2.1.1.2.
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einem Zeitraum zwischen „am Anfang“ und einem noch unbestimmten Später erwarten. Die gesamte Skala seiner Gefühle und Möglichkeiten wären denkbar, beispielsweise: „Zeugnissprüche, die hab ich am Anfang gehasst“ oder im Gegenteil: „die hab ich am Anfang gerne gemocht“ oder „die hab ich am Anfang nie mitgesprochen“. Der direkte Bezug zu sich („ich“) und die Wendung „am Anfang“ implizieren, dass ein Veränderungsprozess in M selber stattgefunden hat. Nach einer weiteren Zäsur knüpft M an, aber nicht wie erwartet mit der Partizipform eines Verbs bzw. einem Adjektiv, sondern mit „war“. Das heißt, der Aspekt verschiebt sich von der Handlungs- oder emotionalen Ebene („ich hab…gehasst/gerne gemocht/nie mitgesprochen“) auf die Ebene eines Seins, eines Zustandes. Aus dieser veränderten Position ergibt sich ein neuer Satz („am Anfang war ich mir gar nich so“), der nun durch ein Adjektiv ergänzt werden müsste. M sagt nun, er sei sich damals „gar nich so der“ – hier unterbricht er sich wieder – und korrigiert sich, indem er sagt, er sei sich gar nicht „ihrer (der Zeugnissprüche, HH) Bedeutung bewusst“ gewesen. M reflektiert damit zwei Ebenen: erstens die Zeit, die seit seinem Wechsel („am Anfang“) in die Freie Waldorfschule (und damit der ersten Begegnung mit Zeugnissprüchen) bis zum heutigen Tag vergangen ist, zweitens einen Prozess des Bewusst-Werdens einer bestimmten „Bedeutung“.152 Die Wendung von M, dies sei ihm früher „gar nich so“ bewusst gewesen, impliziert eine Gegenüberstellung, an dieser Stelle sinnlogisch den Vergleich mit der Gegenwart, im Sinne von „es war mir damals nicht so bewusst wie heute“. 152 Zur Etymologie des Wortes „Bedeutung“: „Bedeutung“ als Substantivierung des präfigierten Verbums „deuten“ war ursprünglich „wohl auf ahd. diot ›Volk‹ bezogen worden (› „deutsch“) … die Grundlage von deutsch (hat jedoch; HH) nicht nur ›Volk‹, sondern auch ›Kraft‹ bedeutet … ›Kraft‹ ist aber in vielen Fällen das Benennungsmotiv von ›Bedeutung‹“ (Kluge 2002: 193) Im Kontext von ›Kraft‹ ergibt sich ein Zusammenhang mit Gewicht, Wichtigkeit, Sinn. Etwas oder Jemand hat Bedeutung heißt, es wohnt diesem eine Kraft, ein Sinn inne, der erst erkannt werden muss bzw. sich erst aus den Kontexturen erschließen lässt. Bedeutungsträger können Symbole, Gesten, Individuen, Kunstwerke, Worte sein. Die Bedeutung des Symbols „Kreuz“ auf einem Verkehrsschild zum Beispiel bedeutet: Auf dieser Kreuzung gilt rechts vor links; im wissenschaftlichen Kontext deutet das gleiche Symbol auf ein Instrument quantitativer Forschung, während ein Kreuz auf einem Baumstamm bedeuten kann: Dieser Baum muss gefällt werden! Ebenso können Personen „von Bedeutung“, d. h. von besonderem Ansehen aufgrund herausragender Ideen und Fähigkeiten, besonderer Wichtigkeit für ein Ziel, eine bestimmte Aufgabe sein. Es gibt demnach zwei Arten von „Bedeutung“: einmal als allgemeine, nicht zweckgebundene Aussage, als Sinn, der einem Etwas oder Jemand inhärent ist und erst entschlüsselt werden muss; zum anderen kann Bedeutung mit einem bestimmten Zweck, einer bestimmten (bereits erfüllten oder noch zu erfüllenden) Aufgabe zusammenhängen. In solchen Fällen spricht man von einer „bedeutenden Persönlichkeit“, von einem „Menschen mit Bedeutung“. Bedeutung knüpft sich also weniger an Äußerliches, sondern weist auf etwas Sinn stiftendes hin, das einer Person oder Sache inhärent ist und von Anderen in dieser Bedeutsamkeit jeweils erkannt bzw. gewichtet werden muss.
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Damit vollzieht sich in M die Bedeutungsfindung auf beiden Ebenen: erstens der Erkenntnis der Sinnhaftigkeit des Zeugnisspruches; zweitens im Bewusstwerden von dessen Bedeutung für ihn selber. 16 M: (,) also (,) die soll- die Frau C hat die ja ausgesucht weil die zu uns passen so (1) (atmet aus) ja (,) / … Nach einer Zäsur nimmt M einen neuen Anlauf („also“), zögert wieder, fährt fort „die soll-“ und unterbricht sich. Das an Stelle des Subjekts stehende „die“, das M an dieser Stelle verwendet („die soll-“) müsste sich dem Vorausgehenden entsprechend auf die Zeugnissprüche beziehen. In einer anderen Lesart könnte es jedoch auch im Zusammenhang stehen mit dem Begriff „Bedeutung“, der unmittelbar vorher thematisch war und den M demnach wieder aufgreifen würde. Stattdessen bringt er eine andere Person ins Spiel, indem er sagt, „die Frau C hat die ja ausgesucht“. Da es unsinnig wäre anzunehmen, Frau C, also seine Lehrerin, habe eine Bedeutung ausgesucht, muss „die“ sich hier in beiden Fällen („die soll“, „hat die“) auf die Zeugnissprüche beziehen. Unmittelbar anschließend fügt er begründend hinzu „weil die zu uns passen so“. Die definitive Ausdrucksform, die M hier verwendet, markiert eine Perspektivenübernahme: Er spricht stellvertretend für seine Lehrerin (wiederum: „die Frau C“; vgl. 8 M), die die Wahl eines Zeugnisspruches für einen Schüler mit einem Passungsverhältnis von Text und Schülerindividualität begründet („weil die zu uns passen“). Mit dem seine Erklärung jeweils eröffnende und beschließende „ja“ markiert M seine Zustimmung zu Vorgehensweise und Entscheidung seiner Lehrerin. Er spricht hier nicht nur von sich selber, sondern aus der Position eines Individuums innerhalb einer Gemeinschaft („zu uns“). M beschließt seine Aussage wie bekräftigend mit „so“ im Sinne von „so ist das“. „So“ könnte an dieser Stelle jedoch auch wie ein umgangssprachliches „Glätten“, oder wie ein Ansetzen zu einer Äußerung der Verlegenheit, des leisen Zweifels auch im Sinne von „sozusagen“ oder „so sagt sie jedenfalls“ gelesen werden. Im letzten Fall wäre damit eine Distanzierungsbewegung von der weiter oben erklärten Bedeutung ausgedrückt, deren M sich bewusst wurde. Dann macht M eine kurze Pause, und fügt nach einem Ausatmen „ja“ hinzu, womit eher eine Bestätigung als ein Zweifel an der Auffassung seiner Lehrerin zum Ausdruck kommt. 17 M: und wurd ich erst mir in den letzten Jahren so wurd mir bewusst dass (,) jeder Zeugnisspruch wirklich auch was mit mir zu tun hat/ … Das zunächst wie abschließend zu lesende „ja“ wird durch das folgende „und“ gleichzeitig zur Eröffnung eines nächsten Gedankenschrittes, so als wolle M
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sagen „ja und dann“. Da M jedoch dieses „und dann“ nicht ausspricht, entsteht daraus ein etwas holpriger Satz („und wurd ich erst“ statt „und ich wurde erst“). „Erst“ heißt nun, dass es einen bestimmten Zeitpunkt (nicht einen Termin, sondern einen Moment von Aufmerksamkeit) gegeben haben muss, der im Sinne von „erst da“ ein Geschehen ankündigt. Diese Ankündigung könnte nun fortgesetzt werden mit „wurd ich erst da aufmerksam darauf“ oder „wurd ich erst darauf gestoßen“ oder Ähnliches. M setzt jedoch hinzu: „mir in den letzten Jahren so wurd mir bewusst“. Mit der Wendung „in den letzten Jahren so“ bringt M seine eigene Bewusstseinsverwandlung in Form eines über Jahre andauernden Prozesses zum Ausdruck. Die mehrfach benutzten Reflexivpronomen („mir“) zeigen die selbstreflexive Haltung von M, die hier zum Ausdruck kommt. Es vermischen sich an dieser Stelle zwei Ebenen: Einmal beschreibt M den Prozess mehr im Aspekt der Identitätsfindung, indem er sich – zunächst noch undifferenziert – seiner selbst gewahr wird („wurde ich mir bewusst“), ein anderes Mal im Aspekt eines der Sache Gewahrwerdens („es wurde mir bewusst“). Mit dem anschließenden „dass“ ist zu erwarten, M werde nun das Objekt benennen, auf das sich sein Erkennen richtet. Er drückt dies nach einer Zäsur aus mit den Worten „jeder Zeugnisspruch wirklich auch was mit mir zu tun hat“. Damit sagt er, dass es nicht nur ein einzelner Zeugnisspruch war, der dieses Bewusstwerden evozierte, sondern es waren explizit alle („jeder“). Die Worte „wirklich auch“ sind eine Replik auf die Perspektivenübernahme von M aus 16 M („die Frau C“). Sie geben Aufschluss darüber, dass M die von seiner Lehrerin erhoffte Passung von Zeugnisspruch und Schülerindividualität „in den letzten Jahren“ als eine (oberflächlich nicht wahrnehmbare) Form von Realität erkannt hat („wirklich auch was mit mir zu tun“). Anders ausgedrückt: Es wird M ersichtlich, dass „jeder Zeugnisspruch“ nicht nur von seiner Lehrerin als etwas zu ihm Passendes gesehen wird, sondern dass sein Selbstbild mit dem Text seiner Zeugnissprüche wirklich zur Deckung kommt, so als wolle er sagen: „Frau C hat das früher so begründet („weil die zu uns passen“) und ich habe es von ihr übernommen, nun wurde ich mir bewusst, dass es wirklich so ist und jeder Zeugnisspruch auch etwas mit mir zu tun hat.“ Auch hier kommt zum Ausdruck, dass M diese Erfahrung berührt, dass sie ihn etwas angeht: einmal in den mehrfach gebrauchten Reflexivpronomen („wurd ich mir“, „wurd mir“); zum anderen durch die Wendung „zu tun hat“, worin sich ein zumindest innerlich aktives Sich-Verbinden mit den Texten ausspricht. Das eingeschobene „auch“ ist an dieser Stelle nicht restriktiv zu lesen, sondern eher als Bestätigung, im Sinne von „So ist es auch!“ 18 M: (1) ja und dann fand ich (,) ham die für mich auch an Bedeutung zugenommen und wurd mir bewusst was des eigentlich isch dieser Zeugnisspruch(.)
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Nach einer kurzen Zäsur setzt M seinen Gedankengang fort („ja und dann“) und sagt mit einer schon weiter oben gebrauchten Wendung, er habe etwas entdeckt („fand ich“). Nehmen wir die Eröffnungen der vorigen Segmente hinzu, zeichnet sich hier wie eine zarte Struktur ein Prozess ab, den M im Laufe der letzten Jahre an sich selber erfahren und dessen Bedeutung und Bezug zu sich selber er erkannt hat. Im Folgenden müsste er konkretisieren, was er „dann fand“. Dies geschieht, indem er (hier mit etwas anderen Worten) auf seine Aussage aus 17 M zurückgreift, wobei durch die Wendung „ham die (d. i. sinnlogisch: die Zeugnissprüche) für mich auch an Bedeutung zugenommen“ das Prozesshafte des Gewahrwerdens einer individuellen Bedeutung zum Ausdruck kommt, eine tendenzielle Komparation auch, so als wolle er sagen: „Früher waren sie mir wichtig, weil die Frau C sie mir gegeben hat, aber dann fand ich selber etwas in ihnen, was mir ihre Bedeutung zunehmend bewusst machte“. M geht hier – anders als in 16 M – wieder dazu über, ausschließlich selbst-reflexiv zu sprechen („fand ich“ und „ham die für mich“). Die Konjunktion „und“ lässt nun erwarten, dass M diesem prozesshaften Gewahrwerden noch etwas hinzufügen wird. Auffallend ist hier die anmutige Wendung „an Bedeutung zugenommen“, in der eine hohe sprachliche Sensibilität von M und Empfindungsfähigkeit für die Distanz einer künstlerischen Ausdrucksgestalt aufscheint. Wiederum spricht M davon, dass ihm etwas bewusst wurde („wurd mir bewusst“), und er realisiert dies mit einer Art Befund „was des eigentlich isch“. Mit der Kopula „isch“ erwartet man als Fortsetzung eine Prädikation153, die durch den Gebrauch des Singular („was des…isch [ist]“) anzeigt, dass es ihm hier um etwas Ganzes, Allgemeines geht. Eine andere Möglichkeit wäre, dass jenes Ihm-bewusstGewordene etwas ist, was unter der Oberfläche des Alltagsbewusstseins liegt, ähnlich wie weiter oben, als vom Bewusstwerden der Bedeutung seiner Zeugnissprüche die Rede war. Das Modalpartikel „eigentlich“, die u. a. im Zusammenhang mit Fragen steht154, weist hier darauf hin, dass M sich nach dem Sinn der Zeugnissprüche gefragt und im Laufe dieser Überlegungen ein Ergebnis gefunden hat („fand ich“). Dieses Finden geschah nicht „am Anfang“ (vgl. 15 M), sondern „in den letzten Jahren“ (vgl. 17 M). Es ist damit Ergebnis eines BewusstwerdeProzesses, durch den M sich über das Eigen(tlich)e, d. h. den inneren Gehalt des einen wie auch der Zeugnissprüche generell, bewusst wurde („was des isch“). Fassen wir zusammen: In einem ersten Schritt findet M einen individuellen Zugang zu seinen Zeugnissprüchen, in einem zweiten Schritt erkennt er in ihnen etwas allgemein und dauerhaft Gültiges. Ziehen wir hinzu, was M zum Thema „Gedichte“ weiter oben geschrieben hat, erhält die vorliegende Sequenzstelle durch die dialektale Färbung weitere Signifikanz: Während er dort aufgrund der 153 Vgl. SZAIF 2007 154 Vgl. Weinrich 2005: 852
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„Wissensfragen“ von I mehr in Lehrbuchformulierungen spricht (z. B. „Spannung aufbauen und lösen“), bleibt seine Ausdrucksweise beim Reflektieren der hier zitierten konkreten Erfahrung mit Zeugnissprüchen nahe an seinem alltagsweltlichen Erleben, das den Umgang mit Zeugnissprüchen zumindest in der Schule impliziert. Diese Nähe (einerseits zum lyrischen Bild, andererseits zum Ritual) drückt sich darin aus, dass M an dieser Stelle redet, wie ihm „der Schnabel gewachsen“ ist und spontan in den vertrauten Dialekt überwechselt. Dies nimmt seiner Äußerung nichts von ihrer Wohlgeformtheit. Sie wird im Gegenteil dadurch besonders überzeugend und verbürgt die Authentizität seines Standpunktes. Schließlich kehrt M wieder zum Beginn seiner Ausführung zurück, indem er wie affirmativ wiederholt „dieser Zeugnisspruch“. Die vollumfängliche Bedeutung des Zeugnisspruches wurde ihm in seiner allgemeinen Gültigkeit bewusst. Dagegen ließe sich einwenden, dass M mit dem Demonstrativpronomen („dieser“) sich ausschließlich auf einen bestimmten seiner Zeugnissprüche beziehe. Da er jedoch sowohl in 17 M („jeder“ Zeugnisspruch hat etwas mit ihm zu tun) als auch zu Beginn der vorliegenden Sequenzstelle im Plural sprach („die [d.h. Zeugnissprüche]“ haben an Bedeutung zugenommen), drückt er hier mit der Singularform eine zumindest für ihn („für mich“) gültige Generalisierung aus: Die allen Zeugnissprüchen inhärente Bedeutung wurde ihm als etwas allgemein Gültiges bewusst.155 Dies korrespondiert mit dem Gewahrwerden von Bedeutung, die M auf individueller Ebene als Teil seiner Identität bewusst wurde (vgl. M 16 und 17). Es wäre sogar die These plausibel, dass M mit dieser Formulierung auch die rituelle Praktik „Zeugnissprüche“ einbezieht, die er hier als waldorfspezifische Institution generell anerkennt und in ihrer Bedeutung würdigt. So ergibt sich eine relativ geschlossene Redefigur: Ein Thema, eine Fragestellung wird ratifiziert („jaa [..] Zeugnissprüche“); eine Entwicklung, die M an sich selber beobachtet hat, wird reflektiert und in Worte gefasst, es kommt zu einer Art Resümee („wurd mir bewusst was des eigentlich isch“), und schließlich wird die Fragestellung vom Anfang nochmals aufgegriffen und generalisiert („dieser Zeugnisspruch“). 19 M: (,) weil früher hab ich immer gedacht des sag ich halt (atmet ein) und seitdem ich (,) mir dann bewusst wurde (,) was das bedeutet (,) hat’s mir auch Spaß gemacht das vorzutragen// 155 M kommt auf eine Frage von I hin an einer späteren Sequenzstelle nochmals auf dieses Thema zu sprechen. Er differenziert dabei Zeugnissprüche von Mitschülern nach einer gelungenen („bei andren dacht ich ja! also das is auch ihr Zeugnisspruch der kann genau zu dem passen“) und einer nicht gelungenen Passung („also bei manchen konnt ich die äh Verbindung nich (,) hab ich nix gemerkt dass das irgendwie passt“), vgl. TZ 147 bis 149. Dies hebt m. E. die Bedeutung nicht auf, die M dem Zeugnisspruch im Allgemeinen zuerkennt.
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Nach einer Zäsur ist durch „weil“ zu erwarten, dass M die generelle Bedeutung von Zeugnissprüchen ausführlicher begründet. Er beginnt mit einem Rückblick („früher“). Damals habe er „immer gedacht des sag ich halt“.156 Damit bestätigt sich die weiter oben ausgeführte Vermutung, dass Zeugnissprüche („des“) für M anfangs eine ihm von seiner Lehrerin zugeeignete, daher seinem Bewusstsein nicht voll zugängliche Bedeutung hatten. Aber schon diese ihm sozusagen zugewiesene Bedeutung muss seinen Worten nach etwas gewesen sein, wozu M sich etwas dachte („hab ich immer gedacht“), bevor er sich ihrer bewusst wurde (vgl. 17 M), und zwar nicht nur einmal, sondern „immer“. Vor diesem Hintergrund wäre „sagen“ dann angemessen, wenn etwas bereits Geschehenes bzw. etwas von Anderen bereits Ausgedrücktes folgerichtig wiedergegeben werden sollte, etwa wie eine Sage eine Folge von Geschehnissen erzählt. Damit drückt M präzise aus, wie er „das (seinen Zeugnisspruch) früher“ vollzogen hat: im Sinne eines Nach-Sagens.157 Beispiel dafür ist etwa die Wendung „das hat…gesagt“, die fast formelhaft von jüngeren Kindern gebraucht wird, um das eigene Wort damit stark zu machen. Um die Bedeutung von Moritz’ Äußerung erschließen zu können, kontrastieren wir das Verb „sagen“ mit „sprechen“. Letzteres hängt zusammen mit „witzig, scharfzüngig“, aber auch mit „ausdrücken“, „lehren“ sowie „knistern, prasseln“ (vgl. Kluge; a.a.O.:870). „Sprechen“ ist demgegenüber expressiver, ist unmittelbares, kreatives Sich-Ausdrücken, sei es nun eines Gedachten (wie im Zusammenhang mit „lehren“), eines Gefühles (wie im Zusammenhang mit Witz und Schärfe) oder eines kreativen Impulses. Der qualitative Unterschied beider Verben wird deutlich, wenn die Worte „und Gott sprach“ aus Genesis I, Vers 3f etwa ausgetauscht würden mit „und Gott sagte“. Dies zeigt auch den grammatischen Unterschied: Mit „sprechen“ kann als einer intransitiven Form des Verbums ein vollständiger Satz auch ohne Objekt gebildet werden; „sagen“ hingegen verlangt als transitives Verb ein Objekt. Auf die Frage: „Wo ist Frau X?“ zum Beispiel antwortet jemand: „Sie spricht.“ Der Vergleich mit „Sie sagt“ zeigt, dass hier die semantische Information unvollständig ist und der Fragende zu einer Anschlussfrage (etwa: „Was sagst sie denn?“) genötigt ist. M spricht das Wort „sag“ an dieser Stelle mit Nachdruck, wodurch sinnlogisch eine Konnotation von „abspulen“ oder „herunterleiern“ entsteht, die durch „halt“ (im Sinne eines Nebensächlichen oder Unauthentischen) noch verstärkt 156 Etymologisch hängt „sagen“ zusammen mit „bezeichnete“, mit „anzeigen“ sowie „ich sage an, erzähle, verkünde“. Die indogermanische Wurzel des Wortes bedeutet unter anderem „folgen“, so dass „von einer Ausgangsbedeutung „einer Reihe folgen“ und dann „erzählen“ ausgegangen werden kann“(vgl. Kluge a.a.O.:780). 157 Ein Beispiel für den umgangssprachlichen Gebrauch von „sagen“ wäre die Wendung „ich sag mal …“, die häufig das Ausdrücken eines Gewesenen oder Gesagten oder auch ein Zitat eröffnet oder hervorhebt.
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wird. Dies korrespondiert mit dem, was weiter oben zu der von M vorgenommenen Differenzierung von „vortragen“ und „vorsagen“ (vgl. 2 M) vorgeschlagen wurde. Nun schöpft M Atem und greift anschließend den Aspekt der Zeit wieder auf, indem er sagt „und seitdem ich“. Der zeitliche Rahmen und die Entwicklung, die darin stattgefunden hat, sind damit gegeben: „Früher“ war es so, wie weiter oben beschrieben; mit „seitdem“ gibt M Aufschluss darüber, dass es einen bestimmten Augenblick gegeben haben muss, der eine Veränderung in seiner Beziehung zu einem – vermutlich bestimmten – Zeugnisspruch herbeiführte. Mit der folgenden Äußerung „seitdem ich (,) mir dann bewusst wurde“ nimmt M seine Worte aus 17 sowie 18 M erneut auf. Er sagt damit, dass dieses „sich bewusst werden“ etwas war, was eine – hier noch nicht präzisierte – durchgreifende Veränderung angestoßen habe, im Sinne von „dann wurde alles anders“. Nach einer Zäsur fügt M hinzu „(,) was das bedeutet“. Das Bewusstwerden von Bedeutung (hier im Sinnzusammenhang der Zeugnissprüche) hat demnach ausgelöst, was „dann“ evident wurde und worüber M uns im Folgenden Auskunft geben müsste. Wiederum nach einer Zäsur drückt M mit den Worten „hat’s mir auch Spaß gemacht“ so etwas wie Erleichterung aus, ein inneres Aufatmen, als wolle er sagen: „Früher war das einfach so, dass ich die Zeugnissprüche halt gesagt hab, weil die Frau C die ja ausgesucht hatte. Seitdem ich weiß, was sie bedeuten, kam für mich zu dem braven ›halt Sagen‹ hinzu, dass es mir auch Spaß gemacht hat“. „Auch“ ist hier nicht restriktiv gemeint, sondern eher im Sinne einer Entfaltung, etwa wie: „Nachdem mir die Bedeutung bewusst wurde, kam auch der Spaß noch hinzu.“ Schließlich gibt M uns Auskunft darüber, was ihm „dann“ Spaß gemacht habe: „das (d. h. die Zeugnissprüche) vorzutragen“. Signifikant ist, dass M wieder (vgl. 2M) den Ausdruck „vortragen“ verwendet und so einen deutlichen Kontrast markiert zum zuvor gebrauchten „des sag ich halt“. Damit geht er auf den performativen Aspekt des Rituals „Zeugnisspruch“ ein: Was ihm demnach Spaß macht, ist nicht nur der Inhalt seines Zeugnisspruchs, sondern der Vollzug des Vortragens selbst („vorzutragen“). Dies ist insofern erklärungsbedürftig, als gerade in der frühen Adoleszenz eine Selbstpräsentation vor einem (wenn auch vertrauten) Publikum hoch emotional besetzt sein und als außerordentlich peinlich empfunden werden kann. Im Aspekt des Bewusstwerdens einer generellen Bedeutung von Zeugnissprüchen, auf Grund dessen M auch den performatorischen Aspekt der Praktik „Zeugnissprüche“ als eine besonders wichtige Aufgabe sehen kann, wird die Äußerung jedoch motivierbar. Darum macht es ihm Spaß, diese Aufgabe coram publico zu lösen bzw. deren Wichtigkeit seiner Klasse sozusagen „als ein die Bedeutung Erkennender“ vor Augen zu führen. M beschreibt an dieser Stelle reflektiert und präzise die verschiedenen Schritte eines bestimmten Aspektes seines Bildungsprozesses und stellt diesen in einen zeitlichen Rahmen:
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(15/16 M) „Früher“: Die von Frau C zugewiesene Bedeutung wird übernommen. (17 M) „In den letzten Jahren“: Jeder Zeugnisspruch hat was mit mir zu tun! (18 M) „Dann“: 1. Prozess der individuellen Bedeutungsfindung Allgemeine Bedeutung (19 M) „Früher – seitdem –dann“: sagen – sich selbst bewusst werden – einer Sache (Bedeutung) bewusst werden – „Spaß“ an der Selbstpräsentation vor Publikum
20 M: (,) weil (,) ich mich/ … M eröffnet eine weitere Begründung („weil“), ohne seine Selbstreflexion zu unterbrechen („ich mich“). Die dabei häufiger auftretenden Zäsuren zeigen, wie bewusst M an dieser Stelle die Worte wählt. Ziehen wir seine Äußerung aus 19 M hinzu, müsste M uns nun über den Zusammenhang von „Spaß gemacht das vorzutragen“ und der soeben eröffneten Begründung für etwas aufklären, was offensichtlich dabei in ihm vorgegangen ist („ich mich“). 21 M: da immer selber wiedererkannt hab (.) Mit „da“ bezieht M sich auf den Vollzug des Zeugnisspruchrituals („das vorzutragen“), von dem er sagt, er habe sich dabei „selber wiedererkannt“ (M spricht „wiedererkannt“ in einem Wort, dies soll in der Schreibweise markiert werden). Damit liegen drei Erklärungen für sein verändertes Verhältnis zu Zeugnissprüchen vor: Die erste übernimmt er noch von seiner Lehrerin, die die Sprüche ausgesucht habe, „weil die zu uns passen so“; die zweite basiert auf einem intellektuell-reflexiven Vorgang „weil […] mir dann bewusst wurde, was das bedeutet“; ebenso die dritte Erklärung „weil ich mich da immer selber wiedererkannt hab“. Diese letzte Begründung ist in zweifacher Hinsicht aufschlussreich: Erstens sagt M nicht, er habe „sich erkannt“, sondern er sagt, er habe sich „wiedererkannt“. Wenn jemand im Alltag etwas wiedererkennt, drückt er damit das erneute Aufscheinen eines bereits Bekannten, im Laufe der Zeit jedoch Vergessenen oder ehemals Vorbewussten158 aus. Bezogen auf die Äußerung von M hieße dies, er habe sich früher einmal erkannt, im Laufe der Zeit sei die (Er-) Kenntnis von sich selber seinem Bewusstsein abhanden gekommen bzw. nie in dieses aufgetaucht. Nun aber, im Dialog mit seinen Zeugnissprüchen, habe er sich wiedererkannt in dem Bild, das er in sich trug und das ihm jetzt in seinem Zeugnisspruch vor Augen steht.
158 Vgl. Kubie 1966
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In zweiter Hinsicht signifikant ist das Wort „immer“. Demnach gab es keinerlei Ausnahmen, keine Fragen oder Widerstände, sondern M hat sich „da immer“ (im Sinne von „darin immer“), d. h. in jedem seiner Zeugnissprüche, wieder erkannt. Die Lesart könnte noch dahingehend ergänzt werden, dass sich „da“ auch auf die rituelle Praxis des Vortragens, die Selbst-Inszenierung vor dem Publikum seiner Klasse bezieht. In dieser Hinsicht würde „da immer“ bedeuten, dass M sich immer dann, wenn er den Zeugnisspruch vortrug, das heißt im unmittelbaren Vollzug des Sprechens, wiedererkannt habe, so als wolle er sagen: „Immer dann, wenn ich meinen Spruch vorgetragen habe, habe ich mich selber wiedererkannt“. Ziehen wir beide Sequenzstellen zusammen, wird die Lesart aus 19 M konsistent und um den Aspekt des Sich-Wiedererkennens erweitert. Es können also zwei Gründe dafür festgehalten werden, dass M seinen Zeugnisspruch jetzt gerne vorträgt: Erstens, weil er sich dessen Bedeutung bewusst wurde, und zweitens, weil er sich selber, das heißt den (bedeutungsvollen) Kern seiner Persönlichkeit, in der Gestalt des lyrischen Bildes wiedererkennen kann. So wird der Zeugnisspruch tatsächlich zum „Zeugnis“ seines Selbst, zu einer geglückten Symbolisierung, in der M sich wiedererkennt und die er gerne auch Anderen sichtbar (und hörbar) machen will. 13 I: hmhm und em (,) gab’s Ausnahmen in diesen fünf Jahren? (1) also Sprüche von denen du dachtest (1) das passt nicht zu mir (1) oder der dich (1) (M [verneinend:] m-mm) gelangweilt hat (’) I hat verstanden, was M ausgeführt hat, und referiert auf den von M verwendeten Ausdruck „immer“, indem sie fragt, ob es in diesen fünf Jahren Ausnahmen gegeben habe. Nach einer Zäsur präzisiert sie etwas zögernd, wie die häufigen Pausen zeigen, sie meine Zeugnissprüche, „von denen du dachtest (1) das passt nicht zu mir (1) oder der dich (1)“, wobei M an dieser Stelle ein deutlich verneinendes „m-mm“ einwirft. Anschließend ergänzt I den unterbrochenen Satz und fragt ihn, ob es einen Spruch gab, der ihn „gelangweilt“ habe. Damit gibt sie M Gelegenheit, die vergangenen Jahre in einem eher kritischen Aspekt zu reflektieren und mögliche Irritationen oder Fragen hinsichtlich seiner Erfahrung mit Zeugnissprüchen zum Ausdruck zu bringen. 22 M: (1) ich kann mich jetzt nur an die Zeugnissprüche von den letzten drei Jahrn (,) erinnern (,) und (,) da ham mir alle (,) fand ich ham alle zu mir gepasst (.) Nach einer kurzen Pause schränkt M den Zeitraum seiner Erinnerung an die Zeugnissprüche ein („von den letzten drei Jahrn“).159 In dieser Zeit („da“) „ham 159 Da M zur Zeit des Interviews 14 ½ Jahre war, meint er mit „den letzten drei Jahren“ demnach den Zeitraum der letzten drei Schuljahre.
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mir alle“; hier bricht er den Satz ab. Die Frage ist, ob er sagen wollte: „Da ham mir alle gefallen“ oder im Gegensatz dazu: „Da ham mir alle nicht gefallen.“ Nun folgt wiederum eine selbstreflexive Einschätzung („fand ich“) mit der Äußerung, es haben alle Zeugnissprüche „zu mir gepasst“. Bereits in 17 und 18 M sprach M summierend („jeder Zeugnisspruch“, „ham die alle“). Mit dieser explizit auf ihn selber bezogenen Äußerung bekräftigt M seinen Befund („fand ich“) eines Passungsverhältnisses von Selbstbild und dem Bild seiner Zeugnissprüche aus den letzten drei Jahren. 14 I: hmhm (1) wie habt’n ihr das gemerkt dass sie zu euch passen (’) du hast gesagt es ist dir klar geworden (,) dass es da einen Bezug gibt vom Spruch zu dir (M: hmhm) (,) wie ist euch wie ist dir das aufgefallen (’) I bestätigt, insistiert jedoch und will wissen, wie die Schüler die Übereinstimmung von Spruch und Schülerindividualität gemerkt hätten („ihr“). Anschließend zitiert sie sinngemäß eine der vorigen Äußerungen von M, indem sie sich an ihn direkt wendet: „du hast gesagt es ist dir klar geworden (,) dass es da einen Bezug gibt vom Spruch zu dir“, was M bejaht („hmhm“). I fordert ihn auf, zu beschreiben, wie „euch“ – hier merkt sie, dass sie auf eine allgemeine Ebene abgehoben hat und ihre Formulierung plötzlich an alle adressiert ist („ihr“, „zu euch“). Dies verbessert sie glücklicherweise, indem sie betont, dass M persönlich gemeint sei („wie ist dir das aufgefallen?“). Damit wird die Bewährungsanforderung an M ein weiteres Mal erhöht, indem er nicht nur zu einer kritischen Betrachtung aufgefordert wird, sondern nun die Art beschreiben soll, „wie“ speziell ihm („dir“) das Passungsverhältnis von Zeugnisspruch und Schülerindividualität aufgefallen sei. 23 M: (1) ah ich hab mal über den Spruch nachgedacht (,) ich- also ich hab ihn nich nur gelernt ich hab dann da drüber nachgedacht (1) und dann huch! ich da bin ich ja! da kenn ich mich wieder und es (,) ja (.) M denkt einen Augenblick nach und sagt ausatmend „ah“ (im Sinne eines Heureka!), als wolle er die von ihm erwartete Auskunft mit den Worten: „Ja! das weiß ich noch genau …“ einleiten. Als erste Erklärung nennt er „ich hab mal über den Spruch nachgedacht“. In der Umgangssprache bedeutet die Wendung „ich hab mal da drüber nachgedacht“, dass ein Vorgang, der sich mit einer gewissen Routine vollzieht, aufgrund eines äußeren oder inneren Anlasses mit einem Mal („mal“) angehalten, ins Bewusstsein genommen und bedacht wird. Vorzustellen wäre gedankenexperimentell zum Beispiel die Situation eines Paares auf der Urlaubsreise, bei der – wie auch in den Jahren zuvor – jeweils der Frau die Aufgabe zukäme, sämtlichen Freunden und Verwandten begeisterte E-
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Mails über den Reiseverlauf zu schreiben, während der Partner dabei sitzt und Kaffee trinkt. Es könnte nun sein, dass die Frau in einer ruhigen Minute über diesen ritualisierten Ablauf nachdenklich geworden sei, die sie zu der Bemerkung veranlasste: „Also ich hab mal da drüber nachgedacht, warum eigentlich immer ich diejenige sein soll, die den Leuten E-Mails schreibt.“ Aufgrund des Nachdenkens über einen Routinevorgang könnte sich nun ein Gespräch zwischen den Partnern entwickeln, das die Gewohnheit in eine neue Richtung brächte. In diesem Sinne wäre auch an der vorliegenden Sequenzstelle ein wohlgeformter Anschluss, dass M darauf zusteuert, uns die Veränderung eines gewohnten Vollzugs mitzuteilen. Es folgt eine Zäsur, bevor M sagt: „ich“, als wolle er diesen Moment des Nachdenkens genauer beschreiben. Gleich darauf unterbricht er sich jedoch wiederum und setzt erneut an („also“), als wolle er die zuvor unterbrochene Erklärung über das Nachdenken ein zweites Mal eröffnen, um deren Wichtigkeit hervorheben. Zu erwarten ist, dass M uns nun Aufschluss über ein besonders bemerkenswertes Ereignis geben wird. Nach dieser zweiten Eröffnung sagt M, er habe den Spruch „nich nur gelernt ich hab dann da drüber nachgedacht“. Aus der konsequenten Verwendung der Ich-Form und dem mit deutlicher Betonung wiederholten Wort „nachgedacht“ können wir schließen, dass M hier auf eine wichtige Differenz hinweisen will, die ihm – während er nachdachte – aufgefallen ist. Eine Aufgabe, die er früher lediglich routinemäßig „gelernt“ hat, wird in einem bestimmten Moment („dann“) Gegenstand seiner Reflexion, in deren Verlauf ihm auffällt, dass es neben dem Vorgang des Lernens etwas gibt, was dazu in einem kontrastierenden Verhältnis stehen muss. Dass er dieses „Nichtnur-gelernt-haben“ als Differenz von etwas anderem begreift, impliziert, dass dieses andere sich erstens vom „nur“ Lernen qualitativ unterscheiden und zweitens mit dem Nachdenken zusammenhängen muss. Riskant könnte man sagen, dass M unter Lernen hier einen Routinevorgang versteht, jenes noch ungenannte Andere jedoch als einen Vorgang, der mit seiner Reflexionsfähigkeit, seinem Ich (er spricht nur von sich) unmittelbar verbunden ist. Nach einer kurzen Pause sagt M: „und dann“, wodurch die Erwartung entsteht, dass er nun das Ergebnis seiner Reflexion mitteilen werde. Unmittelbar danach folgt mit dem Ausruf „huch!“ eine Verstärkung der Ankündigung, ein Hinweis, dass eine Überraschung, ein heuristisches Erlebnis bevorsteht, das M uns nach einer weiteren winzigen Pause mit den Worten: „ich da bin ich ja!“ preisgibt. Das Bild von sich, das M „da“, in den Worten seines Zeugnisspruches erkennt, ist für ihn selber überraschend, und in der Unmittelbarkeit dieser IchErfahrung ist der spontane, fast kindliche Ruf „da bin ich“ motiviert. Die IchErfahrung bzw. – unter Einbezug der Sequenzstelle 20 M – das Wiedererkennen des Ich ist die bewusste Rekonstruktion des Selbst-Bildes, das M auch vorher
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schon empfunden hat und an das er nun anschließen kann. Auch ein zweijähriges Kind, das sich im Spiegel erblickt und sich erkennt, könnte rufen: „Da bin ich ja!“ Doch dieses Sich-Erkennen erfolgt auf der perzeptiven Ebene, während die Ich-Identifikation von M ein erhellender, bewusster Prozess ist, auch wenn er ihn mit den gleichen Worten ausdrückt. In der vorliegenden kurzen Sequenzstelle ist dies mehrmals markiert: im zweimaligen Gebrauch des Wortes „ich“; in der Betonung der Seins-Form („bin“); in der freudigen Konnotation des Ausrufs: „da bin ich“, die mit dem anschließenden „ja!“ noch verstärkt wird. Mit einem völlig neuen Blick steht M sich selbst gegenüber, indem er in seinem ursprünglich nur „gelernten“ Zeugnisspruch in einem Moment erhöhter Aufmerksamkeit sich selbst (wieder) erkennen und bestätigen kann: „Da bin ich, ja!“ 15 I: (schmunzelt) hmhm (1) und (,) kannst du dich erinnern daran was das für einer war (,) an dem dir das auffiel(’) was war da der Inhalt(’)(M: ähm) weißt du das noch (’) I reagiert mit hörbarem Schmunzeln auf die Selbst-Darstellung von M. Nach einer kurzen Pause fragt sie ihn, ob er sich erinnern könne „was das für einer war (,) an dem dir das auffiel? was war da der Inhalt?“ Sie möchte also Aufschluss erhalten über den Inhalt des Zeugnisspruches, der den Erkenntnisprozess von M ausgelöst hat. M zögert („ähm“), er muss offensichtlich überlegen. I wiederholt ihre Frage, ob er sich daran erinnere („weißt du das noch?“). 24 M: (2) irgendwas mit ’nem Kreis (lächelt hörbar) (1) näher kann ich mich jetz nich mehr dran erinnern (.) M muss länger überlegen, es fällt ihm dann ein, dass es „irgendwas mit ’nem Kreis“ gewesen sei. Nach einer weiteren Pause sagt er, „näher“ (womit sinnlogisch Näheres über den Inhalt gemeint ist) könne er sich im Augenblick („jetzt“) nicht mehr daran („dran“, d. h. an den Text) erinnern. Er hat demnach vom Inhalt des Spruches selbst nur mehr eine vage Vorstellung („irgendwas mit ’nem Kreis“), nur die Erfahrung einer Evidenz („da bin ich“) ist ihm in lebhafter Erinnerung. Im Laufe der vorliegenden Analyse ergaben Erkundigungen bei der Lehrerin von M, dass es sich bei dem entsprechenden Gedicht um den Zeugnisspruch für das sechste Schuljahr handelte. Das von M zitierte Erlebnis liegt demnach etwa zwei Jahre zurück, das heißt M war damals gut zwölf Jahre alt. Ziehen wir hinzu, was in der Interpretation des Zeugnisspruches als mathematisch „nicht gesicherte“ Aussage zum Verhältnis von Punkt und Kreis kritisiert wurde, wird die Signifikanz dieser Sequenzstelle noch deutlicher. Es könnte nun sein, dass M entweder die Metapher gar nicht in Zweifel gezogen, die Unstimmigkeit nicht bemerkt oder
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einfach über sie hinweggehört hat. Die beiden ersten Motivationen sind eher unwahrscheinlich, da die Schülerinnen und Schüler – wie auch M – in sämtlichen Interviews ein höchst empfindliches Sensorium für die Stimmigkeit eines sprachlichen Bildes zeigen und ihr Urteil über die Passung eines Zeugnisspruches zur Schülerindividualität jeweils sehr präzise ist. Nur in wenigen Ausnahmefällen wurde die Beziehung als ambivalent artikuliert. Vor diesem Hintergrund und die Ernsthaftigkeit berücksichtigend, mit der M bisher auf die Fragen der I einging, ist anzunehmen, dass seine Vorliebe für mathematisch-naturwissenschaftliche Inhalte ihm zunächst den Zugang zu jenem Zeugnisspruch eröffnete, dass aber die Umwandlung der Begriffe (Punkt und Kreis) in eine lyrische Gestalt es war, in der er sich „wiedererkennen“ konnte. In seinem Zeugnisspruch traten Punkt und Kreis nicht als mathematische Größen, sondern eher als komplexe Symbole auf, so dass M über mathematische Ungereimtheiten tatsächlich hinweghören konnte. Entscheidend war auch hier – ähnlich wie in der Begegnung mit dem Gedicht von Storm – nicht eine Übereinstimmung von Äußerlichkeiten, sondern das Erlebnis einer Konvergenz von Selbst-Bild und jenem Bild, das ihn aus der Perspektive seiner Lehrerin zum Vorschein brachte.
Sechstes Zwischenresümee Zeugnissprüche haben M etwas vermittelt, wodurch er auf zwei Ebenen Veränderungen bei sich beobachten konnte. Die erste Veränderung bezieht sich auf die Zeit: Es gab einen Anfang, an den M sich nur dunkel erinnert und von dem er sagt, er sei sich damals der Bedeutung seiner Zeugnissprüche noch nicht bewusst gewesen. Dieser Anfang impliziert jedoch auch ein zumindest vorläufiges Ende, so dass ein zeitlicher Rahmen für die von M beobachtete Veränderung gegeben ist. An diesem Ende, einer Art „Zeit-Schwelle“, bemerkt M eine zweite Veränderung, deren er sich nun bewusst wird: dass Zeugnissprüche für ihn persönlich eine Bedeutung gewonnen haben. Fassen wir die Sequenzstellen 15 und 16 M zusammen, beschreibt M hier präzise den Prozess des Bewusstwerdens der Bedeutung von Zeugnissprüchen, zunächst mit direktem Bezug auf sich in Form einer Selbstreflexion (15 M: „ich hab“, „war ich mir“), um anschließend aus der Perspektive seiner Lehrerin („die Frau C hat“) und in Vergemeinschaftung mit seinen Mitschülern eine für alle gültige Bedeutung zu befinden („weil die zu uns passen“). Es vollzieht sich – ähnlich wie weiter oben im Zusammenhang mit dem Gedicht „Die Stadt“ – das Gewahrwerden einer Konvergenz, deren M sich bewusst wird als einer Übereinstimmung von Selbstbild und den dichterischen Bildern seiner Zeugnisspruchtexte, die ihm von seiner Lehrerin zugeeignet wurden. Deren Perspektive übernimmt Moritz in 16 M, indem er davon spricht, dass „die zu
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uns (also ihm und seinen schulischen Mitakteuren) passen“. Diese Passungsdiagnose wird von Moritz nicht in Zweifel gezogen, sondern er generalisiert („die“ im Sinn von „alle“), zumindest mit Bezug auf sich. In Sequenzstelle 17 M konzentriert er sich wieder auf eine Selbstreflektion („wurd ich“, „wurd mir“, [hat etwas; HH] „mit mir zu tun“), indem er sich in seinen Zeugnissprüchen selbst gewahr wird: Er erlebt Gedichte als Gebilde, in denen er sich selbst begegnen, deren Nähe zu seiner Identität er als etwas Reales erfahren kann („dass jeder Zeugnisspruch wirklich auch was mit mir zu tun hat“). Mit beiden Erfahrungen (der Erfahrung, dass sich etwas verändert, indem die Zeit vergeht, und der Erfahrung der Bedeutungsgenerierung) liegt ein weiteres überzeugendes Ergebnis vor: M kommt hier von sich aus auf die Frage von I zu sprechen, ob sich da etwas entwickelt habe (vgl. 8 I). Was er weiter oben (unausgesprochen) mit „Lernen“ kontrastiert, wird an dieser Stelle als eine spezifische Form des Erkenntnisgewinns (eines Zuwachses von Selbsterkenntnis) plausibel. Die Bilder, die ihm in seinen Zeugnisspruch-Texten begegneten, sind etwas, womit er sich verbinden, was er sich zu Eigen machen kann. Das Bild von Punkt und Kreis wird ihm zum Bild seiner selbst („Da bin ich ja!“). Auch die Gedichte, die er in der Schule gelernt hat, will er nicht vermissen, sondern als einen unverzichtbaren Teil seines Bildungsprozesses bewahren und „weiter tragen“. Ohne es explizit auszudrücken, lässt Moritz hier den Unterschied zwischen Lernen und einem individuierenden Bildungsprozess evident werden. Als Resultat des in der vorliegenden Fallrekonstruktion aufgezeigten reflexivkognitiven Prozesses von Moritz kann festgehalten werden, dass durch ein Gedicht eine ästhetische Krise ausgelöst und die Erinnerung an ursprünglich traumatische Verlust- und Trennungserfahrungen evoziert wurde, die Moritz auf der Basis einer stabilen Beziehung zu seiner Klasse und seiner Lehrerin sich bewusst machen und in seine Identitätsbildung integrieren konnte. In einem zweiten Schritt konnte Moritz den zunächst rein repetitiv-rituellen Umgang mit seinen Zeugnissprüchen aufgrund einer unmittelbaren Spiegelungs-Erfahrung seines Selbst in einem bestimmten Zeugnisspruch in ein bewusstes Gestalten des rituellen Vollzugs (Selbst-Präsen-tation) umwandeln.
Schlussresümee und Ergebnis Fallrekonstruktion Moritz Strukturanalytisch lässt sich auf der Basis von Moritz’ Zugang zu dem Gedicht „Die Stadt“ sowie der ambitionierten Aneignungsform (er hat es verinnerlicht und hätte es vortragen können; TZ 13) eine Integrierung latenter ambivalenter Gefühle (Geborgenheit, Sesshaftigkeit, Verlust) in Folge traumatisierender Erfahrungen (Migration, Trennung) herausarbeiten.
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4 Fallrekonstruktionen
In einzelnen Motiven der dichterischen Evokation der „grauen Stadt am Meer“ erkennt Moritz die Stadt seiner Kindheit („Beauville“) wieder, mit der wichtige Erfahrungen seines frühkindlichen Selbst verbunden sind. Die Vergangenheit in all ihren Schattierungen gerät durch die metaphorische Sprache des Gedichtes in Fluss: Die Erfahrung der ersten Schritte in die Selbstständigkeit in einer vertrauten Umgebung, der schönen und hässlichen Seiten der Stadt, des damals noch intakten Familienhintergrundes leben in Moritz’ Erinnerung wieder auf. Indem er sich das Gedicht aneignet, wird es zu einem unverlierbaren Schlüssel, der ihm die Schatzkammer von Gewesenem öffnet, so dass er in einer extensionalen Bezugnahme auf dessen Überschrift sagen kann: Die Stadt von damals, das war „die Stadt“, in der für mich alles so war, wie der Dichter es in dem Vers „doch hängt mein ganzes Herz an dir“ ausdrückte. Diese Gefühlskonvergenz ist die Folie für den Text, den Moritz sich in einem kreativen Akt durch spontanes Erkennen und Interpretieren der inneren Ausdrucksgestalt, Bezugnahme zur eigenen Biographie, schließlich durch Auswendigsprechen zu Eigen macht. So wird eine Schulaufgabe für Moritz identitätsstiftend. Wie sichtbar, ist er als ganzer Mensch an diesem Prozess beteiligt und findet damit zu einer neuen IchRepräsentanz innerhalb des gesamten Kontextes des Gedichtes. Für die Konvergenz der Gemütslage des Dichters mit der von Moritz ist der äußerliche Kontrast zwischen dem grauen Husum und dem lichterfüllten Beauville belanglos. Das undifferenzierte Grau wird vielmehr zur Metapher für die konkrete, früh erfahrene Ambiguität von Verbundenheit und Separation, die Moritz nun durch die vom Kunstwerk geschaffene Distanz neu betrachten und mit fremder Prägung aussprechen kann.160 Moritz gelangt so durch das Wiederaufleben und Bearbeiten vergessener, seinem Bewusstsein unzugänglicher Erlebnisse zu einer ästhetischen Grunderfahrung (Aisthesis), die ihm ermöglicht, Vergangenes zu verstehen und in seine Lebenspraxis einzuordnen. In der Perspektive von Sesshaftigkeit könnte man sagen: Moritz hat den Verlust vertrauter innerer wie äußerer Orte zwar traumatisch erfahren müssen, doch liegt in der artifiziell-fremden Gestalt des dichterischen Bildes außer dem, was ihm vertraut entgegenkommt (was er „schön“, „so schön“ findet), auch noch die Aufforderung, das Gewesene in eine neue, bewusstseinsfähige Form zu transformieren, sich neu zu verorten. Vor dem Hintergrund des Kontexts Unterricht könnte das Gedicht als schlichter Lerninhalt für Moritz betrachtet werden. Für seine Identitätsfindung relevant
160 Thomas Mann spricht in seiner Gedächtnis-Rede zu Gerhart Hauptmann von Versen „fremder Prägung“, die er nicht nachlesen müsse, sondern „immer rezitierbar, mit (sich; HH) trage.“ (zit. nach Lösener 2007: 39)
4.2 Fallrekonstruktion Moritz, Schule C: „Da bin ich ja!“
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wird es erst durch die von ihm selber erkannte Bezüglichkeit zu einschneidenden Erfahrungen und deren Bearbeitung durch Aneignung des Gedichtes.161 Ein klassischer Bildungsprozess zeichnet sich ab: nicht nur Aneignung, sondern Akkomodation im Sinne einer Strukturtransformation. „Nicht nur schöne“ Erfahrungen findet Moritz in lyrischer Verfremdung wieder. Diese Verfremdung lässt gewesene Verluste in die Erinnerung ein, ohne zugleich den damit verbundenen Schmerz heraufzubeschwören. Vergangenes wird vom Bewusstsein erhellt und aussprechbar. Die Bedeutung eines Gedichtes für die eigene Identitätsbildung beschränkt sich bei Moritz jedoch nicht auf „die Stadt“. Er ist „auf jeden Fall froh“, dass ihm in der Schule Gelegenheit gegeben wird, „Gedichte (zu; HH) machen“, findet es schön, sie zu lernen. Wie in der Analyse herausgearbeitet werden konnte, meint Moritz mit „Gedichte lernen“ nicht ein stumpfes Repetieren. Implizit zeigt seine Beschreibung die Signatur eines Bildungprozesses (vgl. Nittel/Marotzki 1997: 84): Obwohl ihm nicht jedes Gedicht gefällt, ist er sich bewusst, dass er mit einigen etwas aufnimmt, was seinen Bezug zu Welt und Selbst verändert oder bereichert und worauf er nicht verzichten will. Er hat eine selbstreferenzielle Erklärung für den Sinn von Gedichten gefunden, daher ist seine Idee, diese als „zur Kultur gehörig“ zu tradieren. Moritz geht sogar noch weiter, indem er unmittelbar danach aus der Perspektive seiner Klassengemeinschaft spricht („dass wir diese Gedichte machen“) und Gedichte generell als etwas befindet, was „dazugehört“. Damit bezieht er sich erstens auf die Unterrichtskultur seiner Schule und schließt die rituelle Rahmung des gemeinsamen Rezitierens ein. Zweitens spricht er davon, dass Gedichte „zur Kultur“ gehören und tradiert werden sollen. Seine Idee, etwas von ihm Wertgeschätztes der Gemeinschaft bzw. der Kultur „weiterreichen“ zu wollen, lässt vor dem Hintergrund seiner frühkindlichen Trennungs- und Verlusterfahrung auf einen Versuch der Stabilisierung schließen. Unsicher wird das Terrain erst an der Stelle, an der Moritz von der Interviewerin dazu aufgefordert wird, „Entwicklung“ zu reflektieren. Reflexion und starkes Selbst-Erleben sind bei Moritz jedoch noch nicht losgelöst von konkreten Erfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart. Diese kann er reflektieren und ihnen eine neue Bedeutung abgewinnen. Ähnlich wie der oben beschriebene verläuft der Aneignungsprozess seines signifikanten Zeugnisspruchs: Er ist sich der Bedeutung von Zeugnissprüchen zunächst nicht bewusst, die Bedeutung ist körperlich-leiblich verankert durch den Vollzug des Rituals. M sagt ihn, wie seine Mitakteure auch bzw. weil der signifikante Andere (seine Lehrerin) es sagt. Erst indem er „mal über den Spruch nachgedacht“ hat, wird eine authentische reflexiv-kognitive Bearbeitung der konkreten 161 Bei Moritz könnte man daher von einer „erarbeiteten Identität“ im Sinne einer Neuorientierung in der eigenen Biographie sprechen (vgl. Marcia in: Oerter/Montada 1998: 351).
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Erfahrung ermöglicht: Das Bild von Punkt und Kreis wird ihm zu einem Blick in den Spiegel162, der das Unbewusste ins Bewusstsein hebt und bei ihm zu einer vollständigen Identifikation führt. Die Worte: „Da bin ich ja!“ sind eine Art Symmetrie-Kundgebung und sagen: Ich bin identisch mit dem Punkt und dem Kreis. Der Prozess hat sich umgekehrt: Nun ist die Stimme von M die Stimme seines Selbst im Anderen.163 Ein weiterer entscheidender Entwicklungsschritt vollzieht sich auf der Ebene der Peer-Beziehungen. Die Familie als Moritz’ erste zentrale Sozialisationsinstanz hat sich in ihrer ursprünglichen Form aufgelöst. Nun, mit Beginn der Adoleszenz, wird Moritz die Bedeutung seiner schulischen Mitakteure bewusst. Er scheut sich nicht, seine intrinsische Involviertheit in den performativen Prozess und in die lyrische Ausdrucksgestalt (seines Zeugnisspruches bzw. bestimmter Gedichte) dieser Gemeinschaft vorzutragen, sich ihr mitzuteilen (TZ 95-97): „Ich find wir sind ne Klassengemeinschaft (1) (I: da geht das) ja. ich bin nich aufgeregt“(TZ 151-152).164 4.3 Fallrekonstruktion Filip, Schule A: „Ich war eigentlich nie so richtig beteiligt.“ (Interview vom 28.2.07; Dauer: 12.08 Min.; Ort: Musik-Vorbereitungsraum der Schule) Voraus ging dem Interview die vierte von mehreren Hospitationen im Unterricht, die in Form von Feldnotizen von der Interviewerin dokumentiert wurden. Filip wurde von ihr zuvor gefragt, ob er zu einem Interview bereit sei, und gab seine Zustimmung. In ihren vorigen Hospitationen hatte I den Schülern eine allgemeine Einführung in ihr Forschungsprojekt gegeben. Das Interview wurde in einem Nebenraum geführt, zu dem sich F und I hinbegaben. Der Beginn des Interviews, der Aufnahme und des Transkripts sind identisch. 162 „Der Mensch verfügt über den Sinn für die ›Reziprozität der Perspektiven‹, d. h. im anderen ›sich‹ zu sehen, den Sinn für Spiegelbildlichkeit, kraft seiner zu sich aufgebrochenen Ichhaftigkeit.“ (Plessner in: Dehn 1974: 42) 163 Vgl. Sartre 1977, II. Band, S. 233 164 Elias Canetti beschreibt dieses Gefühl, allerdings in einem anderen Kontext: „Jede neue Erfahrung empfand ich physisch, als Gefühl körperlicher Erweiterung. Es gehörte dazu, dass man schon manches andere wusste, dass das Neue aber damit in keiner Weise zusammenhing. Etwas, das von allem Übrigen separiert war, siedelte sich dort an, wo vorher nichts war. Eine Türe ging plötzlich auf, wo man nichts vermutet hatte, und man fand sich in einer Landschaft mit eigenem Licht, wo alles neue Namen trug und sich weiter und weiter, bis ins Unendliche erstreckte. Da bewegte man sich nun staunend, dahin, dorthin, wie es einen gelüstete, und es war, als wäre man noch nie woanders gewesen.“ (Canetti 2005: 236)
4.3 Fallrekonstruktion Filip, Schule A: „Ich war eigentlich nie so richtig beteiligt.“
I.
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Initiale Interaktionssequenz
1 I: so (.) (,) ich nehm’s auf (F: ja.) weil ich’s genau wissen will [ I schließt einen offenbar vorausgegangenen Vorgang ab, der aufgrund der Nebengeräusche in der Aufnahme als Drücken des Recorderknopfes identifiziert werden kann, und fasst mit „so (.)“ die Rahmung zusammen, etwa im Sinne von „Die Sache läuft, fertig!“ Damit markiert sie gleichzeitig die Eröffnung des Interviews (vgl. zur Eröffnung einer Interaktionssequenz Oevermann 2003: 48) und teilt kurz darauf ihre Absicht mit, das Interview aufzunehmen („ich nehm’s auf“). Dies wird von F bestätigt („ja“). Der Mitteilung folgt nun die Begründung von I („weil“): Sie beabsichtigt das Interview aufzunehmen, „weil ich’s genau wissen will“. Ihre Absicht (etwas aufzunehmen) begründet sie also mit dem Ziel, etwas wissen zu wollen. Wie ist dies motivierbar? Zunächst einmal bekundet I in ihrem ersten Satz („ich nehm’s auf“) eine Handlungsabsicht, die sich direkt auf ihren Interviewpartner bezieht. F wird jedoch nicht gefragt, sondern ihm wird schlicht mitgeteilt, dass I etwas aufzunehmen gedenke, dessen Inhalt sie nicht näher bestimmt oder bei F als bekannt voraussetzt. Dadurch deutet sich sofort eine asymmetrische Interaktionsstruktur an. Indem I das Aufnehmen eines von F zu erlangenden Wissens begründet, drückt sie zugleich aus, dass letzteres für sie in irgendeiner Weise wichtig sein muss, was durch den Zusatz von „genau“ noch verstärkt wird. Durch diese Verbindung („etwas aufnehmen“ und „etwas genau wissen wollen“) erhält die Äußerung der I einen leicht inquisitorischen Beigeschmack, indem sie nicht – sich direkt an ihren Interviewpartner wendend – etwa sagt: „Mich interessiert, was du mir zu sagen hast, und um deine Äußerungen genau verstehen und schriftlich festhalten zu können, nehme ich’s auf“, sondern sie bezieht sich auf das, was sie selber „genau wissen will“. Diese am Wissensbegehren der Interviewerin sich orientierende Form der Initialfrage ist insofern hoch riskant, als erstens die Äußerung nicht direkt an ihren Interviewpartner F adressiert ist, zweitens die asymmetrische Interaktionsstruktur die Gesprächsbereitschaft von F erschweren oder gar abschneiden könnte. Man darf also gespannt sein, ob F schon an dieser Stelle das Boot verlassen bzw. in welcher Form er auf die „Eröffnung“ von I eingehen wird. 1 F: [jaa was denn (.) F unterbricht. Er hat dem Aufnehmen des Interviews zwar zunächst generell zugestimmt („ja.“ in 1 I), die Begründung von I („weil ich’s genau wissen will“) hat jedoch seine Aufmerksamkeit oder auch Verdacht erregt, so als frage er sich im Stillen, in welchem Verhältnis das, was I so genau wissen will, zu ihm selber stehe, was denn er mit etwas zu tun habe, was hier gar nicht direkt angesprochen
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4 Fallrekonstruktionen
ist. Er kündigt sein ursprünglich gegebenes Einverständnis mit dem Interview aber nicht gleich auf, sondern geht auf äußerste Distanz, indem er I mit einem markanten „jaa“ unterbricht, als wolle er sagen: „Jaa, bis hierhin (dem Aufnehmen des Interviews) bin ich einverstanden, aber jetzt: Halt!“ Dieser deutlichen Distanzierung schließt F unmittelbar die resolute Wendung „was denn“ an, die durch „was“ den Charakter einer Frage bekommt. Er gibt den Ball damit an I zurück: Bevor er sich weiter zu dem äußert, was I von ihm wissen will, will er zuerst von ihr das Thema ihres Wissensinteresses kennen. Darum fordert er I dazu auf, ihm zu sagen, was sie von ihm so „genau wissen will“. Damit markiert F Wachheit und Vorsicht gegenüber den Erwartungen, mit denen er sich in Kürze konfrontiert sieht. Er positioniert sich gleich am Anfang als ein Interviewpartner auf gleicher Ebene, der sich erstens nicht bedenkenlos zu den Fragen der Interviewerin äußern will; der zweitens selbstbewusst und couragiert genug ist, diese Bedenken auch in unmissverständlicher Weise gegenüber I auszudrücken. 2 I: ja was du jetzt sagen kannst über deinen (,) Zeugnisspruch zum Beispiel (,) em der is ja (1) kurz (F: ja) (,) kannst du ihn mir mal sagen (,) ob er stimmt (,) /… I hat F verstanden („ja“) und wendet sich nun direkt an F („was du…“). Sie fragt danach, „was“ er sagen könne. „Sagen“ als eine Grundform des Sprechhandelns (vgl. Oevermann 2003: 48-50) steht etymologisch im Zusammenhang mit „folgen“ im Sinne von „einer Reihe folgen“ und „erzählen“ (vgl. Kluge 2002: 780); damit strebt I eine Art folgerichtiger sprachlicher Darstellung von F an über einen Gegenstand, den sie mit den Worten „über deinen (,)“ ankündigt. Sie nimmt hier also Bezug auf das, was F selber betrifft („deinen“). Die Wendung „was du jetzt sagen kannst“ markiert eine zeitliche Einschränkung und fokussiert die gegenwärtige Situation von F in diesem Moment („jetzt“). Mit dem Wort „über“ hebt I auf eine eher abstrakte bzw. allgemeine Ebene des Sagens ab, im Gegensatz etwa zu einer Wendung wie: „was fällt dir dazu ein“ oder „wie geht’s dir mit“. Noch zögert I kurz, bevor sie das Objekt ihres Interesses benennt, zu dem F sich äußern könne („kannst“). Dass I anschließend die Formulierung „zum Beispiel“ verwendet, impliziert, dass sie mehrere Themen für möglich hält, worüber sie mit F sprechen könnte. Aus diesen greift sie als erstes heraus: „deinen Zeugnisspruch“. Nachdem die Frage anfangs relativ offen formuliert war, wird von I hier eine Weiche gestellt durch ihre Bezugnahme auf ein pädagogisches bzw. waldorfschulspezifisches Thema. Damit verbaut sie F die Möglichkeit, sich zunächst ohne vorgegebene Bezugnahmen zum Text zu äußern. Nach einem weiteren kurzen Zögern fügt I ein Attribut hinzu, indem sie – stockend, wie nach einem passenden Wort suchend – sagt „em der is ja (,) kurz“. Durch die Satzkonstruktion „deinen Zeugnisspruch…der“ ist der Bezug zum Zeugnis-
4.3 Fallrekonstruktion Filip, Schule A: „Ich war eigentlich nie so richtig beteiligt.“
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spruch von F eindeutig. Es muss an jenem jedoch etwas geben, was in I eine Irritation hervorgerufen hat, die in ihrem Zögern vor dem Adjektiv „kurz“ markiert ist. Ihre stockende Sprechweise zeigt, dass die I das von ihr verwendete Attribut nicht unbedingt adäquat findet für das, was sie ausdrücken will. Motivierbar wäre ihre leichte Irritation dann, wenn I ihre Bewährungsanforderung an F („was du … sagen kannst über“, das ein bestimmtes Können von F voraussetzt) abmildern wollte durch einen Hinweis auf die Kürze des Zeugnisspruches. Eine zweite Option wäre, dass I noch etwas anderes (inhaltlich, sprachlich) aufgefallen wäre, was in der Attribuierung „kurz“ latent mitschwänge. F stimmt der Äußerung von I im Sinne einer formalen Bestätigung zu („ja“). Anschließend wird er von I danach gefragt („kannst du“), ob er „ihn“ (den Zeugnisspruch) ihr „sagen“ könne, ohne dass dies näher begründet würde. Der Zusatz von „mal“ (für „einmal“) unterstellt die Möglichkeit eines „anderen Mals“ und „gibt dem Vollzug des Sagens eine gewisse Willkür oder Beliebigkeit“ (Oevermann 2003: 49), die den Aufforderungscharakter der Frage abschwächt. An dieser Stelle markiert „mal“ eine gewisse Beiläufigkeit, als wolle I sagen: „Kannst du ihn einfach mal/mal eben sagen?“ was zu ihrem Hinweis auf die Kürze des Zeugnisspruchs passen würde. F hat damit die Möglichkeit, zuzustimmen oder abzulehnen. Die von I nach einem weiteren Zögern hinzugesetzten Worte klären schließlich über den Grund auf: I will wissen, „ob er stimmt“, wobei „er“ sinnlogisch wiederum für den Zeugnisspruch stehen muss. Der Ausdruck, dass etwas „stimmt“, wird in der Regel im Sinne einer Passung verwendet, der Übereinstimmung einer Aussage mit der Realität, etwa wie: „Können Sie mir bitte sagen, ob der Preis stimmt, der hier steht?“ Der Fragende erkundigt sich in diesem Fall nach der Übereinstimmung des tatsächlichen Preises mit dem, der auf dem Schild angegeben ist. Dass I mit „ob er stimmt“ in der vorliegenden Sequenzstelle im Sinne einer Übereinstimmung fragt, wäre insofern sinnstiftend, als F von ihr darum gefragt wird, ob er den Spruch „sagen“ könne (im Sinne eines Sprechhandelns), denn sonst hätte sie sagen müssen „Kannst du ihn mir mal geben oder abschreiben?“ I möchte also, warum auch immer, dass F den Text realiter für sie spricht.
Eine erste und nahe liegende Lesart wäre, dass I mit ihrer Frage schlicht nachprüfen will, ob der Text des Zeugnisspruches inhaltlich „stimmt“, d. h. gleich lautet, wobei die Voraussetzung für ein Überprüfen der Stimmigkeit ein Äquivalent wäre, das ihr in schriftlicher Form vorliegen müsste. Denkbar wäre jedoch auch eine andere Lesart, wenn nämlich I die Formulierung „ob er stimmt“ im Sinne einer inneren Übereinstimmung gebraucht hätte. Auch in diesem Falle wäre das Objekt, auf das „sagen“ sich bezieht, der Zeugnisspruch, hier aber im Aspekt eines inneren Passungsverhältnisses. In dieser Lesart hätte I gefragt, ob für F der innere Gehalt des Zeugnis-
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spruches zu seinem Selbstbild „stimmt“, d. h. für ihn zutreffend ist. Ziehen wir die Irritation von I (über die Kürze des Spruches) sowie ihre Formulierung vom Anfang der Sequenz hinzu („was du jetzt sagen kannst über“), könnte ihre Frage an F, er solle ihr „mal sagen ob er stimmt“, hier auch Ausdruck davon sein, dass I erfahren möchte, wie F den Spruch auffasst oder deutet, ob er ihn für sich zutreffend findet. Diese zweite Lesart wäre etwa mit den Worten: „Sag mir doch mal, ob der Zeugnisspruch mit dir, deinem Bild von dir selber übereinstimmt.“ zu paraphrasieren. Da I am Ende der Sequenzstelle den Bezug explizit macht, indem sie sagt „kannst du ihn (nämlich den Zeugnisspruch) mir mal sagen“, bleibt die Lesart zwei inkonsistent, sonst hätte I sagen müssen: „Kannst du mir mal sagen, ob er (als Zeugnisspruch für dich) stimmig ist?“ Auch fragt I ausdrücklich danach, ob F ihn ihr sagen könne („kannst du … sagen“), was sich sinnlogisch hier auf einen Text beziehen muss, der im Sagen vollzogen werden soll. Entsprechend der stärkeren ersten Lesart will I also den von F gesprochenen Text hören, um ihn mit einem ihr vorliegenden abzugleichen. Damit eröffnet sie F gleichzeitig – nach ihrem ersten (missglückten) Stimulus – einen erneuten Gesprächseinstieg. 3 I: was ich da aufgeschrieben hab (.) Die vorausgehende Sequenzstelle („ob er stimmt“) bricht hier ab bzw. ergibt durch den Anschluss mit „was“ keinen Zusammenhang im Sinne der Wohlgeformtheit. Ziehen wir beide Sequenzstellen zusammen, wird der Bruch offensichtlich: „ob er stimmt, was ich da…“. Auf der oberflächlichen Ebene informiert I uns damit zwar unmissverständlich darüber, dass von ihr etwas („was“) vermutlich in einem Notizbuch o. ä. („da“) schriftlich festgehalten („aufgeschrieben“) wurde. Die durch das Vorausgegangene gedeckte und sparsamste Lesart ist zunächst, dass I tatsächlich eine Überprüfung des Zeugnisspruchtextes beabsichtigt, den sie sich notiert hat und über dessen korrekte Wiedergabe sie sich an Hand des Vortrages von F vergewissern möchte, um auf der Basis eines Textvergleichs mit ihm ins Gespräch zu kommen. Der signifikante Bruch im Übergang von 2 I zu 3 I („ob er stimmt, was ich da“) bleibt jedoch weiterhin erklärungsbedürftig. Ziehen wir ihn zusammen mit der Erklärung von I, es genau wissen zu wollen (vgl. 1 I), und der Irritation, die die Kürze des Zeugnisspruches in ihr hervorgerufen hat (vgl. 2 I), ließe sich die riskante These aufstellen: I kommt als erstes auf das Beispiel Zeugnisspruch von F nicht aufgrund der Kürze seines Textes zu sprechen, sondern sie hat entweder
inhaltliche Fragen an das Gedicht als Zeugnisspruch, seine pädagogische Funktion,
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oder die Frage, ob es im Sinne einer inneren Passung zu F stimmt, das heißt für ihn zutrifft.
Der Klassenlehrer hat als Zeugnisspruch für die 8. Klasse für F ein Gedicht von Reiner Kunze ausgesucht. Um spätere Bezugnahmen von F auf das Gedicht in die Fallrekonstruktion einbeziehen zu können, sei eine Interpretation in Form eines Exkurses eingeschoben:
Exkurs: Interpretation eines Gedichtes, das F von seinem Lehrer als Zeugnisspruch für das achte Schuljahr gegeben wurde „Sich zurückhalten an der erde keinen schatten werfen auf andere im schatten der anderen leuchten“ (Reiner Kunze)
Das Gedicht von Reiner Kunze hat keine Überschrift. Der Leser oder Hörer wird unmittelbar mit dem Inhalt konfrontiert. Dieser ist in drei Verse gefasst, die keine durchgängige Metrik erkennen lassen, sondern sich allein durch die Zeilenanordnung voneinander abheben. Auf eine Strukturierung durch Interpunktion hat der Dichter verzichtet. In den meisten Ausgaben ist der Text in Kleinschreibung wiedergegeben. Ein erster Blick zeigt, dass es sich der grammatischen Form nach um eine Aneinanderreihung von drei Infinitiven handelt (sich zurückhalten, werfen, leuchten), die prinzipiell zunächst wertfrei sind. Dennoch gerät der Atem gleich zu Beginn des ersten Verses ins Stocken: Schon die Einleitung setzt nicht eine gedankliche Vorwärtsbewegung in Gang, sondern fordert zum „Sichzurückhalten“ auf, etwa als würde ein Sprinter unmittelbar nach dem Start aufgehalten. Assoziationen von Kargheit und Strenge stellen sich ein. Eine ethisch geläuterte Botschaft, eine sprachasketische Anmutung könnte so beginnen. Die Frage ist, wodurch schon die erste Zeile ihren latent imperativen Charakter erhält. Auf der formalen Ebene handelt es sich um einen unvollständigen Satz, in dem das (nominalisierte) Verb „sich zurückhalten“ an Stelle eines Subjekts auftritt; das Prädikat fehlt. Der Eindruck eines Befehles entsteht nun dadurch, dass der Dichter sich hier nicht des ausgeformten Imperativs, sondern seiner verkürzten Form bedient, wie dies in der deutschen Umgangssprache häufiger der Fall ist. Der ausgeformte Imperativ des Verbums „sich hinsetzen“ zum Beispiel wäre „Setzt euch hin!“ und würde sich eindeutig an mehrere Personen („euch“) richten. Wird stattdessen der Infinitiv verwendet („Hinsetzen!“), bekommt die Aussage nicht nur einen harschen Beigeschmack, sondern einen pauschalen, allge-
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meinen Charakter und es bleibt offen, ob sie sich auf einen Einzelnen oder auf mehrere bezieht. Der Dichter gebraucht also den verkürzten Imperativ, um die Wirkung zu steigern und den Absolutheitsanspruch zu verstärken, der dem ersten Vers inhärent ist. Auf die vorliegende Textstelle übertragen kann diese Nuance durch einen Vergleich deutlich werden: Wenn es hieße: „Halte dich zurück an der Erde!“, hätte der erste Vers nicht nur ein konkretes Objekt („dich“), an das der Befehl sich richtete, sondern die Aufforderung wäre milder, interaktiver, aber auch angreifbarer, während die vom Dichter gewählte Fassung einem pauschalen Appell an die Menschheit gleicht. Daran schließt sich die Frage, wie die ungewöhnliche Verknüpfung der Präposition „an“ mit dem Verb „sich zurückhalten“ motiviert sein könnte. Es fällt schwer, in der Alltagssprache ein Beispiel für diese Wendung zu finden. Denkbar wäre, dass „sich zurückhalten“ sich etwa auf den Konsum von Genussmitteln bezöge, doch würde man dann eher von „sich zurückhalten bei“ (etwa dem Dessert) sprechen. Bezöge „sich zurückhalten“ sich auf den Kontakt mit einer bestimmten Person, wäre eher eine Wendung wie „sich zurückhalten von jemandem“ adäquat. Gehen wir beim Versuch, den Sinn von „sich zurückhalten an“ zu erschließen, also schrittweise vor und beginnen dabei mit dem Verb. Der Akzent des Ausdrucks „sich zurückhalten“ liegt zunächst auf dem Verb „halten“, das in diesem Fall reflexiv ist und bedeutet, dass nicht ein Etwas gehalten werden, sondern ein Jemand165 sich selber halten, das heißt sich festmachen, fixieren soll, kann oder will. In der reflexiven Form wird dem Verb „halten“ meist eine Vorsilbe oder eine Präposition beigefügt, um die Beziehung zum Objekt zu verdeutlichen. Dies zeigen Beispiele wie „sich an etwas halten“, „sich etwas behalten“, „sich aufhalten“, „sich unterhalten“ usf. Je nachdem, mit welcher Präposition oder Vorsilbe „sich halten“ also verbunden ist, verändert sich der Sinn. Da hier dem Verb „sich halten“ die Präposition „an“ nachgestellt ist, wäre demnach gesagt, dass ein Jemand sich an einem Objekt, ob einem Etwas oder einem anderen Jemand, halten solle. Das Rätselhafte des ersten Verses entsteht nun dadurch, dass dieses „sich halten“ erstens mit „zurück“ verbunden wird und sich zweitens durch die Präposition „an“ auf „die Erde“ bezieht. Auf der inhaltlichen Ebene ist der Appell „sich zurückhalten an der erde“ eine Art innerer Orientierung am Ort Erde in Gestalt einer eindringlichen Empfehlung an den Adressaten des Gedichtes. Er soll sich „an der Erde“ halten im 165 Es ist sicher nicht zu bezweifeln, dass ein sprachliches Kunstwerk direkt oder indirekt an Menschen und weder an andere Lebewesen noch an Dinge adressiert ist. So ist beispielsweise Rilkes berühmtes Gedicht „Der Panther“ nicht an die Raubkatze gerichtet, sondern eine Reflexion des Dichters, der aus der Perspektive eines Besuchers des Jardin des Plantes im Jahre 1903 das Tier hinter Gittern als Exempel für das Leben in Gefangenschaft generell problematisierte. Zum Unterschied von ‚etwas’ und ‚jemand’ vgl. Spaemann 1996
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Sinne eines bodenständig Bleibens, einer Orientierung „an“ ihr als seiner Lebensgrundlage, die es wahrzunehmen und zu würdigen gelte. Die metaphorische Aussage des ersten Verses würde sich in dieser Lesart an einen Menschen richten, der Größenphantasien entwickelt, sich in irgendeiner Weise über Andere erhebt, zu geistigen Höhenflügen neigt usw., an den der Dichter den Appell richtete: „Halte dich zurück davor, innerlich abzuheben; bleibe auf dem Boden; halte dich an der/die Realität der dich tragenden Erde!“ Eine weitere Möglichkeit inhaltlichen Erschließens ergibt sich mit Blick auf die innere Distanz, aus der heraus das lyrische Ich seinen Appell formuliert und die durch die Präposition „an“ zum Ausdruck kommt. „An“ bezeichnet in der Regel, dass sich jemand nicht unmittelbar in einer Sache, einem Umstand, einem Ort usw. befindet, sondern einem Objekt mehr oder weniger nah bzw. neben ihm steht, zu dem er sich in irgendeiner Weise verhält. Verbindung besteht – wenn überhaupt – nur indirekt; der Akteur (in unserem Fall der Dichter) ist hier jemand, der einen Sachverhalt von außen anschaut und beurteilt. Um dies zu verdeutlichen, könnte man zum Beispiel das Wort „an“ mit „auf“ ersetzen, so dass der erste Vers hieße: „Halte dich zurück auf der Erde“. Hier wäre eher eine Gemeinsamkeit angedeutet, nämlich die Gemeinsamkeit aller Menschen, die „auf der Erde“ leben und sich darauf (ver-)halten müssen. Der Adressat wäre in diesem Fall einer von ihnen. So aber wird das „Sich Zurückhalten“ durch die Distanz des Sprechenden, die sich in den Worten „an der Erde“ ausdrückt, noch akzentuiert. Der Dichter befindet sich also nicht in einer Situation, die er mit Anderen teilt, in die er involviert ist, sondern spricht aus einer abgesonderten Position. In dieser reservierten Perspektive, in der das lyrische Ich die Erde anblickt und reflektiert, wird die eigenwillige Formulierung „halte dich zurück an der Erde“ motivierbar. Der innere Gehalt des Verses ist so keine gewöhnliche Aufforderung, sondern ein ethisch-moralisch hoch stehender Appell, eine Art „kategorischer Imperativ für das 20./21. Jahrhundert“, den das lyrische Ich ins Gewand der Verfremdung kleidet (in die seltsame Kombination von „sich zurückhalten“ und „an“), aus der der Rezipient des Gedichtes seine eigenen Schlüsse ziehen kann. Eine Äußerung von Reiner Kunze selber gibt in diesem Zusammenhang weiteren Aufschluss: Für ihn ist das Gedicht generell „äußerster punkt möglichen entgegengehens des dichters … der punkt, in dem auf seiner seite die innere entfernung auf ein nichts zusammenschrumpft. …als bemühung, die erde um die winzigkeit dieser annäherung bewohnbarer zu machen“ (Kunze 1972: 66).
In diesem Sinne wird die Verfremdung motivierbar in der „bemühung“, dass die innere Distanz und Einsamkeit des lyrischen Ichs „auf ein nichts zusammenschrumpft“. Die Präposition „an“ wäre hier Ausdruck einer Bemühung um „An-
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näherung“ an die Erde, doch ohne sie im übertragenen Sinne aufzuwühlen, zu verletzen, sondern sie für alle Menschen „bewohnbarer“ zu machen. Der zweite Vers, „keinen schatten werfen auf andere“ ist äußerst beziehungsreich, indem die Metapher des Schattens eingeführt wird, die unausgesprochen das Licht impliziert. „Andere“ werden ins Bild geholt, doch nicht als Mitspieler auf einer gemeinsamen Bühne, sondern sie stehen dem Individuum gegenüber: Für den Adressaten, der keinen Schatten werfen soll, sind die Objekte seiner Zurückhaltung die „Anderen“. Er soll also nicht nur sich selber zurückhalten wie im ersten Vers, sondern auch seinen Schatten. Unter natürlichen Bedingungen wäre dies nicht möglich, denn der Schattenwurf erfolgte unwillkürlich wie bei allen Menschen auf der Erde. Wollte der Angesprochene den Vorgang des Schattenwerfens verhindern, müsste er bewusst herbeiführen, was in Chamissos Geschichte des Peter Schlemihl oder in Richard Strauß’ Oper „Die Frau ohne Schatten“ eine verhängnisvolle Folge menschlicher Schwächen ist und von den Protagonisten schmerzhaft erduldet werden muss: den Verlust des eigenen Schattens. Es kann also auch hier nicht das physikalische Licht-Dunkel-Phänomen gemeint sein, sondern es muss sich um eine Metapher für die dunkle bzw. unbewusste oder negative Seite des Menschen handeln, die in diesem Vers als Polarität des Lichtvollen, der Geistesklarheit, im ethisch-moralischen Aspekt: des Guten erscheint. Doch gerade durch diesen Bezug gewinnt der zweite Vers eine merkwürdige Beziehungslosigkeit, wird zum Ausdruck von Einsamkeit, Absonderung, auch von Besonderheit. Der Adressat befände sich näher an der Lichtquelle, die Empfehlung an ihn wäre: „Wenn du im Licht stehst, sorge dafür, dass du nicht Andere überschattest! Gib ihnen so viel Raum, dass sie von dir nicht beeinträchtigt werden!“ Während der erste Vers also an ein „Sich-Zurückhalten“ des Adressaten mit Bezug auf die Erde appelliert, richtet sich der zweite Appell an das Verhältnis zu seinen Mitmenschen, die in eine schlichte Sprache übertragen lauten könnte: „Spiele dich nicht in den Vordergrund! Nimm Rücksicht auf Andere!“ Eine weitere Aufforderung spricht aus dem dritten Vers: „im schatten der anderen leuchten“. Das Motiv des Schattens bleibt thematisch, hier jedoch kontrastierend zum Appell des zweiten Verses, denn nun befindet sich der Adressat selber im Schatten, den Andere auf ihn werfen und aus dem heraus der Angesprochene leuchten soll. Das Wort „leuchten“ bedeutet im gewöhnlichen Sprachgebrauch, dass etwas entweder aus sich selbst oder aus verursachenden Kräften zur Lichtquelle wird oder Licht reflektiert. Als repräsentativstes Beispiel dafür wäre die leuchtende Sonne zu nennen; auch eine Lampe leuchtet im Dunkeln, und im übertragenen Sinn kann ein Mensch „leuchtendes Beispiel“ (etwa für ein bestimmtes Verhalten) sein, in dem Sinne, dass er aus der Kulisse der anderen gewissermaßen hervorleuchtet.
4.3 Fallrekonstruktion Filip, Schule A: „Ich war eigentlich nie so richtig beteiligt.“
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Alle drei Verse leben aus dem Gegensatz von dem, der die Empfehlung oder Mahnung ausspricht, und dem, der sie empfängt. Auf der einen Seite steht das lyrische Ich, das spricht, doch ohne direkt als handelndes Subjekt aufzutreten: der Dichter selber als Autorität in Anspruch nehmende Instanz, der davon ausgeht, dass seine Appelle inhaltlich nicht seine Idiosynkrasien sind, sondern mit Recht den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben können. Auf der anderen Seite befinden sich beliebig viele Andere: die gewöhnlichen Leute, die ungehindert ihren Schatten werfen dürfen, und der Adressat, der im Schatten dieser Anderen aus der lichtvollen Qualität seines Inneren „leuchten“ soll. Durch diese Kontrastierung der beiden Lichtquellen, des Lichtes, das man anderen vorenthalten kann, mit jenem, das man in sich selber hat, erhält das Bild seine besondere sprachästhetische Qualität. Der Adressat soll die Verdunkelung seines Lichtes durch den Schatten Anderer zum Anlass nehmen dafür, aus dem eigenen Inneren heraus Leuchtkraft zu entwickeln. Verknüpft man dies mit dem ersten Vers, wird er gewissermaßen zur Rahmenbedingung der folgenden Appelle durch die Aufforderung an den Adressaten, die Gebundenheit aller Menschen an die irdische Realität anzunehmen. „Sich zurückhalten an der Erde“ ist in diesem Aspekt eine Art kühne Metapher des Dichters, die Widersprüche oder Gegensätze menschlichen Seins auszudrücken: das Verhältnis des Einzelnen zu Fülle und Begrenztheit der Erde, seine Beziehung zu Anderen und schließlich zu sich selbst. Die drei unmittelbar hintereinander stehenden „kategorischen Imperative“ des Gedichtes bilden so sequenzanalytisch ein Ganzes. Mit äußerst sparsamen dichterischen Mitteln wird eine Lebensform präsentiert, die folgendermaßen paraphrasiert werden könnte: „Halte dich zurück im Bewusstsein der Begrenztheit der Erde und orientiere dich am materiell Greifbaren! Erhebe dich nicht über Andere, so dass sie von dir in den Schatten gestellt und in ihrem Lebensraum beeinträchtigt werden! Solltest du dich selber einmal im Schatten der Anderen befinden, dann beschwere und empöre dich nicht, sondern nimm dies zum Anlass, kraft deines inneren Lichtes zu leuchten!“ So karg die drei Appelle zumindest sprachlich anmuten, ist ihnen doch auch etwas Exklusives inhärent, aber in einer Form, die sich in äußerste Bescheidenheit kleidet. Prononciert könnte die Botschaft sagen: „Tue nur ethisch Hochstehendes! Nimm nichts für dich in Anspruch! Richte dir das Leben so ein, dass du den Andern nicht zur Last fällst, aber gleichzeitig so, dass die Andern voller Respekt auf dich und deine moralische Kraft blicken!“ Dem Adressaten wird damit eine extreme Form von Autonomie zugemutet, die – wiederum unausgesprochen – den Worten des unsichtbaren lyrischen Ich (in diesem Falle von Reiner Kunze) anhaftet. Die Rücksichtnahme, zu der aufgefordert wird („sich zurückhalten“), ist nicht aus einer lebendigen Beziehung zu Anderen gespeist, sondern wirkt beziehungslos, vergleichsweise abstrakt. Autonomie ist hier nicht Frucht einer Erkenntnis, die in Interaktion mit einer Gemeinschaft gewonnen
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wurde, sondern eine eher mönchisch-asketische Form extremer Isoliertheit. Sie drückt die Einstellung eines Vereinzelten aus, dessen Streben nach Autonomie so Absolutheitsanspruch gewinnt. Durch die didaktische Zielsetzung lässt sich das Gedicht der Gattung „Lehrgedicht“ zuordnen, zu deren Problematik Goethe schrieb: „Die didaktische oder schulmeisterliche Poesie ist und bleibt ein Mittelgeschöpf zwischen Poesie und Rhetorik; deshalb sie…auch mehr oder weniger dichterischen Wert haben kann“.166 2 F: spricht (sehr schnell und leise:) ähm sich zurückzuh- ähm sichzurückhalten-an-der-Erde-keinen-Schatten-werfen-auf-andere-im-Schatten-deranderen-leuchten (.) Ohne zu zögern geht F auf die Aufforderung der I ein. Auffallend ist dabei seine Sprechweise, die in seltsamem Widerspruch zum ethisch prätentiösen Inhalt des Gedichtes steht: Undeutlich in der Artikulation, in einem atemlosen, wie unbeteiligten oder beziehungslosen Hintereinander werden die Verse von F gesprochen.
Dies könnte erstens darin begründet sein, dass F von der inhaltlichen Aussage unberührt blieb, dass sie sein Interesse nicht weckte. Er hätte dann den Zeugnisspruch zwar in Folge der gewohnten rituellen Rahmung wiedergegeben, doch eine persönliche Annäherung an seinen inneren Gehalt hätte nicht stattgefunden. Das merkwürdig konturlose „Herunterleiern“ wäre in dieser Hinsicht Ausdruck einer interesselosen oder auch ablehnenden Haltung gegenüber der semantischen Aussage des Gedichtes (i.S.v. „das sagt mir nichts“), dessen Freudlosigkeit sich in der Vortragsweise von F reproduzierte.
166 Goethe o.J., Bd. IV, S.1045-47. Die Frage, was den Lehrer dazu veranlasst haben könnte, dieses Gedicht als Zeugnisspruch für F auszuwählen, soll im Augenblick zurückgestellt werden, da sie im Material bisher nicht thematisch wurde. Zur raschen Orientierung des Lesers sei hier nur kurz daran erinnert, welche weit reichende Bedeutung Zeugnissprüche gewinnen können für denjenigen, dem sie gegeben werden. Auf der Basis der Schulkultur der Freien Waldorfschulen sowie der kurzen Interpretation des Gedichtes, das hier als Zeugnisspruch für F fungiert, ist wohl unstrittig, dass der innere Gehalt der drei Verse eine Empfehlung zur Zurückhaltung im weitesten Sinne darstellt. Diese Empfehlungen des Lehrers an den Schüler deutet also auf einen Bezug zu Verhaltensweisen von F (dass er z. B. andere Schüler nicht zu Wort kommen ließe, sich über Andere erhebe, immer im Mittelpunkt stehen wolle usw.), die sich in irgendeiner Weise negativ auf die Klassengemeinschaft oder auch auf einzelne Schüler auswirken. Der Klassenlehrer könnte also die Wahl des Gedichtes damit begründet haben, dass dies problematische Verhaltensweisen seines Schülers in indirekter, künstlerischer Form zur Sprache bringe, vor allem jedoch ausgleichen helfe. Dies entspräche der Begründung für ein waldorfpädagogisches Ritual, das in Kap. 2.1.1.2. näher erläutert wird. Hier soll lediglich daran erinnert werden, dass ein Zeugnisspruch „für das nächste Jahr eine Art Lebensgeleitspruch“ bzw. „richtunggebend“ und „als Leitmotiv“ zukunftsweisend sein soll.
4.3 Fallrekonstruktion Filip, Schule A: „Ich war eigentlich nie so richtig beteiligt.“
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Eine zweite Lesart wäre unter Berücksichtigung der Situation (Interview mit einer fremden Person) denkbar, in deren Aspekt das hastige Sprechen von F die Folge eines Gefühles von Peinlichkeit oder Verlegenheit gegenüber I wäre. Eine dritte Option ergibt sich, wenn man das eilige „Abspulen“ des Gedichtes auf den Vorschlag von I aus 2 I bezieht, ob er ihr den Zeugnisspruch „mal sagen“ könne. Die schnelle Sprechweise von F wäre so nur die geraffte und sachliche Form des Vollzugs, die der eher beiläufige Charakter des Ansinnens der I evoziert hätte und der ihrer Absicht, zu kontrollieren, was sie notiert habe („ob das stimmt“), adäquat wäre.
Signifikant wird in diesem Zusammenhang der Versprecher, der F gleich im ersten Vers unterläuft, indem er mit dem Gerundivum ansetzt („sich zurückzuh-“), das heißt er verwendet die „passivisch gebrauchte Form des Partizips, durch die die Notwendigkeit eines zukünftigen Verhaltens oder einer noch auszuführenden Handlung ausgedrückt wird“ (Homberger 2003: 180). Spontan deutet F den Vers hier im Sinne von „es ist sinnvoll, sich zurückzuhalten“. Er vertauscht also das Original des einfachen Infinitivs spontan mit der Form des Gerundivum und versteht es als Aufforderung, etwa wie: ›Sich zurück zu halten‹ wird empfohlen! F merkt seinen Fehler sofort, verbessert sich und spricht die Verse zu Ende. In Anbetracht dieser spontanen Deutung ergibt sich
eine vierte Lesart, nach der das eilige „Herunterleiern“ des Gedichtes von F keineswegs auf Nicht-Verstehen oder Gleichgültigkeit seinerseits beruht, sondern im Gegenteil darauf, dass er dessen inneren Gehalt genau versteht. Im Bewusstsein der pädagogischen Funktion des Gedichtes als Zeugnisspruch, dessen rituelle Praxis ihm seit Jahren vertraut ist, würde F dessen inneren Gehalt spontan als Verhaltensempfehlung (siehe Versprecher) interpretieren und damit zum Ausdruck bringen, dass sie als solche auch bei ihm angekommen sei.
Dieser Lesart folgend würde die hastige und undeutliche Sprechweise von F motivierbar als ein Ausdruck persönlicher Betroffenheit über den Inhalt des Zeugnisspruch-Gedichtes, mit dessen semantischer Aussage er sich nicht öffentlich (weder vor der Klasse, noch vor I) identifizieren kann oder will. Das „Abspulen“ des Textes scheinbar ohne inneres Engagement wäre so nicht grundsätzliches Desinteresse, sondern eine Folge seiner Abwehrhaltung aus Betroffenheit. Deshalb entledigt er sich der Aufgabe (ihn I „mal [zu; HH] sagen“), indem er sie so rasch wie möglich hinter sich bringt. Nicht ausgeschlossen werden kann auch bei dieser Option, dass bei der Absage an den Textinhalt ein latenter Überdruss am Ritual selbst mitschwingt sowie ein Gefühl von Peinlichkeit, vor einer frem-
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den Person etwas derart Intimes – noch dazu unter Gefahr eines Gesichtsverlustes – aussprechen zu sollen (siehe oben, Lesart 2). 4 I: hmhm (1) das is ein Spruch der mir aufgefallen is (,) deswegen will ich mit dir sprechen (,) Nachdem F gesprochen hat, macht I eine kurze Pause und sagt, dass sein Zeugnisspruch „ein Spruch“ sei, der ihr „aufgefallen is“. Sie verwendet damit – anders als in 2 I – für „Zeugnisspruch“ synonym die Bezeichnung „Spruch“. „Ein“ präsupponiert an dieser Stelle, dass es sich um einen Text unter anderen handelt, der sich von diesen in einer bestimmten Weise abhebt, dem etwas Besonderes anhaftet und darum die Aufmerksamkeit von I erregt. Was genau ihr daran aufgefallen ist, behält sie für sich. Mit „aufgefallen“ bekundet sie lediglich, der Spruch habe wodurch auch immer etwas mit ihr selber gemacht. Der hier von ihr verwendete Begriff „Spruch“ deutet auf eine weitere, feine Nuance. Es ist – wie tendenziell auch schon bei ihrer Frage in 2 I – nicht das Kunstwerk, sondern dessen pädagogische Funktion als „Spruch“, der sie frappiert hat. Nach einer weiteren Zäsur teilt I ihre Absicht mit, sie wolle „deswegen…mit dir“ – gemeint ist F – sprechen. Damit wiederholt sich die Interaktionsstruktur vom Anfang des Interviews (I will etwas genau wissen; es ist der Zeugnisspruch, der ihr auffiel und ihr zum Gesprächsanlass wurde [„deswegen“]). Der dynamische Akzent auf „dir“ betont den Adressaten ihrer Gesprächsabsicht: Mit keinem anderen will I sprechen, sondern „mit dir“. Eine Alternative wäre zum Beispiel gewesen, dass I sich statt an F an dessen Lehrer gewendet hätte. Auslöser für das Interview war also nicht der Schüler selbst, sondern das auffallende, ihm gewidmete Gedicht. Dies wird zum Medium des Zuganges der I zu ihrem Interviewpartner (vgl. 2 I „deinen Zeugnisspruch zum Beispiel“) und motiviert die Akzentuierung von „dir“. Der Akzent sowie das Wort „mit“ drücken aus, dass I nicht (etwa mit seinem Lehrer) über F, sondern mit diesem selbst ins Gespräch kommen will. I verfolgt interviewtechnisch die zuvor gestellten Weichen, deren Richtung nun nicht mehr zum Gedicht als künstlerischem, sondern als pädagogischem Gebilde weist. Diese durch das pädagogische Instrument „Zeugnisspruch“ nur indirekte Adressierung an F könnte zum Problem werden:
Es könnte erstens eine Distanzierung von F zur Folge haben, da I nicht über etwas unmittelbar Persönliches, sondern zuerst über das ihm zugeschriebene Gedicht mit ihm sprechen will; zweitens könnte es von F als unausgesprochene Kritik oder Quasi-Drohung aufgefasst werden i. S. v. „Mir ist da was aufgefallen, deswegen muss ich mit dir sprechen!“
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Es könnte allerdings auch ein Versuch von I sein, die asymmetrische Interaktionsstruktur zu korrigieren. In dieser Lesart wäre F für I (da sie ihn nicht kennt) gewissermaßen der Experte zum Thema „Zeugnisspruch“, weswegen sie ausdrücklich mit ihm sprechen wolle, etwa wie: „Dies ist ein kryptisches Gedicht, deswegen will ich mit dir sprechen, weil es dein Zeugnisspruch ist und du dich damit schon auseinandergesetzt haben wirst.“
5 I: was er für dich (,) sozusagen (,) bedeutet (1) was du daraus (,) hörst (,) als Botschaft für dich (.) I zeigt nun ein gezieltes Interesse an F selber („dich“). Mit der Frage, was „er“ (gemeint ist der Zeugnisspruch) „für dich“ (F) – hier unterbricht I sich und markiert mit „sozusagen“ eine gewisse Abschwächung des Folgenden: I will erfahren, „was er für dich … bedeutet“. Da die Bewährungsanforderung an F durch das Abheben auf die Bedeutungsebene erhöht wird und in ihm das Gefühl einer Überforderung auslösen könnte, nimmt I die Anforderung etwas zurück mit dem Wort „sozusagen“, i. S. v. „Ich will keine Bedeutungsanalyse von dir, sondern quasi eine Art freies Assoziieren über das, was dir dein Gedicht-Zeugnisspruch bedeutet.“ Dies impliziert, dass I selber – ausgedrückt durch den Akzent auf „bedeutet“167 – eine dem Zeugnisspruch grundsätzlich inhärente Bedeutung voraussetzt und auch für F unterstellt, sonst hätte sie fragen müssen, ob er für F überhaupt etwas bedeute. Nach einer Zäsur reiht I an die Bedeutungsfrage eine weitere („was du daraus hörst“). An den Aspekt „Bedeutung“ schließt sich nun der perzeptive Aspekt („was du daraus [aus dem Spruch; HH] hörst“). Dem Zögern folgt eine Differenzierung der Äußerung: Nicht alles, was F hört, ist gemeint, sondern das, was er „daraus“ (aus dem Gedicht) „als Botschaft“ für sich („für dich“) hören könne. Das Wort „Botschaft“ steht in Zusammenhang mit dem Verb „bieten“, das sehr divergente Bedeutungen hat (z. B. „zum Bewusstsein bringen“, „wachen“, „erklären“, „erfragen“; vgl. Kluge 2002: 121); ursprünglich bedeutete das Wort „Gesandter“, war also an jemanden gebunden, der etwas persönlich zu überbringen hatte. Indem I das Gedicht spontan eingebettet denkt in das Ritual des Zeugnisspruch-Gebens und Rezipierens, kommt wiederum ihre Nähe zum Feld zum Ausdruck: Ihre Implikation, das Gedicht sei per se als eine Art Botschaft an F zu verstehen, die etwas „bedeutet“, die es zu „hören“, d. h. aufzunehmen gelte, wird so motivierbar. Sie sieht den Spruch als Übermittler (daher Botschaft) einer Aufforderung, eines Rates o. ä., die der Lehrer seinem Schüler zueignen will, und 167 Zum Verständnis von „bedeuten“ vgl. Fallrekonstruktion Moritz, Exkurs „Bedeutung“, Sequenzstelle 15 M, S. 207
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setzt diese Sichtweise – ebenso wie eine dem Spruch anhaftende Bedeutung – auch für F voraus. Fassen wir zusammen: In der Äußerung „der mir aufgefallen is“ (vgl. 4 I) begründet sich zunächst das Gesprächsbegehren von I („deswegen will ich mit dir sprechen“). Die drei Appelle (des Gedichtes von Reiner Kunze) hat sie gehört und will nun von F darüber aufgeklärt werden, welche Bedeutung die semantische Information, der innere Gehalt des Textes bzw. die darin verwendeten Metaphern für ihn haben, und was er dem Gedicht bzw. seinem Zeugnisspruch als Botschaft (seines Lehrers) entnehme. Die Frage von I ist damit immer enger mit dem pädagogischen Aspekt des Gedichtes verflochten und fokussiert die Verbindung zwischen Gedicht und dem Schüler F. Zu diesen Fragen muss er Stellung beziehen, muss bewerten, inhaltlich, formal oder situativ; er hat die Möglichkeit, als Experte zu antworten (vgl. 4 I, Lesart 2), sich zu rechtfertigen oder vor der überhöhten Bewährungsanforderung die Segel zu streichen. 3 F: ööh (1) eigentlich also als ich ihn bekommen hab (schöpft Atem) ich versteh ihn bis heut noch nich was der Spruch soll (.) Das von einem Ausatmen begleitete „ööh“ markiert ein deutliches Zögern, eine Art Seufzen, wie wenn F von der Anforderung, die mit den Fragen von I verbunden ist, Abstand nehmen wolle, oder als Ausdruck dafür, dass ihm die Frage selber und alles, was damit zusammenhängt, lästig ist oder ihn belastet. Nach einer kurzen Pause setzt er zu einer Antwort an mit den Worten „eigentlich also“, womit die nachfolgende Äußerung eröffnet wird. „Eigentlich“ basiert auf dem Wort „eigen“ und bedeutet in der Umgangssprache, dass einer Person bzw. einer Sache eine unverwechselbare Eigenart bzw. eine an Raum und Zeit gebundene Realität anhaftet. Wenn etwa jemand, der in ein angeregtes Gespräch mit Freunden vertieft ist, plötzlich sagt: „Wann fahren wir denn eigentlich los?“, wird damit die Situation, in der er sich gerade befindet, unterbrochen und seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung gelenkt. Es findet ein Perspektivenwechsel statt, eine Hierarchisierung verschiedener Ebenen, indem der Sprechende die „eigentliche“, das heißt die ihm augenblicklich wichtigere (hier: das Losfahren), ins Bewusstsein nimmt. „Eigentlich“ ist demnach Ausdruck für eine Gewichtung zwischen Wichtigem und weniger Wichtigem, aber auch für verschiedene Kategorien, etwa eine offensichtliche und eine unterschwellige oder unbewusste. „Eigentlich“ hieße im letzteren Fall, dass dem oberflächlich Wirklichen noch etwas anhaftet, was nicht sichtbar wird oder werden soll. Ein unausgesprochenes „aber“ schwingt dann mit, das in einer Wendung wie: „Ich habe ihn eigentlich ganz gern“ deutlich werden kann. Andere Kategorien wären ein örtlicher oder zeitlicher Perspektivenwechsel, etwa bei der Frage: „Warum hast du eigentlich immer Hosen an?“. Hier steigt der Sprechende in eine andere Zeit „um“, wäh-
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rend er mit der Frage: „Wo ist eigentlich mein Bruder?“ die örtliche Ebene wechselt und von seinem Bezugspunkt aus erfahren möchte, an welchem anderen Ort sich die betreffende Person befindet. Das Gemeinsame ist allen Beispielen der Perspektivenwechsel, das heißt die Frage: Was ist das mir Eigen(tlich)e, worauf es mir ankommt. In diesem Sinne markiert auch die vorliegende Sequenzstelle einen Perspektivenwechsel von F, der sich sinnlogisch auf etwas richtet, was dieses Eigentliche betrifft. Bezogen auf die vorausgegangene Frage von I („was du daraus hörst als Botschaft für dich“) müsste F nun auf die wie auch immer herausgehörte Botschaft eingehen. F beginnt mit „also“, etwa im Sinne von „das war so:“. Dadurch entsteht ein gewisser Bruch hinsichtlich der Vorlage von I (die Botschaft), die F aufgreifen müsste. Nach der von ihm gewählten Eröffnung ist jedoch eher die Schilderung einer Episode zu erwarten. Zuerst rekurriert F auf die Zeit der Zeugnisspruch-Übergabe am letzten Schultag des vergangenen siebten Schuljahres (vgl. Kapitel 2.1.1.2) mit den Worten „als ich ihn bekommen hab“. Er richtet den Fokus damit auf die Situation, die äußeren Umstände eines Prozesses und geht auf die von I angeschlagenen inhaltlichen Themen (was der Spruch bedeute, was F heraushöre als Botschaft) nicht ein. Vielmehr verfolgt er die von I in 4 I gelegte Spur und bezieht sich direkt auf den Begriff „Zeugnisspruch“ („ihn bekommen“). F könnte nun sagen: „Als ich ihn bekommen hab, war ich gleich überrascht“ oder „war ich neugierig“ oder „hab ich mich gewundert“. Nachdem F zunächst einen zeitlichen Bezugsrahmen abgesteckt hat – der fast sechs Monate währende Abstand zwischen dem letzten Schultag („als ich ihn bekommen hab“) und „heut“, also dem Tag des Interviews – bricht er ab und schöpft Atem. Dann sagt er: „ich versteh ihn bis heut noch nich was der Spruch soll.“ Dieser Bruch zwischen der geschilderten Episode und der Erklärung, den Spruch nicht zu verstehen, markiert eine nachdrückliche Distanzierung von F. Wird in der Alltagssprache die Wendung „ich versteh nicht, was das soll“ verwendet, ist dies häufig ein Ausdruck eines inneren Achselzuckens, einer gewissen Gleichgültigkeit dem Vorfall gegenüber. Hat zum Beispiel eine Auseinandersetzung zwischen zwei Freunden dazu geführt, dass der eine den Kontakt abbricht, würden Worte wie „Ich verstehe nicht, was das soll“ von Seiten des anderen dokumentieren, dass er an einer Bereinigung des Streits (und an seinem Freund) nicht weiter interessiert sei. Die sparsamste und durch das bisher Gesagte gedeckte Lesart ist im vorliegenden Falle, dass die Distanzierung von F sich gegen den Spruch richtet, der ihm von seinem Lehrer zugeeignet wurde („was der Spruch soll“), etwa als wolle F sagen: „Ich versteh den Spruch nicht und weiß auch nicht, was das soll!“ Anders ausgedrückt: F hat den Text, den ihm sein Lehrer als etwas zu ihm Passendes zugeschrieben hat, wohl gehört. Da er aber mit dieser Passungsdiagnose nicht
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einverstanden bzw. darüber verärgert ist, wehrt er sie mit der Erklärung „ich versteh…nicht“ ab. In diesem Aspekt wäre mit „ich versteh ihn…nich“ indirekt auch der Lehrer gemeint, denn F bezieht sich nicht auf das Gedicht als irgendeiner im Unterricht behandelten lyrischen Textform, sondern explizit auf den Zeugnisspruch („was der Spruch soll“). Es liegt auf der Hand, das Wort „Spruch“ hier als verkürzte Form des Begriffs „Zeugnisspruch“ zu lesen. Dass ein „Spruch“ auch ein Segensspruch, ein ermutigender Zuspruch, aber auch ein Urteilsspruch sein kann, der gefällt wird, könnte unterschwellig dabei mitschwingen. Die Verärgerung, die sich in dieser Passage ausspricht, schränkt F jedoch ein („bis heut noch nich“). Damit sagt er, er verstehe den Spruch bzw. den Lehrer zwar „bis heute“ nicht, lässt aber durch „noch“ durchblicken, dass dies einmal der Fall sein könnte bzw. er verweist das „noch nich“ (verstehen) von „heut“ auf eine unbestimmte Zukunft. Die einfachste und der Situation angemessene Reaktion auf Verärgerung wäre nun, dass F auf seinen Lehrer zuginge und ihn direkt danach fragte, „was das soll“ (d. h. wie er den Spruch inhaltlich oder seinen Lehrer verstehen solle bzw. was dieser mit dem Spruch ihm habe übermitteln wollen), zumindest aber Unmut, Empörung o. ä. über die seiner Meinung nach unpassende Zuschreibung zum Ausdruck brächte. Fraglich ist nun, ob F diese Initiative „bis heut noch nich“ aufgebracht hat, oder ob seine Versuche, den Textinhalt und die pädagogische Absicht seines Lehrers zu verstehen, gescheitert sind. Ziehen wir die latente und komplexe Kritik von F (daran, wie sein Lehrer ihn sieht) zusammen mit der vierten Lesart aus 2 F (undeutliche und schnelle Sprechweise aufgrund persönlicher Betroffenheit und Verlegenheit), wird dies vor allem unter dem Aspekt der klassenöffentlichen Rahmung hoch signifikant. Einen nicht verstandenen oder nicht mit seinem Selbstbild zu vereinbarenden Textinhalt in der Klasse immer wieder zu rezitieren, müsste für F im Aspekt der Adoleszenzkrise eine schier unerträgliche Bewährungsanforderung sein. Dieses fraglos-gleichgültige Hinnehmen wäre motivierbar,
wenn die Frage („was der Spruch soll“) für F absolut unwichtig wäre, er ihretwegen keinen Aufwand betreiben wollte, kurz gesagt: wenn ihm die ganze Sache mit Sprüchen und Gedichten einfach egal wäre.168 Weder das inhaltliche Verstehen seines Zeugnisspruches, noch auch die rituelle Praxis des Vortragens vor der Klasse wären für F in dieser Lesart wichtig oder interessant genug, um ihn dazu zu veranlassen, etwa auf Verständnis zu dringen oder sich eigenständig mit dem Text auseinanderzusetzen. Selbst wenn der pädagogische Kontext des Gedichtes (die Zeugnisspruch-Variante) ausgeblendet würde, bleibt die Frage, ob F für lyrische Sprache als Kunstform grundsätzlich
168 Vgl. Wulf 2007: 11: „Lässt die Anerkennung des Sinns einer Lernkultur nach, verliert diese die Kraft, die Beteiligten zu aktivieren und zusammenzuschließen.“
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zurzeit empfänglich sei. Wäre dies der Fall, müsste es in irgendeiner Weise zum Ausdruck kommen. Bisher setzt F in dieser Hinsicht zwei Zeichen: Er spricht einen unverstandenen Text im gewohnten rituellen Rahmen in der Halböffentlichkeit der Klasse. Selbst unter Berücksichtigung einer möglichen Verletztheit durch die missglückte Passung müsste man daraus schließen, dass lyrische Sprache per se derzeit für F nicht relevant oder interessant sein kann, denn sonst würde er das Unverständnis wie auch immer zu beheben versuchen oder das Rezitieren des Zeugnisspruchs ohne innere Anteilnahme lassen, verändern oder gegen die rituelle Praxis rebellieren. Eine zweite Lesart ergibt sich unter der Prämisse, dass F seine ablehnende Haltung gegenüber dem moralischen Inhalt des Zeugnisspruchs, seine affektive Betroffenheit über die Zuschreibung den schulischen Mitakteuren nonverbal, quasi auf der Vorderbühne vor Augen führt. In dieser Lesart würde F den Zeugnisspruch dem Ritual entsprechend vor der Klasse zwar sagen169, doch im Sinne eines bloß folgerichtigen Wiedergebens, ohne innerlich beteiligt zu sein. Seine Abwehrhaltung käme im Vollzug des Sprechens selbst, auf der Ebene von Performanz und Körpersprache zum Ausdruck. Er würde damit nicht nur seinem Lehrer, sondern der gesamten Klasse signalisieren: „Ich sage das zwar, aber das passt nicht zu mir; ich habe eigentlich nichts damit zu tun.“ Material gedeckt wäre dies a) durch die Art, wie F den Text der I vorgesprochen hat (vgl. 2 F), sowie b) unter Berücksichtigung des Anfangs der hier in Rede stehenden Sequenzstelle („eigentlich also als ich ihn bekommen hab“). In Hinsicht auf Punkt a) würde dies heißen, dass sich in 2 F die schnelle, undeutliche und leise Sprechweise reproduzierte, deren F sich auch beim Vortragen seines Zeugnisspruchs in der Klasse bedient.
Mit Bezug auf Punkt b) könnte der von F in 3 F angefangene Satz lauten: „Als ich ihn bekommen hab, wusste ich eigentlich gleich, dass ich mit dem Spruch nichts anfangen kann, dass er nicht zu mir passt.“ Aus beidem könnte man schließen, dass schon beim ersten Lesen des Zeugnisspruches sich bei F ein ablehnendes Urteil eingestellt habe. Erstes Zwischenresümee und Fallstrukturhypothese Die eher verunglückte Eröffnung des Interviews durch die Interviewerin hindert Filip nicht daran, ihre Bewährungsanforderung (Wissensfrage) selbstbewusst und autonom zu parieren: Er will zunächst darüber informiert werden, „was denn“ die Interviewerin so genau von ihm wissen wolle, bevor er sich zur Sache 169 Zur Etymologie von „sagen“ vgl. S. 212, Fn 155 in Kap. 4.2. Fallrekonstruktion Moritz
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äußert. Da die Interviewerin gleich zu Beginn das Thema Lyrik auf den Fall „Zeugnissprüche“ bezieht, ist das Interview sofort auf den pädagogischen Kontext fokussiert. Sowohl in der Art, wie Filip seinen gegenwärtigen Zeugnisspruch vorträgt (schnell, undeutlich und leise), als auch in der Form, in der er die Zeugnisübergabe beschreibt, dann abbricht und gleich darauf dem Inhalt eine Absage erteilt, drücken sich Abwehr und affektive Betroffenheit aus über den Gedichttext, den ihm sein Lehrer mit der Diagnose einer Passung gewidmet hat. Das subjektive Bild seines Selbst und jenes Bild, das der Lehrer im Zeugnisspruch von ihm gezeichnet und ihm zugeeignet hat, erfährt Filip spontan als Diskrepanz. Diese Diskrepanzerfahrung sowie die damit verbundenen Gefühle (Betroffenheit, Verärgerung, Empörung) motivieren eine Abwehrstrategie, die Filip mit der Erklärung begründet, er verstehe nicht, „was der Spruch soll“. Daraus kann geschlossen werden, dass ihm durch eine möglicherweise auf der Beziehungsebene misslungene Zuschreibung des Lehrers sowie durch die didaktisierte Form zumindest mit Bezug auf das Kunze-Gedicht der Weg erschwert wurde, den Text unvoreingenommen auf sich wirken zu lassen, sich den inneren Gehalt zu erschließen und gegebenenfalls damit zu identifizieren. Dass Filip einen – wie er selbst sagt – nicht verstandenen Text dennoch in der gewohnten rituellen Rahmung sprachlich realisiert, ist mit Abwehr allein schwer motivierbar. Aus der bisherigen Analyse lässt sich eine erste, riskante Strukturhypothese formulieren: Filips uninteressierte Haltung bzw. seine Ablehnung, dem inneren Gehalt des Gedichttextes auf die Spur zu kommen, deutet auf eine augenblickliche Blockade in Hinsicht auf eine effiziente Rezeption lyrischer Sprache, die als ein Kaschieren seiner Distanzierung von der Lehrerzuschreibung gefasst werden kann. Diese Interesselosigkeit an Autonomie und Eigenlogik der lyrischen Sprache ist auf der einen Seite durch die Lehrerzuschreibung verursacht, andererseits sollte sie nicht losgelöst von Filips frühadoleszentem Status gesehen werden. Welche Rolle der Passungsdiagnose des Lehrers dabei zukommt, ob sie in dieser Hinsicht eher verursachend, verstärkend oder nebensächlich war, wird noch nachzuweisen sein. 4 F: (1) weißt du es sind ja wirklich so Gegensätze in diesem (evtl. auch: dem) Spruch also erstmal im Schatten der Anderen leuchten und dann (1) keinen Schatten werfen auf Andere (1) wie soll-m (uv; evtl. auch: „wieso-m“) (,) keine Ahnung! (2) also (.) Der kurzen Pause folgt eine schwer nachzuvollziehende, aber nach mehrfachem Überprüfen des Aufnahmematerials eindeutig zu identifizierende Passage, in der F die Interviewerin plötzlich mit „Du“ anspricht („weißt du …“). Da eine nähere Bekanntschaft von I und F ausgeschlossen werden kann, ist das „Du“ gegenüber einer fremden, noch dazu wesentlich älteren Person absolut unangemessen und
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Ausdruck eines die Distanz negierenden Verhaltens von F, das mit seinem bisherigen Verhalten nur schwer vereinbar und höchst erklärungsbedürftig ist. Ziehen wir die vorige Sequenzstelle (3 F) hinzu: F beginnt, indem er sich der Episode der Zeugnisspruch-Übergabe erinnert, die er kurz darauf abbricht. Dann schöpft er tief Atem und erklärt, dass er „ihn“ bis heute noch nicht verstehe, was – wie sichtbar – von Affekten begleitet ist (Luft schöpfen, Pause) und sich auf die Zuschreibung seines Lehrers beziehen muss. Das unvermittelte „weißt du“ nach der kurzen Pause wäre so als Ausdruck einer spontanen affektiven Betroffenheit aufgrund der Diskrepanzerfahrung von Fremd- und Selbstbild motivierbar. Das „Du“ wäre demnach eine Begleiterscheinung seiner Affekte und ihm (aufgrund der Zuschreibung seines Lehrers) unbemerkt „herausgerutscht“. Die Äußerung von F, dass „ja wirklich so Gegensätze in diesem Spruch“ wären, steht nun in direktem Widerspruch zu seinem vorherigen Befund (dass er „ihn“ nicht verstehe). Die Semantik des Gedichtes muss ihm zumindest im Ansatz zugänglich sein: Die beiden Aufforderungen („keinen Schatten werfen auf (betont gesprochen:) Andere“ kontrastierend zu „im Schatten der Anderen leuchten“) deutet er – da er sie auf die Ebene der sinnlichen Wirklichkeit („es sind ja wirklich so“) bezieht – als Widersprüchlichkeit und könnte so sein Nicht-Verstehen gegenüber I plausibel machen. Da die reale Wahrnehmung für F mit dem dritten Vers unvereinbar ist, scheint es ihm absurd, dass jemand im Schatten von anderen leuchten solle. Auch durch die hier stärker akzentuierte Sprechweise kommt so zum Ausdruck, dass F sich zumindest auf der Realitätsebene mit dem Text beschäftigt und ihn diesbezüglich auch verstanden hat. Dies jedoch widerspricht seinem Befund, er verstehe ihn nicht, denn sonst hätte ihm das Absurde dieser Kontrastierung (auf der Realitätsebene) gar nicht auffallen können. Unverständlich ist ihm der Inhalt nur insofern, als er ihn nicht mit seiner Wahrnehmung vereinbaren noch mit sich selber in Beziehung bringen bzw. die implizite Passungsdiagnose seines Klassenlehrers akzeptieren kann. Dies würde die Lesart bestätigen, das spontane Duzen der I sei in einer affektiven Berührtheit von F begründet. Es bleibt nun die Frage, wie motivierbar werden kann, dass es zuerst „Gegensätze“ sind, die F ins Auge fallen. Die Pluralform impliziert, dass er von mehreren Gegensätzen ausgeht, keineswegs nur von jenem, der in der Metapher von Schatten und Leuchten gefasst ist. Im Vergleich mit dem Original fällt auf, dass F an dieser Stelle die Reihenfolge der Verse vertauscht, denn auf das seine Erklärung einleitende „erstmal“ folgt bei ihm der dritte, danach („und dann“) der zweite Vers, während der erste („sich zurückhalten“) überhaupt nicht auftaucht. Er nimmt also eine Hierarchisierung vor, wobei für ihn an oberster Stelle („erstmal“) rangiert, dass er im Schatten der Anderen leuchten solle. Dies ist ihm von allen drei Appellen der wichtigste, ihn kann er am ehesten verstehen, obwohl er mit Blick auf die Realität ebenso schwer zugänglich ist wie der erste Vers. Danach bezieht F sich auf den
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Appell, keinen Schatten auf Andere zu werfen. Er konstatiert Unstimmigkeit auf der Ebene der Wahrnehmung und sieht darin plausibel begründet, warum er den Vers (noch) nicht verstehen könne. Der Aufruf des ersten Verses („sich zurückhalten“) wird von F weder zitiert noch inhaltlich aufgegriffen und damit unausgesprochen in die Kategorie des „Nicht-Verstehens“ verwiesen. Nachdem F dies beispielhaft für „so Gegensätze“ genannt hat, bricht er ab. Der Kontrastierung von „keinen Schatten werfen“ und „im Schatten stehen“, worin ein kompositorisches Raffinement des Gedichtes sich ausdrückt, kann F nichts abgewinnen. Er erkennt auf der Realitätsebene eine Gegensätzlichkeit, kann jedoch den gestalterischen Sinn der Kontrastierung nicht anerkennen, auch nicht, dass die Verteilung von Im-Schatten-Stehen nicht symmetrisch sein muss im Sinne von: „Wenn ich keinen Schatten werfen darf, darf es auch kein Anderer!“ Der erste Vers meint vielmehr: „Selbst wenn du im Schatten Anderer stehst, schaue nicht auf diese, sondern auf dich. Erkenne die Situation an und aktiviere deine innere Kraft, um aus dir selber zu leuchten, d. h. zur Lichtquelle (als dem Sinnbild des Guten) für Andere zu werden!“ Dass in diesem Verständnis sich der Gegensatz auflöst, könnte F nur sehen, wenn er sich mit dem Gedicht intensiver auseinandersetzte, falls er bei seinem Lehrer vergeblich nach Deutungsvorschlägen gefragt hat. In dieser Sequenzstelle erlischt sein Interesse schon beim ersten Widerspruch („wie soll-m“ oder „wieso-m“), jenem Gegensatz von „keinen Schatten werfen auf Andere“ und „im Schatten leuchten“, obwohl der Gebrauch des Plural („Gegensätze“) und die Wendung „erstmal“ darauf hinweist, dass F hierarchisiert und von weiteren Antagonismen ausgeht. Ein Interesse, sich den Sinngehalt des dichterischen Bildes eigenständig zu erschließen, ist material nicht nachweisbar. F gibt bei der Feststellung des ersten Gegensatzes auf, so dass ihm die Möglichkeit einer künstlerischen Aufhebung vorenthalten bleibt. Nach einer kurzen Pause setzt er neu an mit einer durch „wie“ markierten, allerdings nicht sicher zu identifizierenden Frage („wie soll-m“ oder „wieso-m“) und bricht unmittelbar darauf wiederum ab. Dafür sind zwei Lesarten denkbar:
In der Fassung „wieso-m“ stellte F die (entscheidende) Frage nach der Begründung, die prononciert etwa heißen könnte: „Wieso soll ich denn keinen Schatten auf Andere werfen und im Schatten der Anderen leuchten?“ Die Begründung für den Appell des ersten Verses stände in dieser Lesart noch aus. Die Frage „wieso“ impliziert, dass sie sich für F nicht schon auf der Beziehungsebene beantwortet und wie selbstverständlich aus einer tragfähigen (Klassen-) Gemeinschaft ergibt. Hätte F anstelle von „wieso“ jedoch gesagt „wie soll-“ und danach den Satz abgebrochen, könnte dies sein Nicht-Verstehen bestätigen, etwa im Sinne von „Wie soll man das denn machen?“
4.3 Fallrekonstruktion Filip, Schule A: „Ich war eigentlich nie so richtig beteiligt.“
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Da am Ende der betreffenden Sequenzstelle lediglich das Wort „wie“ sicher zu identifizieren ist, könnte man beide Lesarten dahingehend resümieren, dass inhaltliche Gegensätze seines Zeugnisspruches nach wie vor mit ungelösten Fragen für F („wie“) verbunden sind. Mit der Floskel „keine Ahnung“ geht F weiter auf Distanz. Das zuvor Gesagte wird entkräftet, um vor I, die in seinen Augen Expertin ist, bei der Auslegung eines lyrischen Textes nicht zu scheitern. Danach macht F eine längere Pause und fügt das Wort „also“ hinzu, so als wolle er sein Statement abschließend zusammenfassen, etwa wie: „Also so ist das; mehr kann ich dazu nicht sagen.“ 6 I: hmhm (,) ich kann’n ja mal lesen (,) sich zurückhalten an der Erde (,) (fragend:) was könnte das bedeuten (’) I hat die Äußerung von F verstanden („hmhm“). Anstatt das von ihm angeschlagene Thema „Gegensätze“ weiter zu verfolgen, macht sie plötzlich den Vorschlag: „ich kann’n (kann ihn; HH) ja mal lesen“. Dies impliziert, dass sie den Text auch selber schriftlich vorliegen hat und nachlesen kann. Dieses „mal lesen“ könnte erstens damit motiviert sein, dass I kontrollieren möchte, ob F den Text wortgetreu gesprochen hat. Eine andere Möglichkeit wäre, dass sie F mit ihrem Vorschlag Gelegenheit geben will, mehr auf den Wortlaut des Textes abzuheben, eine eigene Deutung von ihm zu erfahren und so vom pädagogischen Kontext abzulenken. Sie wiederholt also den ersten Vers und schließt daran – mit einer an typische Lehrerfragen erinnernden Formulierung – die Frage, was der erste Vers bedeuten könne. F wird damit zum zweiten Mal gefragt, was etwas „bedeuten“ könne: In der vorliegenden Sequenzstelle fragt I, was der zitierte Text bedeute, während sie weiter oben (vgl. 5 I) wissen wollte, was der Spruch, der ihr aufgefallen war, für ihn, also für F selber, bedeute. Die Frage wirkt dadurch generalisierend, sie wird abstrakter und damit für F sachlich schwieriger zu beantworten. Andererseits ist F durch die Generalisierung persönlich weniger fokussiert und damit entlastet. Der Vorschlag von I („mal lesen“) kommt allerdings so unvermittelt, dass er Verunsicherung bei F hervorrufen könnte. Er befindet sich nun in einer ähnlichen Situation wie anfangs bei der Äußerung von I („weil ich’s genau wissen will“; vgl. 1 I), die F mit einer Gegenfrage pariert hatte. Man darf also gespannt sein auf seine Antwort. 5 F (langsam und artikuliert sprechend:) jaa vielleicht dass ich nich immer so (,) Mit einem gedehnten „jaa“ ratifiziert F die Bedeutungsfrage von I und eröffnet den nächsten Sprechakt mit einer Vermutung („vielleicht“), womit er impliziert, dass mehrere Möglichkeiten denkbar seien. Der Anschluss mit der Konjunktion „dass“ leitet grammatisch einen Modalsatz ein. F könnte jetzt zum Beispiel sagen:
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„Jaa, vielleicht dass die Erde was Wertvolles ist“ oder „dass man sich zurückhalten soll beim Verbrauch der Ressourcen.“ Er greift die Frage der I jedoch gar nicht auf, sondern fährt fort mit den Worten „dass ich“. F hebt demnach nicht auf die Ebene allgemeiner Bedeutung des Gedichtes ab, sondern er behält den unmittelbaren Bezug zu sich selbst bei („dass ich“). Mit diesem Festhalten der persönlichen Perspektive bewegt F sich wieder in die Nähe der Ausgangsfrage von I („was du sagen kannst über“). Es ist zu erwarten, dass er nun erklärt, in welcher Art und Weise seiner Meinung nach sein Lehrer ihn mit dem Inhalt des Zeugnisspruches verbindet. Dies impliziert, dass er sich über einen unmittelbaren Zusammenhang von Gedichttext und sich selber bereits Gedanken gemacht hat. Daraus ließe sich – im Gegensatz zu seiner Erklärung aus 3 F – schließen, dass F zumindest schon eine Möglichkeit gefunden hat zu verstehen („was das soll“). Der Ausdruck „dass ich nicht immer so“ wird in der Alltagssprache verwendet, wenn jemand öfter („immer“) die gleichen Ermahnungen, Aufforderungen oder Vorwürfe zu hören bekommt und dies jemandem anderen mitteilen will. Vorstellbar wäre zum Beispiel die Situation, dass zwei Jugendliche zusammensitzen. Einer der beiden befindet sich in einer bedrückten Stimmung und wird nun von seinem Freund nach deren Ursache gefragt. Daraufhin sagt der Betreffende: „Jaa, meine Mutter regt sich jedes Mal wahnsinnig auf, wenn ich nach Hause komme und mein Zeug in irgend’ne Ecke schmeiß. Jedes Mal krieg ich dann zu hören, dass ich nich immer so schlampig sein soll.“ Der Gebrauch des „so“ fordert als Äquivalent die Form a) eines Zugeständnisses des Sprechenden im Sinne von „so wie ich halt bin“, oder b) einer Äußerung von anderen, auf die der Sprechende sich bezieht. Als wohlgeformter Anschluss an diese Eröffnung böte sich nun eine ähnliche Erklärung von F an. 6 F: (mit einem beim Sprechen hörbaren Schmunzeln:) auf-brausend (,) sein sollte (2) Zunächst einmal bestätigt sich damit der Widerspruch zwischen dem Bezug zum Gedichtinhalt, den F in 4 F selbst hergestellt hat, und seiner Äußerung, dass er ihn nicht verstehe. Im Gegenteil: Er hat sich schon längst seine Gedanken darüber gemacht, sonst hätte er nicht zu dieser spontanen (selbstkritischen) Äußerung kommen können. Damit ergibt sich eine Konsistenz der vierten Lesart aus 2 F (spontanes Verstehen der Verhaltensempfehlung in den drei Versen). Signifikant ist dabei das hörbare Schmunzeln, mit dem F seine Worte begleitet, sowie die pointierte Sprechweise (hörbare Zäsur in der Wortmitte), mit der er sich – wie amüsiert – als „auf-brausend“ bezeichnet. Schmunzeln wie dynamischer Akzent markieren eine Distanzierungsbewegung von F, die in folgenden Aspekten motiviert sein könnte:
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Eine erste und auf der Hand liegende Lesart ergäbe sich aus affektiven Regungen von F. I stellt ihre Bedeutungsfrage hier zwar auf einer eher allgemeinen Ebene, aber für F ist die Bedeutung des (Zeugnisspruch-)Textes zentral mit ihm selber und seinem Verhalten in der Schule verknüpft. Da er den direkten Bezug auf sich selber sieht („dass ich“), antwortet er selbstkritisch: „dass ich nich immer so aufbrausend sein sollte.“ Dieses Eingeständnis vor einer fremden Person geht mit Gefühlen von Verlegenheit und Peinlichkeit einher und motiviert seine Distanzierung, die F mit prononcierter Sprechweise und Schmunzeln überspielen will. Zweitens könnte die Äußerung heißen, dass Aufbrausendsein zwar für andere, für F selber aber kein Problem darstellte, dass er dazu als zu einer ihm eigenen Verhaltensweise stehe. In dieser Lesart wären Schmunzeln und Akzent Ausdruck von Ironisierung und Distanznahme aufgrund des Autonomiestrebens von F, so als wolle er sagen: „Was ist denn schon dabei, dass ich aufbrausend bin!“
Das adjektivisch gebrauchte Partizip Präsens „aufbrausend“, das F sich hier selbst zuschreibt, kann in diesem Zusammenhang Aufschluss geben. Der starke Verbalcharakter des Wortes „aufbrausend“ steht in scharfem Gegensatz zu der kargen, verhaltenen Sprache des Gedichtes. Aber gerade dieser Kontrast spiegelt die Diskrepanzerfahrung von F mit Bezug auf Selbst- und Fremdbild. In der Alltagssprache ist „aufbrausend“ eine Ableitung des Verbums „brausen“. Es wird in dieser Form meist im übertragenen Sinne gebraucht, wenn man damit jemanden charakterisieren will, dessen Affekte und Emotionen sich in jähen Explosionen entladen können. Beispiel hierfür wären Menschen mit cholerischer Gemütsart, die unvermutet wütend werden, leicht die Selbstkontrolle verlieren und so keine Wahrnehmung mehr haben für ihre Wirkung auf Andere. Quelle des Aufbrausens ist jeweils ein starker Affekt, wie etwa Empörung, die jemanden aus dem vernünftigen Zustand herausreißt. Aufbrausen geschieht unwillkürlich, ist unüberlegt und immer eine Sache des Individuums, das durch die Unkontrolliertheit seiner Affekte von den Mitakteuren wie fortgerissen wird und sich deren Kritik aussetzt. In Hinsicht auf F ist nun bemerkenswert, dass er spontan das Wort „aufbrausend“ verwendet, was sich an dieser Stelle auf sein eigenes In-der-Klasse-Sein und Verhalten bezieht („dass ich nich immer … sein sollte“). „Aufbrausend sein“ hat erstens einen elementaren Aspekt (Gegensatz von Luft und Erde) und zweitens einen Richtungsaspekt (Gegensatz von oben und unten), der mit dem Beginn des ersten Gedichtverses („sich zurückhalten an der Erde“) kontrastiert. Im übertragenen Sinn bezeichnet das Wort eine Form der Verletzung des Sich-Zurückhaltens gegenüber anderen, die F von sich kennen muss, sonst würde er nicht sagen „nich immer so“. Das Äquivalent, auf das „so“ hier unausgesprochen anspielt, könnte
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das Feed-back der schulischen Mitakteure von F sein, die ihm die negativen Folgen seines Aufbrausend-Seins für die Lernatmosphäre schon gespiegelt hätten. In diesem Sinne könnte die Stelle heißen: „Vielleicht, dass ich nicht so aufbrausend sein sollte, wie ihr immer sagt“. In diesem Falle würde F eine Zuschreibung von Anderen zitieren. F könnte auf sich selber anspielen, als wolle er sagen „dass ich nicht immer so aufbrausend sein sollte, wie ich das halt manchmal bin“. Aufbrausendsein hätte F demnach als Teil seiner Identität akzeptiert und wäre für ihn im Augenblick kein Anlass, sich darum weitere Gedanken zu machen.
Vergleichen wir den Sinngehalt der eher introvertierten, moralisch-ethischen Ambition des Dichters (bzw. der Appelle, die der Lehrer an seinen Schüler richtet) mit dem Selbstporträt, das F mit dem Charakteristikum „aufbrausend“ von sich zeichnet oder zitiert, kommen Qualitäten zum Ausdruck, die bisher noch im Widerstreit liegen: Mit seiner Selbsteinschätzung bestätigt F, dass er sich Gedanken über den Zeugnisspruch gemacht hat, dass ihm auch ein Zusammenhang zwischen Text und einer bestimmten Verhaltensweise in der Klasse bewusst ist. Dabei reduziert er das Gedicht auf jene Stelle, die er in der Sequenzstelle 3 F eben nicht sprachlich realisierte: das Sich-Zurückhalten. Anders ausgedrückt: Das Gedicht, von dem F sagt, er verstehe bis heute nicht „was der Spruch soll“, ist ihm genau in dem Punkt präsent, den er selbst im Kontrast zu seinem eigenen Verhalten sieht: im SichZurückhalten. Diesen Kontrast empfindet F und benennt ihn spontan, indem er sich – wenn auch durch die Konnotierung ironisch gebrochen – als aufbrausend bezeichnet, jener affektiven Disposition, die ihn zuweilen aus der Gemeinschaft herausreißen kann. Vergegenwärtigen wir uns die Frage von I aus 6 I („sich zurückhalten an der Erde (,) was könnte das bedeuten“), könnte man die Antwort von F paraphrasieren im Sinne von: „Die Bedeutung von Sich-Zurückhalten an der Erde ist für mich die Aufgabe, nicht immer so aufbrausend zu sein.“ Wir können daraus erstens schließen, dass F im Grunde weiß, welche seiner Verhaltensweisen oder Eigenschaften für die Klassengemeinschaft problematisch werden können. Die moralisch-ethischen Appelle und Verhaltensempfehlungen kommen jedoch von außen, spiegeln die Ansprüche Anderer und berühren ihn „eigentlich“ nicht. Vor den Ansprüchen Anderer distanziert er sich, indem er das Aufbrausendsein zugleich ironisiert (Akzentuierung) und darüber schmunzelt. Diese Distanzierungsbewegung motiviert zweitens, dass F sich nicht intensiver mit dem Text befassen und Gegensätze wie Zurückhaltung und affektive Erregbarkeit in einen gewissen Einklang bringen will. Zu berücksichtigen ist an dieser Stelle allerdings, dass ein Gefühl der Fremdheit gegenüber I, ein latentes Peinlichkeitsgefühl vor ihr bei F immer mitschwingt. Dass er dies überspielen will, könnte die Distanzierungsbewegung zumindest teilweise provozieren und muss in die Interpretation einbezogen werden.
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Mit den Worten „sein sollte“ schließt F den Nebensatz ab und legt danach eine längere Pause ein. Die Wortverbindung „sein sollte“ hat die Funktion einer moralischen Verordnung, wodurch sich bestätigt, dass F sich des appellativen Charakters des Gedichtes und auch der pädagogischen Intention seines Lehrers bewusst ist (vgl. 2 F). Die konjunktivische Form dessen, was er soll, schränkt seine Äußerung ein im Sinne von „Ich sollte zwar nicht immer so aufbrausend sein, aber (…mir macht es nichts aus, ich finde ich dieses Aufbrausen manchmal erleichternd, es stört es doch keinen etc.).“ Damit würde sich bestätigen, dass die moralischen Ansprüche des Dichters bzw. des Lehrers von F nicht identisch sind mit seinen eigenen. F sieht in ihnen „Gegensätze“, die seiner aktuellen Gefühlslage nicht entsprechen oder allzu unverblümt eine problematische Seite seines Verhaltens innerhalb der Klasse thematisieren. Damit könnte seine Distanznahme motivierbar gemacht werden. Zugleich betont sie, dass F die mögliche Berechtigung einer solchen Kritik zwar konzediert, er sich aber keine weiteren Gedanken darüber machen und in dieser Richtung nicht engagieren will. 7 I: aber an der Erde (1) sich zurückhalten an der Erde? (1) heißt das (,) dass ich mich hier als Mensch zurückhalte und nicht wie du sagst aufbrausen soll (,) dann würde es doch heißen sich zurückhalten auf der Erde ne (’) Anstatt auf die Äußerung von F einzugehen und etwa nachzufragen, was er mit „aufbrausend“ genau meine, steigt I in eine philologische Interpretation ein und verschenkt damit die Chance, von ihm Näheres darüber zu erfahren, was er mit „aufbrausend“ zum Ausdruck bringen wolle. Ziehen wir ihre Begründung aus 1 I hinzu („weil ich’s genau wissen will“), versucht sie hier wiederum, auf der Ebene von „Wissen“ etwas von F zu erfahren, was sie selber als ihre Frage im Hinterkopf hat, hier die Deutung des ersten Gedichtverses. Einleitend zitiert sie darum nochmals den Anfang, verwendet dabei jedoch die Präposition „auf“, um durch diese Kontrastierung das Rätselhafte des Verses zu hervorzuheben. Dafür begehrt sie die Zustimmung von F („ne (’)“ (i.S.v. „nicht wahr“). Mit diesem überhöhten Deutungsanspruch wird F nicht nur überfordert, sondern die Möglichkeit, dass er seine distanzierte Haltung verlassen könnte, wird erschwert. Mehr noch: statt auf ihre eigentliche Frage zuzusteuern (was durch lyrische Sprache bzw. das Gedicht bei F freigesetzt worden sei), liefert sie ihm durch ihr Abgleiten in eine philologische Textauslegung geradezu „frei Haus“ die Begründung für seine Behauptung, er habe das Gedicht bis heute noch nicht verstanden. 7 F: (leise) ja (,) vielleicht schon (.)
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Durch die Kontrastierung („an“ vs. „auf“ der Erde) hat I sich endgültig auf ein Nebengleis manövriert. F bestätigt ihre Einschätzung zwar („ja“), doch die beim Sprechen hörbare Konnotation von Zögern zeigt, dass er sich auf diese Gesprächsebene nicht einlassen kann oder will, entweder weil er sich tatsächlich überfordert fühlt oder weil ihn die von I gewünschte profunde Textauslegung nicht interessiert. Darum bestätigt er den Deutungsvorschlag von I lediglich mit einem knappen „ja“, relativiert seine Zustimmung jedoch etwas später mit der Wendung „vielleicht schon“. Das Adverb „schon“ wird gebraucht, um „die Beziehung eines Sachverhalts zu den Erwartungen eines Gesprächspartners zu kennzeichnen“ und um auszudrücken, dass ein Sachverhalt sich auf einen früheren Zeitpunkt bezieht170, die der Wendung in Verbindung mit „vielleicht“ eine eingeschränkte Geltung gibt. Mit dieser eher unbestimmten Aussage vermeidet F geschickt, vor I den Literaturkritiker zu geben, und bringt die Textinterpretation von „sich zurückhalten an der Erde“ gleichzeitig zu einem gewissen Abschluss. 8 I: (2) aber es heißt an der Erde sich zurückhalten (.) I macht eine längere Pause, bevor sie mit einen adversativen Impuls setzt („aber“) und die fragliche Textstelle erneut zitiert. Ihr „aber“ dokumentiert eine Art Widerspruch, so als wolle sie betonen, dass der Dichter den Ausdruck vorgezogen hat, der ihrer Auffassung nach an dieser Stelle unverständlich oder unpassend ist. Mit ihrem Insistieren auf einer Textauslegung („was es heißt“) will sie den abschließenden Charakter der Bemerkung von F abschwächen und die Textauslegung in Gang halten. In ihrer Beharrlichkeit, von F einen Deutungsvorschlag der Textstelle zu bekommen, übersieht sie, dass dieser selber den von ihr gebahnten Weg gar nicht betreten hat und auf ihre Fragen gar nicht eingehen kann oder will. Damit wird die Möglichkeit, dass F authentisch etwas zur Auslegung des fraglichen Verses beitragen könnte, weiter eingegrenzt. 8 F: (2) (mit dynamischem Akzent und einer leicht ungeduldigen Konnotation:) ja ich sag doch ich versteh es nich (.) Hier macht F eine längere Pause und rekurriert nach einem knappen „ja“ auf etwas Gewesenes, etwas schon Gesagtes („ich sag doch“). Er lässt sich von den Bewährungsanforderungen der I nicht unterkriegen und hält dagegen, indem er lakonisch, aber mit leicht ungeduldigem Unterton wiederholt, dass er „es“ doch nicht verstehe. Ähnlich wie seine Rückfrage aus 1 F („jaa was denn“) markiert er nachdrückliche Abwehr, hier bezogen auf ein weiteres Insistieren von Seiten 170 Vgl. Weinrich 2005: 578-579
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der I. Gleichzeitig bestätigt er damit seinen Befund aus 3 F („ich versteh ihn bis heut noch nich was der Spruch soll“). In dieser Entschiedenheit drückt sich aus, dass das Thema für F definitiv abgeschlossen ist, so als wolle er sagen: „Fragen Sie mich doch nicht weiter, ich habe es Ihnen doch schon einmal gesagt!“. Dass dabei auch eine leise Ungeduld über das hartnäckige Insistieren der I auf ihrer Frage mitschwingt, ist nicht auszuschließen. 9 I: (beide schmunzeln hörbar) hmhm weißt’n nich (,) keinen Schatten werfen auf Andere (2) (fragend:) tust du das (’) I wiederholt die Äußerung von F, jedoch nicht wortgetreu („ich versteh es nich“), sondern aus der Perspektive einer Lehrerin (und hier auf deren Aufgabe der Vermittlerin von Wissen Bezug nehmend) sagt sie: „weißt’n nich“, was ausformuliert etwa heißt: „Du weißt ihn also nicht“. Im Aspekt der Sinnfrage ist diese Perspektiveübernahme begründungsbedürftig, weil F dadurch in die Rolle des Schülers gerät; zu begründen wäre sie jedoch mit der habitualisierten Professionsethik von I. Kurz darauf geht sie zu einer anderen Strategie über, indem sie zunächst den zweiten Vers zitiert, eine längere Pause macht und F dann unvermittelt mit der Frage konfrontiert, ob er „das“ (nämlich keinen Schatten auf andere werfen) denn tue. Dabei ist das Verhältnis von Textinhalt („keinen Schatten werfen“) und der Frage von I („tust du das“) an dieser Stelle zumindest missverständlich, denn sie fragt dem Prinzip der Wörtlichkeit nach damit, ob F keinen Schatten auf andere werfe. Ziehen wir jedoch den inneren Kontext der bisherigen Analyse hinzu, wird durch die an F gerichteten und von diesem abgewehrten Appelle seines Lehrers klar, dass I sinngemäß danach fragt, ob F Schatten werfe auf Andere. Da über eine Textinterpretation von F keine weiteren Beiträge mehr zu erwarten sind, verschiebt I die Bühne also mit einem Ruck auf die Ebene des konkreten Agierens von F. Er kann nun entweder nachfragen oder durch seine Antwort zeigen, dass er die Frage von I so aufgefasst hat, wie sie gemeint war, nämlich als eine Art Kontrollfrage. Dies ist für ihn insofern hoch riskant, als I ihre Frage hier nicht nur auf sein Verhalten in der Schule bezieht, sondern sie verallgemeinert („tust du das“). Mit diesem „Frontalangriff“ stellt sie eine problematische Seite des Verhaltens von F (das Aufbrausen) ins Rampenlicht, setzt ihn der Gefahr eines Gesichtsverlustes aus und riskiert den Abbruch des Interviews. F hat nun mehrere Möglichkeiten, auf die provokative Frage von I zu antworten: Er kann zurückfragen, weil das Verhältnis von Text und Frage missverständlich ist; er kann die Frage bejahen (je nach Deutung der Frage von I: „ja, ich werfe keinen Schatten“ bzw. „ja, ich werfe Schatten“); er kann verneinen (wie vor: „nein, ich werfe keinen Schatten“ bzw. „doch, ich werfe …“) und schließlich kann er ausweichen bzw. eine Antwort verweigern.
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9 F: eigentlich nich besonders (.) F beginnt seine Antwort mit dem Wort „eigentlich“, womit er ein Abstandnehmen auf die herausfordernde Frage von I durch den unausgesprochenen GegenSinn des Gesagten ausdrückt (vom von I als Fall gesetzten „Schatten werfen auf andere“). Das in „eigentlich“ mitschwingende „aber“ deutet noch auf ein Zweites hin, nämlich darauf, dass F an dieser Stelle versucht, sich zumindest auch von außen, aus der Perspektive seiner Mitakteure in den Blick zu nehmen. Dann fügt er hinzu „nich“, sagt also weder ja noch nein, sondern er lässt die Sache in der Schwebe und relativiert. „Eigentlich nich“ wird zum Ausdruck seiner oszillierenden Perspektive zwischen Innensicht und Außensicht. Indem er „besonders“ hinzufügt, wird die Aussage wiederum relativiert, das heißt, er tut es zwar, aber „nich besonders“. Etwas „nicht besonders“ tun hat in der Umgangssprache eine restriktive Bedeutung: Etwas wird getan, doch nicht so, dass es sich vom üblichen Rahmen absonderte. Ein Beispiel dafür wäre, wenn Geschäftspartner sich über die Eignung ihrer Mitarbeiter für ein bestimmtes Projekt austauschten. Wenn auf die Frage: „Ist Herr X dafür geeignet?“ die Antwort hieße: „Nicht besonders“, müsste man davon ausgehen, dass die betreffende Aufgabe jemandem anderen übertragen wird. Die Satzstruktur von F zeigt eine doppelte Brechung: eine erste bei „eigentlich nich“, eine zweite durch das „besonders“, als wolle er damit bekunden, dass er die Notwendigkeit, den Sinn des Sich-Zurückhaltens nicht einsehe, da er „eigentlich nich besonders“ aufbrausend sei.
Zweites Zwischenresümee Filip eröffnet seine Antwort auf die Frage nach dem Zeugnisspruch, indem er dessen Übergabe in eine kurze Episode fasst. Dieser Rekurs muss ihn gefühlsmäßig aufbringen, denn er bricht nach wenigen Worten ab und schöpft Atem, bevor er weiter spricht. Das nachfolgende Duzen der Interviewerin wird durch das emotionale Betroffensein von Filip motivierbar: Im Affekt verliert er die Distanz zu seinem wesentlich älteren Gegenüber. Ein „Sie“ aber basiert auf Distanz, setzt ein Minimum an Respekt und Achtung gegenüber dem Anderen voraus, so dass sich an dieser Stelle ein beziehungsreiches Korrespondieren mit dem Vers „keinen Schatten werfen auf Andere“ abzeichnet. Auch seinen ersten Deutungsversuch bricht Filip ab, unmittelbar nachdem er eine Unstimmigkeit des zweiten mit dem dritten Vers feststellt, deren metaphorische Ausdrucksgestalt er im Vergleich zur sinnlich wahrnehmbaren Welt als „so Gegensätze“ erlebt. Außer dem bloßen Konstatieren des Widerspruchs von „keinen Schatten werfen auf Andere“ und „im Schatten der Anderen leuch-
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ten“ zeigt Filip kein Interesse daran, sich den Text zu erschließen, weil er sich auf den Kontrast des dichterischen Bildes keinen Reim machen kann. Die Unvereinbarkeit von Metapher und sinnlicher Realität stößt bei ihm auf Ablehnung, die Filip damit begründet, er verstehe den entsprechenden Vers nicht. Zu berücksichtigen ist dabei, dass das Gedicht aufgrund der Bezugnahme der Interviewerin von Anfang an von der pädagogischen Funktion des Textes überschattet wird, der die Möglichkeit einer ästhetischen Erfahrung ins Abseits drängt. So ist Filips Interesse an dem, was das Gedicht ihm sagen könnte, belastet von der Zuschreibung seines Lehrers. In diesem Aspekt könnte die mit inhaltlichem NichtVerstehen begründete Ablehnung von Filip auch ein Kaschieren des eigentlich Abgewehrten sein: das ihm mit der Diagnose einer Passung zugeschriebene Gedicht bzw. dessen moralische Appelle. Hoch signifikant und begründungsbedürftig bleibt, warum er trotzdem fast ein halbes Schuljahr lang (Interview-Datum: 28. Februar) einen Text hinnimmt und in der gewohnten rituellen Rahmung auch sprachlich realisiert, über den er in eigenen Worten nicht mehr sagen kann oder will, als dass er ihn nicht verstehe. Zum Ausdruck kommt Filips Ablehnung allerdings auf der performativen Ebene: in der Art seines Sprechens (schnell, leise, innerlich unbeteiligt), das visuell und akustisch zum Vorschein bringt, was die Zuschreibung des Lehrers für Filip bedeutet. Signifikant ist danach auch das Spiel zwischen den Fragen der Interviewerin und den Antworten von Filip. Sie insistiert auf der Bedeutung der dichterischen Komposition („sich zurückhalten an“; vgl. 5 I); er antwortet konsequent in unmittelbarem Bezug auf sich selber, in Form der spontanen Selbstzuschreibung bzw. mit dem Zitat, dass er „nich immer so auf-brausend sein sollte“. Das Interview bewegt sich an dieser Stelle in unterschiedliche Richtungen und gerät zu einer Art absurden Kommunikation, in der die Spur, die Filip selber vom Gedichttext zu seinem Verhalten zieht, dennoch deutlich wird. Dass Filip sich spontan als „aufbrausend“ bezeichnet, deutet durch den Zusatz „immer so“ auf eine eher permanente Verhaltensweise, die er von sich kennt und in der etwas Unkontrolliertes, Heftiges, im übertragenen Sinne ein Sich-über-Andere(s)-Hinwegsetzen zum Ausdruck kommt. Das Erkennen (und Zugestehen) eines Zusammenhangs von Gedicht und eigenem Verhalten führt bei Filip zu einer Abwehrstrategie, die er nicht direkt zum Ausdruck bringt, sondern die sich auf der performativen Ebene (Sprechweise, inneres Unbeteiligtsein) ausspricht. Diese Abwehrstrategie wird motivierbar dadurch, dass Filip „den Spruch“ nicht – zumindest nicht öffentlich – als etwas zu sich Passendes anerkennt und seine derzeit generelle Interesselosigkeit an lyrischer Sprache zumindest teilweise verursacht. Seine Abwehrstrategie könnte auch im Konflikt zwischen Autonomie und Heteronomie (Lehrerzuschreibung) begründet sein: Die dem Text impliziten moralischen Appelle werden abgewehrt, weil sie nicht aus einem selbst-reflexiven Prozess hervorgegangen sind, sondern ihm gewisserma-
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ßen moralisierend oktroyiert wurden und so von ihm nicht als zu ihm passend anerkannt werden können. Die pointierte, amüsiert-ironische Konnotation seiner Selbstzuschreibung („auf-brausend“) drückt aus, dass Filip darüber mit sich im Reinen ist. So kann er auf die Frage der Interviewerin („tust du das?“) auch antworten, er selber („eigentlich“) empfinde nicht, dass er andere in besonderer Weise in den Schatten stelle („nich besonders“).
II. Analyse der folgenden Äußerungen zur Überprüfung der Hypothese 10 I: (1) im Schatten der anderen leuchten also das sind Gegensätze (,) die du mit denen du nichts anfangen kannst (F: nee (,) nich besonders) nee hat sich das auch nich verändert (F[ein Kopfschütteln andeutend:] kaum hörbare Verneinung, wie ein „mh“) (1) hast du mal den Herrn A gefragt (,) warum er dir den ausgesucht hat (’) (F: nee[.]) dann mach’s doch mal (F: joa kann ich machen [.]) (I schmunzelt hörbar) hmhm (,) (fragend:) wie war das früher (’) Nach einer kurzen Pause rekurriert I auf den Gedichttext, indem sie den letzten Vers zitiert und anschließend eine Art Resümee eröffnet („also“): „das“ seien Gegensätze und bezieht ihn (dem Text des dritten Verses entsprechend) auf einen Gegensatz von „im Schatten der Anderen stehen“ und „im Schatten leuchten“. Dann differenziert sie: „(Gegensätze,) die“ und wendet sich direkt an F („du“). Sie könnte nun sagen „die du nicht verstehst“ oder „nicht zutreffend findest“ o. ä. An dieser Stelle unterbricht sie ihren Satz jedoch und beendet ihn mit den Worten „mit denen du nichts anfangen kannst“. Mit der Wendung „etwas mit etwas anfangen können“ soll zum Ausdruck gebracht werden, dass jemand keinen Zugang hat zu einem Etwas (oder Jemand), keine Idee, wie er sich diesem Etwas oder Jemand nähern und eine Beziehung aufbauen könne. I sagt damit sinngemäß: „Dies sind Gegensätze, zu denen du keinen Zugang gefunden, keine Idee hast, zu denen dir nichts einfällt“, worauf F mit der Wendung „nee (,) nich besonders“ antwortet, hier jedoch im Sinne einer Bestätigung, etwa wie „nein, mit diesen Gegensätzen kann ich nicht besonders (viel) anfangen.“ Da F seine Antwort mit dem Wort „besonders“ abschwächt, ist es kein absolutes „Nein“. Rein sprachlich besteht damit eine potentielle Möglichkeit, dass F mit dieser Art von Gegensätzen doch etwas mehr als „nichts anfangen“ könne. In diesem Sinne ist auch das nachfolgende „nee“ von I ein Bestätigen des abgeschwächten Neins von F, etwa wie: „Nein, du kannst nicht besonders viel damit anfangen.“ Unmittelbar danach sagt sie im Sinne eines Bestätigung Erheischens, ob sich „das (= das Nicht-besonders-viel-anfangen-Können mit dieser Art von Gegensätzen) auch nich verändert“ habe. I eröffnet F hier eine neue Perspektive,
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indem sie auf eine mögliche Veränderung in dessen Einstellung (hier: mit Bezug auf Gegensätze in Gedichten) anspielt, so als wolle sie sagen: „Das eine waren die Gegensätze, mit denen du nichts anfangen konntest, das andere ist die Möglichkeit, dass sich das verändern könnte. Hat sich auch in dieser Hinsicht bei dir nichts anderes ergeben?“ F verneint mit einem kaum hörbaren „mh“ (begleitet von einem angedeuteten Kopfschütteln). Nun folgt eine kurze Pause, dann sagt I, durch die Stimmhebung am Ende der Sequenzstelle als Frage gekennzeichnet: „hast du mal den Herrn A gefragt (,) warum er dir den ausgesucht hat“. Damit konfrontiert sie ihren Interviewpartner in sehr direkter Form mit dem passiven Hinnehmen eines von ihm selbst als nicht verstanden bezeichneten Gedichtes und greift auf dessen ablehnendes Verhältnis zu einem (lyrischen) Text über, in dem indirekt (durch Appelle des Lehrers) problematische Seiten seines Verhaltens zur Sprache gebracht werden. F antwortet sofort mit einem uneingeschränkten „nee“. Damit bestätigt sich die Vermutung aus 3 F: Er hat seinen Lehrer nicht gefragt, stellt spontan auch nichts dergleichen in Aussicht, etwa durch eine Wendung wie „jetzt noch nicht“ o. ä. I gibt sich damit nicht zufrieden und fordert F direkt auf: „dann mach’s doch mal“, wobei das Wort „mal“ den Imperativcharakter von „mach’s“ abmildert, in dem Sinne, dass F seinen Lehrer „doch einfach einmal fragen“ solle. Damit eröffnet sie ihm die Möglichkeit eines zukünftigen „mal Machens (= Fragens)“, als wolle sie sagen: „Wenn du es bisher nicht gemacht hast, dann mach’s doch jetzt einfach mal!“ Dem setzt F ein gedehntes „joa kann ich machen [.]“ entgegen, womit er durch die unausgesprochene Implikation, er könne es auch lassen, sowie durch die Stimmsenkung Abwehr signalisiert, so als wolle er sagen: „Lassen wir das mal.“ I lächelt, bestätigt, dass sie gehört habe („hmhm“), und stellt dann die Frage (markiert durch die Stimmhebung), wie „das früher“ gewesen sei. Da sie weder bezeichnet, was sie mit „das“ meint, welchen Zeitpunkt sie mit „früher“ genau avisiert, könnte sie damit bei F Verunsicherung darüber auslösen, worauf er Bezug nehmen solle. Da sie ihn zuvor dazu aufgefordert hat, Herrn A zu fragen, warum dieser ihm den Zeugnisspruch gegeben habe, könnte F jetzt darauf Bezug nehmen und beispielsweise sagen: „Ja früher war das anders, da bin ich immer gleich zu ihm gegangen und hab ihn gefragt“ oder „da musste ich nicht fragen, weil ich keine Probleme mit Zeugnissprüchen hatte…“ oder er müsste I danach fragen, was mit „das“ gemeint sei. 10 F: früher (,) wie früher jetz ganz früher (’) Wie vorauszusehen war, ist F verunsichert. Er greift das letzte Wort ihrer Frage auf und will sich vergewissern, worauf genau I das „früher“ beziehe („wie früher jetz“). Das heißt für ihn steht zunächst die Klärung des Zeitpunkts – ob „früher“ oder „ganz früher“ – im Vordergrund. Motivierbar wäre dies unter der Imp-
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likation, es müsse sich bei „das“ auch weiterhin um das Thema Gedicht bzw. Zeugnisspruch handeln. Ausführlich formuliert könnte die Frage von F also lauten: „Wie meinen Sie das jetzt, meinen Sie ganz früher, in der ersten oder zweiten Klasse?“ 11 I: ja also bei den Zeugnissprüchen in den Jahren davor (.) I bestätigt(„ja“) und eröffnet ein Resümee („also“). Sie präzisiert den inhaltlichen Bezug („bei den Zeugnissprüchen“), eröffnet F einen größeren zeitlichen Rahmen („in den Jahren davor“), wobei mit „davor“ alle Zeugnissprüche von der ersten bis zur achten Klasse gemeint sein müssen. I will demnach wissen, wie „das“ beim Erhalt, beim Rezitieren, bei allem gewesen sei, was mit den Zeugnissprüchen in den Jahren davor zusammenhing („wie war das“). Sie fragt demnach nicht nur nach dem vergangenen Schuljahr, sondern nach einem längeren Zeitraum („den Jahren“). Da sie eine allgemeine Formulierung verwendet und nicht etwa von „wie war das für dich“ spricht, ist F an dieser Stelle nicht der unmittelbare Adressat der Frage von I. Dadurch hat auch er die Möglichkeit zu generalisieren und sie auf sich oder allgemein auf den gesamten Erfahrungshorizont seiner Klasse zu beziehen. 11 F: (1) ich hatte eigentlich immer lange (1) relativ lange (I: hmhm) (1) ab der ersten Klasse immer lange das is eigentlich der erste (,) (uv; „sonst“?) hatt ich immer so seitenweise (.) F fängt nach einer kurzen Pause bei sich selbst an („ich“) und sagt dann „ich hatte eigentlich immer lange“, eine Äußerung, die er nach einer weiteren Pause relativiert („relativ lange“). F gibt zwar keinen inhaltlichen Bezug an, doch sinngemäß und der Sparsamkeitsregel entsprechend müssen hier (er verwendet den Plural) die langen Zeugnissprüche gemeint sein. Danach überlegt er wieder und präzisiert, nachdem er sich zum Textumfang geäußert hat, den Zeitrahmen: „ab der ersten Klasse immer lange“. Er informiert uns also darüber, dass er ab dem Ende der ersten Klasse ausnahmslos („immer“) lange Zeugnissprüche „hatte“. Was er genau unter einem langen Zeugnisspruch versteht, sagt F nicht. Er verwendet auch nicht wie in 3 F das Wort „bekommen“, sondern das Hilfsverb „haben“ im Präteritum. Während in der Episode 3 F mehr die Situation der Übergabe im Vordergrund stand (wie er ihn bekommen hat), drückt F hier mehr den Aspekt des Habens aus, das im Besitz Sein eines ihm Zugeeigneten besteht, das der Persönlichkeit von F in einer gewissen Weise anhaftet und das einen handlungspraktischen Umgang in der Schule erzwingt (Auswendiglernen, Rezitieren, Zuhören, Korrigieren etc.). Ohne Unterbrechung schließt F an mit den Worten „das is eigentlich der erste“, wobei „das“ hier für die drei Verse des
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Kunze-Gedichts steht. Es folgt dann eine kurze Passage, deren Anfang aufgrund der leisen Sprechweise von F nicht hundertprozentig zu identifizieren ist, wahrscheinlich aber heißt es: „(sonst) hatt ich immer so seitenweise“. Nach dem Wörtlichkeitsprinzip müssen wir diese Äußerung von F so interpretieren, dass er in all den Jahren („immer“) vor der achten Klasse Zeugnissprüche gehabt habe („hatt ich“), die mehrere Seiten lang waren („so seitenweise“). 12 I (hörbar schmunzelnd:) erinnerst du einen (’) Durch die Stimmhebung ist markiert, dass I nach einem vermutlich dem Wort „seitenlang“ (und ihrem Insiderwissen) geschuldeten Schmunzeln hier danach fragt, ob F sich noch an „einen“ der Zeugnissprüche erinnern könne, wobei mit „einen“ die Möglichkeit der Auswahl aus mehreren vorausgesetzt ist. Dabei fragt sie nicht wie üblich: „Erinnerst du dich an einen?“, sondern verwendet – sehr verkürzt – die eher veraltete Genitiv-Form der Frage: „Erinnerst du dich des einen oder anderen Zeugnisspruchs?“ („erinnerst du einen“). Damit bringt sie F in die Bredouille, sich an Texte erinnern zu müssen, die aufgrund ihrer rituellen Rahmung mit negativ besetzten Erfahrungen verbunden sein können. 12 F: (3) äm (,) äh (2) so in etwa (,) aber ich krieg den Spruch nich zusammen (.) Nun muss F längere Zeit überlegen und mehrmals ansetzen („äm (,) äh“), nochmals eine Pause machen, bevor er sich mit „so in etwa“ aus der Affäre zieht. Auf ihre Frage („erinnerst du einen“) sagt F also nicht eindeutig „ja“ oder „nein“, sondern er lässt – das „Ja“ unterstellend – seine Antwort im Ungefähren, so als wolle er sagen: „Ich erinnere mich an einen, aber nur noch so ungefähr.“ Damit baut er geschickt einer möglichen Anforderung von I vor (z. B. dass F einen Zeugnisspruch rezitiere). Nach einer Zäsur eröffnet F mit einem adversativen „aber“ eine Art Vorsichtsmaßnahme, passend zu seinem vagen „so in etwa“. Dies könnte er nun beispielsweise fortsetzen mit „aber ich erinnere mich nur noch an den Anfang“ oder „aber genau weiß ich’s nicht mehr“. Man erwartet nun, dass F uns nachfolgend diese Vorsichtsmaßnahme bezüglich seiner Erinnerung an Zeugnissprüche konkretisiert und begründet. Er erklärt, er kriege „den Spruch nich zusammen“. Die Kombination von „zusammen“ und „kriegen“171 ist ein in der Alltagssprache häufig verwendeter Ausdruck im Sinne eines Zusammenbringens von Bruchstücken. Die Wendung „etwas zusammenkriegen“ deutet auf ein unmittelbar handlungspraktisches Tun. Etwas nicht zusammen kriegen drückt aus, dass der Handelnde unterschiedliche Materialien, Werkzeuge, Ge171 Etymologisch scheint „kriegen“ in der Bedeutung von „bekommen“ aus „›(sich) erkriegen‹ (siehe: Krieg) erklärbar zu sein“ (vgl. Kluge 2002: 539)
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genstände auch unter Einsatz von körperlicher Gewalt („Krieg“) nicht zu einem vollkommenen Gebilde gestalten kann. Die Äußerung von F bezieht sich auf seine Erinnerung, deren Bruchstücke er trotz aller Anstrengung nicht mehr so weit „zusammen krieg(e)“, dass er „den Spruch“ zusammenhängend vor I sprechen könne. F bezieht sich hier dezidiert auf „den“, also einen bestimmten der insgesamt sieben, und verwendet auch hier die verkürzte Form des Begriffs „Zeugnisspruch“ („Spruch“). Einzelne Worte, Wendungen oder auch mit dem rituell-performativen Kontext verbundene Erinnerungsfetzen mögen wie Teile eines Puzzles vorhanden sein, aber für F entsteht kein Gesamtbild daraus. Dies setzt ein gewisses Formgefühl bei F voraus und so viel Wertschätzung des betreffenden Zeugnisspruchs, dass er ihn vor I nicht lückenhaft oder sprachlich verzerrt vorbringen will. 13 I: das macht nichts du brauchst ihn ja nur sinngemäß zu sagen (.) I erklärt, „das“ (nämlich dass F den Spruch nicht zusammen kriegt) mache nichts, im Sinne eines abmildernden „es mindert für mich nicht den Wert deiner Erinnerung“. Sie schließt an mit der Aufforderung („du brauchst“), wobei sie diese mit „ja nur“ abschwächt. „Die heutige Bedeutung von brauchen entwickelt sich im 17. Jh. in verneinten Sätzen (›etwas nicht verwenden‹ = ›etwas nicht nötig haben‹)“ (Kluge 2002: 146). Demzufolge sagt I hier sinngemäß: „Es ist nicht nötig, dass du etwas anderes machst als ihn nur“; dann vollendet sie ihren Satz mit „sinngemäß zu sagen“. Ihr Anliegen ist also keine sprachkünstlerisch ausgefeilte Rezitation, sondern „nur“, dass F seine Erinnerungen „sinngemäß“ und sprachlich zu realisieren („zu sagen“) brauche. 13 F: (2) (insgesamt schwer verständlich:) also ich hatte mal einen von diesen (1) Göttern da diesen (1) Zeus und so (1) und dann (,) der letzte (1) und einen mit so’m Hürten und nem Feuer (I: hmhm) (1) äm (,) wie ging’n der (2) ach keine Ahnung (1) em das war der den hatt ich glaub ich jetz grad in der siebten der mit dem Hirten und (,) dem Feuer (I: hmhm) (,) oder in der sechsten (,) (einige Worte uv, vielleicht „aber zusammen krieg ich ihn jetz nich“) (wieder einiges uv) (I: bitte?) F überlegt einen Augenblick, bevor er sein Resümee eröffnet („also“). Bruchstückhafte Erinnerungen tauchen auf, wie etwas, was ihm längst unwichtig geworden ist. In den Worten „ich hatte mal einen“ kommt dies zum Ausdruck, als wolle er sagen „unter all den vielen, die ich vergessen habe, war doch mal einer, von dem ich noch was weiß“. Unscharf zeichnet sich ein Bild ab „von diesen“ – hier bricht F ab, als ob er die Figuren selber nur mühsam erkennen könne – dann fügt er hinzu „Göttern“. Diese Götter, von denen mal in einem Zeugnisspruch die Rede war, sind F nicht nah. Sie gehören zu „da diesen (1)“, zu „Zeus und so
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(1)“, fast wie zu einer etwas unliebsamen Verwandtschaft. Hier macht F wieder eine kurze Pause, bevor er sich an ein zweites Zeugnisspruchmotiv erinnert: „einen mit so’m Hürten und nem Feuer“. Mehrfache Unterbrechungen und das Fragewort („wie“) markieren, dass F nachdenkt und sich sotto voce fragt, wie etwas ging („wie ging’n der“), wobei sich „der“ sinnlogisch auf einen (vergessenen) Text beziehen muss. Das heißt, F versucht sich an den Wortlaut des Zeugnisspruchtextes zu erinnern. Nach einer weiteren Pause bricht er seine Suche jedoch ab mit einem „ach“ und setzt damit ein Signal des Beschließens, das mit der soziolektalen Wendung „keine Ahnung“ bekräftigt wird. Unsicher ist F auch mit Bezug auf die Klassenstufe, für die ihm der betreffende Zeugnisspruch („der mit dem Hirten und (,) dem Feuer“) gewidmet worden war, ob er ihn „jetz grad in der siebten … oder in der sechsten“ (d. h. 7. oder 6. Klasse; HH) gehabt habe („das war der den hatt ich glaub ich“). Da die Passage – wie die Nachfrage von I („bitte?“) zeigt – insgesamt und besonders gegen Ende nicht lückenlos eindeutig zu identifizieren ist, soll sie hier nicht weiter interpretiert werden. 14 F: ich merk die mir nich sonderlich (,) ich bin froh wenn ich die jeden Montag zusammen krieg (lacht kurz auf) (.) Nachdem I mit ihrer Rückfrage zum Ausdruck gebracht hat, dass sie F akustisch nicht genau verstanden habe („wie bitte?“), bekundet F: „ich merk die mir nich sonderlich (,)“. Auffallend ist zunächst die fast scharfe Distanz, die sich in der ungewöhnlichen Position von „die“ und „mir“ innerhalb der Satzstruktur ausdrückt. Nichts deutet darauf hin, dass „die“ (Zeugnissprüche) für die lebensweltliche Erfahrung von F derzeit von Relevanz wären oder eine Bereicherung darstellten. F verwendet mit „sonderlich“ ein eher veraltetes Wort und zeigt damit, dass er in einem familiären bzw. institutionellen Milieu aufwächst, in dem derartige Ausdrücke noch verwendet werden. Zudem lässt allein die Tatsache, dass F das Wort kennt und benutzt, auf eine gewisse Eloquenz bzw. einen Gout für außergewöhnliche Formulierungen schließen. Mit Bezug auf den Wortstamm („sonder“) geht der Ausdruck zurück auf „abseits, merkwürdig“ (vgl. Kluge 2002: 856-857). Die Äußerung von F ist demnach restriktiv und eine nähere Bestimmung zum Vorgang des Merkens. Damit sagt er: „Ich merke mir die Zeugnissprüche nicht besonders“, was den Umkehrschluss erlaubt: „Ich vergesse sie schnell.“ Ziehen wir dies mit 13 F zusammen, könnten die Worte „ich merk die mir nich“ an dieser Stelle eine Begründung von F sein für seine nur bruchstückhaften Erinnerungen, so als wolle er sagen: „Ich kann mich nur noch an Zeus oder einen Hirten und Feuer erinnern, weil ich mir die nicht merke.“ Die Frage ist nun, merkt F sich „die“ nicht, weil er ein schlechtes Gedächtnis hat oder weil die Zeugnissprüche emotional negativ besetzt sind?
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Es folgen eine Zäsur und dann der Satz „Ich bin froh wenn ich die jeden Montag zusammen krieg“. Signifikant ist die Wendung „ich bin froh“ als Ausdruck einer Gefühlsregung, die an dieser Stelle mit dem körperlichen Vollzug des Zeugnisspruch-Rituals zusammenhängt. Der Gebrauch des ordinalen Summativ-Artikels „jeden“ verweist auf ein Präzisieren der Aussage172: Es geht um „jeden Montag“, an dem F ein Gefühl von Erleichterung empfindet, „wenn ich…die, d. h. sinnlogisch die nicht besonders gemerkten Zeugnissprüche, zusammen krieg“. Wiederum spricht F hier von „die“ (an Stelle von z. B. „meine Sprüche“), was an dieser Stelle als umgangssprachliche Wendung nicht weiter auffallend wäre, aber in Verbindung mit dem Vorigen doch Ausdruck seiner Abgrenzung ist. Dass F an dieser Stelle wiederum die Kombination „zusammen kriegen“ verwendet (vgl. 12 F), ist insofern begründungsbedürftig, als im bisherigen Verlauf der Analyse ein aktuelles Interesse an Zeugnissprüchen bei F nicht nachgewiesen werden konnte. Mehrere Lesarten sind denkbar:
Erstens könnte sich damit die Lesart einer Art von Formgefühl bestätigen (vgl. 12 F), das F empfänglich dafür macht, dass bestimmte Dinge (z. B. Gedichte) nur in ihrer Gesamtheit wirken. Deshalb wäre F „froh“, diejenigen Teile seines Zeugnisspruchs, die in seinem Gedächtnis haften, zumindest so weit „zusammenzukriegen“, dass sie mit diesem Formgefühl übereinstimmen. Als zweite Lesart könnte die Äußerung von F auch schlicht bekunden: „Ich bin froh, wenn’s vorbei ist.“ Dazu würde das kurze Auflachen passen, mit dem F seinen Satz abschließt. Ziehen wir die vorige Äußerung „ich merk die mir nich sonderlich“ hinzu, kommt in der Distanz („die“) wie auch in dem einschränkenden „nich sonderlich“ zum Ausdruck „das ist für mich nichts Besonderes“ und macht eher die zweite Lesart stark.
In dieser zweiten Lesart reproduziert sich in F objektiv eine ähnlich passive Haltung wie weiter oben beobachtet: ein anscheinend widerstandsloses Hinnehmen (und sprachliches Realisieren) von (unverstandenen bzw. abgelehnten) Zeugnisspruch-Texten (vgl. erstes Zwischenresümee) und ergäbe auf die vorliegende Sequenzstelle bezogen eine Übereinstimmung mit der Fallstrukturhypothese. 14 I: (lacht mit, dann fragend:) (,) em gibt’s da Situationen (,) em die du erinnerst wie das am Anfang war (’) I stimmt in das Lachen von F ein und richtet anschließend eine Frage an ihn („gibt es da“). Die sparsamste Lesart ist nun, dass sie sich mit „da“ auf die Situation „jeden Montag“ bezieht (vgl. 14 F) und mit „Situationen“ auf die rituell172 Vgl. Weinrich 2005: 472
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performative Rahmung, sich merken von etwas o. ä. anspielt, was F an jedem Montag betrifft. Dabei unterbricht sie sich, sucht nach Worten („em“) und sagt dann: „die du erinnerst wie das am Anfang war“. Sie rekurriert damit auf ihre Frage aus 10 I („wie war das früher“), woraus sich eine Korrespondenz ergibt zu einer Formulierung aus der gleichen Sequenzstelle („mit der du nichts anfangen konntest“). Wiederum ist ihre Frage relativ unbestimmt („wie das…war“). Diese Unbestimmtheit bringt F einerseits in die Bedrängnis zu entscheiden, worauf er sich nun konkret beziehen solle; andererseits hat er die Möglichkeit, all das zur Sprache zu bringen, was mit der Situation am Anfang zusammenhängt. 15 F: also als ich ihn zum ersten Mal gesprochen hab (’) F wählt die zweite Anschlussmöglichkeit und eröffnet („also“) eine Art Rekurs, indem er spontan den Moment anvisiert „als ich ihn zum ersten Mal gesprochen hab“. Der Fragecharakter der Äußerung ist hier lediglich durch die Konnotation am Ende markiert. Filips Vorstellung von dem, was I von ihm erwartet, enthält noch einen Rest von Vagheit, die er ausräumen will. Dies wäre motivierbar im Falle der Vermutung von F, I meine mit „wie das am Anfang war“ den Zeitpunkt der ersten Rezitation seines Zeugnisspruches („ihn“). Er will sich also vergewissern und fragt sinngemäß: „Meinen Sie, als ich ihn zum ersten Mal..?“ 15 I: ja (,) ganz am Anfang (,) also in der zweiten Klasse (,) allererster Zeugnisspruch (.) I bestätigt („ja“) und präzisiert Zeitpunkt wie Inhalt nun in drei Schritten: Sie möchte von F etwas über die Situation 1. „ganz am Anfang“, 2. der „zweiten Klasse“, 3. mit Bezug auf den „allerersten“ Zeugnisspruch erfahren. Damit fordert I eine Erinnerungsleistung, die für einen Achtklässler problematisch werden könnte. F hat nun die Möglichkeit, auf das Begehren von I einzugehen oder es abzulehnen. 16 F (schluckt): ja ich hab irgendwie /… F schluckt und ratifiziert mit „ja“, dass er sich der Aufgabe stellen wird. Die Wendung „ich hab irgendwie“ bedeutet in der Umgangssprache, dass etwas Unbestimmtes („irgend“) auf diese oder jene Art und Weise („wie“) ausgedrückt werden soll. Die Einleitung „ich hab irgendwie“ kann sich umgangssprachlich auf das noch fehlende Prädikat beziehen, d. h. auf eine Handlung (beispielsweise: „ich hab irgendwie zu viel abgeschnitten“) oder auf ein Gefühl von Unwohlsein, Scham, Zweifel etc. (beispielsweise: „Ich hab irgendwie das Gefühl, ich hätte Fieber“). Sie kann auch absichtlich im Unbestimmten lassen
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wollen, zum Beispiel um Zeit zu gewinnen oder etwas vor anderen zu verbergen. So kommt auch in der Äußerung von F zum Ausdruck, dass die Situation „ganz am Anfang“ für ihn unbestimmt und mit Unsicherheit verbunden war. Eine Möglichkeit des Anschließens wäre nun, dass F sagte: „Ich hab irgendwie gedacht, ich kann das nicht“ oder „Ich hab irgendwie gemerkt, dass ich mich freue“. 17 F: die ganzen Sommerferien über /… F bestimmt als Zeitraum „die ganzen Sommerferien“, wobei das Wort „über“ andeutet, dass das mit „irgendwie“ ausgedrückte Unbestimmte und Unsichere von Dauer war, ein andauernder (Gefühls-)Zustand oder auch eine andauernde Tätigkeit, beispielsweise: „Ich hab irgendwie die ganzen Sommerferien über daran gedacht“ oder damit „gehadert“. 18 F: geübt und /… Sinnlogisch muss die über die gesamten Sommerferien sich hinziehende Tätigkeit des Übens entweder nur auf den ersten oder auch auf andere Zeugnissprüche bezogen und mit etwas noch nicht Bestimmtem (Folgen, Konsequenzen, Gefühlen etc.) verbunden gewesen sein („und“). 19 F: unheimlich Angst gehabt /… F sagt, er habe geübt, und verbindet die Tätigkeit mit einem Gefühl („und“) von unheimlicher Angst, die er damals gehabt habe („ich hab … gehabt“). „Angst“ hängt etymologisch zusammen mit „eng, bedrängend“, „Würgen“ sowie „Bedrängung“ (vgl. Kluge 2002: 45). Dieses Gefühl von F, es werde ihm quasi eng in der Kehle, er fühle sich bedrängt von etwas, was er noch nicht bestimmen kann, was aber „irgendwie“ mit seinem ersten Zeugnisspruch zusammenhängen muss und den Ausdruck „unheimlich Angst“ motiviert, die in ihm ausgelöst wurde. Mit dem Wort „unheimlich“173 drückt F präzise aus, dass er mit dem Zeugnisspruch-Ritual noch nicht vertraut, noch nicht „heimisch“ ist: Es könnte demnach sein, dass ihm der Text nicht gefiel, dass er vor der Aufgabe zurückschreckte, dass er die von seinem Lehrer erwünschte performative Anforderung „irgendwie“ nicht ausfüllen zu können befürchtete etc. Er könnte nun zum Beispiel anschließen: „dass ich beim Vortragen stecken bleibe“ oder „dass die Anderen mich auslachen“. 173 Zu „Ich bin froh“ vgl. Kap. 4.2. Fallrekonstruktion Moritz, Sequenzstelle 10 M, S. 189
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20 F: dass ich den irgendwie /… Mit „dass ich den“ verbindet F seine unheimliche Angst mit etwas, was von ihm ausgehen und entweder auf den Zeugnisspruch („den“) oder auf den Lehrer eine Wirkung ausüben bzw. Konsequenzen nach sich ziehen werde. 21 F: falsch sage (.) Die unheimliche Angst, die F „die ganzen Sommerferien über“ davor hatte, dass er „den irgendwie falsch sage“ wäre dadurch motivierbar, dass der Zeugnisspruch für die zweite Klasse der erste und von daher hoch emotional besetzt und aufregend für ihn war. Er hat demnach die Erfahrung, man könne in der Schule etwas „irgendwie falsch“ sagen, bereits so weit verinnerlicht, dass sich mit ihr das Gefühl einer „unheimlichen Angst“ verbindet. Etwas falsch zu sagen bezieht Filip hier aber nicht auf einen Lernstoff, sondern auf Worte, die der Klassenlehrer für ihn ausgesucht oder selbst gedichtet und ihm für das kommende Schuljahr zugesprochen hat. Diese von seinem Klassenlehrer ihm zugesprochenen und zugeeigneten Worte falsch wiederzugeben, Worte, nach denen er sich im kommenden Jahr richten, an denen er sich aufrichten kann (vgl. Kap. 1.4.2.), „irgendwie falsch“ zu sagen, aktualisiert in Filip spontan das Gefühl unheimlicher Angst, das er einst empfunden haben muss. Da er damals als zukünftiger Zweitklässler vor den ersten Sommerferien noch keine Vorstellung davon haben konnte, wie dieses Sagen sich abspielen, mit welchen Aufgaben und Ritualen es verknüpft sein werde, wurde ein unbestimmtes Gefühl („irgendwie“) in ihm ausgelöst, was sich als „unheimliche Angst“ seinem Gedächtnis einprägt und als solche erinnert wird. Ziehen wir dies zusammen mit der Frage aus 14 F, Lesart b), heißt dies, F merkt sich „die“ nicht „sonderlich“ nicht aufgrund eines schwachen Gedächtnisses, sondern weil „die“ für ihn latent noch mit dem Gefühl verbunden sind, er könne sie „irgendwie falsch“ sagen.
Drittes Zwischenresümee Während Filips Verhältnis zu Inhalt und Form seines aktuellen Zeugnisspruches ablehnend bleibt und er keine Ambitionen zeigt, sich auf den Text des KunzeGedichtes einzulassen, seinen inneren Gehalt zu erschließen oder durch ein Gespräch mit seinem Klassenlehrer Differenzen auszudrücken, wird in seinen Äußerungen zum ersten Zeugnisspruch seiner Schulzeit ein anderes Bild sichtbar. Hier ist es nicht ein achselzuckendes Hinnehmen einer vertrauten, mit Routine prozedierten Gewohnheit, sondern dieses Ritual soll erst eröffnet und gebildet werden.
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Filip kann sich darin noch nicht sehen, es wird ihm eng. Er empfindet „unheimlich Angst“ bei der Vorstellung, was da auf ihn zukommen wird. Das ihm Bevorstehende ist eine Art Initiation in einen Bereich, dessen unbekannte Vorgänge und Regeln nicht nur das Gefühl einer unheimlichen Angst, sondern auch Phantasien von „immer lange…immer so seitenweise“ zu lernenden Texten in ihm auslösen. Gleichzeitig wiegt der Zeugnisspruch als eine Art Geschenk seines Klassenlehrers so schwer, dass Filip „die ganzen Sommerferien über“ von dem Gefühl besetzt ist, diese Gabe „irgendwie falsch“ zu „sagen“, das heißt sie nicht in angemessener oder sozial erwünschter Weise zum Ausdruck bringen zu können. Filips augenblickliche Ablehnungshaltung lyrischer Sprache gegenüber kann demnach auch als Folge von über lange Jahre sedimentierten, belastenden Erfahrungen im Umgang mit Gedichten bzw. Zeugnissprüchen aufgefasst werden.
III. Sequenzen im Zusammenhang mit Lyrik im Fall „Gedichte“ Exkurs: Interpretation eines zweizeiligen Textes aus Goethes Sammlung „Sprichwörtliches“ Die von F gewählte Dichtung174 entstammt der Sammlung „Sprichwörtlich“ von Johann Wolfgang von Goethe und lautet: „Was gibt uns wohl den schönsten Frieden Als frei am eignen Glück zu schmieden.“
Es handelt sich hierbei nicht um ein Gedicht im klassischen Sinne, sondern um eine Dichtung, die Goethe selber der Rubrik „Sprichwörtliches“ zugeordnet hat. Das Metrum der beiden Verse ist ein durchgehender, nach dem vierten Versfuß verkürzter Jambus mit einem einfachen Paarreim am Ende. Mit dem ersten Wort („was“) erwartet man zunächst eine Frage, die sich beim Lesen des gesamten ersten Verses jedoch eher als eine Art Reflexion entpuppt. Das lyrische Ich spricht hier nicht aus der Position des Friedens nach einer kriegerischen Auseinandersetzung, sondern aus der mußevollen Haltung eines Menschen, der aus der Distanz eines bereits fortgeschrittenen Lebensalters nicht nur seine Biographie reflektiert, sondern sie zu einem allgemein menschlichen
174 I war vor dem Interview weder Text noch Autor des von F gewählten Gedichtes bekannt. Um mögliche Bezugnahmen von F im Verlauf der Analyse berücksichtigen zu können, sei dennoch eine kurze Interpretation des Gedichtes vorausgeschickt, von dessen Autor und Inhalt I allerdings erst nach dem Interview durch telefonische Nachfrage bei F Kenntnis bekam.
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Horizont erweitert („uns“) und in diesem Sinne nicht irgendeinen, sondern „den schönsten“ (von allen) Friedenszuständen findet. Rein sprachlich gesehen scheint der Superlativ „den schönsten Frieden“ nun nicht recht zum Beginn des zweiten Verses zu passen, der mit der Konjunktion „als“ einen Komparativsatz einleitet und damit einen Vergleich zum ersten Vers als dem übergeordneten Satz erwarten lässt. Sinn stiftet sich jedoch dann, wenn man den ersten Vers ergänzt: „Was ist es wohl (i. S. v. denn) sonst…als dies“. Diese hier eingefügte Passage hat Goethe in Rücksicht auf den Versfuß verkürzt, was der Antwort auf die Frage „Was gibt uns den schönsten Frieden?“ einen besonderen Akzent gibt: „als (dies:) frei am eignen Glück zu schmieden“. Damit deutet Goethe auf ein Thema, das für seine eigene Lebensführung von herausragender Bedeutung war: Freisein und Tätigsein, hier am Beispiel der Tätigkeit des Schmiedens. Das Adverb „frei“ steht an dieser Stelle nicht synonym zu „Freiheit“, meint nicht das Begrifflich-Abstrakte, sondern ist auszeichnendes Attribut des Tätigseins („schmieden“).175 In diesem Aspekt (und abgesehen vom pragmatisch begründeten „Zufallstreffer“) wäre motivierbar, dass F diese Dichtung gewählt hätte: Zentrale Frage und Entwicklungsaufgabe eines Jugendlichen ist das Entwerfen der eigenen Zukunft, des eigenen Glücks. Dies ist jedoch ein Zustand, der einem nicht zufällt, sondern den man bearbeiten, in diesem Falle schmieden, das heißt glühend machen, behämmern, gestalten muss, damit es zum eigenen Glück werde. Und dies muss „frei“ geschehen können, nicht vorgeschrieben, sondern so, wie das Individuum selber es will. „Frei schmieden“ ist hier Metapher für das Glück, das darin liegt, das Leben frei gestalten zu können. Das Komplizierte des Spruches liegt darin, dass das Ergebnis durch Tätigkeit erreicht wird. Der schönste Friede dagegen ist ein permanenter (idealer) Dauerzustand, der dem permanenten Tätigsein widerspricht. Goethes Sprichwort lässt also Fragen offen. Wann entsteht das Glücksgefühl? Erst am Ziel? Bereits im Zustand des Tätigseins? Ausschließlich in freier Tätigkeit? Im Sinne von ECO könnte man hier von einem „offenen Kunstwerk“ par excellence sprechen, das Anlass zu neuer Deutung bietet.
175 Wie in einem späteren Telefonat mit der Mutter von F bestätigt wurde, ist unter dem Text des Sprichwortes auf einem Porzellanteller die Signatur Goethes festgehalten.
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Fortsetzung der Analyse: 17 I: hmhm (,) und jetzt em (,) welches Gedicht hast du dir ausgewählt (1) für diese [individuelle Gedichtpräsentation (.) I eröffnet nach einer winzigen Zäsur einen nächsten Interakt („und jetzt em“). Sie fragt F danach, welches Gedicht er sich ausgewählt habe. Da sie hier den Begriff „Gedicht“ verwendet, ist nun nicht mehr „Lyrik als pädagogisches Instrument“ (Zeugnisspruch) thematisch, sondern Lyrik als literarische Kunstform. Ihre Frage impliziert, dass I von wem auch immer darüber informiert wurde, den Schülern stehe eine gewisse Anzahl von Gedichten oder verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, aus denen sie ihre Wahl treffen könnten. Nach kurzem Zögern setzt sie dazu an, das Wofür, also Sinn oder Zweck der Auswahl („für diese“) mitzuteilen. Dabei wird sie von F, bevor sie ihre Frage abschließen kann, unterbrochen. Man darf also gespannt darauf sein, welche Art von Aha-Erlebnis mit Bezug auf ein Gedicht für F so einschneidend war, dass dies ein Unterbrechen der I begründen könnte. 22 F: [für diese ähm] (2) [das hängt bei uns zu Hause an der Wand (,) F wiederholt, während I weiter spricht, eine Passage ihrer Frage („für diese ähm“); synchron dazu nennt I das Objekt, das sie interessiert („diese individuelle Gedichtpräsentation“). Da sie von F zuvor unterbrochen wurde, ist die hier markierte Pause von zwei Sekunden keine eigentliche Gesprächspause, sondern eine Art Platzhalter für die Worte „individuelle Gedichtrepräsentation“, mit denen I ihre Frage abschließt. Das Wort „individuelle“ weist darauf hin, dass diese Aufgabe in besonderer Weise auf die Individualität der Schülerinnen und Schüler abgestimmt und von diesen eigenständig zu bearbeiten sei. Dass I den für diese Aufgabe völlig unzutreffenden Begriff der „Präsentation“ einführt, wird bei F eher Verwirrung stiften, als ihre Frage präzisieren. F zögert („ähm“), er kann mit diesem Begriff hier nichts anfangen und weiß nicht recht, was I genau damit meint und von ihm erwartet. Klar ist ihm nur, dass es irgendwie mit seiner Aufgabe, ein Gedicht auszuwählen, zu tun haben muss. Er lässt also den Begriff „Gedichtpräsentation“ gesagt sein und bezieht sich auf das, was ihm in Verbindung mit dieser Aufgabe spontan einfällt: auf den Ort, an dem er „das“ (das Gedicht) gefunden hat („das hängt bei uns zu Hause an der Wand“). Gedichte, die „an der Wand hängen“, können Teil eines Kalenders sein oder sie sind als Sinnspruch auf einem gerahmten Blatt oder in Form einer Inschrift auf einer Kachel, einem Teller o. ä. gestaltet. Man findet sie selten in repräsentativen Räumen, sondern eher in der familiären Atmosphäre z. B. einer Küche, wo sie an Erfreuliches erinnern oder an ethisch hoch Stehendes mahnen sollen.
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Nicht eine sprachliche Verfremdung oder reizvolle Wortkombination, nicht eine irritierende Metapher ist es also, was F spontan im Zusammenhang mit dieser Aufgabe einfällt. Wie es auch bei der Frage des Zeugnisspruches Zeit und Vorgang der Übergabe war („als ich ihn bekommen hab“), ist es auch hier die konkrete Situation, an die F sich spontan erinnert: der visuelle Eindruck eines Tellers, der zu Hause an der Wand hängt. Es fällt ihm so en passant zu, was Anlass zu einer dezidierten Entscheidung hätte geben können. 23 F (sehr schnell hintereinander gesprochen:) das is so’n bla-bla-bla die-Erdeis-schön (.) Nachdem F uns zuerst davon in Kenntnis gesetzt hat, wo er sein Gedicht gefunden hat, will er nun erläutern, was „das is“, das heißt worum es sich entweder nach Inhalt oder Form dabei handelt. Er setzt an mit den Worten „das is so’n“. Umgangssprachlich wird diese Wendung häufig benutzt, wenn etwas mit einfachen Worten erklärt werden soll, wobei durch „so“ ein Vergleichsoperator zu erwarten ist. Beispielsweise könnte auf die Frage eines Kindes „Was ist denn ein Stick?“ die Antwort folgen: „Das ist so etwas wie ein Speicher, in dem man etwas aufbewahren kann.“ Die Sprechweise von F wird hier wieder ähnlich hastig und undeutlich wie zuvor bei der Rezitation des Zeugnisspruches. Ziehen wir hinzu, dass er durchaus in der Lage ist, verständlich zu artikulieren (vgl. 5 F), kann ein Zusammenhang zwischen Habitus und Sprechweise ausgeschlossen werden. Das folgende „bla-bla-bla“ ist Synonym für „leeres Gerede“ (vgl. Kluge, a.a.O., S. 128) und hat in der Regel eine deutlich pejorative Konnotation. Als umgangssprachliche Formel wird es etwa gebraucht, wenn jemand die Worte eines anderen nicht ernst nimmt, sie unsinnig oder uninteressant findet, kurz: eine Art akustisches Wegwerfen. Dadurch verstärkt sich die Vermutung, dass F weder am Inhalt „seines“ Gedichtes noch an der Aufgabe selbst wirklich interessiert ist. Dies manifestiert sich auch darin, dass er weder auf einen inhaltlichen Aspekt noch auf den Dichter referiert. Dass er das Gedicht dennoch auswählt, impliziert, dass seine Auswahl sich auf die Ebene von Zufallsbegegnungen beschränkt und ihm weder inhaltlich noch sprachästhetisch etwas bedeutet. Damit wird die in 22 F genannte Vermutung konsistent, dass F „sein“ Gedicht nicht nach persönlichen Kriterien ausgesucht, sondern aus rein pragmatischen Gründen (um sich der Aufgabe zu entledigen) in einer bestimmten Situation („zu Hause an der Wand“) quasi abgelesen habe. Vergegenwärtigen wir uns nochmals seine Antworten auf die Frage von I: Als erstes erwähnt F den Ort, an dem er das Gedicht gefunden hat („zu Hause an der Wand“); dann folgt die spontane Wertung „das is so’n bla-bla-bla“; schließlich die seltsame Kombination des „bla-bla-bla“ mit „die-Erde-is-schön“. Die Kombination eines derart abfälligen Ausdrucks („bla-bla-bla“) mit „die-Erde-
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is-schön“ wird vor allem dann hoch signifikant, wenn wir den Text vergleichen mit dem, wie er tatsächlich in den beiden Versen Goethes vorliegt. Signifikant ist weiterhin, dass F nicht den (geläufigeren) Ausdruck „die Welt ist schön“ verwendet, sondern er spricht spontan von „Erde“, was an dieser Stelle eine subtile, wenn auch latente Spur zu seinem Zeugnisspruch freilegt („sich zurückhalten an der Erde“). Riskant könnte man aus dieser spontanen Anspielung schließen, dass sich für F in der Kombination von „bla-bla-bla“ und „die-Erde-is-schön“ die Verflochtenheit von lyrischer Sprache als Kunstform und als pädagogischem Instrument reproduziert. Letzteres überlagert die Kunstform Gedicht und ist für F – wie sichtbar – ein und dasselbe „Bla-bla-bla“. Dies motiviert ihn nicht dazu, seine Aufgabe als eine Gelegenheit zur Selbst-Identifikation mit einem lyrischen Text zu nutzen.
Viertes Zwischenresümee Aus den bisherigen Rekonstruktionen bestätigt sich die Strukturhypothese einer zumindest gegenwärtig bei Filip vorliegenden Interesselosigkeit an lyrischer Sprache, einer augenblicklichen Abwehr ihrer Autonomie und Eigenlogik. Evident wird dies daran, dass Filip bei der Aufgabe, ein Gedicht zu suchen, das ihm gefällt oder zu ihm passt, nicht die Gelegenheit ergreift, sich quasi selbst ein Gedicht zuzuschreiben, das heißt bewusst eine eigene Passungsdiagnose zu stellen. Dass Filips Interesselosigkeit, seine Ablehnung auch eine Folge seiner Diskrepanzerfahrung im Zusammenhang mit der Lehrerzuschreibung sein kann, muss dabei allerdings berücksichtigt werden. In diesem Aspekt wären beide Haltungen, seine Interesselosigkeit wie auch seine Ablehnung, nicht nur als eine Form von Distanznahme, sondern auch als Selbstbehauptung aufzufassen. Ein Gedicht, das zu finden der Aufgabe des Lehrers entsprechend als eine individuelle Gelegenheit zur Selbst-Identifikation, als eine persönliche Art der Zueignung gedacht war, scheint Filip nicht wichtig zu sein, denn es geht diesem Finden weder eine bewusste inhaltliche Suche, noch eine „Liebe auf den ersten Blick“, noch auch eine Irritation in der Begegnung mit einem lyrischen Text voraus. So bleibt die Aufgabe für Filip bisher völlig belanglos, er hat den Text gewissermaßen „aufgelesen“. Die abfällige Floskel, mit der er „sein“ Gedicht einführt, deutet darauf hin, dass er sich über die Aufgabe eher lustig macht bzw. sich durch Ironisierung wiederum in Distanz begibt. Lyrische Sprache ist auch als Kunstform (und ohne eine damit verbundene pädagogisierende Absicht) demnach augenblicklich nichts, was Filip interessiert und zu seinem Thema machen will. Aus welchen Gründen auch immer scheint es nicht gelungen, Filip auf ihre außeralltäglichen Ausdrucksformen neugierig zu
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machen: Seinen Äußerungen nach sind sie für ihn entweder unverständlich, widersprechen der Realität oder verkommen zum bloßen „Bla-bla-bla“. Die bisherige Analyse ließe sich in die These zusammenfassen: Die Verbindung von Blabla-bla mit „die Erde ist schön“ ist die Formel, mit der Filip seine derzeitige Interesselosigkeit ausdrückt und die Bedeutung von Gedichten sowie – durch den latenten Bezug zur „Erde“ – auch seines Zeugnisspruchs aberkennt. 24 F: (lacht kurz) (1) (weiterhin schnell:) aber von wem das is und wie das heißt weiß ich jetz noch nich ich hab’s nur gesehn und mal (uv; ?einmal?) gelesen und hab gedacht och /… F lacht kurz auf, als ob der Titel ironisch gemeint sei oder als ob er sich über den von ihm eingeführten Gedichttitel amüsiere. Nach einer Pause wird mit „aber“ ein Gegensatz zu dieser ironisch-amüsierten Äußerung aufgebaut, indem F sagt, er wisse weder den Dichter („von wem das is“), noch die Gedichtüberschrift („wie das heißt“). Dabei stellt er mit „jetzt noch nich“ die Möglichkeit in Aussicht, dass er dies auf Wunsch jederzeit noch ermitteln könne. Das Verfahren seiner Gedichtauswahl schildert F nun in drei Stufen: 1. er habe es „nur gesehn“, 2. „mal gelesen“ und 3. „gedacht och“. Die drei Tätigkeiten sehen, lesen und denken vollziehen sich fast im selben Augenblick, denn „nur gesehn“ und „mal gelesen“ werden zeitlich fast identisch gewesen sein. Das Ende des kurzen Prozesses ist ein spontanes „och“. Die Interjektion „och“ ist als Wortart „nicht eindeutig zu klassifizieren“ (vgl. Homberger 2003: 232). An dieser Stelle ist sie ein Ausdruck, der zwischen Gefühlen und Gedanken oszilliert: F steht unter dem Druck, eine Aufgabe für den Unterricht erfüllen zu müssen. In einem bestimmten Augenblick fällt sein Blick wie zufällig auf etwas „an der Wand“, was ihm täglich begegnet („zu Hause“). Obwohl dieses Etwas sich nicht verändert hat, sieht F in ihm nun etwas Neues, nämlich ein Objekt, das ihm seine Aufgabe erleichtern könnte („ich hab’s nur gesehn“). Deshalb liest er es flüchtig („mal“ oder „einmal“) und denkt „och!“. Mit diesem „och“ drückt F seine Erleichterung über den glücklichen Zufall aus. Der Gedanke, der dem Ausruf vorausging („und hab gedacht“), könnte in die Worte gefasst werden: „Och, da ist die Aufgabe ja schon gelöst!“ 25 F: is eigentlich ganz schön das nehm ich (I: hmhm) (,) aber ich hab’s jetz noch nich aufgeschrieben und mich mal näher damit befasst (.) Indem F uns mitteilt, er finde das Gedicht „eigentlich ganz schön“, bezieht er in das bisher eher pragmatische Verfahren seiner Gedichtauswahl die emotionale Ebene mit ein. Dabei drückt er sich ähnlich aus wie jemand, der von einer für ihn nicht weiter belangvollen Sache spricht. Auch hier deutet „eigentlich“ auf ein
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Relativieren des Gesagten: Das Objekt ist „schön“, und doch nicht ganz, d. h. „nicht vollkommen schön“, und es ist dies auch nur „eigentlich“, es gibt also eine doppelte Einschränkung. F fügt hinzu, dass er es „jetz noch nich aufgeschrieben“, sich mit seinem Inhalt nicht „mal näher befasst“ habe. Wie in 24 F beschreibt er den gegenwärtigen Zustand („jetzt“) und räumt damit implizit ein, dass er dies nach Bedarf tun könne. Sich „mit etwas befassen“ geht zurück auf „fassen“ im Sinne eines Festhaltens. Es bedeutet im übertragenen Sinn, dass jemand einen Inhalt auf sich wirken lässt, gründlich bedenkt, um ihn begrifflich fassen, verstehen zu können. Dies ist nach Aussage von F bisher noch nicht geschehen. Damit bestätigt sich, dass sein erleichtertes „och“ nicht dem Gedichtinhalt gelten kann, sondern lediglich der gelösten Aufgabe. 18 I: hmhm also es is jetzt nich was was du (,) em aus einem aus einer großen Sammlung gesucht hast sondern es war’n zufälliger Treffer[ I eröffnet („also“) eine Art einer die Verneinung unterstellenden Kontrollfrage: „es is jetzt nich was was du“, im Sinne von „also das war es nicht“ – hier unterbricht sie sich, wie nach Worten suchend – und ergänzt „aus einer großen Sammlung gesucht hast“. Damit setzt sie stillschweigend voraus, dass eine solche „bei uns zu Hause“ (worauf F sich bisher bezogen hat) auch existiere. Sie bringt damit eine Frage zum Ausdruck, als ob sie sagen wolle „Wenn es das nicht war, was war es dann?“, die sie bestätigt wissen will. Indem sie „suchen“ mit der eher lockeren Wendung „war’n zufälliger Treffer“ kontrastiert, wird aus der Frage eine latente Vermutung, als wolle sie sagen: „Da du nicht gesucht hast, ist dir deine Aufgabe offensichtlich nicht wichtig.“ Dies drückt sich auch in der unterschwelligen Gewichtung aus, die I vornimmt: In die eine Waagschale legt sie das Suchen, d. h. etwas, was mit einem gewissen Aufwand verbunden und daher ernst zu nehmen wäre. In die andere Waagschale kommt der „Treffer“, d. h. ein Begriff, der durch das Attribut „zufällig“ mit Glücksspielen in Verbindung steht, bei denen Treffer immer zufällig sind und auf keinen Fall als kreative Leistung gewichtet werden können. Durch diese unterschwellige Bewertung bringt sie F in die prekäre Situation, seinen „zufälligen Treffer“ verteidigen oder entschuldigen zu müssen. An dieser Stelle wird sie von F unterbrochen. 26 F: [joa (,) genau (,) ich wollt eigentlich grad im Internet kucken (,) und dann hab ich was aus der Küche geholt und da hing dann an der Wand (,) dieser ekleine Porzellanteller wo das Gedicht drauf stand (I: hmhm) (,) hängt (,) an der Wand (.) Als I den Begriff „zufälliger Treffer“ einführt, hakt F ein – sich weder entschuldigend noch verteidigend – mit einer Bestätigung ihrer Vermutung, dass er das
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Gedicht nicht gesucht oder – wie man aus dem ihm vertrauten Ort schließen könnte – längst gekannt und deshalb gewählt, sondern tatsächlich zufällig getroffen habe („joa (,) genau“). Nun beschreibt F – wiederum in eine Episode gekleidet – den weiteren Prozess. Demnach war es nicht so, dass F sich im Zusammenhang mit seiner Aufgabe zuerst an den Teller erinnert hätte (im Sinne von „da gibt es doch in der Küche diesen bewussten Teller mit dem Gedicht, das könnte ja passen“), daraufhin in die Küche gegangen sei, um sich den Text zu vergegenwärtigen. Die Episode, die F nach einer kleinen Zäsur fast akribisch schildert, zeigt vielmehr einen anderen Weg: Zunächst teilt er mit, „ich wollt eigentlich grad im Internet kucken“, womit rein sprachlich nicht zwingend gesagt ist, dass F dort nach einem Gedicht habe suchen wollen. Der nächste Schritt ist, dass er sich „was aus der Küche geholt“ hat, wobei „was“ – da F es nicht spezifiziert – hier an Stelle von „etwas“ stehen müsste. Durch dieses schrittweise auf ein Ziel Zuführen entsteht der Eindruck eines im übertragenen Sinne „heuristischen“ Erlebnisses: „und da hing dann an der Wand (,) dieser e-kleine Porzellanteller wo das Gedicht drauf stand“. Das heißt, erst in der Küche beim Anblick des Tellers an der Wand sei ihm – wie zum ersten Mal – aufgefallen, dass darauf ein Gedicht geschrieben stehe („drauf stand“). Das permanente Übersehen eines Gegenstandes, an dem F fast täglich vorbeigeht, könnte nun begründet sein unter der Prämisse, dass der Teller an der Wand zu jenen Wahrnehmungsinhalten gehört, die sich aufgrund ihrer Häufigkeit und Alltagsvertrautheit abnutzen und aus dem Bewusstsein entschwinden. Dies hätte dann der Fall sein können, wenn F sich zuerst an den Teller erinnert hätte und mit dem Ziel, den Text nachzulesen, in die Küche gegangen wäre. Da dies aber nicht der Fall war, sondern F das Gedicht tatsächlich im Sinne eines Aha-Erlebnisses quasi vom Teller an der Wand „abgelesen“ hat, könnte diese Blitz-Entscheidung auch durch den Druck motiviert sein, dass F die Aufgabe erfüllen muss, die sein Lehrer ihm gegeben hat. Wie zufällig sieht er den Teller, liest flüchtig über den Text und entscheidet spontan: „Das ist’s!“ Dies stimmt überein mit seinen Äußerungen aus 24 F und 25 F (gesehen, gelesen, gedacht och!, nicht aufgeschrieben, mich nicht näher damit befasst). Nach seinen letzten Worten („wo das Gedicht drauf stand“) und einer weiteren Zäsur unterbricht F sich jedoch und sagt, durch kurze Zäsuren das Wort akzentuierend: „hängt (,) an der Wand“. Damit korrigiert er die konsequente Verwendung des Präteritums, die zuvor durch das episodenhafte Erzählen motiviert war, die im Permanenzaspekt jedoch unangemessen wäre. Damit nicht der Eindruck erweckt werde, er sei schon aus dem Elternhaus ausgezogen, weist F darauf hin, dass der betreffende Teller derzeit immer noch an der Wand hängt. Es ist diese kaum merkliche Korrektur des Präteritums, durch die evident wird, wie präzise F auf der Ebene der Realität mit Sprache umgeht, während ihm mit Bezug auf seinen Zeugnisspruch schon die erste Unstimmigkeit (Selbst- und Fremdbild; Text und Zuschreibung) genügt, um sich zurückzuzie-
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hen. Hier spricht er auch nicht einfach von einem Teller, sondern sagt „der kleine Porzellanteller“. Diese sprachliche Präzision zeigt, dass Sprache generell für F keineswegs gleichgültig ist, sondern dass es die rätselhaften Bilder und Verfremdungen der Lyrik sind, zu denen er keine Beziehung hat, denen er sich zumindest jetzt nicht annähern kann oder will. Die sprachliche Präzision richtet sich bei F nicht auf lyrische Qualität, sondern ist seiner Realistik geschuldet. In diesem Aspekt wird motivierbar, dass er die Aufgabe, ein passendes Gedicht für sich zu suchen, so unaufwendig wie möglich betreiben will: Er erwartet keine „Passung“ zwischen sich selber und einem Gedicht. Fünftes Zwischenresümee Wie explizit Filip sich von seiner Aufgabe distanziert, zeigt die Charakterisierung („Bla-bla-bla-die Erde is-schön“), mit der er sein Gedicht einführt, und das nachfolgende kurze Auflachen, das dieser Einführung folgt. Die Erfahrung, lyrische Sprache könne dazu führen, in Inhalt oder metaphorischer Form sich selber oder ein Stück Welt zu entdecken, macht Filip derzeit nicht. Darum reizt es ihn auch nicht, einen lyrischen Text auf sich wirken zu lassen, sich mit ihm zu befassen und ihn sich anzueignen. In dieser Hinsicht könnte seiner Äußerung zugestimmt werden: Er versteht lyrische Sprache nicht, und durch die früh erfahrene Pädagogisierung erweckt sie in ihm im Moment auch nicht die Neigung, sich ihr anzunähern. Dass Filip die zeitliche Differenz zwischen „hing an der Wand“ und „hängt an der Wand“ registriert und seiner realen Situation entsprechend ausdrücken will, ist einerseits seiner Realistik und dem Bedürfnis nach sprachlicher Präzision geschuldet. Es könnte andererseits auch ein latenter Ausdruck des frühadoleszenten Status von Filip sein, der geprägt ist von Ambivalenz- bzw. Differenzerfahrungen, von wechselnden Perspektiven, von Autonomie- und Heteronomiestrebungen.
IV.: Sequenzstellen der Verdichtung der Fallstrukturhypothese 19 I: isses von nem berühmten Dichter (.) Indem I von einem Dichter spricht, bezieht sie sich hier auf einen historischen Kanon der sprachlichen Kunstwerke und will wissen, ob es („isses“ für „ist es“) von einem „berühmten Dichter“ sei. Sie stellt damit eine Art Ranking-Liste auf von den berühmtesten bis hin zu den unbekannten Dichtern und setzt voraus, dass F sich in dieser Hierarchie auskenne bzw. über Kriterien verfüge, die Berühmtheitsfrage authentisch entscheiden zu können. Ihre Formulierung geht hier
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in Richtung einer „Wissensfrage“: Sie spricht (wie auch in 18 I) aus der Perspektive einer Lehrerin in ihrer Aufgabe als Wissensvermittlerin, adressiert F als Schüler und riskiert damit, dass er dieser Anforderung (das können zu sollen) nicht gewachsen ist. 27 F: (2) also ich glaub so’n (,) mittelmäßig berühmter (1) (fragend:) aber der Name (?uv?) (,) kam mir jetz grad (?nich?) ich weiß jetz nich’ch hab keine Ahnung (schmunzelt hörbar) (,) (lauter werdend:) ich hab’s nur einmal gelesen (,) ich dachte jaa es is ganz schön das Gedicht och nimmst das (.) Nach einer Pause eröffnet F seine Antwort („also“). Dass er sich auf dem von I erfragten Gebiet seiner Sache relativ unsicher ist, bringt er mit dem Satz „ich glaub“ zum Ausdruck. Eher beiläufig („so’n“ d.h. „so ein“) setzt er nach kurzem Zögern hinzu, der Dichter sei „so’n mittelmäßig berühmter“, einer von vielen, die man bildungsmäßig kennen sollte. Die Wendung „mittelmäßig berühmt“ ergibt allerdings wenig Sinn, denn entweder ist jemand berühmt oder er ist es nicht. „Mittelmäßig“ deutet an dieser Stelle eher darauf, dass der Ausdruck der „Wissensfrage“ von I geschuldet ist, die F in die Position eines Schülers gebracht und bei ihm dadurch Unsicherheit ihr gegenüber (als einer Expertin) ausgelöst hat. Diesem Dilemma entzieht sich F durch einen gewitzten Stabilisierungsversuch: Da I eine Art „Lehrerfrage“ stellt, antwortet F als „Schüler“, der bestehen will, indem er seine Antwort im Ungewissen lässt („ich glaub“) und sich mit einem „Jein“ (d. h. weder „ja, er ist berühmt“, noch „nein, er ist nicht berühmt“) aus der Affäre zieht. Würde F die Frage von I bloß abwehren und das Thema abschließen wollen, hätte er sagen können: „Ich weiß es nicht“. Nach einer weiteren Zäsur kündigt F mit einem adversativen „aber“ einen Gegensatz an: Auf der einen Seite befindet sich das, was er nur glaubt (die mittelmäßige Berühmtheit), dem er nun etwas gegenüberstellen müsste, was er ganz sicher entweder oder nicht weiß. Da die folgende Passage außer den Worten „kam mir jetz grad“ (bzw. „kam mir jetz grad nich“) nicht sicher zu identifizieren ist, kann hier nur festgehalten werden, dass die Frage, ob X ein berühmter Dichter sei, ihn innerlich noch nicht loslässt. Man kann also nur annehmen: Falls F den Namen wüsste, hätte er ihn genannt. Vermutlich wollte er sinngemäß sagen: „Das Ausmaß seiner Berühmtheit glaube ich (ungefähr) zu wissen, aber der Name fällt mir nicht ein („kam mir jetz grad nich“).“ F vermeidet auch hier ein klares „ich weiß es nicht“, was motivierbar wäre mit Blick auf sein Selbstwertgefühl, das aufgrund seiner Unsicherheit (weil er den Dichternamen nicht weiß) eine Irritation erfahren hätte, oder auf sozial erwünschtes Verhalten: Er hat gemerkt, dass I die Frage wichtig ist und will ihr einen Gefallen tun. In dieser Lesart lässt F mit „kam mir jetz grad nich“ durchblicken, er wisse den Namen wohl,
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komme („kommt mir“) im Augenblick („jetz grad“) aber nicht darauf, so als wolle er sagen: „Ich weiß ihn schon, aber er fällt mir jetzt grade nicht ein“. F wiederholt hier die Strategie, die er schon früher verfolgt hat: Etwas, was er „jetz noch nich“ weiß, womit er sich noch nicht befasst hat, wird als Möglichkeit in Aussicht gestellt (vgl. 24 F und 25 F). Die hörbare schmunzelnde Konnotation seiner folgenden Worte („ich weiß jetz nich’ch hab keine Ahnung“) zeigt, dass das Nicht-Wissen auf diesem Gebiet für F etwas Normales bzw. Spiegel seines augenblicklichen Desinteresses ist, womit er nicht hinter dem Berg halten muss. Damit kann die erste Lesart (Irritation des Selbstwertgefühls) ausgeschlossen werden. Die dynamisch akzentuierte Äußerung „ich hab’s nur einmal gelesen“ wird durch das eingefügte „nur“ zu einer Art Begründung dafür, dass F den Dichternamen „jetz nich“ weiß, so als wolle er sagen: „Ich weiß ihn nicht, denn ich hab’s ja nur einmal gelesen.“ Am Ende dieser Sequenzstelle wiederholt F fast wörtlich seine Worte aus 24 F und 25 F („ich dachte jaa es is ganz schön das Gedicht och nimmst das“) und gibt Aufschluss darüber, dass es sich bei der nur einmal gelesenen Dichtung um das Gedicht auf dem kleinen Porzellanteller handelt. Dieses wiederholte „ich hab’s gesehen, gelesen, gedacht“ ist die Quintessenz dessen, was F auf die Frage von I zu seinem Gedicht „sagen kann“ (vgl. 2 I) Ein affektives oder ästhetisches Berührtsein kommt trotz der Attribuierung „schön“ nicht zum Ausdruck, denn sie wird relativiert durch das Wort „ganz“, vor allem aber durch den spontanen Gefühlsausdruck „och“, der dem Entschluss von F („nimmst das“) vorausgeht und eine gewisse Erleichterung über die gelöste Aufgabe markiert. An den Namen des Dichters erinnert er sich nicht, er kann ihm also nicht sonderlich wichtig gewesen sein. Vermutlich waren eher pragmatische Gründe ausschlaggebend für Filips Wahl: weil das Gedicht kurz war, weil es mit einem Minimum an Aufwand möglich war, es auswendig zu lernen und sich „mal“ damit zu befassen. 20 I: hmhm genau (.) I hat verstanden, was F gesagt hat („hmhm“). Das nachgeschobene „genau“ wäre als Bekräftigung dieses Verstehens unpassend und kann hier auch nicht als Einverständnis mit dem Urteil von F über sein Gedicht gemeint sein („es is ganz schön“), da I weder dessen Inhalt noch der Autor bekannt ist. Es deutet eher darauf hin, dass sie sich eine Vorstellung darüber gebildet hat, wie der „Schüler“ F mit seiner Aufgabe, ein zu ihm passendes Gedicht zu suchen, umgehe. Dies resümiert sie hier, so als wolle sie sagen „genau so wird’s gewesen sein“. Nehmen wir ihre Worte aus 18 I hinzu („es war’n zufälliger Treffer“), drückte sie damit aus: „Genau so habe ich mir das vorgestellt: Es war kein ernsthaftes Suchen, sondern Zufall; er nimmt die Sache nicht ernst!“
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21 I (fragend:) (,) und der Herr A war einverstanden (’) Mit ihrer Frage, ob der Lehrer mit der Wahl von F „einverstanden“ gewesen sei, zeigt sich, dass I noch immer aus der Position einer Lehrerin spricht, die die Leistung eines Schülers (F) kritisch beurteilt. In dieser kritischen Haltung weiß sie sich mit ihrem Kollegen („der Herr A“) unausgesprochen einig und drückt dies in der Form einer Kontrollfrage aus, so als wolle sie sagen: „Und der Herr A war damit einverstanden, dass du dir so wenig Mühe gegeben hast?!“ Ihre Frage bezieht sich also nicht auf das Gedicht, sondern auf das Lernverhalten von F und erweist sich als implizite „Parteinahme“ für den Lehrer. I knüpft nicht an ihre ursprüngliche Frage aus 17 I an, um z. B. etwas darüber zu erfahren, was an dem Gedicht für F reizvoll ist, sondern es reproduziert sich jene Form des „Frontalangriffs“ aus 9 I („tust du das“), der F wiederum in die Situation bringt, mit „ja/nein/vielleicht/“ o. ä. zu antworten oder ihrer Kontrollfrage auf andere Art auszuweichen. 28 F: (1) ja ich hab ihn jetz noch nich gefragt (,) aber (,)/… F überlegt einen Augenblick. Das kurze „ja“ ist an dieser Stelle eher resümierend, im Sinne von „also“, denn es folgt unmittelbar danach die Äußerung, er habe ihn „jetz noch nich“ gefragt. Aus der Lesart eines Bejahens ergäbe sich der Widerspruch, dass F das Einverständnis des Herrn A voraussetzte, ohne ihn vorher zur Sache befragt zu haben. Hier könnte die anschließende Wendung „jetz noch nich“ Aufschluss geben: Zum einen kann die Zeitperspektive von F im Vordergrund stehen, indem F vom Jetzt aus in eine offene Zukunft schaut, so als wolle er sagen: „Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit.“ In diesem Aspekt hätte die Frage von I, ob sein Lehrer einverstanden gewesen sei, F dazu motiviert, mit dem „jetz noch nich“ zugleich ein implizites „aber“ anzukündigen. Eine von dieser Lesart leicht abweichende Option wäre mit der Prämisse der Unverbindlichkeit von F in Bezug auf das Fragen gegeben. In diesem Sinne hätte „jetz“ den Charakter eines Vagen, Unbestimmten, so als wolle er sagen: „Ich habe ihn jetzt noch nicht gefragt, ich könnte es aber mal machen.“ Es würde sich darin eine Strategie reproduzieren, die F bereits an früheren Stellen des Interviews verfolgt (Handlungen vage in Aussicht stellen; vgl. 24 F und 25 F). Von Zäsuren unterbrochen schränkt F diesen augenblicklichen Zustand („jetz“ im Aspekt von „ich werde“ oder „ich könnte ihn fragen“) ein mit „aber“, was an dieser Stelle eine adversative Funktion zu „ja“ hat (siehe Anfang des Segments) und damit eine gegensätzliche oder abweichende Äußerung von F erwarten lässt, als wolle er sagen: „Aber selbst wenn ich ihn fragte.“ F müsste nun die Konsequenz des gegebenen Falles „wenn“ mitteilen.
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29 F: das is eigentlich’n ganz normales Gedicht /… F beurteilt „das“ (gemeint ist das Sprichwort von Goethe) als „eigentlich’n ganz normales Gedicht“. Das Wort „normal“, ursprünglich ein Lehnwort aus dem Lateinischen mit der Bedeutung ›Richtschnur, Regel‹ (vgl. Kluge 2002: 656), wird umgangssprachlich häufig im Sinne von „der Konvention, der Alltagspraxis entsprechend“ verwendet. Ziehen wir die umgangssprachliche Bedeutung der Wendung „ganz normal“ zusammen mit der absoluten Textunkenntnis von F und – wie weiter oben ausgeführt – seiner generell distanzierten und uninteressierten Haltung mit Bezug auf Lyrik, heißt „’n ganz normales Gedicht“ etwa: „Das hat eine sprachliche Form (oder zwei Verse) und es reimt sich.“ Dieses verallgemeinernde Signalisieren von Normalität ist ein impliziter Hinweis, dass F weitere Kontrollfragen der I abwehren will. 30 F: (,) da (,) muss er mit einverstanden sein da gibt’s kein (1-2 Worte uv; höchst wahrscheinlich: „Problem“) mit dem Gedicht (.) Wiederum unterbrochen von Zäsuren befindet F, dass „er“ (sein Lehrer) damit einverstanden sein müsse, im Sinne von „ich habe die Aufgabe doch erfüllt: ich habe ein Gedicht“. Unmittelbar darauf fügt er eine Art Beschließung hinzu, die leider nicht hundertprozentig zu identifizieren ist. Höchst wahrscheinlich sagt F in dieser Sequenzstelle, es gebe „da“ kein Problem „mit dem Gedicht“. Das könnte heißen, für ihn sei weder der innere Gehalt noch die sprachliche Gestaltung des Gedichtes von Bedeutung, die Aufgabe sei abgetan o. ä. Eine andere, höchst spannende Option wäre anzunehmen, dass „da“ ein mehr oder weniger unbewusster Hinweis von F auf einen Gegensatz wäre, nämlich auf den Gegensatz von „dem Gedicht“, auf das er sozusagen im Blindflug gestoßen ist, und anderen, mit denen er Probleme hat, zum Beispiel dem Kunze-Gedicht, seinem jetzigen Zeugnisspruch. Gestärkt würde die zweite Lesart dadurch, dass F sich hier explizit auf das Gedicht und nicht etwa auf seinen Lehrer bezieht. Er hätte – da die Aufgabe mit seinem Lehrer zu verhandeln war – im Grunde sagen müssen „da (d. h. im Falle dieses Gedichtes) gibt’s kein Problem mit dem Herrn A.“ Es bleibt also die Frage, ob F sagen wollte, dass es kein Problem gäbe in der Triade Schüler-Lehrer-Gedicht, oder ob sich in der Kiste mit dem Gedicht die Probleme mit anderen verstecken. 22 I: hmhm (,) worüber ist (,) also was ist sein Thema (’) I geht auf das Beschließungssignal von F nicht ein, sondern versucht erneut, ihn doch noch zum Sprechen zu bringen, diesmal durch eine Verallgemeinerung ihrer Frage nach dem Gedicht. Der Anschluss, mit dem sie den Sprechakt eröff-
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net („worüber ist“), wäre unter der Prämisse, ihre Frage beziehe sich auf das Gedicht, sprachlich missglückt (sie würde sagen „worüber ist da gedichtet“). Die kleine Zäsur zeigt, dass I sich ihrer verunglückten Formulierung bewusst wird, darum korrigiert sie sich, indem sie nach dem „Thema“ fragt. Dies könnte eine Frage nach dem Thema des Gedichtes sein. Eine zweite Lesart ergäbe sich aus der Perspektive des Lehrers. I könnte mit dem Satzfragment „worüber ist“ zum Beispiel fragen wollen: „Worüber ist im Unterricht gesprochen worden?“, was sich nicht zwingend auf das Gedicht beziehen muss. Die Frage „Was ist sein Thema?“ könnte sich in dieser Lesart auch auf ein anderes Thema beziehen, das der Lehrer im Unterricht besprochen oder aufgegeben hat. I erweitert das Themenspektrum und gibt F damit Gelegenheit, welchen inhaltlichen Aspekt auch immer aufzugreifen und entweder seine Einschätzung des Gedichtes aus 25 und 27 F („is eigentlich ganz schön“) zu differenzieren, oder sich der zweiten Lesart entsprechend zu einem vom Lehrer gegebenen anderen Thema zu äußern. Obwohl I den zweiten Teil ihrer Frage allgemein gehalten hat, könnte diese im Aspekt der ersten Lesart („Worüber ist gedichtet?“) von F als Kontrollfrage aufgefasst werden und Gefühle von Unsicherheit oder Peinlichkeit bei ihm auslösen, da er sich mit dem Gedicht noch nicht näher befasst und es nur einmal gelesen hat (vgl. 25 F und 27 F). I setzt ihn damit der Gefahr eines Gesichtsverlustes aus und erschwert es F, sich differenziert und authentisch zum Thema Lyrik zu äußern. 31 F (fragend:) beim Gedicht (I: ja.) (1) hm (,) ja (,) also das Gedicht is ja das Thema (,) praktisch (.) F vergewissert sich zunächst – unvermindert freundlich und geschmeidig den Schleifen der Interviewführung folgend und auf die zahlreichen Fragen von I eingehend – ob sie nach dem Thema des Gedichtes frage. Da er für denkbar hält (oder hofft), es könne inzwischen auch etwas anderes thematisch sein, bestätigt sich die Vermutung, das Thema „Gedicht“ sei für F selber eigentlich erschöpft und er habe mit seiner Äußerung aus 30 F den Abschluss einleiten wollen. Ausführlich formuliert könnte seine Frage („beim Gedicht“) heißen: „Sind wir jetzt immer noch beim Thema Gedicht?“ Nachdem I bejaht hat, macht F eine kurze Pause. Das eher zögernde Ratifizieren („ja [,] hm“), schließlich das resümierende „also“ deuten an, dass F sich – wie zu erwarten war – mit dem Problem konfrontiert sieht, sich zum Thema eines Textes äußern zu sollen, mit dem er sich „noch nich … mal näher … befasst“ hat (vgl. 25 F). F gibt nun einen Befund nach Art eines Circulus vitiosus und sagt, das Gedicht sei „ja das Thema“. Aus dieser Äußerung ergibt sich eine konsistente Verbindung der beiden Lesarten aus 22 I: Das Gedicht ist das Thema, das der Lehrer seinen Schülern gegeben hat. Damit schlägt F zwei Fliegen mit einer Klappe: Er hat die Frage so beantwortet,
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dass das Thema erschöpft ist, und ist durch diese geschickte Wendung der Gefahr des Gesichtsverlustes entronnen. F zeigt hier sprachliche Gewandtheit und jene Sorge um Autonomieverlust, wie wir dies bereits ganz zu Beginn des Interviews („jaa was denn“; vgl. 1 F) sowie in 5 F konstatiert haben. Schließlich fügt F hinzu: „praktisch“. Das Wort „praktisch“ steht in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Tätigkeit, einem tatsächlichen Verfahren (vgl. Kluge 2002: 718). Vor diesem Hintergrund entspricht der Ausdruck „praktisch“ dem Handlungsaspekt (Lebenspraxis); das Praktische ist affektiv akzentuiert und körperlich unmittelbar erfahrbar. Man könnte sich nun gedankenexperimentell eine Situation vorstellen, in der jemand nach dem Weg fragt. Der Gefragte versucht nun, so unmissverständlich wie möglich die verschiedenen Richtungswechsel und Abkürzungen in seiner Beschreibung zu berücksichtigen. Dies ist zunächst eine abstrakte Vorstellungsleistung, die von Wegunkundigen meist zur Vergewisserung wiederholt wird. Um diesem die Wegbeschreibung möglichst nahe zu bringen, muss der Gefragte sich anschließend quasi „virtuell ans Steuer setzen“, d. h. sich gefühlsmäßig engagieren und könnte dies mit den Worten ausdrücken: „Ja, Sie müssen praktisch immer nur geradeaus fahren und erst kurz vor Stadtausgang links abbiegen.“ Im Unterschied etwa zu „differenziert“ hat „praktisch“ hier eher einen abkürzenden, zusammenfassenden Charakter, etwa im Sinne vom „einfach“. Wie lässt sich nun erschließen, dass F den Begriff „Thema“ mit „praktisch“ an dieser Stelle verbunden hat? Er wurde nach dem Thema des Gedichtes gefragt („was ist sein Thema“) und antwortet, das Gedicht – nicht ein Roman, nicht eine Novelle – sei das Thema. Damit wäre bereits alles gesagt und die Aufgabe erledigt. Er hat sich nicht damit beschäftigt und weiß daher nicht, was er authentisch mehr dazu sagen könnte. Das Thema bzw. die Aufgabe war, sich ein Gedicht auszusuchen, das ihm gefällt. Dieses Thema ist abgeschlossen, denn F hat die Minimalform eines lyrischen Gebildes gefunden, und inhaltlich oder ästhetisch sind Gedichte für F momentan irrelevant. Unter Berücksichtigung seiner Distanz zu lyrischer Sprache und der damit verbundenen ritualisierten Praxis (dem täglichen Rezitieren) könnte man die Äußerung von F folgendermaßen paraphrasieren: „Worüber das Gedicht etwas sagt, zu welchem Thema, das interessiert mich nicht und ist mir unverständlich; für mich ist es etwas, was ich jeden Tag praktisch realisieren muss. Insofern ist das Gedicht tatsächlich praktisch das Thema, aber das Thema des Lehrers, nicht mein eigenes.“ Sechstes Zwischenresümee Da Filip in lyrischer Dichtung bisher nichts entdecken kann, was für ihn selber ein Thema oder eine Frage wäre, hat er sein Gedicht (seine Aufgabe) im Aspekt
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möglichster Textknappheit ausgesucht bzw. „getroffen“. Der pragmatische Aspekt ist es, woran er sich orientiert, denn dieser hat den Vorteil, dass Filip nur wenig auslegen, auswendig lernen oder Inhalt kondensieren muss: Es hat sich bereits alles zu zwei Versen verdichtet. Ziehen wir allerdings die Interpretation des Sprichwortes von Goethe hinzu und die Wendung vom „freien Schmieden“ als einer Metapher für das Glück, das Leben frei gestalten zu können, ergibt sich eine absurde, ungewollte Konvergenz in Anbetracht der Ahnungslosigkeit, mit der Filip diese beiden Verse pragmatisch-„praktisch“ getroffen hat. Aber dieses Treffen war nur dem Anschein nach zufällig und erweist sich nun als eine Art intuitiver Zueignung eines lyrischen Gebildes. So wird Filip sich – scheinbar unwissentlich, da zumindest momentan von keiner Textkenntnis getrübt – seiner Aufgabe entsprechend mit einem lyrischen Text beschäftigen müssen, dessen Inhalt einen zentralen Aspekt eines frühadoleszenten Selbstentwurfs (das in Freiheit Gestalten) zur Sprache bringt. Im Aspekt dieser Konvergenz, die Filip spontan gefühlt haben muss, könnte daher folgende These aufgestellt werden: Durch die bereits am Ende des ersten Schuljahres einsetzende Pädagogisierung von Gedichten wird für Filip eine Initiation in die ästhetische Erfahrung lyrischer Dichtung zunächst verbaut. Erst die intuitive Zueignung des Zweizeilers von Goethe könnte es ihm – scheinbar zufällig – ermöglichen, eigene Gedanken und Empfindungen in Gedichten zu entdecken und einen neuen Zugang zu lyrischer Dichtung zu finden. V.: Analyse der das Thema abschließenden Äußerungen 24 I: hmhm (,) und davor (,)die ganzen Jahre[ Das „hmhm“ von I könnte an dieser Stelle Zustimmung oder Verständnis ausdrücken demgegenüber, was zuvor thematisch war. Oder I könnte mit „hmhm“ den vorausgegangenen Interakt abschließen und zu einem anderen Thema übergehen wollen, etwa wie „hmhm, dies haben wir besprochen, jetzt kommt das nächste“. Anschließend richtet I den Fokus auf ein „davor“, eine Zeit also, die vor jener liegen müsste, auf die sich der vorige Interakt bezogen hat. Dieser Zeitfokus scheint zunächst völlig offen („und davor“). Durch den Zusatz „die ganzen Jahre“ wird er danach aber von I so gefasst, dass sich eher die Vorstellung einer Phase damit verbindet, denn I fragt nicht allgemein „wie (oder was) war davor“, sondern nach einer Kontinuität von „ganzen Jahre(n)“. Sie avisiert damit einen Zeitrahmen, der sinnlogisch mit persönlicher Entwicklung oder (Schul-)Biographie zu tun haben und mehr umfassen müsste als bloß zwei Jahre. Unklar bleibt, auf wen sich ihre Äußerung bezieht (auf F alleine, die Klasse, die gesamte Schule). Durch die kleine Zäsur nach „davor“ wird dieser Zeitrahmen
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akzentuiert und erhält so eine latente Dringlichkeit. Dies könnte darauf hindeuten, dass diese „ganzen Jahre“ für I selber von hoher Wichtigkeit sind, was nicht zwingend auch für F gelten muss. Diese Dringlichkeit könnte dadurch motivierbar werden,
dass I in den vorherigen Äußerungen von F etwas vermisste, worauf es ihr gerade ankommt, etwas, was F ihr von sich aus noch nicht mitgeteilt hat und worauf sie nun insistiert; oder dass I nach einer Alternative fragte, nach etwas, was vorher entweder anders gewesen sein bzw. sich aus heutiger Perspektive bei F (oder Anderen) im Vergleich zu „davor“ verändert haben könnte, so wie wenn jemand sagt: „Seit dem ersten James-Bond-Film siehst du also wahnsinnig gern Krimis … und davor, die ganzen Jahre, war das da auch so?“
I muss demnach von einer Differenz ausgehen zwischen einem Vorgang in der Gegenwart oder näheren Vergangenheit, zu dem F sich bereits wie auch immer geäußert hat, und einem davor, nämlich „die ganzen Jahre“, die für I von Interesse sind. Damit eröffnet sie F die Möglichkeit, sich entweder generalisierend zu den ganzen Jahren zu äußern oder sich einen oder mehrere Aspekte bzw. Ereignisse innerhalb dieser ganzen Jahre herauszugreifen. F könnte nun inhaltlich auf die Frage von I eingehen und beispielsweise sagen: „Und davor die ganzen Jahre hab ich immer X gemacht“ oder „war eine Situation, an die ich mich gut erinnern kann“ oder Ähnliches. 32 F (schnell, leise:) [ja die ganzen Jahre (.) Die Option, inhaltlich auf die Frage von I einzugehen, ergreift F nicht, sondern er unterbricht I fast abrupt, indem er zunächst ratifiziert („ja“) und dann ihre Worte „die ganzen Jahre“ schnell und leise nachspricht. „Ja“ könnte sich
auf das von I avisierte Zeitfenster und bestimmte Erfahrungen beziehen, die F in dieser Phase gemacht hat. F würde sich – durch die Worte von I angeregt – plötzlich über etwas klar werden, was bisher unter der Schwelle seines Bewusstseins blieb. In der Umgangssprache bezieht sich der Ausdruck „die ganzen Jahre“ in der Regel auf Erfahrungen, die jemand über längere Zeit gemacht hat. Zu einem guten Nachbarschaftsverhältnis könnte jemand zum Beispiel sagen: „Ja, die ganzen Jahre hat X mir die Katzen versorgt, wenn ich verreist war.“ In der vorliegenden Sequenzstelle könnte das abrupte Unterbrechen und schnelle Sprechen von F beim Wiederholen der Wendung „die ganzen Jahre“ ein Ausdruck davon sein, dass jene Zeit geprägt wurde von einer bleibend positiven Erfahrung, die seinem Bewusstsein
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durch die Worte von I plötzlich zugänglich wird. Von dieser Erkenntnis angeregt übernähme er i. S. einer spontanen Zustimmung ihre Formulierung, so als wolle er sagen: „Ja die ganzen Jahre, da war doch immer so toll wenn…“ oder „dazu fällt mir doch gerade ein…“ oder Ähnliches. Dem entspräche wohl das schnelle, nicht aber das gleichzeitig leise, fast mechanische Reproduzieren ihrer Worte. Eine Variante der ersten Lesart ergäbe sich ebenfalls im Aspekt von Erfahrungen, die allerdings mit negativ besetzten Affekten verbunden wären: zum Beispiel einem Gefühl von Zwang (wenn F sich etwa durch die Dringlichkeit der Frage von I zu einer Äußerung genötigt sähe) oder einer Irritation, einem Ertapptsein (dass F sich fragte, ob er irgend etwas versäumt habe), einem Unterstellen von Außernormalität bzw. Krise, deren sich F erst in diesem Moment bewusst würde, über die zu sprechen ihm jedoch unangenehm wäre. Denkbar wäre zum Beispiel, dass in der vorherigen Interviewpassage ein Problem, eine krisenhafte Situation thematisch war, auf die I zurückgriffe etwa mit einer Frage wie: „Und was war davor?“, die von den schnell und leise gesprochenen Worten ‚ja die ganzen Jahre’ unterbrochen wird. Dies könnte in der Absicht gesagt sein, negativ besetzte Erinnerungen zu verdrängen, oder Ausdruck einer als übergriffig empfundenen Frage. In diesem Aspekt wäre die Wiederholung von „die ganzen Jahre“ ein Signal von Abwehr. Die von I unterstellte Wichtigkeit übte in dieser Lesart einen gewissen Druck auf F aus und könnte die signifikante Interaktionsstruktur (Unterbrechen der I – Nachsprechen ihrer Worte – Abbrechen) motivierbar machen.
Vor diesem Hintergrund ist die zweite Lesart die stärkere, zumal sie mit dem leisen Nachsprechen der Worte von I übereinstimmt, denen eine Art nachdenklicher Pause folgt. F könnte nun anschließen, indem er das von I angesprochene Thema aufgreift und auf die eher negativ besetzten Erfahrungen zu sprechen kommt oder den Rückblick auf „die ganzen Jahre“ umgeht bzw. abbricht. 33 F: (1) öhm ich glaub wir hatten mal eins mit ner Rose (uv; evtl auch: Hose) /… F überlegt einen Moment, bevor er den nächsten Interakt eröffnet und signalisiert, dass er auf das Thema eingehen will. Der eher triviale Ausruf „öhm“ steht in scharfem Kontrast zur Dringlichkeit der Frage von I und könnte durch die Worte „ich glaub“
so etwas wie Unsicherheit oder Verlegenheit darüber markieren, dass ihm auf die Frage von I – obwohl er kurz nachdenkt – nur „eins mit ner Rose/Hose“ einfällt;
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eine zweite Option wäre, F würde mit „öhm ich glaub“ seine Verwunderung über die bedeutungsschwangere Frage von I ausdrücken, so als wolle er sagen: „Also öhm für mich war Ihr Thema die ganzen Jahre gar nicht so wichtig, wie Sie denken.“
Sicher ist, dass F sich nicht entzieht, sondern kooperativ und offen auf die Frage der I eingeht. Unmittelbar danach spricht er aus der Position einer Gemeinschaft („wir“), was sich sinnlogisch auf F und seine Klassengemeinschaft bezieht. Fassen wir die Wendung „öhm ich glaub wir hatten mal“ zusammen, drückt sich darin weniger Verlegenheit aus als Gleichgültigkeit oder Desinteresse von F. Er kann das Objekt („eins“) nicht sicher identifizieren, sondern glaubt, es sei „eins mit ner Rose [bzw. Hose]“ gewesen. Dieses eine hatte die gesamte Klasse, aber es ist hier nicht zwingend Quelle der Vergemeinschaftung von F. Die Wichtigkeit, die in dem Ausdruck von I („die ganzen Jahre“) mitschwingt, wird durch das beiläufige „mal eins“ abgeschwächt und ihre Erwartung in Bezug auf das, was sich in der Phase der ganzen Jahre bei F entwickelt oder verändert haben müsste, wird von ihm abgewiesen. In seiner Perspektive taucht als Erinnerung nur ein verschwommenes Bild „mit ner Rose [bzw. Hose]“ auf. Der Rekurs auf die ganzen Jahre ist aus seiner Perspektive weniger ein Rückblick auf eine entwicklungsproduktive Phase (wie von I in 24 I angenommen). Er will sich auf die von I gewünschte Kontinuität nicht festlegen, sondern blickt unbefangen auf eine Anzahl von Jahren zurück, die aus seiner Perspektive völlig heterogen sein kann. Was also bezogen auf die Frage von I diese ganzen Jahre über war, weiß F nicht mehr genau („ich glaub“), er weiß diesbezüglich nur noch, da war „mal eins“. Ziehen wir den inneren Kontext der bisherigen Analyse hinzu, müsste F mit „eins“ Bezug nehmen auf einen Lerninhalt, sinnlogisch auf ein Gedicht. Er könnte nun anschließen mit einer näheren Erklärung dessen, was er mit „eins“ eingeführt hat. Der marginale Erinnerungsgehalt vor allem in Verbindung mit der leisen, nicht eindeutig zu identifizierenden Sprechweise von F bringt zum Ausdruck, dass er sich von der Erwartungshaltung der I distanzieren will, entweder weil er ihre Frage nicht ernst nimmt oder sie nicht wichtig findet. In diesem Aspekt könnte das Wiederholen der Worte „die ganzen Jahre“ auch leicht ironisierender Ausdruck seiner Distanzierung sein, so als wolle F sagen: „Wenn Sie das so wichtig finden, öhm, ich glaub, wir hatten mal eins mit ner Rose.“ 34 F: das hat mich irgendwie aufgeregt /… Zunächst erfahren wir, dass es etwas („das“) gab, was F selber („mich“) „irgendwie aufgeregt“, also etwas in ihm verursacht hat; sonst hätte er beispielsweise gesagt: „Darüber habe ich mich aufgeregt“. Er wechselt dabei aus der gemeinschaftlichen in die persönliche Perspektive, wobei er „aufgeregt“ eher
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negativ konnotiert. Die auf der Hand liegende Lesart a) wäre nun, „das“ an Stelle des von F benannten Objektes zu setzen, was bedeuten würde, dass Rose oder Hose als Gedicht auf irgendeine Weise („irgendwie“) mit starken Affekten für ihn verbunden war. Ziehen wir die zweite Lesart aus 32 F hinzu, könnte b) „das“ sich jedoch auch auf den Kontext beziehen. Es wäre in dieser Lesart nicht das Gedicht selbst (ob von der Rose oder der Hose) Ursache seiner Aufregung, sondern der Zusammenhang, in dem dies im Unterricht thematisch war und bei F das diffuse Aufgeregtsein, das er nicht genau bestimmen kann („irgendwie“), evoziert hätte. Durch diesen Widerspruch von „irgendwie aufgeregt“ zu sein und dem in 33 F markierten Uninteressiertsein von F baut sich eine Spannung auf, die erklärungsbedürftig ist: Warum wird F irgendwie aufgeregt von etwas, woran er sich nur schwach erinnern kann („ich glaub“); anders gesagt: Was war es, was F an „eins von ner Rose [Hose]“ aufgeregt hat.
Erste Lesart: die künstlerische Gestaltung des Gedichtes oder das Thema (Rose/Hose) hat ihn aufgeregt. Eine zweite Option wäre eine Variante der Lesart b), das heißt Quelle des Aufgeregtseins von F wäre nicht das Thema oder die künstlerische Gestaltung des Gedichtes, sondern der gesamte Kontext, aus dem F sich ein Beispiel („eins“) herausgreift, an das er sich erinnert, das sein Gefühl des Aufgeregtseins quasi illustriert. Eine dritte Lesart wäre, dass F etwas vermisste. In diesem Aspekt hätte es F aufgeregt, dass es „davor (,) die ganzen Jahre“ außer diesem einen „mal mit ner Rose bzw. Hose“ genau das nicht gegeben hätte, was ihm wichtig war, worauf er immer gewartet hat (etwa ein spannendes, ein humoristisches oder ein absurdes Gedicht) oder was nie so lief, wie er wollte.
Entweder das Gedicht oder der Kontext, in dem es in der Schule bearbeitet wurde, hat in F also etwas ausgelöst, was er mit dem Satz „das hat mich irgendwie aufgeregt“ ausdrückt. Ziehen wir die Selbstzuschreibung von F aus 5 F hinzu, ergibt sich hier eine signifikante Passung von „aufbrausend sein“ und „aufregen“. F könnte nun seine Aufregung erläutern oder es könnte eine Nachfrage von I zur Klärung führen. 35 F: weil ich das blöd fand (,) (I: hmhm) F begründet sein Aufgeregtsein damit, er habe das noch nicht explizierte Objekt „blöd“ gefunden. Etymologisch steht „blöde“ im Zusammenhang mit „gebrechlich, zaghaft“, aber auch „geringfügig“ oder auch „abschaffen“ (vgl. Kluge 2002: 134); umgangssprachlich wird es heute mit deutlich pejorativer Konnotation – häufig im Sinne von „beschränkt“ oder „dumm“ – verwendet. Das Gedicht bzw.
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der mit ihm verbundene Kontext kann für F daher nicht gleich-gültig gewesen, sondern muss ihm gehörig auf die Nerven gegangen sein. Das im Präteritum gebrauchte „finden“ drückt aus, dass F das Urteil „blöd“ mit Bezug auf die Rose/Hose nicht auf seine aktuelle Haltung bezieht und spontan fällt, sondern eher aufgrund einer längeren Erfahrung, die ihn aufgeregt hat. Das heißt, er war affektiv stark an dieser Erfahrung beteiligt. Eher unwahrscheinlich wäre es, dass der bloße Inhalt, das Thema eines lyrischen Gebildes in F das Gefühl des Aufgeregtseins evoziert hätte, noch dazu, da er es als „eins mit ner Rose [bzw. Hose]“ nur ungefähr skizziert, um es in sein Erinnerungsbild einordnen zu können. Es muss demnach eher ein komplexer Vorgang gewesen sein: Entweder ist a) die Art der inhaltlichen Bearbeitung oder b) der performative Vollzug so stark präsent, dass es F spontan als etwas („eins“) einfällt, was ihn aufgeregt hat. Das Aufgeregtsein ist stärker und drängt das, was F „blöd fand“, in den Hintergrund. 36 F: das war irgendwie so/… Nach einer kurzen Zäsur und dem Zeichen von I („hmhm“), dass sie seine Worte gehört habe, eröffnet F eine Art Episode („das war“), als wolle er entweder seine Ablehnung des Kontextes (siehe 35 F) oder des Gedichts näher erläutern. Die Art und Weise, wie er zu diesem Urteil („blöd“) gekommen ist, kann er jedoch nicht genau beschreiben, darum benutzt er die Wendung „das war irgendwie so“. Da die Äußerung von F an dieser Stelle nicht abgeschlossen, sondern lediglich zum Zweck der genauen Sequenzanalyse unterbrochen ist, lässt „so“ erwarten, dass eine nähere Erklärung von F (wie „das war“) unmittelbar bevorstehe, etwa „das war irgendwie so, dass ich dachte…“ oder „irgendwie so langweilig“ oder Ähnliches. 37 F: bla-bla die Rose geht auf (stöhnt:) ooch [ F beginnt seine Erklärung mit jenem abschätzigen Ausdruck, den er bereits in 23 F verwendete, dort um das Gedicht einzuführen, das er sich seiner Aufgabe entsprechend aussuchen sollte („Bla-bla-bla die-Erde-is-schön“). „Die Rose geht auf“ könnte so ein Textfragment oder die Überschrift sein, die F hier zitiert. Damit ist klar, dass F in 33 F von einer Rose, nicht von einer Hose gesprochen hat. Da es sich auch hier um ein Gedicht handelt, ergibt sich aus dem „bla-bla“ wie auch dem stöhnenden Ausatmen, mit dem F seine Äußerung ausklingen lässt, eine Konsistenz der Strukturhypothese eines generellen Desinteresses von F an lyrischer Dichtung und eine „die ganzen Jahre“ währende latente Abneigung auch gegenüber der rituellen Rahmung der Gedichtrezeption. 25 I: [mit ner R-rose (F: ja[.]) hmhm ich hab verstanden mit ner Hose (,)
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I rekurriert auf eine vorige Sequenzstelle (vgl. 33 F „mit ner Rose“), um sich – das Wort „R-rose“ betonend – zu vergewissern, ob sie F richtig verstanden habe. F bejaht, worauf I nach einem „hmhm“ zu einer Erklärung ansetzt, die sich auf sie selber bezieht („ich hab“). Unmittelbar darauf teilt sie F mit, sie habe zuvor „verstanden mit ner Hose“. Das heißt sie bringt die Äußerung von F sinnlogisch in Zusammenhang mit humoristischer Lyrik, etwa von Eugen Roth oder Wilhelm Busch. Dieser Hinweis auf das, was sie selber verstanden habe, ist insofern gewagt, als F in 37 F eine Textstelle zitierte („die Rose geht auf“), was im Zusammenhang mit einer Hose nun einen Lachanfall von F, einen Rückzug aus Gefühlen der Peinlichkeit oder Ähnliches auslösen könnte. Motivierbar wäre die riskante Nachfrage von I höchstens unter der Prämisse, dass sie die Äußerung aus 37 F durch die schnelle und zuweilen kaum verständliche Sprechweise von F nicht gehört, anders oder nur teilweise verstanden habe. Man darf jedenfalls darauf gespannt sein, wie F die prekäre Situation meistern wird. 38 F (lacht kurz:) nee das is (,) also ich glaube das war eins von der Rose (,) F steuert charmant um die Klippe herum: Ein kurzes Lachen, ein „nee“ und eine Art Resümee („das is“), als ob er sagen wolle „das ist ein Irrtum von Ihnen“ oder „das is wahnsinnig komisch“. Dann folgt eine kurze Zäsur, ein erneutes Zusammenfassen („also“) und danach der Bescheid „ich glaube das war eins von der Rose“. Durch das Verb „glauben“ erhält die Erklärung etwas Unbestimmtes, so als ob F sich auch an dieser Stelle nicht sicher sei, ob es tatsächlich „eins von der Rose“ war (vgl. 33 F). Dies könnte entweder mit einem Entgegenkommen an I motivierbar sein, deren Lapsus F mit einem elegant vorgegebenen „ich glaube“ abschwächen würde, wozu das kurze Lachen zu Beginn der Sequenzstelle passte. Eine andere Lesart wäre, F rekurriere mit „ich glaube“ auf 34 und 35 F (das Blöd-Finden bzw. das Sich-aufgeregt-Haben) und sei Ausdruck seines in 37 F markierten Genervtseins. Daraus ergäbe sich eine Bestätigung der zweiten Lesart aus 34 F. D. h. die Ursache der Aufregung wäre nicht irgend ein Rosen-Gedicht, sondern der Kontext, der symbolische Interakt, der mit der Rezeption von Gedichten bzw. Zeugnissprüchen immer einhergeht. F sagt an dieser Stelle nicht wie vorher eher nebenhin „eins mit ner Rose“, sondern distanzierter auf das Objekt hinweisend „eins von der Rose“, was gut passt zu dem bereits weiter oben bemerkten Formgefühl von F (vgl. 12 F), aber auch zu seiner insgesamt offenen und kooperationsbereiten Haltung gegenüber I. Der innere Kontext spricht eher für die zweite Option, d. h. Ursache des Aufgeregtseins von F ist vor allem die rituelle Rahmung, die symbolische Interaktionsform, die F „blöd“ fand und die durch die Erinnerung an „eins mit ner Rose“ aktualisiert wird. Dass er mit „ich glaube“ für I zugleich eine verbale Brücke bauen und ihr über eine Verlegenheit helfen will, schwingt dennoch mit.
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Die Frage ist nun, ob F sein Genervtsein bzw. dessen Ursachen nachfolgend noch näher erläutern werde. 39 F: (leise auflachend:) ich war eigentlich nie so richtig beteiligt an diesem morgigen Teil und/… F setzt nach einer Zäsur und einem leisen Auflachen seine Erklärung fort und gibt uns authentisch („ich“) davon Kenntnis, dass er persönlich („eigentlich“) „nie so richtig beteiligt“ gewesen sei. Er sagt nicht „ich habe“, sondern drückt mit „ich war“ einen Zustand aus, etwas, was ihn als „ganzen Menschen“ – sein Handeln, seine Emotionen, sein Bewusstsein – betrifft. Das heißt, er war nicht nur jetzt oder im letzten Schuljahr, sondern „eigentlich nie so“, wobei ein durch „so“ gefordertes Äquivalent sein könnte „eigentlich nie so, wie das meinem eigenen Anspruch oder meiner Fähigkeit, den Erwartungen meines Lehrers oder auch der Klassengemeinschaft angemessen gewesen wäre.“ Dies kommt noch stärker durch das nachfolgende „richtig“ zum Ausdruck, und zwar nicht im Sinne von richtig oder falsch, sondern von „eigentlich nie so, wie es – im übertragenen Sinne – meinem persönlichen ›Richtmaß‹ entsprochen hätte“. Mit diesem „ich war eigentlich nie so richtig beteiligt“ sagt F, dass ein Teil seiner Identität „nie so richtig“ anwesend war, sich entzogen hat. Die originäre Formulierung, zu der F anschließend greift (statt „morgendlichen Teil“ sagt er „an diesem morgigen Teil“), ist insofern signifikant, als das Adjektiv „morgig“ sich nicht auf den heutigen, sondern den nächsten Morgen bezieht, wie beispielsweise in dem Satz „Der morgige Tag wäre sein Geburtstag gewesen.“ Da ein Fehler beim Abhören oder Transkribieren ausgeschlossen werden kann, ist die Frage, wie der Versprecher von F – dass er an etwas nie so richtig beteiligt war, was erst an einem folgenden Morgen stattfinden wird – motiviert sein könnte. Ziehen wir seine Äußerungen aus 32 bis 37 F hinzu, wäre nahe liegend zu denken, dass F jenen Unterrichtsteil, in dem Gedichte („Bla-bla-bla“) und Zeugnissprüche bearbeitet werden („ich versteh bis heut noch nich was der Spruch soll“), am liebsten auf den „morgigen“ Tag verschieben würde, weil er „das blöd fand“ und es ihn zum Stöhnen bringt, weil er „eigentlich nie so richtig beteiligt“ ist. Man könnte seine Äußerung paraphrasieren mit dem Satz: „Die sprachkünstlerischen Übungen sind nicht der Teil des Unterrichts, an dem ich richtig Anteil nehmen und als „ganzer“ Mensch dabei sein will.“ Das unmittelbar folgende „und“ markiert, dass F diesem eindeutigen und authentischen Resümee noch etwas hinzufügen will. 40 F: ich versuch immer noch richtig wach zu werden (.)
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F spricht weiter in der direkten Form („ich“) und teilt mit, er „versuche immer noch“. Damit benennt er ein Problem, mit dem er offensichtlich „die ganzen Jahre“ zu kämpfen hatte bzw. „immer noch“ zu kämpfen hat: „richtig wach zu werden“. Eine Möglichkeit wäre, die Äußerung von F so zu verstehen, als habe er mehrmals versucht, wach zu werden, zunächst zu Hause beim Frühstück, dann im Bus und schließlich während der ersten Unterrichtsphase. Eine andere Option wäre, dass F das Wort „richtig“ im Sinne seiner Äußerung in 39 F verwendete („ich war nie so richtig beteiligt“), nämlich als einen Versuch, so wach zu werden, wie es seiner persönlichen „Richtung“ entspräche, für ihn selber „richtig“, man könnte auch paraphrasierend sagen „geistig anregend“ wäre. Da er sich für Lyrik jedoch nicht interessiert, sich nicht mit Gedichten identifiziert (er ist nicht beteiligt), versucht er immer noch wach zu werden. Das impliziert, dass F es – möglicherweise der Klassengemeinschaft zuliebe oder aus Gewohnheit – versucht, und setzt eine gewisse Bewegung in die „richtig(e)“ Richtung voraus. Wäre es F völlig egal, könnte er sagen: „Das interessiert mir nicht, da mache ich einfach nicht mit.“ 26 I: (lacht leise:) hmhm (,) macht dir das keinen Spaß (.) I markiert durch leises Lachen und „hmhm“ Verständnis für die Situation, die F als Versuch, immer noch richtig wach zu werden, bezeichnet hat. Nach einer Zäsur wendet sie sich direkt an F („dir“) mit den Worten „macht dir das keinen Spaß“, die durch die gleichmäßige Stimmführung den Charakter einer Feststellung haben. Mit der umgangssprachlichen Wendung, ob etwas „Spaß mache“ oder nicht, könnte sie es für F leichter machen wollen, unbefangen und locker entweder gegenzuhalten (etwa mit „doch, es macht mir Spaß“) oder mit einem Nein ihre Feststellung zu ratifizieren. Dabei bleibt rein sprachlich gesehen unklar, ob I mit „das“ auf seinen Versuch, richtig wach zu werden, oder auf den „morgigen Teil“ anspielt, an dem F nie so richtig beteiligt war. 41 F: nich sonderlich (2) Mit einer ähnlichen Formulierung wie weiter oben in 14 F bestätigt F, dass ihm „das“ keinen Spaß mache. Die Pause markiert, dass er seine Erklärung abschließen will.
Siebentes Zwischenresümee Die dringlicher werdende Frage der I nach den „ganzen Jahren“ davor konterkariert Filip mit einem lapidaren „wir hatten mal eins“. Er erinnert sich an ein Gedicht „mit ner Rose“ und daran, dass dessen Bearbeitung mit starken Emotio-
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nen seinerseits verbunden war (es hat ihn aufgeregt, er fand es blöd), die mit der Erinnerung reaktiviert werden. Es ist jedoch weniger der Textinhalt des Gedichtes, der das emotionale Berührtsein von Filip hervorruft, denn daran erinnert er sich nur vage, führt ihn auch mit einem fast verächtlichen „das is so’n bla-bla“ ein, jener Formel also, mit der er weiter oben auch das Gedicht (die Hausaufgabe) charakterisierte. Was ihn vielmehr aufgebracht und sichtlich gequält haben muss, war der mit dem Gedicht zusammenhängende Kontext, markiert durch das stöhnende Ausatmen und der Ausruf „ooch“ (TZ 131). In dem dieser Äußerung folgenden Intermezzo (Missverständnis der I, ob „eins mit ner Rose“ oder „Hose“) kommt Filip der I entgegen, indem er nicht ausschließt, dass er sich selber getäuscht haben könnte („ich glaub es war“). Damit bestätigt sich, dass der Gesamtkontext, nicht das Gedicht selber Ursache seiner emotionalen Betroffenheit war und in diesem Fall in seiner Erinnerung haftet. Durch die restriktive Erklärung („ich glaub…von der Rose“) hat Filip Gelegenheit, an seine vorige Äußerung anzuknüpfen und seine Erfahrungen mit Gedichten bzw. Zeugnissprüchen im Unterricht zu resümieren. Unmissverständlich und authentisch bekundet er, er sei „eigentlich nie so richtig beteiligt“ gewesen „an diesem morgigen Teil“, wobei er mit dem Gebrauch des Präteritums („ich war“) offen lässt, ob dies in Zukunft anders werden könnte. Der signifikante Versprecher, der Filip hierbei unterläuft, markiert den unbewussten Versuch, das Ritual der Rezitation von Gedichten und Zeugnissprüchen quasi „auf den morgigen Tag“ zu verschieben bzw. sich seiner zu entledigen. Ziehen wir den inneren Kontext der Fallrekonstruktion zusammen, wird die Strukturhypothese vor allem durch die Analyse des letzten Segments konsistent. Filips Ablehnung, sich mit lyrischer Sprache zu befassen, kann nicht allein durch seine negativ tingierten Erfahrungen mit Zeugnissprüchen oder dem Überdruss an der rituellen Rahmung erklärt werden, sondern beruht trotz seiner hohen Sprachkompetenz auf einer generellen Indifferenz gegenüber dem Befremdlichen, das für Lyrik konstitutiv, für ihn jedoch bisher nicht von Interesse ist.
Schlussresümee und Ergebnis Fallrekonstruktion Filip Filip zeigt sich als freundlicher, auf die häufig irritierende Interviewführung gewandt und gewitzt reagierender Interviewpartner, der über eine hohe sprachliche Kompetenz verfügt. Diese wird erkennbar an der präzisen, zuweilen ungewöhnlichen Wortwahl („sonderlich“, „aufbrausend“176), am spontanen Verstehen des imperativen Charakters seines Zeugnisspruches (Versprecher aus 2F) oder bei 176 Es wurde bereits gesagt, dass Filip mit dem Wort „aufbrausend“ möglicherweise auch Lehrer oder Mitschüler zitiert hat. In den Texten seiner Zeugnissprüche ist es nirgendwo zu finden.
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episodenhaften Schilderungen bestimmter Situationen, etwa wenn von seiner Begegnung mit dem „kleinen Porzellanteller“ die Rede war und Filip das der Erzählform geschuldete Präteritum („hing an der Wand“) aus dem Permanenzaspekt ins Präsens korrigierte („hängt“). Das Bedürfnis, sich sprachlich präzise auszudrücken, ist jedoch nicht primär ein ästhetisches, sondern der Realistik von Filip geschuldet, seiner Verbundenheit mit der sinnlich realen, alltagsweltlichen Erfahrung. Er findet (und sucht) keinen Zugang zu sprachlichen Verfremdungen und Metaphern, am wenigsten zu jenen, die nicht mit seiner Wahrnehmung, seinem Wirklichkeitssinn übereinstimmen. Das Gedicht von Reiner Kunze ist ihm als Kunstwerk fremd geblieben, nicht allein bezogen auf die vom Dichter gewählte lyrische Gestaltung oder weil er den inneren Gehalt nicht verstünde, sondern vor allem wegen der Verschmelzung von lyrischem Ich und der ihm übergriffig nahe tretenden Lehrerautorität. Diese Verschmelzung verhindert, dass ihm das lyrische Ich zum signifikanten Anderen wird; es kann mit Filip nicht kommunizieren, da er dessen Sprache „nicht versteht“. Darum leiert er den Text herunter, um sich der Aufgabe (ihn vor der Interviewerin zu sagen) möglichst rasch zu entledigen. Am Beispiel des Kunze-Gedichtes zeigt sich, dass Filips augenblickliche Unempfänglichkeit für lyrische Sprache unlösbar verquickt bleibt mit seinem Bewusstsein der erzieherischen Absicht, die diesem Gedicht (als seinem Zeugnisspruch) inhärent und daher für Filip emotional besetzt ist. Darum weist er es zurück. Hier ist es die Amalgamierung von künstlerischer und pädagogischer Intention, die – zusammen mit der weit zurückliegenden, durch Angsterfahrung hervorgerufenen Blockade – seine Ablehnung motivierbar macht und verhindert, dass Filip von sich aus Suchbewegungen vollzieht, um einen Zugang zu finden oder in eine kritische Auseinandersetzung darüber mit seinem Lehrer zu treten. Einen Bezug bestimmter Seiten seines Verhaltens zum Gedichttext stellt er im Interview zwar selbst her und benennt ihn mit dem durch die Konnotation allerdings ironisch gebrochenen Hinweis „vielleicht dass ich nich immer so aufbrausend sein sollte“ (vgl. Fallrekonstruktion 6 F). Er begegnet den moralisch anspruchsvollen, kargen Appellen des Gedichtes wie mit einem Augenzwinkern (deutlich in dem beim Sprechen hörbaren Schmunzeln), das ihm die Freudlosigkeit erträglich, bzw. in Hinsicht auf den performativen Aspekt die Zuschreibung seines Lehrers aussprechbar macht. Für alle am Ritual beteiligten Mitakteure sichtbar und hörbar wird Filips Abwehr auf der Ebene der Körperlichkeit, beim Rezitieren des Gedichtes vor der Klasse, dem er sich trotz seiner Abwehr nicht entziehen will. Er entscheidet sich für die Strategie, seine Distanz vom appellativen Gehalt des Textinhalts auf der performativen Ebene auszuagieren, indem er den Text, ohne eigentlich beteiligt zu sein, reproduziert und seine innere Distanz kaschiert mit der Erklärung, dass er den Spruch nicht verstehe. Dass dies auf der kognitiven Ebene nicht der Fall ist, zeigt die Sequenzstelle in 4 F, in der Filip selber auf eine Passage des Gedichts zu sprechen kommt,
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indem er den Text mit seiner sinnlichen Wahrnehmung vergleicht und so auf „Gegensätze“ stößt. Den von ihm monierten Widerspruch von künstlerischem Ausdruck und Wirklichkeit aufgreifend könnte man mit Vorbehalt sagen: Filip hat sich mit dem Inhalt des Gedichts resp. Zeugnisspruchs so weit auseinandergesetzt, dass er dessen inneren Gehalt (die pädagogische Absicht seines Lehrers) nicht nur spontan versteht, sondern mit der impliziten Kritik sogar insgeheim einverstanden sein könnte. Als materialer Ausdruck einer verdeckten Billigung kann jene spontane selbstbezügliche Deutung seiner für die schulischen Mitakteure problematischen Verhaltensweise („aufbrausend“) gesehen werden. Aus Gründen der Selbstachtung, des Autonomiestrebens und seines mit dem Fremdbild nicht zu vereinbarenden Selbstbildes will er dies aber nicht unverblümt vor der Interviewerin zur Sprache bringen. Er greift daher zu einer Strategie des szenischen Zum-Ausdruck-Bringens, indem er durch eine leise, schnelle und schwer verständliche Textwiedergabe und inneres Unbeteiligtsein visuell und akustisch demonstriert, dass er weder mit den an ihn gerichteten Verhaltensempfehlungen, noch mit dem Ritual ernsthaft etwas zu tun haben will. Das Ritual wird so zur „fassadären Selbstpräsentation“ (vgl. Idel 2007: 302), durch die Filips Distanznahme auf der Ebene der Körpersprache repräsentiert wird.177 Auch auf die etwas inquisitorische Frage der Interviewerin („Tust du dies?“) will Filip keine direkte Antwort geben, sondern er entzieht sich mit einem doppelt gebrochenen Nein („eigentlich nich besonders“). Es gibt demnach nicht nur den Gegensatz von Im-Schatten-Stehen und Im-Schatten-Leuchten, sondern auch den von Selbst- und Fremdwahrnehmung, von dem Licht, in dem er sich selber sieht, und jenem, in dem ihn andere wahrnehmen. Filip nimmt diese Divergenz jedoch hin, lässt sie über sich ergehen oder entzieht sich: Weder das Ritual, noch das Zeugnisspruch-Gedicht sind ihm wichtig genug, dass er von sich aus bei seinem Lehrer auf Verstehen dringen würde. Der pädagogische Impetus seines Lehrers hat eine Distanz zu lyrischer Sprache geschaffen, die Filip durch eine „nie so richtig beteiligte“ Haltung sowohl auf der rituellen Ebene, als auch durch die Erklärung „ich versteh es nicht“ auf der inhaltlichen Ebene zu überbrücken versucht. Ein Interesse an der künstlerischen Gestaltung und sprachlichen Ausdruckskraft des Gedichtes aber konnte – zumindest bis jetzt – nicht geweckt werden. Spontan subsumiert Filip Lyrik der Kategorie von „Blablabla“, also wertlosem Geschwätz (vgl. TZ 86, 131). Dass er das gemeinsame Ritual trotz seiner verächtlichen Grundhaltung weiterhin mit vollzieht, ist Filips Bedürfnis geschuldet, mit seinen schulischen Mitakteuren verbunden zu bleiben. 177 Im Laufe mehrerer Unterrichtsbesuche zeigte Filip die oben beschriebene Sprechweise auch bei der Rezitation seines Zeugnisspruchs. So ist nicht auszuschließen, dass diese fast habituell gewordene Form der Distanznahme bzw. der Abwehr sich im Interview reproduzierte.
4.3 Fallrekonstruktion Filip, Schule A: „Ich war eigentlich nie so richtig beteiligt.“
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Im Aspekt des Konzepts von Krise und Routine kann die durch Divergenzerfahrung von Selbst- und Fremdbild in Filip ausgelöste Krise auf der Basis einer stabilen Lehrer-Schüler-Beziehung – die trotz seiner Distanzierung von der als übergriffig empfundenen Zuschreibung keineswegs ausgeschlossen werden kann – durch den Selbstbehauptungsprozess im rituellen Vollzug als Krisenbewältigung dargestellt werden. Dem korrespondieren die Äußerungen Filips zu seinem ersten Zeugnisspruch, dessen Aneignungsprozess mit einer „unheimlichen Angst“ vor der performativen Realisierung in einem ihm noch unbekannten Ritual verbunden ist, die jedoch Gefühle der Wertschätzung dessen, was sein Lehrer ihm zugeschrieben hat, nicht ausschließt. Der anspruchsvolle Entwicklungsprozess, der sich in Filip in Gestalt von sich verändernden Distanzierungsbewegungen vom Ende der ersten bis weit in die achte Klasse vollzieht, wird als Selbstbehauptungsfigur fassbar und im Aspekt seines frühadoleszenten Selbst sowie den damit verbundenen Autonomiebestrebungen motivierbar. Filip deutet dies im Verlauf des Interviews selbst an, und zwar mit der Bemerkung, seine eigene Haltung und auch die anderer Schüler zur ritualisierten Form der Gedichtrezeption habe sich „in’n letzten zwei drei Jahren“ ungefähr (also etwa im 5./6. Schuljahr) stark verändert: „jetzt is man froh wenn’s’n bisschen mehr (Unterricht gibt; HH)“ (vgl. TZ 152). Diese an Lyrik uninteressierte Grundhaltung behält Filip auch bei der Aufgabe bei, sich je nach persönlicher Neigung oder thematischem Bezug ein Gedicht selbst auszusuchen und anzueignen. Wäre ein – wenn auch lange verhaltener – Zugang zu Gedichten vorhanden, hätte Filip nun die Gelegenheit, seine persönliche Identität bei der Gestaltung dieser Hausaufgabe zum Ausdruck zu bringen. Doch Filip kann die Potentiale einer lyrischen Ausdrucksgestalt nicht entdecken, schon gar nicht sie als künstlerische Fassung eigener lebensweltlicher Erfahrungen sehen. Was Lyrik ermöglichen könnte, das Unsagbare wie das Alltägliche, das Eigene wie das Fremde in der Sprache der Metapher darzustellen, demgegenüber bleibt er indifferent bzw. wie er sagt, „das geht eigentlich...so ziemlich an mir vorüber“ (TZ 146-147). Die durch frühere belastende Erfahrungen aufgebaute Abwehrhaltung dauert an. Der zufällige Blick auf Goethes Sinnspruch, den Filip sich zum „ganz normalen Gedicht“ macht, ist so nichts weiter als eine Folge der Notwendigkeit, eine fällige Hausaufgabe zu erledigen. Filips Entscheidung („och nimmst das“; TZ 103) hat so etwas Unadressiertes: Lyrische Dichtung kann augenblicklich in ihm weder ein neues Verhältnis zu metaphorischer Sprache stiften, noch ein aktives Suchen anregen. Die Entscheidung fällt unter der Prämisse, die Aufgabe so unaufwändig wie möglich hinter sich zu bringen. Filip ist intelligent genug, etwas ihm zufällig in die Augen Fallendes als Lösung zu erklären („ich hab’s nur einmal gelesen“; TZ 101).
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4 Fallrekonstruktionen
Signifikant an dieser spontanen, dem pragmatischen Aspekt der Aufgabenlösung geschuldeten Entscheidung von Filip ist indessen die innere Gestaltaffinität von frühadoleszentem Selbst und Text. Den oben zitierten Worten von Filip entsprechend muss immerhin eine momentane, unbewusste Art, das Sprichwort Goethes gestaltrichtig zu erfassen und als etwas zu ihm Passendes zu erkennen, stattgefunden haben. Nicht auszuschließen ist dabei, dass der auf dem Teller markierte Namenszug („Goethe“) für Filip – obwohl er sich im Interview weder an ein Schlüsselwort noch an den Autor erinnern konnte – im Augenblick der Entscheidung doch so etwas wie Gewähr dafür war, dass sein Lehrer das zweizeilige Sprichwort als „ganz normales Gedicht“ (und damit als erfüllte Aufgabe) akzeptieren werde. Im Aspekt der inneren Gestaltaffinität wird die Signifikanz der Äußerung, mit der Filip im Interview sein Gedicht einführt („das is so’n blabla-bla die-Erde-is-schön“, vgl. Analyse aus 23 F), noch markanter, weil sein inhaltliches Resümee nicht das Geringste mit dem tatsächlichen Text zu tun hat. Motivierbar wird Filips spontane Entscheidung für dieses Sprichwort allerdings durch eine kaum wahrnehmbare Korrespondenz mit seinem Zeugnisspruch der achten Klasse (material nachweisbar durch den Bezug „die-Erde-is-schön“ in TZ 86-87), zu dessen innerem Gehalt („sich zurückhalten“) der Inhalt des Goethe-Spruchs die absolute Gegenposition (das freie Gestalten der eigenen Zukunft) darstellt. Im Aspekt dieser Widersprüchlichkeit ließe sich die These aufstellen, dass Filip mit seiner gewitzten Art die Aufgabe intuitiv gelöst hat und – da er sich mit dem Textinhalt noch wird auseinandersetzen müssen – nun eine Art unbewusster Selbstinitiation in einen Bereich von Sprache in Gang kommen könnte, der ihm bisher von pädagogischer Absicht, Abwehr und der eigenen Interesselosigkeit verstellt worden ist. Aus der vorliegenden Fallrekonstruktion lässt sich demnach folgendes Ergebnis festhalten: Die frühe Angsterfahrung, die Filip im Zugehen auf das unbekannte Zeugnisspruch-Ritual macht, kann er durch Distanzierung überwinden. Diese ist anfangs bezogen auf die Dimension von Lerninhalt und Leistung. Filip verschiebt seinen ersten Zeugnisspruch in die Kategorie von Lerninhalten. Er lernt den Text auswendig, um den Spruch nicht unvollständig wiederzugeben, zu verdrehen o. ä. Diese anfängliche Angst wandelt sich später in Ärger, wenn er in diesem Sinne etwas falsch macht (TZ 64). Durch den hoch repetitiven Vollzug erstarrt das Gedicht-ZeugnisspruchRitual bald zur Routine, die abläuft. Mit Bezug auf lyrische Dichtung findet so sehr früh eine Amalgamierung von künstlerischer und pädagogischer Absicht statt, die bisher nicht aufgelöst werden konnte. Filips Verhältnis zu Gedichten wird bereits im zweiten Schuljahr durch Pädagogisierung abgeschattet. Um aus diesem Schatten herauszukommen, baut Filip eine Distanz auf, die im Laufe der folgenden Schuljahre eher größer wird.
4.3 Fallrekonstruktion Filip, Schule A: „Ich war eigentlich nie so richtig beteiligt.“
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Je klarer ihm die den Zeugnissprüchen implizite pädagogische Absicht bewusst wird, umso deutlicher sieht Filip, dass er sich mit dem ihm (zumindest im letzten Zeugnisspruch) Angesonnenen nicht identifizieren will. Er empfindet die moralischen Appelle als übergriffig, Selbst- und Fremdbild erfährt er als divergent. Wiederum nimmt er Abstand, diesmal jedoch mit der kaschierenden Begründung, die inhaltlichen Gegensätze des Zeugnisspruch-Gedichtes seien ihm unverständlich. Seine Distanzierung äußert sich jedoch nicht wie früher in Dimensionen von Lerninhalt und Leistung, sondern er geht innerlich auf Distanz, ist „eigentlich nie so richtig beteiligt an diesem morgigen Teil“. Spannung entsteht, weil Filip sich ungeachtet dessen auf der symbolischen Ebene den Mitakteuren seiner Klasse und auch dem Zeugnisspruch-Ritual verpflichtet fühlt. Beidem will er sich nicht verweigern. Einem wirklichen Aneignungsprozess indessen entzieht er sich. Er versucht jedoch, eine andere, die Spannung und innere Distanz ausbalancierende Form des Umgangs mit seiner Aufgabe zu finden. Dies gelingt ihm zum einen durch Selbstbehauptung, indem er – in der Gemeinschaft der schulischen Mitakteure verbleibend – seine innere Distanz zum Textinhalt in der Dimension einer „performativen Separation“178 (Sprechweise; vgl. 2 F) zum Ausdruck bringt und dadurch eine Stabilisierung erfährt; zum anderen, indem er im Interview die Divergenzerfahrung von Selbst- und Fremdbild mit Ironie zu glätten versucht und aus beidem eine Stärkung des Selbstgefühls sowie einen gewissen Zuwachs an Autonomie bezieht. Obwohl er sich in der Klassengemeinschaft hält, schwingt in Filips Ausdrucksweise immer eine leise Distanz, eine eher introvertiert-distanzierte Haltung als Grundzug seines Habitus mit, der material nachweisbar ist z. B. in Äußerungen zu seiner ursprünglichen Scheu, „irgendwas vor Menschen zu machen“ (TZ 71); wenn er sich nicht einbezieht in ein „wir“, sondern sagt: „die Jungs die dahinten sitzen“ (TZ 151); wenn er von sich selber sagt: „wenn’s mir halt mies geht oder irgendwas is dann bin ich meist in mei’m Zimmer also mach Musik und mecker alle an“ (TZ 176-177); oder wenn er von seinem einsamen Phantasieren am Klavier erzählt (TZ 184-185). Dieser generell distanzierte Habitus, der sich lediglich von starken Affekten irritieren lässt (vgl. 4 F, Duzen der Interviewerin), kann mit Rücksicht auf die Fallbezogenheit der Arbeit nicht analysiert, sondern lediglich als ein zusätzlicher Aspekt angedeutet werden. In seiner Distanzhaltung vor allem dem gegenüber, was mit Lyrik im Kontext der Unterrichtskultur seiner Klasse zusammenhängt, an dem Filip „eigentlich nie so richtig beteiligt“ ist, bekommt er die Aufgabe, sich ein Gedicht zu suchen, das ihm gefällt oder das er als zu sich passend findet. Da Filip an Gedichten generell 178 Den Begriff der „performativen Separation“ verstehe ich an dieser Stelle im Sinne einer Absonderungsbewegung, die sich in Filips Fall nicht auf der Ebene einer inhaltlich-diskursiven Auseinandersetzung, sondern auf der körpersprachlichen Ebene ausdrückt.
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kein Interesse hat, kann er dieser Aufgabe nichts abgewinnen. Sie setzt keine bewusste Suche in Gang, sondern lediglich pragmatische Überlegungen. Wie zufällig fällt ihm jedoch das Wort Goethes vom freien Schmieden am eigenen Glück ins Auge. Eine Art Moment-Aufnahme findet statt, die Filip weder bewusst erfasst, noch ins Gedächtnis aufnimmt. Trotz der Kürze dieser Begegnung muss sich dabei so etwas wie ein intuitives Erkennen der Ausdrucksgestalt des Goethe-Wortes vollzogen haben, ihm wie „Flaschenpost ans Herzland gespült“ (Celan) sein. Ohne ein einziges Wort des Textes behalten zu haben, wird er für Filip aufgrund dieser intuitiven Begegnung zum „ganz normalen Gedicht“. Er betont dies noch, indem er sagt „da gibt’s kein Problem mit dem Gedicht“ (vgl. 30 F), wenn sich dies zunächst auch nur auf die Reaktion seines Lehrers bezieht. Im Aspekt der verwehrten Aneignung von lyrischen Texten, die ihm mit einer pädagogischen Absicht gegeben wurden, könnte das mit der fälligen Hausaufgabe einhergehende nähere Befassen (vgl. TZ 89) mit einer von ihm selbst ergriffenen „Zufallsbegegnung“ zu einer Gelegenheit für Filip werden, seine alte Abwehrhaltung zu lockern und sich der Eigenlogik lyrischer Sprache zu nähern. Mit Bezug auf die Kernfrage der Studie, inwieweit der Umgang mit Gedichten im schulischen Kontext für Filip bisher bildungsproduktiv war, steht im Zentrum der vorliegenden Fallrekonstruktion die Geschichte der verweigerten Aneignung lyrischer Dichtung, die sich manifestiert in Filips Äußerung „Ich war eigentlich nie so richtig beteiligt an diesem morgigen Teil.“ Durch die Amalgamierung von künstlerischer und pädagogischer Absicht wurde der Bedeutungshorizont eingegrenzt und eine Initiation in den Bereich ästhetischer Erfahrung lyrischer Sprache erschwert bzw. verhindert. Dass der Prozess in seiner Gesamtheit für Filip dennoch entwicklungsproduktiv war, zeigt sich an seiner Selbstbehauptung im rituellen Vollzug, einem deutlichen Autonomiezuwachs und nicht zuletzt daran, dass er sich, wenn auch zunächst unbewusst, intuitiv die Möglichkeit eines neuen Zugangs zu Gedichten gegeben hat. Dementsprechend steht die Fallrekonstruktion „Filip“ auf vier Ebenen beispielhaft:
auf der Ebene der Identität, indem die identitätsbildende Funktion von Lyrik durch eine Amalgamierung von künstlerischer und pädagogischer Absicht blockiert, der Identifikationsprozess mit der Zuschreibung abgewehrt bzw. auf die rationale oder performative Ebene umgeleitet wurde; auf der Ebene einer Inkompatibilität von Selbst- und Fremdkonzept im Zusammenhang mit dem Zeugnisspruchtext der achten Klasse; auf der Ebene der Adoleszenzkrise durch eine gelungene Selbstbehauptung in einer von negativen Erfahrungen belasteten Situation; auf der Ebene von Zugang und Interesse, die in diesem Fall mit Bezug auf eine ästhetische Erfahrung von Lyrik nicht nachweisbar sind.
4.4 Miniatur der Fallrekonstruktion Celia, Schule C: „Ratlose Liebe“
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4.4 Miniatur der Fallrekonstruktion Celia, Schule C: „Ratlose Liebe“ (Interview am 9.3.2007; Dauer 23 Min.; Ort: Unterrichtsraum neben der Klasse) Die vierte Fallrekonstruktion stellt insofern eine wichtige Ergänzung dar, als Celia als einzige Schülerin aller ausgewählten Klassen sich dezidiert für ein Liebesgedicht entschieden hat. Mit dieser Entscheidung konnte der Aspekt der Entdeckung eines subjektiven Liebesgefühls berücksichtigt werden, der in den anderen Fällen material nicht nachweisbar war. Da im lyrischen Kanon eine Fülle von Beispielen spezifisch jugendlicher Liebeslyrik verzeichnet ist und entwicklungspsychologisch die Adoleszenz als eine Phase beschrieben wird, in der Heranwachsende eine Neigung zum Dichten entfalten179, lag es nahe, sie in das Sample der Eckfälle aufzunehmen. Darüber hinaus ist Celias Fall aufgrund der differenten Habitusformation für eine maximale Kontrastierung mit der Analyse von Natalías Fall geeignet, so dass ein möglichst breites Spektrum an Kontrastierungskriterien für die Typenbildung gewonnen werden konnte. Ich werde die Analyse aus Gründen des Umfangs in Form einer Miniatur darstellen und auf die fallspezifischen Sequenzstellen fokussieren. Um alle Bezugnahmen der Probandin berücksichtigen zu können, soll auch in diesem Fall eine Interpretation des hier relevanten Gedichtes in exkursorischer Form vorausgeschickt werden.
Exkurs: Interpretation des Gedichtes „Rastlose Liebe“ Rastlose Liebe Dem Schnee, dem Regen, Dem Wind entgegen, Im Dampf der Klüfte, Durch Nebeldüfte, Immer zu! Immer zu! Ohne Rast und Ruh!
179 Vgl. Kohlberg 2007:130; Goethe beschreibt rückblickend, wie er als Fünfzehnjähriger dazu neigte, „dasjenige, was mich erfreute oder quälte oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl niemand nötiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extreme in das andere warf.“ (Goethe o. J.: 229)
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4 Fallrekonstruktionen
Lieber durch Leiden Möcht’ ich mich schlagen, Als so viel Freuden Des Lebens ertragen. Alle das Neigen Von Herzen zu Herzen, Ach wie so eigen Schaffet das Schmerzen! Wie soll ich fliehen? Wälderwärts ziehen? Alles vergebens! Krone des Lebens, Glück ohne Ruh, Liebe, bist du! Goethe 1998: 124
Das Gedicht entstand im Mai 1776 in Ilmenau und gehört zum Zyklus „Verse an Lida“, die der sechsundzwanzigjährige Goethe vermutlich für Charlotte von Stein180 verfasst hat, in einer Zeit also, in der er selber noch zeitweise wie getrieben gewesen sein muss von seinen neuen Aufgaben, der ungewohnten Umgebung und den mit dem höfischen Leben in Weimar verbundenen Freiheiten und Möglichkeiten.181 In der Überschrift „Rastlose Liebe“ ist jenes Hochgefühl spürbar, in dem Goethe das Gedicht geschrieben, besser: „aufs Blatt geworfen“ haben muss. Nicht erfüllte, sehnsüchtig verharrende oder enttäuschte Liebe, sondern das leidenschaftliche, allen Widrigkeiten trotzende Zueinanderstreben ist das Motiv dieses Werkes. Die ersten vier Verse führen unmittelbar hinaus ins Freie, wo der Liebende, vermutlich zu Pferde, durch Wind und Wetter stürmt, um die ferne Geliebte zu erreichen. Das jambische Versmaß akzentuiert den Gesang, den der Liebende gegen die Elemente anstimmt. Schnee und Regen rauschen vom Himmel, Dampf und Nebeldüfte ziehen auf, um den Reiter zu täuschen; Windstöße und Klüfte hemmen seinen Weg. Doch dem Liebenden scheint dieser Kampf mit den Naturgewalten gerade recht zu sein: Mit dem Ruf „Immer zu! Immer zu!“ eilt er „ohne Rast und Ruh’“ der Geliebten zu. Während der jambische Rhythmus der ersten vier Verse von einer unbetonten Silbe am Ende wie gezügelt scheint, wird durch den durchgängig zweifüßigen Jambus in den letzten beiden Versen das rastlos Fortstürmende der ersten Strophe gesteigert. Die rhythmische Brechung durch die verdoppelte Kürze zu 180 Vgl. dazu Anmerkungen a.a.O.:537 181 Vgl. K. R. Eissler 1986/4: 215-224
4.4 Miniatur der Fallrekonstruktion Celia, Schule C: „Ratlose Liebe“
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Beginn des letzten Verses („ohne“) trägt dazu bei: Wie ein unter den Hufen eines vorwärts stürmenden Pferdes aufspringender Stein klingt die Alliteration des „Ohne Rast und Ruh!“. Auch verstärkt die Verkürzung des Wortes „Ruhe“ in „Ruh’“, die dem jambischen Versmaß geschuldet ist, den ins Offene treibenden Rhythmus des letzten Verses. Anders die zweite Strophe, für die der Dichter zum ruhigeren Versmaß des Adonius greift. Der Liebende reflektiert, vergleicht den Kampf gegen äußere Widrigkeiten wie Wind und Wetter mit der ihn schier überwältigenden Fülle seines Glückes („so viel Freuden“) und entscheidet, lieber sich durch Leiden zu schlagen, als weiter „so viel Freuden des Lebens“ zu ertragen. Der überschwängliche Ausdruck der Liebesdynamik wird hier von Goethe zu einem umfassenden Gefühl erhoben: Es sind nicht allein die Freuden der Liebe, es sind die „Freuden des Lebens“ schlechthin, die der Dichter nicht mehr tragen zu können glaubt, die er realisiert sieht im „Neigen von Herzen zu Herzen“. Die Zuneigung zu einem Menschen, mit dem er Interessen, Gedanken und Leidenschaft teilen kann, klingt hier an.182 Diese Herzens-Zuneigung ist es, die den Dichter bewegt, von der er sich gleichzeitig wie mit einem tiefen Ausatmen („Ach“) zu befreien sucht mit der zarten Klage „wie so eigen schaffet das Schmerzen“. In der dritten Strophe wird das Versmaß Adonius zunächst beibehalten. Der Liebende verwirft den Gedanken an Flucht und Auszug. Nach dem Ausruf „Alles vergebens!“ wird sein Blick frei für etwas Neues. Goethe fasst den Gefühlsüberschwang der ersten und die Reflexion der zweiten Strophe zusammen in den resümierenden Worten „Glück ohne Ruh /Liebe, bist du!“ Für diese beiden letzten Verse seines Gedichtes wählt er das Versmaß des Choriambus, das durch den Rhythmus von betonter Silbe am Versanfang, zwei unbetonten Silben in der Mitte und wiederum einer betonten Silbe am Versende zum Ausdruck einer inneren und äußeren Harmonie wird. Liebe ist Harmonie zwischen Glück und Unruhe („Glück ohne Ruh“), ist zum überpersönlichen Du geworden („Liebe, bist du!“), das dem Dichter im Symbol der „Krone des Lebens“ als Ideal aufleuchtet. Kurz vor Unterrichtsbeginn habe ich die Schülerin gefragt, ob sie zu einem Interview mit mir bereit sei; dem stimmte sie zu. Vor dem Interview – noch im Verlauf des Unterrichts – gab es eine Sequenz, in der Celia das Gedicht, für das sie sich entschieden hatte, der Klasse vortragen sollte. Wie sich in der Analyse herausstellte, handelt es sich dabei um eine Schlüsselszene des Falles, auf die ich mich später mehrfach beziehen werde. Die Fallminiatur wird also mit der Darstellung der Sequenzstelle aus dem Unterricht beginnen. Zuvor ist es aus Gründen der konzentrierten Darstellung notwendig, einen kontextuellen Bezug herzustellen, soweit er für das Verständnis der Fallstruktur 182 Zum Verhältnis Goethes zu Charlotte von Stein vgl. K. R. Eissler, a.a.O.: 191–296
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4 Fallrekonstruktionen
sachdienlich ist. Mir ist bewusst, dass ich mich damit dem Vorwurf der Verletzung objektiv hermeneutischer Prinzipien aussetze. Da die Fallrekonstruktion als Gesamtheit jedoch durchgeführt wurde, halte ich dies für vertretbar, zumal sie in Hinsicht auf die drei ersten Fälle keinen qualitativen Zuwachs bietet, mit Ausnahme der Dimensionen, die aus der Miniatur ersichtlich werden sollen. Vorgegebenes methodisches Setting der relevanten Unterrichtssequenz war die Rezitation eines von jedem Schüler auszuwählenden Gedichtes vor der Klasse sowie – je nach persönlichem Zugang und Ausdrucksfähigkeit – eine vorherige kurze Begründung der Wahl. Dem trialen Bildungsansatz der Freien Waldorfschulen entsprechend stand auch hier die individuelle Erarbeitung eines Gedichts im Sinne einer ganzheitlichen ästhetischen Erfahrung im Mittelpunkt des didaktischen Modells für diese Klassenstufe (vgl. Kap. 2.1.). Zu diesem Anlass hatte die Lehrerin aus verschiedenen Gedichtbänden eine Art Kanon zusammengestellt, kopiert und den Schülern an die Hand gegeben mit dem Hinweis, dass auch andere Quellen herangezogen werden könnten. Für den folgenden Interakt ist noch wichtig zu wissen, dass dieser Reader auf den Tischen der Schüler vorlag. Während des Vortragens befand sich die Lehrerin relativ entfernt im Hintergrund des Klassenraumes, vis-à-vis der jeweils rezitierenden Schüler. Von dort aus besprach sie mit dem Betreffenden, was ihr an dessen Rezitation aufgefallen war, korrigierte die Betonung einzelner Silben und Worte, gab Hinweise bezüglich des Versmaßes, der Artikulation sowie Beispiele der Interpretation. Da Frau C sich dabei weitgehend an ihrem persönlichen Deutungsmuster orientierte, kam es im Rahmen des Erhebungszeitraums selten zu spontanen Deutungen und Fragen von Seiten der Schüler. Die Reihenfolge derjenigen, die an diesem Tag im Anschluss an das Begrüßungsritual ihr Gedicht rezitieren sollten, wurde nicht verhandelt, sondern durch die Lehrerin gesetzt, indem sie zuvor alle Betroffenen durch Nennen der Namen ankündigte. Nach den ersten fünf Schülern (drei Mädchen, zwei Jungen) verließ Celia, deren Name zuvor ebenfalls genannt worden war, unaufgefordert ihren Platz, ging nach vorne, wendete sich zur Klasse und eröffnete ihren Vortrag mit einem knappen „ja“. Obwohl eine formalisierte Eröffnung hier entfallen konnte, da das Publikum bereits in der Klasse anwesend war, zeigt Celia damit ein gewisses Feingefühl für die Bedeutung einer spezifischen Interaktionsform: Sie fängt nicht einfach mit ihrem Vortrag an, sondern markiert eine Art Rahmung in Gestalt einer nicht formalisierten Selbsteröffnung, etwa im Sinne von „Also ich fange mal an.“ Damit erheischt sie zugleich die Aufmerksamkeit ihrer Mitschüler. Unmittelbar nach dieser Eröffnung setzt Celia fort mit den Worten 1 C: „ich hab mir die ratlose Liebe von Johann Wolfgang von Goethe ausgesucht/…
4.4 Miniatur der Fallrekonstruktion Celia, Schule C: „Ratlose Liebe“
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Celia beginnt mit einem expliziten Bezug auf sich selbst („ich hab mir“). Sie schließt sich damit der Reihe ihrer Vorredner an, nimmt zugleich aber Distanz, um einen Freiraum zu schaffen für das, was sie selber zu sagen vorhat. Auch wenn der bisher herausgearbeitete innere Kontext nicht dargestellt ist, dürfen wir davon ausgehen, dass Celia hier – ebenso wie ihre Vorredner – zunächst den Titel des Gedichtes nennt, für das sie sich entschieden hat. Die Tatsache, dass sie den Autor des Gedichtes kennt und benennt, könnte durch das bereits weiter oben konstatierte Gefühl für Interaktionsformen, durch ein Übernehmen der Eröffnungsformel ihrer Vorredner oder auch als Erfüllungsfigur einer von ihrer Lehrerin erwarteten Einführungsform motivierbar gemacht werden. Ihre Formulierung ist dennoch nach zwei Richtungen hin begründungsbedürftig: Erstens impliziert das Wort „ausgesucht“ das Vorliegen mehrerer Objekte, aus denen Celia eines als das zu ihr selber bzw. ihrer Situation oder Befindlichkeit passende erkannte. Es handelt sich also – im Gegensatz etwa zu Filips Fall – um eine zwar spontane, doch mit Blick auf die Thematik wahrscheinlich von hoher Affektivität und persönlicher Betroffenheit begleitete Entscheidung. Für lyrische Kostverächter bleibt jedoch unklar, ob der Titel in Celias Fassung einen Artikel trägt oder nicht. Rein sprachlich könnte das Gedicht ebenso gut „Die ratlose Liebe“ wie „Ratlose Liebe“ heißen. Dem ersten Fall entspräche ein tendenziell episches Gedicht mit dem Titel „Die ratlose Liebe“; im zweiten Fall erwartete man eher die künstlerische Gestaltung eines starken Gefühls. Bezogen auf unseren Fall wäre also die Frage nach dem Movens ihrer Entscheidung, d. h. ob Celia sich zum narrativen Gehalt des Gedichts oder zu dem Gefühl selbst geneigt fühlt. Es widerspräche der oben diagnostizierten Form einer gezielten Entscheidung, wollte man die Äußerung Celias mit einer ungenauen Kenntnis des Titels motivierbar machen. Ziehen wir hinzu, dass häufig schon das Lesen der Gedichtüberschrift eine (die entscheidende!) Spontandeutung evoziert, spricht alles dafür, dass Celia mit der Formulierung, sie habe sich „die ratlose Liebe…ausgesucht“, zum Ausdruck bringen will, das Objekt ihrer Wahl sei nicht das Gedicht, sondern das Gefühl (der ratlosen Liebe), in dem sie sich mit Goethe in Einklang fühlt. Dies impliziert, dass auch sie sich in einem verliebten Zustand befindet. Darin findet sie eine Spur, mit der sie sich identifizieren kann – oder vorsichtiger: die sie sich „ausgesucht“ hat. Zweitens bringt Celia das Gefühl der Liebe mit einem Gefühl von Ratlosigkeit zusammen. Damit unterläuft ihr ein Fehler, der dem Sinn des Originals völlig widerspricht. Wie wir wissen, hat Goethe dies mit den Worten „Rastlose Liebe“ überschrieben. Es könnte sich bei Celias Wortlaut entweder um eine schlichte „Verwechslung“ handeln, deren Ursache in der für moderne Heranwachsende eher ungewöhnlichen Wendung „rastlos“ (vor allem in der Kombination mit Liebesgefühlen) zu suchen wäre. Eine andere Lesart wäre, dass eine eklatante Fehl-
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leistung von Celia vorläge, die motivierbar zu machen wäre.183 In beiden Lesarten bleibt erklärungsbedürftig, ob sie den Widerspruch zwischen dem inneren Gehalt des Gedichts und seiner Überschrift überhaupt bemerkt hat. Falls dies so wäre, ist die Frage, wie sie diesen Kontrast in ihre Lesart integrieren konnte. Die Lesart Celias könnte unter folgenden Bedingungen einen Sinn für sie ergeben: Der Adressat des Verliebtseins ist ihr schwer oder gar nicht erreichbar. Sie wird sich demnach fragen, wie sie ihn trotzdem sehen, ihm ihre Zuneigung zeigen, wie es weiter gehen kann. Falls Celia für alle diese Fragen selbst keine Lösung fände, wäre der Titel „Ratlose Liebe“ ein durchaus adäquater Ausdruck ihrer eigenen Ratlosigkeit und eine Erklärung für ihre Identifikation mit dem Gedicht. Die zweite Option ist eine Variante von „Unerreichbarkeit“, nämlich dann, wenn die Zuneigung einseitig bleibt und Celia keine Gegenliebe findet. Die Verbindung kommt trotz ihrer sehnsüchtigen Wünsche und Versuche nicht zu Stande, sie gibt sich in ihren Gefühlen einer Illusion hin, aber das Objekt ihrer Zuneigung bleibt passiv. Der Status quo wird für Celia zum Dauerzustand, ihre unerwiderten Gefühle machen sie hilflos und münden in Ratlosigkeit. So deutet sie unbewusst den Titel des Gedichtes ihrer eigenen Befindlichkeit entsprechend durchaus angemessen in „Ratlose Liebe“ um. Im Gegensatz dazu lebt in der originalen Formulierung „Rastlose Liebe“ eine fast maßlose Unruhe als ein Ausdruck heftiger Verliebtheit: Da ist alles in Aufruhr, alles in Bewegung; die beiden Verliebten finden „weder Ruhe noch Rast“, können sich nicht häufig genug sehen, fordern und geben ständig Beweise ihrer gegenseitigen Zuneigung. Entspräche dies Celias Situation, würde sie sich allerdings eher überwältigt fühlen von der Last eines schier unerträglichen Gefühlsüberschwanges, der in diesem Falle jedoch einem Glücksgefühl ähnlicher wäre als einer Ratlosigkeit. Bisher kann Folgendes festgehalten werden: Für Celias Wahl war ihre Lesart der Gedichtüberschrift ausschlaggebend. Mit einem gewissen Vorbehalt lässt sich hinzufügen: Die signifikante Kombination des Begriffes „Liebe“ mit dem 183 Ursprünglich bezeichnete das Wort „Rast“ ein altgermanisches Wegmaß (etwa im Sinne von „Weg zwischen zwei Ruhepausen“, auch „Ruhelager, Totenlager“), vgl. Kluge 2002: 745. Heute wird das Wort „Rast“ höchstens für eine Pause im Laufe einer Wanderung gebraucht bzw. im selben Sinne in Wortverbindungen wie „Raststätte“, „Rastplatz“ o. ä. Stimmungsmäßig kommt dies noch zum Ausdruck in der (gehobenen) Formulierung, jemand habe „nicht Rast noch Ruhe“. Im Gegensatz zu „rastlos“ bedeutet „ratlos sein“ im gewöhnlichen Sprachgebrauch, dass jemand nicht mehr weiter weiß, dass Vorräte (an Lösungsmöglichkeiten, an Ideen, an Perspektiven) erschöpft sind und ein Prozess zum Stillstand gekommen ist. Der Ausdruck wird häufig verwendet, wenn jemand bereits mehrere Versuche gemacht, verschiedene Möglichkeiten ausprobiert hat, um zum Ziel zu kommen. Da das Ziel trotz der aufgewendeten Mühe nicht erreicht wurde, sagt der Betreffende: „Ich bin ratlos“ im Sinne von „Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll“. Er braucht nun Anregungen und Denkanstöße von Anderen, damit der Vorgang wieder in Gang gesetzt werden kann.
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Attribut „ratlos“ war für sie deshalb spontan anziehend, weil sich darin ihre eigene Gefühlslage (Ratlosigkeit in Verbindung mit Liebe) spiegelte. Wie zuvor angedeutet, bleiben bei beiden der oben genannten Optionen Fragen offen, nämlich wie die Verbindung von Ratlosigkeit und Liebe im Aspekt des frühadoleszenten Status mit damit verbundenen Grundstrebungen (Entwerfen, Probieren, Riskieren u. ä.) zu begründen sein könnte, ob es sich bei der Fassung „Ratlose Liebe“ um eine Fehlleistung handelt oder wie das Übersehen des inneren Widerspruchs zur Ausdrucksgestalt des Textes motiviert sein könnte. Aufgrund des bisher herausgearbeiteten inneren Kontextes kann die riskante Fallstrukturhypothese formuliert werden, dass Celia in welcher Form auch immer ein auf der Beziehungsebene vorliegendes gravierendes Problem hat, das sie ratlos macht und im Zugehen auf das Gedicht die signifikante Lesart der Überschrift auslöst. Nach einem mit „em“ gefüllten Zögern setzt sie ihre Äußerung fort: 2 C: ich fand den (,) Titel einfach intressant/…184 Durch diesen ersten Begründungsansatz Celias scheidet die Option einer schlichten Verwechslung der ungebräuchlichen Wendung wegen aus. Es bestätigt sich vielmehr, was oben mit Vorbehalt formuliert wurde: Celia „fand…intressant“, was sich in ihrer Lesart der Gedichtüberschrift, d. h. in der Verbindung von Ratlosigkeit und Verliebtheit ausspricht. Dies impliziert ein starkes emotionales Berührtsein, ein schon am Titel erwachtes Interesse, das sie derart einnimmt, dass sie die Worte spontan mit ihrer eigenen Befindlichkeit identifiziert. In dieser neuen Wort-Kombination „ratlose Liebe“ kann sie sich selber zum Ausdruck bringen. Die Differenz zwischen ihrer Lesart des Titels und dem realen Text fällt Celia nicht auf. Sie instrumentalisiert ihn und konstruiert ihn unwillkürlich so um, dass der Titel ihre eigene Situation überschreibt. Dies gibt ihr zwar eine gewisse Stabilität, zugleich aber wird ihr Blick in den real vorliegenden Text verblendet. Mit dem Zusatz des Wortes „einfach“ geht Celia auf Distanz, als wolle sie weitere Begründungsanforderungen abwehren. Angesichts der hoch affektiv besetzten Identifizierung mit dem Gedichttitel kann ausgeschlossen werden, dass es sich bei Celias Fassung um einen reinen Flüchtigkeitsfehler beim Lesen handelt. Riskant könnte hier vielmehr von einer eklatanten Fehlleistung auf der visuellen Ebene (d. h. einem „Ver-Lesen“) gesprochen werden. Stark wird diese Lesart dadurch gemacht, dass Celia Titel wie Gedicht während der Vorbereitung für die mit dem methodischen Setting verknüpfte performatorische Selbst-Präsentation in der Klasse sicher nicht nur einmal gelesen hat. Ein so drastischer Flüchtigkeitsfehler müsste ihr dabei aufgefallen sein. Motivierbar gemacht werden könnte die Fehlleistung Celias indes unter 184 Zu „interessant“ vgl. Kluge, a.a.O., S. 444
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der Prämisse, dass sie – wie zwanghaft – die Überschrift schon immer so gelesen hat, in einer Art Tic ihren eigenen ratlos verliebten Zustand ausdrückend, etwa weil sie befürchten muss, ihren Freund zu verlieren o. ä.. Nicht völlig auszuschließen ist als zweite Option, dass sich die Fehlleistung auf der phonetischen Ebene ereignete, d. h. nicht als eine Lese-, sondern eine Aussprache-Fehlleistung, etwa in Folge einer gewissen Aufregung, über ein derart intimes Thema vor der Klasse sprechen zu müssen, sei es auch nur in den Worten des Dichters. Celia hätte dann die Überschrift zwar richtig gelesen, ihre innere Beklommenheit und Ratlosigkeit beim Rezitieren in der Klasse jedoch auf den Titel übertragen und sich daher „versprochen“. Dagegen spricht allerdings, dass sie sich das Gedicht in Kenntnis der damit verbundenen Bewährungsanforderung „ausgesucht“ hat. Da ihr die gemeinsame wie auch einzeln zu vollziehende interaktive Praxis des Gedichtrezitierens hinlänglich bekannt ist, hätte sie leicht ein anderes Gedicht auswählen können. Aufgrund des bisher herausgearbeiteten inneren Kontextes können wir festhalten: Im Prozess des Aussuchens (einer Passung) „fand“ Celia die signifikante Wortschöpfung „Ratlose Liebe“ als Ausdruck eines starken affektiven Berührtseins. Die Widersprüchlichkeit zwischen ihrer Lesart und der Kernaussage des Gedichtes ist ihr nicht bewusst, sondern sie „fand einfach“ einen elementaren Teil eigener Befindlichkeit in der Überschrift repräsentiert und „las“ den Gesamttext fortan in der Gefühlsbefangenheit von ratloser Liebe. Mit Hilfe dieser eklatanten, angesichts der Präsentation vor Anderen fast dramatischen Fehlleistung assimiliert Celia das Gedicht ihrer eigenen Befindlichkeit. Durch diese Assimilation wird der reale Duktus des Gedichtes, seine stürmisch treibende Kraft zu einem absoluten Kontrast: Der Rastlose, dem alles nicht schnell genug geht, der durch alle Widrigkeiten sich hindurchkämpfend seinem Ziel entgegen eilt, wird zu einem Bild der Resignation, zu einem Kämpfenden, der aus Angst vor einem Scheitern ratlos wird. Celias Identifikation mit dem Werk wurde dadurch möglich, dass der perzeptive Vorgang des Lesens (der Gedichtüberschrift) gesteuert wurde von persönlicher Betroffenheit, von Emotionen, die – in ihrem Fokus – mit denen des Dichters korrespondieren. Diese spontane Identifikation vollzog sich jedoch nicht auf der Basis eines wahrnehmungsoffenen Prozesses und Begreifens der Aussage eines Anderen (des Dichters), sondern wie eine Art Umstülpungsprozess. Unbewusst setzte Celia eine höchst eigenwillige Technik der Angleichung ein, um Konvergenz herstellen und festhalten zu können. Anders ausgedrückt: Dass Celia den inneren Widerspruch nicht bemerkt oder ihn negiert, impliziert, dass sie eine ästhetische Krise vermeidet und das Gedicht so umformt, wie sie es als zu sich passend empfindet. Unmittelbar danach setzt Celia ihre Äußerung fort mit den Worten:
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3 C: „mag einfach Lieb- Liebesgedichte und (2) ich fand einfach den Inhalt wunderschön“185. Ihr zweiter Begründungsansatz erhebt keinen Anspruch auf eine reflexiv gewonnene Bedeutungszuschreibung, sondern bleibt auf der Ebene allgemeiner Vorlieben: Sie „mag einfach“186. Das nächste Wort „Lieb-“ bricht sie ab. Motivierbar zu machen wäre der Abbruch unter der Voraussetzung, Celia wolle kaschieren, dass sie im Medium des Goethe-Gedichts nicht nur das Objekt ihrer Zuneigung, sondern auch das Gefühl selbst genießt („mag einfach Lieb-“), so als wolle sie sagen „Ich bin einfach gerne verliebt“. Dies korrespondiert mit Celias erstem Begründungsversuch in 1 C, als sie sagte „ich hab mir die ratlose Lieb …ausgesucht“: Es ist das Gefühl der Liebe, das sie beschäftigt und zugleich ratlos macht. Durch das Wort „einfach“ erhält die Äußerung die Funktion einer Beschließung (im Sinne von „das ist eben so, ich fand das interessant, frag mich nicht weiter“) und erheischt Entlastung im Hinblick auf weiteres Begründungsbegehren. Es folgt jedoch ein weiterer Ansatz, die Äußerung fortzusetzen („und“), Celia aber macht eine Pause, bevor sie nun auf den Inhalt referiert. Durch die emphatische Attribuierung („wunderschön“), die Celia hier verwendet, wird die Qualität des alltäglich Schönen erhöht und zum Ausdruck ihrer vollständigen emotionalen Identifikation mit dem inneren Gehalt des Gedichts. Umso deutlicher wird, dass sie über die Differenz zwischen Überschrift und Textinhalt hinweg gelesen hat, wodurch die Lesart einer Fehlleistung des VerLesens stark gemacht wird.
Zusammenfassung des folgenden Analyseabschnittes Welche Möglichkeiten bleiben der Lehrerin nun, die prekäre Situation zu gestalten? Der Konflikt, in dem sie sich befindet, bezieht sich auf zwei in diesem Falle schwer zu vereinbarende Verpflichtungen: Die erste besteht im Rahmen ihrer Aufgabe als Vermittlerin von Wissen. Das bedeutet, dass sie etwas derart Fehlerhaftes nicht stehen lassen darf. Da der Fehler hier besonders eklatant ist, muss er korrigiert werden, und zwar am besten von ihr, der Lehrerin. Andernfalls liefe sie Gefahr, dass die Schüler selber darauf aufmerksam würden. Dies könnte für sie hin185 Es konnte leider nicht sicher identifiziert werden, ob ein Subjekt (z. B. ICH) vorausging, das nur undeutlich gesprochen wurde. 186 Das Wort „mögen“ ist nicht eindeutig zu differenzieren. Es gibt Bezüge zu den Verben „können“ „vermögen“, später eine Veränderung der Bedeutung, die ausging von negierten Sätzen „nicht können“, „nicht mögen“; vgl. Kluge, a. a. O., S. 626, 627. Dem Modalverb „mag“ kann „mit Hilfe des semantischen Merkmals (ZUWENDUNG) die Bedeutung ›(Zu)Neigung‹“ zugeschrieben werden, vgl. Weinrich 2005: 307
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sichtlich der Glaubwürdigkeit (in Bezug auf ihren Kenntnisstand, an dieser Stelle mehr noch bezogen auf ihre Aufmerksamkeit für das, was ein Schüler sagt) problematisch werden. Vor allem aber auf Celia könnte sich ein Nicht-Korrigieren durch die Lehrerin katastrophal auswirken. Denn eine Korrektur durch die Lehrperson wäre für Celia (besonders in einer derart heiklen Lage) wesentlich leichter zu verkraften als etwa korrigierende Zwischenrufe von Seiten ihrer Mitschüler. Die andere, im prägnanten Sinne pädagogische Verpflichtung der Lehrerin besteht darin, die Authentizität und Integrität der Schüler, die ihr anvertraut sind, unter allen Umständen so weit wie möglich zu schützen. Dies gilt insbesondere bei einer so fragilen Angelegenheit wie der Performanz eines selbst ausgewählten Gedichtes, dessen Auswahl zusätzlich noch begründet werden soll. Denn die persönliche Entscheidung für ein bestimmtes Kunstwerk, die verkoppelt ist mit individuellen Vorlieben, aktueller Befindlichkeit und persönlicher Situation eines Schülers, ist immer eine Eröffnung seiner Privatsphäre. Vor diesem Hintergrund müsste die Lehrerin Celia hier unbedingt schützen und dürfte sie nicht der Gefahr einer Beschämung vor der Klasse aussetzen. Eine Möglichkeit wäre, dass sie Celia das Gedicht zuerst vortragen ließe und den Fehler erst danach in einer geschickten und die Person der Schülerin schützenden Weise korrigierte, etwa indem sie den Titel wie nebenbei noch einmal originalgetreu wiederholt. Frau C entscheidet sich nach einer Bestätigung der Kenntnisnahme („ja“), einer kleinen Pause zum Abwägen der Risiken ihrer Reaktion und kurzem Zögern („em“) dafür, zunächst einmal nachzufragen, ob sie „richtig gehört“ habe: „Hast du gesagt ratlose Liebe(’)“. Dies ist objektiv berechtigt, da sie während Celias Eröffnung im Hintergrund des Klassenraums stand, also relativ weit entfernt von der rezitierenden Schülerin. Dadurch wäre theoretisch auch ein akustisches Nicht-Verstehen ihrerseits möglich gewesen. Die unverblümte Frage evoziert allerdings zugleich die Aufmerksamkeit der anderen Schüler. Das Problem wird augenscheinlich: Alle sind jetzt darüber informiert, dass Celia sich möglicherweise geirrt haben könnte. Damit ist Frau C die Möglichkeit aus der Hand genommen, eine Blamage Celias vor der gesamten Klasse zu vermeiden. Hinzu kommt, dass Celia durch die Korrektur eines möglichen Fehlers vor ihrer Rezitation im Grunde die Luft genommen wird und sie die von ihr erwartete performative Leistung gar nicht mehr oder nur schwer wird bringen können. Die Gefahr, dass Celia irritiert werden und scheitern könnte, wird noch dadurch erhöht, dass ihre Identifikation mit einem ihren eigenen Worten nach „wunderschön(en)“ Gedicht damit in ein absolutes Missverhältnis gerät zu einem gravierenden Fehler, der ihr schon beim Lesen der Überschrift unterläuft. Celia muss also befürchten, der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden. Sie steht plötzlich in vollem Rampenlicht und ist vollständig irritiert. Nach einer kurzen Zäsur folgt ein stark gedehnt gesprochener, durch die Stimmhebung am Ende als Frage zu qualifizierender Ausdruck („emmm“[’]), als wolle sie sagen: „Was meinen Sie?“ Danach
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macht Celia eine Sprechpause von etwa fünf Sekunden. Währenddessen blättern andere Schüler in ihren Unterlagen; jemand flüstert „Rastlose Liebe“, und Frau C fordert Celia auf „ja schau mal was da steht“. Dies kann sich sinnlogisch nur auf das Blatt mit dem Text beziehen, das Celia mit nach vorne genommen hat. Manche Schüler kichern. Gesetzt den Fall, Celia hätte zwar „Rastlose Liebe“ gemeint, aber in Anbetracht der Selbstpräsentation vor der Klasse wäre ihr in der Aufregung „Ratlose Liebe“ (auf der phonetischen Ebene) unbemerkt „herausgerutscht“, hätte sie auf die Nachfrage ihrer Lehrerin nicht mit einer derart totalen Irritation reagiert. Wir können daraus schließen, dass Celia die Überschrift bei der Vorbereitung ihrer Rezitation tatsächlich immer in der Fassung „Ratlose Liebe“ gelesen hat. Da die Frage der Lehrerin einer unmittelbaren Antwort bedarf, bleibt Celia nicht lange Zeit, ihre Irritation zu überwinden und über einen Anschluss nachzudenken. Sie muss sich also entscheiden und hat entweder die Möglichkeit, die Sache abzubrechen – was einem Scheitern gleichkäme – oder sich über die Peinlichkeit hinwegzusetzen, in ihrem Gedichttext nachzulesen und den Fehler gegebenenfalls offen einzugestehen. In der kurzen Pause (zwei Sekunden) entscheidet Celia sich für den zweiten Weg der Krisenlösung: Sie überprüft, was auf ihrem Blatt geschrieben steht und wird sich dabei ihres Fehlers bewusst. Dann liest sie die Überschrift sehr leise originalgetreu vor: „Rastlose Liebe“ und fügt noch leiser, kaum verständlich hinzu „ich hab immer ratlose Liebe gelesen (,)/…“. Mit entwaffnender Offenheit gesteht sie ihren Irrtum ein und bestätigt damit die Auslegung einer Fehlleistung. Es handelt sich jedoch nicht um ein bewusstes Korrigieren ihres Fehlers, sondern mehr um eine in Worte gefasste Ent-Täuschung, so als ob sie von einem verborgenen Gegenstand die Decke zöge: Entsprechend der Original-Überschrift sieht sie sich einer „rastlosen Liebe“ und damit einem völlig neuen Gedicht gegenüber. Einen Augenblick später wiederholt Celia den richtigen Titel noch einmal „Rastlose Lie-“, dabei wie mit einem leichten Atemstoß ausatmend, der wie ein helles Glucksen akustisch wahrnehmbar ist, so als wollte sie sagen: „Das ist ja nicht zu glauben!?“ Sie ist derart verblüfft, dass sie das Wort „Liebe“ abbricht und leise auflacht. Die meisten Mitschüler verhalten sich dabei still, manche verfolgen den Vorgang aufmerksam, andere scheinen unbeteiligt; zwei, drei Schüler lachen. Es ist dies ähnlich wie bei Celia selber ein überraschtes Lachen, aber eben doch ein Lachen über den Irrtum einer schulischen Mitakteurin und in diesem Aspekt auch über sie. Dennoch ist Celias spontane Krisenreaktion wahrscheinlich der beste Weg, sich in dieser Situation wieder Luft zu verschaffen: Sie begibt sich in die Position des Publikums und lacht mit den anderen mit. Durch dieses Mit-den-Anderen-lachen-Können zeigt sie, dass sie die Brisanz ihrer Situation erfassen und integrieren kann. Zugleich wird durch das Lachen die Spannung, in der Celia sich zweifellos befindet, zumindest teilweise gelöst.
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Dass Celia mit den anderen lachen kann, gibt zugleich ansatzweise Aufschluss über ihre personale Anerkennung in der Klasse sowie über die Atmosphäre einer grundsätzlich vorhandenen gegenseitigen Akzeptanz und Fairness der Akteure in Situationen einer klassen-öffentlichen Selbstpräsentation eines Einzelnen, die zu einem schambesetzten Ritual werden kann.187 Bei Celia kommt hinzu, dass sich im Vollzug des Lachens der illokutive Teil des Sprechaktes ausspricht, der in dieser Situation auf eine eher stabile Selbstgewissheit – man könnte auch sagen: eine Krisenerprobtheit – deutet und in einem gewissen Widerspruch zur Fallstrukturhypothese steht (Problem der Angst vor einem Scheitern). Im Anschluss daran bringt Frau C in pädagogisch höchst problematischer Weise das Intermezzo zum Abschluss „das ist eine Überraschung (,) gut“, wobei das akzentuierte „gut“ zugleich eine Aufforderung an Celia markiert, ihre Gedichtrezitation fortzusetzen. Zur gleichen Zeit lachen sowohl Celia selber als auch zwei, drei andere Schüler. Es dauert noch zwei bis drei Sekunden, bevor das Kichern der Schüler verebbt und Celia beginnen kann. Celia nimmt spontan den Jambus der ersten Strophe auf; auch dem Rhythmuswechsel zum Adonius folgt sie mit Leichtigkeit. In der dritten Strophe wird ihre Stimme immer leiser; die letzten beiden Zeilen werden nur noch „gehaucht“. Ihr Sprachduktus ist sehr zart, fast ein wenig kraftlos: am Versbeginn kurz anschwellend und zum Versende hin rasch abfallend. In der zweiten Strophe gibt es eine Stelle, die wegen Celias sehr leiser Stimme dem Protokoll nicht zweifelsfrei zu entnehmen ist. Es ist möglich, dass sie statt „alle das Neigen/von Herzen zu Herzen“ sagt „alle das Leiden/von Herzen zu Herzen“, was dem Inhalt der beiden Verse wiederum eine völlig gegensätzliche Färbung gäbe und eine weitere (signifikante!) Fehlleistung wäre. Da die Protokollstelle jedoch nicht eindeutig zu identifizieren ist, kann sie nicht zur Geltungsbegründung der Strukturhypothese herangezogen werden. Nachdem Celia geendet hat, erfolgt eine Anerkennung ihrer Vorbereitungsarbeit von Seiten der Lehrerin, danach eine längere Sequenz, in der Frau C an Celias Betonung feilt, Zäsuren und Versmaßgestaltung vorgibt, die Celia zu übernehmen versucht.188 187 Vgl. Idel 2007: 238 188 Die Lehrerin weist Celia z. B. darauf hin, dass der Dichter in der letzten Strophe nach dem „Wie“ ein Komma gesetzt habe. Sie folgt damit der Interpungierung von Herder, die jedoch mit der hier zitierten Ausgabe letzter Hand nicht übereinstimmt. Celia soll der Interpretation der Lehrerin entsprechend die dritte Strophe mit einer Zäsur nach „Wie“, i. S. einer Frage sprechen. Ich erwähne dies nicht aus philologischer Beckmesserei, sondern weil die Interpretation auch in der Fachliteratur durchaus strittig ist und dies Anlass für ein Gespräch mit der Klasse hätte sein können. Vgl. Goethe, 1998; ders. 1963; ebenso lt. der Interpungierung der Ausgabe letzter Hand, zit. nach Erich Trunz, Anmerkungen, a.a.O.: 542
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Zusammenfassung der Sequenzanalyse des Interviews mit Celia Das Interview findet während des Hauptunterrichtes in einem Vorbereitungsraum neben der achten Klasse statt. Nach einer Ratifizierung des sozialen Settings von Seiten Celias eröffnet die Interviewerin mit der Frage: 1 I: Darf ich dich bitten mirn bisschen zu erzählen (,) was du an dem Gedicht so schön fandst (,) das war jetztn bisschen kurz [Celia bestätigt: „ja“] und genau das intressiert mich eben (.) Diese an sie persönlich adressierte Interessensbekundung eröffnet Celia die Möglichkeit einer inhaltlichen Bezugnahme. Sie setzt ohne zu zögern zu einer ersten Erklärung an, indem sie zunächst auf ihre Begründung aus dem Unterricht rekurriert „ja also ich fan-“. Dabei fällt ihr offensichtlich selber auf, dass sie in ein altes (und gefährliches) Fahrwasser geraten ist; darum bricht sie ab und beginnt erneut: 4 C: ich mag halt Liebesgedichte verdammt gern ich mach auch zu Hause schreib ich manchmal Gedichte (.) Wenn jemand etwas „verdammt gern mag“, will er in der Alltagssprache damit eine nicht unbedingt reflektierte Vorliebe für etwas ausdrücken, fast schon so, wie wenn man Verständnis oder Entschuldigung erheischen wollte für etwas, was man zu seiner Vorliebe gemacht hat, was gesellschaftlich jedoch eher mit Sanktionen belegt wird. Der Ausdruck bittet also um Verständnis für Verhaltensweisen, die dem gesellschaftlichen Allgemeinurteil eher nicht standhalten bzw. die „verdammt“ sind. Celia bedient sich hier also einer inzwischen zwar umgangssprachlichen, aber durchaus hintergründigen Ausdrucksweise, um etwas zu begründen, womit sie sich auf der affektiven Ebene spontan identifizieren konnte. Sie informiert uns anschließend darüber, dass sie manchmal auch zu Hause Gedichte schreibe. Etwas später sagt sie: 5 C: ich (1) fand einfach den Inhalt also insgesamt das ganze dass esn bisschen traurig ist und ermutigend (1) dass es also dann doch wieder was geworden ist und (2) Celia bezieht sich zunächst auf den Inhalt, erweitert ihre Perspektive unmittelbar danach auf „das ganze“, d. h. die gesamte Ausdrucksgestalt des Gedichtes hat sie beeindruckt. Sie begründet ihr Berührtsein damit, „dass esn bisschen traurig…und ermutigend“ sei. Signifikant an dieser auf „insgesamt das ganze“ Ge-
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dicht bezogenen Äußerung ist, dass Celia als erstes das Traurige nennt, das sie offenbar beeindruckt hat und das sie zugleich als ermutigend empfindet. Das Traurige und Ermutigende entspricht jedoch auch hier nicht dem stürmisch Drängenden des Goethe-Gedichtes, sondern evoziert etwas Gedämpftes, Duldsames und korrespondiert eher Celias Lesart der Überschrift, der ratlosen Liebe, damit zugleich ihrer Befindlichkeit: Etwas, was schon einmal da war, muss sich gegen Widerstände behaupten. Das macht sie „bisschen traurig“. Das Ermutigende liegt für sie darin, dass „das ganze wieder was geworden“ ist, dass es „doch“ geheilt werden konnte. Signifikant an dieser Sequenzstelle ist – wie schon bei der Überschrift – Celias Deutung der ersten Strophe, d. h. das Gefühl der Traurigkeit in Verbindung mit Versen wie „Immer zu! Immer zu! Ohne Rast und Ruh!“ An dieser Stelle der Analyse wurde aus Celias objektiven Daten eine wichtige biographische Besonderheit thematisch, die im weiteren Fortgang berücksichtigt werden soll, um eine möglichst riskante Fallstruktur zu generieren und diese überprüfen zu können: Celia kam im Laufe des Interviews selber darauf zu sprechen, dass sie ein Jahr älter sei als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler und erklärte auf Nachfrage der Interviewerin, sie sei Frühgeborene. Laut Aussage ihrer Lehrerin im Rahmen eines späteren Telefongespräches war Celia etwa in der 22. Schwangerschaftswoche mit einem Geburtsgewicht von knapp 1000 Gramm geboren worden. Entsprechend der medizinischen Klassifizierung gehört sie damit zu den extrem kleinen Frühchen.189 Um eine möglichst genaue Vorstellung des Frühgeborenenstatus zu gewinnen, soll darauf im Rahmen eines Exkurses näher eingegangen werden.
Exkurs: Zur Habitusformation von Frühgeborenen In ihrer Magister-Arbeit „Frühe Habitusbildung im Kontext von Frühgeburtlichkeit“ (Schlick 2009) stellt die Autorin einen Wirkungszusammenhang von Frühgeburtlichkeit und Habitus her. Schlick bezieht Schwangerschaft und Geburt auf das Konzept von Krise und Routine (Oevermann 2004). Sie sieht den erfolgreichen Geburtsvorgang eines neun Monate ausgetragenen und entsprechend ausgereiften Neugeborenen als erfolgreiche Krisenbewältigung, die sich ins Körpergedächtnis des Kindes als eine erste Form eines strukturellen Optimismus mit dem Grundgefühl ‚Im Zweifelsfalle geht es gut’ einprägt.190 Dementsprechend kann bei Frühgeborenen davon ausgegangen werden, dass dieses für die weitere Entwicklung eines Kindes hoch bedeutsame „Erbe“ eines strukturellen Optimismus 189 Vgl. Schlick 2009: 56 190 Vgl. den Begriff des „Urvertrauens“ bei Erikson 1992/2: 70
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zumindest eingeschränkt ist. Dass auch von Frühgeborenen trotz erschwerter Überlebens-Bedingungen ein gewisses Quantum an Positivität und Optimismus akkumuliert wird, wird von der Autorin nicht bestritten (Schlick a.a.O.:20). Die Habitusformation eines strukturellen Optimismus wird als Basis für das Potential an Selbstvertrauen gesehen, das nötig ist, um wichtige Entscheidungen des späteren Lebens treffen zu können in der Zuversicht, dass sie sinnvoll und angemessen sein werden. Eine strukturell pessimistische Lebenshaltung mit dem Grundgefühl ‚Im Zweifelsfall geht es schief’ führe hingegen dazu, dass der oder die Betreffende Krisen aus dem Weg geht und möglichst alles vermeidet, was Krisen auslösen191, aber zugleich Entwicklung in Gang setzen könnte.192 Die Untersuchung der Autorin ist so angelegt, dass die Konzeption der Habitusformation anhand von Einzelfallrekonstruktionen von Frühgeborenen erschlossen wird. Deren strukturelle Gemeinsamkeit bildet die Folie, mit deren Hilfe die Hypothese eines strukturellen Optimismus bzw. Pessimismus als erster Schritt in Richtung einer empirisch untermauerten Exploration der Fragestellung nach der Habitusformation von Frühgeborenen erfolgen könnte. Zieht man zu Schlicks Untersuchung der strukturellen Gemeinsamkeit von Frühgeborenen Äußerungen von betroffenen Jugendlichen und Erwachsenen hinzu, wie sie zum Beispiel in Form von Tagebuchaufzeichnungen und Gedichten in web blogs veröffentlicht werden, wird das Ergebnis der Untersuchung von Schlick bestätigt.193 Für die vorliegende Analyse ist das Modell des strukturellen Optimismus bzw. Pessimismus insofern interessant, als die Fehlleistung von Celia, mehr aber noch die Deutungsmuster, die sie mit dem inneren Gehalt des Gedichttitels „Ratlose Liebe“ verbindet, auf der Folie ihres Frühgeborenenstatus schlüssig erklärt werden können. Hier eine de facto vorliegende strukturell pessimistische Habitusformation zu diagnostizieren, würde den Rahmen des von mir bestimmten Untersuchungsfalles sprengen. Für diesen kann das Hinzuziehen des Habituskonzepts lediglich ein weiteres Kriterium sein, mit dem bestimmte Phänomene von Celias Bildungsbewegung motivierbar und deren Struktur sichtbar werden. 191 Ich folge hier dem Verständnis von „Krise“ als einem produktiven Moment, in dem sich entscheidet, ob eine Entwicklung erfolgreich verläuft (das heißt mit Imponderabilien umgehen lernt) oder – aus welchen Gründen auch immer – nicht stattfindet. 192 Vgl. Eriksons „Entwicklungsaufgaben“ und sein Begriff für die erste Stufe seines Lebenslaufmodells (basic trust versus basic mistrust) 193 So z.B. das Gedicht einer erwachsenen Frühgeborenen: „Lebensweg /Ich habe gekämpft/und bin gefallen/ich rappelte mich auf/Erneut begann ein Kampf/ich fiel sehr tief/Jedoch – ich stand wieder auf/Noch ist dies Kämpfen nicht beendet/ich falle und falle/tiefer denn je/Und in mir ist Wissen/ich steh wieder auf/Doch jetzt tut es noch weh/Und so wird es immer sein/ Fallen und Aufstehen/Ich schaffe es schon allein“ (zit. nach einem im Forschungspraktikum bei Oevermann interpretierten Material von B. Schlick).
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Wenig später rekurriert Celia bei der Frage, ob sie sich das Gedicht in Szene gesetzt vorstellen könne und was sich darin abspiele, spontan auf die ersten beiden Verse der zweiten Strophe und sagt: 6 C: so ma leidet lieber und schlägt sich durch als als so ne Freude zu ert- also (1) also so’ne Freude zu ertragen also em (schluckt) (1) Celias erste Bezugsquelle ist das Leidvolle. Da sie hier die generalisierende Form verwendet („ma [d.i. man]“), drückt sich darin so etwas wie ein Grundgefühl aus, eine gesteigerte Sensibilität für Trauriges, die akzentuiert gesprochen wird: „ma leidet lieber und schlägt sich durch“. Das Abbrechen ihrer folgenden Äußerung, die Pausen und Wiederholungen zeigen, wie schwer es ihr fällt, sich zu artikulieren. Es reproduziert sich das Muster, das sich weiter oben bereits abgezeichnet hat: ein dynamischer Wechsel von Traurigkeit und Ermutigung, von Sich-durch-Leiden-Schlagen, bzw. „durch die Natur“-Gehen, wie sie an anderer Stelle sagt (TZ 9-10). Die „Natur“ drückt sich aus als etwas, durch das man hindurchgehen muss wie durch Schnee und Wind. Die Freude hingegen wiegt so schwer, dass sie kaum „zu ert-“ ist, was sinnlogisch „zu ertragen“ heißen müsste, aber das Wort wird abgebrochen. Erst durch die Wiederholung „so’ne Freude zu ertragen“ wird die Äußerung konsistent. 7 C: (atmet aus:) hm wie soll mas erklärn em (2) also lieber durch also Leiden (2) möchten sie sich schlagen als (2) durch die Freude zu gehen (.) Nach einem für sie charakteristischen Ausatmen, mit dem Celia sich Luft schafft („hm“) fragt sie „Wie soll mas erklärn em“. Celia hat bisher ihre Deutung authentisch ausdrücken können. Mit der Frage ist nun markiert, dass sie sich ohne klischeehaft zu werden nicht weiter ausdrücken kann, so als wolle sie sagen: „Weiter geht’s jetzt nicht. Man müsste es besser ausdrücken können, aber ich kann es nicht.“ Sie bricht jedoch nicht ab, sondern eröffnet nach einer Pause einen neuen Erklärungsansatz („also“). Wiederum bezieht sie sich zuerst auf „Leiden“, macht dann eine Pause und bestätigt, was sie am Anfang dieser Sequenzstelle gesagt hat, diesmal jedoch nicht verallgemeinernd („man“), sondern sie bezieht hier die beiden Liebenden in ihre Deutung ein („sie“): Lieber durch Leiden „möchten sie sich schlagen als (2) durch die Freude zu gehen.“ Auf die Frage, ob es ein Mann oder eine Frau sei, die in dem Gedicht spreche, erwidert Celia „mmn Mann würd ich sagen“. Da Goethes Verse das Gedicht ihrer Wahl waren, impliziert dies eine – wenn auch durch Celias Deutung anders begründete – Identifikation mit dem lyrischen Ich, das sie hier mit der Position eines Mannes gleichsetzt. Ziehen wir hinzu, dass Celia sich im Zusammenhang mit ihrer Aufgabe für ein Exemplar der Gattung Liebesgedicht entschieden hat,
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liegt es nahe anzunehmen, dass sie selber zurzeit verliebt ist, was sie im Laufe des Interviews bestätigt. Daraus können wir mit Vorbehalt schließen, dass Celia das Gedicht der Person ihrer Zuneigung in den Mund legt, so dass diese so zu ihr spricht, wie sie es von ihrem Liebsten zu hören wünscht. Sie imaginiert also: So wie der Verliebte im Gedicht sollte der Mann, den sie liebt, zu ihr sprechen. Dass Celia den inneren Gehalt des Gedichtes relativ genau erfasst hat, wird an einer späteren Stelle sichtbar, in der die Interviewerin sie danach fragt, wo sie im Text lese, dass es wieder gut werde. Celia antwortet: 8 C: also „Krone des Lebens Glück ohne Ruh Liebe bist du“ also (I: hmhm) (1) also „wie soll ich fliehen wälderwärts ziehen“ also (1) wie soll ich dort hingehen und (1) muss ich eigentlich dort hin (ja.) und also dass-s halt (1) doch nich alles vergebens is und die Krone und das Leben und das Glück und die Ruhe also das is halt alles die Liebe und (1) das gibt ihm halt sozusagen die Kraft Hier nimmt sie noch einmal „insgesamt das Ganze“ in den Blick und resümiert mit einem Bezug auf den letzten Vers: Liebe ist die Krone des Lebens und zugleich ein Glück, dessen Ruhe aufgestört wird durch Fragen wie „Soll ich?“ oder „Muss ich eigentlich?“. Sprachlich ist Celias Begründung noch ziemlich konfus, aber die Richtung, die Gesamtgestalt ist bei ihr angekommen. Die Interviewerin rekurriert wenig später auf die anfängliche Bekundung Celias, dass sie selber Gedichte schreibe, und fragt: „Hast du nich eins dabei oder so oder weißt du eins auswendig was du mir sagen könntest (2) oder auch wolltest“. Damit stehen Celia mehrere Optionen offen: Sie kann die Frage bejahen und ihr Gedicht quasi „herausgeben“, sie kann ausweichen oder aber rundheraus ablehnen. Celia reagiert indessen unerwartet positiv, indem sie nach einem von „em“ gefüllten Zögern mit „ja“ die Anforderung annimmt, mit „also“ die Herausgabe des von ihr verfassten Gedichtes eröffnet und damit einer ihr völlig fremden Person einen irreversiblen tiefen Blick in ihre Privatsphäre gewährt. Celia spricht: 9 C: An einer Rose habe ich gerochen, An einem Dorn habe ich mich gestochen, Mit Blut habe ich geschrieben, Für immer werde ich dich lieben. Celias Gedicht ist forschungslogisch zwischen einem edierten und (da im Interview sprachlich realisiert) einem natürlichen Text angesiedelt. Es ist einerseits eine authentische Selbstaussage, nicht aber ein Gedicht im Sinne eines autono-
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men Kunstwerkes.194 Daher werde ich die Textauslegung auf die essentielle Metaphorik fokussieren: Aufgrund des Verlaufs der Rekonstruktion können wir davon ausgehen, dass die Autorin des Gedichtes und das lyrische Ich hier identisch sind. Sie, die Dichterin, ist die Aktive, die sich dem Objekt (der Rose) nähert, sich ihm zuneigt, sich mit ihm auseinandersetzt. Dies ist zum Teil genussvoll (sie riecht den Duft), zum Teil schmerzhaft (sie sticht sich) und gipfelt schließlich in einer Aktion, die im Gefühlsüberschwang geschieht und doch intendiert ist: Sie schreibt mit Blut. Sowohl im Schmerz des Gestochenwerdens als auch im Schmerz, der dem Schreiben mit (ihrem eigenen) Blut vorausging, ist sie die Trägerin der Handlung, sonst würde sie im Passiv sprechen und sagen „von einer Rose wurde ich gestochen“. In drei zarten Bewegungen öffnet die Sprecherin sich nach außen, das heißt ihrem Geliebten bzw. dem Gefühl der Liebe zu: in der Annäherung an die Rose als dem Symbol der Liebe, in der schmerzhaften Begegnung mit ihren Stacheln, schließlich in dem, was sie aus ihrer Erfahrung in eine Form bringen und schriftlich festhalten kann. Erst im vierten Vers spricht sie aus ihrem Inneren, aus dem Gefühl ihrer Liebe zu dem, an den das Gedicht adressiert ist. Die Zeitperspektive bleibt in den ersten drei Versen gleich (Perfekt). Der vierte Vers vollzieht auch zeitlich eine Wendung: Er blickt in die Zukunft, eine Zukunft aber, der das „für immer“ Dauer verleiht. Die Dichterin gibt ein Versprechen, das sie mit Blut, ihrem Lebenselixier, besiegelt. Dementsprechend müsste der dritte Vers mit einem Doppelpunkt abschließen, nämlich Mit Blut habe ich geschrieben: Für immer werde ich dich lieben.
In diesem Falle wäre der Inhalt des mit Blut Geschriebenen eindeutig der vierte Vers, während die gesprochene Form noch offen lässt, ob Celia z. B. den Namen ihres Geliebten oder eine symbolische Liebeserklärung mit Blut geschrieben habe. Die Interviewerin greift an späterer Stelle Celias lyrische Versuche nochmals auf mit der Frage „Hilft dir das(,)“. Celia bejaht zunächst etwas zögerlich, kurz darauf sagt sie: 10 C: weiß nich (,) hm (2) in der Liebe also (10 Sekunden!) das is irgendwie beruhigend irgendwie so em einfach was über Liebe zu schreiben oder über sich selber (,) lernt ma sich manchmal besser kennen als man (1) irgendwie (,) denkt (3) ja hm(.) 194 Zur Differenzierung von guten Gedichten und Dichtungen, die auf das „unmittelbare Leben“ bezogen sind, vgl. Benjamin 1961:21-25
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Celia nimmt sich viel Zeit zum Nachdenken über diese Frage. In schlichten Worten kann sie den Bildungsprozess zum Ausdruck bringen, den sie durch eine Sinn gebende sprachliche Praxis zwar vollzogen hat (vgl. Kristeva 1978: 9), reflexivkognitiv aber noch nicht präzise fassen kann: Es ist noch vage, sie „weiß nich“. Was sie aus dieser elementaren Praxis aber gewinnt, ist das „irgendwie beruhigend(e)“ Gefühl, „einfach was über Liebe zu schreiben“. Durch das hinzugefügte „oder über sich selber“ wird der Horizont erweitert. Was zunächst auf die Bearbeitung des spannungsreichen Gefühls der Liebe bezogen war, wird nun zu einer Arbeit in der Sprache des frühadoleszenten Selbst. „Irgendwie beruhigend“ ist demnach nicht nur das Schreiben über Liebe, es unterbricht auch beruhigend die Sprache der greifbaren Realität und schafft einen Freiraum (der Kontemplation) für bisher Unsagbares, das in dieser Sphäre zum Bewusstsein sprechen kann, in der – wie Celia sagt – „ma sich manchmal besser kennen (lernt) als man (1) irgendwie (,) denkt“. Sie hat erfahren, dass Selbstbild und Selbstentwurf durch Denken allein nicht gefasst, aber in metaphorischer Sprache aussprechbar werden kann. Bemerkenswert dabei ist, dass Celia zu den Schülern gehört, die die rituell gebundene Praxis der Gedichtrezeption eher kritisch bewerten und den lyrischen Kanon, der im Unterricht behandelt wird, nur sehr eingeschränkt als eine Bereicherung erleben („sis jetz nich grad so mein Gebiet also was die Frau C für Gedichte hat das mag ich nich jetz grad so“). Ein Zugang eröffnet sich ihr durch die eigene Befindlichkeit, das latente Gefühl, sich durchsetzen, gegen etwas kämpfen zu müssen (das „dann doch“-Gefühl), das in Celias Neigung zu Gedichten über „Ärger und Streit …übern Tod und so was“ deutlich wird.195 Dies schlägt sich auch noch an zwei Sequenzstellen nieder, in denen sie sich über ihr Verhältnis zu ihren Mitakteuren äußert: 11 C: ich bin eher fast so der Außenseiter von der ganzen Klasse ja so (1) alle mögen sie mehr eins oder die ganze Klasse is eins und ich bin son richtiger Außenseiter. Ihrer Einschätzung nach ist sie („ich bin“) an der äußersten Peripherie der Mitakteure, d. h. im Verhältnis zur „ganzen Klasse“ fühlt und versteht sie sich selbst in ihrem basalen Sein – nicht nur mit Blick auf ihre Position – als (zunächst einschränkend) „fast“ so etwas wie der Außenseiter: Die „ganze Klasse is eins“ und „alle mögen sie mehr eins“. Sie wiederholt ihre Einschätzung kurz darauf profi-
195 Diese Nuance findet sich auch in Celias Erzählung über ihre Jahresarbeit. Sie habe für ihren Freund einen Samurai-Anzug entworfen und genäht. Der Samurai-Anzug werde zum Kampf getragen, aber manchmal auch an gewöhnlichen Tagen. Sie imaginiert ihren Freund demnach als einen Kämpfer und rüstet ihn diesem Bild entsprechend aus.
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lierend: „Ich bin son richtiger Außenseiter.“196 Auch hier bringt Celia wieder ein tendenzielles Gefühl, anders zu sein, zum Ausdruck: Auf der einen Seite steht die Klasse, sie selber sieht sich außerhalb. Umso höher anzusetzen ist Celias spontane Krisenreaktion nach dem Versprecher in der Klasse, die Möglichkeit des Mit-den-Andern-Lachens. Obwohl sie sich als „son richtiger Außenseiter“ einschätzt, bleibt sie empfänglich für das, was „von der ganzen Klasse“ zu ihrer peripheren Position hinüberreicht. Mit Bezug auf das gemeinsame Rezitieren sagt sie z. B.: 11 C: ja es is halt (1) ermutigend irgendwie dass ma halt zusammen spricht statt einzelnt … einzelnt is man so allein. Obwohl sie sich als eine Außenseiterin ihrer Klasse charakterisiert, empfindet Celia die Peergroup im Vollzug des chorischen Rezitierens als eine Stabilisierung gegen das Gefühl „einzelnt is man so allein“.
Schlussresümee und Ergebnis Fallrekonstruktion Celia Durch die Sequenzanalyse wird so als erstes Ergebnis die unbewusste Dynamik von Celias Fall aufgedeckt, die sich auf drei Ebenen vollzieht:
auf der genetischen Ebene mit der Problematik der Frühgeborenheit von Celia, die verknüpft ist mit dem Gefühl einer in den Leib eingeschriebenen latenten Gefahr des Scheiterns auf der psychischen Ebene in Form von (möglicherweise zwei) Fehlleistungen („Ratlose“ statt „Rastlose Liebe“/„Leiden“ statt „Neigen“), auf der leiblichen Ebene reproduziert sich das in der Fehlleistung grundgelegte Scheitern in der performativen Situation, also beim „Versprecher“.
Ausgangspunkt war Celias „Ratlose Liebe“, die Fehlleistung, hinter der die unbewusste Sorge von Celia steht, dass ihre Liebe im Zweifelsfalle scheitern werde, d. h. ihre strukturell pessimistische Grundstimmung. Dem entspricht das Scheitern auf der ersten Ebene. Das Gleiche wird aktuell reproduziert: Aus ihrem Habitus, ihrem aktuellen Zustand heraus wählt Celia für diesen Anlass (die Aufgabe, sich ein Gedicht anzueignen, adaptiert an die Didaktik des Unterrichts) ein Gedicht, das ihren Zustand prägnant ausdrücken soll. Sie trägt es vor, und schei-
196 Der Begriff Außenseiter geht zurück auf die Präposition „außen“ und bezeichnet textgrammatisch eine Ausgrenzung; vgl. Weinrich 2005: 669
4.4 Miniatur der Fallrekonstruktion Celia, Schule C: „Ratlose Liebe“
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tert schon beim Sprechen der Überschrift aufgrund der Fehlleistung. So reproduziert sich das genetisch zugrunde liegende Problem im sprachlichen Vollzug. Dem entspricht das Scheitern auf der zweiten Ebene. Damit scheitert auch das, was Celia eigentlich vorhat, nämlich das Gedicht dazu zu nehmen, um in einer ästhetischen Gestaltung ihre Nöte zu strukturieren und aussprechbar zu machen, was einem Scheitern auf der dritten Ebene entspricht: Das, wozu die Sache hätte dienen können, nämlich im Vortrag vor der Klasse eine Art Stimmigkeit herzustellen, bricht auseinander; das Gegenteil davon entsteht. Tendenziell ist Celia in der Klasse danach stigmatisiert als diejenige, die Gedichte „falsch“ liest und den Kern der ausgewählten Gedichte vollkommen missversteht. Inwieweit dieses dreifache Scheitern von ihren schulischen Mitakteuren sozial getragen und ausgeglichen wird, lässt sich im Rahmen dieser Arbeit nicht bestimmen. In Bezug auf ihre Verliebtheit bleibt es jedoch in Celias Unbewusstem. Ihr Unbewusstes nimmt das Scheitern vorweg, gemäß dem bei ihr vermuteten Habitus des strukturellen Pessimismus. Dies zeigen Celias zahlreiche Bezüge zu Krisensituationen, zu allererst in direkter Hinsicht auf ihre Verliebtheit, die per se krisenhaft ist, dann in unmittelbaren Bezügen zu Ratlosigkeit, Leiden und Tod, zu Sich-Durchschlagen und Kampf, schließlich das feine Mitschwingen eines tendenziell schwankenden Realitätsprinzips (Fehlleistung). Das zweite Ergebnis ist – das erste stark modifizierend – Ergebnis wachsender reflexiv-kognitiver Fähigkeiten und als eine Objektivation des Bildungsprozesses zu fassen, den Celia durchlaufen hat: das Gedicht für ihren Freund. Hier ist das Entscheidende die Distanzierungsbewegung und damit eine zumindest schrittweise Ablösung aus emotionaler Verstrickung (in das „Glück ohne Ruh“). Dadurch emergiert etwas Neues: Indem Celia mit ihrem selbst verfassten Gedicht etwas objektiviert gestaltet, objektiviert sie sich selbst, und zwar in einer Ausdrucksgestalt, die unter einem gewissen Formanspruch steht, deren Sinn ebenso erschlossen werden kann wie ein Kunstgedicht. Dieser Bildungsprozess Celias lässt sich in zwei Dimensionen darstellen: In Bezug auf das Goethe-Gedicht ist es die Dimension der ästhetischen Krise, die in der Darstellung des ersten Ergebnisses noch unberücksichtigt blieb. Die ästhetische Krise wird mit Hilfe einer Fehlleistung vermieden, indem Celia die Ausdrucksgestalt des Werkes ihrer persönlichen Gefühlslage assimiliert. Eine zweite Dimension ist die Abgrenzungsproblematik, durch die sie sich mit Hilfe eines kreativen Aktes (dem Schreiben über Liebe und über sich selber) eigenständig hindurchkämpft. Das Gedicht wird für Celia zu einem Entwurf für eine der großen Bewährungsanforderungen der Adoleszenz: die Gestaltung der Beziehung zu einem geliebten Anderen und dessen Bezug zu ihr selber.
5 Kontrastierungen
In diesem Kapitel wird uns die Kontrastierung der dargestellten Fälle beschäftigen, deren Arrangement aufgrund der bereits in Kapitel 3.1. genannten Kriterien einer maximalen Reichhaltigkeit und Dichte der individuellen Deutungen sowie der maximal kontrastierenden Rezeptionsformen der vier Probanden vorgenommen wurde. Um die Ergebnisse profilieren zu können, wurde als drittes Kriterium der Kontrastierung die Geschlechterdifferenzierung hinzugezogen.197 Obwohl die Frage des Genus in den Protokollen direkt nicht nachweisbar war, kam in den materialen Analysen eine gewisse Geschlechterasymmetrie in der Differenz zwischen Lebensalter und Entwicklungsalter zum Ausdruck, z. B. als stärker ausgeprägter Identitätsentwurf sowie einer Fähigkeit sich abzugrenzen bei Schülerinnen, als feine Differenziertheit der Aneignungsformen und Deutungsmuster bei Schülerinnen und Schülern. Ein Tilgen dieses Aspekts hätte z. B. dazu geführt, Natalías Fall als den maximal reichhaltigsten zu erklären, was die Komplexität der Ergebnisse nicht in vollem Umfang abgebildet hätte. Da es hier auch nicht um Leuchttürme lyrischer Adaption geht, habe ich die Reihenfolge aus Kapitel 4 aufgelöst und werde je zwei männliche und zwei weibliche Schüler kontrastieren. Mit Bezug auf die beiden Schülerinnen bot sich nach Sichtung der Analysen als ein weiteres Kriterium die maximal differierende Habitusformation von Celia und Natalía an. Die Kontrastierung ist so aufgebaut, dass zunächst die wesentlichen Dimensionen aus den Strukturen der untersuchten Fälle von Moritz und Filip, sodann die von Natalía und Celia herausgearbeitet werden, um so aus dem Besonderen ein Allgemeines zur Bildungsproduktivität von ganzheitlich rezipierter lyrischer Dichtung ableiten zu können. Da die Lyrikrezeption im schulischen Kontext in allen dargestellten Fällen eine mehrjährige Geschichte hat, in der eine individuelle Sedimentierung unterschiedlichster Erfahrungen stattfand, werde ich zu Beginn auch auf lyrische Erfahrungen der ersten Stunde eingehen, deren Spuren material nachweisbar, wenn auch hier nicht immer dargestellt sind. Sie werden an späterer Stelle in die Dynamik eines Bildungsprozesses einbezogen. Die betreffenden Stellen sind in der Regel durch einen Hinweis auf die Transkriptzeile (TZ) markiert und können 197 Ich verweise hierzu auf Ausführungen von King 2000 und 2002
H. Handwerk, Die Bedeutung von Lyrik in Bildungsprozessen der frühen Adoleszenz, DOI 10.1007/978-3-531-92737-4_6, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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5 Kontrastierungen
im Original der Interview-Transkripte nachgelesen werden, die sich im Anhang dieser Arbeit befinden. Die dem jeweiligen Interview entnommenen Zitate sind nachfolgend um der besseren Lesbarkeit willen durch VERSALschrift gekennzeichnet.
5.1 Moritz und Filip – „Ich bin es“ versus „Es ist nicht ich“ Erste Erfahrungen: Gedichte in pädagogischer Funktion Moritz kann sich auch nach einiger Zeit des Nachdenkens GAR NICH MEHR DRAN ERINNERN WIE’S AM ANFANG WAR, WIE ICH DAS DA EMPFUNDEN HAB (vgl. Sequenzstelle 10 M der Fallrekonstruktion), das an ein Ritual gebun-
dene Aneignen von Gedichten in der Klasse. ANFANG bezieht sich bei ihm allerdings nicht auf den Eintritt in die erste Klasse, sondern auf seinen Wechsel von der Grundschule in Beauville in die dritte Klasse der Freien Waldorfschule C, als Moritz etwa neun Jahre alt war. Das heißt, sowohl seine kognitive als auch seine psychische und leibliche Entwicklung war weiter fortgeschritten als beispielsweise bei Filip oder Natalía, bei denen die Erstbegegnung mit lyrischer Sprache im Kontext des Waldorfschulunterrichts in der ersten Klasse stattfand. Moritz hat sich also in einem Lebensalter in die rituelle Praxis von Gedichtrezitationen einleben müssen, in dem diese Erfahrung für ihn vergleichsweise ungewohnt war, denn er verneint die Frage der Interviewerin, ob das Rezitieren von Gedichten auch in seiner früheren Schule üblich gewesen sei. Demnach muss es zum damaligen Zeitpunkt für ihn etwas Neues, Außeralltägliches gewesen sein. Dass er sich dennoch GAR NICH MEHR DRAN ERINNERN kann, deutet zum einen darauf, dass Moritz zunächst keine Widerständigkeit mit dem Rezitieren im Kollektiv und dem Vortragen des Zeugnisspruches vor dem Klassenpublikum verbindet bzw. dass dies vor der Erfahrung seines gesamten neuen Lern- und Lebensumfelds in Deutschland zurücktritt. Zum anderen drückt sich darin Moritz’ starker Impuls zur Vergemeinschaftung mit der neuen Klasse aus, indem er sich deren Lern- und Unterrichtskultur anpasst und diesem Bestreben mögliche Gefühle von Fremdheit unterordnet. Sein Bedürfnis nach Kohärenz und Zugehörigkeit – verstärkt durch den Verlust seines kindlichen Lebensumfelds und die Trennung der Eltern – konzentriert sich nun auf seine neue Lerngemeinschaft. Aus heutiger Perspektive sieht er darum einzelne Erfahrungen seines Lernens auch nicht separiert vom gesamten Prozess, ein stabiles Verhältnis zu seiner neuen Klasse aufzubauen und sich mit der ungewohnten Schul- und Unterrichtskultur zu arrangieren. Deshalb kann er nicht sagen, WIE ICH DAS DA EMPFUNDEN HAB: Erinnerung und Empfindung sind aufgehoben im gemeinsamen Voll-
5.1 Moritz und Filip – „Ich bin es“ versus „Es ist nicht ich“
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zug. Die ungewohnte Lernkultur besitzt für Moritz noch jene Kraft, „die Beteiligten zu aktivieren und zusammenzuschließen“ (vgl. Wulf 2007: 11). Filip wird gleich bei der Eröffnung des Interviews in der Frage nach seiner Erfahrung mit Lyrik auf deren pädagogische Variante fokussiert: die Zeugnissprüche. Wie sich in der Fallrekonstruktion zeigt, reproduziert sich damit im Interview jenes Konglomerat künstlerischer und pädagogischer Absicht, das für Filips bisherige Haltung zu Lyrik kennzeichnend ist. Auf die Frage, wie für ihn der Anfang des Zeugnisspruch-Rituals gewesen sei (TZ 33-43), kommt Filip als erstes auf deren Textumfang zu sprechen: ICH HATTE EIGENTLICH IMMER LANGE / RELATIV LANGE / IMMER SO SEITENWEISE. In der Retrospektive dominiert bei ihm seit der Übergabe des Zeugnisspruches am Ende der ersten Klasse also das quantitative Moment, der Eindruck von sich LANGE und SEITENWEISE hinziehenden sprachlichen Gebilden. Subjektiv (er spricht fast immer in der Ich-Form) herrscht in ihm das Gefühl vor, er habe IRGENDWIE DIE GANZEN SOMMERFERIEN ÜBER GEÜBT. Sein spontanes inneres Bild der ersten Sommerferien ist demnach gerahmt von der Befürchtung, den Text IRGENDWIE auswendig lernen zu müssen, und zwar DIE GANZEN SOMMER-FERIEN über und IMMER. Der pragmatische Aspekt des Auswendiglernens muss also bereits damals für Filip relevant gewesen sein, denn er ist realistisch genug zu wissen, dass diese Erinnerung zwar sein Gefühl als Zweitklässler spiegelt, nicht aber dem tatsächlichen Textumfang entsprechen kann.198 Darauf deutet seine Korrektur RELATIV LANGE. Das erste Gefühl, das Filip mit lyrischer Sprache als etwas an ihn persönlich Adressiertes verbindet, bleibt also negativ besetzt und manifestiert sich in Gestalt einer Vorstellung von Textumfang, zu dem ihm Attribute wie LANGE, LANGE, SEITENWEISE einfallen. Dieses Gefühl begleitet Filip unterschwellig weiter, ist noch kein Begreifen, wohl aber eine „Erfahrung von innen her“ (vgl. Adorno 1977/3: 247). Sie könnte als ein erster Hinweis auf einen ursächlichen Zusammenhang von Filips Interesselosigkeit an lyrischer Sprache und seiner Distanz gegenüber dem Anspruch bestimmter Texte aufgefasst werden, der sich in der überdimensionierten Vorstellung: Zeugnissprüche HATT ICH IMMER SO SEITENWEISE und ICH HAB…DIE GANZEN SOMMERFERIEN ÜBER GEÜBT als Verbalisierung eines verbauten („verschatteten“) Zugangs zum Text
ausdrückt (vgl. Kokemohr 2007: 48-49). In der Dimension von Zugang gravieren sich so erste Linien einer Struktur ein, die sich fortschreibt und eine unvoreingenommene Lyrikrezeption nicht mehr gewährleistet. Wie sich noch zeigen wird, ist dieser Prozess jedoch keineswegs abgeschlossen.
198 Tatsächlich bestand der Zeugnisspruch für das zweite Schuljahr aus sechs, für das dritte aus neun Zeilen, im ersten Fall aus sechsunddreißig, im zweiten Fall aus fünfzig Wörtern. Ähnlich kurz sind auch die folgenden Zeugnissprüche von Filip.
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5 Kontrastierungen
Auf einer anderen Ebene gravierend ist die zweite Erinnerungsspur: Filip sagt, er habe in diesen Sommerferien UNHEIMLICH ANGST GEHABT. Diese Angst vor dem ersten klassenöffentlichen Ritual der Rezitation des eigenen Zeugnisspruches ist in Hinsicht auf den performativen Interakt zunächst eine allgemeine Angst, die Filip mit einem Großteil der anderen befragten Schüler teilt. Bei ihm jedoch kommt hinzu: Sie ist ihm UNHEIMLICH durch die Vorstellung, DASS ICH DEN IRGENDWIE FALSCH SAGE.199 Er hat demnach den hohen Anspruch an sich selbst oder seine Führungsposition wie auch die Erfahrung, man könne in der Schule etwas IRGENDWIE FALSCH sagen, bereits so weit verinnerlicht, dass davon ein Gefühl starker Angst ausgelöst wird.200 Etwas falsch zu sagen bezieht Filip hier nicht auf einen der üblichen Lernstoffe, sondern auf Worte, die der Klassenlehrer für ihn ausgesucht oder selbst gedichtet und ihm für das kommende Schuljahr zugesprochen hat. Diese ihm zugeeigneten Worte, nach denen er sich im kommenden Jahr richten, an denen er sich aufrichten kann (vgl. Kap. 2.1.1.2.), IRGENDWIE FALSCH zu sagen, aktualisiert in Filip spontan das Gefühl unheimlicher Angst, das er einst empfunden haben muss. Dies galt nicht allein dem bevorstehenden performativen Akt des Sagens in der Halböffentlichkeit der Klasse, sondern es bezog sich von Anfang an auch auf DEN, nämlich den symbolisch-imaginären Gehalt des vom Lehrer, dem signifikanten Anderen seinem Schüler Zugeschriebenen (Ullrich 2006: 1-8). An Filips Sorge, dass er das ihm Gewidmete IRGENDWIE FALSCH SAGE, wird evident, wie sehr zumindest die mit dem ersten Zeugnisspruch verbundene Bewährungsanforderung in ihm rumort haben muss. Das Bedürfnis nach Präzision, das sich in Kategorien wie richtig oder falsch (sagen) manifestiert, ist dieser Sorge geschuldet und scheint sie gleichsam zu bändigen. Damit wird die Aufgabe handhabbar, ein Zugang zum Ritual (nicht zum Inhalt!) möglich, das Filip in einer krisenreichen Bewährungsdynamik zugleich stabilisiert. Auf den Inhalt seiner Zeugnissprüche hin angesprochen, erinnert Filip sich spontan an EINEN VON DIESEN…GÖTTERN DA DIESEN…ZEUS UND SO sowie EINEN MIT SO’M HIRTEN UND MIT FEUER. Einen bleibenden Eindruck haben ihm demnach die Gestalten der griechischen Mythologie gemacht. Repräsentativ für DIESE(N)…GÖTTER(N) DA steht ZEUS, der vom fernen Olymp aus die Geschicke der Menschen lenkt und in ihre Alltagswelt eingreift. Als zweite Erinnerung taucht in Filip ein Bild MIT SO’M HIRTEN UND MIT FEUER auf. Auch für 199 Vgl. Lösener 2007: 31; „Ein vortragender Schüler tritt einer mehr oder weniger freundlich oder feindlich gesinnten Zuhörerschaft entgegen, je nachdem, welche Stellung er innerhalb der Lerngruppe einnimmt.“ 200 Die Tatsache des Lehrerwechsels nach der ersten Klasse ist als Kontextwissen aus dem Expertengespräch mit seinem Klassenlehrer, Herrn A, bekannt und mag das Angstgefühl von Filip unbewusst verstärkt haben. Da er dies im Interview jedoch an keiner Stelle thematisiert, kann es nicht zur Geltungsbegründung herangezogen werden.
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die Gestalt des Hirten ist nicht das Leben in einer Gemeinschaft typisch, wenngleich seine Distanziertheit eine andere ist als jene des Zeus. Mit dem Hirten verbindet sich ein Bild des Abgesondertseins von menschlicher Ansiedlung, von Freiheit, aber auch eines den Elementen Ausgesetztseins. Was spontan in Filips Erinnerung aufsteigt, sind Symbole der Distanz zu Anderen, der Autonomie. Dass er sich just dieser Motive erinnert, drückt pointiert gesprochen ein gewisses Fremdheitsgefühl dem gegenüber aus, wie Andere ihn sehen. In Anlehnung an LACANS Spiegelstadium wird Filip beim Blick in den „Spiegel“, den Andere ihm im Medium eines Gedichttextes vorhalten, Fremdheit bewusst als eine selbstreferenzielle Form des von Lacan aufgegriffenen Satzes von Rimbaud „le je n’est pas le moi“. Von diesem Bild wendet er sich ab, nicht aber von dessen Rahmung. In der Dimension von Separation wären auch seine Worte DASS ICH NICH IMMER SO AUFBRAUSEND-SEIN SOLLTE nicht als spontane Selbstzuschreibung im Sinne von Sich-über-Andere-hinwegsetzen (vgl. 2. Zwischenresümee der Analyse), sondern als Sich-von-Anderen-absetzen zu lesen und ein Indiz dafür, dass die entsprechende Interviewpassage (TZ 17-18) keine selbstreferenzielle Äußerung von Filip ist, sondern dass er Andere zitiert hat. Erste Erfahrungen beim Rezitieren kommentiert Filip zunächst mit den Worten ICH HAB HALT IMMER DEN ZEUGNISSPRUCH GELERNT UND DER WAR HALT AUCH ZIEMLICH LANG. Die Länge des zu lernenden Textes ist das, was sich ihm eingeprägt hat, woran er sich spontan erinnern kann. Leider lässt sich nicht gewiss sagen, ob sich seine spätere Äußerung, er habe bestimmte Textstellen IMMER VERDREHT, ebenfalls auf jenen ersten Zeugnisspruch bezieht. Filip beschreibt in diesem Zusammenhang, er habe sich DANN… IRGENDWANN RICHTIG GEÄRGERT und betont dieses RICHTIG GEÄRGERT mit einem affirmativen HOAA. Die ursprüngliche Angst, etwas FALSCH zu sagen, ist einem Gefühl des Ärgers gewichen, wenn ihm etwas nicht gelingt. Die Ebene, auf der sich Filips Gefühl manifestiert, ist weniger die einer unbestimmten (daher das Wort UNHEIMLICH), körperbasierten Empfindung, sondern wird quasi öffentlicher, indem sich ärgern auf ein bewusster werdendes, krisenhaftes Verhältnis von Innen und Außen deutet. Es spricht sich in Filips Ärger auch ein gewisser Leistungsdruck aus, unter dem er damals hinsichtlich des performativen Interakts stand bzw. dem er sich selber unterstellte. Er habe sich geärgert, weil er IMMER DEN LETZTEN TEIL NICH DRAN-(GE)KRIEGT oder IMMER VERDREHT habe. Dies wird für Filip zu einer empfindlichen Irritation seines Selbstkonzepts. Auf eine diesbezügliche Frage der Interviewerin (TZ 66-67) sagt Filip spontan JA, es habe SCHON BISSCHEN WAS AUSGEMACHT WEIL DAS ERSTE MAL IRGENDWAS VOR MENSCHEN MACHEN WIE AUCH IMMER- (TZ 70-72); an dieser Stelle bricht er die Äußerung ab. Der hohe Leistungsanspruch, aber auch Filips Sorge vor einem Gesichtsverlust beziehen sich retrospektiv noch nicht auf inhaltliche Aspekte, sondern auf die Bewährungsanforderung des performativen Vollzugs
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vor der Klasse. Dies kann IRGENDWAS, alles sein, was Filip DAS ERSTE MAL VOR MENSCHEN MACHEN soll. Dieses ERSTE MAL ist ihm jedenfalls deutlich in Erinnerung geblieben mit dem Gefühl, es mache SCHON BISSCHEN WAS AUS. Interessant ist, dass Filip offen lässt, auf welches Objekt sich das Ausmachen hier bezieht, d. h. ob es nur ihm etwas ausmacht oder ob er generalisierend ausdrückt, es sei wichtig, sich VOR MENSCHEN seinem Selbstkonzept entsprechend präsentieren zu können. Wenig später bemerkt Filip, dass seine Haltung sich im Lauf der Zeit verändert habe. Er nimmt den alten Faden relativierend wieder auf: DAS MACHT MIR JETZ EIGENTLICH NIX MEHR AUS (TZ 68)/ WENN DIE ERSTEN DREI WOCHEN HALT VORBEI WARN DANN, sagt Filip, WARS OKAY, dann GINGS (TZ 58). Das heißt, selbst wenn es vorkam, dass er etwas falsch sagte, verdrehte oder den Text nicht vollständig parat hatte, es GING, das heißt: Es lief ab. Filip selber war dabei nicht involviert, sondern – wie er sagt – EIGENTLICH NIE SO RICHTIG BETEILIGT AN DIESEM MORGIGEN TEIL. Die ursprünglich
krisenhafte Situation ist bewältigt und zur Routine geworden. Bei genauerem Hinsehen zeichnet sich jedoch an Filips differentem Umgang mit seinem ersten und seinem letzten Zeugnisspruch ein entscheidender Entwicklungsschritt im Sinne einer Bewährungsstrategie ab: Der erste Zeugnisspruch war mit einer Angsterfahrung verbunden, der Erfahrung, eine – wie er sagt – LANGE …SEITENWEISE Aufgabe DIE GANZEN SOMMERFERIEN ÜBER GEÜBT zu haben in der Sorge, DEN (Zeugnisspruch; HH) IRGENDWIE FALSCH zu sagen. Diese Angsterfahrung war in Filip zumindest am Anfang gefühlsmäßig auf Dauer gestellt, wie der mehrfache Gebrauch des Wortes IMMER zeigt. Es war also nicht der Textinhalt, sondern die Sorge vor der unvermeidlichen rituellen Praktik der Selbst-Präsentation vor anderen, die das Gefühl von unheimlicher Angst auslöste. Die Strategie, mit dieser Angst fertig zu werden, bestand nun in der Art, wie Filip mit dem Text umging und sein Verhalten der Bewährungsdynamik assimilierte. Er sagt, er habe IMMER DEN ZEUGNISSPRUCH GELERNT. Das heißt, der Spruch wurde ihm nicht zu einem alter Ego, in dem er sich hätte spiegeln können, sondern er hebt ihn quasi vom Sockel des Bedeutungsträchtigen, behandelt ihn wie einen alltäglichen Lernstoff, wie Vokabeln oder Regeln, die es routinemäßig zu speichern gilt. Der Zeugnisspruch wurde so für Filip von Anfang an nicht zu einem „Lebensgeleitspruch“, der für seine „Individualität…richtunggebend“201 hätte werden können, sondern er behandelt ihn als Schulaufgabe, die er LERNT, als Sicherheitsvorkehrung, um sie erwartungskonform richtig wiederzugeben. Filip entzieht sich nicht der Bewährungsanforderung (dem rituellen Vollzug), sondern hält sich in der Allianz seiner Mitakteure und bewältigt seine anfängliche Angst durch eine Strategie der inneren Distanznahme, deren Spur sich früh schon in der 201 Vgl. Kap. 2.1.1.2.
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Fallstruktur als relativ autonom verfolgte Orientierung in einem vorgegebenen Kontext abzeichnet und transformiert wird, indem er sich EIGENTLICH NIE SO RICHTIG BETEILIGT AN DIESEM MORGIGEN TEIL. Er nimmt mit hoher Akzeptanz seiner Rolle innerhalb der Lerngemeinschaft teil, aber er beteiligt sich nicht. Die ursprünglich krisenhafte Erfahrung wird vielmehr in der Dimension von Routine zu einem Lernstoff, den er in der Einbettung der rituellen Rahmung durchzieht. Ob allerdings der Inhalt des Rituals (der Zeugnisspruchtext) etwas mit ihm, seinem Selbstbild und Selbstkonzept zu tun habe oder nicht, darüber entscheidet Filip jeweils selbst. Seine Worte, EIGENTLICH NIE SO RICHTIG BETEILIGT gewesen zu sein, verweisen darauf, dass die Strategie der inneren Distanznahme sich schon mit der Sorge um die richtige Wiedergabe seines ersten Zeugnisspruchs durchgesetzt und einen unbefangenen Zugang zum inneren Gehalt lyrischer Texte generell verbaut hat. Da die einst angstbesetzte performative Leistung zur Routine wurde, geht die Auseinandersetzung mit Inhalten unter; folglich kann Filip sich nur noch an wenige Motive erinnern. Dieser routinehafte Umgang mit ihm eigens zugedachten Texten erfährt jedoch mit dem letzten Zeugnisspruch eine Irritation durch die Zuschreibung, die Filip als Übergriff deutet und daher abwehrt. Die Frage, ob und wie er mit dem Text umgehen will, entscheidet er nun aber nicht mehr unter dem Aspekt von Lernen und Leistung (richtige bzw. falsche Textwiedergabe), sondern unter dem Aspekt des kognitiv-reflexiven Textverstehens. Den moralischen Charakter des Gedichtes bzw. die implizite Botschaft seines Lehrers erkennt Filip, aber die explizite Begründung seiner Abwehr bleibt auf der Ebene der Inkompatibilität von Textoberfläche und Sinneswahrnehmung (TZ 12: die GEGENSÄTZE IN DIESEM SPRUCH). Eine Interpretation tieferer Schichten des Textes lässt Filip nicht zu. Es bleibt bei einer Abwehr auf der Ebene äußeren Verstehens: ICH VERSTEH … BIS HEUT NOCH NICH. In dem Zusatz WAS DER SPRUCH SOLL aber drückt sich die latent problematische Struktur aus: die Antinomie von Selbst- und Fremdbild. Filip will sich mit dem Gedicht deshalb nicht identifizieren, weil zwischen ihm und der Metaphorik des Gedichts eine Schwelle liegt, die dessen Fremdheit und Eigenlogik abschattet: das Bild, das der Lehrer von Filip hat und an ihn heranträgt. So kann er sich den inneren Gehalt des Gedichtes nicht frei erschließen, will ihn sich nicht aneignen, weil er mit dem, WAS DER SPRUCH (der moralische Appell) mit ihm SOLL, nicht einverstanden ist. Dagegen sperrt er sich und kaschiert seinen Widerstand nun mit Widersprüchlichkeiten des Textes auf der perzeptiven Ebene. In Anlehnung an Kokemohr könnte man Filips Abwehr als „widerständige Erfahrung“ fassen, die mit seinem Selbstkonzept unvereinbar ist (Kokemohr 2007: 21).
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Diese in seiner Erklärung, er VERSTEH…NICH WAS DER SPRUCH SOLL, markierte innere Widerständigkeit und Abwehr bekundet Filip seinen Mitakteuren allerdings unmissverständlich auf der symbolischen Ebene. In der ironisch gebrochenen Art, wie er den Zeugnisspruch rezitiert (durch inneres NIE SO RICHTIG BETEILIGT-Sein), wird in der Dimension von Separation die Sinnstruktur fassbar: „Ich sage das, aber mit meinem Ich (dem Eigentlichen) hat das alles nichts zu tun.“ Damit gelingt Filip zwar ein produktiver Umgang mit einer prekären Situation, die jedoch durch die Amalgamierung von pädagogischer und künstlerischer Aspiration nicht als ein durch Lyrik evozierter Bildungsprozess aufgefasst werden kann. Der Entwicklungsschritt für Filip liegt vielmehr zunächst in einer gelungenen Selbstbehauptung, einer symbolisch ausgedrückten Treue zu sich selbst und dem eigenen Zukunftsentwurf. Zugleich bleibt er dem rituellen Kontext, in den die Zeugnissprüche eingebettet sind, treu. Am sich verändernden, an wachsende reflexive Fähigkeiten sich anpassenden Umgang damit sowie der selbstinszenatorischen Präsentation seiner Abwehr auf der symbolischen Ebene lässt sich ein Autonomiezuwachs Filips erkennen: Im zweiten Schuljahr nimmt er den Spruch als einen von seinem Klassenlehrer gegebenen Text, dessen Inhalt er noch nicht bewusst reflektiert, aber pflichtgemäß LERNT. Gemäß der Logik von routinisiertem Handeln verändert sich allmählich sein Gefühl der anfänglichen ANGST, wird – WENN DIE ERSTEN DREI WOCHEN HALT VORBEI WARN – zu einem sich RICHTIG ÄRGERN über alles, was er im Vollzug des Sagens nicht DRANGEKRIEGT hat oder VERDREHT. Das starke affektive Berührtsein bezieht sich auf die performative Leistung vor den schulischen Mitakteuren, während Filip sich an Inhaltliches kaum erinnern kann oder will: ICH MERK DIE MIR NICH SONDERLICH (TZ 45). Anders im achten Schuljahr: Hier ist es auf den ersten Blick der Textinhalt des Gedichtes, der Filip zu schaffen macht. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass seine Distanznahme in der dem Gedicht (als Zeugnisspruch) impliziten pädagogischen Absicht seines Lehrers begründet ist, die Filip merkt und als Übergriff empfindet. Darum distanziert er sich mit der Begründung, nicht zu verstehen WAS DER SPRUCH, das heißt was er mit dem ihm Zugeschriebenen SOLL. Trotz der Antinomie von Selbst- und Fremdbild gelingt Filip jedoch auch im achten Schuljahr ein produktiver Umgang mit der Bewährungsanforderung. Er interagiert weiterhin im gewohnten Ritual, behauptet sich in der Klassengemeinschaft, doch das Verhältnis zur damit verbundenen Rolle verändert sich, wird distanzierter: Er hat gelernt, an einer kollektiven Praxis zu partizipieren, ohne sich identifikatorisch involvieren zu müssen. Diese distanzierter werdende Position zeigt sich z. B. an einer gleich bleibenden, kaum merklichen Abgrenzungshaltung seinen Mitschülern gegenüber, wie seine Äußerung belegt: ICH DENK MAL (es geht beim Rezitieren; HH) DEN JUNGS DIE DA HINTEN SITZEN
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RELATIV GENAU SO (wie Filip selber). Damit positioniert er sich nicht als Mitglied eines Wir, doch er hat Teil an der Gemeinschaft. Auch in der Formulierung benutzt er hier die unpersönliche Form: MAN IS FROH WENN DER TEIL VORBEI IS UND DANN AH! JETZ GEHTS ENDLICH LOS (TZ 152). Etwas später ergänzt er, der Unterricht fange MEHR ODER WENIGER erst an, wenn die Epoche beginne ODER WENN MAN DAVOR IRGENDWAS SPEZIELLES BESPRICHT. Gedichte im Gewand von Zeugnissprüchen – obwohl an ihn persönlich adressiert – gehören zu diesem Speziellen demnach nicht. Im Aspekt der Beziehungsdynamik unter Gleichaltrigen ist der Versuch von Filip, seine bezogen auf Lyrik tendenziell abwehrende Position zu verlassen, noch keine (aktive) Vergemeinschaftung. Sie zeigt lediglich Filips Bedürfnis, sich des gemeinsamen Rahmens der schulischen Mitakteure zu vergewissern: DEN JUNGS DIE DA HINTEN SITZEN. Auf dieser Basis kann Filip seine Divergenzerfahrung mit einer leisen Ironie heilen (Schmunzeln; vgl. TZ 18), jener „Fähigkeit der Selbstdistanzierung um das Widersprüchliche in entschärfender Weise zu kommunizieren“ (vgl. Aßmann 2008: 19). So kann er offen zugestehen bzw. zitieren, was er selber seinem letzten Zeugnisspruch entsprechend für die Klassengemeinschaft tun bzw. an sich verändern soll: DASS ICH NICH IMMER SO AUF-BRAUSEND SEIN SOLLTE.
Mit Bezug auf Lyrik als einer nicht alltäglichen sprachlichen Ausdrucksform hat sich bei Filip ein Sediment von Erfahrungen gebildet, dessen Textur von Anfang an von Gefühlen wie Angst bzw. Ärger gezeichnet bleibt, vor denen der Heranwachsende sich jedoch durch eine deutliche Distanzierungsbewegung (EIGENTLICH NIE SO RICHTIG BETEILIGT zu sein AN DIESEM MORGIGEN TEIL; TZ 135) retten kann. Der signifikante Versprecher (statt: an diesem morgendlichen sagt er morgigen Teil) zeigt, dass Filip diese Unterrichtssequenz am liebsten auf den morgigen Tag verschieben, d. h. loswerden würde. Ein unbefangener, von der Sorge um pädagogische Absicht freier Zugang zu Gedichten wird ihm bisher ausgerechnet durch ein Erfahrungssediment aus jener Form von Lyrik erschwert, die ihn in Gestalt von Zeugnissprüchen und der damit verbundenen, hoch repetitiven Bewährungsanforderung bis ins achte Schuljahr hinein begleitet hat. Dieses Sediment ambivalenter Erfahrung spricht sich auch in den Abbrüchen aus, die im Laufe der Fallrekonstruktion freigelegt wurden. In einer späteren Passage des Interviews fasst Filip auf die Frage, ob ihm Zeugnissprüche in seinem Leben irgendwie geholfen haben, seine Erfahrung nach einer nachdenklichen Pause mit folgender Begründung zusammen: NEE WEIL ICH HATTE EIGENTLICH IMMER SO…NACH DEM MOTTO DIE-WELT-IS-SCHÖN-SPRÜCHE
(TZ 175-176). Dies relativiert ein wenig den weiter oben gezogenen Schluss, Zeugnissprüche seien für Filip nichts SPEZIELLES, was interessant genug wäre, dass man es BESPRICHT. Anders ausgedrückt: Er tritt nicht in ein Verhältnis zu ihnen, weil sie für ihn noch keine Bedeutung gewonnen haben. In diesem Sinne
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sieht Filip zumindest sein diesjähriges Zeugnisspruch-Gedicht nicht als Objekt an, an dessen Ausdrucksgestalt er sich die „Einheit seines Ich“ vergegenwärtigen könnte.202 Seine Äußerung signalisiert eher so etwas wie eine unausgesprochene Enttäuschung, ein bisher ungestilltes Bedürfnis, sich mit der Widersprüchlichkeit und Ungewissheit seiner lebensweltlichen Erfahrung durchaus auch in einer anderen, sprachkünstlerisch verfremdeten Form auseinandersetzen zu können, ohne dass dies durch eine pädagogisierende Absicht konterkariert wird, die ihm den unmittelbaren Zugang zum Text abschattet. Unter Einbezug von Oevermanns Krisenkonzept zeigt sich, dass Filips latente Enttäuschung in der Amalgamierung der beiden Absichten begründet ist. Dadurch kann er das KunzeGedicht nicht im Sinne einer ästhetischen Erfahrung unter der Bedingung der notwendigen mußevollen Offenheit aufnehmen, es „als Selbstzweck, um seiner selbst willen, wahrnehmen“, und „an einem sonst bekannten Gegenstand (hier: an sich selber; HH) etwas Neues, Überraschendes entdecken“ (Oevermann 2008: 18). Filips Bemerkung, er verstehe BIS HEUT noch nicht, was der Spruch soll, könnte in diesem Zusammenhang auch Ausdruck einer gewissen Erwartung sein. Dies lässt sich in Filips öfter gebrauchtem Idiom WAS SPEZIELLES oder BESONDERS/NICH BESONDERS material nachweisen, eine bloß angedeutete Offenheit gegenüber einer ihm noch unbekannten Seite sprachlicher Gebilde, jenes SPEZIELLE, was er nicht DEM MOTTO DIE-WELT-IS-SCHÖN-SPRÜCHE subsumieren würde. Ohne dass Filip hier explizit zwischen Lernen und Bildung unterscheidet, korrespondiert die oben zitierte Passage mit der Äußerung ICH HAB HALT IMMER DEN ZEUGNISSPRUCH GELERNT. Bereits am Anfang seiner Erfahrungen ordnet er Zeugnissprüche der Kategorie von Wissens-Inhalten zu, deren Voraussetzung ist, dass man sie LERNT. Dies impliziert eine Differenz zu Inhalten, die er sich aus Interesse aneignen würde. DIE-WELT-IS-SCHÖN-SPRÜCHE, die Filip nach seinen eigenen Worten EIGENTLICH IMMER gehabt habe, gehören für ihn demnach zur Kategorie von Lernstoffen, die gegeben sind. Mit ihnen muss er sich regelmäßig auseinandersetzen, er kann sie nicht abwählen, aber er kann sie zur Routine werden lassen und sich von ihrem inneren Gehalt distanzieren. In diesem Sinne drückt sich in der Wendung ICH MERK DIE MIR NICH SONDERLICH aus: Filip gelingt ein produktiver Umgang, indem er am performatorischen Vollzug des Rituals teilnimmt, doch der Zugang zu einer Erkenntnismöglichkeit über ein dichterisches Bild bleibt verstopft. RICHTIG WACH wird er erst, wenn allgemein anerkannte Inhalte bearbeitet oder etwas SPEZIELLES, BESONDER(E)S vorgenommen wird. In diesem Aspekt könnte die Tatsache, dass der Klassenlehrer Filip mit dem herben, 202 Schmaus spricht mit Bezug auf Novalis’ Satz „Ich bin nicht inwiefern ich mich setze, sondern inwiefern ich mich aufhebe“ (Hvh. i.O.) davon, das Ich müsse „aus sich herausgehen, seine Einheit auf ein Objekt projizieren, um sich diese vergegenwärtigen zu können.“ (Schmaus 2000: 35)
5.1 Moritz und Filip – „Ich bin es“ versus „Es ist nicht ich“
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moralisch anspruchsvollen Charakter des Kunze-Gedichtes konfrontiert, ein Hinweis darauf sein, dass er vom Wesen seines Schülers etwas verstanden hat, dass ihm dessen reflexiv-kognitiven Fähigkeiten und die Tendenz zur Abgrenzung bewusst waren und er es seinem Schüler zutraute, sich die verschiedenen Ebenen dieser sprachlich sehr reduzierten künstlerischen Ausdrucksgestalt zu erschließen. Für diese Vermutung spräche, dass die am Textinhalt bzw. an der pädagogischen „Botschaft“ nicht interessierte Haltung Filips, seine Abwehr, die in der performativen Praktik sichtbar wird, von seinem Klassenlehrer nicht negativ sanktioniert wird. In Hinsicht darauf, was sich aus Filips Erfahrung mit Gedichten trotz der bisher unaufgelösten Amalgamierung von künstlerischer und pädagogischer Absicht als Bildungsbewegung ergeben hat, lässt sich folgende Fallstruktur festhalten: Bildungsproduktiv ist für Filip im Falle des ihm zugeeigneten Zeugnisspruch-Gedichtes weder dessen künstlerische Gestaltung, noch die inhaltliche Qualität des Textes. Dennoch hat ein anspruchsvoller Entwicklungsprozess stattgefunden, indem es Filip gelungen ist, mit dieser von Anfang an hoch emotional besetzten Aufgabe umzugehen, die Divergenz zwischen einem Ritual, dem er sich nach wie vor verpflichtet fühlt, und einem als Übergriffigkeit gedeuteten Textinhalt durch eine Distanzierungs- und Selbstbehauptungsbewegung auszubalancieren. Er wählt dafür nicht den Weg einer offensiven inhaltlichen Auseinandersetzung mit seinem Lehrer, sondern – auch hier eher Distanz suchend – präsentiert das, was er zum Thema Zeugnisspruch-Gedicht von sich aus mitteilen will, indirekt in Form einer „performatorischen Separation“. Erinnern wir uns der Tatsache, dass Filip in Hinsicht auf die Passung der Lehrerzuschreibung mit sich im Reinen ist, wenn er auf die Frage, ob er Schatten werfe auf Andere, zur Antwort gibt EIGENTLICH NICH BESONDERS (TZ 26), könnte man unter Einbezug des Aspekts der Identitätsbildung sagen: Die Divergenzerfahrung führt nicht zu einer Identitätsdiffusion. Filip bleibt – wie sichtbar auch im Interview – dem eigenen Selbstbild und Selbstkonzept treu, ohne sich dem rituellen Kontext und der Allianz seiner Mitakteure, d. h. der alltagsweltlichen Bewährungsdynamik entziehen zu müssen. Diese Treue als „besondere Stärke der Adoleszenz“ (Erikson 1992/2: 96) projiziert Filip nicht auf Andere (Lehrer, Mitschüler) oder erwartet sie von außen, sondern sie ist integrierende Kraft seines Selbst- und Weltbezugs. Diesem Dem-Eigenen-treu-Bleiben kommt ein wesentlicher Anteil an Filips Identitätsbildung zu. Der Zuwachs an Selbstkompetenz kann als Ertrag dieses Bildungsprozesses formuliert werden. Aus Filips Distanzierung von der Übergriffigkeit der Lehrerzuschreibung zugleich eine tief greifende Störung der Lehrer-Schüler-Beziehung abzuleiten, wäre unangemessen. Dass er zum Textinhalt auf Distanz gehen und zugleich am Ritual teilnehmen kann, spricht sogar eher für deren Stabilität. Im Aspekt des Klassenlehrer-Konzepts der pädagogischen Programmatik der Waldorfschulen, der
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„ausschließlich innerlich akzeptierten personalen Autorität“ eines WaldorfKlassenlehrers (vgl. Ullrich 2007: 86), könnte man im Fall von Filip sogar sagen, dass die von ihm verfolgte Strategie einer passiv anmutenden „Auseinandersetzung ohne Schärfe“, anders gesagt: einer auf offener Szene (symbolisch) ausagierten Entgegnung im Sinne eines sich an der Lehrer-Autorität coram publico Abarbeitens bei gleichzeitiger Wahrung des Verbleibens im gemeinsamen Ritual seinen Zuwachs an Selbstkompetenz (i. S. eines eigenverantwortlichen Handelns) zusätzlich profiliert habe. Denn ohne eine personale Akzeptanz sowohl auf der Lehrerals auch auf der Schülerseite hätte dieses Abarbeiten sich nicht vollziehen können. So zeigt zum Beispiel die Tatsache, dass Filip sich im rituellen Rahmen halten und bewähren will, dass er über eine Vertrauensbasis zum einen zum sozialen Kontext der Mitschüler, zum anderen zur pädagogischen Professionalität seines Lehrers verfügt, eine Art Grundvertrauen etwa des Ausdrucks „Er wird sich schon etwas Sinnvolles bei dem Zeugnisspruch-Gedicht für mich gedacht haben.“ Den Inhalt dieses Ihm-Zugedachten wehrt Filip zwar ab, dem Procedere selbst jedoch wird durchaus ein Sinn unterstellt, denn die Worte ICH VERSTEH IHN…NICH WAS DER SPRUCH SOLL implizieren, dass andere Fälle grundsätzlich denkbar seien. Die von Filip gewählte Form der Entgegnung (die performatorische Separation) wäre somit Äquivalent eines BIS HEUT NOCH NICH erfolgten direkten Dialogs und unabgeschlossen. Im Anschluss an das von Kramer vorgestellte Konzept der ›schulbiographischen Passung‹ könnte Filips Fall daher auch als „schulische(n) Bewegungsform (aufgefasst werden; HH), mit der etwa das, was nicht zusammenpasst, im weiteren Verlauf eine Bearbeitung erfahren kann“ (Kramer 2002: 44). Darauf werde ich an späterer Stelle zurückkommen. In diesem Sinne figuriert mit Bezug auf eine Bildungsproduktivität von Zeugnissprüchen die bisher freigelegte Fallstruktur beispielhaft für eine durch pädagogische Absicht abgeschattete Passung, die wie folgt zusammengefasst werden kann: Das Gedicht wird durch pädagogische Absicht seiner Fremdheit und Eigenlogik beraubt und abgeschattet: Es ist nicht ich! Völlig anders verläuft der Aneignungsprozess von Zeugnissprüchen bei Moritz. Während man in Filips Fall in diesem Zusammenhang von einem Prozess der Selbst-Behauptung sprechen kann, vollzieht sich bei Moritz ein Prozess der Selbst-Findung, dessen Strukturlogik anhand einer von ihm berichteten Episode in der Analyse ersichtlich wurde (vgl. Fallrekonstruktion Moritz, III. Abschnitt der Analyse), die hier wieder aufgegriffen werden soll. Moritz findet zu einer eigenlogischen Begründung für die Entwicklung, die er mit Bezug auf sein Verhältnis zu Zeugnissprüchen im Lauf der Zeit an sich selbst bemerkt hat: AM ANFANG WAR ICH MIR GAR NICH SO IHRER BEDEUTUNG BEWUSST. Dass Zeugnissprüche generell von Bedeutung sind oder immer
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schon waren, ist für ihn keine Frage, sondern basiert auf der Gewissheit einer stabilen (und ihn stabilisierenden) Lehrer-Schüler-Beziehung. Sie erklärt, dass Moritz an dieser Stelle aus der Perspektive seiner Lehrerin zum Kollektiv der Klasse spricht. Mit der Referenz auf DIE FRAU C, die DIE JA AUSGESUCHT hat, scheint die Passung von Schülerindividualität und Zeugnisspruch schon garantiert. Anfangs erinnert sich Moritz mit einem Gefühl von Gewissheit: Sie hat DIE JA AUSGESUCHT…WEIL DIE ZU UNS PASSEN. Dies genügte, um der Sache Bedeutung zu geben. Bei der Beschreibung des nächsten Schrittes, den Moritz IN DEN LETZTEN JAHREN als Bewusstwerden der Bedeutung beschreibt, spricht er wieder in selbstreferenzieller Form: WURD ICH…MIR…BEWUSST. Es hat sich demnach in der Zeit zwischen AM ANFANG und IN DEN LETZTEN JAHREN bei Moritz etwas angebahnt, was er jetzt artikulieren kann: DASS JEDER ZEUGNISSPRUCH WIRKLICH AUCH WAS MIT MIR ZU TUN HAT. Was AM ANFANG Folge einer tragfähigen Schüler-Lehrer-Beziehung war und sein Vertrauen zur Passung begründete, wird Moritz nun in der Bedeutung für ihn BEWUSST: Der Text seines Zeugnisspruches tritt als etwas vor ihn hin, was zu ihm selber einen Bezug hat. Moritz erlebt dies nicht – wie Filip – als übergriffige Zuschreibung, die mit seinem Selbstkonzept divergiert, sondern er erlebt die Konvergenz von Innen- und Außenperspektive. Daher fällt es ihm leicht, sich mit dem Zeugnisspruch zu identifizieren im Sinne jener „Verwandlung, durch die ›ich ich selbst werde durch Einbeziehung anderer‹“ (Waldenfels zit. nach Kokemohr 2007: 29). Moritz beschreibt diesen Vorgang eines Sich-bewusst-Werdens einer Bedeutung wie einen Wachstumsprozess, eine Art Steigerung am Erleben der Polarität von Innen- und Außensicht, indem er sagt, die Zeugnissprüche haben FÜR MICH AUCH AN BEDEUTUNG ZUGENOMMEN. Im Vordergrund seiner Reflexion steht nicht – wie bei Filip – eine erfahrungsbelastete Auseinandersetzung des Selbst in der Konfrontation mit der Zuschreibung eines signifikanten Anderen, sondern ein Zunehmen an Bewusstsein, ein aktives Be-Deuten auf der Basis einer intensiven Beziehung zu seinen schulischen Mitakteuren (Peers und Lehrerin). Diese ermöglicht es Moritz, das ihm Gegebene (den zugesprochenen Text) seiner Identität zu integrieren. In dieser Hinsicht sind die Worte WURD MIR BEWUSST WAS DES EIGENTLICH ISCH DIESER ZEUGNISSPRUCH als Frucht einer Art Wachstumsprozesses aufzufassen: dem Bewusstwerden dessen, was für ihn von Bedeutung ist. Die Retrospektive zum ANFANG wird wiederum aufgegriffen: FRÜHER HAB ICH IMMER GEDACHT DES SAG ICH HALT. Moritz begibt sich in eine Zeit, in der er seinen Zeugnisspruch sagte im Sinne eines mimetischen Nachvollziehens eines ihm Vor-Gesagten. Demnach muss er am Anfang eine relativ hohe Bereitschaft gehabt haben, sich dem rituellen Setting anzupassen, seine Aufgabe zu machen, weil es so der Unterrichtskultur seiner Klasse entsprach, in der er sich aufgehoben fühlte (DES SAG ICH HALT). Dies verändert sich mit dem
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Bewusstwerden eines zeitlichen Entwicklungsablaufs (FRÜHER – SEITDEM) und ist verbunden mit dem Gefühl: SEITDEM HAT’S MIR AUCH SPASS GEMACHT DAS VORZUTRAGEN. Daraus entsteht eine neue Form der Vertrautheit, einmal auf der sozialen (interaktiven) Ebene, indem Moritz den Text in dem Bewusstsein vorträgt, dass er ihn WIRKLICH etwas angehe. Er scheut nicht den unmittelbaren Blickkontakt mit anderen, nicht das Risiko ihrer Reaktionen (Mimik, Gestik, Kommentare). Nicht zufällig verwendet er hier auch wieder das Verb „vortragen“, um den Unterschied von FRÜHER und SEITDEM auszudrücken. Zum anderen ist die Nähe der Mitakteure ein Äquivalent zu Moritz’ Nähe zum Zeugnisspruch und schafft dadurch die Intensität, die er für seinen Vortrag sucht: DANN…HAT’S MIR AUCH SPASS GEMACHT. Für diesen Spaß am Vortragen ist Moritz’ Begründung WEIL ICH MICH DA IMMER SELBER WIEDERERKANNT HAB von entscheidender Bedeutung: Es war dies eine Selbst-Vergegenwärtigung (ICH HAB MICH) im DA, im Text seines Zeugnisspruches, der als ein solcher von Martin Tittmann verfasst und Moritz von der Klassenlehrerin zugeeignet worden war.203 Im Bewusstwerden des Prozesses, den Moritz durchlaufen hat, zeigt sich die Transformation einer Struktur, deren Vorform (DES SAG ICH HALT) er quasi aufbricht, das ihm Adäquate in der symbolischen Figur erkennt und in seine Identität aufnimmt. Damit verändert sich auch Moritz’ Position innerhalb der rituellen Rahmung, die ihm nun zur Möglichkeit wird, in Dimensionen von Identifikation und Selbstfindung eine neue Stufe seiner Individuation zum Vorschein zu bringen. So ergibt sich zwischen Moritz und dem Gedicht von vornherein ein völlig anderes Reziprozitätsverhältnis als bei Filip: Erstens handelt es sich bei Moritz’ Text nicht um ein autonomes Kunstwerk, sondern unmissverständlich um einen Zeugnisspruch, allerdings von pädagogisch vorbildlicher Qualität. Daraus ergeben sich zwei wichtige Unterschiede zu einem Kunstgedicht: Zum einen richtet sich der Text nicht an eine unbegrenzte Zahl von Rezipienten, sondern konkret an Einen: den Schüler Moritz. Es werden nicht moralische Appelle von außen an ihn herangetragen, sondern es wird ein sprachliches Bild von Punkt und Kreis vorgestellt und seiner Aneignungsform und Deutung überlassen. Diese offene Form des Spiegels ermöglicht ihm, sich DA IMMER SELBER wiederzuerkennen. Zum anderen drückt sich in diesem Text – obwohl er ästhetisch reizvoll ist – eben nicht die eigenlogische Wahrnehmungs- und Vorstellungswelt eines Dichters aus, die fiktional sein kann und nicht auf Verständlichkeit zielt. Das Deutungsmuster des hier gemeinten Textes ist gerahmt durch den pädagogischen Impetus und kann grundsätzlich angenommen oder abgelehnt werden, ohne dass sich dies auf das Verhältnis des Schülers zu Lyrik generell übertragen müsste.
203 Ausführlich dazu Ullrich 2006 und 2007: 79-118
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Moritz’ Identifizierungsbewegung bzw. das schulbiographische Passungsverhältnis zwischen Person und Text zeigt daher weder die Widerständigkeit, noch die innere Sperrigkeit von Filips Fall. Im Gegenteil: Er fand, die Zeugnissprüche, an die er sich erinnern kann (IN DEN LETZTEN DREI JAHRN), HAM ALLE ZU MIR GEPASST. Aus dieser starken, anhaltenden identifikatorischen Bewegung wird kein struktureller Bruch im Verhältnis von Moritz’ Biographie und der rituellen Praxis des Gedichte- oder Zeugnissprüche-Rezitierens erkennbar. Inwieweit die starke Identifikation sich bei ihm nicht nur als Identität stiftend erweist, sondern diese auch tendenziell unterläuft, könnte sich in der Dimension von Rollenkonfusion erweisen als „Unfähigkeit, sich für eine…Identität zu entscheiden“, anders gesagt, als Festhalten am gewohnten Muster, „um sich zusammenzuhalten“ (vgl. Erikson 1968/3: 256).204 In Erinnerung an Moritz’ Zeugnisspruchtext 205 wird hier das Zitat von Hegel interessant, der von der Kreisbewegung spricht als von einer Bewegung, die „vollkommen zufrieden nur in und mit sich selbst spielt“ (Hegel 1970: 225). Die der Interviewfrage folgende eigentheoretische Erklärung von Moritz spricht jedoch nicht die Sprache von Selbstzufriedenheit oder Über-Identifikation. Moritz sagt nämlich unmittelbar danach ICH HAB MAL ÜBER DEN SPRUCH NACHGEDACHT…ICH HAB IHN NICH NUR GELERNT ICH HAB DANN DA DRÜBER NACH-GEDACHT (1 sec Pause) UND DANN HUCH (’) ICH DA BIN ICH JA (,) DA KENN ICH MICH WIEDER…(.)
Nochmals greift Moritz auf die Erfahrung einer Veränderung zurück, die er im Laufe der Zeit an sich bemerkt hat, und kontrastiert dies mit den Handlungsformen GELERNT und NACH-GEDACHT. Er unterscheidet also explizit den Lernvorgang vom Nachdenken über einen gelernten Text und ordnet Letzteres einer höheren Entwicklungsstufe zu als das NUR GELERNT-Haben. Mit dieser kurzen Episode skizziert Moritz das Spezifikum eines Bildungsprozesses in Differenz zum routinisierten Lernen: Er hat den Text nicht wie früher als reinen Wissensinhalt ins Gedächtnis aufgenommen und zu gegebener Zeit repetiert, sondern er hat DANN – 204 Moritz äußerte im Interview den Wunsch, Gedichte WEITER(zu)REICHEN. Dieses Bedürfnis ist interessant im Zusammenhang mit Weigels Genea-Logik, die für die jüngste Zeit als Novum eine „neue Ära des Generationendiskurses“ konstatiert, ein wiedererwachtes Interesse für die ältere Generation, das sie am Beispiel von Generationenerzählungen festmacht, die der jüngeren Generation z. T. „als Zugang zu einem verschwiegenen Wissen der Geschichte (dient; HH)“ Die Wiederentdeckung der Herkunft (und damit der Vergangenheit in ihrer Bedeutung für die eigene Zukunft) sieht Weigel mehr als der Erforschung der Vergangenheit „der Versicherung eines subjektiven Ortes“ geschuldet (Weigel 2006: 87-101), sichtbar an der neuerlichen Tendenz zum Verfassen von Autobiographien und Stammbäumen etc. (die Autorin nennt z. B. Dieter Fortes „Das Muster …/Duckers „Himmelskörper“/Wackwitz’ „Ein unsichtbares Land“/Drewitz’ „Gestern war heute“/Peter Esterhazys „Harmonia Caelestis“/Bachmanns „Malina“) 205 Vgl. Analyse Moritz, III. Sequenz, Exkurs: Zeugnisspruch von Moritz aus dem 6. Schuljahr, S. 205f
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also in einem kontemplativen Moment – darüber nachgedacht. Das heißt durch irgendetwas wurde die Routine unterbrochen, er richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf den Gegenstand, ließ ihn auf sich wirken und konnte durch diesen mußevollen Dialog mit dem Text etwas Neues über sich selber erfahren. Dieses Neue trifft Moritz unerwartet, wie ein Licht, das ihn fast erschreckt (HUCH). Die nahezu vollkommene Identifikation mit dem lyrischen Ich findet einen spontanen Ausdruck in dem Ausruf: ICH DA BIN ICH JA (,) DA KENN ICH MICH WIEDER. Sprachlich lässt sich die Fallstruktur in den Satz fassen: Das Gedicht wird für Moritz zum Identifikationsmodell; Selbst und Spiegelbild fallen in eins. Moritz’ Passungsformel heißt: Ich bin es!
Gedichte zur Wahl Moritz eröffnet seine Äußerung zu dem Gedicht, das er sich entsprechend der von der Lehrerin gestellten Aufgabe zur Aneignung aussuchen sollte, mit der Begründung WEILS MICH…ERINNERT HAT. Schon das erste flüchtige Lesen des Gedichtes (oder nur der Überschrift) „Die Stadt“ hat Erinnerungsbilder evoziert, die gesättigt sind von komplexen sinnlichen und voluntativen lebensweltlichen Erfahrungen seiner frühen Kindheit und der ersten beiden Schuljahre in Beauville. Sie sind die Quelle der unmittelbaren Nähe, die Moritz zum inneren Gehalt des Gedichtes empfindet, jenes Gefühls einer inneren Konvergenz, das er mehrfach mit dem schlichten Ausdruck DAS FAND ICH HALT SCHÖN oder DESWEGEN FAND ICH DAS SO SCHÖN resümiert. Dies ist für ihn der entscheidende Impuls, sich mit dem Gedicht zu identifizieren und es sich anzueignen. Wie die Stadt äußerlich jedoch AUCH NICH NUR IHRE SCHÖNEN SEITEN, sondern GASSEN SO HÄSSLICHE UND SO hatte, sind auch die biografischen Erfahrungen von Moritz – wie die Analyse gezeigt hat – durchaus ambivalent. Was er im Gedicht findet, ist nicht nur eine Übereinstimmung von dichterischem Ausdruck und dem eigenen Gefühl von Verbundenheit mit einem vertrauten Ort, die er mit den Worten DAS HAT MICH HALT ALLES SO DA DRAN ERINNERT ausdrücken kann. Durch die außeralltägliche Form der lyrischen Sprache wird mit der Konvergenz einer inneren Stimmung eine hoch emotional besetzte, lebendige Beziehungserfahrung reaktiviert, die unterhalb von Moritz’ Bewusstseinsschwelle höchst präsent war: die Erfahrung der (zweiten) Migration und die damit verbundene elterlichen Trennung. Durch die Begegnung mit dem Gedicht wurde so eine Krise evoziert, die nicht auf alltags-praktischer Ebene als Erfahrung von Verlust und Trennung virulent war, sondern sich in Form einer ästhetischen Erfahrung äußerte. Der Charakter dieser Krise war nun keineswegs traumatisierend, sondern durch die Suggestivität der Bilder wurde etwas in die Erinnerung zurückgeholt und erneut
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disponibel. Im Gegensatz zu Filip erlebt Moritz nicht Divergenz, sondern Übereinstimmung von künstlerischer Ausdrucksgestalt und lebensweltlicher Erfahrung. Dies resümiert er mit den Worten DESWEGEN FAND ICH DAS SO SCHÖN. So kann bei Moritz von einer primären ästhetischen Erfahrung des Kunstschönen gesprochen werden: Durch die Verfremdung in ein künstlerisches Bild entstand jene Distanz, die es Moritz erst ermöglichte, traumatische Erfahrungen seiner Biografie quasi im Medium des Gedichtes zu erkennen und auszusprechen. Anders gesagt: Das Kunstwerk ist ihm im Sinne der Romantik „fremd“ genug, um zur Ausdrucksgestalt von eigenen gravierenden Erlebnissen zu werden. Das feine und gleichzeitig flüchtige Gefühl DAS HAT MICH HALT ALLES SO DA DRAN ERINNERT wird zum Ausdruck einer starken identifikatorischen Bewegung. Wie sich zeigt, bedurfte Moritz keines Vorwissens, keiner literarischen Kategorien, um ein bestimmtes Gedicht an seiner Identitätsbildung Anteil nehmen zu lassen, sondern konnte es im Sinne Adornos mit „bloßer Naivität“ aufnehmen und sich zu eigen machen (vgl. Adorno 2006: 29). Bei Filip verläuft die Kontaktnahme zu dem Gedicht, das er sich aussuchen soll, völlig konträr. Sein Bezug zu Goethes Sprichwort ist allein durch den Kontext Hausaufgabe motiviert und daher fremdbestimmt. Die Attribuierung OCH IS EIGENTLICH GANZ SCHÖN gilt der Erleichterung, diese Aufgabe wie durch Zufall erledigt zu haben. Goethes Lob des „freien Schmiedens am eigenen Glück“ streift er zwar mit einem Blick, doch die Ausdrucksgestalt des Spruches erfasst Filip höchstens intuitiv-umrisshaft, er nimmt sie nicht wirklich auf. Vielmehr war der Namenszug Goethes, der ihm ins Auge fiel, Garant dafür, dass der Lehrer seine Entscheidung akzeptieren müsse. Ergo GIBT’S KEIN PROBLEM…DA MUSS ER MIT EINVERSTANDEN SEIN (TZ 106-107). Was für Moritz das Entscheidende in der Begegnung mit dem Gedicht war: das Gefühl einer Übereinstimmung der eigenen Beziehung mit jener Verbundenheit, die er in Theodor Storms Gedicht entdeckt und schön findet, dazu kommt es bei Filip nicht. Was er findet, ist eine schnelle Lösung für etwas, was ihm aufgegeben wurde. Hier ergibt sich eine Konvergenz zu der Strategie, die Filip bereits bei der Bewährungsanforderung der ersten Zeugnisspruch-Rezitation angewandt hat: das Risiko vermeidende Verschieben auf die sichere Ebene des Routine geleiteten Lernens und pragmatischen Handelns. An einer Aneignung im Sinne eines Verinnerlichungsprozesses auf der Basis einer (ästhetischen) Wahrnehmungshandlung, eines Sich-Vertiefens in ein lyrisches Gebilde hat Filip kein Interesse. Das Problem für ihn ist nicht, ein adäquates Gedicht zu finden, sondern so unaufwendig wie möglich eine Lösung für seine Hausaufgabe zu finden. Da ihm dies auf einen Blick gelingt, kann er sagen DA GIBT’S KEIN PROBLEM MIT DEM GEDICHT. In dieser Hinsicht hat sich Filips Strategie im Vergleich zum zweiten Schuljahr kaum verändert: Probleme im Zusammenhang mit Lyrik werden nach wie vor auf der Ebene von Routine bewältigt,
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indem nun die Entscheidung für ein Gedicht nicht aufgrund von künstlerischer oder inhaltlicher Anmutung, sondern unter pragmatischen Aspekten (Textumfang, geringster Aufwand von Zeit und Aktivität) getroffen wird. Es gibt daher weder ein Problem (eine Krise), noch eine Berührung, es bleibt bei dem resümierenden Urteil: Lyrik ist BLA-BLA-BLA (TZ 86, 131). Dieses knappe Fazit wird aufgeraut durch das Thema des Sprichworts von Goethe, das – obgleich flüchtig – im Augenblick der Entscheidung Filips Bewusstsein immerhin gestreift haben muss. Die Frage liegt nahe, ob dieses totale Vergessen von Text und Autor, die Filip ja aufgrund des alltäglichen Umgangs in seinem Elternhaus bestens bekannt sein müssten, mit der Problematik des Verdrängens in Verbindung gebracht werden kann und damit Folge eines unbewussten Vorgangs wäre. Da diese Frage nicht im Rahmen meines Forschungsgebietes liegt, kann sie hier nicht behandelt werden. Als signifikante Markierung muss jedoch beides festgehalten werden: das totale Vergessen ebenso wie Filips Fehlleistung in TZ 135; beide müssen motiviert sein. Greifen wir auf Freuds Verständnis von Fehlleistung zurück: „Wir wollen … einen Vorgang unbewusst heißen, wenn wir annehmen müssen, er sei derzeit aktiviert, obwohl wir derzeit nichts von ihm wissen.“ (Wenig später heißt es zum Thema Fehlleistungen:) „Wir sehen uns z. B. zur Erklärung eines Versprechens genötigt anzunehmen, daß sich bei dem Betreffenden eine bestimmte Redeabsicht gebildet hatte. Wir erraten sie mit Sicherheit aus der vorgefallenen Störung der Rede, aber sie hatte sich nicht durchgesetzt, sie war also unbewußt.“ (Freud 1969/8: 508; Hvh. i.O.)
Beides, das Vergessen wie die Fehlleistung, wird motivierbar in Hinsicht auf seine Abwehr und seine Indifferenz, die einerseits ein Ausdruck dafür sind, dass Lyrik zumindest in der Form, in der er sie bisher rezipierte, für Filip irrelevant ist und verhinderte, dass er sich mit lyrischer Sprache NÄHER BEFASST (TZ 89). Erinnern wir uns des letzten Analysesegments (von 33 bis 40 F) wie auch der Fehlleistung, schwingt zugleich ein gerüttelt Maß an Überdruss am gemeinsamen rituellen Vollzug mit. Andererseits kann nicht ausgeschlossen werden, dass die frühe Amalgamierung von künstlerischer und pädagogischer Absicht den latenten Wunsch Filips, sich mit Bezug auf ästhetische Erfahrung in einem krisenhaften Prozess zu bewähren und sich mit dem freien Schmieden des eigenen Glückes auch in Form einer Gedichtrezeption zu befassen, bisher nicht bewusst werden lässt. Unter dieser Voraussetzung kann festgehalten werden, dass Filip lyrischen Gebilden zwar nach wie vor die Bedeutung aberkennt, zugleich aber mit seinem intuitiven Griff nach Goethes Sprichwort eine kaum merkliche Spur von Bearbeitungsof-
5.2 Natalía und Celia –„Es ist wie ich“ versus „Ich gleiche es mir an“
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fenheit demgegenüber zeigt, was er bisher mit der Formel KEIN PROBLEM neutralisiert hat. 5.2 Natalía und Celia –„Es ist wie ich“ versus „Ich gleiche es mir an“ Für Natalía war in keinem der beiden Interviews die Eröffnungsphase des Zeugnisspruch-Rituals thematisch. Zu den ihr zugeschriebenen Sprüchen äußert sie sich in einem der hier nicht dargestellten Segmente zunächst generalisierend BIS JETZT…HAB ICH…BEI ALLEN DAS GEFÜHL GEHABT OCH DIE GEFALLEN MIR ÜBERHAUPT NICHT. Unmittelbar danach fügt sie hinzu ICH HATTE BIS JETZT EIGENTLICH ERST EINEN ZEUGNISSPRUCH DER MIR GUT GEFALLEN HAT. Dessen Motiv fand sie TOTAL SUPER…VON HEINZ SCHLIEMANN…DASS ER TROJA AUSGRÄBT UND…DIE TRÜMMER ANS LICHT FÖRDERT. Im Gegensatz zu Filip, der sich auf das Bild von „Im Schatten der Ande-
ren leuchten“ keinen Reim machen kann, ist für Natalía der Kontrast von Trümmern, die aus dem Dunkel ans Licht gefördert werden, gerade reizvoll. Zunächst begründet sie ihre Vorliebe ästhetisch: ICH FAND’N EINFACH GUT bzw. EINFACH SCHÖN; wenig später fügt sie hinzu: WEIL ER SO’N BISSCHEN FEUER HATTE DASS MAN WAS…ERREICHT UND NICHT AUFGEBEN…DAS PASST ZIEMLICH GUT ZU MIR. Sie charakterisiert sich selber mit den Worten: ICH TRAG …MEIN HERZ…AUF DER STIRN ODER AUF DER ZUNGE… ICH BIN SEHR CHOLERISCH UND AUFBRAUSEND. In der Persönlichkeit Schliemanns
begegnet ihr ein signifikanter Anderer, in dessen Lebensleistung sie Züge ihres eigenen Selbstentwurfs erkennen kann (TZ 312-315; 363-387). Wie die oben zitierte Äußerung zeigt, ist die Erfahrung einer Kompatibilität von Selbstbild und Textmetaphorik auch für eine an lyrischer Sprache generell interessierte Schülerin wie Natalía eine Grundvoraussetzung, sich mit einem Zeugnisspruch identifizieren zu können. Sie muss nicht – wie Moritz – darüber nachdenken, damit ihr die pädagogische Absicht ihrer Lehrerin klar werde. Ihr hat sich der Sinn des pädagogischen Rituals wie von selbst erschlossen: Es ist OFFENSICHTLICH…DASS DIE…MIT ABSICHT DEN GEKRIEGT HAM. In dieser Absicht sieht Natalía jedoch keine Falle, sondern sie begründet sie mit den Worten WEIL DER DENEN EN BISSCHEN SCHUTZ GEBEN SOLL (TZ 403-414). Auch die lyrische Form der Zuschreibung ist für Natalía kein Problem, denn sie ist es GEWÖHNT MIT GEDICHTEN AUFZULEBEN, (sie) GEHÖRN SO’N BISSCHEN DAZU. Sie verfügt über die BESTIMMTE REIFE UM SIE ZU VERSTEHN und hat aufgrund ihrer ästhetischen Sozialisation (in Schule und Elternhaus) Kriterien gefunden, um für sich differenzieren zu können: DER HAT MIR EINFACH GUT GEFALLEN UND ICH HAB IHN GERN GESPROCHEN ABER BEI MANCHEN ANDERN WAR DAS…NICH DER FALL (TZ 421).
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5 Kontrastierungen
Dies macht aufmerksam auf zwei Voraussetzungen für die Erklärung ICH HAB IHN GERN GESPROCHEN: eine maximale Kompatibilität von Selbst- und Fremdbild, die sich im Zeugnisspruch abbildet, und das Gefallen an einer lyrischen Ausdrucksgestalt. Als zweite Ausnahme führt Natalía zwei Zeugnissprüche an, die von Mitschülerinnen gedichtet und ihr zugeeignet worden waren, zu denen sie sich mit emphatischer Konnotation äußert (JETZT DEN DEN MIR MEINE KLASSENKAMERADEN GESCHRIEBEN HAM…ZWEI FAND ICH TOLL; TZ 317-319; Näheres dazu in Kap. 2.4., Klasse B). Die wie nebenbei hinzugesetzte Bemerkung ICH HAB DREI (Sprüche) GEKRIEGT zeigt Natalías gegenwärtigen Integrationsgrad im Klassenkollektiv, denn offensichtlich haben ihr nicht nur zwei Mitschülerinnen ein Gedicht geschrieben (wie es die Aufgabe war), sondern freiwillig eine dritte.206 D. h. im Vergleich zu den ersten Jahren muss sie inzwischen in der Klasse sozial hoch anerkannt sein. Dass Natalía dies mitteilenswert findet, macht noch einmal deutlich, wie verletzend die negativen Erfahrungen der Vergangenheit für sie gewesen sein müssen und wie verständlich daher ihre latente Sorge ist, es werde vielleicht wieder so lange dauern, bevor sie tragende PeerBeziehungen aufbauen könne. Eins der Gedichte stammt von einer Mitschülerin, mit der Natalía befreundet ist. Signifikant ist bei beiden die Konkordanz von Selbst- und Fremdbild. Im Gedicht der Freundin kommt das oszillierende Spiel der Stimmungen zum Ausdruck, von denen Natalía sich HIN- UND HERGERISSEN fühlt, was ihrer Freundin wahrscheinlich aufgefallen ist. Dies versucht sie in eine Form zu bringen, in der der Kontrast von zwei polaren Wesenszügen abgebildet wird. Das zweite Gedicht spiegelt mehr Natalías Temperament wider, das sie selber als SEHR CHOLERISCH UND AUFBRAUSEND bezeichnet.207 Natalías reflexives Potential und ihre Empathiefähigkeit zeigen sich an einer Äußerung über das Passungsverhältnis von Zeugnisspruchtext und Individualität von Mitschülern, wie sie diese wahrnimmt: ES GIBT MANCHMAL SO SPRÜCHE DA MERKT MAN GANZ GENAU DASS DIE FRAU B. DIE EXTRA MIT ABSICHT DEMJENIGEN GEGEBEN HAT WEIL DIE GENAU AUF DAS PROBLEM VON DEM TIPPEN UND ZWAR RICHTIG DEN FINGER IN DIE WUNDE LEGEN ABER DAS MERKEN DIE GAR NICHT MANCHMAL. Was einige Achtklässler,
wie etwa bei Moritz ersichtlich, noch durchaus schätzen oder freundlich hinnehmen, ist für Schüler mit ähnlich hohen reflexiven Fähigkeiten wie Natalía als lyrisch verkleidetes EXTRA…FINGER IN DIE WUNDE LEGEN durchaus bewusst, obwohl sie zur Begründung das SCHUTZ GEBEN anführt. Ihre Äußerung muss 206 Es waren drei Schülerinnen. 207 Drei der Gedichte sind in der Strukturgeneralisierung von Natalias Fall in Kapitel 6.1. (S.306f) zitiert.
5.2 Natalía und Celia –„Es ist wie ich“ versus „Ich gleiche es mir an“
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das pädagogische Bewusstsein jedoch auf die Labilität und Verletzbarkeit der Heranwachsenden lenken, die durch eine so persönlich adressierte pädagogische Maßnahme eskalieren können. Auf die Frage, ob ihre Zeugnissprüche ihr geholfen haben, will Natalía keinen direkten Bezug zwischen einer Traurigkeit und einem ihrer Sprüche herstellen. Sie hat erfahren, dass Gedichte auf der unmittelbaren Ebene nicht wirksam sind: ICH KANN JETZT NICH SAGEN DASS WENN ICH IRGENDWIE TRAURIG ODER SO WAR DASS ICH DANN GEDACHT HAB JAA MACHEN WIR DAS DOCH MAL SO (wie im Zeugnisspruch; HH) … DAS WEISS ICH KANN ICH JETZT GAR NICH SO GENAU SAGEN.
In ihrem ästhetischen Urteil ist Natalía sich sicher. Ihre Kriterien, die Passung eines Zeugnisspruches für sich oder Andere zu bestimmen, findet sie aus ihrer Nähe zur Lyrik, ihrer Energie und Kreativität, mit denen sie ihre Aufgaben gestaltet und einer hohen Sensibilität für sprachliche Ausdrucksformen. Sie kann zwar JETZT NOCH NICHT GENAU SAGEN, ob ihr Zeugnissprüche geholfen haben. Aber sie hat in einigen Zeugnisspruchtexten Aspekte ihrer eigenen oder die einer anderen Persönlichkeit erkennen können, die sie als Übereinstimmung diagnostiziert. Für Celia liegen Zeugnissprüche in der Peripherie ihrer Aufmerksamkeitsrichtung im Unterricht. Diesbezüglich ist sie in einer ähnlichen Position wie Moritz, denn auch ihre erste Begegnung damit fand mit dem Wechsel in die dritte Klasse der Freien Waldorfschule statt. Ihren Äußerungen nach hat sich an ihrem Spontaneindruck von damals (WAS SOLL DER QUATSCH) wenig verändert. Ihre eigentheoretische Sinnzuschreibung des Rituals liegt in der Ermutigung: Es sei ihr klar geworden DASS ES NUR NE ÜBUNG IS…DASS MAN SICH ALSO AUCH MAL WAS TRAUT ALSO NICH DASS MA ANGST HABEN MUSS…DASS MAN DA MEHR MUT KRIEGT. Der rituelle Vollzug ist in ihrem Verständnis Wapp-
nung gegen die Angst. Hier macht sich der strukturell pessimistische Habitus in Gestalt einer latenten Angst vor dem Scheitern wiederum bemerkbar, gegen die sie die Rezitation der Zeugnissprüche im Sinne einer stabilisierenden Übung einsetzt. Der Textinhalt selber ist für sie daher sekundär; sie weiß nur, dass sie ihn SO REIHRUM FREITAGS vorträgt. Nach einer langen Pause von dreißig Sekunden fällt ihr DER ANFANG JETZ NICH EIN (TZ 59), inhaltlich sei es in ihrem Spruch um IRGENDWAS MIT DER NACHTIGALL UND DEM KÄFIG gegangen.208 In Hinsicht auf Gedichte hat Celia keine ähnliche ästhetische Sozialisation durchlaufen wie etwa Natalía, zumindest lässt sich material kein Bezug zu Anregungen aus ihrem Elternhaus nachweisen. Celia hat z. B. – auch hier anders als 208 Der Text dieses Zeugnisspruches war mir nicht zugänglich.
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5 Kontrastierungen
Natalía – keine Ahnung von Gedichtgattungen oder anderen lyrischen Begrifflichkeiten (DAS KENN ICH GAR NICH BALLADE). Sie erinnert sich kaum an Gedichte aus vergangenen Schuljahren, mehr an Stimmungen und Gefühle, die sie aufgenommen hat und die zugleich ein differenziertes Bild ihrer adoleszenten Gefühlslage geben. Entscheidendes Kriterium ist bei Celia immer, was sie MAG (Motive wie Ärger, Streit, Tod; TZ 125-127; aber auch Witziges TZ 107-110) oder NICH … SO mag (WAS DIE FRAU C FÜR GEDICHTE HAT). Während Natalía aus der Gedichtrezeption in der Schule wichtige Impulse ihrer Selbstbildung empfängt, steht Celias Verhältnis zu Lyrik nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Unterricht. Ihre Bezugsquelle sind weniger die schulischen Mitakteure oder die Hausaufgaben, sondern ihre Freundinnen aus dem privaten Kontext und das Internet (TZ 93-102). Was für ihren Bildungsprozess konstruktiv war, wird an jener Sequenzstelle sichtbar, in der Celia über das Selberdichten spricht: Aufgrund von starken Gefühlsregungen wird sie zum Schreiben ÜBER LIEBE ODER ÜBER SICH SELBER angeregt. Dadurch kann sie sich in objektivierter Form zum Ausdruck bringen und in dieser sprachlichen Vergegenwärtigung etwas erarbeiten, was ihr durch nachträgliche, Sinn verstehende Auslegung zur Selbst-Erkenntnis wird. Das Besondere bei Celia ist weniger die Ambiguität ihrer Gefühle (die ihrem Status als Adoleszente entspricht) als die latente Angst vor dem Scheitern (Fehlleistung, Tendenz zu negativer Deutung), die ihr eine Regelung des NäheDistanz-Verhältnisses (auch zum anderen Geschlecht) erschwert. Für diese Problematik bietet das Hinzuziehen des Habituskonzepts eine – allerdings noch nicht hinreichend gesicherte – Erklärung. Natalías Verhältnis zu Lyrik kommt am deutlichsten in dem Gedicht „Die Stadt“ zum Ausdruck. Hier ist eine Besonderheit das subjektive Empfinden einer Konvergenz von persönlicher Situation und Text. Aus den darin abgebildeten diffusen Stimmungen von Heimweh und Melancholie ergibt sich für Natalía zunächst ein Bezug zu diskrepanten Erwartungen von außen, die in ihr Traurigkeit und Verlustängste hervorrufen. Die kognitiv-reflexive Fähigkeit der Schülerin ist jedoch so weit entwickelt, ihre grundsätzliche Konformitätsbereitschaft mit den von den Eltern an sie gerichteten Erwartungen ist so groß, dass deren Konsequenz (das Folgen-Müssen) für sie nicht in Frage steht. Die hohe Wertschätzung, die die Schülerin ihren Eltern entgegenbringt, äußert sich z. B. in ihrer kurzen Philippika ICH MAG DAS NICH WENN MAN MEINE ELTERN BELEIDIGT BLOSS WEIL ICH MANCHMAL ERZÄHLT HAB DASS MEIN VATER STRENG IS. Problematisch für
sie sind vielmehr unterschwellige Gefühle, die mit der Antinomie autonomer und heteronomer Strebungen verbunden sind, die sie noch nicht artikulieren und einordnen kann. Das Vernunft geleitete Reflektieren über einen möglichen Ortswechsel allein bringt sie ihrer augenblicklich unsicheren Stimmungslage nicht so nah
5.2 Natalía und Celia –„Es ist wie ich“ versus „Ich gleiche es mir an“
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wie das Gedicht. Erst in dessen Sprache fühlt sie ihre tatsächlichen Gefühle und Ängste ausgedrückt. Der Dichter wird für sie zum signifikanten Anderen: ICH WEISS SCHON DENKE ICH RECHT GENAU UM WAS ES GEHT…ICH (kann; HH) MIR RECHT GUT VORSTELLEN…WIE ES FÜR IHN WAR ICH FIND DAS IS EIGENTLICH GANZ GUT WENN MAN SICH SO VORSTELLEN KANN WARUM DER DICHTER SO WAS GESCHRIEBEN HAT (vgl. Ergänzungsinterview v.
30.1.2007; TZ 432-435). Natalías spontane Zuneigung zu Storms Gedicht ist in diesem Sinne – obwohl an den Kontext Hausaufgabe ebenso gebunden wie in Filips Fall – ein Moment der Unwillkürlichkeit, der ästhetischen Krise (auf die sie sich einlässt), deren Bildungsgehalt von Kategorien erworbenen, abfragbaren Wissens zu differenzieren sind. Was sie als PHASE des ständigen HIN UND HER und ZWISCHEN’ANDER bezeichnet und was sie verunsichert, ist einerseits in der ungeklärten familialen Situation begründet, andererseits aber auch eine Folge der Diskrepanz ihres ausgeprägten Realitätsprinzips (der Sprache der Vernunft) auf der einen Seite, in der die Schülerin Chancen und Risiken eines Ortswechsels längst berechnet und sich damit eingerichtet hat. Auf der anderen Seite rumoren ihre widerstreitenden Stimmungen, die durch den Dialog mit dem Gedicht bzw. indem sie die Perspektive des Dichters übernimmt, artikulierbar werden. Die Schülerin fühlt sich davon angesprochen in einer Sprache, die in Anlehnung an Adorno die „Sprache des Selbst“ genannt werden kann, die zu überhören einem Verlust von Bildung gleichkäme (Adorno 2006: 32). Hier bietet sich neben dem Blick auf Celias eher leidender AußenseiterPosition eine Kontrastierung mit Filips Strategie des intendierten NICHT BETEILIGT-Seins an: Natalía partizipiert an beiden „Sprachebenen“ als ganze Person: an der Sprache der Vernunft durch die Einsicht ICH KANN JA NICH SAGEN ICH BLEIB TROTZDEM HIER mit der gleichen Intensität wie an der Sprache der Lyrik. Darum kann sie bezeugen WENN MAN DAS GEWÖHNT IST MIT GEDICHTEN AUFZULEBEN DANN KÖNNEN DIE EINEM TOLL HELFEN. Im Ausbalancieren beider Erfahrungswelten – der realen wie der metaphorischen – und ihrer differierenden Ausdrucksformen zeigt sich ihr Zuwachs an Selbstkompetenz. Neben Natalías engagiertem Sich-Beteiligen wird unter Bezugnahme auf Adornos „Theorie der Halbbildung“ ein Zweites deutlich: Ihr Fazit ES PASST HALT GRADE ZU MEINER SITUATION hat sie nicht mit Hilfe von klischeehaften Kategorien gezogen, sondern erstens aufgrund eigenständiger Reflexionen und Vergleiche, zweitens aufgrund jenes Prozesses, den Oevermann in seinem Modell von Krise und Routine als Bewältigung einer ästhetischen Krise bezeichnet. Gemeint ist damit das, was am Beispiel von Natalía evident wird: das unmittelbare Berührtsein von der sinnlichen Präsenz, der bildenden Kraft eines Kunstwerkes,
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5 Kontrastierungen
die anschließende Hingabe in Muße und uneingeschränkter Sinnesoffenheit und schließlich die Streckbewegung zur schöpferischen Höhe des Künstlers. Es enthüllt sich der Schülerin die Sicht einer Kompatibilität von eigener Befindlichkeit und Gedicht als Resultat eines Vermittlungsprozesses zwischen den Extremen eines reflexiv-kognitiven, „vernünftigen“ Abwägens und bislang nicht zugestandenen, ausgegrenzten Gefühlen, die sie in den Gedichttext transformiert. Ihre Deutung des Gedichtes ist so die Folge eines Bedürfnisses nach Gleichklang mit einem signifikanten Anderen, dessen künstlerische Ausdrucksgestalt ihr zum Identifikationsobjekt wird. Durch die ganzheitliche Gedichtrezeption, wie sie im Unterricht angelegt und vom familialen Kontext gefördert wird, empfängt Natalía etwas, wodurch sie einen lyrischen Text so aufnehmen und umgestalten kann, dass aus den Worten des Dichters eine eigene Deutung emergiert. Mit „umgestalten“ beziehe ich mich auf die in der Analyse herausgearbeitete, allerdings sehr feine Differenz von Natalías Deutung des Gedichtes und einer dicht am Text bleibenden Interpretation, d. h. die starke innere Verbundenheit des Dichters zu seiner Heimatstadt im Gegensatz zu Natalías problematischer Beziehung zu ihrem jetzigen Wohnort, von dem sie sagt, es sei ein Ort, von dem MAN GAR NICH SO GERN WEG WILL, der für sie aber zugleich WAS ANDERES ist (vgl. TZ 36). Damit sind wir beim zweiten Bezugsrahmen, in dem Natalía das Gedicht betrachtet: ihre Beziehungsproblematik zu Gleichaltrigen, die die eigentliche Ursache ihrer Ablösungsängste ist. Ihre Worte ES HAT JETZ EIGENTLICH ACHT JAHRE GEDAUERT DASS ICH DREI GUTE FREUNDE HATTE zeigen, dass es hierbei nicht um das Ausbalancieren eigener Ansprüche mit diskrepanten Erwartungen von außen geht, sondern um das bewusst und artikulierbar Werden einer vor allem in der frühen Adoleszenz schmerzlichen und zutiefst verstörenden Erfahrung: ES IST AUCH FÜR MICH NICH SO EINFACH IMMER FREUNDE ZU FINDEN…VORHER WURD ICH VON DEN ANDERN SO GEMIEDEN ALS WÄR ICH IRGENDWIE’N BISSCHEN GIFTIG.
In diesem Aspekt lässt sich der innere Gehalt des Gedichttextes nicht eins zu eins auf Natalías Situation übertragen, denn dessen Grundstimmung ist das innige, unwandelbare Gefühl der Heimatverbundenheit. Es ist nicht irgendeine, sondern DIE STADT, an der Storms ganzes Herz hängt. Natalías Gefühl HÄNGT MAN SCHON DRAN AN DEN FREUNDEN ist schon getrübt von der Angst, in einer neuen Umgebung DAUERT ES WIEDER SO LANG, bis es ihr gelingt, neue Peer-Beziehungen aufzubauen. Die Ungewissheit und Zukunftssorge, die ihr in alltagssprachlicher Formulierung noch Schwierigkeiten machen und die sie anfangs mit dem Begriff PHASE auszudrücken versucht, kann sie erst in Form eines eigenen lyrischen Bildes fassen: sich GANZ KLEIN UND HILFLOS MITTEN AUF DEM WEITEN MEER ANDRER MENSCHEN UND GEDANKEN ausgesetzt zu fühlen.
6 Die Entstehung des Neuen durch Lyrikrezeption – Strukturgeneralisierung
Im folgenden Abschnitt soll die Gesetzmäßigkeit (Strukturgesetzlichkeit) der vier herausgearbeiteten Fallstrukturen expliziert werden, die durch die Praxis von Lyrikrezeption individuierende Bildungsprozesse angestoßen und die Entstehung eines authentisch Neuen ermöglicht haben. Die in der Darstellung der Ergebnisse sowie in der Kontrastierung verwendeten analytischen Kategorien werden aufgegriffen und abschließend zusammengefasst.
6.1 Erster Fall – Selbst-Bezeugungsfigur: Lyrik als kreative Ressource Auf der Basis der Rekonstruktion der Fallstruktur wurde zunächst der individuelle Bildungsprozess der Schülerin herausgearbeitet. Im folgenden Abschnitt geht es darum zu zeigen, was dem spezifischen Einzelfall als das übergreifende Allgemeine inhärent ist. Dies soll auf den drei Ebenen der Frühadoleszenz, der ästhetischen Erfahrung sowie der Initiation in Ausdrucksgestalt und Eigenlogik von lyrischen Kunstwerken geschehen. Als eine Besonderheit des vorliegenden Falles wurde das subjektive Empfinden einer Konvergenz von persönlicher krisenhafter Situation und Gedichttext dargestellt. Die darin abgebildeten Metaphern werden als Ausdruck eigener, widersprüchlicher Stimmungen gelesen und auf heteronome Erwartungen bezogen, für die die Heranwachsende keine Ausdrucksmöglichkeit sieht, die mit ihrer solidarischen Haltung gegenüber ihren Eltern kompatibel wäre. Die Akzeptanz der elterlichen Hierarchie, das Pflichtgefühl gegenüber den an sie gerichteten Erwartungen hat sie weitgehend internalisiert. Die für sie mit der elterlichen Entscheidung verbundenen Konsequenzen und Nachteile stehen nicht zur Debatte: Sie weiß, dass sie MUSS. Ihre Befürchtung des Autonomieverlusts bezieht sich jedoch weniger auf heteronome Anforderungen von Seiten der Eltern, als auf die schulischen Mitakteure, deren Anerkennung sie zwar sucht, jedoch nicht um den Preis ihrer familialen Solidarität. Trotz ihrer inzwischen hohen sozialen Akzeptanz will die Schülerin ihr privates Problem in der Klasse nicht offen zur Sprache bringen. Im Interview spricht sie darüber aus der familialen Perspektive und grenzt sich H. Handwerk, Die Bedeutung von Lyrik in Bildungsprozessen der frühen Adoleszenz, DOI 10.1007/978-3-531-92737-4_7, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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6 Die Entstehung des Neuen durch Lyrikrezeption – Strukturgeneralisierung
scharf ab: Die schulischen Mitakteure sind ANDERE LEUTE. Sie MAGS NICH SO GERN WENN ANDERE LEUTE SO VIEL ÜBER MICH WISSEN WEIL MANCHMAL ZIEHN DIE SCHLÜSSE DIE ICH ÜBERHAUPT NICH WEISS UND DANN WISSEN SIE MEHR ÜBER MICH ALS ICH SELBST ÜBER MICH (TZ 137-139). Ein Wissen über jemanden, Schlüsse, die Andere aus diesem Wissen ziehen, ohne dass der Betreffende davon weiß, verleiht Anderen eine Macht, die die Schülerin Außenstehenden nicht zugesteht. Dieses dezidierte Autonomiebestreben korrespondiert mit ihrem Bedürfnis nach Absicherung hinsichtlich des Bezugsrahmens gleich zu Beginn des Interviews. Die Heranwachsende will die Distanz zwischen Schule und Zuhause nicht nur im Sinne einer gegenseitigen Absicherung wahren, sondern empfindet jede Kritik von außen als Übergriff in ihre Privatsphäre, als Beleidigung (TZ 143-145). Ihr Bestreben, sich und ihre Familie nicht bloßzustellen und die elterlichen Werte und Normen zu verteidigen, wird zu einem weiteren Balanceakt zwischen Heteronomie und Autonomie, zwischen Innen(sicht) und Außen(sicht), deren Spannung mit hohem Einsatz auszugleichen gesucht wird. Dass das selbst verfasste Gedicht (und damit ein Teil der intimsten Gefühle) der Interviewerin anvertraut wird, ist dem gegenüber kein Widerspruch, sondern ein Selbstausdruck, der sich im Schutz der Fremdheit der beteiligten Personen und der Camouflage einer an alle schulischen Mitakteure gestellten Forschungsfrage vollzieht. Aufschlussreich ist an dieser Stelle das von Goffman beschriebene Modell der Selbstpräsentation von Individuen in sozialen Situationen, in dessen Verständnisrahmen die Sorge um Gesichtsverlust begreiflich wird (vgl. Ray 2008: 37). In diesem Aspekt wird die Rezitation des Gedichtes von Theodor Storm vor der Klasse zu einer Möglichkeit der stellvertretenden Selbstbezeugung, indem die Schülerin das für sie sonst Unaussprechbare auf das Gedicht überträgt. Im Schutz dieser Ummantelung ist die Gefahr der Selbstpreisgabe gebannt; Eigenes wird durch den Mund eines Alter Ego (des Dichters) darstellbar. Was den Prozess aufraut, ist das derzeit noch bestehende Oszillieren zwischen Anderen (ZWISCHEN’ANDER), das die aus den rationalen Erklärungen der Schülerin immer wieder hervorbrechende unterschwellige Expressivität zumindest mit verursacht hat. Ungewissheit und affektive Erregung in Folge der Ablösungskrise kollidieren mit dem Beginn der Adoleszenz, die das Ausmaß der Verunsicherung erhöht, und bilden ein Konglomerat von reflexiv-kognitiv schwer fassbaren Stimmungen, deren Vielschichtigkeit und Diffusion für die Schülerin unaussprechbar sind bzw. – wie entsprechende Sequenzstellen zeigen – in der Andeutung abgebrochen werden. In diesem Ringen um Identität wird eine Struktur von allgemeiner Aussagekraft sichtbar: „Identität zu gewinnen und zu präsentieren ist ein in jeder Situation…zu leistender kreativer Akt. Er schafft…die Aufarbeitung der Lebensgeschichte des Individuums
6.1 Erster Fall – Selbst-Bezeugungsfigur: Lyrik als kreative Ressource
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für die aktuelle Situation. Das bedeutet zugleich, daß das Individuum sich…dieser Situation gegenüber in Distanz setzt. …Konkurrierende Normen und inkonsistente Erwartungen (bringen; HH) gerade dadurch, daß sie sich mit der Aufforderung…verbinden, trotz aller Schwierigkeiten Identität zu wahren, Kräfte der Neuinterpretation und zugleich der Umwandlung dieser Verhältnisse hervor.“ (Krappmann 1993/8: 11-12)
Diese „Kräfte der Neuinterpretation“ sind im vorliegenden Fall sichtlich schon am Werke, um die Diskrepanz heteronomer und autonomer Strebungen ausbalancieren zu helfen, und werden in der Dimension von Kreativität fassbar. Die Objektivationen dieses kreativen Aktes weisen nach zwei Richtungen hin. In der ersten drückt sich die angesammelte Zuversicht einer strukturell optimistischen Habitusformation aus, auf der die Realistik der Heranwachsenden aufruht: Es WINKT ihr EIN WEITRER NEUBEGINN…DIE GROSSE CHANCE…DER BLICK AUF DIE ZUKUNFT. Diese Habitusformation („Im Zweifelsfalle geht es gut“; vgl. Exkurs S. 308f) hätte sie nicht ausbilden können ohne die Erfahrung tragender familialer Bindungen. In diesen liegt der Grund ihres Geheimnisses, das die Schülerin coram publico nicht preisgeben will: der GEHEIM(E), VERBORGEN(E) Quell ihrer Zuversicht. Insofern sind die Worte HAB ICH…EIN STÜCK DES KINDES NOCH IN MIR ein präziser Ausdruck eines stabilen Selbstvertrauens, das von der zweiten Richtung her, der Seite der Unsicherheit (der frühen Adoleszenz) und des schmerzlichen Gefühls HERAUSGERISSEN AUS DIESEM LEBEN/UND IN EIN ANDRES REINGESETZT zu sein zwar emotional erschüttert, aber nicht zerstört werden kann. Die andere Seite, das bisher Unsagbare, kommt erst auf der metaphorischkreativen Ebene in einer für die Schülerin akzeptablen Form zum Ausdruck: im ersten Fall durch das selbst verfasste Gedicht FORT VON HIER; im zweiten Fall in Storms Gedicht-Metaphorik, die sie als eine Entsprechung ihrer persönlichen Situation deutet. Die expressive Klage NIEMAND MERKT WIE ICH DRAN LEIDE / WIE ICH TRAURIG DRÜBER BIN ist die einzige Stelle, an der die sonst mühsam auf Abstand gehaltenen Gefühle explizit benannt werden. In beiden Fällen gibt die künstlerische Distanz den Schutz, die widerspruchsvolle Dynamik der Adoleszenzkrise erkennen und sprachlich fassen zu können. Der äußere Referent, der der Schülerin dabei hilft, ist die Ausgangsfrage der Interviewerin, zu der sie immer wieder unaufgefordert zurückkehren und sich äußern kann, eigenständig, unbefangen und oft in originärer Diktion. Der innere Referent ist die Begegnung mit dem Gedicht von Theodor Storm, das sie gewissermaßen naiv an sich nehmen und intuitiv seiner inneren Gestalt nach erschließen kann.
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6 Die Entstehung des Neuen durch Lyrikrezeption – Strukturgeneralisierung
Damit sind wir auf der zweiten Ebene der Darstellung eines Allgemeinen im hier vorgelegten Fall: der Ebene ästhetischer Erfahrung.209 Die lyrische Sprache rührt etwas bereits Vorhandenes bei der Schülerin an (schmerzliche Verlustgefühle, Zukunftsangst, Ablösung), was nun vitalisiert wird und zeigt, dass etwas vorliegt, was eine Bearbeitung notwendig macht. Durch den Dialog zwischen Rezipient und Kunstwerk, mit anderen Worten durch die „Einsicht in die Irritation der künstlerischen Darstellung“, emergiert ein verwandeltes Verhältnis von Innen und Außen.210 Die Struktur, wie Bildung im Sinne einer Selbst-Gestaltung in Gang gesetzt werden kann, wird sichtbar. Das Kunstwerk (Gedicht) wird zur schlüssigen ästhetischen Erfahrung für das rezipierende Subjekt. Es vollzieht sich ein wechselseitiger Prozess: Das Gedicht spiegelt auf der einen Seite Erfahrungen, die ein Künstler stellvertretend für andere gemacht hat und nun in seinem Werk offenbart; andererseits werden durch die wie auch immer material gefüllte Gestalt eines Kunstwerkes eigene Erfahrungen des Rezipienten intensiviert, gesättigt und reflexiv zugänglich. Auch wenn die Schülerin Laie ist, kann sie sich zumindest ansatzweise auf die Erfahrungshöhe des Künstlers begeben. Dies ist der Bildungsprozess, der durch den Dialog mit einem gelungenen Kunstwerk in ihr eingeleitet wird.211 Sie selbst drückt dies – zwar mit Blick auf ihre gegenwärtige Situation, doch zugleich verallgemeinernd – aus mit den Worten IS JA AUCH NE NEUE CHANCE WENN MAN WAS NEUES…MACHEN KANN. Dieses Neue impliziert zugleich, dass die weitere Entwicklung des Prozesses offen bleiben muss. Hier geht es darum, aufzuzeigen, was durch lyrische Sprache im Augenblick angeregt werden kann. Für die ursprüngliche Art der Spontanrezeption ist die Schülerin aufgrund ihrer ästhetischen Sozialisation zugänglich, sie kann das Werk in jener Haltung aufnehmen, die ästhetische Erfahrung vorauszusetzen hat, in einer Art
209 Mit dem Begriff „ästhetische Erfahrung“ beziehe ich mich an dieser Stelle auf Oevermanns Aufsatz „Bausteine einer Theorie künstlerischen Handelns“, in dem die Trias von 1. autonomem Kunstwerk, 2. dessen Produktion durch den Künstler und 3. die Rezeption des Kunstwerkes durch den Rezipienten entwickelt wird. Die Autonomie eines Kunstwerkes besteht gerade darin, dass die enorme Distanz in der Möglichkeit, ein solches Kunstwerk herzustellen, das heißt zwischen dem Produzenten und dem Rezipienten, (geistesaristokratische Differenz zwischen Künstler und Laien [Weber]) eingeebnet wird im Rezeptionsvorgang dadurch, dass ein Kunstwerk, eben weil es gelungen ist, in seiner Autonomie eine Übersetzungsleistung hergibt, die es dem Laien ermöglicht, durch Rezeption auf das gleiche Erfahrungs- und Gestaltungsniveau zu gelangen wie der Künstler selbst im Prozess des Gestaltens. (Oevermann 2001) 210 Oevermann 2001: 31 211 Oevermann 2001: 32-33
6.1 Erster Fall – Selbst-Bezeugungsfigur: Lyrik als kreative Ressource
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„Gegenbewegung zum Subjekt. Sie (die ästhet. Erfahrung; HH) verlangt etwas wie Selbstverneinung des Betrachtenden, seine Fähigkeit, auf das anzusprechen oder dessen gewahr zu werden, was die ästhetischen Objekte von sich aus sagen und verschweigen.“ (Adorno 1977/3: 514)
In diesem Sinne hat ES sie – wie sie selber sagt – ANGESPROCHEN. Die Erfahrungen, die die Schülerin auf der ersten und zweiten Ebene machen konnte, berühren die dritte Ebene und sind eine Art Spontan-Initiation in die Eigenlogik lyrischer Gebilde. Damit ist jener Vorgang gemeint, den Ulla Hahn mit den Begriffen „Auswendig-Sagen“ und „Inwendig-Lernen“ als Voraussetzung eines echten An-Eignungsprozesses von Lyrik beschreibt: „Gedanken, Bilder und Gefühle eines anderen in sich hineinzunehmen, sich anzuverwandeln, sich zu eigen machen, in Kopf und Herz“ (zit. nach Lösener 2007: 104). Die Sinnkonstanz, die die Heranwachsende auf der Basis initiierender Erfahrungen und lyrischen Sprechens bestimmten Gedichten zuschreibt, wird zum Samenkorn gegen „die Verödung des zum bloßen Mittel sich zurichtenden Geistes“ (Adorno 2006: 29). Ihre Sensibilität für lyrisches ANGESPROCHEN-Sein eröffnet ihr zugleich die Möglichkeit eigener kreativer Selbstbezeugung, indem sie nicht nur bei Storms Gedicht WEISS…UM WAS ES GEHT und sich RECHT GUT VORSTELLEN KANN…WIE ES FÜR IHN WAR. Was sie bewegt und belastet, kann sie selber in ein sprachliches Bild fassen und in einer Form ausdrücken, die zugleich das Geheime, Verborgene in ihr bewahrt. Gedichte und Sprüche erhalten einen Eigenwert, der die Heranwachsende EINFACH BEGLEITET als Äquivalent für etwas Lebendiges, Wandelbares und Anpassungsfähiges, das ständig präsent ist und, unabhängig von Zweckmäßigkeitsdenken, über das Medium der ästhetischen Erfahrung ihre Entwicklung und Bildung anregt.212 Die frühe Souveränität, die sich in der Haltung der Heranwachsenden213 beim Ausbalancieren der widersprüchlichen Anforderungen von Innen und Außen ausspricht, findet eine aufschlussreiche Entsprechung in zwei Gedichten, die ihr von Mitschülerinnen als Zeugnisspruch für die achte Klasse zugeeignet wurden. Sie werden an dieser Stelle zitiert, um die allgemeine Strukturgesetzlichkeit dieses Falles herauszustellen. Der erste stammt von einer Freundin der Schülerin, die jene bewusst als Adressatin gewählt hatte. Das Gedicht lautet:
212 Damit ist keineswegs gesagt, dass Gedichte die einzige Form ästhetischer Erfahrung wären, doch eine, die, wie Schönheit etwa einer geometrischen Form, einer Musik, einer mathematischen Aufgabenstellung, unverzichtbar ist als Basis der Erkenntnis, aber als nicht deren schmückendes Beiwerk. 213 Unter Haltung verstehe ich hier nichts Starres, sondern eine innere Konfiguration, die sich aus Natalías individueller Lebenspraxis und ihrer strukturell optimistischen Habitusformation gebildet hat und in Denken, Fühlen und Handeln niederschlägt.
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6 Die Entstehung des Neuen durch Lyrikrezeption – Strukturgeneralisierung
Die Ruhe und die Kraft gehören zusammen Die Ruhe hast du, wenn du sie rufst Die Kraft hast du, wenn du sie brauchst Du findest alles in der Ruhe, auch die Kraft Du findest alles in der Kraft, auch die Ruhe. Die Ruhe und die Kraft sind zwei Doch du vereinst sie zu einem Du hast zwei in dir gebe niemals eines davon auf, denn du brauchst sie beide Ruhe und Kraft
Die zweite Schülerin hatte ihre Adressatin per Los gezogen; sie zeichnet dessen ungeachtet ein ähnlich dynamisches Bild: Es züngelt und sprüht Es rußt und raucht Es verzehrt und glüht Es leuchtet und faucht Man könnt’s für lebendig halten Es raucht und glüht sehr Es verwandelt zu Licht Nur Ruß gibt es her Und Asche, mehr nicht, Doch die Wärme ist da zum Behalten. (Zeichensetzung nach den Originalen)
Signifikant ist bei beiden Gedichten214 die Konkordanz von Selbst- und Fremdbild. Im Gedicht der Freundin kommt das oszillierende Spiel der Stimmungen zum Ausdruck, von denen die Schülerin sich HIN- UND HERGERISSEN fühlt. Dies hat ihre Freundin entweder bemerkt oder von der Betreffenden erfahren und versucht es nun, in eine Form zu bringen, in der zwei polare Qualitäten abgebildet sind: Ruhe und Kraft. Das zweite Gedicht spiegelt eher das Temperament der zu bedichtenden Person wider, das diese selber als SEHR CHOLERISCH UND AUFBRAUSEND bezeichnet. Das Interessante ist nun, dass aus den Polaritätsmetaphern Ruhe und Kraft/ Licht und Ruß bzw. Flamme und Asche uns tatsächlich die Schülerin (Natalía) entgegentritt, wie wir sie in der Analyse erschlossen haben: die ruhig Vergleichende, Reflektierende und die kraftvoll Zupackende; die Traurige wie die, die 214 Leider muss die Darstellung sämtlicher der dabei in der Klasse entstandenen kleinen Gedichte auf diese beiden Beispiele begrenzt werden. Das gesamte Oeuvre der lyrischen Zuschreibungen spannt einen Horizont auf von humorvoller bis zu philosophischer Thematik, von Naturstimmungen bis zu moralischen Handlungsmaximen.
6.1 Erster Fall – Selbst-Bezeugungsfigur: Lyrik als kreative Ressource
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aufgrund ihres strukturell optimistischen Habitus DAS BESTE bzw. WAS NEUES DRAUS MACHEN will. Spannend ist weiterhin, dass die tendenziell polaren Qualitäten der Schülerin sich auch in dem Zeugnisspruch-Gedicht ausdrücken, das sie selber für ihre Freundin verfasst hat: Über seinen eigenen Schatten springen Jeder Meinung sich entgegen stellen Sich jeder Kraft zu Wehr setzen Nie feige sein Niemals sich vor etwas verstecken Jede Herausforderung annehmen Ruhig und klug Kraftvoll und wild Dennoch sich selbst treu bleiben Das ist die Kunst
Selbst wenn man nur die wesentlichen Motive dieser Verse auslegt, wird doch deutlich, wie das radikal Gegensätzliche, die – wie sie sagt – MISCHUNG…AUS CHOLERISCH UND MELANCHOLISCH, als spezifische Stimmung der Adoleszenz noch ungeschlichtet nebeneinander läuft. Da das Gedicht ein Ausdruck der eigenen Schwellensituation des frühadoleszenten Status ist, lässt sich eine dauerhafte Lösung für den Widerspruch von KLUG und WILD jedoch im Augenblick noch nicht finden. Das Entlastende und zugleich Anregende für den Bildungsprozess besteht darin, dass die widerstreitenden Gefühle sich aussprechen können, wenn auch in romantisch übersteigerter Verklärung und in einem Gedicht, das eigentlich für eine Andere bestimmt ist. Die Schreiberin spürt, dass das Wilde sich (auch in ihr) verselbständigen kann, darauf deutet sie in ihrer Selbstreflexion (TZ 363-387). Um SICH SELBST TREU BLEIBEN zu können, greift die Autorin zu „DENNOCH“, das als Adversativ gegenüber dem Wilden und Herausfordernden motiviert ist, und fasst das Widersprüchliche zusammen mit dem lapidaren Abschlussvers „DAS IST DIE KUNST“.215 Dass dieses Passungsverhältnis festgestellt werden kann, erweist zweierlei: einmal, dass sich mit Hilfe von lyrischen Texten bei allen drei Schülerinnen Bildungsprozesse vollzogen haben, bei den Autorinnen ebenso wie bei den Adressaten (im einen Fall manifestiert sich dies in Form von ZeugnisspruchGedichten, im anderen Fall in dem Gedicht „Fort von hier“). Alle drei Objektivationen ersten künstlerischen Handelns sind Versuche der Krisenbewältigung: 215 Beide Passungsdiagnosen – die Konvergenz der Peer-Zeugnissprüche mit der Fallstruktur wie auch des Zeugnisspruch-Gedichts mit der Selbstcharakterisierung – korrespondieren mit den Worten der Klassenlehrerin im Rückblick auf die Zeugnisspruch-Aufgabe: Sie habe bei den Versen der Schüler, die diese für andere geschrieben haben, IN VIELEN GEDICHTEN GEFUNDEN DAS IST… EIN SPRUCH FÜR DICH SELBST.
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6 Die Entstehung des Neuen durch Lyrikrezeption – Strukturgeneralisierung
Für die Autorin von „Fort von hier“ besteht die Krise in einem quasi nicht einzulösenden Entscheidungszwang, da sie jetzt noch ihren Eltern folgen muss. Für die Autorinnen der Zeugnissprüche besteht die Krise in der anspruchsvollen Aufgabe, Wesenszüge ihrer Mitakteure in prägnante Metaphern zu transformieren, d. h. den „Blindenstock“ zu einem Anderen zu finden, um ihn zu erkennen.216 Dagegen ließe sich nun einwenden, dass gerade Zuschreibungen aus der Peergruppe Krisen auslösen und zu einer Beschämung der betreffenden Schüler führen könnten. Auf der Basis der gegenseitigen Anerkennung und persönlichen Akzeptanz hat sich in dieser achten Klasse jedoch eine soziale Atmosphäre herausgebildet, die an keiner Stelle Anzeichen dafür erkennen ließ, die diese berechtigte Befürchtung bestätigte.217 Damit erhalten wir zugleich einen Hinweis auf den Wert eines spontan entworfenen pädagogischen Kunstgriffs. Die höchst eigenwillige und grundsätzlich riskante Vorgehensweise der Klassenlehrerin ruht auf einer langjährigen, stabilen Lehrer-Schüler-Beziehung und auf einer Unterrichtskultur auf, die die beteiligten Akteure in den vergangenen Schuljahren gemeinsam herausgebildet haben. Unter diesen Bedingungen wird das kreative Potential der Schüler freigesetzt; an den Ergebnissen, den künstlerischen Etüden werden zugleich der potentielle Wert und die Bildungsproduktivität des pädagogischen Wagnisses „Zeugnissprüche“ sichtbar. Auf den ersten Fall zurückblickend, lassen sich die Ergebnisse in die Formel fassen: Lyrik wird zur kreativen Ressource des Subjekts in der Bewältigung von Ablösungskrisen. 6.2 Zweiter Fall – Selbst-Findungsfigur: Lyrik als Spiegel Das Spezifische des zweiten Falles ist die Erfahrung einer Konvergenz von Selbst und Text an zwei Beispielen, einmal an Storms Gedicht „Die Stadt“218, ein 216 Das Zitat geht zurück auf Verse von Reiner Kunze: Das gedicht/Ist der blindenstock des dichters/Mit ihm berührt er die dinge,/um sie zu erkennen 217 Die Klassenlehrerin hatte ursprünglich vor, die Gedichte selbst zu verteilen, doch einige Schüler äußerten dezidiert DAS WOLLEN WIR PERSÖNLICH ÜBERGEBEN (vgl. Kapitel 2.4., Schule B). Aufgrund der Schüleräußerungen in den Interviews wie auch meiner Beobachtung am Tag der Übergabe der von den Schülern gedichteten Zeugnissprüche konnte man viel eher den Eindruck gewinnen, dass diese Form der Fremdzuschreibung als adäquates Zeichen einer auf gegenseitiger Anerkennung und Zuwendung beruhenden Kritik entgegengenommen und geschätzt wurde. 218 Es kann kein Zufall sein, dass auf die Frage, welches Gedicht den Schülern aus den vergangenen Jahren im Gedächtnis geblieben sei, von vielen (weiblichen wie männlichen Probanden) gerade dieses romantische Gebilde als eines genannt wird, das ihnen „einfach gefallen“ habe und deswegen zum Rezitieren vor der Klasse ausgesucht bzw. gerne gehört wurde.
6.2 Zweiter Fall – Selbst-Findungsfigur: Lyrik als Spiegel
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anderes Mal am Beispiel eines Zeugnisspruchs. Im ersten Fall genügt ein feiner Reiz – die Essenz des Gedichtes im Titel oder der erste Vers – und eigene Erinnerungen kulminieren in einem Augenblick des Angesprochenseins in den Bildern und Motiven des Dichters. Das Grau wird Metapher für früh erfahrene Ambiguität von Nähe und Distanz, von Verwurzeltsein und Verlust. Diese Gefühlskonvergenz ist die Folie für den Textinhalt, den der Schüler sich durch spontanes Erschließen und Interpretieren der Ausdrucksgestalt, durch Bezugnahme zur eigenen Biographie, schließlich durch eine aktive Form der Rezeption zu Eigen macht. Dadurch ist er als ganzer Mensch am Prozess beteiligt und findet zu einer neuen Ich-Repräsentanz innerhalb des gesamten Kontextes des Gedichtes. Biographische Erfahrung fließt in die ästhetische ein. In diesem Prozess geht es nicht um Verstehen äußerer Gegebenheiten, sondern um ein Entdecken und Artikulieren von Erfahrungsgehalten in stellvertretender Deutung, allgemein ausgedrückt: um eine erste Anbahnung ästhetischen Bewusstseins.219 In dieser Streckbewegung auf die Höhe des Künstlers, dessen Werk der Heranwachsende sich aneignet, besteht seine Eigenleistung und sammelt sich in dem Urteil: Das ist SCHÖN. Die Reflexivität dieses ästhetischen Urteils macht es keinem evaluierbaren Lernzielbegriff subsumierbar.220 Ein klassischer Bildungsprozess im Sinne Piagets hat stattgefunden: Die alte Struktur wird verändert, indem die Trennungsproblematik durch die Distanz der verfremdeten Worte aussprechbar und in Gestalt eines lyrischen Kunstwerkes zu einem Eigenen gemacht wird. Eine Tür hat sich geöffnet, zunächst einen Spalt breit. Der Rätselcharakter des Werkes bleibt erhalten, es erschließt sich vorläufig auf der Ebene gefühlter Übereinstimmung. Dennoch stellt sich ein erster intrinsischer Zugang zur lyrischen Ausdrucksgestalt ein. Er führt den Schüler aus dem Raum vergangener (traumatischer) Erfahrungen ein in einen fiktiven Raum, der ihm zugleich eine neue Perspektive auf Gewesenes eröffnet. Dieser Zugang zu einer neuen Welt ist nicht abstrakt, sondern voller Leben und Wirklichkeitsnähe.221 Andere Gedichte liebt der Schüler wegen ihres narrativen Gehalts, der ihn in die Komplexität historischer Ereignisse einführt. In WAHREN BEGEBENHEITEN, z. B. Balladen, entdeckt er gemeinsame geistige Strukturen222, die ihm ein Stück KULTUR sind (TZ 44), das er nicht verlieren, sondern – als einen Teil seiner Identität und Ausdruck seines Strebens nach Kohärenz und Kontinuität – bewahren und tradieren will. 219 Oevermann 2001: 14, 46 220 Vgl. Mollenhauer in: Mattenklott/Rora 1996: 13 221 Er erlebt „die unmittelbare Erfahrung der Wirklichkeit […], die die Zeit der Erfahrung, der signifikanten, sinngebenden Aneignung eines neuen, heterogenen Gegenstandes einschließt.“ Kristeva 1978: 200 222 Vgl. Levi-Strauss 1976: 46
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6 Die Entstehung des Neuen durch Lyrikrezeption – Strukturgeneralisierung
Die Metaphern von Konzentration und Entspannung (Punkt und Kreis) seines Zeugnisspruchs werden in einem Moment des Nachdenkens zu einem Spiegel, in dem der Schüler sich selbst begegnet und dies in den überraschten Ausdruck fasst: HUCH! ICH DA BIN ICH JA (TZ 121). In dieser fast vollkommenen Identifizierung mit einem sprachlichen Bild scheint die Distanz zwischen Selbst und vorgestelltem Objekt aufgehoben, oder besser: Das Subjekt erkennt sich darin wieder, und seitdem macht es ihm Spaß, den Text vorzutragen (TZ 96-97). Damit wird die ästhetische Seite des rituellen Lernarrangements thematisch. Das mimetische DES SAG ICH HALT, weil es von seiner Klassenlehrerin zu ihm gesagt war, wird nun, als Folge des Sich-Wiedererkennens, zu einem Aussprechen des Selbst, an dem Fühlen und Handeln beteiligt sind. Bei dieser deiktischen Performanz „rührt das affektive Moment der Sprache an den Körper, kann die Kräfte von Erneuerung und Verwandlung wecken“ und spricht fortan im Text sich selber aus.223 Wiederum hat sich eine alte Struktur verändert, indem dem Heranwachsenden bewusst wird, dass eine Gedicht- oder ZeugnisspruchRezitation nicht nur eine rituelle Lernpraxis ist, in der etablierte Formen weitergereicht werden, sondern dass alle diese Bilder, JEDER ZEUGNISSPRUCH WIRKLICH AUCH WAS MIT MIR ZU TUN HAT (TZ 92-93): Das Sich-Wiedererkennen des Subjekts in einem sprachlichen Bild führt zu einer ästhetischen Erfahrung des Ich: Da und Ich sind identisch. Die Rezitation wird zu einer deiktischen Selbstpräsentation.
6.3 Dritter Fall – Selbst-Behauptungsfigur: Lyrik als Abgrenzungssymbolik Als ein Besonderes konnte im Verlauf der dritten Fallrekonstruktion zunächst die Differenz von hoher sprachlicher Kompetenz auf der einen und eine generelle Uninteressiertheit an Gedichten auf der anderen Seite nachgewiesen werden, die den Fall exemplarisch werden lässt für die Nichtbelegbarkeit des Eigenwerts von Lyrik für den Bildungsprozess des betreffenden Schülers. Diese generelle Uninteressiertheit an Lyrik, die vor allem aufgrund einer pragmatisch getroffenen Zufallsentscheidung für ein Sprichwort von Goethe konstatiert wurde, ist nicht in einer fehlenden sprachlichen Begabung begründet, sondern eine momentane Einstellung des Schülers: Er versteht den Oberflächeninhalt von Gedichten, schöpft 223 „Daraus zieht der Text seine wesentliche Dimension: nämlich eine Praxis zu sein, in der (symbolische und gesellschaftliche) Endlichkeiten durch Herstellung neuer signifikanter Institutionen…in Zweifel gezogen werden. […] der Text als signifikante Praxis [...] weist auf die Möglichkeit eines Subjekts hin, das seinen Prozeß im Handeln spricht. Anders ausgedrückt: Er gibt der „stummen“ Praxis jenes Lusterleben zurück, das sie konstituiert, das aber nur unter der Bedingung seiner Verbalisierung Lusterleben wird.“ (Kristeva 1978: 206)
6.3 Dritter Fall – Selbst-Behauptungsfigur: Lyrik als Abgrenzungssymbolik
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aber die Möglichkeiten metaphorischer Sprache nicht aus. Ein individueller Zugang zur Eigenlogik lyrischer Gebilde konnte material nicht nachgewiesen werden; der Schüler hat sie als ein aus der Alltagssprache herausgehobenes Ausdrucksmedium bisher für sich nicht entdeckt und sucht sich ihr auch nicht zu nähern. Eine Problematik ergibt sich dabei aus der Verquickung von zwei gegenläufigen Spuren. Die erste Spur bezieht sich auf Identifikation und Aneignungsformen. Die frühe Erfahrung einer Amalgamierung von Lyrik in künstlerischer und pädagogischer Intention führt im vorliegenden Fall zu latenten Spannungen und fortdauernder Abwehr, statt zu einer Initiation in die Eigenlogik lyrischer Sprache. In der Zeit zwischen dem ursprünglichen Gefühl einer „unheimlichen Angst“ vor der ersten Selbst-Präsentation zu Beginn der zweiten Klasse und der frühadoleszenten Abwehr der als ungerechtfertigt und heteronom empfundenen Ansprüche (nicht so aufbrausend sein zu sollen) im achten Schuljahr hat eine Entwicklung stattgefunden, die eine Identifikation des Schülers mit Lyrik in Gestalt von Zeugnissprüchen eher verhinderte. Das Gedicht von Kunze ist durch die Pädagogisierung ins Zwielicht geraten. Indem es quasi seiner Fremdheit beraubt und zugleich mit pädagogischer Absicht verbrämt ist, kann es im Rezipienten nichts Neues hervorrufen; es kann ihm nur zeigen, was von außen erwartet bzw. ihm zugedacht wird. Aufgrund der Antinomie von Selbst- und Fremdbild entzieht der Heranwachsende sich dem Ansinnen, der lyrischen Qualität des Gedichtes nachzugehen, sich seinen Metaphern zu öffnen. Im Gegenteil: Die Irritation, die er auf der Ebene der realen Sinneswahrnehmung als Widersprüche erkennt und benennt, macht ihn nicht neugierig, sondern schreckt ihn ab. Das Objekt wird neutralisiert und zugleich Medium seiner Selbstbehauptung auf der symbolischen Ebene. Die Krise wird hier nicht durch eine künstlerisch-ästhetische Ausdrucksgestalt verursacht, sondern spielt sich auf der Beziehungsebene zwischen Schüler und Lehrer ab. Der Heranwachsende bewältigt sie, indem er sich gegen die als übergriffig empfundene Zuschreibung – d. h. gegen den Inhalt – durch einen stabilen Selbstentwurf von Einzigartigkeit und personaler Identität immunisiert, der sich als eine markante Selbstbehauptungsfigur darstellen lässt: Die personale Identität gewinnt Kontur und behauptet sich in der Differenz. Damit kommen wir zur zweiten Spur: der Ebene der Bedeutung. Diese zweite Spur erst führt unmittelbar zum Gegenstand Lyrik, indem gemäß einer bestimmten Hausaufgabe ein lyrischer Text gesucht werden soll, ohne dass der Schüler eine an ihn gerichtete pädagogische Absicht befürchten müsste. Hier wäre für ihn eine Gelegenheit, sich ein Gedicht zu suchen, wie es seinen Vorstellungen, Ideen oder seinem Selbstbild entspräche, eine Möglichkeit also, diese Aufgabe individuell zu gestalten. Die Voraussetzung dafür, dass lyrische Sprache dem Heranwachsenden etwas bedeutet, dass er sich von ihr befremden und ansprechen lässt,
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6 Die Entstehung des Neuen durch Lyrikrezeption – Strukturgeneralisierung
sich für sie interessiert, ist in diesem Falle jedoch material nicht nachweisbar. Lyrik wird gedeutet als Synonym zu Geschwätz. So ist auch die Entscheidung für den Goethe-Spruch nicht intendiert, sondern geschieht auf einen Blick, quasi als Momentaufnahme. In der Lyrik jegliche Bedeutung aberkennenden Art, die der Schüler beim Lösen seiner Aufgabe zeigt, bestätigt sich die Fallstruktur einer auf Gedichte bezogenen generellen Indifferenz, die sich durch die frühere Amalgamierung von künstlerischer und pädagogischer Absicht allein nicht erklären lässt. Diese Schlussfolgerung einer nicht allein auf Anbahnungsgeschichte und Lehrerzuschreibung zurückzuführenden generellen Ablehnung und Indifferenz des Schülers gegenüber den Deutungs- und Ausdrucksmöglichkeiten lyrischer Sprache ist aus zwei Gründen gerechtfertigt. Erstens partizipiert er nicht als ganze Person an den Rezitationen, sondern ist – wie er selbst sagt – EIGENTLICH NIE SO RICHTIG BETEILIGT. Weder von Goethes noch von Kunzes Metaphern gehen zentrale Impulse aus, die ihm das Auswendigsprechen reizvoll machen könnten. Dem korrespondiert die stärker an der Realität und informellen Lernaktivitäten orientierte Haltung des Schülers. Der Zugang zu einer Sprache, die er sich auf einer anderen Ebene als der eines reflexiv-kognitiven Verstehens oder nach Kategorien von richtig/falsch erschließen müsste, ist verbaut. Lyrik erlebt er nicht als eine ihn bereichernde Polarität, sondern als Antagonismus, etwas Ungreifbares (eben nichts SPEZIELLES), das ihn nicht berührt bzw. dem gegenüber er sich – wie der Fall des Kunze-Gedichtes zeigt – abschottet. Damit fehlen ihm jedoch die entscheidenden Voraussetzungen für Prozesse ästhetischer Erfahrung schlechthin: die vollkommen zweckfreie und mußevolle Hingabe an das künstlerische Objekt wie auch die unvoreingenommene Wahrnehmungsoffenheit für die sinnliche Präsenz des Werkes. Zweitens ist die Schlussfolgerung gerechtfertigt aufgrund der Tatsache, dass auch eine Bedeutung des Textinhalts für den Schüler an keiner Stelle der Analyse nachzuweisen war. Dies bezieht sich sowohl auf Gedichte im künstlerischen als auch im pädagogischen Fall und findet seinen unmissverständlichen Ausdruck in dem Befund DAS IS SO’N BLABLABLA. Es ist ihm letzten Endes egal, ob er den inneren Gehalt des Textes erfasst hat oder nicht. Was im Zusammenhang mit Lyrik für den Heranwachsenden jedoch Bedeutung hat, ist die Selbst-Präsentation vor den schulischen Mitakteuren, das Teilnehmen und Sich-Halten in der Gruppe der beteiligten Akteure, ohne sich identifikatorisch involvieren zu müssen. Die daraus resultierende Selbstbehauptung lässt sich demnach nicht auf eine durch einen lyrischen Text ausgelöste Krise beziehen, sondern ist das Ergebnis des Versuchs, die Spannung zwischen Ansprüchen von generalisierten Anderen und Selbstansprüchen perzeptiv-demonstrativ auszubalancieren. Anders ausgedrückt: Der Schüler verweigert die ihm zugeschriebene Rolle (des sich zurückhalten Sollenden); der ihm im Zeugnisspruch-Gedicht vorgegebene Identitätsentwurf wird nicht bestätigt, sondern ironisiert und abgewehrt (vgl. 6 F der Analyse).
6.4 Vierter Fall – Selbst-Stabilisierungsfigur: Lyrik als Symbolik von Selbst-Erkenntnis
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Aus den im vorliegenden Fall fehlenden Grundvoraussetzungen einer bildungs- und entwicklungsproduktiven Lyrikrezeption lässt sich eine erste Form von Generalisierung ableiten: Durch die Subsumtion von Lyrik unter die Prämisse einer pädagogischen Absicht werden Fremdheit und Autonomie von Gedichten abgeschattet. Dadurch entsteht die tendenzielle Gefahr, dass sie nicht mehr unvoreingenommen und zweckfrei rezipiert werden können. So können sie, im Sinne der Theorie der Halbbildung, statt zu einer Amplifizierung von Bildungsprozessen in Richtung eines Routinelernens führen und Bildungsprozesse nicht einleiten, sondern verwehren. Dieser dritte Fall lässt sich sogar auf die Frage hin pointieren, ob die strukturellen Bedingungen einer der Institution Schule geschuldeten „Aufgabe“ es überhaupt ermöglichen können, Gedichte unter der Voraussetzung einer wahrnehmungsoffenen, mußevollen und zweckfreien Haltung zu rezipieren. Es zeigt sich an diesem Fall zugleich die doppelte Abgrenzungssymbolik der Adoleszenz: das Bedürfnis nach Abgrenzung von der Generation der Erwachsenen (Eltern, Lehrer) sowie die Tendenz zu intragenerativer Abgrenzung, d. h. die Abgrenzung innerhalb der Peergroup, die sich in diesem Fall in der paradoxen Form einer unbeteiligten Teilnahme äußert. Das Subjekt bleibt draußen vor der Tür: Gedichte werden zur Abgrenzungssymbolik.
6.4 Vierter Fall – Selbst-Stabilisierungsfigur: Lyrik als Symbolik von Selbst-Erkenntnis In der vierten Fallstruktur tritt der Bezug zwischen Adoleszenzkrise und Lyrikrezeption markant hervor. Eine spezifische Nuance erhält der Fall durch die vermutete strukturell pessimistische Habitusformation der Schülerin, die in krisenhaften Situationen als spontane Antizipation des Scheiterns zum Ausdruck kommt. Deshalb ist hier zu unterscheiden zwischen einer Strategie des Assimilierens aus dem Bedürfnis der Stabilisierung und ihrem Bildungsprozess. Die Strategie des Assimilierens ist motiviert durch Irritationen und latente Fragen, die der Schülerin aufgrund ihres Verliebtheitsgefühls zu schaffen machen. Diese sind zunächst etwas Unsagbares, das von den Imponderabilien der Adoleszenz verschärft wird und reflexiv noch nicht gefasst werden kann. Erst durch den suggestiven Reiz des Gedichts, das sie sich ausgesucht hat, wird das Unsagbare evoziert und aussprechbar. Dabei assimiliert sie die Überschrift aufgrund ihres tendenziell pessimistischen Habitus der eigenen Aporie und „überliest“ den Widerspruch zwischen ihrer Lesart und der Stimmung des Gedichts. Das unbewusste Umformen einer Gedichtüberschrift entsprechend ihrer Befindlichkeit ist in der Absicht der Stabilisierung begründbar. Dessen ungeachtet kann
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6 Die Entstehung des Neuen durch Lyrikrezeption – Strukturgeneralisierung
die Schülerin die Kernaussage des Gedichtes ohne vorherige begriffliche Prädikation gestaltrichtig erschließen, es als Liebesgedicht erkennen. Da sie selber verliebt ist, kann sie die Polarität von „sich durch Leiden schlagen“ und „Glück ohne Ruh“ nachempfinden. Auf der Ebene reflexiv-kognitiver Fähigkeit wird dabei die Differenz zwischen emotionalem Mitschwingen, dem Sich-Einfühlen in den Text und der Fähigkeit, dies in Worte zu fassen, sichtbar. Sie zieht das Resümee: WEISS NICH ICH FIND DEN INHALT EINFACH SO SCHÖN SO IRGENDWIE ALLES DIE GANZE SITUATION DA DRIN (TZ 68). Wie im ersten und zweiten Fall zeigt sich auch hier die Strukturgesetzlichkeit künstlerischen Rezipierens daran, dass in diesem Lebensalter das Erschließen einer lyrischen Ausdrucksgestalt nur eine erste Ein-Sicht, ein Ein-Stimmen in das unerschöpfliche Potential eines gelungenen Gedichtes sein kann. Die Ursache dafür liegt zum einen in der unauflösbaren Verbindung der allen lyrischen Kunstwerken gemeinsamen Prinzipien, nach denen sie geordnet sind: die Prinzipien von Laut/Rhythmus und Bedeutung: Mit Bezug auf den Inhalt sind sie begrifflich, mit Bezug auf die sprachliche Gestaltung bewegen sie sich zugleich in der sinnlichen Präsenz von Melos und Rhythmus. Zum anderen ist die Schülerin in ihrem Unterricht Gedichten in einem holistischen Erfahrungsraum begegnet, der nicht nur Reflexions- sondern auch Praxisfeld ist und den Rahmen bildet für ihre Entscheidung für das Goethe-Gedicht. Dass sie diese jetzt noch nicht argumentativ begründen kann, ist eine Folge des didaktischen Konzepts ihrer Lehrerin, in dem der Textinhalt eines lyrischen Gebildes seiner „allgemeinen Melodie“ verbunden bleibt und der Aspekt des retrospektiven Verstehens berücksichtigt wird.224 Die komplexe Erfahrung beider Ebenen (Bedeutung und Laut) wird so zu einer Möglichkeit, die Adoleszenzkrise als eine Situation des Übergangs und des Entwerfens aufzufangen und mitzuteilen. Dass die performative Seite aufgrund der Fehlleistung scheitert, steht auf einem anderen Blatt. Der ursprüngliche ästhetische Reiz, die „ratlose Liebe“, ist angekommen, und die prekäre Situation vor der Klasse löscht das Gefühl nicht aus, IRGENDWIE ALLES in dem Gedicht sei EINFACH SO SCHÖN. Ob die Fehlleistung sich zurückführen lässt auf einen durch Frühgeburtlichkeit verursachten strukturell pessimistischen Habitus, müsste allerdings in einem anderen Rahmen und einer anderen Fallbestimmung noch genauer untersucht werden. Für diese Arbeit war der Aspekt zur Erweiterung des Blickfeldes wichtig. Eine zweite Strukturgesetzlichkeit wird in der Dimension von Kreativität fassbar, mit der die Schülerin die Liebe zu ihrem Freund in Form eines Gedichtes fassen und damit für sich explizieren will. Die Metaphorik ihres Textes (Ro224 Das Konzept des Epochenunterrichts z. B. berücksichtigt die Wichtigkeit von Erfahrungen, die latent wirken, die sich noch nicht unmittelbar auswirken auf Explikationsfähigkeit und Urteil, die aber dennoch nach zwei, drei Jahren oder noch später sichtbar werden, weil sie latent eine Transformation erfahren haben.
6.5 Zusammenfassung
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se, Blut, für immer) zeigt, wie existentiell sie von ihrem Gefühl betroffen und zugleich wie wichtig es für sie ist, dafür einen adäquaten Ausdruck zu finden. Insofern ist ihre Äußerung, sie schreibe Gedichte AUS HOBBY…EIGENTLICH NUR FÜR MICH (TZ 72 und 82), konsistent und wird – obwohl sie später auch eine emotive Funktion zugesteht – authentisch begründet mit der Erklärung, man lerne sich dadurch MANCHMAL BESSER KENNEN ALS MAN…DENKT. In diesem Zusammenhang kann das Gedicht, das die Schülerin geschaffen hat, als eine Propädeutik der Selbstreflexion gesehen werden. Die Tatsache, dass sie die Ausdrucksgestalt ihres Liebesgefühls (ihr Gedicht) vor einer fremden Person spricht, ist – ebenso wie in Fall Eins – in der Dimension einer wenn auch verhaltenen Selbst-Bezeugung fassbar. Die Schülerin setzt voraus, dass die Interviewerin ein Sensorium habe für die Ausdrucksqualität, die sie mit ihrem Gedicht erreichen wollte. Dies wiederum ist in sich ein Beleg dafür, dass der Bildungseffekt der poetischen Sprache bei ihr angekommen ist, denn sie will auf der einen Seite Zeugnis geben von sich selber, auf der anderen Seite soll dieses Zeugnis auch etwas für andere Stimmiges sein, eine Eigenlogik haben, sich quasi als künstlerische Etüde selber tragen. Lyrik wird zum stabilisierenden Moment und zur Symbolik von Selbst-Erkenntnis. 6.5 Zusammenfassung Der Blick zurück zeigt, wie sich bei den Heranwachsenden durch die individuelle Art des Lyrik-Rezipierens auf mehreren Ebenen Neues gebildet hat. Eine Parallelität von herausragenden Themen des Lebensabschnitts Adoleszenz225 und den Sinngehalten lyrischer Dichtung226 wird sichtbar. Durch die langjährige, ganzheitliche Form der Gedichtrezeption in einem relativ offenen Setting (dem so genannten „Rhythmischen Teil“; vgl. Kap. 2.1.1.1) wurde Lyrik als etwas erfahren, was auf dem Wege einer disziplinierten Übung, einer perzeptiv-aktiven, Gefühl affizierenden ästhetischen Praxis Prozesse in Gang setzte, die in allen vier Fällen als ein qualitativer Sprung individueller Selbst- und Weltbezüge erkennbar werden. Sie beschreiben nichts Statisches oder Endgültiges, sondern markieren eine kontinuierliche, dynamische Passage von einem Zustand in einen neuen.227 Dieses qualitativ Neue lässt sich auf der reflexiv-kognitiven, der psychischen sowie der Ebene des Handelns darstellen, 225 spezifische Offenheit und Autonomiebedürfnis in Hinsicht auf eigene Zukunftsentwürfe, zugleich im Wissen um das eigene Geworden-Sein 226 Das Gedicht ist „Augenblick von Freiheit“ (Domin); ist in Differenz zur „gesprochenen“ (kommunikationsfähigen) eine „sprechende Sprache“ (Merleau-Ponty). 227 Oevermann 2001: 3
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6 Die Entstehung des Neuen durch Lyrikrezeption – Strukturgeneralisierung
wobei die verschiedenen Ebenen zwar differenziert werden können, in der Realität einander aber immer durchdringen: Auf der reflexiv-kognitiven Ebene: Die Eigengesetzlichkeit lyrischer Sprache erschließt sich: Auf der Basis der konkreten Praxis der Lyrikrezeption im Unterricht eröffnet sich nun, auf der Schwelle der Adoleszenz, ein individueller Zugang zum Bildgehalt, zum „Sinn“-Verstehen eines Gedichtes, zunächst auf einer noch präreflexiven Stufe. Heranwachsende beginnen, das alltägliche, kommunikationsfähige Sprechen vom „inneren“ Sprechen228 zu differenzieren. Sie bemerken, dass mit der äußeren eine innere Realität einhergeht, die mehr und mehr Bedeutung gewinnt, die sich in der Sprache des Alltags aber nicht immer adäquat ausdrücken lässt. Damit hängt ein Deutungsmusterzuwachs zusammen: Die „Unvollendbarkeit“ eines dichterischen Bildes eröffnet einen Raum, in dem Heranwachsende eine noch „unbeleuchtete Seite“ (Domin) ihres Selbst verorten können. Das Verstehen von Lyrik, die etwas „erzählt“, erweitert sich und öffnet sich für fiktive Inhalte, für das Befremdliche und Unausgedeutete. Lyrikrezeption evoziert Akte der Selbstreflexion. Ein bestimmtes Gedicht wird zum „anderen“ Ausdruck des Selbst. Sein Sinngehalt wird zum Modell eines bisher Unsagbaren, das Gedicht zum sprachlichen Vor-Bild, durch das eigene, bisher ungehobene Erfahrungen – gleich ob positiv oder negativ – angemessen ausgedrückt werden können. Selbsterkenntnis wird möglich im Wort des Anderen (Spiegel-Erfahrung) ebenso wie durch eigene lyrische Schöpfungen im anderen Wort. Die Differenzierungsfähigkeit wächst: Schüler beginnen, auch im Zusammenhang mit Lyrikunterricht (Text-)Lernen und Sinn-Verstehen zu differenzieren, eigene Aneignungsmodi mit denen jüngerer Schüler zu vergleichen und Prozesse des Lernens von denen des Sich-Bildens zu unterscheiden. Mit dem Ausbalancieren von Innen und Außen, dem Regulieren von Nähe und Distanz hängt eine Sensibilität für Passungen zusammen. Der Blick richtet sich vergleichend von der eigenen Situation und Befindlichkeit auf die des lyrischen Ich. Die Abgrenzungsbewegung nach Außen, eine größer werdende Distanz und wachsendes Autonomiebedürfnis ermöglichen den Heranwachsenden, auch die Aneignungsformen zu reflektieren. Die gemeinsame, rituell gebundene Gedichtrezitation wird in Frage gestellt, als unpassend erkannt und ggf. verworfen. Die Kohärenz von Sinngehalt und Rezitationsform als Voraussetzung einer authentischen performativen Leistung wird empfunden. 228 Wygotski 1964
6.5 Zusammenfassung
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Die Problematik einer Amalgamierung von künstlerischer und pädagogischer Absicht wird durchschaut, Zeugnissprüche auf ihre inhaltliche Relevanz für den eigenen Persönlichkeitsentwurf hin befragt und entsprechend integriert, ironisiert oder abgewehrt. Pädagogische „Abschattung“ birgt so das Risiko, dass Lyrik generell zur Abgrenzungssymbolik gerät. Eine weitere Folge wachsender Differenzierungsfähigkeit ist das Bewusstwerden des eigenen Gewordenseins. Heranwachsende sind nun in der Lage, sich der Krisenhaftigkeit und zugleich des Vorübergehenden einer konkreten persönlichen Situation als einer „Phase“ bewusst zu werden. In Bildgehalt und Stimmung eines Gedichtes wird die Flüchtigkeit oder Wandelbarkeit des Gewordenseins erkannt und in eine offene Zukunft hinein weitergedacht. Aus diesem Bewusstwerden des eigenen Gewordenseins rührt ein Bedürfnis nach Generativität. Durch den Umgang mit Lyrik im Unterricht werden Anregungspotentiale für den eigenen Bildungsprozess erkannt, die Bedeutung von Gedichten generalisiert mit dem Wunsch, sie an die folgende Generation weiterzugeben. Beginn einer ästhetischen Urteilsbildung: Basierend auf einem Gefühl für die Schönheit der lyrischen Sprache im Sinne einer Stimmigkeit von Form und Inhalt werden eigenständige, erste Kriterien zur Bestimmung eines gelungenen Gedichtes gewonnen, ohne dass Kategorien lyrischer Begrifflichkeiten herangezogen werden müssten.
Auf der psychischen Ebene: Ansprechbarkeit und Spontanzugang: Heranwachsende werden für die fiktionale Seite, den je individuell zu hebenden Sinn eines sprachlichen Ausdrucks ansprechbar. Sie entdecken in der suggestiven Ausdruckskraft eines Gedichtes Qualitäten und Zusammenhänge, von denen sie emotional und in Hinsicht auf ihren persönlichen Einzigartigkeitsentwurf existenziell berührt und „angesprochen“ werden; durch diese Erfahrung können sie sich oder etwas von sich „bemerkbar machen“. 229 Gedichte können zum Identifikationsobjekt werden: Durch die Wahrnehmung der persönlichen Binnenwelt eines Dichters, die sich in seinem Werk offenbart, wird die eigene Persönlichkeit deutlicher erfahrbar. Der Heranwachsende kann sich mit der des Dichters identifizieren oder sie als different erleben und eine Identifikation verwehren.
229 Hanns-Josef Ortheil beschreibt diesen Vorgang am Beispiel des Klavierspielens. (Ortheil 2009/6: 76)
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Um-Deutung: Es kann jedoch auch im Sinne eines „nicht-automatischen Verstehens“230 eine Art „Pfropfung“ (Derrida) vollzogen werden, indem das Fremde dem Eigenen assimiliert wird. Der Originaltext eines Gedichtes wird entsprechend der persönlichen Binnenwelt umkonstruiert, die „ästhetische Krise“ vermieden. Reduktion von Ungewissheit: Lyrik wird Objekt der Selbst-Verortung im unsicher gewordenen Verhältnis von Innen und Außen (Ungewissheit, Fremdheit, im „Zwischen-Anderen“). Ein Gedicht kann so die Funktion haben, einer krisenhaften Situation, eigenen Gefühls- und Stimmungsschwankungen, ungehobenen Erfahrungen eine Form zu geben, quasi „auf die Sache einen Reim“ zu machen, der Welt- und Selbst-Verhältnis begreifbar machen und damit Ungewissheit verringern kann. In diesem Sinne kann Lyrikrezeption eine „quasi-therapeutische“ Wirkung entfalten.231 Die Fähigkeit, die Perspektive des lyrischen Ich, des Fremden, Anderen zu übernehmen, wird wahrnehmbar, wenn z. B. Heranwachsende in einen Dialog treten mit dem lyrischen Ich, wenn sie sich in seine Problematik einfühlen können und die Situation des Anderen auf die eigene transformieren. Wachsende Fremd-Empathie bildet die Grundlage der Selbstempathie. Mit dem Feststellen einer Konkordanz der dichterischen mit der eigenen Aussage reduziert sich das für die Adoleszenz konstitutive Gefühl struktureller Einsamkeit. Der Dichter wird zum Alter Ego. Die kreative Ausdrucksfähigkeit, die sich in Form eines selbst verfassten Gedichtes manifestiert, wird zur Ressource des Subjekts in der Bewältigung von Ablösungskrisen; das Gedichtete ist Symbol kreativer SelbstObjektivierung. Eine neue Qualität der Selbst-Gewissheit emergiert (das geheim-verborgene Kind im Selbst).
Auf der Handlungsebene: Gedichtrezeption im Vollzug des Rezitierens wird zu einer körperbasierten ästhetischen Erfahrung, im Falle von Identifikation mit dem Sinngehalt des Werkes kann sie zu einer deiktischen Selbstpräsentation werden. Widerständige Erfahrung oder Distanzierung können auf der Ebene der Körpersprache non-verbal ausagiert werden.
230 Ich beziehe mich hier auf Krieger 2004 und seinem Ansatz der „ästhetischen Verschränkung“. Im Anschluss an Adornos Rede vom Prozesscharakter der Kunstwerke (Adorno 1970/3: 262264) und an Christoph Menke postuliert er eine spezifische Vollzugsweise der Praxis des Kunst Rezipierens und spricht – allerdings hier im Zusammenhang mit Werken der bildenden Kunst – von „ästhetischem Verstehen“. Vgl. Krieger 2004: 621ff 231 Diese „quasi-therapeutische Wirkung“ gültiger Kunstwerke werde erzielt, „indem sie als vorgegebene Symbolorganisation eine stellvertretende Deutung evozieren.“ Oevermann 2001: 15
6.5 Zusammenfassung
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Eigene lyrische Schöpfungen markieren zum einen eine Selbstdistanzierung; zum anderen ist die „Herausgabe“ an die Öffentlichkeit (Rezitieren vor der Klasse bzw. der Interviewerin) das Resultat einer Ablösungsbewegung nach außen und Akt der Selbst-Bezeugung. Der rituale Vollzug (z. B. einer chorischen Rezitation) in der Klasse kann dem Wunsch nach Vergemeinschaftung geschuldet sein. In diesem Sinne wird Gedichte-Sprechen zum stabilisierenden Akt, das Sich-Halten im Ritual ein Signum der Treue zu den Mitakteuren.
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6 Die Entstehung des Neuen durch Lyrikrezeption – Strukturgeneralisierung
6.6 Schema der Ergebnisse der Kontrastierung Fall 1
Fall 2
Fall 3
Fall 4
Individuierung/ Bildungsprozesse
Selbstbezeugungsfigur
Selbstfindungsfigur
Selbstbehauptungsfigur
Selbststabilisierungsfigur
Zugang zu Lyrik
offen
offen
abgeschattet
selektiv
Identifikation mit Lyrik
dezidiert
uneingeschränkt
wird abgewehrt
bedingt, assimilierend
Identifikation mit Zeugnisspruch
reflexiv/ vergleichend Es ist wie ich!
integrativ Ich bin es!
desintegrativ Es ist nicht ich!
nicht nachweisbar
Innen-AußenVerhältnis von Rezipient u. Lyrik
Neues emergiert aus dem Balanceakt zwischen Innen und Außen
Innen und Außen fallen in eins
Antinomie von Selbst- und Fremdbild, Innen und Außen
Aneignungsform/ Rezeptionsmodus
kreativ transformierend
aktiv reproduzierend
Anforderung neutralisierend, routinehaft
kreativinstrumentalisierend
Verhältnis von Rezipient und ritueller Lernpraxis
aktiv gestaltend
mimetisch/ deiktisch
unbeteiligt teilnehmend
assimilierend
Interpretation lyrischer Inhalte und Formen
transformierend, reflektierend
auf Selbst bezogen, Deutungsmuster übernehmend
Sinn aberkennend, realitätsbezogen
Sinn gebend, Scheitern reproduzierend
Bedeutung
Lyrik erhält Eigenwert und wird zur kreativen Ressource
Lyrik wird Mittel zur Selbstreflexion, gewinnt Bedeutung und soll tradiert werden
Lyrik wird Symbol der Abgrenzung und ist bedeutungslos
Lyrik wird Mittel zu Selbstreflexion und Krisenbewältigung
Widerständigkeit
bedingt
nicht nachweisbar
hoch
schwach
Basale Habitusformation
strukturell optimistisch, Krise riskierend
wurde nicht bestimmt
wurde nicht bestimmt
strukturell pessimistisch, Krise vermeidend
Außen wird als eine das Innen stabilisierende Hülle geformt und umgedeutet
7 Thesen zu einer Theorie der Lyrikrezeption im schulischen Kontext /DVVWXQV /DVVWXQVVHLQ ZDVZLUVLQG 3RHWHQ /DVVWXQV XQVHUQ:RUWZLOOHQ XQVHUH*HVLQQXQJ *HEWXQVHUQ:RUWHQ QLFKW HXUHQ6LQQ /DVVWXQV LQXQVHUP=HLWQLFKWV WUDXULJRGHUVHOLJVHLQ LKUKDUWKHU]LJHQ 9HUWHLGLJHUGHU9HUQXQIW %&'
Die Analysen der vier Fälle haben nachgewiesen, wie der Umgang mit lyrischer Dichtung zum ästhetischen Anlass für Bildungsbewegungen werden kann, die vor allem in der frühen Adoleszenz mit Erfahrungen von Fremdheit, von Anderssein und Ungewissheiten einhergehen und insofern mit dem nie Ausgedeuteten in guten Gedichten korrespondieren. Natalía und Celia, Filip und Moritz haben dadurch Erfahrungen gemacht, die auf subtile Weise den Prozess ihrer Individuierung und Autonomiebildung vorangetrieben haben. Für Moritz war dieser Umgang ein wichtiger Schritt zu einer neuen Sicht auf traumatisierende Erfahrungen und sich selber. Filip konnte den Eigenwert lyrischer Dichtung für sich bisher nicht anerkennen. Für ihn war die Widerständigkeit gegenüber Gedichten ein Anlass zu Selbstbehauptung und Abgrenzung. Celia und Natalía haben durch eigene lyrische Etüden ein kreatives Potential des Selbstausdrucks gefunden; jene, um die latente Angst vor dem Scheitern zu überwinden und um sich selber kennen zu lernen; diese, um in einem Gedicht ihren augenblicklichen inneren Ort zwischen Anderen zu bestimmen und aussprechbar zu machen. An den spezifischen Rezeptionsformen und Deutungsmustern der vier Schüler lassen sich zugleich gemeinsame Gesetzmäßigkeiten ablesen, die in unmittelbarem Zusammenhang stehen mit adoleszenten Ablösungskrisen. Mit diesen Ergebnissen der Untersuchung kehre ich zu meiner Ausgangsfrage zurück und werde in Form von Thesen Gedanken formulieren, die mit Bezug auf
H. Handwerk, Die Bedeutung von Lyrik in Bildungsprozessen der frühen Adoleszenz, DOI 10.1007/978-3-531-92737-4_8, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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7 Thesen zu einer Theorie der Lyrikrezeption im schulischen Kontext
Lyrikrezeption im schulischen Kontext im Sinne einer Gegendrift232 gegen die „Verteidiger der Vernunft“ und als Anregung zum Weiterdenken gedacht sind für Lehrpersonen, die der sich verändernden Bewährungsdynamik ihrer Schülerinnen und Schüler in der Phase der frühen Adoleszenz Rechnung tragen, sie mit Hilfe der Bilde-Kraft lyrischer Sprache verstehen und begleiten wollen. Auf das gesamte Spektrum der konkreten Bedingungen, die die in den Fallstrukturen herausgearbeiteten Selbstbildungsprozesse ermöglicht haben, kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. These eins: Das Fremde begrüßen Sichtbar wird, dass der Dialog mit einem lyrischen Gebilde zu einer Welt- und Selbsterschließung werden kann, wenngleich in einer Sprache, die als eine metaphorische seit Aristoteles „fremdartig“ anmutet und irritiert.233 Dieses Fremdartige übt in der Adoleszenz einen anderen Reiz aus als in den ersten Schuljahren. Liegt er dort eher in fremdem Klang, Laut oder Rhythmus, ist es in der Adoleszenz der befremdende Sinn (Rose Ausländer sagt „Wortwille“), in dem ein Achtklässler abseits der gedeuteten Lebenswelt ebenso Neues wie ein ihm selber Gleiches entdecken und nach seiner Bedeutung für sich befragen kann. Diesem Fremden oder irritierend Nahen begegnen die Heranwachsenden jedoch auch in unseren Beispielen selten aus eigenem Antrieb, sondern im Rahmen der Institution Schule, die ein mußevolles und freiwilliges Verweilen in der Sache durch verschiedene Verpflichtungen und Zwänge limitiert und die Initiation in Sinndeutung und Schönheit eines Gedichtes von vornherein zu einer Pflichtübung macht.234 Der Unterrichtsrahmen der Freien Waldorfschulen erlaubt ein langsames und ganzheitliches Sich-Einstimmen von der ersten Klasse an, eine mimetischrituelle Aneignungsform, die erst allmählich in eine produktiv-reflexive Auseinandersetzung übergeht. Dieses entdeckende Verstehen konfrontiert die Lehrer mit dem Anspruch, den richtigen Augenblick zu finden, wann eine nächste Stufe lyrischer Annäherung als Quelle einer weiteren Strukturtransformation für die Schüler anzustreben ist. Die methodische Freiheit, die für eine Anbahnung ästhetischer Erfahrung unabdingbar ist, ist an dieser Schulform mit Bezug auf Lyrikdidaktik kaum beschränkt. Sie entbindet aber nicht davon, Gewohntes zu reflektieren und zu prüfen, ob die Schüler in der Praxis eingeführt werden in eine immer reicher und vielfältiger werdende Sprachlandschaft, die sie sich an der 232 Ich beziehe mich hier auf Horst Rumpf und seinen Beitrag „Abschied vom Stundenhalten“ in: Combe/Helsper 1996. Ihm verdanke ich wichtige Anregungen, die ich am 10.6.2006 von ihm in einem Interview erhielt und die meiner noch unausgegorenen Forschungs-Idee Kontur gaben. 233 Vgl. Aristoteles 1982: 71 234 Eine Schülerin brachte dies bei der Frage, wie sie sich Gedichte aneigne, auf die Formel: „Wenn man Gedichte auswendig lernt, dann is das wie son Vokabellernen, dann wird das wieder zu einer Aufgabe von der Schule her.“ (vgl. Interview mit einer Schülerin, Fw, Schule B)
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Hand des Künstlers bzw. des Lehrers selbst erschließen, ihr eigenen Sinn geben lernen, oder ob sie zu Repetitoren der Lehrerdeutung werden bzw. spätestens mit Beginn der Pubertät aussteigen. Eine entwicklungspsychologisch angemessene Form des Lyrikunterrichts müsste darum Wege suchen, das „Zeitnichts“ des traurig oder selig Seins, die spezifische Stimmung der Adoleszenz in Gedichten zur Sache zu machen und diese durch die beteiligten Akteure selbst zum Sprechen zu bringen. Um im Bild von Rose Ausländer zu bleiben, müsste die didaktische Grundregel eines solchen Lyrikunterrichts fordern, die Schüler sein zu lassen, was sie sind: „Poeten“, d. h. Schaffende an ihrer eigenen Identitätsbildung, denen ein maieutischer Umgang mit Gedichten hilft, im lyrischen Bild neue Bezüge zu Welt und Selbst zu entdecken.235 These zwei: Gedichte sprechen Gedichte sprechen heißt, sich in einem schöpferischen Raum zwischen Innen und Außen zu bewegen. Nichts entbindet den lebendigen Ausdruck eines Gedichtes mehr, als indem man es spricht. Im Lesen erschließt sich dem Rezipienten Bedeutung. Das zweite Gestaltungsprinzip von Lyrik, das musikalischrhythmische Moment, erschließt sich nur im Vollzug des Sprechens. In den ersten fünf, sechs Schuljahren haben die Schüler die Gemeinschaft stiftende Qualität der rituellen Rahmung und der gemeinsamen Rezitation erfahren. Es wurde kontinuierlich an der Hör- und Sprecherziehung gearbeitet, und durch die mimetische Praxis wurden viele Gedichte zum persönlichen Besitz.236 Auf der Schwelle zur Adoleszenz muss nun dem einzelnen Schüler Gelegenheit gegeben werden, sich selber im Wort des Anderen auszusprechen. Dies kann nur freiwillig und in einer Atmosphäre gegenseitiger Akzeptanz und Wertschätzung geschehen. In dieser Hinsicht ist die an Freien Waldorfschulen lange geübte Fähigkeit des Zuhörenkönnens zu bedenken. Die chorische Rezitation schafft zwar ein gemeinschaftliches Selbstverständnis, das für die Identitätsbildung unverzichtbar ist. Im Alter von Achtklässlern, an der Schwelle zur strukturellen Einsamkeit des Subjekts und seiner wachsenden kognitiven und reflexiven Fähigkeiten, halte ich das tägliche chorische Rezitieren jedoch für kontraproduktiv und plädiere im Aspekt der Autonomiebildung für ein freies Spiel zwischen einem Sprechenden und den ihm Zuhörenden (der Klasse). Vierzehnjährige, die ein Gedicht durch die sprachliche Interpretation eines ihrer Mitakteure hören, können von der Sache eher persönlich angesprochen werden als von der scheinbaren Fülle des allgemein chorischen „Untergangs“. 235 Vgl. Garz 2000: 119-128 236 Dass dieser mit der Zeit vergessen wird, sagt nichts darüber aus, ob er nicht viel später wieder zum Vorschein kommen kann.
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These drei: Dignität suchen Die Kriterien eines guten Gedichtes sollen an dieser Stelle nicht einer Poetik, sondern Äußerungen von Schülern entnommen werden, die bisher in dieser Arbeit nicht zu Wort gekommen sind. Sie lassen sich drei Themenbereichen zuordnen: Das erste und vorrangig genannte Kriterium ist der emotionale Gehalt: Ein gutes Gedicht sei etwas, was „berührt“ (weibliche und männliche Lernende), sei „anziehend“ (m), „reizend“ (m); es sei etwas, was „net immer so brav is sondern auch was wilderes“ (w), etwas „positiv Mitreißendes“ (m) ist, was „einen schönen Ausdruck“ (w) habe, was „bisschen lustig“ (w+m) sei. Ein zweites Kriterium ist das Neue oder Befremdende in einem Gedicht: In guten Gedichten geschehe „was anderes…als das, was man erwartet“ (w); es beschreibe etwas, „was es eigentlich nicht gibt“ (m), „was bisschen unmöglich ist“ (m). Ein drittes Kriterium ist das reflexiv-kognitive Verstehen: Bei einem guten Gedicht könne man sagen, „es entspricht“ etwas, was „man unbedingt verstehen will und nicht verstehen kann“ (w). Demnach schätzen frühadoleszente Schüler an einem Gedicht vor allem die Möglichkeit, das eigene Gefühl, die eigene Befindlichkeit oder Situation ebenso wie das Absurde, Unerwartete in einem Ausdruck zu entdecken, in dessen Bild sie sich andere Seiten des Selbst oder der Welt erschließen und ihrem noch nicht gedeuteten, im positiven Sinne chaotischen Zukunftsentwurf einspeisen können. Mit Bezug auf geeignete Texte für einen inspirierenden Lyrikunterricht im achten Schuljahr stehen die oben zitierten Verse von Rose Ausländer beispielhaft, als Prototyp eines autonomen Gedichtes, an dem die Heranwachsenden Schönheit und Eigenwert eines lyrischen Gebildes für sich entdecken können, weil es sich den „Verteidigern der Vernunft“, dem allzu Deutlichen verweigert.237 Dabei ist entscheidend, wie die Lehrpersonen selber in den Jahren davor Interesse für Gedichte geweckt und mit den Schülern darüber gesprochen haben. Ihre Bezugnahmen und Fragen sind ein erster Kompass für die Schüler, wenn sie später auf der Suche nach einem geeigneten Gedicht sind. Dass Dreizehn- und Vierzehnjährige nicht grundsätzlich damit überfordert sind, sich eigenständig auf die Suche zu machen nach Texten, die ihnen persönlich etwas zu sagen haben, ist in unseren Fällen deutlich geworden. Der (historische) Lyrikkanon ist hierfür kein schlechter Wegweiser. These vier: Das Ritual transformieren Rituale sind Stabilisatoren der Unterrichts- und Tagesgestaltung in sämtlichen Waldorfeinrichtungen. Eine künstlerische Übungssequenz ist jedoch nur gelungen, wenn sie bestehende Strukturen nicht nur weiterträgt, sondern die Inszenie237 Vgl. Adorno 1977/3: 438
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rung derselben Inhalte jeden Tag leicht variiert, so dass die Schüler auf möglichst verschiedenen Wegen in die Welt eines Gedichtes hineinwachsen. Die innovative Kraft dieses in mimetischer Praxis erworbenen rituellen Wissens238 wurde im erziehungswissenschaftlichen Diskurs der letzten Jahre wieder stärker in den Blick genommen. Mit Bezug auf Freie Waldorfschulen haben die vorliegenden Analysen jedoch gezeigt, dass Schüler spätestens mit der sechsten Klasse die Gemeinschaft bildenden und damit bindenden Rituale als Beschränkung ihres Autonomiestrebens erfahren. Fast alle Schüler haben sich im Rahmen des Interviews zu diesem Thema entsprechend geäußert.239 Der Interessenshorizont verschiebt sich mit der Pubertät, neue Außenkontakte werden gesucht. Die Schule rückt aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit in die Peripherie. Spätestens mit Beginn des siebten Schuljahres muss daher auch der Lyrikunterricht zu neuen Formen des gemeinsamen Aneignens kommen, das Ritual darf die kreativen Potentiale der Schüler nicht unterbieten. Das chorische Rezitieren von Gedichten sollte in der frühen Adoleszenz zur Ausnahme werden. An seiner Stelle sollten die Schüler anspruchsvollere Aufgaben bekommen, z. B. sich Gedichte selber auszusuchen, sie entsprechend ihrer eigenen Sinngebung zu rezitieren und mit den beteiligten Akteuren zu erarbeiten. In der Unterrichtspraxis der Freien Waldorfschulen wird meiner Erfahrung nach das, was ich die innere Rahmung des Rituals nennen möchte, bisher zu wenig reflektiert. Ich beziehe mich hier nochmals auf die von Lösener geschilderte demütigende Erfahrung des Hanno Buddenbrook240, die in ähnlicher oder abgeschwächter Form auch von Waldorfschülern durchlitten werden kann. Innere Rahmung bedeutet mehr als der Ton einer Glocke zu Beginn oder eine brennende Kerze während des Rituals, sondern eine mit den Schülern vereinbarte Sozialgestalt, die vor allem im Hinblick auf Einzelrezitationen relevant ist. Die Äußerungen der vier Lehrpersonen, die der Gestaltung des Lyrikunterrichts viel Phantasie und Empathie widmen, zeigen interessante Ansätze dazu, die Schüler in die Gestaltung der Rituale einzubeziehen, sie ihren Fragen und Fähigkeiten anzupassen. These fünf: Gedichte nicht mit pädagogischer Anmutung abschatten Der schönste Zeugnisspruch ist für einen Schüler eine Fremdzuschreibung, die nicht behutsam genug ausgesprochen werden kann. In jüngeren Klassenstufen ist 238 Vgl. Wulf 2004: 12 239 Ein Achtklässler sagte, in der sechsten Klasse „da is man noch grade so Kind und man kommt schon in die Pubertät (,) da is das nich mehr so passend … man interessiert sich auch einfach irgendwie für andere Sachen (,) nich mehr so viel für die Schule (,) also (,) für die meisten (,) Kinder (,) ist das (,) uninteressant (,) legt man keinen Wert mehr drauf … also auf so … Rituale oder so so Gedichte (,) oder irgendwelche Sachen die man halt (,) jeden Tag macht so Gewohnheiten oder so.“ (Mm, Schule B) 240 Lösener 2007: 27-28
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dies den Schülern nicht bewusst, es kann jedoch ein allzu ‚treffendes’ Bild auch in der zweiten Klasse schon das unbestimmte Gefühl hervorrufen, von seinem Lehrer nicht erkannt oder anders gewollt zu werden.241 Wie schmal der Grat ist zwischen einem Bild, das trifft und darum abgewehrt wird, und einem Bild, in dem ein Schüler sich finden kann, zeigen die Beispiele von Filip und Moritz. Generell gilt das Prinzip des retrospektiven Verstehens auch hier und zeigt, dass ein späteres Verstehen früh gefühlter Verletzungen deren Spuren eher vertiefen als verwischen. Die Kompatibilität und zugleich die Offenheit von Textentwurf und Skizze der Person im verdichteten Bild ist also eines der wichtigsten Kriterien für das Schreiben von Zeugnissprüchen. Deren Berechtigung sehe ich noch immer im maieutischen Umgang des Lehrers mit der Person eines Schülers, wenn er ein Bild für diesen selbst entwirft. In diesem Sinne sind Zeugnissprüche nicht Ausgeburten lyrischer Selbstverwirklichung, sondern Ausdruck einer intensiven pädagogischen Phantasie und Erkenntnisbemühung, die in den ersten vier, fünf Schuljahren als individuelle Sprachbildung sinnvoll ist und die selbstwirksame Eigenaktivität der Schüler unterstützt. In der Zeit der frühen Adoleszenz, in der sie das Verhältnis von Innen und Außen, von Nähe und Distanz noch ausbalancieren müssen, empfinden Schüler die Nähe der Erwachsenen jedoch häufig als Übergriff und ziehen sich zurück. Der Einwand, es könne sich gerade am Widerstand etwas bilden, wird hier von der rituellen Rahmung des sprachlichen Vollzugs getilgt. Denn die Gefahr, dass Schüler (selbst bei Unterstellung von Unabsichtlichkeit) sich bloßgestellt, in ihrer Einzigartigkeit nicht oder falsch gesehen fühlen, ist zu groß. Positive Beispiele wie das von Moritz sind zu selten, als dass die Vergabe von Zeugnissprüchen über das sechste Schuljahr hinaus m. E. pädagogisch noch zu rechtfertigen wäre. Das Heranziehen von Kunstgedichten macht die Entscheidung noch schwieriger, da die Schüler in diesem Fall darin nicht dem Fremden, sondern sich selber zu begegnen beauftragt sind und der Zugang zur lyrischen Dichtung dadurch abgeschattet werden kann. In dieser Hinsicht ist das Überdenken der Tradition wie auch der Bezeichnung „Zeugnisspruch“ ab dem sechsten Schuljahr dringend empfohlen.
241 Eine Achtklässlerin drückte dieses allmähliche Bewusstwerden für den pädagogischen Sinn von Zeugnissprüchen so aus: „in der zweiten Klasse das is man natürlich erst Mal superhappy weil man überhaupt’n Zeugnisspruch bekommen hat… wenn die (Lehrerin; HH) das aussucht dann eigentlich weiß sie ja am wenigsten von einem … Frau B meint immer wenn man dann so’n bisschen’n aufgeregter Mensch is oder durcheinander und dann hat man’n ruhigen Spruch oder so ... aber grad dann geht mir der besonders auf die Nerven…ich mag das halt nich wenn man sagt ich muss ruhiger werden...oder ich muss anders wie werden.“ (Fw, Schule B)
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Am Ende dieser Arbeit stellen sich mir neue Fragen. Obwohl die Bedeutung der Lyrik für Individuation und Bildungsprozesse in der frühen Adoleszenz anhand der vier Fallstrukturen intersubjektiv nachprüfbar aufgezeigt werden konnte, wird damit nur ein erster und stark kontrastierender Umriss abgesteckt, der durch weitere Untersuchungen differenziert und ergänzt werden müsste. Mich interessiert vor allem, welche Bedeutung lyrische Gebilde für die von mir befragten Schülerinnen und Schüler am Ende ihrer Schul- oder Ausbildungszeit haben werden. Haben Gedichte ihren Eigenwert behalten? Sind sie der Maieutik des Berufs zum Opfer gefallen? Wurde Lyrik später entdeckt oder ganz verworfen? Welche Erfahrung haben (Waldorf)-Lehrerinnen und -Lehrer mit dem Wagnis ‚Gedichte sprechen’ in der konkreten Unterrichtspraxis gemacht? Wie können sie sich in Studium und Weiterbildung darauf vorbereiten? Aus diesen Fragen ergeben sich meines Erachtens Folgestudien nach vier Richtungen hin: 1.
2.
3.
Studien mit retrospektivem Fokus. Vorgelegt wurde eine Untersuchung von Momentaufnahmen aus einer Lebensphase, die wie kaum eine andere ein Möglichkeitsraum zur Entdeckung eines Neuen ist. Es wäre interessant, die Erhebung auf der vorliegenden Datenbasis in einigen Jahren zu wiederholen und möglichst dieselben Probanden zu befragen, inwieweit sich ihre Erfahrungen modifiziert oder verändert haben und was sich für sie aus der Retrospektive ergibt. Fokus Unterrichtspraxis. In Hinsicht auf perzeptive, entdeckende Formen der Gedichtrezeption, performative Praktiken und Rituale wäre der Unterricht selbst zu untersuchen. Interessant wäre zu sehen, wie der Umgang mit Gedichten an Freien Waldorfschulen in der Praxis aussieht und unter welchen Bedingungen er neue Qualitäten der Selbst- und Weltbezüge evozieren kann. Denkbar wäre auch eine längerfristig angelegte Vergleichsstudie des Lyrikunterrichts in anderen Schulformen, etwa von der fünften bis zur zehnten Klasse. Fokus Lehrerbildung. Eine zentrale Stellung nimmt hier das Verhältnis von erziehungswissenschaftlicher Forschung und institutionell gebundener Erziehungspraxis ein in Hinsicht auf die Frage der Lehrerbildung. Fließen hier Im-
H. Handwerk, Die Bedeutung von Lyrik in Bildungsprozessen der frühen Adoleszenz, DOI 10.1007/978-3-531-92737-4_9, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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pulse aus neueren Arbeiten der Unterrichtsforschung (vgl. dazu Gruschka 2005 und 2008), der biographischen Erziehungswissenschaft und des Professionalisierungskonzepts ein (Garz 2000, Oevermann 2005, Helsper 2008)? Fokus Elternperspektive. Die unterschiedlichen sozialen und familialen Milieus der Probanden blieben in der vorliegenden Arbeit unberücksichtigt. Mich interessiert z. B., welche Erfahrungen die Eltern von Waldorfschülern damit machen, dass ihre Kinder in den ersten acht Schuljahren Zeugnissprüche bekommen, die sie aufnehmen und ein Jahr lang begleiten sollen. Inwieweit fühlen Eltern ihr eigenes Erziehungskonzept durch diese Zuschreibung gestützt oder beeinträchtigt und welches Zusammenspiel ergibt sich aus der Triade Elternhaus-Kind/ Schüler-Institution.
Was die vorliegende Arbeit betrifft, vertraue ich auf die Produktivität eines jeden Anfangs.
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Wagner-Willi, Monika „Rituelle Interaktionsmuster und Prozesse des Erfahrungslernens im Mathematikunterricht“, in: Wulf et al (Hrsg.), „Lernkulturen im Umbruch“, Wiesbaden 2007 Waldenfels, Bernhard „Topographie des Fremden – Studien zur Phänomenologie des Fremden I“, Frankfurt/Main 1997 Weigel, Sigrid „Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte“, München 2004 Dies. „Genea-Logik – Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften“, München 2006 Weinrich, Harald „Textgrammatik der deutschen Sprache“, Hildesheim 2005/3 Weisz, Peter, „Beziehungserfahrung und Bildungstheorie: die klassische Bildungstheorie im Lichte der Briefe Caroline und Wilhelm von Humboldts“, Frankfurt/Main 2005 Wernet, Andreas „Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik“, Opladen 2000 Winnicott, D.W. „Reifungsprozesse und fördernde Umwelt“, München 1974 Woll, Helmut „Ökonomisches Wissen zwischen Bildungstheorie und Pragmatismus“, Marburg 2006 Wulf, Chr. et al. (Hrsg.) „Lernkulturen im Umbruch”, Wiesbaden 2007 Ders. „Der andere Unterricht: Kunst. Mimesis, Poiesis und Alterität als Merkmale performativer Lernkultur“, in: Wulf et al, Wiesbaden 2007 Ders. „Die innovative Kraft von Ritualen in der Erziehung“, in: Wulf, Ch./Zirfas, J. (Hrsg.), Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 7. Jg., Beiheft 2, Wiesbaden 2004 Ders./Zirfas, J. „Innovation und Ritual“, Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 7. Jg. Beiheft 2/2004, Wiesbaden 2004 Ders. „Wörterbuch der Erziehung“, München und Zürich 1974 Wygotski, L. S. „Denken und Sprechen“, Akademie-Verlag Berlin 1964, 5. Auflage der Lizenzausgabe, Fischer-Verlag 1974 Zander, Helmut „Anthroposophie in Deutschland“, Band I und II, Göttingen 2007 Zäch, Alfred „C. F. Meyer – Dichtkunst als Befreiung aus Lebenshemmnissen”, Frauenfeld 1973 Zech, M. Michael „Schwanger mit dem Ich – Pädagogik im Übergang von der Kindheit zur Jugend“, in: Erziehungskunst, 72. Jg., Heft 05, Stuttgart 2008 Zehentreiter, Ferdinand „Systematische Einführung. Die Autonomie der Kultur in Ulrich Oevermanns Modell einer Erfahrungswissenschaft der sinnstrukturierten Welt“, Weilerswist 2001 Ders. (Hrsg.) „Materialität des Geistes – Zur Sache Kultur – im Diskurs mit Ulrich Oevermann“, Weilerswist 2001 Zichy, Michael „Ich im Spiegel – Subjektivität bei Jaques Lacan und Jaques Derrida“, München 2006 Zinnecker, Jürgen „Jugend als Bildungsmoratorium“, in: Melzer, Wolfgang u. a. (Hrsg.): „Osteuropäische Jugend im Wandel“, Weinheim/München 1991 Ders. „Pädagogische Ethnographie“, in: Behnken, Imbke (Hrsg.), „Kinderleben im Blick von Grundschulpädagogik und Kindheitsforschung“, Weinheim/München 1995 Zirfas, Jörg „Kontemplation – Spiel – Phantasie . Ästhetische Erfahrungen in bildungstheoretischer Perspektive“, in: Mattenklott, G./Rora, C., Weinheim/München 2004
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10.1 Transkript Interview mit Natalía FWS B Dienstag, 23.1.07 Das Gespräch findet vormittags im Elternsprechzimmer der Schule statt. N hat wieder ihr Buch mit den eigenen Gedichten mitgebracht. Ich selber komme direkt vom Unterrichten einer 11. Klasse in die FWS B angereist. I: ja. ich nehm’s wie immer alles auf (2) stört dich das (’) N: ach nö (1) is schon okay (lacht) I: ihr seid’s ja jetzt schon gewöhnt ne (2) ja also über Zeugnissprüche hatten wir uns ja schon unterhalten (N: mm-ja!) und jetzt intressiert mich einfach em wie sieht es aus mit der Gedichtarbeit jetzt .. und da würd ich gern wissen .. was Sie erinnern aus den Jahren davor.. gibt’s da Gedichte die Ihnen besonders gut gefallen ham die ihr gesprochen habt zusammen im Rhythmischen Teil N: in der Schule oder zu Hause I: in der Schule . und dann weiter . wie hat sie das jetzt mit euch besprochen und nach welchen Kriterien habt ihr die ausgesucht .. aber jetzt mal zunächst ganz allgemein wie .. was erinnern Sie aus der Vergangenheit (’) N: (3) ja also wir ham eigentlich schon immer viel gesprochen so Gedichte . viele . verschiedene ganz verschiedene . eigentlich . also jetzt in den höheren Klassen kommen halt auch weist sie oft oftmals darauf hin dass wir em em schauen sollen auf den tieferen Sinn das sind dann halt Gedichte die . vielleicht von was handeln aber eigentlich gar nicht das Handeln im Vordergrund steht sondern . dass es’n tieferen Sinn hat . und das hat sich halt schon verändert in der ersten Klasse spricht man andere Gedichte als (2) oben und das hat man auch schon gemerkt weil mein Bruder ist jetzt in der dritten (schluckt) und meine Schwester in der sechsten Klasse und das ist halt schon em lustig weil die ham genau machen genau das was ich auch gemacht hab und .. und das is .. ja man merkt schon dass sie halt anders die Gedichte verstehn zum Beispiel einfach .. sie können’s viel leichter auswendig lernen verstehn aber auch manchmal nich genau um was es da geht (hmhm) ... ja . und sonst also .. wir ham das ausgewählt eigentlich . nach gar keinen Kriterien wir ham einfach sie hat einfach ganz viele Gedichte em zusammen gesucht und auch ab- alle schön abgeschrieben (hmhm) . und ab und zu mal welche vorgelesen und wenn’s eim angesprochen oder einem gefallen hat dann konnt man sich melden und das . dann nehmen I: hmhm . das heißt ihr habt sie erst mal gehört von ihr (hmhm) und dann spontan euch entschlossen aha das könnt’s sein (ja!) hmhm . schön . und jetzt dieses „Die Stadt“ ... em (Theodor Storm) ja .. können Sie mir’n bisschen sagen . warum sie das gewählt haben (?) was hat Sie denn angesprochen daran . vielleicht lesen Sie’s mir grad mal vor dann können wir mal vergleichen . manchmal ist der Druck auch anders (also öhm) . ein Wörtchen vielleicht anders . darauf kommt’s ja auch an. N: (1) „Am grauen Strand . am grauen Meer . und seitab lieg- liegt die Stadt . der Nebel drückt die Dächer schwer und durch die Stille braust das Meer . eintönig um die Stadt .. Es rauscht kein Wald . es schlägt im Mai kein Vogel ohne Unterlass .. die Wandergans mit hartem Schrei . nur fliegt in Herbstesnacht vorbei . am Strande weht das Gras .. doch hängt mein ganzes Herz an dir . du graue Stadt am Meer .. der Jugend Zauber für und für . ruht lächelnd doch auf dir . auf dir . du graue Stadt
H. Handwerk, Die Bedeutung von Lyrik in Bildungsprozessen der frühen Adoleszenz, DOI 10.1007/978-3-531-92737-4, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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am Meer.“ (hmhm) .. em . keine Ahnung es hat mich irgendwie .. angesprochen weil . keine Ahnung . weil man manchmal (schöpft Atem) in so’ner Phase is wo man . was anderes aufgibt und woanders hingeht .. wo man sich irgendwie eigentlich auch . gar nich so gern weg will (die Stimme schwankt ein wenig) von manchen Sachen ... es hat mir einfach . gefallen . es is zwar’n bisschen traurig aber .. am Ende eigentlich . obwohl die Stadt nich so schön is (hmhm) oder so .. hängt man eigentlich schon dran und an den Freunden und (hmhm) .. es passt halt grade ganz gut zu meiner Situation I: wie ist die (’) N: (2) jaa also .. das sollt ich eigentlich nich unbedingt sagen also aber ... em n bisschen im Aufbruch sind wir (hmhm) I: (1) so auch mit em der Situation „Klassenlehrerin“ . und . „Oberstufe“ . das ist ja auch’n Wechsel N: (2) jaa (etwas zögernd) .. auch .. e- i- ei- in allem eigentlich . auch zu Hause und .. (schöpft Atem) insgesamt I: hmhm .. ja nee es war nich neugierig gemeint
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N: ja nee (lächelt hörbar) . ich weiß (2) I: es könnte ja sein dass sich das gleich sofort auf die Schule bezogen hat N: hat sich eigentlich auch auf die Schule bezogen also .. es is .. es kommt auf (1 W ?) Schulwechsel und so I: hmhm (,) und dann verändern sich Freundschaften
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N: jaa wenn man halt . weg . muss . von hier (hmhm) is-s dann halt schon ne Veränderung (hmhm) . also es steht halt . noch nich ganz fest deswegen solln wir nich so viel drüber reden(hmhm) weil wenn man vorher schon sagt ja wir ziehn um (hmhm) dann ist das anders als wenn man . s jetz schon ganz genau weiß (hmhm) und .. für mich is es halt schwer (hmhm) weil ich fand’s hier immer schon ganz schön und es ist auch für mich nich so einfach immer Freunde zu finden . es hat jetzt eigentlich acht Jahre gedauert dass ich drei gute Freunde hatte (hmhm) vorher hatt ich recht oft em (schluckt) wurd ich von den andern so gemieden als wär ich irgendwie’n bisschen giftig . und das sagen sie mir dann auch . und . das war für mich teilweise auch echt schlimm . also ich bin fünf Jahre lang mit Jungs die in der Nähe wohnen (hmhm) mit nach Hause gefahrn und .. em .. m-mit denen hatt ich nich so’n besonders gutes Verhältnis .. die ham immer .. ja die ham mich teilweise so richtig gemobbt dass ich abends immer nach Hause kam und immer geweint hab und (hmhm) .. ich war halt schon ziemlich traurig darüber (hmhm) . weil ich verstand eigentlich auch gar nich warum das so war (lächelnd) (hmhm) .. und (schluckt) ja und ich hab halt Angst wenn ich dann immer weg muss . weil ich mich grad eingewöhnt hab einigermaßen und dann . dann dauert es wieder so lang (lachend-ausatmend) (hmhm) das is irgendwie’n bisschen doof wenn’s so lang dauert wenn man einfach rausgerissen wird und (1) irgendwie . ja . und deswegen hat mir das irgendwie voll gut gefallen
69 I: dies Gedicht (ja!) (3) das Graue und (2) trotzdem . dass man’s lieb hat (,) 70 NL: ja . also so grau ist es hier eigentlich ja gar nich (lacht) 71 I: hmhm . ja . heute nicht .. hmhm ... hilft Ihnen das (’) 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82
N: (5) das kann ich jetzt eigentlich noch gar nich so sagen .. also . ja also mir hilft es schon .. Gedichte helfen schon meistens .. weil wenn man damit .. wenn man .. das gewöhnt is mit Gedichten aufzuleben dann können die einem toll helfen aber wenn man damit einfach konfrontiert wird ohne dass man eigentlich genau weiß wie man damit umgehn soll (hmhm) . ich glaub das macht einen ganz schön irgendwie .. das verwirrt einen ziemlich . weil . manche Gedichte sind auch . man braucht ne bestimmte Reife um sie zu verstehn wenn man nie mit Gedichten gearbeitet hat . dann merkt man richtig hä? was soll ich jetzt eigentlich mit den Zeilen die sind ja total sinnlos (hmhm) .. aber . wenn man also wir ham zu Hause immer Gedichte gesprochen und (hmhm) .. und wir beten auch vor’m Essen und lauter Sachen (?) einfach abends . ham wir auch gebetet ganz lange Gedichte einfach aneinander gereiht und (,) das war halt bei uns einfach normal dann (?) find ich einfach Gedichte keine Ahnung (hmhm) einfach gehörn so’n bisschen dazu
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I: hmhm (2) zum Leben(’) (ja.) .. und em .. hat’s jetzt . auch in den Jahren davor ich möchte noch mal 83 zurückkommen auf meine Frage . gibt es da eins was Ihnen grad in der Situation dass Sie sich da nich 84 85 so angenommen fühlten .. em geholfen hat? .. hab ich mich verständlich ausgedrückt (’) N: ja (.) (2) also meine Mutter hat mir mal einen Spruch ins Poesie-Album geschrieben (schöpft 86 Atem) . und den fand ich irgendwie sehr schön em . und mein Vater hat auch einen . so’n Leitspruch 87 (hmhm) der für für die Person . der einen durch’s Leben so trägt also mein Vater hat mir geschrieben 88 „Geht es aufwärts niemals stolz . geht es abwärts niemals feige . behalte . deinen Weg im Auge und 89 zeige . dass du bist aus edlem Holz“ (hmhm) .. irgendwie so .. ähnlich .. und .. der von meiner Mutter 90 .. das weiß ich gar nich mehr so genau (lacht) . em . das handelt von nem Licht . den man im Herzen 91 hat (hmhm) .. „Das Leben der Tod . o Herr sie sind dein . die Spanne dazwischen . das Leben ist 92 mein . und irr ich im Dunkeln und find nicht heraus . bei dir Herr ist Klarheit .. und Licht ist dein 93 Haus.“(hmhm) .. und so einfach so einige Sprüche die fand ich irgendwie total schön und die (2) nun 94 die ham mich einfach begleitet genau wie dies em „Mögen-“ em „Sind die Wolken traurig auf der 95 Erde Leid . hab trotzdem Sonne im Herzen ob’s stürmt oder schneit (hmhm) ob die Erde voll Wolken 96 der Himmel voll Leid höö anders rum (lacht) .. em keine Ahnung . manche Gedichte sind einfach 97 besser als andere (hmhm) . ich kann mich manchmal mit einem Gedicht überhaupt nich anfreunden 98 (,) weil die einfach für mich total . unverständ- verständlich vielleicht schon aber die . ich find die 99 einfach . ich weiß nich . wenn die Frau B. welche vorliest hat sie auch (?) . und die ham dann andern 100 101 total gut gefallen (hmhm) . und ich fand die einfach (hmhm) überhaupt nich gut 102 I: hmhm .. können Sie eins sagen .. was Ihnen [ N: [das Seelchen! . das hat sie heute vorgelesen und das war von so em . das 103 handelt von so’nem Mann der liegt auf der Wiese (,) und der hat so’n Schmetterling auf der Brust 104 und der denkt es wär seine Seele . die er is weiß und blutbefleckt (hmhm) .. ich weiß nich ich für 105 mich ist das total ... total sinnlos es hat dann auch jemand genommen . aber ... die der L. . dieser 106 Junge mit den roten Haaren (hmhm) der Sie vorhin angesprochen’at (hmhm) der hat glaub ich ge- 107 nommen „Ohne Grund“ (hmhm) . und das der is „Manchmal fällt ins offne Herz ein Stern . um ohne 108 Grund“ und dann irgendwie „ist man total froh“ oder so . und so was ich weiß nich ich kenne solche 109 Situationen auch aus’m Leben aber . ich weiß nich irgendwie find ich die . in diesem Gedicht nich so 110 passend beschrieben aber manche Sachen kann man auch nich so gut beschreiben (hmhm) in Worten 111 112 irgendwie (lacht) I: (2) Sie ham mir ja letztes Mal erzählt (räuspert sich) dass Sie . em selbst sich da auf . dichterischen 113 Spuren bewegen (lächelt hörbar) . dass Sie selbst versuchen (ooch joa ...) . jetzt hatte ich zum Bei- 114 spiel . grade als wir uns getroffen haben . em das so verstanden dass Sie zufällig heute eins Ihrer 115 Gedichte dabei haben (ja.) . und das ist das was da drin geschrieben ist (deutet auf ein Buch auf dem 116 117 Tisch vor N) . wollen Sie’s . vorlesen(’) (1) oder N: hier ist auch noch eins drin was . also dieses Buch em . da schreib ich nur die wichtigsten Sachen 118 die mir im Leben am wichtigsten sind (hmhm) . und das jetzt ist hier ein englisches drin das ham wir 119 wir sprechen im Unterricht so tolle englische Gedichte (hmhm) die sind so klasse also hier ist eins 120 das is „Stronger than steel is the thought of the spirit ...“ (hmhm) und ich find so was . einfach so’n 121 kurzes wir hatten auch mal eins am Ende stand dann „Be the best of whatever you are“ . (hmhm) 122 einfach egal ob du was du bist wenn du kein Baum sein kannst sei ein Busch wenn du keine Straße 123 sein kannst sei ein Pfad . aber sei das Beste was du sein kannst (hmhm) und das war eigentlich so die 124 Aussage und das war supergut das Gedicht und ich fand die einfach toll und das hab ich jetz em (2) 125 126 am 7.11. geschrieben (weist auf das mitgebrachte Buch) I: hmhm .. wollen Sie so lieb sein und’s mir vorlesen (’) .. es ist dann aber auf dem ..(zeigt auf den 127 Recorder) ich sag’s nur . weil Sie bisschen gezögert haben . also das ist dann da drauf und . ich 128 würd’s auch gerne mitnehmen in das was . mir wichtig ist für meine Frage ne weil . diese Zeugnisse 129 die Sie gegeben haben von sich selbst oder für Ihre .. em die ihr gegeben habt für eure Mitschülerin- 130
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131 nen und die Mitschüler durch die Zeugnissprüche (ja) die hab ich ja auch sozusagen ne und das ist 132 jetzt eins ... aber ich kann’s auch auf „Pause“ drücken (N: ja, können Sie machen [sie lacht bisschen]) 133 . ja(’) s wär aber schade also[ 134 N: 135 I: 136 dich nur nich übertölpeln
[ich weiß nich[ [ich will Sie nur nich . ich will
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N: ja das is .. eh ich weiß nich . es is halt wenn andere Leute das immer so . ich mag’s nich so gern wenn andere Leute so viel über mich wissen weil manchmal ziehn die Schlüsse die ich überhaupt nich weiß und dann wissen sie mehr über mich als ich selbst über mich (ja) und manchmal werd ich damit dann konfrontiert und die machen es sich dann auch zu Nutze (hmhm) und .. also ich hab schon erlebt dass Leute einfach wenn ich was erzähle von mir dass sie sich das zu Nutze machen und ja em .. auch mit meinen Eltern . die sagen ich wär’n armes Kind bloß mein Vaweil mein Vater’n strenger Lehrer is oder (atmet wie lachend aus) und ich find das ich mag das nich wenn man meine Eltern beleidigt bloß weil ich . manchmal erzählt hab dass mein Vater streng is (hmhm) und ich mag das nich wenn man mein- wenn man Sachen die ich erzähle dann (schluckt) . umdreht (hmhm) . oder einfach dann mich damit konfrontiert (hmhm) (3) ich weiß auch nich ob man das versteht was ich da geschrieben hab (N lacht)
148 149 150 151 152
I: es is ja .. also ich würde das ja im Leben nie em irgendwie privat benutzen sondern das ist ja geht ja hier um meine Forschungsfrage (ja.) . was ist die Bedeutung der Poesie der Gedichte . ich mein es können ja auch Romane poetisch sein das gibt’s ja auch . Erzählungen aber jetzt nun gerade von Gedichten also von geformter Sprache . für die Jugendlichen . was . ham die für’ne Bedeutung .. und insofern em ist das für mich ne nüchterne Frage . die (I räuspert sich) ja privat gar keine Rolle spielt
153 N: vielleicht wollen Sie das vorlesen (.) 154 I: ja gut (I lacht) . soll ich’s Ihnen vor- . soll ich’s dir vorlesen (’) 155 N: n-ja Sie können’s vorlesen . ich weiß ja dass ich möcht’s n-ich kann das irgendwie nich (hmhm) 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169
I (liest vor:) (1) Fort von hier (,) fort von allem was ich liebe (,) weg von dem was ich hier bin (,) herausgerissen aus diesem Leben (,) und in ein andres reingesetzt (1) fort von allem was ich kenne (,) weg von dem was ich hier wollte (,) und von mir wird dann erwartet (,) dass ich drüber glücklich bin (,) niemand merkt . wie ich dran leide (,) wie ich traurig drüber bin (,) winkt aber doch am andren Ende (,) nochmals ein weitrer Neubeginn (1) hin und her gerissen zwischen den Gefühlen (,) will ich bleiben . will doch fort (,) und bin . eh ich mich versehe (,) an einem ganz andren neuen Ort (,) vielleicht ist das die große Chance (,) der Blick auf die Zukunft liegt nun frei (,) doch alles trübt der Schmerz des Abschiedes (,) dieses Leben ist vorbei (1) fühle mich ganz klein und hilflos (,) mitten auf dem weiten Meer (,) andrer Menschen und Gedanken (1) aber es wird weiter gehen (,) langsam doch . doch stetig aufwärts (,) und ich werde . so ich hoffe (,) Menschen finden . die mich verstehn (,) in der Aufregung des Aufbruchs (,) bemerkt keiner das kleine Kind (,) das endgültig schwimmt davon (,) auf dem Ozean des Lebens (1) muss nun groß sein wie die andern (,) und das werd ich . wird’s auch schwer (,) hab ich doch . geheim . verborgen (,) ein Stück des Kindes (,) noch in mir (3) siebter elfter zweitausendsechs
170 171 172 173 174 175 176
N: (lacht kurz auf) ja also manchmal hab ich so Phasen da bin ich total (,) traurig (,) und manchmal eigentlich bin ich dann auch (,) ja is ja auch ne neue Chance (,) wenn man (,) was Neues (,) dann machen kann (hmhm) und so aber (1) ja und das is’n bisschen (1) manchmal’n bisschen hin und her (hmhm) (,) zwischen’ander (1) was (1) ja also ich kann mich jetz auch nich unbedingt entscheiden das wird ja einfach von (2) ich kann ja nich sagen ich bleib trotzdem hier (hmhm) weil (,) ich muss dann vielleicht auch irgendwann weg aber (1) m’muss halt’s Beste draus machen m’s manchmal (,) aber trotzdem (,) manchmal (,) is’s dann auch (hmhm) (2) bisschen (,) schade (.)
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I: ja . das is . immer so . dass es diese zwei Seiten hat (N: ja! [lachend]) . und das ham Sie ja sehr . 177 eindrucksvoll beschrieben da .. im Gedicht . aber da ist sonst keins mehr drin nur dieses (ja.) .. aber 178 das ist schon . sehr schön . vielen Dank (N lacht kurz auf) .. ja em wie wird das jetzt weiter gehen . 179 wie werden Sie denn dran arbeiten . was macht Ihnen Freude . jetzt daran und wie wollen Sie’s wie 180 willst du’s vorstellen? (N: das Gedicht’]) das Gedicht ja . habt ihr da einen bestimmten . ne bestimm- 181 182 te Form gefunden in der das geschehen soll oder seid ihr da . ganz frei (’) N: also ich glaub em wir sollen kurz über den em Autor den Dichter schreiben wann er gelebt hat 183 (hmhm) in welcher Situation das entstanden ist . wenn es wenn wir’s wenn wir irgendwo es erfahren 184 (hmhm) . im Internet oder in Büchern oder so (hmhm) . em . ja in meinem Fall halt Theodor Storm 185 und ich weiß über den eigentlich nich so viel ich kenn den jetzt eigentlich auch gar nich .. so . ich hab 186 nich so viel von ihm gehört . und dann den die das Gedicht einmal a-also richtig gut lernen . auswen- 187 dig lernen und richtig betonen (hmhm) . und dann halt vortragen (hmhm) und das aber auch ich glaub 188 189 so weit ich verstanden hab nur ein Mal und das reicht dann für das ganze Jahr I: hmhm . hmhm und über den Dichter selbst em . aber auch em der Klasse was mitteilen
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N: ja und kurz zusammenfassen wie der gelebt hat wo der wann der . und so . gelebt hat (’)
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I: hmhm und die . die Beziehung jetzt des Dichters selber zu dieser Stadt . ich glaube es ist Husum . 192 193 das wäre wichtig (hmhm) dann . wäre ja jetzt auch [ N: [ja das weiß ich noch nich vielleicht muss man das irgendwann vielleicht gibt es 194 irgendwo ein Buch über ihn und da steht vielleicht warum er dieses Gedicht geschrieben hat oder so 195 I: hmhm hmhm vielleicht schließt sich’s ja auch auf durch die Lage der Stadt selbst das kann ja auch 196 sein also . da bin ich mal gespannt und dann dürfte ich auch dabei sein wenn . wenn du’s vorträgst (’) 197 N: ja (.) und ich denk auch dass manche Leute was sagen werden warum sie das Gedicht genommen 198 ham (hmhm) also (1) und das is manchmal auch richtig offensichtlich also wir ham’n Mädchen das 199 macht Kampfsport die F. (hmhm) und die hat jetzt’n das hätte ich auch fast genommen das Gedicht 200 von nem Panther das der hinter gef- der hinter Gittern in Gefangenschaft lebt (hmhm) (,) und also mit 201 unbändigem Willen halt (,) em .. eingeschlossen ist und das is das find ich auch total super das Ge- 202 dicht (hmhm) und das passt auch supergut zu ihr (hmhm) das hätt ich ihr auch empfohlen das hat sie 203 auch sich dann halt (,) genommen (hmhm) und es ist dann auch für manche is es offensichtlich aber 204 andere Gedichte find ich also f-mein erster Eindruck war überhaupt das passt überhaupt nich aber 205 206 vielleicht gefällt das denen ja (hmhm) (1) also I: hmhm . em .. war die Situation manchmal auch so dass sich mehrere für ein Gedicht em erwärmt 207 208 haben (’) N: also meistens musste die Frau B. sagen (hörbar schmunzelnd) jetzt bitte! . ich möchte unbedingt 209 einen haben der das Gedicht nimmt (lacht) (hmhm) . weil sie hatte e- irgendwie eine Ballade und das 210 war . irgendwie . der Text war einfach ziemlich . altmodisch (hmhm) und man musste sehr tief . die . 211 ganzen Sachen weglassen einfach nur diese Gefühle und so (hmhm) . handelt von irgend so nem . m- 212 m so nem Erlkönig (hmhm) der mit dem Kind und am Ende is das Kind tot (hmhm) . und das is 213 irgendwie also . die Ballade ist se- an sich die Ballade find ich irgendwie .. ziemlich komisch (hmhm) 214 (3) allerdings . ich versteh jetzt auch nich so genau warum . man so was warum das Kind dann tot is 215 bloß weil es Stimmen hört . einfach geruf- gerufen vom . Tod und der Vater glaubt es nich (hmhm) . 216 jaa .. aber .. einmal da wollten welche es doppelt haben das war von .. Goethe glaub ich . s war’n 217 lustiges Gedicht von nem Frosch was auf’n Baum klettert und der wollte unbedingt wie der Spatz 218 fliegen und dann springt er und is tot (hmhm) . (schmunzelnd) und die Moral von der Geschicht war 219 halt dass man wenn man grad erst auf’n Baum geklettert is (hmhm) noch nich losfliegen soll (lacht) 220 (hmhm) . und das wollten mehrere haben und .. aber das ham die dann eigentlich auch eingesehn das 221 222 hat dann einer gekriegt der sich zuerst gemeldet hat (lacht)
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223 I: hmhm . das habt ihr dann festgestellt (ja.) wer sich zuerst fest- zuerst gemeldet hat 224 N: ja . das ging so wie so so bum-bum also ganz schnell 225 I: weil es so . fröhlich war (’) 226 N: das war’n lustiges Gedicht sonst sind die ganzen . mehrere Gedichte eher traurig gewesen 227 I: hmhm . (ja.) und dann ist es so dass sie jeden Tag em ein Stückchen vorliest . also ein Gedicht 228 vorliest oder zwei[ 229 N: [manchmal zwei . 230 manchmal gar keins (hmhm) immer so’n bisschen .. sie wiederholt sie auch mehrmals (hmhm) . an 231 verschiedenen Tagen (.) 232 I: so dass es nicht nur ein spontaner Eindruck ist sondern[ 233 234 235 236 237 238 239 240 241 242 243
N: [ja (.) (1) dann kann man sich halt überlegen oder . also un’andre ham’s bis jetzt noch nich (1 ?) das’s . ham eher wenige . ja sie möchte dass . Frau B. möchte dass . bis Ende der Woche ungefähr jeder so . eins hat (hmhm) . aber ob sie’s schafft . weil bis jetzt warn noch nich so viele Gedichte die .. Leuten in der achten Klasse e- .. brauchen irgendwie andre Gedichte . die n bisschen nich so schwer zu ergründen aber auch nich so einfach nich so . langweilig sind (hmhm) . und ich find für viele war das Lustige is das Lustige is für vieles auch wichtig . aber andere brauchen auch was Trauriges aber . da warn viele dabei die .. keinfach einfach nich so gut gepasst ham die ham die Leute dann einfach auch nur genommen weil sie kurz warn oder so (hmhm) .. und ich weiß nich ob es so .. keine Ahnung ich find das Gedicht schön nich weil’s lang oder weil’s kurz is aber . andere ham’s genommen weil’s lang oder weil’s kurz is weil sie nich so viel auswendig lernen wollten (N lacht kurz auf)
244 I: hmhm ... ja . schön . da bin ich gespannt . was du rausfinden wirst über den Theodor Storm (I 245 schmunzelt hörbar) .. hast du auch schon . von ihm . was anderes gelesen(’) . er hat ja auch Erzählun246 gen geschrieben sehr schöne [es könnte sein] die dir auch gefallen könnten 247 N: es könnte sein ich hab schon mehrmals den Namen gehört aber so . direkt is er mir jetz nich 248 aufgefallen also nich dass ich jetzt wüsste ja das ist von dem (hmhm) . also nicht direkt 249 I: hmhm .. em . n-nur’n Tipp .. könnte dir gefallen . er hat viele Novellen geschrieben und es sind 250 bestimmt welche hier in der Bibliothek . Novellen von Theodor Storm[ 251 N:
[hmhm . kann ich ja mal nachgucken
252 I: sehr schön auch den Abschied beschrieben von der Kindheit .. ja es lohnt sich zu lesen als ich so alt 253 war wie du hab ich’s auch gerne gemocht .. jaa 254 255 256 257 258 259 260 261 262 263 264
N: jaa man hat halt auch das Gefühl manche Leute ham sind nich so lyrisch und die finden dann einfach auch .. so was total dämlich (hmhm) aber .. ich glaube manche Leute sind- traun sich nur nich so was zu machen weil . ich hab . m-meine Freundin . also die E. (hmhm) . die schreibt auch selbst Geschichten . Kurzgeschichten .. und die hat enorm enormes Potenzial die hat so viel Einfälle (hmhm) und . die kann das supergut aber irgendwi-w . hat die gar keinen Freiraum . das irgendwie zu machen (hmhm) . und das find ich dann auch teilweise traurig weil .. keine Ahnung die kriegt von Hause von zu Hause hab ich das Gefühl auch nich so viel Unterstützung die könnte so viel machen (hmhm) die is so super im Lesen wir ham wir ham’n Lesewettbewerb gemacht und da hat sie gewonnen also ich hab silberne Urkunde von der Klasse also . es gab nur eine achte Klasse sonst hätten wir noch Schulentscheidung gehabt also war . ich die Zweitbeste und sie war die Beste und dann kam sie weiter und dann hat sie gegen die N’er (nennt Stadt i. d.Nähe) gewonnen gegen alle N’er Schulen .
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und dann hat sie auch gegen die Mittel-(nennt Bundesland) gewonnen . und em dann ham die verges- 265 sen ihr die Einladung zu schicken sonst hätte sie noch weitermachen können bis auf Deutschland- 266 Ebene .. und die kann das so gut die kann einfach so fesselnd erzählen (hmhm) . und auch so lustig 267 (hmhm) . aber irgendwie manchmal hab ich das Gefühl das verkümmert so . bisschen und bei man- 268 chen Leuten irgendwie ist das auch so .. die schreiben total spontane Sachen einfach ganz lustige 269 Texte die man einfach in’n Tagebuch oder so einfach so reinschreibt so’n Freundebuch untereinander 270 ham wir auch viele und . ja aber irgendwie . kommt das gar nich so . total (?) m- wenn wir Aufsatz 271 schreiben sollen kommt manchmal was Lustiges raus . wenn man sich ne Geschichte weiter ausdenkt 272 .. es wird irgendwie . bei manchen nich so gefördert . entweder ham sie keine Lust dazu oder es is 273 ihnen peinlich (hmhm) . ich weiß nich 274 I: hmhm (2) das ist also eure E. (,) hat sie schon ein Gedicht genommen . hat sie schon eins gewählt 275 weißt du das (’) 276 N: nee die hat noch keins
277
I: na gut das kann . ich werd ja noch öfter kommen . und noch auch ein paar Jungens natürlich . 278 interviewen (2) ja sehr schön (3) magst du noch was ergänzen 279 N: (2) ich weiß nich (beide lachen)
280
I: (1) em was mich jetzt noch mal interessiert . em . wenn du das jetzt auswendig lernen musst . und 281 willst .. em . wie machst du das (’) 282 N: ich les mir’s so lang durch eigentlich . bis ich’s . auswendig kann und . bis ich so denk dass ich’s 283 einigermaßen auswendig kann und dann deck ich die erste Strophe oder so ab und . sag das immer 284 vor mich her und wenn ich’s nich kann guck ich wieder rauf und fang wieder von vorne an (hmhm) . 285 ich kann eigentlich recht schnell Auswendiglernen 286 I: hmhm . also du sagst’s auch laut . vor dich her oder? (nee!) nee machst du’s nur still (,)
287
N: also ich lern grad den Text für die Hauptrolle vom Klassenspiel (hmhm) . und . ich hab eigentlich 288 mit Auswendiglernen überhaupt keine Probleme (hmhm) . ich lern ziemlich schnell auswendig ich 289 vergess es teilweise auch wieder recht schnell aber .. . also es is dann . so lang es muss sich auch nich 290 reimen unbedingt 291 I: hmhm . ich meine aber du sagst es dir vor oder (m-m) . machst du’s nur still[
292
[nur im Stillen (I: brauchst gar nicht laut zu 293 N: sprechen) . und manchmal flüster ich’s noch aber so laut reden mach ich eigentlich nich 294 I: hmhm (3) da ist eine Zeile das möchte ich noch mal . in der zweiten Strophe da heißt es bei mir 295 „kein Vogel ohn’ Unterlass“ . da ist’n Apostroph 296 N: hier steht „ohne“
297
I: (1) ah ja „kein Vogel ohn’ Unterlass“ steht bei mir
298
N: (,) vielleicht hat irgendwie die Frau B. verändert damit es leichter zu sprechen is (hmhm) .. weil dieses „e“ is ja auch noch’n zusätzlicher . also beim Rhythmus „kein Vogel ohn’ Unterlass“ das hört sich irgendwie’n bisschen gebrochen an oder (’) .. also hab ich jetz grad . ganz kurz das Gefühl (N lacht kurz auf)
299 300 301 302
I: sprich’s doch mal . den- die zweite Strophe
303
N: es rauscht kein Wald . es schlägt im Mai . kein Vogel ohn’ Unterlass“ .. ich find da is dann ne 304 Pause drin 305
390
10 Anhang
306 I: „ohn’ Unterlass“ . hmhm .. [N: aber „ohne Unterlass“] . jaa sprich’s mal mit „ohne Unterlass“ wie 307 du’s hast 308 N: „Es rauscht kein Wind . es schlägt im Mai . kein Vogel ohne Unterlass“ 309 I: (3) hmhm . sprichst du’s leichter (’) 310 311 312 313 314 315 316 317 318 319
N: ja . find ich schon . es is einfacher (hmhm) . ich denke auch die Frau B. sucht die Ding- die em Geschich- eh die Gedichte auch aus weil sie ganz genau weiß das könnte dem und dem passen (hmhm) (1) also bis jetzt hatt’ ich erst eigentlich wir ham ja jetz schon Zeugnissprüche und ich bin seit der ersten Klasse hier (schluckt) ich hatte bis jetzt eigentlich erst einen Zeugnisspruch der mir gut gefallen hat (hmhm) bis jetzt ham mir hab ich all- bei allen das Gefühl gehabt och die gefallen mir überhaupt nicht . also einen . den hat sie mir ausgesucht .. der war von .. von Heinz Schliemann (hmhm) . und Troja .. das war irgendwie em . dass er Troja ausgräbt und em dann die Trümmer ans Licht fördert (hmhm) . und den fand ich total super . und dann jetzt den den mir meine Klassenkameraden geschrieben ham . ich hab drei gekriegt und zwei fand ich . toll . den von der E. und den von der F. .. und ich sprech die abwechselnd . also einmal vom Feuer und einmal . von Kraft und Ruhe
320 I: hmhm . sprich sie doch mal . bitte 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330
N: (lacht) . em es züngelt und sprüht . es zischt und raucht . es verzehrt und glüht . es leuchtet und faucht . man könnt’s für lebendig halten . es raucht und glüht sehr . es verwandelt zu Licht . nur Ruß gibt es her . und Asche . mehr nicht . doch die Wärme ist da zum Behalten . das hat die E. gedichtet (hmhm) und die kann eigentlich auch recht gut dichten . und die F. . „Die Ruhe und die Kraft gehören zusammen . die Ruhe hast du . wenn du sie rufst . die Kraft hast du . wenn du sie brauchst .. die Ruhe und die Kraft sind zwei .. doch sie . v-vereint sich . doch sie vereinen sich zu einem . gib niemals eins davon auf . denn du brauchst sie beide . Ruhe und Kraft.“ (hmhm) . das is gar nich so einfach em (lacht) (I: hmhm . doch . es is gut) . s gar nich so einfach zu sprechen also wir sollten die auch auswendig lernen und . aber bis jetzt sprechen wir die auch nich mehr jede Woche . das ham wir ja früher eigentlich gemacht (I: hmhm ja ihr habt jetzt) . nich mehr so viel Zeit ham wir
331 I: ja . ja . wie ist das mit den Proben . du hast gesagt du hast die Hauptrolle . und ihr spielt ja . den . 332 em kauk-[ 333 334 335 336
N: [chinesischen Kreidekreis .. also es gibt vier Aufführungen und auch vier Hauptrollen und ich glaub . das wird super .. und wir tanzen dann chinesisch dazu und .. wir nähen uns grad die Kostüme selbst und (diese Textstelle ist aus Datenschutzgründen etwas gekürzt) also ich glaub das wird ziemlich gut
337 I: gut . das muss ich unbedingt bedenken . in meinem Reiseplan . ja . schön .. also ich denke . dass es 338 so weit ganz fruchtbar war was du mir gesagt hast vielen Dank (hmhm) . ich drück jetzt mal auf 339 „Pause“ 340 [Ende des Interviews] 341 Ergänzungsinterview mit Natalía am 30.1.07 (eine Woche später) 342 343 344 345 346 347 348 349
I: also ich hab das jetzt schön verschriftet was wir letztes Mal besprochen haben und da ist mir aufgefallen, dass ich dich nicht genau genug gefragt habe und du mich vielleicht auch nicht richtig verstanden hast . du hast ja so beschrieben dass dir das . auch grade was du selber gedichtet hast . dass dir das hilft und jetzt möchte ich gerne noch wissen . vielleicht in Bezug auf die Zeugnissprüche . du hast beschrieben du hattest nur einen einzigen der dir gefallen hat . im fünften Schuljahr den von Heinrich Schliemann (ja.) . und em kannst du vielleicht noch’n bisschen genauer sagen warum das so war . was hat dir denn bei dem Spruch über Heinrich Schliemann geholfen oder . was hat dir was gegeben . womit konntest du was anfangen . was die andern nicht hatten (’)
10 Anhang
391
N: eh ich hatte kurz vorher hatt’ ich ein Referat über Heinrich Schliemann (hmhm) halten sollen und das hab ich auch gemacht und ich fand den eigentlich irgendwie ziemlich intressant ich hab auch nich alles da verstanden ich war da noch’n bisschen verwirrt teilweise weil . also der Stoff war schon ziemlich schwer (hmhm) (schluckt) und die Frau B. hat halt einfach gesagt das soll ich machen weil irgendwie kein andrer’s machen wollte (hmhm) . und da . gibt sie oftmals mir Aufgaben die kein andrer machen will (lachend:) die soll ich dann machen
350 351 352 353 354 355
I: hmhm . warum (’)
356
N: em . ja . manchmal wüsst’ ich das (lachend:) auch gerne . es is’n bisschen anstrengend teilweise 357 aber eigentlich is es auch . ich weiß nich also manche denken einfach ich wär’n Oberstreber oder so . 358 keine-Ahnung 359 I: (..) bist du die Älteste(’)
360
N: m-m nee die M. und die N. (ah ja.) sind eigentlich die Ältesten (hmhm) . em . ich gehör zu den sechs Ältesten . ja wir ham nur zweiundzwanzig (?) . sind nur sechs Mädchen . oder sieben (hmhm) . aber . der hat mir gut gefallen . weil das irgendwie . weil er gut zu mir gepasst hat zu meinem Charakter fand ich weil . ich meistens so em . ich bin ziemlich cholerisch (hmhm) und ich glaub ich bin auch eine der einfachsten Personen die em also wenn man jemanden in meiner Klasse fragen würde welche Person kann man am einfachsten beschreiben . das bin glaub ich ich weil . ich sehr genau ich bin ich trage sozusagen mein Herz ziemlich oft auf der Stirn oder auf der Zunge die wissen genau was (schöpft Atem) . em . mit mir meistens los is ich bin sehr cholerisch und aufbrausend . m-ff und (lacht) em das wissen die auch genau das kann man auch ziemlich gut beschreiben weil meistens andere Leute die so traurig sind oder so (schluckt) die kann man schwerer beschreiben . also ich hab so’ne Mischung würd’ ich jetzt sagen aus cholerisch und melancholisch (hmhm). s is zwar ne komische Mischung aber . (hält den Atem an) em es hat sich jetzt auch in letzter Zeit . irgendwie’n bisschen geändert eh . jetzt kommt manchmal bin ich dann noch sanguinisch und das v-verändert sich dann auch noch bisschen und teilweise wechselt das dann innerhalb von kurzer Zeit (hmhm) und die denken manchmal ich wär irgendwie so . keine-Ahnung . em (lacht) jemand der sie da zusammenschlägt wenn sie nich das machen was sie sollen (lacht) . und . war zum Beispiel wenn der N. Sch. . also das is dieser der . eine Junge der . prügelt sich immer mit’m M. (hmhm) . u-und dann . wenn der dann wirklich nich mehr aufhörn will dann schrein sie immer ganz laut nach mir ich soll ihm sagen dass er aufhört und er hört dann auch auf wenn ich’s ihm sage aber . es hat manchmal’n komischen Eindruck wenn ich ihm sage . was er machen soll (lacht) (hmhm) . wenn er sich endlich das Hemd in die Hose stecken soll oder so dann sagen die immer ich wär’n bisschen entweder streberhaft oder . keine-Ahnung . und ich fand den Spruch einfach gut weil em er so’n bisschen Feuer hatte dass man was von unten ans Licht holt einfach . erreicht und nicht aufgeben und . das passt ziemlich gut zu mir weil meine Freunde sagen mir auch immer ich soll’n bisschen cooler bleiben und’n bisschen . wenn . wenn was nich geht dann soll ich mich nich immer gleich so niedermachen und so (hmhm) aber das kann ich nich so gut ich will immer irgendwie besser sein und wenn’s dann nich gelingt dann bin ich mit mir ziemlich unzufrieden (hmhm) und em ich kritisier immer ziemlich stark an mir rum
361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387
I: und der Spruch . kannst du ihn noch? ( (2) nee!) nee. . hat der das so beschrieben . jemanden der 388 feurig ist . also inhaltlich beschrieben was deine Stärke und vielleicht aber auch genau die Schwie- 389 rigkeit ist[ 390 N: [am Ende stand „hob ich 391 vom Dunkeln ans Licht.“ . (hmhm) . also (..) ähmmm . „mit Kraft hab ich viel . mit Mühe und Kraft 392 hab ich viel Gutes gewonnen“ . ahh . ich . nee ich kann ihn nich mehr . aber . [ 393 394 I: [das verbin-[
392
10 Anhang
395 N: [das handelt ja von Troja und dass Heinrich Schliemann . die 396 Stadt aus’m Dunkel ans Licht geholt hat aus Trümmern . halt . hervorgeholt hat 397 I: hmhm . und das kannst du sehr gut mit deinem . Inneren verbinden(’) 398 N: ich fand’n einfach schön ich hab den auch noch also ich kann den auch mal mitbringen (hmhm) . 399 aber ich kann mich jetz nich mehr so erinnern 400 I: ja das ist . nicht schlimm . hmhm . und . jetzt . hast du dir mal Gedanken gemacht darüber wie das 401 vielleicht auch . helfen könnte bestimmte Schwierigkeiten zu erkennen . und em zu überwinden mit 402 Hilfe des Zeugnisspruches(’) 403 N: ämm es gibt manchmal so Sprüche da merkt man ganz genau dass die Frau B. die extra mit Ab404 sicht demjenigen gegeben hat (hmhm) weil die genau auf das Problem von dem tippen und zwar 405 richtig den Finger in die Wunde legen aber das merken die gar nicht manchmal 406 I: hast du’s gemerkt(’) 407 408 409 410 411 412 413 414 415
N: auf jeden Fall! das is so was von offensichtlich das sind Sprüche über Leute zum Beispiel wenn die einfach zu viel rumflippen und was nich ernst nehmen und dann bekommen die richtig’n Spruch dass . sie auch (..) ich kenn einen . von einer Person em . das-s „schnell eile ich von Blüte zu Blüte . und schnell ist ein Strauß duftender Blumen gepflückt . doch em halten nicht lange die Blüten . zu denen du leicht dich gebückt . em tief unter dem harten Gestein . birgt Schätze . die w- . wartende Erd’ . bis . wirst du zu ihnen dich bücken . sind sie für immer dein“ oder so ähnlich (hmhm hmhm) ja nich ganz aber . fast . em und das fällt halt schon ziemlich auf dass die ganz genau mit Absicht den gekriegt ham weil sie em . weil der denen en bisschen’n Schutz geben soll . aber manchmal . nehmen die das überhaupt nich wahr hab ich das Gefühl so irgendwie
416 I: em jetzt zurück zu dir . hast du das Gefühl dass es dir geholfen hat . dass du diesen Spruch mit 417 diesem Inhalt bekommen hast mit diesem Rhythmus(’) 418 419 420 421
N: (2) m-m-mm oarum (?) also joaa schon en bisschen also ich kann jetzt nich sagen dass wenn ich irgendwie traurig oder so war dass ich dann gedacht hab jaa machen wir das doch mal so oder so sondern einfach . das weiß ich kann ich jetzt gar nich so genau sagen der hat mir . einfach gut gefallen (hmhm) und ich hab ihn gern gesprochen aber . bei manchen andern war das halt nich der Fall
422 423 424 425 426 427 428
I: hmhm . hast du dich aber gut und . dir entsprechend wahrgenommen gefühlt in dem Spruch den Frau B. dir gewählt hat (ja!) . also du hast das Gefühl gehabt das passt zu mir und ich kann das sagen . hmhm . und das . mit dem Gedicht „Am grauen Strand am grauen Meer“ . da haben wir ja schon lange und ausgiebig drüber gesprochen . jetzt interessiert mich nur noch . erlebst du auch da . dass in dieser Wahl die du getroffen hast . etwas für dich herauskommt wenn du das dann bearbeitest . von dem du dir erhoffst . dass es irgendwie auch dir in dieser Situation auf der Schwelle zu vielleicht einem neuen Umfeld . eine Hilfe hast(’)
429 430 431 432 433 434 435
N: (2) jaa vielleicht schon also . am Ende sagt er ja der Dichter also der Theodor Storm . sagt er ja auch „doch ruht doch hängt mein ganzes Herz an dir du graue Stadt am Meer“ (hmhm) . a-ja also ich weiß schon denke ich recht genau um was es geht . und es . ich weiß nich ob’s mir hilft aber es entspricht eben so ziemlich genau . meiner Situation ich kann halt recht gut denken also falls er das nich einfach so geschrieben hat weil’s ihm so gegangen ist dann kann ich mir recht gut vorstellen wie er . wie es für ihn war ich find das is eigentlich ganz gut wenn man sich so vorstellen kann warum der Dichter so was geschrieben hat
436 I: hmhm . weil man diese Ähnlichkeit mit der eigenen Situation sehen kann hmhm 437 N: joa . vielleicht
10 Anhang
393
I: hmhm . gut ja . das wollte ich einfach nur noch ergänzen . vielen Dank (.)
438
(Interview-Ende)
439
10.2 Transkript Interview mit Moritz/Schule C (19.6.07) Erhebungssituation: Das Interview findet im Umkleideraum hinter der Bühne statt, auf der ein Teil der Klasse für eine Theateraufführung probt, andere schauen zu. Hier und da kommt jemand herein, um sich Requisiten zu holen oder umzuziehen. Der Geräuschpegel im Hintergrund ist also relativ hoch. I: ja M (2) kannst du mir mal’n bisschen erzählen welches Gedicht , du dir ausgewählt hast , als ihr euch die Gedichte auswählen solltet (M: ähhh) , zum Vortragen in der Klasse (.) M: (1) ähh , jaa , das war (2) war’n Spruch über ne Stadt , die beschrieben wird wo die liegt und so I: hmhm , welches war das(’) M: ähmm (1) „Die Stadt“* von (2) soll ich’s vortr- ich’s vorsagen oder(’) I: wie du willst M: n-nee ich s hieß „Die Stadt“ von , irgend so’m , Dichter I: hmhm (1) und warum hast du das gewählt(’) M: weil’s mich auch so’n bissel ich hab ja grad gesagt dass ich in X (nennt südeuropäisches Land) gewohnt hab und da in der Schule also , und das hat mich an die Stadt so’n bissel erinnert , und (1) das fand ich halt schön (1) da wo ich gewohnt hab (1) I: in X(’) M: in X ja I: (1) hmhm , und dieses , hat das jetzt genau diese Situation auch der Stadt am Meer beschrieben oder M: ja , war ne Stadt am Meer und , die hatte halt au nich nur ihre schönen Seiten , oder , hatte auch also so Gassen so hässliche und so und , das hat mich halt alles so da dran erinnert und deswegen , fand ich das so schön I: hmhm , und hast du’s vorgetragen in der Klasse(’) (2) (M: ja.) oder hast du’s , wie habt ihr das denn bearbeitet , kannst du das mal bisschen schildern M: die Frau C hat gesagt , wir soll’n uns’n Gedicht aussuchen , ähmm und des dann , erst mal (1) wie’n Zeugnisspruch so ablesen und nach’m dritten Mal sollten wir’s dann auswendig können (I: hmhm) und so immer an Stelle vom Zeugnisspruch , ham wir das Gedicht dann , gesagt I: an dem Tag (M: genau.) an dem ihr sonst mit dem Zeugnisspruch dran seid (1) em wo hast du’s gefunden(’) M: (1) die Frau C hat uns so , Zettel gegeben , und da warn ganz viel Gedichte drauf und , da konnten wir uns eins aussuchen ma konnt sich aber auch irgendwo aus nem Buch oder so irgendwas n Gedicht raussuchen was ei’m gefällt I: hmhm , und das hat dir spontan gefallen (M: ja , ja.) hmhm (1) wenn du jetzt an die Situation denkst , wie das so diese fünf Jahre war für dich (M: hmhm) du bist ja aus’ner andern Schule gekommen wo vielleicht so was gar nich üblich war dass man , Gedichte spricht in der Klasse oder war das doch so? (M: nein nein) in X , nich (M: nee) wie war das jetzt für dich , insgesamt wenn du jetzt so diesen ganzen Zeitraum nimmst kannst du das mal’n bisschen beschreiben also du bist gekommen und , hat sich da was entwickelt hat sich was verändert (1) und wie war das jetzt im letzten Jahr(’) M: was die Gedichte anbetrifft(’) I: ja und auch die Situation also da zusammen in der Klasse aufstehn , rezitieren , und so weiter , von Anfang , bis jetzt , beschreib das doch bitte mal’n bisschen
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37
394 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88
10 Anhang
M: (3) oah da kann ich mich gar nich mehr dran erinnern wie’s am Anfang war , wie ich das da empfunden hab (4) (atmet aus) m-m (4) (schnauft leicht) (3) also ich , bin auf jeden Fall froh dass wir , diese Gedichte machen , also mir macht’s mir macht nich jedes Gedicht Spaß , aber , viele find ich auch schön und (1) find ich auch schön Gedichte zu lernen in der Schule weil sonst würd ich das nie lernen (I: hmhm) (2) joaa (atmet aus) und Entwicklung (1) I: warum findest du das schön(’) M: (2) weil-l , des auch so’n Stück äm Kultur is find ich also Gedichte das , gehört einfach dazu und das find ich schön wenn das (1) nich einfach äm , so weggeschmissen wird , sondern so wie hier in der Waldorfschule weiter gereicht wird I: hmhm weitergereicht wie meinst du das jetzt [weitergereicht M: [also , dass nich , weil ich glaub nich dass ich mich jetz mit Gedichten beschäftigen würd wenn ich nich auf der , hier auf der Schule wär (I: hmhm) und , damit das einfach verloren geht , also nich verloren geht , das , find ich gut und , ja Gedichte so (2) häm ja (atmet aus) hab ich auch da drin schon geschrieben , gefallen mir auch mehr so die wo ne wahre Begebenheit haben , wo was erzählen (I: hmhm) I: aber ich meine was ist denn daran jetzt so dass man’s weiterreichen sollte(’) Was wäre jetzt schlimm da dran wenn , s vergangen und , vergessen wäre(’) M: (3) Gedichte sind halt auch was Schönes wo man sich ausdrücken kann und so (2) (I: du dich?) ich mich m-hm (atmet ein wenig aus wie fragend oder zweifelnd) (2) pff nee eigentlich nich aber (1) s-das gehört einfach dazu , find ich , s-em , ja (1) ahm (2) ja das gehört ich find das gehört einfach dann dazu (I: wozu?) zur Kultur einfach (I: hmhm) (Einige andere Schüler kommen in den Umkleideraum; M schaut sich um.) I: stört dich das jetzt dass die da rein und raus gehen (M: ja.) , soll’n wir woanders hingehen(’) (M: nein.) (1) ja und jetzt , denk doch mal an die Situation , wie ihr da morgens wie hast du das empfunden wie bist du da all diese fünf Jahre , so durchgegangen , war das immer gleich , war das manchmal nich auch langweilig , lästig oder , wie[M: na ja] hast du das immer , als was Schönes erlebt(’) M: nein nein , oft war’s auch lästig dann , aufzustehn , also da is man grad gekommen hat sich hingesetzt und dann musste man wieder aufstehn und dann (schnauft aus) ähh-jaa und dann die ganze Zeit stehn bleiben , und das was wir dann auch immer vorgetragen ham das hat sich auch immer alles verändert und , wie gesagt da warn mal gute Gedi- Gedichte dabei mal schlechte mal hat’s mir mehr gefallen mal nich I: hmhm , und du sagtest die die was erzählt ham die ham dir gefallen , also die ne Geschichte , erzählt ham(.) M: ja , ja , da war zum Beispiel eins , die Schlacht von .. ahh so in irgend so nem Wald , das fand ich zum Beispiel fand ich’n gutes Gedicht I: hmhm , warum war das’n gutes Gedicht für dich(’) M: ja weil’s Geschichte erzählt hat (2) joa (4) I: hat sich da was verändert , im Laufe der Zeit (1) wenn ihr das jetzt am Anfang gesprochen habt (M: wie jetzt?) war das doch am Anfang so , dass ihr , wenn ich das recht beobachtet hab , sie hat dann was vorgesprochen und dann , das , wiederholt (M: ja , ja) und so allmählich , habt ihr das dann gekonnt M: ja das ham wir immer so gemacht I: immer so , von Anfang an fand’st du das ne gute Art sich dem Gedicht anzunähern oder wie würdest du das sonst machen wenn du , was liest[ M: [ nee doch das das find ich gut so halt jeden Tag einmal das durch zu machen und dann wird’s immer mehr das find ich besser als wenn sie jetzt sagen würde hier ich geb euch Blätter mit nach Hause un das übt ihr jetzt und morgen könnt ihr’s (I: hmhm) also da find ich ne bessere Art zu lernen so wie Frau C’s gemacht hat (I: hmhm) , ja. I: (1) wie war denn das mit den Zeugnissprüchen für dich(’) (1) das war ja auch was Neues ne(’)
10 Anhang
395
M: jaa (atmet aus) Zeugnissprüche die hab ich am Anfang , war ich mir gar nich so der- ihrer Bedeutung bewusst , also , die soll- die Frau C hat die ja ausgesucht weil die zu uns passen so (1) (atmet aus) ja , und wurd ich erst mir in den letzten Jahren so wurd mir bewusst dass , jeder Zeugnisspruch wirklich auch was mit mir zu tun hat (1) ja und dann fand ich , ham die für mich auch an Bedeutung zugenommen und wurd mir bewusst was des eigentlich isch dieser Zeugnisspruch , weil früher hab ich immer gedacht des sag ich halt (atmet ein) und seitdem ich , mir dann bewusst wurde , was das bedeutet , hat’s mir auch Spaß gemacht das vorzutragen , weil , ich mich da immer selber wiedererkannt hab I: hmhm (2) also es hatte immer was mit dir zu tun(’) (M: ja. ja.) hat’s getroffen (M: ja.) das Bild (M: ja.) war ja auch ne Metapher irgendwie für dich (M: ja. genau.) hmhm und em , gab’s Ausnahmen in diesen fünf Jahren(’) (1) also Sprüche von denen du dachtest (1) M: ja , auf jeden Fall , em kann ich mich jetzt gar nich dran erinnern was ich jetz so richtig blöd fand (2) also was ich auf jeden Fall immer blöd fand , war , wenn wir uns auf’n Klassenspiel mit so Wortübungen vorbereitet ham , das fand ich immer , langweilich (I: hmhm) , weil einfach Worte gesagt wurden die keinen Sinn hatten I: hmhm also dieses Bäder brünstich protzich preist und so[ M: [genau , des fand ich , langweilich , hatte keinen Sinn , so hatte natürlich’n Sinn die Zunge zu üben aber I: hmhm (1) hat’s dafür geholfen dass du dann besser artikul- also dass ihr als Klasse besser artikuliert habt(’) M: ööhm , das kann ich jetz gar nich sagen aber ich glaub schon dass d- dass das ne Hilfe isch (I: hmhm) , so ohne , Folge wird das nich gewesen sein I: hmhm (1) ich hab jetzt mehr gemeint ob’s Ausnahmen bei deinen Zeugnissprüchen gegeben hat , ob’s da einen gab der dir (M: ach so.) vielleicht nich so , gemäß war oder von dem du dachtest das passt nicht zu mir (1) oder der dich (1) (M: m-mm) gelangweilt hat M: (1) ich kann mich jetzt nur an die Zeugnissprüche von den letzten drei Jahrn erinnern , und , da ham mir alle , fand ich ham alle zu mir gepasst I: hmhm (1) wie habt’n ihr das gemerkt dass sie zu euch passen(’) du hast gesagt es ist dir klar geworden , dass es da einen Bezug gibt vom Spruch zu dir (M: hmhm) , wie ist euch wie ist dir das aufgefallen(’) M: (1) ah ich hab mal über den Spruch nachgedacht , ich- also ich hab ihn nich nur gelernt ich hab dann da drüber nachgedacht (1) und dann huch! ich da bin ich ja! da kenn ich mich wieder und es , ja I: (schmunzelt) hmhm (1) und , kannst du dich erinnern daran was das für einer war , an dem dir das auffiel? was war da der Inhalt? (M: ähm) weißt du das noch(’) M: (2) irgendwas mit’nem Kreis (lächelt) (1) näher kann ich mich jetz nich mehr dran erinnern I: das war also ein Bild aus der Geometrie , oder was (M: ja.) hmhm , wie ist denn das mit den Sprüchen der andern gewesen , hast du da , ich mein die hört ihr ja auch (M: hmhm) und em hattest du das Gefühl ah ja das (1) passt zu dem oder das passt gar nich M: (1) also bei manchen konnt ich die äh Verbindung nich , hab ich nix gemerkt dass das irgendwie passt und bei andren dacht ich ja! also das is auch ihr Zeugnisspruch der kann genau zu dem passen (I: hmhm) I: (1) und gab’s auch welche von denen du dachtest das ist jetzt für den schlimm dass der das so sagen muss weil’s gar nich passt oder (1) war M: also , schlimm , wenn dann hab ich halt gedacht dass der gar nich zu ihm passt aber schlimm , fand ich jetz gar keinen I: hmhm hmhm , alles klar (2) wie war das jetzt mit dem Klassenspiel(’) M: ja ich bin ja jetzt so , der N. (nennt Figur aus dem Stück) also hab die Hauptrolle , eigentlich , (I: macht’s Freude[’]) ja! es macht auf jeden Fall Spaß so das zu proben und alles (I: hmhm) was kein Spaß macht isch find ich die Aufführung , so der ganze Proz- (I: warum?) weil ich mag die Aufre-
89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137
396 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150
10 Anhang
gung nich (I: hmhm) (schluckt) so der ganze Probenprozess wie sich alles entwickelt halt so und das Schauspielen das macht mir Spaß aber I: hmhm da vorn auf der Bühne zu stehn vor vielen Leuten (M: nein!) das macht dir[ M: [das macht mir kein Spaß , wenn ich mir sicher bin es passiert nix läuft alles gut dann macht’s mir auch Spaß aber I: du bist dann aufgeregt (M: ja , ja , sehr!) hmhm und wie war das wenn du jetzt zum Beispiel dein Gedicht vor der Klasse gesprochen hast oder deinen Zeugnisspruch warst du da nich , aufgeregt(’) M: nö , gar nich das-s , also ich hab von Anf- da isch mal einer in die Klasse gekommen der’sch jetz inzwischen wieder gegangen der hat dann erzählt mal dass er am Anfang richtich aufgeregt war da vor zu gehen und zu sprechen und , (schöpft tief Atem) das hatt ich nie ich hab kann ich mich auch nich dran erinnern dass ich jetzt aufgeregt war da vor die Klasse zu gehen und das zu (1) vorzusagen (I: hmhm) ich find wir sind ne Klassengemeinschaft (1) (I: da geht das) ja. ich bin nich aufgeregt(.) I: hmhm ja da drück ich die Daumen [Knopfdruck, Ende der Aufnahme]
10.3 Transkript Interview mit „Filip“/Schule A (28.2.07) Voraus ging ein Unterrichtsbesuch in der achten Klasse der Schule A; das nachfolgende Interview findet in einem Fachunterrichtsraum statt. Beginn des Interviews, Anfang der Aufnahme und des Transkripts sind identisch. (Das Interview mit Filip dauerte 12 Min. und 8 Sek.)
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I: so (,) ich nehm’s auf (F: ja.) weil ich’s genau wissen will [ F: jaa was denn? I: ja (,) was du jetzt sagen kannst über deinen (,) Zeugnisspruch zum Beispiel (,) em der is ja (1) kurz (F: ja.) (,) kannst du ihn mir mal sagen (,) (F: ähm) ob er stimmt (,) was ich da aufgeschrieben hab F: (sehr schnell:) ähm sich zurückzuh- ähm sich zurückhalten an der Erde keinen Schatten werfen auf andere im Schatten der anderen leuchten* (*Verfasser: Reiner Kunze) I: hmhm (1) das ist ein Spruch der mir aufgefallen is (,) deswegen will ich mit dir sprechen (,) was er für dich (,) sozusagen (,) bedeutet (1) was du daraus (,) hörst (,) als Botschaft für dich F: ööh (1) eigentlich also als ich ihn bekommen hab (schöpft Atem) ich versteh ihn bis heut noch nich was der Spruch soll (1) weißt du es sind ja wirklich so Gegensätze in diesem Spruch (,) (I: hmhm) also erst Mal im Schatten der anderen leuchten und dann (1) keinen Schatten werfen auf andere (1) wie soll- m (,) keine Ahnung (2) also I: hmhm (1) ich kann’n ja mal lesen (,) sich zurückhalten an der Erde (2) was könnte das bedeuten F: mm-jaa vielleicht dass ich nich immer so (mit einem beim Sprechen hörbaren Schmunzeln:) (,) auf-brausend (,) sein sollte (2) I: aber an der Erde (1) sich zurückhalten an der Erde? (1) heißt das (,) dass ich mich hier als Mensch zurückhalte und nicht wie du sagst aufbrausen soll (,) dann würde es doch heißen sich zurückhalten auf der Erde ne F: (kurz auflachend:) joa (,) vielleicht schon I: (1) aber es heißt an der Erde sich zurückhalten F: (2) (lacht kurz:) ja ich sag doch ich versteh es nich I: (beide lachen) hmhm weißt’n nich (,) keinen Schatten werfen auf andere (3) tust du das F: (0,5) eigentlich nich besonders
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I: nee (3) im Schatten der anderen leuchten also das sind Gegensätze die du (,) mit denen du 27 nichts anfangen kannst (F: nee (,) nich besonders) nee hat sich das auch nich verändert (F: kaum 28 hörbar, wie „mh“) (1) hast du mal den Herrn A gefragt (,) warum er dir den ausgesucht hat? (F: nee.) 29 dann mach’s doch mal (F: hüjoa kann ich machen) (I lacht) hmhm (,) wie war das früher 30 F: früher (,) wie früher jetz ganz früher 31 I: ja also bei den Zeugnissprüchen in den Jahren davor 32 F: (1) ich hatte eigentlich immer lange (1) relativ lange (I: hmhm) (1) ab der ersten Klasse immer 33 lange das is eigentlich der erste (,) (uv; „sonst“?) hatt ich immer so seitenweise 34 I (lacht kurz:) erinnerst du einen 35 F: (3) äm (,) äh (2) so in etwa (,) aber ich krieg den Spruch nich zusammen 36 I: das macht nichts du brauchst ihn ja nur 37 sinngemäß zu sagen 38 (2) also ich hatte mal einen von diesen (1) Göttern da diesen (1) Zeus 39 F: und so (1) und dann (,) der letzte (1) und einen mit so’m Hürten und nem Feuer (I: hmhm) (1) äm (,) 40 wie ging der (2) ach keine Ahnung (1) em das war der den hatt ich glaub ich jetz grad in der siebten 41 der mit dem Hirten und (,) dem Feuer (I: hmhm) (,) oder in der sechsten (,) (einige Worte uv, viel- 42 leicht „aber zusammen krieg ich ihn jetz nich“) 43 I: hmhm das macht doch nichts hast du eben vergessen 44 F: ja (wieder einiges uv) (I: bitte) ich merk die mir nich sonderlich (,) ich bin froh wenn ich die jeden 45 Montag zusammen krieg (lacht kurz auf) 46 I: (lacht mit) (,) em gibt’s da Situationen (,) em die du erinnerst wie das am Anfang war 47 F: also als ich ihn zum ersten Mal gespro- 48 chen hab 49 I: ja (,) ganz am Anfang (,) also in der zweiten Klasse (,) allererster Zeugnisspruch 50 F (schluckt): mh (,) ja ich hab irgendwie die ganzen Sommerferien über geübt und unheimlich Angst 51 gehabt dass ich den irgendwie falsch sage 52 I: joa (,) hast Angst gehabt richtig 53 54 Seite 2 Interview mit F Schule A am 28.2.07 55 F:jaa nich besonders aber schon so’n bisschen 56 I: hmhm (,) und dann (,) ging’s 57 F: hjüoa und dann ging’s 58 I: (1) wie war das denn (2) 59 versuch dich doch mal zu erinnern und zu beschreiben (1) genau 60 F: (2) jaa-m ich hab halt immer den 61 Zeugnisspruch gelernt und der war halt auch ziemlich lang und (,) ich hab immer den letzten Teil 62 nich drangekriegt (I: hmhm) (,) hab ich immer verdreht und dann hoaa (,) hab ich mich irgendwann 63 (lacht kurz:) richtig geärgert (1) aber als ich ihn dann gesagt hab ging’s eigentlich (1) wenn die ersten 64 drei Wochen halt vorbei war’n dann (,) war’s okay 65 I: hmhm (1) und die Situation selber (,) da vorne hingehn (,) die ganze Klasse 66 vor sich 67 F: ah des macht mir jetz eigentlich gar nix mehr aus 68 I: hmhm , und damals , am Anfang 69 F: ja hat schon bisschen was aus- 70 gemacht weil das erste Mal irgendwas vor Menschen machen wie auch immer (1) vor (?) hmm das 71 macht mir jetz eigentlich nix mehr aus 72 I: hmhm ja (,) wie war denn das beim Klassenspiel(’) 73 F: (2) da hatt’ch eigentlich auch 74 keine Angst also (,) gar nix das macht mir jetz eigentlich gar nichts mehr aus so vor andern was zu 75 machen 76 I: hmhm (1) worauf führst du das zurück(’) 77
398 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128
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F: (ausatmend:) öähm-ph (1) dass ich Klavier spiele und da auch vorspiele und Tennis (1 Wort uv; vielleicht „Nebenspieler“) sind auch immer Leute und alles I: hmhm (,) bist du’n guter Tennisspieler? (F: ja mittelmäßig.) I: hmhm (,) man gewöhnt sich dran Publikum zu haben (F: joa.) und stehn zu bleiben hmhm (1) und jetzt em (,) welches Gedicht hast du dir ausgewählt (1) für diese[F: für diese ähm] individuelle Gedichtpräsentation F: [das hängt bei uns zu Hause an der Wand (1) das is so’n (,) „Bla-bla-bla die-Erdeis-schön“ (lacht kurz) (1) aber von wem das is und wie das heißt weiß ich jetz noch nich ich hab’s nur gesehn und (?ein-?)mal gelesen und hab gedacht och is eigentlich ganz schön das nehm ich (I: hmhm) , aber ich hab’s jetz noch nich aufgeschrieben und mich mal näher damit befasst I: hmhm also es is jetzt nich was was du (,) aus einem aus einer großen Sammlung gesucht hast sondern es war’n zufälliger Treffer[ F: joa (,) genau (,) ich wollt eigentlich grad im Internet kucken (,) und dann hab ich was aus der Küche geholt und da hing dann an der Wand (,) dieser e-kleine Porzellanteller wo das Gedicht drauf stand (I: hmhm) (,) hängt (,) an der Wand I: hmhm (,) ah ja (,) und das is vielleicht ja auch nur so’n Sinnspruch wie er manchmal (,) auf irgendwelchen Kalenderblättern steht (,) (F etwas zögerlich: joaa) oder isses von nem berühmten Dichter F: (2) ich glaub so’n mittelmäßig (,) berühmter (1) aber den Namen (2-3 Worte uv) (,) kam mir jetz grad (nich?) (lacht:) ich weiß jetz nich’ch hab keine Ahnung, (mit dynamischem Akzent:) ich hab’s nur einmal gelesen (,) ich dachte jaa es is es is ganz schön das Gedicht och nimmst das I: hmhm genau , und der Herr A war einverstanden F: (1) ja ich hab ihn jetz noch nich gefragt aber (,) das is eigentlich’n ganz normales Gedicht da (,) muss er mit einverstanden sein da gibt’s gar kein Problem mit dem Gedicht I: hmhm (,) worüber (,) ist em (,) also was ist sein Thema F: beim Gedicht? (I: ja.) (1) hm (,) jaa also das Gedicht is ja das Thema (,) praktisch I: na ja ich meine (,) gut (,) aber was ist denn da angesprochen geht’s da um (,) ein geschichtliches Ereignis (,) geht’s da um Liebe geht’s da um Natur [in dem was du dir gewählt hast F: jaa em (,) mehr oder weniger Liebe Natur und einfach dass die Welt schön is und dass man sich dran erfreuen soll dass die Welt schön is (I: hmhm) (,) so ungefähr is das Gedicht I: hmhm (,) hat dir das gefallen daran
Seite 3 Interview mit F Schule A am 28.2.07 F: ja mir hat auch das (,) ja das hat mir gefallen (,) und (,) wie das Gedicht geschrieben war war auch ganz schön I: hmhm (1) hat sich das gereimt F: (0,5) hmhm ja es hat sich gereimt I: hmhm (,) wie ist das denn bei den Gedichten die ihr hier miteinander (,) em im Lauf der Jahre gesprochen habt? Fällt dir da noch eins ein was dir (,) besonders (,) ja eindrucksvoll war (F: eindrucksvoll) ja was dir besonders gefallen hat oder auch dass du sagtest nein F: (7) hm (,) also Gedichte hatten wir eigentlich in letzter Zeit nich mehr so viel wir hatten immer nur (,) Lieder (1) (kaum hörbar:) und alles I: hmhm (,) und davor (,) die ganzen Jahre[
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F (schnell, leise:) [ja die ganzen Jahre (1) öhm ich glaub wir hatten mal eins mit ner Rose (?Hose?) das hat mich irgendwie aufgeregt weil ich das blöd fand (,) (I:hmhm) das war irgendwie so blabla die Rose geht auf (stöhnt:) ooch[ I: [mit ner Rrose (F: ja.) hmhm ich hab verstanden mit ner Hose F (lacht kurz:) nee das is (,) also ich glaube das war eins von der Rose (,) (leise auflachend:) ich war eigentlich nie so richtig beteiligt an diesem morgigen Teil und ich versuch immer noch richtig wach zu werden I: (lacht leise:) hmhm (,) macht dir das keinen Spaß (F: nich sonderlich.) (2) und em (2) gibt’s welche die (,) halt doch (,) obwohl du immer müde warst an dieser Stelle (,) wo du gedacht hast ach das is doch gut dass ich das jetzt kenne (,) das Gedicht (1) ist das bei allen gleich gewesen F (2) (sehr leise:) das ist gut dass ich das Gedicht kenne hm (4) also (,) ich kenn eigentlich nich sonderlich (lacht beim Ausatmen auf) viele Gedichte [ I: [ich meine die du hier morgens mitgemacht hast sind die alle so an dir vorübergerauscht[ F: [jaa (,) ja das geht eigentlich morgens so ziemlich an mir vorüber und dann wenn wir irgendwas anfangen richtig zu machen dann werd ich eigentlich erst wach I: hmhm (,) wie geht denn das den andern da (,) was meinst du(’) F: ja also ich denk mal den Jungs die da hinten sitzen (,) relativ genau so (,) man is froh wenn der Teil vorbei is und dann ah (jaa?) jetz gehts endlich los I (lacht): war das früher anders F (atmet tief ein:) (1) joa (,) ja schon I: (1) wann hat sich das geändert F: (1) ich würd mal sagen jetz so (,) in’n letzten zwei drei Jahren (I: hmhm) (,) zwei (,) drei Jahre so ungefähr I: hmhm (,) so ab sechstem Schuljahr vielleicht F: (1) ja (,) weil früher da war man schon froh halt’n bisschen weniger Unterricht und jetzt is man froh wenn’s’n bisschen mehr (? 1 Wort uv?) I: hmhm (,) also der Unterricht fängt für dich erst an wenn’s (,) wenn die Epoche beginnt sozusagen[ F: [ja mehr oder weniger oder wenn man davor irgendwas Spezielles bespricht I: hmhm (,) so wie heute Morgen (F: ja (,) zum Beispiel) ja (,) aja (,) das ist ja auch interessant (,) hmhm (,) gut! also ich will dich nich länger quälen (F lacht kurz: mhm!) nur vielleicht (,) zum Schluss noch (,) wenn du jetzt so (,) diese ganzen Sprüche (,) die Herr A für dich ausgesucht hat (,) wenn du die jetzt nimmst (,) für dich (,) speziell (,) also die Zeugnissprüche (,) hast du kannst du da sagen eh dass dir das irgendwie in deinem Leben (,) geholfen hat wenn du Probleme hattest oder wenn du (,) dich verliebt hast oder wenn du (,) em einsam warst (,) oder wenn du dich geärgert hast (,) hast du da vielleicht ne Situation (,) gehabt wo du da an so einen Spruch gedacht hast (,) und dachtest hmhm das ist genau darin ausgedrückt (1) so wie’s mir jetzt geht F: (2) nee weil ich hatte eigentlich immer so (1) ja so so auch (?ach?) so nach dem Motto die-Welt-is-schön-Sprüche (1) wenn’s mir halt mies geht oder irgendwas is dann bin ich meist in mei’m Zimmer also mach Musik und mecker alle an
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I: hmhm (lacht) ei ja klar (,) also da ist kein Gedicht irgendwie (,) was dir da in’n Sinn kommt (F verneinend: mh-mh.) Seite 4 Interview mit F Schule A am 28.2.07 hast du auch schon mal eins selbst gemacht? (F: n Gedicht?) hmhm (,)(F: ne.) oder’n Song geschrieben F: nee ich hab zwar mal was für’s Klavier geschrieben aber (,) sonst nix (I: komponiert hast du) ja. I: das hast du gemacht (F: hmhm) is doch schön (,) hast du’s auch vorgespielt oder (,) den Eltern F: öm joa den Eltern und in der Klavierstunde hatten wir das dann besprochen weil wir hatten mal das Thema so Komponiern I: in der Klavierstunde (F: ja.) machst du das heut noch F: selten (1) als kleiner Junge hab ich das ganz oft gemacht mich einfach ans Klavier gesetzt und irgendwas (,) das wird in letzter Zeit immer seltener (,) mit Hausaufgaben und dann is man doch (?noch?) froh wenn man dann mal (1) bisschen mehr Zeit hat um mal rauszugehn I: hmhm (,) klar (2) aber ich meine jetzt Klavierspielen (,) das tust du noch(’) F: ja (,) das tu ich noch jeden (,) Donnerstag Mittwoch und Freitag hab ich Tennistraining I: hmhm das sind deine Hobbys (F: hmhm) schön (,) vielen Dank (,) dass du gekommen bist F: h-jo! Ende bei 12.08
10.4 Transkript Interview mit Celia/Schule C (9.3.2007) 1 I: So. jetzt geht’s weiter. (9) ja. gut. (2) können wir anfangen? (C: hmhm) wir ham uns noch nicht 2 gesprochen ne Carla? (ja.) darf ich dich bitten mir’n bisschen zu erzählen (1) was du an dem Gedicht 3 so schön fandst das war jetzt’n bisschen kurz (ja.) und genau das interessiert mich eben 4 5 6 7 8
C: ja also ich fan-also ich mag halt Liebesgedichte verdammt gern ich mach auch zu Hause schreib ich manchmal Gedichte (hmhm) und (1) ich (1) fand einfach den Inhalt also insgesamt das Ganze dass es’n bisschen traurig ist und ermutigend (1) dass es also dann doch wieder was geworden ist und (2) also wie es schon aussagt also „dem Wind also dem Schnee und dem Wind“ dass das (1) durch die Natur geht und (2) eja (4)
9 I: ich hab’s mitgebracht (2) ja jetzt müsst man ja mal gucken (1) dass es dann doch was wird hast du 10 gesagt ne (hmhm) kannst du dir so’ne Szene vorstellen? was spielt sich da ab wie würdest du das 11 jetzt (1) verfilmen zum Beispiel(’) 12 13 14 15
C: emh bei dem „lieber durch Leiden möchte ich mich schlagen“ (1) also da nehm ich mal an dass man da meint also (1) man em (1) -so ma leidet lieber und schlägt sich durch als als so ne Freude zu ert-also (1) also so’ne Freude zu ertragen also em (schluckt) (1) statt irgend was (3) (atmet aus) hm wie soll ma’s erklärn em (2)
16 I (liest vor): lieber durch Leiden möcht ich mich schlagen , als so viel Freuden des Lebens ertragen“ 17 (3) lei-ja was (1) meinst[ du jetzt(’) 18 C: [dass em (2) also was[
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I: [was möchte er lieber hm(’) oder was möchte er oder sie lieber (C: em-m) leiden oder 19 die Freuden der Lie-des Lebens ertragen(’) (1) 20 C: also lieber durch also Leiden (2) (hmhm) möchten sie sich schlagen als (2) durch die Freude zu 21 gehen 22 I: hmhm (1) seltsam ne(’) (hmhm) (2) ist es ein Mann oder ist es eine Frau die hier spricht(’)
23
C: mmn Mann würd ich sagen
24
I: hmhm warum(’)
25
C: eh-ss hört sich eher so nach nem Mann also’n Mann schlägt sich eher durch als ne Frau durch 26 Wind und Regen und er würd halt mehr für die Frau machen (hmhm) also würd alles für sie tun 27 I: hmhm und du sagtest ja dass es wieder gut werde ne (hmhm) wo liest du das(’)
28
C: also „Krone des Lebens Glück ohne Ruh Liebe bist du“ also (hmhm) (1) also „wie soll ich fliehen wälderwärts ziehen“ also (1) wie soll ich dort hingehen und (1) muss ich eigentlich dort hin (ja.) und also dass-s halt (1) doch nich alles vergebens is und die Krone und das Leben und das Glück und die Ruhe also das is halt alles die Liebe und (1) das gibt ihm halt sozusagen die Kraft
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I: hmhm (1) jaa. ehm hast du in diesen Jahren in denen du hier warst (1) em bist du von der ersten 33 Klasse an hier(’) (nee.) seit wann bist du hier(’) 34 C: seit der dritten
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I: hmhm und em hat dir da dieses Gedichte-Sprechen viel bedeutet oder wie war das für dich im 36 ersten Jahr(’) 37 C: also (1) das war am Anfang war’s ziemlich ungewohnt weil ich war ja auf ner staatlichen Schule in I. und manches war halt ziemlich ungewöhnlich ich hab mich gefragt was soll der Quatsch da jetz einfach so nach vorne zu gehen und Gedichte zu sprechen jetz is mir eigentlich klar geworden dass es nur ne Übung is wenn ma’jetz ma auf der Bühne steht und so was dass man sich also auch mal was traut also nich dass ma Angst haben muss (hmhm) jetz auch vor seiner Klasse oder so (1) dass man da mehr Mut kriegt und so
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I: hmhm das war nur ne Übung meinst du die ganzen Gedichte vorher (ja.) erinnerst du dich an eines 44 was dir nicht nur als Übung sondern auch inhaltlich irgendwie bedeutend war oder was dich aufge- 45 regt hat oder von dem du gesagt hast (1) das ist jetzt so spannend (mne.) das macht mir Freude 46 C: nee eigentlich nich
47
I: welche habt ihr denn gesprochen?
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C: emm (lächelt) eh die weiß ich alle fast gar nich mehr s’is schon so lange her (1) em (2) Gott 49 (lächelt wieder) fällt mir jetz grad gar nich ein 50 I: lass dir Zeit (3) dieses Jahr letztes Jahr
51
C: (hmhm mm-) (3) fällt mir jetz der Zeugnisspruch grad gar nich mehr ein (lächelt wieder) (I: dein 52 Zeugnisspruch[’]) ja mein Zeugnisspruch 53 I: der fällt dir ein oder nich
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C: nee fällt mir jetz grad nich ein
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I: hast du überhaupt einen(’)
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57 C: ja ich hab einen (lacht kurz auf, wie ein kleines Glucksen) 58 I: sagt ihr den nich morgens(’) 59 60 61 62
C: dooch also also auch so reihrum freitags (30 Sek.) mir fällt der Anfang jetz nich ein (1) „laut“ em (1) irgendwas mit „laut“ am Anfang „laut“ eh (1) em also irgendwas mit der Nachtigall und dem Käfig da em singt die Nachtigall im Käfig (hmhm) (2) (ja macht nichts) (C lächelt) hmhm fällt mir jetz echt nich ein
63 I: und das , ist ja jetzt ein Liebesgedicht was du da gewählt hast (hmhm) auch die Rebecca da ist es ja 64 ein bisschen ähnlich und em bedeutet dir das viel weil es inhaltlich dich jetzt berührt oder warum hast 65 du’s jetzt gewählt(’) 66 C: jaa inhaltlich also es hat mich schon also berührt hat mich angesprochen 67 I: hmhm warum(’) 68 C: weiß nich ich find den Inhalt einfach so schön so irgendwie alles die ganze Situation da drin 69 I: hmhm (1) kannst du’s verstehn. (ja.) (schmunzelnd:) geht’s dir selber so(’) (lächelt: eh nee) nich so 70 (1) ja und du selber schreibst auch Gedichte (1) aber wenn du schreibst das ist ja nicht eine Übung 71 um dann auf der Bühne zu stehn (nee verneinend: m-m) warum dann(’) 72 C: ich weiß nich ich mach das einfach aus ja also aus Hobby gern das mal so ausprobiern so einfach 73 mal versuchen zu reimen 74 I: hmhm richtig mit nem Rhythmus und[ja.] und nem Endreim (hmhm) schade (1) hast du nich eins 75 dabei oder so oder weißt du eins auswendig was du mir sagen könntest?(2) (mm) oder auch wolltest? 76 C: em ja also (,) an einer Rose habe ich gerochen (,) an einem Dorn habe ich mich gestochen (,) mit 77 Blut habe ich geschrieben (,) für immer werde ich dich lieben (.) 78 I: (2) hmhm ein schönes Liebesgedicht (hmhm) für deinen Freund (ja.) toll hmhm und em da ist es ja 79 so dass du das ausdrückst was du fühlst und warum tust du das jetzt in Gedichtform (2) hilft dir das? 80 C: (lächelt wieder, etwas verlegen) weiß nich also (3) 81 I: macht dir das irgendwie leichter oder wie (1) machst du’s nur für dich oder zeigst du’s ihm 82 C: (2) nee also eigentlich nur für mich aber ja 83 I: hmhm hilft dir das(’) 84 C: joa 85 I: wobei(’) 86 C: weiß nich (ausatmend:) hmm (2) in der Liebe also (10 sec) das is irgendwie beruhigend irgendwie 87 so em einfach was über Liebe zu schreiben oder über sich selber (hmhm hmhm) lernt ma’sich 88 manchmal besser kennen als man (1) irgendwie (1) denkt (3) ja hm (lächelt wieder kurz) hmhm 89 90 91 92
I: ja und wie ist das ging dir das auch vorher schon so mit anderen Ereignissen oder anderen Gegebenheiten zum Beispiel einem Naturerlebnis oder einem Streit oder wie , hast du das dann auch in Gedichtform ausgedrückt für dich (1) oder ist das jetzt nur weil dich dieses Verliebtsein so ergreift (emmm) ist das neu das Dichten(’)
93 C: jja eigentlich schon also ich hab früher schon manchmal auch im Internet immer nach Liebesge94 dichten gesucht und (hmhm) (1) ja ich schreib auch gern und so und hab ich ge-m einfach gedacht ja 95 könnt ich einfach mal anfangen selber mal zu schreiben (hmhm) em (2) ja
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I: also jetzt erst (hmhm) wie lange ist das her dass du das zum ersten Mal gemacht hast? (1) kannst 96 du das noch sagen(’) 97 C: (1) mm vielleicht vorm halben Jahr
98
I: hmhm (1) und vorher war das alles irgendwie[
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C: [ nee also hab ich einfach mal so also Freundinnen ham mir auch immer mal 100 Gedichte gegeben und vorgelesen fand ich das einfach schön (hmhm) hab dann auch mal im Internet 101 geschaut und so (hmhm) und dann ja 102 I: (1) kannst du eins sagen was dich besonders em was dir besonders gut gefallen hat außer dem 103 jetzt(’) 104 C: ehm jaa das mit der Stadt fand ich auch schön „Die Stadt“ [
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I: von Storm ja(’)
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C: ja. das find ich auch schön (4) hmm (2) und dann mit der em (1) der eh Schnupftabakdose (hmhm) 107 das fand ich auch witzig also die Gedichte (1) 108 I: hmhm
die humorvollen(’)
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C: hmhm mag ich auch
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I: (2) was hast du für nen Eindruck von den andern hörn die euch zu hört ihr euch gegenseitig zu(’)
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C: (1) nee ich glaub nich so die finden das eher langweilig [
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I:
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[die Gedichte (hmhm) meinst du
C: ja. ja also ich weiß nich (2)
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I: vermutest du’s nur oder weißt du’s
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C: ich vermut’es nur (2) (hmhm) weiß nich (atmet wieder lächelnd aus) hm!
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I: hmhm ja , vielleicht erinnerst du ja eines von den Naturgedichten die ihr vielleicht gesprochen habt in 117 der Klasse zusammen (1) oder ne Ballade oder was (1) habt ihr schon mal gesprochen , ne Ballade(’) 118 C: das kenn ich gar nich , Ballade
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I: doch als ich bei euch war letztes Mal (1) was habt ihr da gesprochen (1) ach ja von em den „Erlkö- 120 nig“ 121 C: ach so so was! ach so ja okay
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I: da ist ja immer ne ganze Geschichte die sich da abspielt so was (hmhm) (1) geschichtliche Stoffe 123 (ja.) große Szenen wo mords Streit entsteht oder auch ne Tragik (hmhm) wie war das für dich 124 C: also ich fand’s intressant also (1) s’is jetz nich grad so mein Gebiet also was die Frau C für Ge- 125 dichte hat das mag ich nich jetz grad so aber so Ärger und Streit und so also über’n Tod und so was 126 das (1) mag ich eigentlich schon 127 I: hmhm über’n Tod auch (hmhm) kennst du eins über den Tod(’)
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C: emm nee jetz eigentlich nich so (1) also em (1)
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130 I: und jetzt in Bezug auf die Gedichte von Frau C. (1) da erinnere ich nur dass ihr ja auch mehrere 131 hattet von denen ihr auswählen konntet womit ihr anfangen wolltet zu rezitieren , also mehrere 132 Balladen 133 C: jaa „Der Handschuh“ und so was 134 I: hmhm , das habt ihr auch gesprochen (hmhm) und wie war jetzt das für dich diese Situation zu 135 erleben das gemeinsam vorzutragen in der Klasse (1) es war ja immer gemeinsam ne? (ja) oder habt 136 ihr auch schon öfter was einzeln gesprochen(’) 137 C: sehr wenig mm (1) ja es is halt (1) ja ermutigend irgendwie dass ma’halt zusammen spricht statt 138 so einzelnt (?) (hmhm) das is traut man sich auch mehr find ich (hmhm) einzelnt is man so (1) allein 139 und (atmet lächelnd aus) so (1) ja traut man sich irgendwie nich so mehr 140 I: hmhm seid ihr das nicht gewöhnt(’) 141 C: (1) vom Klassenspiel viel- Klassenspielen vielleicht 142 I: von den Zeugnissprüchen(’) [ach so] da seid ihr doch auch allein 143 C: doch ja aber (2) so ich mag’s nich so als so[nee(’)] alleine da vor zu stehn und (1) s’genau so wie 144 bei Referaten s’mag ich au nich wir schreiben ja jetz also ich hab jetz auch am Freitag n Referatvor145 trag ich mag das nich so wirklich hab ich immer so viel Bammel davor 146 I: jetzt kommenden Freitag (ja.) und was hast du für’n Thema(’) 147 (Transkript-Unterbrechung ab 49.18 bis 51.02 Celia erzählt, sie habe als Abschlussarbeit für ihren 148 Freund ein Samurai-Anzug genäht) 149 I: ja. wie hat sie das denn eigentlich eingeführt immer wenn ein Gedicht kam , hat sie euch was 150 erzählt oder hat sie- habt ihr darüber gesprochen oder habt ihr’s einfach nur zusammen rezitiert 151 152 153 154
C: ja sie hat jetz halt gesagt sie hat uns wieder’n Gedicht mitgebracht hat sie’s uns erst mal vorgelesen und dann also (lacht auf) wie wir halt sind wir motzen dann halt rum oder uns gefällt’s einfach nicht (hmhm) und dann halt spricht sie uns das vor und dann müssen wir’s nachsprechen (hmhm) und das immer mit der Zeit lang und dann irgendwann sprechen wir’s auch allein
155 I: hmhm und war das dann auch so dass ihr euch das mit der Zeit so angeeignet habt dass es euch 156 gefallen hat oder war das immer so was Lästiges (ja also) was genervt hat 157 C: ja irgendwie schon so (1) für mich jetz eher schon das is immer wieder das Gleiche und immer 158 jeden Morgen n Gedicht sprechen das is irgendwie schon (hmhm) komisch (.) 159 I: ich hab ja vorhin leider vergessen dich zu fragen du sagtest das is nich so gut für dich wenn du 160 alleine vorne stehst oder du magst es nich so gerne (1) jetzt bei diesem Gedicht „Rastlose Liebe“ 161 würdest du das auch lieber mit andern zusammen sprechen(’) 162 163 164 165 166 167 168 169 170
C: mm nee! das nich nee. (warum nich?) ich weiß nich also (1) ich hab das Gefühl die mögen Liebesgedichte nich so ich bin eher so fast der Außenseiter von der ganzen Klasse ja so (ja?) (1) alle mögen sie mehr eins oder die ganze Klasse is eins und ich bin so’n richtiger Außenseiter von der ganzen Klasse (hmhm) ich versteh mich nich grad wirklich mit meinen Klassenkameraden (hmhm) so (1) s’hat auch’n richtichen Grund dafür (ja? welchen?) (1) die I. die wo ich reinkam in die Klasse die hat mich gemobbt also bis hier hoch die ganzen vier fünf Jahre lang hat die mich gemobbt (hmhm) und dann kamen noch andere Schüler dazu die ham das dann mitgemacht also die traun sich nich also ich hab mich dann einfach mal gegen sie gewehrt und alle fanden das dann irgendwie gut und ich hab so das Gefühl dass sie sich nich trauen gegen die I sich zu wehrn (hmhm) ganz einfach mal so
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I: hmhm (2) und jetzt ist es weg(’)
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C: ja also (1) sie versucht’s manchmal zwar noch aber (1) kriegt se dann einfach nich hin
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I: ihr könnt euch nich leiden hm(’)
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C: nee überhaupt nich wir zoffen uns zicken uns an
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(C erzählt von sich, ihren Erfahrungen in der Klasse und mit anderen Mitschülerinnen und –schülern 175 aus höheren Klassen und ihrem Freund aus der 10. Klasse; C ist ein Jahr älter als die anderen, da 176 sie Frühgeborene sei) 177 I: jaa. ganz herzlichen Dank (hmhm) für das was du mir gesagt hast (atmet lächelnd aus: hmhm 178 bitte!) auch vor allen Dingen für das schöne Gedicht , ich hab das jetzt aufgenommen aber das wird 179 ja alles anonymisiert du brauchst keine Sorge zu haben (lächelt wieder: okay.) 180 I: danke schön.
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C: okay. bitte.
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(Ende des Interviews)
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