Bettina Bruns Grenze als Ressource
Bettina Bruns
Grenze als Ressource Die soziale Organisation von Schmuggel am Rand...
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Bettina Bruns Grenze als Ressource
Bettina Bruns
Grenze als Ressource Die soziale Organisation von Schmuggel am Rande der Europäischen Union
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl. Dissertation an der Universität Bielefeld, 2009.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Katrin Emmerich / Tanja Köhler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16952-1
Danksagung
Bei der Erstellung der vorliegenden Dissertation, die im Rahmen des von der Volkswagen-Stiftung geförderten Projektes „Grenze als Ressource“ entstand, habe ich von verschiedenen Seiten große Unterstützung erhalten, ohne die die Durchführung meiner Untersuchung kaum möglich gewesen wäre. Bedanken möchte ich mich in erster Linie bei den Menschen an der polnisch-russischen Grenze, die mich während meiner Feldforschung uneigennützig unterstützt haben. Allen voran gilt mein Dank den Schmugglerinnen und Schmugglern, die sich mir anvertraut und mich an ihrem Alltag haben teilhaben lassen. Die Interviews mit ihnen sind die wichtigste Quelle meiner empirischen Analysen. Dank gebührt aber auch allen anderen Menschen in Bartoszyce, die sich Zeit für mich genommen, Wege geebnet, mich informiert und so zum Gelingen meines Forschungsaufenthaltes beigetragen haben. Besonderer Dank gilt meinem Betreuer Prof. Dr. Ulrich Mai, der mich immer wieder motiviert und während der gesamten Promotionszeit durch konstruktive Gespräche und aufmunternde Rückmeldungen in angenehmer Atmosphäre unterstützt hat. Auch Dr. Mathias Wagner bin ich für seine hilfreichen Anmerkungen, praktischen Hinweise und seine moralische Unterstützung während der Feldforschung zu großem Dank verpflichtet. Der International Graduate School in Sociology (IGSS) an der Universität Bielefeld danke ich für spannende Kolloquien und für ein offenes Ohr bei allen Fragen. Weiterhin danke ich dem Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig für die nötigen Freiräume und für die kooperative und diskussionsfreudige Arbeitsatmosphäre, besonders im Forschungsprojekt „Geographie[n] an den Rändern des europäischen Projekts“, wodurch ich wertvolle Impulse gewonnen habe. Dank gilt auch dem Deutschen Akademischen Austauch Dienst für ein gewährtes Jahresstipendium, das den Feldforschungsaufenthalt erst ermöglicht hat. Nicht zuletzt möchte ich mich bei all denjenigen bedanken, die durch Korrekturlesen, Formatierungsverfeinerungen und motivierende Worte zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben, allen voran meinen Eltern. An dieser Stelle seien noch einige formale Anmerkungen gemacht: In der Dissertation wird durchgehend die sozialwissenschaftliche Zitierweise verwendet. Aufgrund besserer Lesbarkeit werden ausschließlich maskuline Endungen benutzt, die Männer und Frauen gleichermaßen mit einschließen. Alle Personennamen wurden anonymisiert. Bettina Bruns
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis ............................................................................................. 9 Abbildungsverzeichnis ............................................................................................ 10 Tabellenverzeichnis ................................................................................................. 11 1
Einleitung .................................................................................................13
2
Theoretischer Rahmen.............................................................................21 2.1 Transformation aus theoretischer Sicht ....................................................21 2.1.1 Transformation als zielgerichtete Modernisierung .............................21 2.1.2 Transformation als offener Aushandlungsprozess.............................23 2.2 Der Transformationsprozess in Polen ......................................................27 2.2.1 Voraussetzungen des Transformationsprozesses in Polen: Staat versus Gesellschaft..................................................................................28 2.2.2 Merkmale des Transformationsprozesses in Polen............................33 2.3 Theorie der alltäglichen Lebensführung....................................................40 2.4 Armutskonzepte: Armut als subjektorientierter Prozess ........................44 2.5 Ökonomische Strategien armer Haushalte ...............................................46 2.5.1 Die informelle Ökonomie .....................................................................54 2.5.2 Die informelle Ökonomie in Polen......................................................57 2.6 Fazit................................................................................................................60
3
Schmuggel in der Grenzstadt Bartoszyce ................................................61 3.1 Die Stadt Bartoszyce....................................................................................61 3.1.1 Historischer Abriss: Von Bartenstein nach Bartoszyce .....................61 3.1.2 Das Erbe der Transformation: Die sozioökonomische Situation in Bartoszyce seit Anfang der 1990er Jahre.........................................66 3.2 Hintergrund: Die polnisch-russische Grenze...........................................77 3.2.1 Historische Entwicklungslinien ............................................................77 3.2.2 Die Grenze heute: Die Grenze zwischen Polen und Kaliningrad in ihrer Funktion als EU-Außengrenze................................................82 3.3 Synthese: Bartoszyce als Grenzstadt..........................................................93 3.4 Bemerkungen zum Forschungsstand ........................................................98
8
Inhaltsverzeichnis
4
Zur Methode........................................................................................... 101 4.1 Datenerhebung .......................................................................................... 101 4.1.1 Ethnographische Feldforschung........................................................ 102 4.1.2 Ethnographische Feldforschung in Bartoszyce ............................... 104 4.2 Datenauswertung....................................................................................... 121
5
Analyse des empirischen Materials........................................................123 5.1 Anatomie des Schmuggels: Bartoszyce – Bagrationowsk und zurück ............................................................................................................. 123 5.1.1 Rahmenbedingungen des Schmuggels .............................................. 135 5.1.2 Ausgestaltung des Schmuggels durch Schmuggler.......................... 149 5.1.3 Fazit ....................................................................................................... 173 5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung............. 175 5.2.1 Vom Einzelfall zum Typus: Die Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen ....................................................................... 176 5.2.2 Zuordnung der Fälle............................................................................ 180 5.2.3 Charakterisierung der gebildeten Typen ........................................... 183 5.2.3.1 Typ „professioneller Unternehmer“: „Geld muss immer im Haus sein“ .............................................................................. 184 5.2.3.2 Typ „starker Existenzsicherer“: „Also hier geht es nur um die Kinder“................................................................................... 194 5.2.3.3 Typ „prekärer Multiverdiener“: „Wir haben zwei Einkommen, aber sind gezwungen, nach Russland zu fahren” .. 206 5.2.3.4 Typ „pragmatischer Kompensierer“: „Das ist illegale Arbeit. Aber das ist verdientes Geld dank meiner Arbeit“.... 219 5.2.3.5 Typ „abenteuerlustiger Nebenverdiener“: „Ich fuhr so ein bisschen zum Vergnügen, zur Unterhaltung“ ......................... 236 5.2.4 Fazit ....................................................................................................... 247
6
Schlussbemerkungen ............................................................................ 255
7
Bibliographie ..........................................................................................261
Abkürzungsverzeichnis
Abb. BIP BTF bzw. ca. CBOS CBST DDR DGO EU EX f. ff. FN GOPS k.A. km/h Kpt. MOPS o.J. o.S. PGR PKS POM PZPR Tab. vgl. WM z.
Abbildung Bruttoinlandsprodukt Baltiskaya Tabachnaya Fabrika – Baltische Tabakfabrik beziehungsweise circa Centrum Badania Opinii Spoecznej – Zentrum für gesellschaftliche Meinungsforschung Cross Border Small-Scale Trade Deutsche Demokratische Republik Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde e.V. Europäische Union Experteninterview folgende Seite folgende Seiten Fußnote Gminny Orodek Pomocy Spoecznej – Sozialamt der Gemeinde keine Angabe Kilometer pro Stunde Kapitel Miejski Orodek Pomocy Spoecznej – Sozialamt der Stadt ohne Jahresangabe ohne Seitenzahl Pastwowe Gospodarstwo Rolne – Staatlicher landwirtschaftlicher Großbetrieb (Przedsibiorstwo) Pastwowej Komunikacji Samochodowej – Staatliches Verkehrsunternehmen Pastwowy Orodek Maszynowy – Staatliche Maschinen-TraktorenStation Polska Zjednoczona Partia Robotnicza – Polnische Vereinigte Arbeiterpartei Tabelle vergleiche Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie Zoty
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 Modell der Armutsanalyse ................................................................................46 Abb. 2 Ökonomische Haushaltsstrategien ..................................................................53 Abb. 3 Arbeitslosenquote Dezember 2006 in Polen..................................................68 Abb. 4 Arbeitslosenquote in der Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie im Dezember 2006 nach Kreisen ..........................................................................69 Abb. 5 Existierende und geplante Autobahnen in Polen 2005.................................72 Abb. 6 Übergänge an der polnisch-russischen Grenze..............................................86 Abb. 7 Anzahl der abgefertigten Personen von 1992 bis 2006 am Übergang Bezledy und an gesamter Grenze.....................................................................87 Abb. 8 Auf der Fahrt zum Grenzübergang Bezledy .............................................. 125 Abb. 9 Verkaufsbungalows vor Bagrationowsk....................................................... 127 Abb. 10 Schmuggelgut „Jin Ling“ -Zigaretten ........................................................... 128 Abb. 11 Schmuggelgut Russischer Wodka ................................................................. 128 Abb. 12 Schmuggelgut Zucker..................................................................................... 129 Abb. 13 Schmuggelinfrastruktur und an ihr verdienende Akteure.......................... 140 Abb. 14 Vertrauens- und Misstrauensbeziehungen zwischen Akteuren in der Schmuggelinfrastruktur .................................................................................. 150 Abb. 15 Egozentriertes Netzwerk von Rafa ............................................................. 187 Abb. 16 Egozentriertes Netzwerk von Lucyna.......................................................... 198 Abb. 17 Egozentriertes Netzwerk von Joanna .......................................................... 211 Abb. 18 Egozentriertes Netzwerk von Jerzy.............................................................. 230 Abb. 19 Egozentriertes Netzwerk von Hanna........................................................... 240
Tabellenverzeichnis
Tab. 1 Armutsentwicklung in den Jahren 1997-2006 in Polen (Betroffene in Prozent) ...............................................................................................................36 Tab. 2 Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Polen in Prozent, Dezember 1997-2007 ........................................................................................36 Tab. 3
Wichtige Industriebetriebe in Bartoszyce in den 1960er bis 1980er Jahren ................................................................................................... 65
Tab. 4
Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Polen und der Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie (WM) in Prozent, Zahlen jeweils für Dezember 1991-2007............................................................................................................70
Tab. 5
Firmen in der Sonderwirtschaftszone in Bartoszyce 2006 ...........................73
Tab. 6
Durchschnittliche monatliche Entlohnung in z und Euro (in Klammern) in Polen, der Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie (WM) und dem Kreis Bartoszyce ...................................................................74
Tab. 7
Anteil der von relativer Armut Betroffenen in Polen und der Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie (WM).................................................75
Tab. 8
Preise von Zigaretten, Alkohol und Benzin 2005/2006...............................81
Tab. 9
Anzahl der die Grenze überquerenden Fahrzeuge am Grenzübergang Bezledy in den Jahren 2000-2005.....................................................................88
Tab. 10 Menge der vom Zoll gefundenen Zigaretten am Grenzübergang Bezledy von 2000 bis 2005 in Päckchen ........................................................90 Tab. 11 Übersicht der verwendeten Methoden ........................................................ 114 Tab. 12 Sample der geführten Experteninterviews .................................................. 115 Tab. 13 Sample der Interviewpartner der problemzentrierten Interviews ........... 119 Tab. 14 Übersicht der Interviewpartner .................................................................... 120 Tab. 15 Rollen und ihre Darstellungen von Schmugglern und Zöllnern .............. 167
12
Tabellenverzeichnis
Tab. 16 Zuordnung der Fälle zu Kategorie 3: „Schmuggel in Kombinationen von Einkommensquellen“ ............................................................................ 181 Tab. 17 Merkmalsraum und Typenbildung .............................................................. 182 Tab. 18 Zusammensetzung der schmuggelbedingten Einnahmen und Ausgaben bei einer Fahrt von Rafa ............................................................ 190 Tab. 19 Zusammensetzung der monatlichen Einnahmen und Ausgaben von Rafa ......................................................................................................... 191 Tab. 20 Zusammensetzung der schmuggelbedingten Einnahmen und Ausgaben bei einer Fahrt von Lucyna ......................................................... 202 Tab. 21 Zusammensetzung der monatlichen Einnahmen und Ausgaben von Lucyna .............................................................................................................. 202 Tab. 22 Zusammensetzung der schmuggelbedingten Einnahmen und Ausgaben bei einer Fahrt von Joanna ......................................................... 214 Tab. 23 Zusammensetzung der monatlichen Einnahmen und Ausgaben von Joanna ...................................................................................................... 214 Tab. 24 Zusammensetzung der monatlichen Einnahmen und Ausgaben von Jerzy und Georgia................................................................................... 232 Tab. 25 Zusammensetzung der schmuggelbedingten Einnahmen und Ausgaben bei einer Fahrt von Jerzy ............................................................. 233 Tab. 26 Zusammensetzung der monatlichen Einnahmen und Ausgaben von Hanna........................................................................................................ 242 Tab. 27 Zusammensetzung der schmuggelbedingten Einnahmen und Ausgaben bei einer Fahrt von Hanna........................................................... 245 Tab. 28 Typenbezogene Schmuggelbedeutungen ..................................................... 248 Tab. 29 Ziele der Lebensführung von Vertretern der Schmuggeltypen................. 251
1
Einleitung
Hinleitung Im Dezember 2007 sitze ich in einem Berliner Café. Während des Gesprächs mit der Cafébesitzerin holt diese beiläufig ein Zigarettenpäckchen der Marke „Jin Ling“1 hervor. Dabei handelt es sich um in der russischen Exklave Kaliningrad hergestellte Tabakwaren. Die „Jin Ling“ würde sie immer von einem Vietnamesen erwerben, der in einer S-Bahn-Station die Stange für 18 Euro, einzelne Päckchen für zwei Euro verkaufe. Ich erzähle ihr von meiner mehrmonatigen Feldforschung an der Grenze zu Kaliningrad, auf der diese Arbeit beruht, und schildere dabei, wie sich Bewohner der von hoher Arbeitslosigkeit betroffenen grenznahen Gebiete durch den Zigarettenschmuggel von Russland nach Polen auf eigene Rechnung ein wenig Geld dazuverdienen. Das sei ja interessant, meint die Cafébesitzerin. Sie hätte immer ein schlechtes Gewissen, dass sie durch den Kauf von „Jin Ling“ die organisierte mafiöse Kriminalität unterstütze. Dass sie durch ihren Zigarettenkauf aber unter Umständen den von Armut bedrohten Menschen an der EU-Außengrenze helfe, auf diese Idee sei sie noch gar nicht gekommen. Diese Begebenheit lässt die Komplexität des heutigen Zigarettenschmuggels erahnen, der sowohl die Europäische Union (EU) als auch angrenzende Staaten umfasst. Waren und Menschen überqueren oft mehrere Staatsgrenzen, bis die Zigarette von ihrem Fertigungsort zum Konsumenten gelangt. An der weit verzweigten Handelskette verdienen viele Personen in vielen Ländern und in unterschiedlichen Funktionen: Verkäufer, Transporteure, Lageristen, um nur einige von ihnen zu nennen. Letztlich lohnt sich der Kauf von Schmuggelware auch für den Endabnehmer, was die Voraussetzung für die Wirtschaftlichkeit des Schmuggels ist. Kostet eine Stange „Jin Ling“-Zigaretten in ihrem Herstellungsland Russland den
1 „Jin Ling“ -Zigaretten werden in mehreren Fabriken in Russland, der Ukraine und der Republik Moldau produziert. Die Marke „Jin Ling“ wurde im August 2003 auf die Firma „Baltic Tobacco Factory“ (BTF) mit Hauptsitz in Kaliningrad registriert. Das Unternehmen wurde 1997 gegründet und hat seitdem seine Produktion ständig vergrößert. Wurden im Jahr 2006 dort 6,3 Billionen Zigaretten jährlich hergestellt, waren es ein Jahr darauf schon 13 Billionen. „Jin Ling“ werden zwar legal hergestellt, sind aber ausschließlich für den illegalen europäischen Markt bestimmt. Diese Zigarettenmarke wird nicht beworben und ist dennoch die am häufigsten vom Zoll beschlagnahmte. Ihre Ursprünge liegen in China. Sie wurde von der staatlichen Tabakfabrik in Nanjing („Jin Ling“ ist eine alte Bezeichnung dieser chinesischen Stadt) entwickelt und diente in den späten Jahren der Sowjetunion als Tauschmittel für russische Maschinen. 1997 wurde die Marke von den Inhabern der BTF wieder eingeführt (Candea u.a. 2008a).
14
1 Einleitung
Schmuggler (hier: Kaliningrad) ca. 2,35 US-Dollar, also ca. 1,80 Euro2, muss der Konsument in Deutschland für diese Ware mindestens das Zehnfache bezahlen, oft auch bis zu 25 Euro.3 Dies ist, verglichen mit den regulären Warenpreisen, noch immer sehr preiswert. Dem Staat entgehen durch den illegalen Handel jedes Jahr Steuergelder in Milliardenhöhe. Der mittlerweile aufgelöste Verband der Cigarettenindustrie schätzte, dass im Jahr 2005 ca. 11 Milliarden Zigaretten illegal nach Deutschland eingeführt wurden, mit steigender Tendenz (vgl. Repinski 2008: 3). Staat, EU und Zigarettenindustrie investieren ebenfalls hohe Beträge für Maßnahmen zur Eindämmung des Schmuggels. Nicht nur Organisation und Bekämpfung des Zigarettenschmuggels sind komplex, auch die juristische Einordnung ist es. Zigarettenschmuggel findet sowohl in großem als auch kleinem Stil statt. Meldungen wie „Millionen Zigaretten geschmuggelt“ (HAZ 2008: 17), derzufolge sechs Männer über mehrere Monate hinweg rund 13 Millionen Zigaretten über Polen nach Deutschland geschmuggelt hätten, lassen an organisierte Kriminalität denken, an die „Zigarettenmafia“, wie die Cafébesitzerin sagte. Jedoch ist Schmuggel nicht automatisch eine Straftat. An einer Stelle der für diese Arbeit relevanten Handelskette, an der polnisch-russischen Grenze, gibt es viele Menschen, die sehr oft sehr kleine Warenmengen von einer Grenzseite auf die andere schmuggeln. Wegen ihrer ständigen Mobilität werden sie im Volksmund „Ameisen“ genannt, „mrówki“ auf polnisch. Ihre Schmuggeltätigkeit stellt zwar eine illegale Handlung dar, aufgrund der geringen Warenmenge ist sie jedoch keine Straftat, sondern eine Ordnungswidrigkeit.4 Die fiktive polnische Rentnerin, die einmal in der Woche fünf Stangen von Russland nach Polen schmuggelt, um ihrem Enkel ein Geburtstagsgeschenk zu kaufen, und das ebenso fiktive Mitglied eines Schmugglerrings, das lastwagenweise Tonnen an Zigaretten von Polen nach Deutschland schmuggelt, brechen zwar beide das Gesetz, jedoch handelt es sich bei den Beispielen um zwei grundsätzlich verschiedene Ebenen. In der Wissenschaft hat sich dafür die Unterscheidung zwischen „commercial smuggling“ und „petty smuggling“ eingebürgert (vgl. Wiegand 1993). „Commercial smuggling involves the transportation of large quantities to be sold for profit abroad. Petty smuggling applies to individual people crossing a border to purchase goods at a cheaper price” (Deflem, Henry-Turner 2001: 473).
2
Diese Preise gelten in den Verkaufsstellen auf russischer Seite nahe des Grenzübergangs Bagrationowsk. Am Fabriktor kostete ein Päckchen „Jin Ling“ im Sommer 2008 0,25 US-Dollar oder 0,16 Euro (Candea u.a. 2008b) 3 Diese Angaben beziehen sich auf den Zeitraum der Datenerhebung von Juni 2005 bis Juni 2006. 4 Der Schmuggel von bis zu 44 Zigarettenstangen über die polnisch-russische Grenze gilt in Polen als Ordnungswidrigkeit, bei höheren Mengen wird der Schmuggel zu einer Straftat (vgl. Verordnung des Ministerrates Nr. 197 poz. 1469, 2005). Legal ist der unverzollte Transport nach Polen von bis zu einer Stange Zigaretten (vgl. Europäischer Rat 1983).
1 Einleitung
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Definition In dieser Arbeit soll es um letzteren Begriff gehen, um „petty smuggling“ also oder auch „small-scale smuggling“ (vgl. Egbert 2006), wörtlich übersetzt um den „kleinen Schmuggel“. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden jedoch der Begriff des Schmuggels verwendet, der in dieser Arbeit mit „Schmuggel kleinen Umfangs“ gleichgesetzt wird. Die Abgrenzung des Begriffs des Schmuggels von dem des Kleinhandels beruht auf seiner rechtlichen Einordnung. So trifft Holtom die Unterscheidung zwischen Kleinhandel und Schmuggel und lehnt sich dabei an die Einschätzung Thuens an, der sagt: „Traditionally ‚trade‘ is the legal and ‚smuggling‘ is the illegal means of moving items from one side of the border to the other“ (Thuen 1999: 741). Diese klare Distinktion mag theoretisch getroffen werden, in der Praxis agieren Schmuggler sowohl legal (z.B. die Ausreise nach Russland) als auch illegal (z.B. durch eine zu hohe Anzahl mitgeführter Zigaretten oder den informellen Verkauf auf Märkten). Aus Gründen der besseren Lesbarkeit und Strukturierung verwende ich in dieser Arbeit dennoch den Begriff des Schmuggels und des Schmugglers bzw. der Schmugglerin, wenn ich von meiner Untersuchungsgruppe spreche. Dass der Transport von in Russland gefertigten Zigaretten ohne ihre Verzollung ab einer bestimmten Menge nach den bestehenden Gesetzen nicht legal ist, und dieser von den von mir untersuchten Individuen ständig unternommen wurde, soll als Rechtfertigung dieser Begriffsbenutzung genügen. Damit grenze ich mich von Egbert ab, der lieber von einem „theatre play“ spricht. Seiner Argumentation zufolge wüssten alle Personen an der Grenze, dass Waren unverzollt transportiert werden, und deshalb sei der Begriff des Schmuggels nicht korrekt (vgl. Egbert 2006: 353). Meiner Meinung nach bleibt dieser Vorgang aber auch dann ein Schmuggelhergang, wenn alle Beteiligten von ihm wissen. Schmuggel meint in dieser Arbeit also den illegalen Transport von nicht verzollten legalen Waren5 in kleinen Mengen über die polnischrussische Grenze von Individuen. Das gemeinsame Merkmal aller Schmuggelformen liegt in dem illegalen Transport von Waren über eine Grenze. Was illegal ist, definieren staatliche Gesetze. Ebenso legen staatliche Bestimmungen die ökonomische Attraktivität und das Ausmaß des Schmuggels fest. So lohnt sich Zigarettenschmuggel erst wegen der hohen Tabaksteuern und -zölle. Schmuggel ist also ein Effekt staatlicher Regulierungen (vgl. Paul u.a. 2002: 107f.). Gleichzeitig ist der Staat das einzige Opfer des Schmuggels, denn im Gegensatz zu anderen illegalen Aktivitäten gibt es beim Schmuggel keine zusätzlichen Geschädigten, sondern das Gegenteil ist der Fall: Der Schmuggler profitiert nicht nur selbst, sondern befriedigt auch eine bestehende 5 Vom Handel mit legalen Gütern wie Zigaretten oder Kleidung muss der Handel mit illegalen Gütern unterschieden werden. Dazu gehört der Handel mit Gegenständen, deren Handel grundsätzlich verboten ist (Menschen, Drogen), deren Im- oder Export verboten ist (Antiquitäten) oder Sondergenehmigungen unterliegt (Diamanten).
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1 Einleitung
Nachfrage nach günstigeren Waren, die legal nicht zu erfüllen ist. Deshalb „ist sein Handeln zwar aus der Sicht des Staates gesetzeswidrig, aus der Sicht seiner Kunden aber noch lange nicht unmoralisch“ (ebenda: 100). Die moralische Legitimierung bis zur verstohlenen Bewunderung der Schmuggler lässt auch die etymologische Interpretation des Begriffs des Schmuggels zu. „Schmuggel kommt von Schmiegen. Man schmiegt sich den Verhältnissen an“ (Finckh 1943: 8). Zurückgeführt werden kann der Begriff auf das germanische Wort „smeug“ oder „smeugan“, was „heimlich und tückisch lauern“ (Kluge 1960: 667) bedeutet und den dänischen Begriff „smug“, was so viel wie „heimlich“, „verborgen“ heißt (Schomburg 1992: 66). Ursprünglich wird Schmuggel also mit „sich verstecken“ in Verbindung gebracht, mit geschicktem Vorbeischleichen an Zollregelungen und Reagieren auf äußere Bedingungen – und nicht etwa mit moralisch verwerflichen Unrechtshandlungen. Lange Zeit galt der Schmuggler daher als sozialer Rebell, der die unter Armut leidende Bevölkerung dank seiner riskanten Warentransporte mit dem Nötigsten versorgte und großen Respekt genoss. „Schmuggler (…) sind angesehene Leute, sie sind Helden der ,Kleinen‘, sie genießen die Sympathien der Bevölkerung und sie können mit ihrer Unterstützung in ihrer Auseinandersetzung mit der Obrigkeit rechnen“ (Girtler 2006: 194). Auch die heutigen Schmuggler, die „mrówki“, die in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehen, üben ihre informelle Tätigkeit vor dem Hintergrund einer bestehenden Armutsökonomie aus. Problemstellung Aus der Komplexität des mehrere Grenzen überschreitenden europäischen Zigarettenschmuggels wird in dieser Arbeit ein Glied der Handelskette beleuchtet: Es geht um die Menschen im polnischen Grenzgebiet zu Kaliningrad, die vornehmlich Zigaretten, Alkohol und Benzin von Russland nach Polen schmuggeln. Sie leben in der nordostpolnischen, ländlich und kleinstädtisch geprägten Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie, die besonders stark von negativen Effekten der politischen und wirtschaftlichen Transformation betroffen ist, die Anfang der 1990er Jahre nicht nur Polen, sondern alle ehemaligen Ostblockländer erfasste. So haben Massenarbeitslosigkeit, Erwerbsmigration weiter Teile der Bevölkerung sowie ein geringes regionales Lohnniveau zu ernsten sozialen und ökonomischen Problemen in der Region geführt. Besonders betroffen ist das periphere grenznahe Gebiet nahe der russischen Exklave Kaliningrad. Die offizielle Arbeitslosenquote beträgt in allen grenznahen Kreisen zwischen 30 und 40 Prozent (vgl. GUS 2006c). Das ist die höchste Quote landesweit. Weniger als 20 Prozent aller Arbeitslosen haben ein Anrecht auf staatliche Sozialleistungen. Auch private Arbeitgeber zahlen oft nicht mehr als den staatlichen Mindestlohn von umgerechnet knapp 240 Euro monatlich. Vor diesem Hintergrund stellt die Tätigkeit im informellen Sektor für viele Menschen einen Teil ihrer Überlebensstrategie in der regionalen Armutsökonomie dar. Insbesondere der Schmuggel von Zigaretten und Alkohol dient vielen Akteuren
1 Einleitung
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dabei als eine wichtige Erwerbsquelle. Schmuggel stellt also für viele Menschen eine Strategie der Bewältigung der beschriebenen negativen Auswirkungen des Systemumbruchs dar. Nach Schätzungen des polnischen Generalkonsulats in Kaliningrad ist der Schmuggel für ca. 15.000 Familien auf beiden Seiten der Grenze eine Einnahmequelle (vgl. Macieja 2004: o.S., Holtom 2003: 158). Berücksichtigt man, dass entlang der polnisch-russischen Grenze in den an die Grenze stoßenden Kreisen auf polnischer Seite ca. 226.000 Personen leben und die gesamte Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie 1.400.000 Einwohner hat, so wird deutlich, dass es sich beim Schmuggel nicht um eine marginale Erscheinung, sondern um einen aktuellen Prozess handelt, an dem große Teile der Gesellschaft teilnehmen. Ob der Relevanz der Schmuggeltätigkeit an der polnisch-russischen Grenze verwundert ihre geringe Beachtung in der sozialwissenschaftlichen Forschung (vgl. Kapitel 3.4). Aufgrund des illegalen Charakters des Schmuggels und des damit zusammenhängenden schwierigen Feldzugangs fehlen bisher systematische empirische Forschungen zur Bandbreite individueller Bedeutungen des Schmuggels und der Lebenssituationen einzelner Schmuggler. Auch gibt es aus dem gleichen Grund bisher nur wenige Informationen über den konkreten Ablauf der Grenzüberschreitung von Schmugglern. Fragestellung und Ziel Die vorliegende Arbeit möchte zur Schließung dieser Forschungslücke beitragen. Sie befasst sich mit Schmuggel aus individueller Perspektive als Teil einer persönlichen Armutsbewältigungs- bzw. Armutsvermeidungsstrategie. Es wird in einer subjektorientierten Herangehensweise nach der Rolle des Schmuggels als Teil einer persönlichen Lebensführungsstrategie gefragt, um den Alltag in der regionalen Armutsökonomie in der polnischen Peripherie zu bewältigen. Dabei soll im Sinne des Verflechtungsansatzes (siehe S. 50f.) darauf eingegangen werden, wie Schmuggel als Tätigkeit im informellen Sektor mit anderen Erwerbsquellen wie Subsistenzwirtschaft und formaler Erwerbstätigkeit in ökonomischen Haushaltsstrategien kombiniert wird. Hier interessiert aber nicht nur die ökonomische Relevanz von Schmuggel, sondern auch die Frage seiner darüber hinausgehenden Alltagsrelevanz für das Individuum, denn nur so können unterschiedliche Bedeutungsebenen von Schmuggel erfasst werden. Für eine Systematisierung solch einer Analyse bietet sich die Theorie der alltäglichen Lebensführung an. Dabei steht die Frage, wie eine Person ihre unterschiedlichen Aktivitäten in ihrem Alltag kombiniert, im Mittelpunkt. Ein stabiles Lebensführungskonzept ist umso wichtiger für den Einzelnen, je unsicherer und instabiler seine persönlichen Lebensumstände sind. Da sich diese Arbeit mit Akteuren beschäftigt, die durch den Transformationsprozess erhebliche biographische Brüche erlebt haben, ist die Benutzung dieses Konzepts besonders interessant.
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1 Einleitung
Die konkrete Forschungsfrage lautet also: Welche Bedeutungen besitzt der Schmuggel für die alltägliche Armutsbewältigung bzw. -vermeidung für den Einzelnen und seinen Haushalt? Dieses Forschungsinteresse wird operationalisiert durch die Herausarbeitung individueller Bewältigungsstrategien von Armut, welche eine Skizzierung der ökonomischen Haushaltsstrategien und der allgemeinen Lebensführung des Einzelnen umfassen. Soweit möglich, wird bei der Analyse der gesamte Haushalt des Einzelnen einbezogen, um ein umfassendes Bild von sozialen Netzwerken und Einkünften zu bekommen. Das Ziel der Arbeit besteht darin, das Phänomen des Schmuggels in Ostmitteleuropa zu „enthomogenisieren“ und „entexotisieren“ und die vielfältigen Funktionen der Schmuggeltätigkeit für den Einzelnen deutlich zu machen. Diese Analyse der individuellen Schmuggelbedeutungen ist unabdingbar für eine Einschätzung der Wirkung des Schmuggels für die regionale Entwicklung. Ist Schmuggel per se ein Problem, wovon viele Forscher implizit ausgehen (z.B. Deflem, Henry-Turner 2001: 473, Paul u.a. 2002: 107), oder eher die Lösung eines Problems? Der Beantwortung dieser Frage auf Mikroebene widmet sich der Hauptteil dieser Arbeit. Als ein Ergebnis soll eine Typisierung von Schmugglern den Stellenwert des Schmuggels in ihrer jeweiligen Lebensführung und innerhalb ihrer ebenfalls herauszuarbeitenden Armutsbewältigungs- bzw. Armutsvermeidungsstrategien aufzeigen. Daran anschließend werden spezifische Kompetenzen und Potenziale der hohen Anzahl der Kleinhändler bzw. Schmuggler aufgezeigt und die Auswirkungen der Schmuggeltätigkeit für die Region diskutiert, was wichtiges Hintergrundwissen für eine bedarfsgerechte institutionelle Unterstützung der regionalen sozioökonomischen Entwicklung liefert. Um aber individuelle Schmuggelbedeutungen diskutieren zu können, bedarf es zunächst einer Analyse dessen, was Schmuggel eigentlich ist, wie er funktioniert, auf welchen Regeln und Voraussetzungen er beruht. Die Anatomie des Schmuggels an der polnisch-russischen Grenze wird deshalb auf Grundlage einer Beschreibung einer Schmuggelfahrt erläutert, bevor seine Rolle im Umgang mit Armut der Individuen vorgestellt wird. Zusammenfassend werden folgende drei Punkte in der Arbeit erläutert: Erstens die Funktionsweise des Schmuggels, seine „Anatomie“, zweitens seine Bedeutung innerhalb einer Armutsvermeidungs- bzw. Armutsbewältigungsstrategie individueller Haushalte und drittens seine Auswirkungen für die hier untersuchte Region. Methode Schmuggel ist ein „sensitive topic“ (Lee 1993). Deshalb musste viel Zeit zum Aufbau stabiler Vertrauensverhältnisse eingeplant werden, ohne die eine erfolgreiche Forschung nicht möglich gewesen wäre. Während eines einjährigen Feldforschungsaufenthaltes wurden unterschiedliche Methoden der qualitativen Sozialfor-
1 Einleitung
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schung angewendet. Im Einzelnen wurden die Methoden der teilnehmenden Beobachtung, Experten- und problemzentrierte Interviews sowie Dokumentenanalysen im Rahmen einer ethnographischen Feldforschung verfolgt. Die Kombination verschiedener Methoden, die Triangulation, spiegelt zum einen die milieu- und situationsabhängige Forschungspraxis wider, die Offenheit hinsichtlich der verwendeten Forschungsmethoden verlangt. Zum anderen dient sie der Absicherung gegenüber subjektiven Einflüssen während der Datenerhebung. Obwohl in dieser Arbeit ein Fallbeispiel Grundlage der Analyse ist, erhebt sie doch den Anspruch, verallgemeinerbare Aussagen über die Bedeutung des Schmuggels für die Einwohner der polnischen Gebiete nahe der östlichen EUAußengrenzen treffen zu können. Deshalb wurde bei der Auswahl des Untersuchungsortes auf seine Ausstattung mit für diese Regionen typischen sozioökonomischen Merkmalen geachtet. Während des Forschungsaufenthaltes in Bartosyzce, einer Stadt von ca. 25.000 Einwohnern in der Nähe des Grenzübergangs Bezledy an der polnisch-russischen Grenze gelegen, versuchte ich, mich während einer ersten explorativen Phase in mein Untersuchungsgebiet zu integrieren. Um Hintergrundinformationen über die Lebensbedingungen der Schmuggler zu bekommen, betrieb ich anfangs vornehmlich Dokumentenanalyse und führte im ersten Teil des Aufenthaltes Experteninterviews mit Vertretern wichtiger lokaler Einrichtungen wie beispielsweise dem Arbeitsamt und der Stadtverwaltung, um Informationen über die Funktionsweise des Ortes und eine Einschätzung des Phänomens des Schmuggels zu bekommen. Nach einigen Monaten meiner Anwesenheit begann ich mit offener teilnehmender Beobachtung auf Märkten und auf Schmuggelfahrten im Linienbus nach Russland. Nach und nach entstanden Vertrauensverhältnisse zwischen den Schmugglern und mir, die es ermöglichten, während der letzten Phase meines Aufenthaltes problemzentrierte Interviews mit ihnen zu führen. Interviews mit den Grenzautoritäten zum Ende des Forschungsaufenthaltes rundeten die Datenerhebung ab. Gliederung der Arbeit Es muss beachtet werden, dass subjektive Entscheidungen und daraus hervorgehende Lebensführungskonzepte auch immer in Abhängigkeit von den äußeren Handlungskontexten zu sehen sind. Bedeutsam sind für polnische Schmuggler an der polnisch-russischen Grenze sowohl die Konsequenzen des Systemumbruchs 1989/1990 und die sich daraus entwickelnden regionalen wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen als auch den Grenzübertritt betreffende rechtliche Regulierungen. Deshalb gibt die Arbeit zunächst in Kapitel zwei nach einer theoretischen Diskussion von Transformationskonzepten und Bestimmung des hier verwendeten Begriffs einen Überblick über die Charakteristika des Transformationsprozesses in Polen und leitet danach zu einer theoretischen Diskussion einer der transformationsbedingten Konsequenzen über: Armut und ökonomische Haus-
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1 Einleitung
haltsstrategien zu ihrer Bewältigung. An dieser Stelle wird auch das theoretische Konzept unter Verwendung der Theorie der alltäglichen Lebensführung vorgestellt, auf das sich die Analyse des empirischen Materials stützt. Kapitel drei widmet sich den regionalen und rechtlichen Rahmenbedingungen, in die der Schmuggel eingebettet ist, und deren Kenntnis für das Verständnis der informellen Tätigkeit unumgänglich ist. Nach einigen Bemerkungen zum aktuellen Forschungsstand werden in Kapitel vier die verwendeten Methoden in Datenerhebung und Datenanalyse erläutert. Daran schließt sich mit Kapitel fünf die Analyse des empirischen Materials an. Zunächst steht die konkrete Funktionsweise des Schmuggels im Mittelpunkt. Anhand der Analyse einer Beschreibung einer Schmuggelfahrt soll deutlich gemacht werden, auf welchen Voraussetzungen der Schmuggel beruht und welchen Regeln er folgt. Im zweiten Teil des Kapitels werden die unterschiedlichen Bedeutungen des Schmuggels für die Haushaltsökonomie des Einzelnen näher untersucht. Die Schmuggeltätigkeit wird dabei in den Gesamtzusammenhang des Alltags eingebettet. Bei der Analyse wird auf ein Typenbildungsverfahren zurückgegriffen, wobei zunächst Kategorien und ihre Subkategorien konstruiert und definiert werden. In einem zweiten Schritt erfolgt mit der Zuordnung aller Fälle zu den Subkategorien die Bildung eines Merkmalsraums. Nachdem die einzelnen Fälle auf wenige Typen verdichtet wurden, erfolgt eine Charakterisierung dieser Typen durch eine jeweilige Exemplifizierung anhand empirischer Beispiele. Die Arbeit schließt mit einer Diskussion und einem theoretischen Rückbezug der Ergebnisse ab, wobei die regionalen Wirkungen des Schmuggels diskutiert und in dem Zusammenhang vorsichtige Handlungsempfehlungen gegeben werden.
2 Theoretischer Rahmen
2.1 Transformation aus theoretischer Sicht Die Transformationsforschung hat sich zu einem interdisziplinären Forschungsfeld entwickelt, in dem mit einer Vielfalt von sozialwissenschaftlichen Ansätzen gearbeitet wird. In diesem Kapitel werde ich nach einer Begriffsbestimmung verschiedene theoretische Konzepte der Transformationsforschung aufzeigen. Ich frage nach der Wahrnehmung des Transformationsprozesses auf der Mikroebene und plädiere für eine konstruktivistische, induktive Sichtweise auf diese gesamtgesellschaftliche Erscheinung. 2.1.1
Transformation als zielgerichtete Modernisierung
In den Sozialwissenschaften werden mit dem Begriff der Transformation die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse von ehemals realsozialistischen zu postsozialistischen Staaten in Ostmitteleuropa seit 1989/90 beschrieben (vgl. Förster 2003: 17). Eine etwas konkretere Definition gibt Fassmann: „Es [die Transformation, B.B.] ist der Übergang vom Plan zum Markt, die Umwandlung eines zentral gesteuerten planwirtschaftlichen Entscheidungssystems in ein dezentrales, atomistisch zersplittertes marktwirtschaftliches System. Eng verbunden ist damit der politische Wandel von einem zentral gelenkten Einparteiensystem zu einem pluralistischen und demokratisch legitimierten Mehrparteiensystem.“ (Fassmann 1997: 15)
In diesem Zusammenhang hat Transformation also die Funktion eines Übergangs zwischen unterschiedlichen Phasen. Dem entspricht der etymologische Gehalt des Wortes: Das Wort „Transformation“ leitet sich von dem lateinischen Verb „transfero“ ab, was soviel wie hinübertragen, hinüberbringen, versetzen, verschieben bedeutet (vgl. ebenda: 14). Transformation betont also aus sozialwissenschaftlicher Perspektive das aktive Moment der Umgestaltung und die Handlungsfähigkeit der
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2 Theoretischer Rahmen
politischen, wirtschaftlichen und sozialen Akteure (vgl. Förster 2000: 54).6 Meist wird der gleichzeitige Wandel politischer, wirtschaftlicher und sozialer Systeme hervorgehoben. Wenn sich etwas wandelt, bedarf es einer Ausgangssituation, einer Veränderung und einer daraus entstehenden neuen Situation. Im Falle des beschriebenen Transformationskonzepts handelt es sich bei diesen drei Phasen um das planwirtschaftliche System, die Marktwirtschaft als Endzustand und dazwischen liegende intermediäre Phasen, in denen Transformationsmaßnahmen ergriffen werden (vgl. ebenda). Die vorherrschende Transformationsforschung setzt sich mit der intermediären Phase auseinander: „Also mit den politischen und ökonomischen Maßnahmen und den sozialen und regionalen Konsequenzen der Transformation während des Übergangs von einem planwirtschaftlichen zu einem marktwirtschaftlichen System“ (vgl. ebenda: 17). Dieser Ansatz betrachtet den Transformationsprozess als eine zielgerichtete Entwicklung, die mit der Einführung von marktwirtschaftlichen Institutionen erfolgreich abgeschlossen ist. Der so verstandene Transformationsdiskurs ist in eine Modernisierungsdiskussion eingebettet, die die spezifischen Gegebenheiten der westlichen Industriegesellschaften als Synonym der Moderne generalisiert (vgl. Stojanov 2003: 62). Dem Strukturfunktionalismus7 von Talcott Parsons folgend, erfolgt die Rationalisierung von gesellschaftlichen Handlungssphären durch die funktionale Differenzierung des Gesamtsystems (vgl. Stojanov 2003: 62). Die Herausbildung moderner Gesellschaften erfolgt aus diesem Blickwinkel evolutionistisch und teleologisch: „Die Entwicklungsstufe der modernen Gesellschaften wird durch die Herausbildung von bürokratischer Organisation, Märkten und Geld, universalistischen Normen und demokratischer Assoziation erreicht“ (Parsons 1967 in Münch 2000: 40). Der Übergang zur Demokratie und die Einführung der Marktwirtschaft, also der Transfer der institutionellen Strukturen der westlichen Industriegesellschaften, sind die zentralen Zielsetzungen des Systemwandels (vgl. Stojanov 2003: 65). Ausschließlich endogene Faktoren kennzeichnen moderne Gesellschaften: die Steigerung adaptiver Kapazitäten, die strukturelle Differenzierung, die Inklusion sozialer Gruppen und die Generalisierung von Werten (vgl. Münch 2000: 40). Wendet man dieses universalistische Makrokonzept auf konkrete Wandlungsprozesse an, so können spezifische empirische Kontexte außer Acht gelassen werden; spielen diese doch für die Implementierung der modernen neuen Gesellschaftsordnung aufgrund ihrer bewiesenen Defizite keine Rolle.8 Transformationsprozessen wird also ein 6 Die Begriffe „Transformation“ und „Transition“ werden oft bedeutungsgleich gebraucht. Dabei beschreibt der zweite einen eher allgemeinen Übergang eines gesellschaftlichen und politischen Systems und hebt den passiven Charakter hervor (vgl. Fassmann 1997: 14). 7 In dieser Denkrichtung steht die Frage der Erhaltung von Stabilität und Funktionalität der gesellschaftlichen Strukturen im Mittelpunkt. Dementsprechend wird jede Handlung auf ihren strukturellen Stellenwert und ihren funktionalen Beitrag für das System analysiert (vgl. Hillmann 1994: 847ff.). 8 In diesem Zusammenhang haben sich die Ausdrücke „Defizitforschung“ und „negative Soziologie der Transformation“ etabliert: Die Transformationsforschung dieser Ausrichtung beschäftigt sich weniger
2.1 Transformation aus theoretischer Sicht
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vorhersehbarer, einförmiger Verlauf unterstellt, der sich an normativen Vorgaben orientiert: „Der Modernitätsgrad einzelner Gesellschaften wird an dem Vorbild (der „Norm“) gemessen“ (Stojanov 2003: 65), als welches das Modell der westlichen Industriegesellschaften dient. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass mit diesem, auch „Modell-Transfer“ genannten Konzept, für einen abgeschlossenen Systemwandel in Ostmitteleuropa argumentiert werden kann, da ja die Übertragung westlicher Institutionen bereits geschehen ist. Allerdings lässt dieser Ansatz keine Angaben darüber zu, wie der Institutionentransfer von den handelnden Akteuren9 aufgenommen und der Systemwechsel in den lebensweltlichen Strukturen verarbeitet wird. Ich folge daher Stojanov in seiner Auffassung, dass die postsozialistische Transformation keinesfalls identisch mit dem puren Systemwechsel ist (vgl. Stojanov 2003: 68).10 Diese verkürzte Auffassung von Transformation vernachlässigt die Tatsache, dass nicht Institutionen handeln, sondern ihre Funktionsweise entscheidend abhängig ist vom Handeln und Verhalten der Akteure in ihnen (vgl. Schrader 2003: 96). Ohne eine „bottom-up“-Akzeptanz der Werte und Normen, die die Institutionen einer modernen Gesellschaft vertreten, ist jeder Transformationsprozess zum Scheitern verurteilt. Ich plädiere daher für eine erweiterte Definition des Transformationsbegriffs, die im nächsten Kapitel vorgestellt wird. 2.1.2 Transformation als offener Aushandlungsprozess In der Analyse des postsozialistischen Transformationsprozesses spielt neben der Bearbeitung des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Institutionentransfers die Einbeziehung der Akteursebene eine eminent wichtige Rolle. Diese Bedeutung wird von der vorherrschenden Transformationsforschung unterschätzt, wenn sie die individuell Handelnden auf der Mikroebene als von Makrostrukturen und gesamtgesellschaftlichen Prozessen determiniert ansieht: „Transformation research focuses on macro structures of state and economy. They leave little space for the micro world of day-to-day life (…). In conventional portraits of the ‘transition’, the micro is determined or is an expression of structures, policies, and ideologies of a macro character, with little theorization of the unintended consequences brought about locally by political and cultural contestation intertwined with economic struggles.” (Burawoy, Verdery 1999: 1)
mit den tatsächlichen Gegebenheiten und Charakteristika von sich wandelnden Gesellschaften, sondern stellt heraus, was sie nicht haben und was sie nicht sind (vgl. Müller 1995: 48). 9 Aufgrund besserer Lesbarkeit werden in dieser Arbeit ausschließliche maskuline Endungen benutzt, die Männer und Frauen gleichermaßen mit einschließen. 10 Andere Forscher sprechen von einer vollzogenen Transition zu einer Marktwirtschaft ohne den gleichzeitigen Ablauf der Transformation zu einer Marktgesellschaft (vgl. Schrader 2003: 95).
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2 Theoretischer Rahmen
Meines Erachtens bringt aber die Umkehrung dieser Sichtweise einen weit höheren Erkenntnisgewinn; nämlich die konstruktivistische Annahme, dass die Akteure durch ihre Handlungen die Entwicklung der Transformationen gestalten. Die alleinige Implementierung von marktwirtschaftlichen Institutionen sagt nichts über den Erfolg der Transformation in einem Land aus, da die vom Staat neu zu gestaltenden ordnungspolitischen Rahmenbedingungen einer Interpretation und Akzeptanz seitens der handelnden Akteure bedürfen (vgl. Stojanov 2003: 69). Ich gehe also davon aus, dass Pfade und Typen der Transformation durch die Akteure selbst geschaffen bzw. bewusst gestaltet werden (vgl. Kollmorgen 2003: 38). Diese Annahme impliziert weder einen vorhersehbaren zielgerichteten Verlauf der Transformation, noch führt sie zu der Überzeugung, dass derartige Wandlungsprozesse rein zufällig abliefen. Vielmehr führen materielle Handlungsressourcen und individuell unterschiedliche Machtchancen von Akteuren zu einer spezifischen Gerichtetheit von Transformationsprozessen. Deutlich wird dieser Mechanismus anhand des Konzepts des sozialen Kapitals11 von Bourdieu, mit dem die Dynamik von Handlungskonfigurationen und sozialen Strukturen differenziert in Betracht gezogen werden kann (vgl. Stojanov u.a. in Schmidt, Dittrich 1997: 206). Bourdieu unterscheidet ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital. Die Ausstattung eines Individuums mit den Kapitalien bestimmt über seine Machtposition im sozialen Raum, der dadurch strukturiert wird. Ökonomisches Kapital meint alle Formen des materiellen Reichtums und ist direkt in Geld konvertierbar (vgl. Bourdieu 1983: 185), während kulturelles Kapital in objektivierter (Bücher, Kunstwerke), inkorporierter (kulturelle Fertigkeiten, Fähigkeiten und Wissensformen) und institutionalisierter Form (Bildungsabschlüsse) vorliegt. Den Begriff des sozialen Kapitals definiert Bourdieu folgendermaßen: „Das soziale Kapital ist die Summe der aktuellen oder virtuellen Ressourcen, die einem Individuum oder einer Gruppe aufgrund der Tatsache zukommen, dass sie über ein dauerhaftes Netz von Beziehungen, einer – mehr oder weniger institutionalisierten – wechselseitigen Kenntnis und Anerkenntnis verfügen; es ist also die Summe allen Kapitals und aller Macht, die über ein solches Netz mobilisierbar sind.“ (Bourdieu, Wacquant 2006: 151f.)
Die jeweilige Ausstattung eines Individuums mit sozialem Kapital beeinflusst seine möglichen Handlungskonfigurationen. Der Einzelne steht vor der Möglichkeit der Umwandlung seiner Kapitalformen. So kann z.B. soziales in ökonomisches Kapital umgewandelt werden, indem einem durch soziale Beziehungen eine gut bezahlte Stelle vermittelt wurde. Auch die Transformation von ökonomischem in kulturelles Kapital (durch den Erwerb eines teuren Kunstwerkes) und umgekehrt (Abschluss 11 Neben dem Konzept von Bourdieu stechen die Theorien zum Sozialen Kapital der nordamerikanischen Forscher Coleman und Putnam (vor allem Coleman 1990 und Putnam 2000) hervor, deren Berücksichtigung an dieser Stelle den Rahmen dieser Arbeit jedoch sprengen würde.
2.1 Transformation aus theoretischer Sicht
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eines teuren Studiums) ist denkbar. Allgemein gilt, dass die verfügbare Macht eines Individuums von der Qualität seines Beziehungsnetzes abhängt, welches sich gleichzeitig aber wiederum nicht unabhängig von den sozialen Strukturen gestaltet, mit denen das Individuum konfrontiert wird, wie z.B. seine Herkunftsfamilie. Der Umgang mit und der Einsatz von sozialem Kapital des Individuums spielen also eine wichtige Rolle bei der Ausgestaltung von Transformationsprozessen. Gleiches gilt für soziale Netzwerke, deren Existenz in Bourdieus Theorie die Grundlage für die Schaffung sozialen Kapitals darstellt (vgl. Ledeneva 2006: 310). Während soziales Kapital nach Bourdieu aber in einem umfassenderen theoretischen Kontext eingebettet ist und nur schwer von dem Rest der Bourdieuschen Gesellschaftstheorie abzukoppeln ist, geht es in der Netzwerkanalyse ausschließlich um die Untersuchung der Strukturen sozialer Beziehungen zwischen Akteuren (vgl. Beckert 2005: 286). Hierbei ist zwischen egozentrierten Netzwerken, die sich auf das Netzwerk einer Person beziehen, und Gesamtnetzwerken zu unterscheiden, die komplexe Systeme sozialer Beziehungen analysieren. Die Auswertung egozentrierter Netzwerke erlaubt dennoch die Herstellung einer Verknüpfung von individuellen Handlungsstrategien auf der Mikroebene als Antwort auf gesellschaftliche Strukturen und Prozesse der Makroebene (vgl. Hunecke 1999: 16). In Anlehnung an Hunecke können sich Netzwerke dabei hinsichtlich ihrer Stärke, Größe, räumlichen Nähe, der in ihnen ausgeübten Reziprozität und Uni- bzw. Multiplexität unterscheiden. Es lässt sich festhalten, dass die spezifische Ausstattung mit Kapital und sozialen Netzwerken die Möglichkeiten der individuellen Ausgestaltung des Transformationsprozesses beeinflusst. Damit folge ich der Auffassung von Burawoy, dass neue gesellschaftliche Makrostrukturen aus den Kalkulationen, Improvisationen und Entscheidungen der Menschen hervorgehen (vgl. Burawoy, Verdery 1999: 2). Improvisationen lassen immer auch Raum für Überraschendes und Unvorhergesehenes. Aus diesem Blickwinkel können Transformationen gar nicht zielgerichtet ablaufen, sondern gleichen einem Aushandlungsprozess mit offenem, unsicherem Ergebnis. Ein Systemkollaps bringt immer größere Freiheiten und Einflussmöglichkeiten für lokale Lebenswelten hervor. Diese tragen zur offenen Ausgestaltung der neuen gesellschaftlichen Ordnung bei, was zu unintendierten Folgen der Transformation führen kann. „Our view of the relation between macro structures and everyday practices is that the collapse of party states and administered economies broke down macro structures, thereby creating space for micro worlds to produce autonomous effects that may have unexpected influence over the structures that have been emerging.” (ebenda)
Wird der Transformationsdiskurs als akteursbasierter Aushandlungsprozess definiert, so führt ein weiteres Merkmal – neben den autonomen Effekten lokaler Lebenswelten – dieses Prozesses zu einer Ausbildung der beschriebenen „uncertain transition“ (Burawoy 1999): Die Schwäche der neu implementierten Institutionen
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2 Theoretischer Rahmen
aufgrund der Gleichzeitigkeit der Transformationsprozesse auf verschiedenen Ebenen. Der Systemwandel in den mittelosteuropäischen Staaten umfasste die Verabschiedung demokratischer Verfassungen, die rechtliche und zentrale politischadministrative Einführung demokratischer Regierungssysteme sowie kapitalwirtschaftlicher Grundordnungen (vgl. Kollmorgen 2003: 22). Diese von oben nach unten stattfindende Umwälzung scheiterte aber an ihrer erzwungenen und dabei unmöglichen Gleichzeitigkeit. Erstens litt die allgemeine Akzeptanz des Demokratisierungsprozesses an den empfindlichen finanziellen Einschnitten, die die kapitalistische Wirtschaftsreform für viele Menschen mit sich brachte (vgl. ebenda 2003: 22f.). Zweitens gestaltete sich der von oben verordnete Institutionenumbau als schwierig, da auch Institutionen letztlich aus Akteuren mit spezifischen Handlungsorientierungen bestehen, die sich nicht ad hoc verordnen lassen, sondern auf veränderte Rahmenbedingungen nach und nach reagieren. „Nach 15 Jahren Transformation kann man sehen, dass das Erbe des Kommunismus überhaupt nicht leicht verschwindet, und die Worte von Dahrendorf über die Langlebigkeit menschlicher Einstellungen stellten sich als prophetisch heraus“12 (Trutkowski, Mandes 2005: 38). Maków argumentiert ähnlich: „Die Gewohnheiten und das Denken der Menschen passen sich nicht sofort dem institutionellen Wandel an (...)“ (Maków 1998: 333). Die zum Zeitpunkt des Systemwechsels über 30-Jährigen haben aufgrund ihrer Sozialisation im alten System die staatssozialistische Ordnung verinnerlicht. Deshalb war nicht zu erwarten, dass sich aus ihrer normativen Zerrissenheit schnell neue soziokulturelle Orientierungsgewissheiten entwickelten, die für die Funktionsfähigkeit der postsozialistischen Institutionen unerlässlich sind. Diese Entwicklung brachte schwache Institutionen hervor, die sich durch intermediäre Defizite, einen hohen Informalisierungsgrad sowie eine mangelnde mikrosoziale Fundierung auszeichneten (vgl. ebenda: 25). Werden neue Institutionen von ihren Nutzern nicht anerkannt, liegt der Schluss nahe, dass auf ältere, bereits bestehende bekannte Strukturen zurückgegriffen wird. Dies betrifft zum einen formale Strukturen: „Bezüglich der wirtschaftlichen Reformen war ein Überleben alter Wirtschaftsstrukturen in Form von Branchenmonopolen und Produktionspakten zu beobachten. Diese Institutionen erwiesen sich gegenüber politischen Strukturen oft als zählebiger, da sie materiell gebundener sind und die Betriebe, einschließlich ihrer sozialstaatlichen Leistungen, den eigentlichen Vergesellschaftungskern des Sozialismus bildeten“ (Kollmorgen 2003: 24). Zum anderen aber überdauerten bereits im Sozialismus bewährte informelle Netzwerke und ökonomische Handlungsweisen den Systemwechsel und bildeten Brücken zwischen der alten und der neuen Ordnung für die handelnden Akteure. „Whether the black market or the second economy, extended kinship ties or private agricultural plots, networks of barter relations or the pushers that promoted them, 12
Diese Übersetzung des Zitates in polnischer Sprache wurde von der Autorin selbst vorgenommen.
2.2 Der Transformationsprozess in Polen
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the collapse of the party state did not eliminate these economic and social forms but caused their greater flowering” (Burawoy, Verdery 1999: 6). Manche Autoren erwähnen sogar Elemente aus vorsozialistischen Zeiten, die Transformationsprozesse beeinflussen: „Transformation ist Modernisierung mit traditionalen Versatzstücken! Die ‚Notwendigkeit’ der traditionalen Bezugnahme erstreckt sich nicht nur auf den pragmatischen Rückgriff auf jeweils nutzbare Elemente der sozialistischen Zeit, sondern auch auf Vergemeinschaftungstopoi vorsozialistischer Epochen“ (Schmidt, Dittrich 1997: 18). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das hier zugrunde gelegte Transformationsverständnis nicht mit dem rein teleologischen Institutionentransfer von Ost nach West übereinstimmt, sondern dass nach dadurch ausgelösten tatsächlichen Veränderungen der Akteurs-, Interessen- und Machtkonstellationen gefragt wird (vgl. Stojanov 2003: 69). Wichtig ist dabei die Einsicht, dass der ökonomische, politische und soziale Systemwandel von den lebensweltlichen Strukturen der Akteure verarbeitet wird, und dass dadurch jegliche Transformation offen und nicht völlig vorhersehbar abläuft. Geht man von der Annahme aus, dass letztlich der Transformationsprozess durch handelnde Akteure bestimmt wird, wird deutlich, dass es nicht „die Transformation“ per se gibt, sondern dass die unterschiedlichen Sozialisationen und Prägungen der Einwohner eines jeden Landes genauso viele verschiedene Transformationsabläufe hervorbringen. Will man sich osteuropäischen Transformationsprozessen analytisch nähern, so muss man sich also ihrer Einbettung in spezifische nationale Kontexte bewusst sein. Im ehemals sozialistischen Europa treten außerordentlich verschiedene Pfade und Stadien von Entwicklung auf (vgl. Schmidt, Dittrich 1997: 12). Die Konzentration auf länderspezifische Rahmenbedingungen ist unerlässlich, möchte man die ablaufenden Transformationsprozesse, ihre Schwierigkeiten und Rückschritte, verstehen. Das nächste Kapitel widmet sich dementsprechend dem spezifischen Transformationspfad Polens. 2.2 Der Transformationsprozess in Polen Ziel dieses Kapitels ist es, konstituierende Elemente des polnischen Transformationsprozesses nachzuzeichnen. Damit sollen gleichzeitig die Rahmenbedingungen dargestellt werden, unter denen meine Untersuchungsgruppe sozialisiert wurde und die letzten Endes in Zusammenhang mit ihrer derzeitigen Lebenssituation stehen. Mir geht es nicht um eine detaillierte Analyse aller Ebenen der polnischen Transformation13, sondern um das Aufzeigen relevanter Handlungskontexte für die mich interessierenden Akteure. Um die Eingangshypothese prüfen zu können, dass 13
Eine Vielzahl von Autoren hat sich diesem Thema eingehend gewidmet, u.a. Bohle 2002, Schneider 1999, Staniszkis 2001, 2003, Maków 1998, Juchler 2000.
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2 Theoretischer Rahmen
Schmuggel eine Strategie der Bewältigung von negativen Auswirkungen des Transformationsprozesses darstellt, ist eine Schilderung der allgemeinen Bedingungen während der Transformation in Polen unerlässlich. Dazu gehe ich im Folgenden auf Spezifika der letzten Jahre des Sozialismus in Polen ein, um dann Charakteristika des polnischen Transformationsprozesses vorzustellen. Konkrete Bedingungen und Effekte der Transformation werde ich anhand des Fallbeispiels der von mir untersuchten Kleinstadt Bartoszyce in Kapitel 3 aufzeigen. Hier sollen hingegen allgemeine Zusammenhänge und Konsequenzen des polnischen Transformationsprozesses bis in die Gegenwart skizziert werden. Der Transformationsprozess in Polen wird von Wissenschaftlern gemeinhin äußerst positiv bewertet, was folgende Aussagen wie „Polen gilt heute als einer der erfolgreichsten mittel- und osteuropäischen Reformstaaten“ (Franzke 2000: 6) oder „They [the states of Poland, Czechoslovakia and Hungary, B.B.] have established effective parliamentary institutions and have managed the transformation to a market economy successfully“ (Stone 1999: 26) belegen. Diese These wird je nach Forschungsrichtung unterschiedlich begründet, sei es im wirtschaftlichen Bereich mit Hinweisen auf das gestiegene Bruttosozialprodukt oder in der politischen Sphäre auf die Einrichtung einer konsolidierten Demokratie. Welche transformatorischen Maßnahmen wurden aber in Polen konkret ergriffen und welche Konsequenzen haben sie mit sich gebracht? Im Folgenden wird dieser Frage nachgegangen und dabei die These des grundsätzlich erfolgreichen Transformationsprozesses kritisch durchleuchtet. 2.2.1 Voraussetzungen des Transformationsprozesses in Polen: Staat versus Gesellschaft In Polen wurde der Weg zum Systemumbruch bereits während der 1970er und 1980er Jahre geebnet. Besonders die 1980er Jahre waren von einem am Boden liegenden wirtschaftlichen System und einer daraus resultierenden äußerst instabilen innenpolitischen Lage gekennzeichnet. Schon Ende der 1970er Jahre kam es aufgrund drastischer Preissteigerungen zu Unruhen unter der Bevölkerung, die nach der Ankündigung der Erhöhung der Fleischpreise im Juli 1980 einen ersten Höhepunkt fanden: Die Regierung sah sich mit einer landesweiten Streikwelle konfrontiert, die von der Danziger Lenin-Werft ausging. Am 31. August 1980 wurde in Danzig eine Übereinkunft zwischen dem eingerichteten „Überbetrieblichen Streikkomitee“ unter Führung von Lech Wasa und der Regierung erzielt, die u.a. das Recht auf Gründung unabhängiger Gewerkschaften enthielt. Diese Einigung führte allerdings nicht zu einer Entschärfung der Situation. Die breite Unterstützung der im Oktober 1980 gegründeten Gewerkschaft „Solidarno“ durch die Bevölke-
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rung14 wurde von der kommunistischen Regierung als bedrohlich empfunden, um so mehr, als dass es der Parteispitze nicht gelang, ein überzeugendes wirtschaftliches Reformprogramm zu entwickeln und damit den Unmut der Bevölkerung zu verringern. Die Stimmung im Lande war geprägt von einer Verschlechterung der Einkommensverhältnisse und des Lebensstandards nach einer Phase relativen Wohlstands der 1970er Jahre (vgl. Korcelli 1996: 252, Welfens 1989: 399). Im Einzelnen verdross die Bevölkerung auch die teils katastrophale Umweltverschmutzung in den industriellen Ballungsgebieten, die gesundheitliche Beeinträchtigungen der dortigen Bevölkerung zur Folge hatte (vgl. Pallaske 2002: 97). Der im Februar 1981 nach mehreren Wechseln an der Staatsspitze ernannte neue Ministerpräsident Wojciech Jaruzelski versuchte der Lage durch Machtkonzentration Herr zu werden. Hatte er den Posten des Verteidigungsministers bei Amtsantritt beibehalten, übernahm er im Oktober 1981 zusätzlich auch das Amt des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees. Seine Regierung sah sich von mehreren Seiten unter Druck gesetzt. Erstens zeichnete sich im Land eine Doppelherrschaft von Partei und Gewerkschaft ab (vgl. Krzeminski 1998: 168). Der Partei gelang es nicht mehr, die Bevölkerung zu kontrollieren, und sie musste akzeptieren, dass sie dabei auf die Gewerkschaft Solidarno angewiesen war (vgl. Bohle 2002: 92). Der Machtkampf zwischen den beiden Lagern ging zu Lasten der Wirtschaft, was zu einer ständigen Verschlimmerung der Versorgungslage führte. Neben diesem von der eigenen Bevölkerung ausgeübten Druck drohte die Sowjetunion mit einer Intervention, sollte die Partei „die sozialistische Ordnung“ nicht wiederherstellen (vgl. Bingen 2001: 59). Auf diese äußerst angespannte Situation reagierte die Regierung am 13. Dezember 1981 mit der Verhängung des Kriegsrechts, das Repressalien gegenüber Oppositionellen, eine trotz sofortiger Restriktion der Ausreisebedingungen einsetzende Emigrationswelle und eine daraus hervorgehende Lähmung der Gesellschaft mit sich brachte. Die legale Tätigkeit der Gewerkschaft Solidarno endete mit der Internierung leitender Personen. Auch nach Beendigung der Kriegsrechtsverhängung am 22. Juli des darauf folgenden Jahres waren der Sicherheitsdienst und die Sondereinheiten der Miliz mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet (vgl. ebenda 2001: 13). Auch blieb das am 8. Oktober 1982 ausgesprochene endgültige Verbot der Solidarno bestehen. Damit provozierte die Regierung die Verwandlung von kooperationswilligen Solidarno-Aktivisten in antikommunistische Gegner (vgl. Bohle 2002: 94). Vor dem Hintergrund der außerordentlich breiten Unterstützung der Gewerkschaft durch die Bevölkerung bescherte dieser Schritt der Regierung eine weitere Entfremdung der Gesellschaft von sozialistischen Idealen und eine Forcierung der Dichotomisierung von Staat und Gesellschaft, die sich durch die polnische Geschichte wie ein roter Faden zieht und Kontinuität herstellt. 14 Von insgesamt 16 Millionen Werktätigen waren im November 1980 10 Millionen der Solidarno beigetreten (Bingen 2001: 12).
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2 Theoretischer Rahmen
Zum polnischen Verhältnis von Staat und Gesellschaft Nach Meinung mehrerer Autoren stellt die oben beschriebene Etappe nur ein Glied in der historischen Entwicklungslinie der Dichotomisierungen von Staat und Gesellschaft in Polen dar. Hahn stellt sogar die These auf, dass eine Dichotomie von polnischem Staat und polnischer Gesellschaft durch die lange Teilungsära und der daraus folgenden Fremdstaatlichkeit mitbegründet wurde (vgl. Hahn 1989 in Kühne 2003: 138). Danne konkretisiert diese These: „Die Tatsache, dass sich eine bürgerliche Gesellschaft infolge aufoktroyierter Sozialordnungen durch äußere Mächte nicht entwickeln konnte, hat in Polen zu einer beinahe unüberbrückbaren Dichotomie zwischen Staat und Gesellschaft geführt“ (Danne 1995: 39). Während der 123 Jahre dauernden Nichtexistenz des polnischen Staats konnten in der Tat mehrere Generationen von Polen politisch und sozial nur im nichtstaatlichen gesellschaftlichen Bereich tätig sein. Eine weitere Konsequenz der Staatenlosigkeit bestand darin, dass der katholische Glaube zu einem erheblichen Identifikationsfaktor für viele Polen wurde (vgl. Kühne 2003: 138) und somit die Institution der Kirche eng mit der polnischen Gesellschaft verbunden wurde. Auch der 1918 wieder errichtete polnische Staat konnte seiner Bevölkerung keine Sicherheiten bieten, u.a. da seine Existenz während der nationalsozialistischen Besatzungszeit wiederum bedroht war. Die polnische Bevölkerung war zahlreichen Repressalien durch das Hitler-Regime ausgesetzt und reagierte darauf mit umfassendem Widerstand. „Im ‚Untergrundstaat’ entstanden im Generalgouvernement die Organisationsstrukturen einer illegalen Zivilverwaltung“ (ebenda: 139). Des Weiteren trug die Erinnerung an den Warschauer Aufstand 1944, der nicht nur aufgrund der Überlegenheit der deutschen Truppen, sondern auch am Boykott des sowjetischen Bündnispartners scheiterte, in der polnischen Nachkriegsgesellschaft zum Widerstand gegen die kommunistische Machtübernahme bei (vgl. Hahn 1989 in Kühne 2003: 139). So ist es nicht verwunderlich, dass sich die Entfernung von Staat und Gesellschaft in der stalinistischen Ära und danach weiter vergrößerte. Je mehr der Staat als allmächtige Kontrollinstanz auftrat, desto stärker fanden gesellschaftliche Abgrenzungen statt, so auch in der Dekade der 1980er Jahre. Die in allen Lebensbereichen zu beobachtende Dichotomisierung fand auch ihren sprachlichen Ausdruck: Die Differenz zwischen „oni“, (übersetzt „sie“), „wadza“, also dem Synonym für Macht, Herrschaft, Obrigkeit, Regierung, Behörden, und „my“ („wir“). Damit war die polnische Gesellschaft gemeint, unter Einbeziehung der zwei eigenständigen, im Ostblock einmaligen Nichtregierungsakteuren, die den Systemwechsel mit einläuteten und im späteren Transformationsprozess eine Schlüsselrolle einnehmen sollten: die Gewerkschaft „Solidarno“ und die katholische Kirche. Die Unzufriedenheit mit dem sozialistischen Regime führte letztlich zum Zusammenbruch der Kommunikation zwischen „denen“, den Machthabern, und „uns“, der Gesellschaft. Während sich die wirtschaftliche Situation kontinuierlich verschlechterte, war dennoch die sozialistische Propaganda mit höchst zweifelhaf-
2.2 Der Transformationsprozess in Polen
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ten Erfüllungsquoten allgegenwärtig. Das weit verbreitete Ignorieren dieser leeren Formeln seitens der Bevölkerung, die mit einer ganz anderen Realität konfrontiert war, verstärkte den Graben zu den politisch-wirtschaftlichen Eliten noch. Diese ignorierten bzw. unterdrückten ihrerseits regelmäßig Kritik und Proteste der Bevölkerung, was zum Phänomen der „negativen Macht“ führte, die primär das Ziel verfolgte, die Gesellschaft kampfunfähig zu machen (vgl. Maków 1998: 240). Wenn Kritik von den Autoritäten entweder unterdrückt oder einfach ignoriert wird, werden Menschen indifferent, und die Loyalität gegenüber dem Staat verschwindet (vgl. Kamiski 1991: 193). Die geringe Identifikation der polnischen Bevölkerung mit den kommunistischen Institutionen beschreibt Nowak mit dem Begriff des „gesellschaftlichen Vakuums“ (vgl. Nowak 1979). Damit meint er, dass sich die Polen mit keiner Institution zwischen der Nation und der Familie identifizieren würden (vgl. ebenda: 160). Diese Institutionen brächten ihrerseits durch ihre Organisation und leninistischen Ethos informelle Formen der Anpassung hervor, was wiederum die Herausbildung zweier antagonistischer Ebenen zur Folge hätte: die öffentliche und die private (vgl. Jowitt 1992: 86). Auf das Fehlen allgemein geteilter Regeln zur Gestaltung der gesellschaftlichen Situation passen sich die gesellschaftlichen Akteure mit der Hervorbringung von Misstrauen an (vgl. Trutkowski, Mandes 2005: 247). Die Gefährdung von Vertrauen resultiert aus der Unsicherheit, die mit der Vervielfältigung von Rollen und Regeln zur Situationsdefinierung verbunden ist (vgl. Seligman 1997). Die gesellschaftliche Produktion von Misstrauen ist eine Situation, in der Staatsbürger beginnen, den Staat als ein Hindernis zu betrachten, dem man auf unterschiedliche Art und Weise auszuweichen versucht, während die Staatsmacht an der Loyalität und dem guten Willen ihrer Staatsbürger zweifelt (vgl. Hann 2002). Sozialwissenschaftliche Untersuchungen aus den 1980er Jahren belegen die gesellschaftliche Entfremdung vom sozialistischen Regime. Lediglich 12 Prozent der Bevölkerung unterstützten das Regime aus prinzipiellen Gründen, weitere 15 Prozent der persönlichen Karriere wegen. 25–27 Prozent sympathisierten mit der Opposition bzw. gehörten ihr an. Rund die Hälfte der Bevölkerung tendierte auf der symbolischen Ebene zur Ablehnung des sozialistischen Systems, verfolgte allerdings auf der Handlungsebene eine Strategie des angepassten Überdauerns (vgl. Marody 1986 in Kühne 2003: 142f.). Diesem Ergebnis entspricht, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung marktwirtschaftliche Reformen befürwortete, wie eine Studie aus dem Jahr 1988 ergab (vgl. Morawski 1988: 291). Dies überrascht nicht, gewährleisteten doch informelle Strukturen der Schattenwirtschaft mehr oder weniger das Funktionieren der sozialistischen Ökonomie (vgl. Maków 1998: 28). Informelles Handeln setzt wechselseitiges Vertrauen in bestehenden Netzwerken voraus, die wiederum ein Indikator dafür sind, wie sich Einzelne innerhalb des sozialistischen Systems individuelle Freiräume erkämpften. Zugespitzt kann die
32
2 Theoretischer Rahmen
These vertreten werden, dass die Stabilität des sozialistischen Systems erst mit der Durchsetzung von marktwirtschaftlichen Strukturen und Handlungen, wie dem Verkauf von sogenannten Bückwaren oder knappen Gütern wie Baumaterial oder exotischen Früchten, innerhalb dieser persönlichen Freiräume gewährleistet werden konnte. Durch dieses nichtsystemkonforme Handeln mit marktwirtschaftlichen Elementen wurden staatliche Regulierungen einerseits umgangen. Andererseits waren diese Handlungen legitim und notwendig, um das staatssozialistische System vor dem endgültigen Kollaps zu bewahren. Letztlich bedeutet jede Entscheidung für eine schattenwirtschaftliche Aktivität auch ein privates Ausweichen vor staatlichen Regulierungen (vgl. Cassel 1989: 54). Ein weiteres, eher marktwirtschaftliches Element, das neben „Solidarno“ und der starken Rolle der katholischen Kirche als „polnische Besonderheit“ (vgl. Maków 1998: 96) gilt, bestand in der kontinuierlichen Dominanz von privatwirtschaftlichen Strukturen der kleinbäuerlichen Landwirtschaft in Polen. In der Landwirtschaft wurde die 1948 nicht einstimmig beschlossene Kollektivierung schon 1956 rückgängig gemacht (vgl. Philipp 1991: 325). Zu dieser Entscheidung trugen die Misserfolge der Industrialisierungsphase und der daraus hervorgehenden Versorgungsengpässe in der ersten Hälfte der 1950er Jahre ebenso bei wie die politischen Unruhen 1956 (vgl. ebenda: 26f.). Anfang der 1980er Jahre wurden über zwei Drittel des landwirtschaftlichen Bodens durch kleine bäuerliche Betriebe bewirtschaftet (vgl. ebenda: 1).15 „Polen ist damit neben Jugoslawien das einzige Land in Ost- und Südosteuropa, in dem sich der überwiegende Teil des Bodens in Privatbesitz befindet“ (Hegenbarth, Schinke 1973: 2). Aber auch außerhalb des Agrarsektors hatte das Land 1989 von den sogenannten Ostblockstaaten den höchsten Anteil des Privatsektors (ca. 20 Prozent) an der Volkswirtschaft (vgl. Franzke 2000: 17). So betrug im Jahr 1989 der Anteil des privaten Sektors an den Dienstleistungen für die Bevölkerung 34,3 Prozent und bekam damit eine überragende Bedeutung (vgl. Brzezinski 1991: 297). Bereits 1987 begann die Nomenklatura, sich wirtschaftliches Eigentum übertragen zu lassen. Im Sozialismus waren also bereits marktwirtschaftliche Elemente in Polen vorhanden, was zur Folge hatte, dass zu Beginn des Umbruchs marktwirtschaftliche Strukturen in Polen weit verbreitet waren (vgl. Franzke 2000: 17). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das sozialistische System in Polen zur Zeit des Umbruchs politisch und wirtschaftlich delegitimiert war und einer Gesellschaft gegenüberstand, die sich, im Verbund mit zwei starken Oppositionsakteuren, der Gewerkschaft „Solidarno“ und der katholischen Kirche, vom sozialistischen Regime nichts mehr versprach und sich zu weiten Teilen klar davon abgegrenzt hatte. Staat und Gesellschaft waren auseinandergedriftet. Letztere sympathi15 Der Rest wurde von PGRs (Pastwowe Gospodarstwo Rolnicze), von staatlichen landwirtschaftlichen Großbetrieben, verwaltet. Sie wurden ab 1949 von staatlichen Agenturen zum großen Teil in den ehemals ostpreußischen Gebieten Polens gegründet.
2.2 Der Transformationsprozess in Polen
33
sierte mit marktwirtschaftlichen Reformen, dem Staat fehlte jede politische Unterstützung (vgl. Bohle 2002: 104). Was aus dieser Konstellation für den Transformationsprozess in Polen folgt, wird im nächsten Kapitel dargelegt. 2.2.2 Merkmale des Transformationsprozesses in Polen Politisch: Ausgehandelter Systemwechsel Ende der 1980er Jahre hatte die kommunistische Partei in der Bevölkerung jeden Rückhalt verloren. Die Tatsache, dass sie weiterhin auf die von ihr verbotene Gewerkschaft „Solidarno“ angewiesen war, um weitere Reformen durchsetzen zu können (vgl. Bohle 2002: 105), zeugt von der Handlungsunfähigkeit der kommunistischen Regierung sowie von der vollkommenen Entfremdung von der polnischen Gesellschaft. „Das große Problem der kommunistischen Regierung war (...) die völlig fehlende politische Unterstützung. Ende 1988 sah sich die Regierung gezwungen, wieder in Verhandlungen mit ,Solidarno‘ zu treten“ (ebenda: 104). An dieser Stelle wird die große Bedeutung der Akteursebene in der Analyse der Geschehnisse in Polen deutlich: Das Land gilt als Paradebeispiel eines „ausgehandelten Systemwechsels“ (vgl. von Beyme 1994 : 94), der mit den Gesprächen am sogenannten Runden Tisch zwischen Vertretern der Regierung und der „Solidarno“ seine sichtbarste Ausprägung fand. Zwischen Herbst 1988 und Frühling 1989 handelten beide Seiten einen moderaten Kompromiss aus: Die erneute Zulassung der Gewerkschaft „Solidarno“ sowie die baldige Durchführung teilweise demokratischer Parlamentswahlen16 waren die wichtigsten Ergebnisse der Verhandlungen. Dass beide Akteure ihre mittelfristigen Machtchancen während der Gespräche falsch eingeschätzt hatten, zeigten die Ergebnisse der ersten Parlamentswahlen im Juni 1989: Die PZPR (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei) erlitt eine empfindliche Niederlage, die „Solidarno“ hingegen errang einen grandiosen Sieg. Die kommunistische Partei hatte ihre Macht und die Möglichkeiten eines begrenzten Systemwandels über-, die bisherige Opposition ihre eigene Macht und ihren Rückhalt in der Bevölkerung unterschätzt (vgl. Colomer, Pascual 1994: 291). Bei der im September 1989 gebildeten Regierung des „Solidarno“-Mitgliedes Mazowiecki handelte es sich somit um die erste nichtkommunistische Regierung sowohl in Polen als auch im gesamten Ostblock (vgl. Franzke 2000: 10). Verkörperte diese Regierung noch eine Machtteilung zwischen dem alten Regime und der bisherigen Opposition, da wichtige Posten nach wie vor an Mitglieder der PZPR vergeben wurden, übernahm der bisherige Inbegriff der Oppositionsbewegung, die „Solidarno“, mit der Wahl des „Solidarno“-Führers Lech Wasa zum Staatspräsidenten Ende des 16 Das neu eingeführte Mehrheitswahlsystem ließ nur bedingt freie Wahlen zu, da der bisherigen Regierungskoalition 65 Prozent aller Sitze vorab garantiert wurden (vgl. Ziemer 1998: 57).
34
2 Theoretischer Rahmen
Jahres 1990 endgültig die Regierungsmacht. Damit passierte etwas in der polnischen Geschichte Außergewöhnliches: Die Dichotomie von Staat und Gesellschaft war, zumindest im Augenblick der Machtergreifung der „Solidarno“, überwunden. Die „Solidarno“ hatte einen Sieg über das ungeliebte Regime errungen und mit ihr ihre Millionen von Mitgliedern und Anhängern ebenfalls. Der Staat repräsentierte nach langer Zeit wieder die Gesellschaft, seine Legitimität in der Bevölkerung war stark gestiegen. Die Polarität von „oni“ und „my“ hatte sich verringert, beide Teile gingen ineinander über. Ein Großteil der Bevölkerung identifizierte sich mit der neuen Obrigkeit und vertraute ihr wegen des jahrelangen gemeinsamen Kampfes gegen das sozialistische Regime. Die neuen Machthaber konnten also erstens von einem breiten gesellschaftlichen Vertrauensvorschuss ausgehen und genossen durchgehende Akzeptanz.17 Zweitens wurden die Legitimation und Unterstützung für die neue Regierung durch die vollständige Ablehnung des alten Regimes erleichtert. Ein wichtiger Faktor und zugleich Startkapital der Reformer war der in Polen besonders starke Überdruss der Bevölkerung mit dem alten System. Die Niederlage des sozialistischen Systems trug dazu bei, alles zu kompromittieren, was auch nur im Entferntesten an sozialistisches Gedankengut erinnerte (vgl. Smolar 2006: 6). Die ökonomische und politische Erschöpfung des sozialistischen Produktionsmodells war eine wesentliche Bedingung für die Zustimmung zu einer marktradikalen kapitalistischen Alternative (vgl. Bohle 2002: 124). Die rapide gestiegene Legitimität des Staates und die Popularität der neuen Regierung verschafften der politischen Führung also notwendigen Raum für Reformen, die von der Bevölkerung sonst nur schwerlich hingenommen worden wären. Es handelte sich dabei um die ersten Schritte der Umwandlung der zentralen Plan- in eine Marktwirtschaft. Polen beschritt diesen Weg mittels einer „Schocktherapie“18, die auf einem vom Finanzminister der Regierung Mazowiecki, Leszek Balcerowicz, ausgearbeiteten Programm beruhte (vgl. Maków 1998: 135). Wirtschaftlich: Schocktherapie Die wichtigsten Punkte des wirtschaftlichen Reformprogramms bestanden in einer Preisliberalisierung und -erhöhung, einer Liberalisierung des Außenhandels sowie der Einleitung der Privatisierung (vgl. Juchler 1994: 187ff.) mit dem Ziel der makroökonomischen Stabilisierung. Der Erfolg des Programms wird heute kontrovers diskutiert. Kritiker beklagen die Konsequenzen seiner Einführung, nämlich den vollständigen Bruch mit dem vergangenen System und somit eine Destabilisierung 17
So zeigt eine Erhebung vom November 1989, dass 80 Prozent der Befragten der Regierung vertrauten. 75 Prozent waren der Ansicht, die Regierung arbeite gut (vgl. Sulek 1992: 26). Bis Mitte der 1990er Jahre trafen die radikalen Reformen auf gesellschaftliche Unterstützung (vgl. Bohle 2002: 112). 18 Im Gegensatz zu gradualistischen Vorgehensweisen in anderen postkommunistischen Ländern, wie z.B. Ungarn, war die Radikalität und der allumfassende Charakter des polnischen Programms historisch einmalig (vgl. Bohle 2002: 108).
2.2 Der Transformationsprozess in Polen
35
der ökonomischen Entscheidungsprozesse. “Shock therapy’s package of price liberalization, stabilization, and privatization aims to dissolve the past by the fastest means possible. (…) It is the wrong medicine not only because of its single-minded concern to destroy but also because it destabilizes the institutional framework of economics decisionmaking” (Burawoy, Verdery 1999: 5f.). Befürworter hingegen loben die positive Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP), den Rückgang der Inflation und die Konjunkturentwicklung (wie z.B. Juchler 2000: 191f., Franzke 2000: 18f.). Unbestritten ist der Lebensstandard der Bürger in Polen seit dem Systemwechsel in weiten Teilen erheblich gestiegen (vgl. Vetter 2006: 134). Auswirkungen auf Akteursebene Gleichzeitig ist aber auch die Tatsache nicht zu übersehen, dass im Zuge des wirtschaftlichen Transformationsprozesses in Polen eine Verschärfung der sozialen Ungleichheit in der Gesellschaft stattgefunden hat. Die Einkommensunterschiede zwischen den sehr gut Verdienenden am oberen und den Beziehern des staatlich festgelegten Mindestlohnes am unteren Ende der Gehaltsskala haben bedenkliche Ausmaße angenommen.19 Damit nicht genug. Nach Angaben des polnischen statistischen Amtes bezogen über die Hälfte der Polen im Jahr 2003 niedrigere Einkommen als das sogenannte soziale Minimum (vgl. Jarosz 2005: 144). Es ist also durchaus legitim zu sagen, dass die polnische Gesellschaft bis zur Gegenwart mit massiven Verarmungsprozessen zu kämpfen hat. Tabelle 1 zeigt die Armutsentwicklung in Polen in den Jahren 1997–2006. Aus Tabelle 1 geht hervor, dass der Anteil der als arm geltenden Menschen an der Gesamtbevölkerung in Polen gestiegen ist. So hat sich der Anteil der extrem Armen von 1997 bis 2006 mehr als verdoppelt, aber auch die Zahl der von relativer Armut Betroffenen hat sich im gleichen Zeitraum um zwei Prozent auf knapp 18 Prozent erhöht. Diese Entwicklung wurde vor allem durch zwei Faktoren hervorgerufen: Die Hyperinflation zu Beginn der 1990er Jahre führte zu einer dramatischen Schrumpfung der Haushaltseinkommen. Zudem kam es im Zuge der Privatisierungsprozesse und der Umstrukturierungen der Betriebe zu einer dauerhaften strukturellen Arbeitslosigkeit, eine Erfahrung, die die davon Betroffenen vor eine bis dahin unbekannte Problematik stellte.
19 Wissenschaftlichen Schätzungen zufolge betrug die gesamte Spannbreite der Einkommen im Jahre 2002 annähernd 1:300 (Sadowski 2003 in Jarosz 2005: 139). Berechnungen für das Jahr 2004 mit dem Laeken-Indikator zeigen, dass 20 Prozent der Bevölkerung mit dem höchsten Einkommen ein 6,6-fach höheres Einkommen bezogen als die 20 Prozent mit dem niedrigsten Einkommen (GUS 2007b: 6).
36 Tabelle 1: Armutsgrenze Existenzminimum Gesetzlich definierte Armut Relative Armut Subjektive Armut
2 Theoretischer Rahmen
Armutsentwicklung in den Jahren 1997–2006 in Polen (Betroffene in Prozent)20 1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
5,4
5,6
6,9
8,1
9,5
11,1
10,9
11,8
12,3
k.A.
13,3
12,1
14,4
13,6
15,0
18,5
18,1
19,2
18,1
15,1
15,3
15,8
16,5
17,1
17,0
18,4
18,4
20,3
18,1
17,7
30,8
30,8
34,8
34,4
32,4
30,4
30,4
27,3
22,5
18,3
Quelle: GUS 2007b: 71 Tabelle 2 stellt die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Polen dar. Tabelle 2:
Arbeitslosenquote
Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Polen in Prozent, Dezember 1997– 2007 1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
10,3
10,4
13,1
15,1
17,5
20,0
20,0
19,0
17,6
14,8
11,4
Quelle: GUS 2008a
20 Ökonomische Armut kann mit unterschiedlichen Indikatoren gemessen werden. Fundamental ist die Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Armut. Die Armutsgrenze am Existenzminimum definiert absolute Armut, die dann gegeben ist, wenn die rein physische Existenz eines Individuums nicht garantiert ist. In Polen wurde sie im Jahr 2005 bei einem durchschnittlichen monatlichen verfügbaren Einkommen unter 383 Zoty für eine Person erreicht. Gesetzlich definierte Armut berechtigt zum Erhalt von staatlichen Sozialleistungen. Die Grenze hierfür liegt bei 461 Zoty monatlich für eine Person. Relative Armut orientiert sich an konkreten Lebensbedingungen in einem bestimmten Land. Nach dieser Definition ist jemand arm, wenn er aufgrund unzureichender finanzieller Ressourcen einen für seine Gesellschaft akzeptablen Lebensstandard nicht erreichen kann. In den Ländern der EU gilt eine Person als armutsgefährdet, die über weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens (gemessen mit Median) in ihrem Land verfügt (Statistisches Bundesamt 2006: 17). Aus methodischen Gründen wurde bei den hier vorliegenden Berechnungen mit 50 Prozent des Durchschnittseinkommens gearbeitet. Die Armutsgrenze der relativen Armut lag in Polen im Jahr 2005 durchschnittlich bei einem monatlichen Einkommen von 437 Zoty. Da das Konzept der relativen Armut am weitesten verbreitet und am besten vergleichbar ist, wird es in dieser Arbeit als ökonomisches Armutsmodell verwendet.
2.2 Der Transformationsprozess in Polen
37
Zwar sinkt die Arbeitslosenquote seit einigen Jahren kontinuierlich, sie liegt jedoch immer noch deutlich über dem EU-Durchschnitt (GUS 2007b: 5). Außerdem sind die Bedingungen der kleiner gewordenen Gruppe der Arbeitslosen beunruhigend. „Sie wird von Langzeitarbeitslosigkeit, verbunden mit Passivität, Inanspruchnahme sozialer Hilfsangebote und negativen Begleiterscheinungen, charakterisiert“ (Tarkowska 2008: 2). Keine Arbeit zu haben war im sozialistischen Polen undenkbar. Ein Anspruch auf Arbeit war staatlich garantiert.21 Vor dem Hintergrund des verfassungsmäßigen Rechts auf Arbeit wurde Arbeitslosigkeit demzufolge nach dem Systemwechsel nicht auf strukturelle Ursachen zurückgeführt, sondern galt vielmehr als Ausdruck individuellen Scheiterns (vgl. Brozus 1999: 256). Das plötzliche Erleben von Arbeitslosigkeit brachte eine materielle, kulturelle, soziale und moralische persönliche Degradation der Betroffenen mit sich (vgl. Dzicielska-Machnikowska 1995 in Kühne 2003: 149). Besonders die Beschäftigten der Staatsbetriebe spürten mit dem Verlust ihrer Arbeitsstellen das Gefühl erlittener Ungerechtigkeit. Hatten sie noch entschieden zum Sturz des sozialistischen Staates beigetragen, wurde ihnen im neuen System die gesellschaftliche Anerkennung genommen, die ihnen als „führender Klasse“ im Sozialismus sicher gewesen war. Neben den finanziellen Sorgen bedeutete die plötzliche Entlassung auch die Entwertung der bisherigen Arbeit, was Gefühle von sozialer Benachteiligung, Machtlosigkeit und Entmündigung aufkommen ließ (vgl. Jarosz 2005: 33f.). Verstärkt wurde diese Abwertung noch durch die gesellschaftlichen Reaktionen auf individuelle Arbeitslosigkeit. Überwog in den Anfangsjahren der Transformation noch ein positives Stereotyp des Arbeitslosen im gesellschaftlichen Bewusstsein, der schlicht als Transformationsopfer gesehen wurde, wurde dem Arbeitslosen im Laufe der Zeit in der öffentlichen Meinung vermehrt selbst die Verantwortung an seiner Lage gegeben, sei es wegen Faulheit, Arbeitsunwillen oder Pflichtverletzung (vgl. Reszke 1995 in Jarosz 2005: 158). Es zeigte sich, dass sich die Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt durch alle Lebensbereiche zieht. „Da die Arbeit und Einkünfte aus Erwerbstätigkeit zur grundlegenden Unterhaltsquelle geworden sind, wurden sie auch zu einem Faktor, zur Ursache und zum Mechanismus der Differenzierung der Einkommen und des Konsums, der Armut und der sozialen Exklusion“ (Jarosz 2005: 126). Die Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt und dessen zunehmende Flexibilisierung wurden zum Motor der Individualisierung und gesellschaftlichen Differenzierung (vgl. Beck 1986: 226f.). Neben den Gewinnern der Transformation wie Unternehmern, Managern und freiberuflich Tätigen (vgl. Juch21 Dennoch gab es versteckte, geheime Arbeitslosigkeit im sozialistischen Polen, von der keine Statistik sprach, sondern die von den betroffenen, ohne Beschäftigung auf ihrem Arbeitsplatz sitzenden Angestellten erlebt wurde. In jedem Betrieb gab es mehr Angestellte als Arbeitsplätze (Wyrzychowski 2007). Folgendes bekanntes Sprichwort weist auf die Beschäftigungslosigkeit während der Arbeitszeit hin: „Ob man steht oder liegt, Lohn steht einem zu“. [„Czy si stoi, czy si ley, to wypata si naley.”]
38
2 Theoretischer Rahmen
ler 2000: 194) gab es also viele Menschen, für die sich die wirtschaftlichen Reformen vor allem in negativen Effekten niedergeschlagen haben, mit denen sie bis heute konfrontiert werden. Wie sich der Systemwandel auf einzelne Biographien ausgewirkt hat, hängt u.a. von den individuellen Ressourcen22 und Kompetenzen des Einzelnen ab, auf die er bauen kann. Im Transformationsprozess erfolgte eine Umwertung der im sozialistischen System erworbenen Kompetenzen und persönlichen Ressourcen. Ehemals wertvolles kulturelles Kapital wie z.B. erworbene formelle berufliche Qualifikationen oder spezielles Wissen, um an knappe Güter zu gelangen, verlor mit der Transformation jegliche Bedeutung und Nutzen und verwandelte sich unter den neuen Bedingungen in sogenanntes „negatives Kapital“ (vgl. Trutkowski, Mandes 2005: 42). „Wir schlagen die Einführung des Begriffs des negativen gesellschaftlichen Kapitals vor, um die Ressourcen von Individuen zu beschreiben, die ihre Bedeutung im Zusammenhang mit der Systemtransformation verloren haben“ (ebenda, Hervorhebung im Original).23 Neben den im neuen System abgewerteten Kompetenzen und Ressourcen haben sich andere als überaus nützlich im Umgang mit den Effekten der Transformationsphase erwiesen. Vor allem die Einbindung in soziale Netzwerke führte zur Herstellung von Stabilität während der Unsicherheiten der Transformationsphase. „In so einer durch neue Gefahren gekennzeichneten Welt stellte die Hinwendung zu informellen gesellschaftlichen Netzwerken oft die einzige Durchhaltestrategie dar (…)“ (ebenda: 241). „Network capital” (vgl. Wellman 1999), also die Nutzung von Netzwerken (vgl. Ledeneva 2006: 304), fungierte angesichts der instabilen staatlichen Institutionen sowohl vor als auch während der Transformation als Staatsersatz und übernahm dessen Aufgaben. „Ausgebaute informelle gesellschaftliche Austauschnetzwerke übernahmen während der Dauer des Regimes viele Funktionen, die normalerweise Staat und Markt ausfüllen, sie wurden zu ihrem Ersatz. Sie haben sich auch in der neuen Wirklichkeit bewährt und vervollständigen Markt und Staat“ (Mandes, Trutkowski 2005: 241). Die oben angesprochene Entfremdung von Gesellschaft und Staat während der sozialistischen Epoche hat sich – mit Ausnahme der kurzen Zeitspanne des Umsturzes 1989/90 – in der Transformationsphase fortgesetzt. „Diese Unterscheidung wurde durch die Politik der Staatsmacht während des Realsozialismus verstärkt. Die Politik, auf die ‚Verstaatlichung gesellschaftlicher Beziehungen abzielend‘, erreichte genau den gegenteiligen Effekt. Das heißt, sie führte zu einer noch tieferen Privatisierung der beiden Verhältnisse. Das Defizit des gesellschaftlichen Ver22 Der Begriff der Ressource beschreibt alles, worüber ein Individuum oder eine Gruppe verfügen kann. Der Begriff der Ressource ist allgemeiner als der des Kapitals. Eine Ressource wird dann zu Kapital, wenn man von ihr in der Weise profitieren kann, dass ihr Einsatz zur Chancenerhöhung, Zielerreichung oder Vorteilsnahme führt (vgl. Giza-Poleszczuk u.a. 2000a: 27f.). 23 Die Übersetzung dieses Zitats und der drei nachfolgenden wurde von der Autorin vorgenommen.
2.2 Der Transformationsprozess in Polen
39
trauens in Polen betrifft vor allem die zentralen staatlichen Institutionen sowie ihre Beamten: Abgeordnete, Minister, Parteifunktionäre befinden sich so tief in den Rankings über Vertrauen und gesellschaftliches Ansehen, so dass aus diesen Ergebnissen eine immer klarer formulierte Ablehnung der Legitimation ihrer Mandate spricht.“ (Trutkowski, Mandes 2005: 250)
Das Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen führt zu der Einsicht, sich auf den Staat nicht verlassen zu können und sich selber helfen zu müssen. Aufgaben, die dem Staat zugeschrieben werden, wie z.B. die existentielle Absicherung, werden von gesellschaftlichen Institutionen, wie z.B. sozialen Netzwerken, gelöst, obwohl gleichzeitig die Überzeugung vorherrscht, dass diese Aktivitäten in den staatlichen Verantwortungsbereich fallen. So kommt es, dass das gesellschaftliche Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen gleichzeitig von hohen Erwartungen an den Staat begleitet wird. Die Politikverdrossenheit weiter Teile der Bevölkerung, die sich am deutlichsten in den geringen Wahlbeteiligungen24 widerspiegelt, geht einher mit der Überzeugung, „dass der Staat allmächtig sein sollte, bereit zur Lösung jeglicher Probleme von verarmten, ausgegrenzten, von Marginalisierung bedrohten, Arbeit und Perspektiven beraubter Gruppen“ (ebenda 2005: 252). Diese ambivalente Beurteilung der staatlichen Institutionen durch die Bevölkerung macht sich durch eine Kombination gegensätzlicher Ansichten bemerkbar. „Die Analyse von Meinungsumfragen zeigt begründet, dass es Mitglieder dieser Gesellschaft verstehen, viele scheinbar gegensätzliche Haltungen einzunehmen: Sie sind liberal, wenn es um graue Wirtschaft geht, und (...) Liebhaber eines Fürsorgestaates in der öffentlichen Sphäre“ (ebenda 2005: 244). Gleichzeitig fordern die Bürger in bestimmten Bereichen viel Staat, in anderen so wenig Staat wie möglich. Abschließend lässt sich sagen, dass Polens wirtschaftlicher Erfolg als „Wachstumsleader der osteuropäischen Transformationsländer“ (Juchler 2000: 190) längst nicht für alle seine Bürger spürbar ist. Für weite Teile der Bevölkerung bedeutet die aufgezeigte, durch die wirtschaftliche „Schocktherapie“ hervorgerufene Verschärfung sozialer Ungleichheiten im Land das Erleben existentieller Unsicherheiten, vor allem hervorgerufen durch Arbeitslosigkeit und niedrige Löhne. Die damit zusammenhängende Um- und oft Abwertung persönlicher Ressourcen führte zu einer Abwendung von und Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen, bei gleichzeitigen Fürsorgeerwartungen an den Staat. Wie gehen Menschen nun mit materiellen Verunsicherungen um? Wie bewältigen sie plötzliche Armut und lang anhaltende Arbeitslosigkeit in ihrem Alltag? Diesen Fragen widmen sich die nächsten Unterkapitel, in denen zunächst die Theorie der allgemeinen Lebensführung vorgestellt (Kapitel 2.3), dann der Begriff der Ar-
24 Die Wahlbeteiligung bei den Präsidentschaftswahlen im Juni 2005 lag bei knapp 50 Prozent, die der Parlamentswahlen im September 2005 bei 40,57 Prozent. 2007 beteiligten sich knapp 54 Prozent aller Wahlberechtigten an den Parlamentswahlen. (Pastwowa Komisja Wyborcza 2005, 2007)
40
2 Theoretischer Rahmen
mut (Kapitel 2.4) diskutiert sowie ein Überblick über Elemente ökonomischer Haushaltsstrategien (Kapitel 2.5) gegeben wird. 2.3 Theorie der alltäglichen Lebensführung Die Theorie der alltäglichen Lebensführung25 geht der Frage nach, wie Menschen die Gesamtheit ihres Alltags praktisch organisieren. Es geht – kurz gesagt – um den von vielen Routinen geprägten Alltag von Menschen und um den Zusammenhang aller Tätigkeiten einer Person in den verschiedenen für sie relevanten sozialen Lebensbereichen. Wie vereinbaren Menschen ihre Aktivitäten in ihren unterschiedlichen Lebenssphären wie Erwerbstätigkeit, Familie, Erholung, Bildung usw. miteinander? Hintergrund der Entstehung des Ansatzes bildete die Überlegung, dass berufliche Tätigkeiten, Erfahrungen und Entscheidungen nur dann zu verstehen sind, wenn in deren Analyse auch andere Lebensbereiche berücksichtigt werden, da die einzelnen Elemente des Alltags miteinander verkettet sind und sich gegenseitig beeinflussen (vgl. Jurczyk, Rerrich 1993: 21f.).26 So beeinflusst z.B. die Erwerbsarbeit des Partners das Leben der gesamten Familie. Muss er aus beruflichen Gründen anfangen zu pendeln, gerät unter Umständen die Organisation der Kinderbetreuung aus den Fugen. Die Partnerin muss ihre Weiterbildung abbrechen, um sich um die Kinder zu kümmern etc.. In der Lebensführungsforschung steht die Gesamtgestaltung davon, wie sich das Individuum mit den relevanten unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen in der Breite arrangiert, im Zentrum (vgl. ebenda: 23). Diese Frage impliziert, dass der Ansatz Individuen als handelnde gestaltende Akteure versteht, die ihren Alltag ständig selbst aktiv konstruieren (vgl. Weihrich, Voß 2002: 11). Lebensführung wird als Prozess aufgefasst, in dem die aktive Verarbeitung gesellschaftlicher Strukturen durch die Subjekte passiert: Die individuelle Lebensführung kann nur unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen erfolgen und wird von diesen beeinflusst. Sie findet also immer in Auseinandersetzung mit diesen Bedingungen statt. Mit anderen Worten: Lebensführung als aktive Konstruktionsleistung des eigenen Alltags erzeugt und verändert gleichzeitig die sie formenden sozialen Strukturen (vgl. Jurczyk, Rerrich 1993: 34). Damit ist der Begriff der Lebensführung als
25
Dieser Ansatz entstand in den 1980er Jahren im Sonderforschungsbereich 333 „Entwicklungsperspektiven von Arbeit“ an der Universität München. Bekannte Vertreter sind u.a. Karin Jurczyk, Werner Kudera, Maria S. Rerrich, G. Günter Voß und Margit Weihrich. 26 Als geeignete Methode, mit der Theorie der alltäglichen Lebensführung empirisch zu arbeiten, scheint mir deshalb die Ethnographie, denn Theorie und Methode teilen die Auffassung, dass eine ganzheitliche Betrachtung der Lebensumstände notwendig ist, um über einzelne Bereiche gültige Aussagen treffen zu können (vgl. Agar 1996: 120).
2.3 Theorie der alltäglichen Lebensführung
41
vermittelnde Kategorie zwischen Individuum und Gesellschaft anzusehen (vgl. Nissen 2001: 154).27 Trotz des konstruktivistischen Charakters von Lebensführung wird dadurch im Laufe der Zeit eine Routine entwickelt, durch die das Individuum von täglich neu zu treffenden Entscheidungen entlastet wird. „Alltägliche Lebensführung ist (...) ein Bündel von Regulierungsvorschlägen für alltägliche Entscheidungen“ (Weihrich 2001: 223). Die Rekonstruktion des Regelsystems, das bei jedem Einzelnen hinter seinen getroffenen Entscheidungen steckt, ist ein Ziel der Lebensführungsforschung. Je unberechenbarer und beschränkter die eigenen Existenzbedingungen sind, je weniger das Individuum Einfluss auf seine Lebensbedingungen hat, desto wichtiger wird die Orientierung an einer stabilisierenden Lebensführung (vgl. Kudera, Voß 1996: 19). Aus mehreren Gründen ist die Analyse der Lebensbedingungen der Menschen an der polnisch-russischen Grenze, die Schmuggel in ihre Haushaltsstrategien mit einbeziehen, deshalb von besonderer Relevanz: Erstens handelt es sich um Personen, die durch das Erleben des radikalen Wechsels des politischen Systems und der daraufhin einsetzenden Transformation ihrer Gesellschaft umfassende biographische Brüche erlebt haben, deren Wurzel zumeist in Veränderungen ihrer Erwerbsarbeit lagen. Ob durch den Verlust der Arbeit, durch erzwungene berufliche und/oder räumliche Umorientierung eines oder beider Partner und damit einhergehend einer neuen familiären Situation – auf diese, die bisherige Ordnung durcheinander bringenden Prozesse konnten die Menschen nur bedingt Einfluss nehmen. Die Konsequenzen von Handlungsoptionen waren kaum zu antizipieren, so dass die Herstellung von Stabilität durch die eigene Lebensführung von enormer Wichtigkeit war. Zweitens birgt die Ausübung von Kleinhandel bzw. Schmuggel selber eine Vielzahl von Unsicherheiten, Risiken und Instabilitäten. Wem kann ich trauen, wem nicht? Fahre ich heute nach Russland oder doch erst morgen? Wo kontrolliert die heute diensthabende Zöllnerin besonders genau? Wie lange werden wir heute an der Grenze warten müssen? Wie reagiere ich beim Fund meiner Schmuggelware durch die Zollkontrolle? Die Beantwortung solcher Fragen fällt leichter, wenn man auf ein stabiles, erprobtes, routiniertes Alltagskonzept zurückgreifen kann, auf eine bestimmte Lebensführung.
27 Der Begriff der Lebensführung geht auf das Konzept der methodischen Lebensführung im Sinne Max Webers zurück, der darunter – in Abgrenzung zur auf nicht-hinterfragten bewährten Strukturen und Normen fußenden traditionalen Lebensführung – den rationalen und strategischen Umgang mit knappen Ressourcen, vor allem Zeit und Geld, und die bewußte Lebensplanung verstand. Im Kontext von Individualisierung und zunehmend offeneren Lebensbedingungen hat sich als dritter Typus die situativreflexive Lebensführung entwickelt, die von Flexibilität und Kontingenz geprägt ist (vgl. Jurczyk, Rerrich 1993: 40).
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2 Theoretischer Rahmen
Drittens beugt die Verwendung des Lebensführungskonzepts einer „Exotisierung“ des Schmuggels und einer Reduzierung der im Fokus dieser Arbeit stehenden Personen auf ihre Schmuggelaktivitäten vor. Aktivitäten, die im Zusammenhang mit Schmuggel stehen, werden vor dem Hintergrund anderer Alltagsaktivitäten gesehen und verlieren dadurch ihren ausschließlichen zuschreibenden Charakter. Der Ethnologe Agar bringt das hier formulierte Anliegen auf den Punkt: „(...) a person who’s an addict is much more than a junkie; he or she is a mix of several different identities that work with and against each other in complicated ways“ (Agar 1996: 6). Ein weiteres Kennzeichen von Kleinhandel und Schmuggel besteht in seiner außerordentlich flexiblen Ausgestaltung. Diese Tatsache lässt ihn geradezu prädestiniert für eine Einbindung in das Konstrukt der Lebensführung erscheinen. Die Schmuggeltätigkeit an sich erlaubt nur begrenzte Variationen wie z.B. die Wahl des Verkehrsmittels oder die Menge der geschmuggelten Waren. Schmuggel bzw. grenzüberschreitender Kleinhandel besteht auf einer abstrakten Ebene immer aus den folgenden drei Elementen: der Beschaffung von Startkapital und dem Überschreiten der Grenze, dem Warentransport zurück über die Grenze und dem Verkaufen der Waren (vgl. Egbert 2006: 349). Auf welche Art und Weise die Schmuggeltätigkeit aber jeweils in den Alltag der sie ausführenden Person eingebettet ist, hängt entscheidend von der Bedeutung ab, die der Schmuggel für die jeweilige Person besitzt – und diese ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Schmuggel kann als Strategie der Sesshaftigkeit und der Vermeidung von Mobilität betrieben werden – paradoxerweise durch grenzüberschreitenden Kleinhandel, der aber die Beibehaltung des Wohnortes erlaubt. Oder er präsentiert die Abkopplung des Individuums vom Arbeitsmarkt und bietet deshalb größere Freiheiten an, die die Marktabhängigkeit nicht zulässt, die den Einzelnen von Verhältnissen und Bedingungen abhängig macht, welche sich seinem Zugriff entziehen (vgl. Beck 1986: 227). Schmuggel aus dieser Perspektive könnte die Wiederaneignung der eigenen Kontrolle, der eigenen Handlungsfähigkeit bedeuten, die mit dem Verlust des Arbeitsplatzes (und somit der Steigerung der Wahrnehmung der Marktabhängigkeit) verloren gegangen ist. Schmuggel als prekäre informelle ungeschützte Tätigkeit ohne feste Arbeitszeiten steht einem „Normalarbeitsverhältnis“ diametral gegenüber. Er ist vielfältig einsetzbar: von mehrmals am Tag bis ein paar Mal im Monat, kombinierbar mit formaler Erwerbstätigkeit oder mit Saisonmigration, je nach Bedürfnis und Situation des Einzelnen. Aufgrund seiner flexiblen Ausgestaltung ist er gut dazu geeignet, ein Element in einer aus mehreren Einkommensquellen basierenden Haushaltsstrategie zu spielen; ein Phänomen, das nicht nur, wie dargestellt, in Polen an Bedeutung gewinnt. „Income Mixes jeder Art sind also wichtiger denn je“ (Vobruba 2000: 123, Hervorhebung im Original). Auf der einen Seite führen sie zu einer Art Risikostreuung des Einkommens für den einzelnen Haushalt, für den der Verlust einer Einkommensquelle nicht mehr so tragisch ist, wenn mehrere zur Verfügung stehen (vgl. ebenda: 130). Auf der anderen Seite bringen „Income Mixes“ aber auch eine
2.3 Theorie der alltäglichen Lebensführung
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Verstärkung von Unsicherheiten und einen erhöhten Organisationsaufwand des Alltags mit sich, der vor dem Hintergrund einer zunehmenden gesellschaftlichen Komplexität abläuft. „In Folge der Deregulierung von Arbeitszeiten und Beschäftigungsverhältnissen, einer wachsenden Brüchigkeit von Berufsverläufen und einer Individualisierung von gesellschaftlichen Lebenslagen, des Wertewandels und der Veränderung von geschlechtstypischen Rollenmustern, der Pluralisierung von Lebensstilen und von Formen des Zusammenlebens werden die gesellschaftlichen Verhältnisse immer komplexer und führen letztlich dazu, dass die Entwicklung und dauerhafte Praktizierung einer funktionierenden Lebensführung selbst zu einer eigenen Form von „Arbeit“ wird – zu einer Arbeit des Alltags, der man sich nicht entziehen kann.“ (Kudera, Voß 1996: 14f., Hervorhebung im Original)
Ob alle hier angesprochenen Entwicklungen auf den polnisch-russischen Grenzbereich zutreffen, mag dahingestellt sein. Fakt ist, dass die im Zitat beschriebenen Tendenzen – ursprünglich auf die westdeutsche Gesellschaft bezogen – durchaus auch für das postsozialistische Polen gelten (vgl. Kapitel 3). Wie die Menschen in Bartoszyce, die im Schmuggel aktiv sind, diese Arbeit28 des Alltags ausführen, ist hier von Interesse. Gerade die Bewältigung ihres Alltags stellt eine komplexe Leistung dar. Das jeweilige individuelle Lebenskonzept und die soziale Lage29 führen bei jedem Einzelnen zu verschiedenen Formen der Alltagsgestaltung, die sich als typische Arrangements empirisch beschreiben und im Hinblick auf ihre Grundlagen, Möglichkeiten und Grenzen analysieren lassen (vgl. Kudera, Voß 1996: 13). Ich kann und möchte in dieser Arbeit allerdings nicht alle Aspekte einer umfassenden Lebensführung betrachten, sondern benutze die Theorie der alltäglichen Lebensführung als Hintergrundfolie, um das Ziel der Arbeit, die Herausarbeitung von Bedeutungen der Schmuggeltätigkeit in der Armutsökonomie, zu strukturieren. Daher wird an dieser Stelle Armut als ein subjektorientierter Prozess vorgestellt, bevor ein weiteres wichtiges Element der Lebensführung von Schmugglern an der polnisch-russischen Grenze vorgestellt wird: Ökonomische Strategien von armen Haushalten, die den informellen Sektor und die Subsistenzwirtschaft umfassen.
28 Die Lebensführungsforschung geht von einem fließenden dynamischen Arbeitsbegriff aus, woran ich mich an dieser Stelle anschließe. Arbeit kann aus dieser Perspektive nicht klar von Nicht-Arbeit abgegrenzt werden, sondern Alltagshandlungen lassen sich eher auf einem Kontinuum von Tätigkeiten verorten, die mehr oder weniger durchdrungen von Arbeit sind. Eine Tätigkeit besitzt Arbeitscharakter, wenn sie Merkmale wie Anstrengung, Zielgerichtetheit, Ergebnisorientierung und Planung aufweist (vgl. Jurczyk, Rerrich 1993: 32f.). Folgt man dieser Definition, dann kann (muss aber nicht) Schmuggel ohne weiteres als eine Art von Arbeit aufgefasst werden. 29 Soziale Lage wird definiert als typischer Kontext strukturell (vor)gegebener Handlungsbedingungen und Risiken (vgl. Gukenbiehl 1998: 232).
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2 Theoretischer Rahmen
2.4 Armutskonzepte: Armut als subjektorientierter Prozess Wie in Kapitel 2.2 aufgezeigt, hat der Transformationsprozess für viele Haushalte in Polen Verarmung mit sich gebracht. Der ökonomische Ressourcenansatz von Armut bezieht sich in erster Linie auf monetäre Armutsaspekte. Neben der Unterscheidung zwischen relativer und absoluter differenziert er auch zwischen objektiver und subjektiver Armut. Objektive Armut wird nach bestimmten festgelegten Kriterien gemessen. Subjektive Armut hingegen orientiert sich an dem Wert, den die Befragten selbst als kaum ausreichend zur Sicherung ihres Lebensunterhalts benennen.30 Dieser Wert lag in Polen im Jahr 2005 für einen Einpersonenhaushalt bei 941 Zoty pro Monat (GUS 2007b: 80). Der ökonomische Ansatz, der mit einem statischen Armutskonzept arbeitet, ist zwar notwendig für jede Form der Armutsforschung, jedoch nicht hinreichend für eine ganzheitliche Analyse der Lebensumstände armer Menschen, da er zwar ausschließlich ökonomische Faktoren aufgreift, deren Konsequenzen auf weitere Lebensbereiche armer Menschen aber nicht berücksichtigt. Deshalb soll in dieser Arbeit der ökonomische Armutsansatz (vgl. Fußnote 17) um einen subjektorientierten partizipativen Zugang ergänzt werden. Obgleich Armut durch fehlende bzw. mangelnde finanzielle Ressourcen hervorgerufen wird, strahlt sie auf andere Lebensbereiche gleichermaßen aus und beinhaltet weitere Dimensionen außer der ökonomischen, da der Mangel an ökonomischen Ressourcen direkt verbunden ist mit dem Mangel an sozialem und kulturellem Kapital sowie einem prekären und unsicheren Lebenskonzept. Was Jarosz „Armutssyndrom“ nennt (vgl. Jarosz 1999), führt Tarkowska im Folgenden aus: “Armut ist nicht nur eine Frage von niedrigem Einkommen, sondern beinhaltet Mangel und Elend in vielen Bereichen der Bedürfnisbefriedigung – im Gesundheitsbereich, in der Bildung, kultureller und politischer Partizipation und vielen anderen Feldern. Heute liegt der Fokus auf dem komplexen Charakter von Armut, seiner Zusammensetzung und der Diversität zusammenhängender Faktoren, deren gemeinsame Basis in niedrigem Einkommen besteht.“ (Tarkowska 2000: 19)
Armut im Sinne obiger Definition bedeutet also, dass arme Menschen ihre unterschiedlichen Bedürfnisse aufgrund unzureichender Einkünfte und ungenügender finanzieller Mittel nicht oder nur unzureichend befriedigen können (vgl. Tarkowska 2006: 321). Aus dieser Einsicht lässt sich schließen, dass Menschen diese für sie nicht optimale Situation bemüht sind zu ändern, oder zumindest auf sie reagieren müssen. Armut erscheint also aus dieser Perspektive nicht als statischer Zustand, sondern als dynamischer Prozess. Diese Auffassung von Armut teilen die Verfechter des subjektiven partizipatorischen Ansatzes in der Armutsforschung.31 "The participatory approach accentuates the idea that poverty is rather a dynamic process 30 31
Subjektive Armut wird oft mit der „Leyden Poverty Line“ gemessen (vgl. GUS 2007b: 7, 71). Der Prominenteste von ihnen ist Chambers (Chambers 1995).
2.4 Armutskonzepte: Armut als subjektorientierter Prozess
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than a stable state of being and accordingly utilises participatory and qualitative techniques to collect data on the ‘complex, diverse, local realities in which poor live’” (Chambers 1995: 173, Hervorhebung im Original). Dieser Ansatz ist also auf der Mikroebene anzusiedeln und dient als eine subjektorientierte Herangehensweise, mit deren Hilfe die Realitäten und Erklärungen armer Menschen verstanden werden sollen (vgl. Köberlein 2003: 33). Er basiert auf der Annahme, dass Menschen aktiv auf ihre Lebenssituation reagieren. Dies ist bemerkenswert, da Armut zunächst durch das Fehlen einer wesentlichen Voraussetzung von Handlungsfähigkeit gekennzeichnet ist: der verlässlichen Verfügbarkeit monetärer Ressourcen (vgl. Keim, Neef 2003: 227). Ist diese nicht vorhanden, prägen fehlende Zukunftsperspektiven und existentielle Unsicherheiten den Alltag. Trotzdem ist mehrfach empirisch belegt worden, dass auch von gesicherter Erwerbstätigkeit ausgeschlossene Personen soziale Notlagen nicht einfach automatisch erleiden, sondern die eigene Lage durch „tätig-sein“ verbessern und so die eigene Handlungsfähigkeit erhalten (vgl. ebenda: 220). Wenn einem Nebenerwerb nachgegangen wird, auch wenn er oftmals wenig einträglich und nicht selten riskant ist, ist das ein markanter Beleg für die Bemühungen dieser Haushalte, ihre eigene Handlungsfähigkeit zu erhalten und zu sichern (vgl. ebenda: 220f.). „Dabei spielt der Haushalt eine zentrale Rolle, indem er wesentlich zur Verlässlichkeit monetärer Ressourcen beiträgt. Je nach Größe, Zusammensetzung, Herkunft und jeweiliger Lebensphase werden hier die Einkommen und Leistungen aus Arbeit und sozialen Anrechten ‚gefiltert‘ und ‚zusammengesetzt‘, (...)“ (Klein 1998: 99, Hervorhebung im Original). Wie Haushalte das tun, welche Strategien sie anwenden, darauf wird in Kapitel 2.5 eingegangen. Dort werden zunächst ökonomisch ausgerichtete Armutsbewältigungsstrategien von Haushalten vorgestellt. Um der Multidimensionalität des hier verwendeten Armutskonzepts (Kapitel 2.4) gerecht zu werden, nutze ich im Kapitel 2.3 die Theorie der alltäglichen Lebensführung, um zum einen deutlich zu machen, wie diese Strategien, insbesondere der Schmuggel, in den Alltag der Individuen integriert werden und zum anderen, um die Auswirkungen der ökonomischen Armut und der gewählten Bewältigungsstrategien auf weitere Lebensbereiche zu zeigen (vgl. Abbildung 1). Dabei wird dem ersten Punkt aufgrund seiner stärkeren Relevanz für die Forschungsfrage ein höherer Stellenwert als dem zweiten Vorhaben eingeräumt.
46 Abbildung 1:
2 Theoretischer Rahmen
Modell der Armutsanalyse
2.5 Ökonomische Strategien armer Haushalte Der Fragekomplex, wie Individuen und private Haushalte mit begrenzten materiellen Ressourcen umgehen, wie sie finanziellen Engpässen begegnen und welche Einkommensquellen ihnen zur Verfügung stehen, wird ausführlich in der Literatur behandelt. Dort ist die Rede von „Haushaltsstrategien“ (vgl. Keim, Neef 2003, Jordan 1992), „livelihood strategies“ (vgl. Köberlein 2003), „asset management strategies“ (vgl. Rakodi 1999), „coping strategies“ (vgl. Baerenholdt, Aarsaether 2002) oder auch „everyday strategies“ (vgl. Rakodi 1995). Einig sind sich die Vertreter dieser vielfältigen Ansätze bei dem Ziel, das Menschen mit einer Haushaltsstrategie verfolgen: das Erreichen, Sichern und ggf. Verbessern ihrer Existenzgrundlage. In Haushalten werden ökonomische Entscheidungen getroffen. „Familienleben und private Haushalte sind Bereiche, in denen ökonomische Entscheidungen gefällt werden“ (Giza-Poleszczuk 2000c: 113). In den Entscheidungsprozessen eines Haushalts beziehen seine Mitglieder ökonomische und moralische Argumente gleichermaßen ein. Ihre Entscheidungen werden einerseits von Nützlichkeitserwägungen beeinflusst, andererseits spielen soziale oder/und politische Faktoren eine große Rolle (vgl. Jordan 1992: 18). Diese Tatsache ist besonders wichtig für die Analyse von informellen Aktivitäten eines Haushalts wie z.B. Schmuggel. Da für viele Menschen informelle Aktivitäten einen Teil ihrer Armutsbewältigungsstrategie
2.5 Ökonomische Strategien armer Haushalte
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darstellen, ist es von Interesse zu sehen, wie sie ihre persönlichen moralischen Standards mit ihrem Engagement in nicht vollkommen legalen Aktivitäten kombinieren. Das Treffen konkreter ökonomischer Entscheidungen und die Wahl einer Haushaltsstrategie hängen sowohl von vorhandenen äußeren als auch „inneren“ Ressourcen ab. Im vorangegangenen Kapitel wurden die äußeren Ressourcen in Form von den allgemeinen Auswirkungen der Transformation gestreift. Sie werden in Kapitel 3 mit den konkreten Lebensbedingungen im Untersuchungsfeld komplettiert. Die sogenannten „inneren“ Ressourcen eines Haushalts bestehen aus seiner Ausstattung mit verschiedenen Kapitalarten wie soziales, kulturelles oder ökonomisches Kapital. Dazu gehören z.B. Fähigkeiten und Qualifikationen der Haushaltsmitglieder, Informationsstand, Art der Haushaltsführung und die Einbindung in soziale Beziehungen. Mit dem Begriff der Strategie soll allerdings keine bewusste vorausschauende Verfolgung von Interessen definiert werden, was der Begriff zunächst impliziert: „The notion of strategy implies that individuals or collectivities pursue their interests over time by reference to a set of long-term goals or purposes“ (Jordan 1992: 18). Vielmehr folge ich in dieser Arbeit der Auffassung von Wallace, die eine Strategie als die im Laufe des Lebens erworbene Art auffasst, mit den oben genannten inneren Ressourcen unter äußeren Restriktionen umzugehen (vgl. Wallace 1999a). Bezogen auf einen Haushalt kann dies sowohl mit langfristiger Zielgerichtetheit als auch als kurzfristige Schadensbegrenzung erfolgen, wie das folgende Zitat verdeutlicht: „A strategy (…) can refer to a carefully planned action chosen from available opportunities which is applied with a long run perspective such as investments in children’s education or accumulating in savings for retirement; as well as to actions chosen as a subconscious response to a crisis or calamity such as selling of valuables or the withdrawal of children from school to take advantage of their labour.“ (Köberlein 2003: 51)
Drozdowski bietet zur Einordnung solch unterschiedlicher Aktivitäten ein Modell konzentrischer Kreise, die übereinander liegen und deren Zentrum die Strategie der Selbstbegrenzung bildet („Strategia samoograniczenia“). Diese definiert er als „(…) alle Anpassungsaktivitäten, die passiv in dem Sinne sind, dass sie auf die Minimierung von Bedürfnissen und Erwartungen zielen und auf den erzwungenen Rückzug aus manchen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens“ (Drozdowski 2001: 119). Die konzentrischen Kreise setzen sich zusammen aus den Aktivitäten, die sich um die eigene Person drehen, gefolgt von Investitionsstrategien, die einen weiteren Zeitraum einnehmen und den Aufbau, Erhalt bzw. die Vermehrung von Kapital mit einbeziehen und von Strategien zur Zukunftssicherung der Kinder umrahmt werden (vgl. ebenda: 126).
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2 Theoretischer Rahmen
Ein wenig abstrakter erscheint die Trennung zwischen offensiven und defensiven ökonomischen Strategien, wie sie Giza-Poleszczuk und Marody vor dem Hintergrund des Transformationsprozesses in Polen vornehmen. „Offensive Strategien bestehen in expansiven Formen der Erlangung von Kontrolle, der Vergrößerung des Besitzes, einer vorteilhafteren Verortung in der neuen Realität” (GizaPoleszczuk, Marody 2000b: 70f.). Offensive Strategien werden von Risikobereitschaft, Investitionen, Bereitschaft zum Wechsel der Arbeitsstelle und zur Weiterqualifizierung, Flexibilität und dem Einsatz von Reserven begleitet. Defensive Strategien hingegen bestehen aus Tätigkeiten zum Erhalt des Status Quo und können sich in der Unterdrückung von Bedürfnissen, allgemeinem Sparen, dem Verharren in den momentanen Arbeitsstrukturen und allgemeiner Passivität und Unflexibilität ausdrücken. Was Giza-Poleszczuk und Marody offensiv und defensiv nennen, heißt bei Wciórka, die sich ebenfalls auf polnische Realia bezieht, aktiv, moderat aktiv und passiv (vgl. Wciórka 2002: 103ff.). Bestandteile einer aktiven Strategie können die Übernahme von Extraarbeitsstunden oder Weiterqualifizierungen sein, also Zukunftsinvestitionen durch die Nutzung vorhandener Ressourcen. Im Rahmen einer moderaten aktiven Strategie werden Ausgaben durch eine Verringerung des Lebensstandards gespart, oft unter Nutzung von sozialen Netzwerken. Die passive Strategie besteht aus einer rigorosen Einschränkung der Ausgaben, begleitet von staatlicher Unterstützung und dem Verkauf eigener Besitztümer (vgl. KawczyskaButrym 2004: 29f.). Für eine ausführliche Analyse dessen, wie Haushalte ökonomische Entscheidungen zur Armutsbewältigung treffen, eignen sich diese Ansätze aus mehreren Gründen allerdings nicht. Erstens wird die Tatsache vernachlässigt, dass Haushalte meist aus mehreren Personen bestehen, deren Interessen gegensätzlich sein können. Der Begriff der Haushaltsstrategie klingt verführerisch, da er die Kooperation der einzelnen Haushaltsmitglieder voraussetzt. Tatsächlich aber ist ein Haushalt der Platz, an dem eine Familie diese Kooperationen ständig neu aushandelt. „Familie und Haushalt haben also vor allem die Funktion, von unterschiedlichen Akteuren getroffene Entscheidungen zusammenzuführen: von Männern und Frauen, Eltern und Kindern, älteren und jüngeren Generationen“ (Giza-Poleszczuk 2000c: 112). Intrafamiliäre Machtverhältnisse beeinflussen stark die Entscheidungsprozesse in einem Haushalt. Es kommt vor, dass individuelle Entscheidungen eher den eigenen Interessen folgen als denen des Haushalts als Ganzes (vgl. Jordan 1992: 21). Zu warnen ist also vor der Annahme, es handele sich bei Haushalten um eine homogene Einheit32, auch im Hinblick auf das Erleben von familiärer Armut. „Wenn man Familie und Haushalt als Hauptuntersuchungseinheit behandelt, liegt die Annahme 32
Als Ganzes werden Haushalte auch von Becker (1990) in seiner Theorie zur Produktivität von Haushalten angesehen (vgl. Giza-Poleszczuk 2000c: 109).
2.5 Ökonomische Strategien armer Haushalte
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nahe, dass Armut sich gleichmäßig auf alle Familienmitglieder verteilt, dass alle von ihr gleichermaßen berührt werden, dass alle sie auf gleiche Weise erfahren und dass sie gleich arm sind“ (Tarkowska 2006: 358). Zweitens argumentiert besonders der Ansatz von Wciórka stark normativ. Aktiv ist positiv, passiv ist negativ konnotiert. Wer aktiv ist, nimmt sein Leben selbst in die Hand, Passive hingegen lassen sich im Fatalismus treiben und tun nichts für eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, so die allgemeinen Assoziationen mit diesen Adjektiven. Allerdings passt die Bezeichnung „passive Strategie“ nicht zu dem, was sie bezeichnet: Das Verkaufen von eigenen Besitztümern hat nichts mit Passivität zu tun, sondern ist auch Teil einer aktiven Strategie. Studien haben darüber hinaus ergeben, dass auch in von Einkommensarmut zermürbten Haushalten Bemühungen existieren, durch eine geregelte Haushaltsführung die materielle Lage stabil zu halten (vgl. Keim, Neef 2003: 224). Damit gelingt vielleicht nicht die Flucht aus der Armut, aber in jedem Fall wird die individuelle Handlungsfähigkeit bewahrt und entwickelt. Drittens schließlich spielt die Erwerbsarbeit im Modell von Giza-Poleszczuk eine unpassend zentrale Rolle. Ohne Zweifel ist reguläre Erwerbsarbeit für die meisten Menschen ihre Haupteinnahmequelle; ob das allerdings für mit Armut konfrontierte Haushalte gleichermaßen zutrifft, darf bezweifelt werden. Ein neutrales analytisches Modell, mit dem der Strategiebegriff empirisch eingeordnet werden kann, stellt die Typisierung von „livelihood strategies“ nach Köberlein dar (vgl. Köberlein 2003: 49ff.). Es trägt der Tatsache Rechnung, „that there is a continuum of livelihood strategies which range from the struggle to merely stay alive at any cost, to endeavours in achieving longer-term security to efforts which enable impoverished households to move out of poverty altogether” (ebenda: 52). Haushalte bzw. ihre Mitglieder verfolgen mit unterschiedlichen Haushaltsstrategien verschiedene Ziele, wiederum abhängig von den äußeren Bedingungen und ihren inneren Ressourcen. Köberlein unterscheidet drei „livelihood strategies“: „enhancement“, „mitigation“ und „coping“. Das Ziel der „Enhancement-Strategie“ liegt in der Verbesserung der aktuellen Einkommenssituation von Haushalten. Langfristige Investitionen, die eine gewisse Vorausschaubarkeit gewährleisten, werden bewusst getätigt. Der Kauf eines Pkws mit besseren Verstecken für Schmuggelgut ist ein Beispiel für eine „Enhancement-Strategie“. „Mitigation-Strategien“ dagegen können als vorbeugende Maßnahmen verstanden werden, um sich vor Risiken zu schützen und mit unerwarteten Stresssituationen umgehen zu können. Diese Strategien werden bewusst eingeschlagen, deshalb wird ein vorhersehbares Ergebnis erzeugt. Der Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung stellt ein Beispiel für eine „Mitigation-Strategie“ dar, das Zahlen von Bestechungsgeldern an russische Zollbeamte ebenso. Die Ziele der „Coping-Strategie“ bestehen im Überleben, der Sicherung der physischen Existenz und der Bewältigung einer Stresssituation. „Coping-Strategien“
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werden nach einem unvorhergesehenen negativen Ereignis ausgeführt, um dessen Auswirkungen abzumildern. Deshalb sind die Konsequenzen der „coping activities“ schwer abzuschätzen (vgl. ebenda: 53f.). Ein Beispiel für diese Strategie ist die Aufnahme einer alternativen Tätigkeit, nachdem der Pass wegen wiederholten Schmuggels großen Ausmaßes von polnischen Grenzschützern einbehalten wurde. Der in dieser Arbeit verwendete Begriff der Haushaltsstrategie meint die abhängig von inneren und äußeren Ressourcen (von äußeren Rahmenbedingungen und eigenem Kapital) gewählten Kombinationen von Einkommensarten und Zielen, die mit dem verfügbaren Einkommen in einem Haushalt erreicht werden sollen (siehe Abbildung 2) und die auf ständigen Aushandlungsprozessen der Haushaltsmitglieder basieren. Obgleich die „Coping-Strategie“ vor allem von extrem armen Haushalten in Anspruch genommen wird, die „Mitigation“- und „Enhancement-Strategien“ eher von solchen Individuen bzw. Haushalten verfolgt werden, die eine ökonomische Basis aufgebaut haben, lassen sich in Haushaltsstrategien auch Kombinationen von allen drei Elementen finden. Der imaginäre Schmuggler, der sich ein neues Fahrzeug für sein Schmuggelgut gekauft, weiterhin die russischen Zöllner bestochen hat und nach Verlust seines Passes auf dem Markt in Bartoszyce sowohl Zigaretten verkauft als auch einen vom Arbeitsamt vermittelten Job als Baumfäller angenommen hat, kombiniert also in seinem Part seiner Haushaltsstrategie beispielhaft drei unterschiedliche Formen von Einkommensverwendung: „enhancement“, „mitigation“ und „coping“. Neben der Kombination von unterschiedlichen Zielen der Verwendung seines Einkommens erzeugt der Schmuggler im oben beschriebenen Beispiel sein Einkommen auch auf vielfältige Arten: Genannt sind formale Erwerbsarbeit (Job als Baumfäller) und informelle Arbeit (Schmuggel, Verkauf von Zigaretten). Ein drittes wichtiges Element, das häufig in Kombination mit formalen und informellen Tätigkeiten als Haushaltsstrategie dient, ist die Subsistenzwirtschaft. Neben der Verflechtung zwischen Subsistenzproduktion und Lohnarbeit erkennt der Bielefelder Verflechtungsansatz33 auch das Ineinandergreifen von Subsistenz- und Warenproduktion (vgl. Evers 1986: 2). Eine vierte Einkommensquelle stellen für viele Haushalte letztlich staatliche Unterstützungsleistungen dar. Oft werden also informelle und formale Tätigkeiten mit Subsistenzproduktion kombiniert bzw. verflochten, um durch die Diversifizierung von Einkommen den Lebensunterhalt sicher zu stellen (vgl. Elwert 1983: 285, Evers 1986: 3). Der Begriff der Subsistenzproduktion wurde von Evers definiert: „All unpaid work for own use, i.e. for the immediate consumption of goods and services by the 33 Dieser Ansatz versteht sich als eine Ergänzung zu Weltsystemansätzen, die sich auf der Makroebene in der Entwicklungsforschung vor allem auf den Lohnarbeitsbereich konzentrieren und dessen für das Individuum bedeutsame Verflechtungen auf der Mikroebene zu anderen Wirtschaftsbereichen, wie z.B. die Subsistenzwirtschaft, ausblenden (vgl. Evers 1986: 1).
2.5 Ökonomische Strategien armer Haushalte
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producer or his or her household“ (Evers 1985: 11), fällt unter die Kategorie Subsistenzarbeit. Wenn diese Subsistenzarbeit mit Produktionsmitteln kombiniert wird, die dem Arbeiter bzw. seinem Haushalt gehören oder er sie kostenlos benutzen kann, spricht Evers von Subsistenzproduktion (vgl. ebenda). Subsistenzproduktion befindet sich außerhalb des Marktes und besitzt dadurch keinen monetären Wert (vgl. ebenda). Sie ist Produktion für den Eigenbedarf, für den Bedarf der eigenen unmittelbaren Versorgungseinheit, für reziproke Gaben und ist damit klar geschieden von der Warenproduktion (vgl. Elwert 1984: 384). Subsistenzproduktion nach Evers Definition umfasst einen weiten Bereich und beinhaltet Aktivitäten wie das Bauen und Instandhalten des eigenen Hauses, den Gemüseanbau im eigenen Garten, das Suchen von Feuerholz, das Nähen von Kleidung, Essen kochen oder die Kinderbetreuung (vgl. Evers 1985: 10f.). Subsistenzproduktion bezieht sich also auf Eigenarbeiten, die ein breites Spektrum von Tätigkeiten des Haushalts bezeichnen und die der Erhaltung und Verbesserung des Versorgungsniveaus und allgemein der Lebensqualität dienen (vgl. Keim, Neef 2003: 223). Die Ausführenden – meist Frauen – werden für diese Tätigkeiten nicht bezahlt. Kritisch anzumerken ist der Definition von Evers allerdings, dass er keine Unterscheidung macht zwischen traditioneller Subsistenzproduktion, die nach den Regeln und Normen von Gemeinden und Organisationen funktioniert, und einer modernen Subsistenzproduktion, die aus lokalen Bindungen weitgehend herausgelöst ist und vom jeweiligen Haushalt autonom erbracht wird: „Modern subsistence production (…) is carried out by households, which have grown out of traditional bonds and are dependent on modern production and supply systems“ (Neef 2002a: 5, Hervorhebung im Original). Evers macht deutlich, dass auch normale Hausarbeit zur Subsistenzproduktion gehört. Er schließt auch solche Tätigkeiten in seine Begriffsdefinition ein, die auch komplementär mit dem Erhalt der Versorgungsqualität zu tun haben und keine Überschüsse abwerfen, wie z.B. die Kinderbetreuung oder das Sauberhalten des Wohnplatzes. Bei Subsistenzproduktion kann es sich aber auch um Produktion und Dienstleistungen für den eigenen Bedarf handeln, die mit dem Tausch oder dem Verkauf von Überschüssen in sozialen Netzwerken verbunden ist. Ein Beispiel hierfür ist der Anbau von Gemüse im eigenen Garten über den eigenen Bedarf hinaus, was den Verkauf von Überschüssen erlaubt und somit einen monetären Verdienst aus der Subsistenzproduktion bedeutet. Gerade aber die Tätigkeit des „subsistence farming“ kann ambivalente Konsequenzen für die sie ausübenden Haushalte besitzen. Auf der einen Seite garantiert die mühsame und unproduktive Bewirtschaftung eines eigenen Stückchen Lands ein reguläres Einkommen (vgl. Wallace, Haerpfer 2002: 31). Auf der anderen Seite sehen oben zitierte Autoren die Gefahr einer Abwärtsspirale, die durch die Subsistenzproduktion ausgelöst wird: „(...) there can be a downward spiral of greater dependence on the informal economy encouraging for a further retreat from the formal economy, and no time to search for alternatives, as families spend all their time growing vegetables“ (ebenda).
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2 Theoretischer Rahmen
Dennoch kann der informelle Sektor auch einen Nährboden für die Entwicklung neuer Unternehmen bilden, da er neue Aktivitäten auf dem Markt hervorbringt, aus denen sich später eventuell formalisierte unternehmerische Tätigkeiten entwickeln können (vgl. ebenda). Subsistenzproduktion und Lohnarbeit im informellen und formalen Sektor sind also durch vielfältige Beziehungen miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig. „There is practically no ‚subsistence economy’ in which all that is produced is consumed by the producers nor is there a ‚market economy’ in which all goods and services are distributed through market channels“ (Evers 1981: 7, Hervorhebung im Original). Subsistenzproduktion kann abhängige Lohnarbeit und Warenproduktion stabilisieren bzw. subventionieren: der Bauer z.B., der sich ausschließlich aus eigener Produktion ernährt, kann für seine Verkaufsprodukte niedrige Preise verlangen (vgl. Elwert 1984: 388). Auch kann Subsistenzproduktion monetarisiert werden, indem die Kosten derselben Tätigkeit im formalen Erwerbssektor herangezogen werden, welche durch die Subsistenzproduktion gespart werden. Einkommen aus formaler und informeller Arbeit sowie aus Subsistenzproduktion stehen miteinander im Wechselspiel und bedingen sich gegenseitig. Um z.B. im Haushalt Eigenarbeiten leisten zu können, bedarf es eines Minimums an finanziellen Ressourcen, über die nicht alle Haushalte verfügen. Aus diesem Grund wenden relativ wenige Arbeitslosenhaushalte diese Strategie an (vgl. Beskid 1992: 71, Jordan 1992: 35). Aus dieser Erkenntnis lässt sich schlussfolgern, dass bestimmte Formen von Subsistenzproduktion von monetären Einnahmequellen abhängig sind. Das oben beschriebene „Versorgungsdreieck” spannt sich rund um Markt, Staat und private Haushalte (vgl. Offe, Heinze 1986: 484). Der Markt vermittelt Einkommen aus bezahlter Arbeit, also Erwerbsarbeit und Schwarzarbeit. Der Staat garantiert soziale Anrechte, indem er über öffentlich gesicherte Versicherungsansprüche und über bedarfsgeprüfte Sozialleistungen Einkommensausfälle kompensiert. Die Haushalte leisten Eigenarbeiten zum eigenen Nutzen und empfangen Hilfen durch Beziehungen mit anderen Haushalten (vgl. Keim, Neef 2003: 217). Haushaltsstrategien im Sinne von Keim und Neef bezeichnen die Art, wie die Bewohner diese Quellen des Lebensunterhalts nutzen, mischen und entwickeln. Welche Strategien werden nun in Polen verwendet? Auch in ehemals sozialistischen Gesellschaften wie Polen gewannen „Income Mixes“ nach dem durch die Systemtransformation eingeläuteten Ende der Vollbeschäftigung an Bedeutung, wobei die Menschen dort eher an eigene Erfahrungen anknüpfen können als die in kapitalistischen Gesellschaften (vgl. Vobruba 2000: 122). Studien machen deutlich, dass in Polen von Geldmangel und Armut Betroffene eine Vielzahl von Aktivitäten kombinieren, um damit zu Recht zu kommen. Leihen von Geld, Bemühungen um staatliche Unterstützungsleistungen, Einsparen von Ausgaben, Suchen von kurzfristigen Beschäftigungen – all diese Aktivitäten strukturieren den Tagesablauf ökonomisch armer Menschen. Von Arbeit ausgeschlossene Menschen verfügen über
2.5 Ökonomische Strategien armer Haushalte
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einen Überschuss an Zeit, den sie jedoch nicht als Freizeit betrachten, sondern für den Kampf ums Überleben nutzen: das Bemühen um staatliche Unterstützung, familiäre Hilfeleistungen sowie die ermüdende Suche irgendeiner Gelegenheitsarbeit (vgl. Palska 2002: 246). Abbildung 2:
Ökonomische Haushaltsstrategien: Kombinationen von Einkommensarten und Haushaltszielen
Eine Studie von Kawczyska-Butrym über Frauen in Siedlungen ehemaliger PGRs (vgl. Kawczyska-Butrym 2004) zeigt auf, dass Männer und Frauen dabei jeweils eigene Strategien verfolgen. Frauen sichern das alltägliche Überleben, indem sie jeden Tag aufs Neue versuchen, die Versorgung der Familie sicherzustellen. Sie kaufen ein, leihen kleine Geldsummen, „kombinieren“34, um im Alltag Geld zu sparen. Mit einem Wort: Sie haben die Rolle von „Armutsmanagern“ (vgl. Tarkowska 2006: 358) inne. Armut bedeutet für Frauen mehr Verpflichtungen, mehr Verantwortung und weniger Zeit (vgl. ebenda: 359). Männer hingegen – so Kawczyska-Butrym – nehmen eher längerfristige Strategien auf, um die Situation der Familie dauerhaft zu halten bzw. zu verbessern, vor allem durch Arbeitssuche. Im Hinblick auf die Reaktion ihrer Ehemänner auf Geldmangel innerhalb ihres Haushalts befragte Frauen antworteten zu knapp 50 Prozent, dass ihr Mann eine Beschäftigung im informellen Sektor suchen würde, z.B. Schwarzarbeit, Handel, Gelegenheitsjobs (vgl. Kawczyska-Butrym 2004: 37). In Ostmitteleuropa gibt es besonders viele und weit verbreitete Ausprägungsformen der informellen Ökonomie. „There is certainly no region in the world with so many different forms of the informal economy as eastern Europe” (Neef 2002a: 34 Das polnische Verb „kombinowa“ heiß soviel wie „sich durchschlagen“, kleine Tricks anwenden, um ein Ziel zu erreichen.
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13). Wenn man davon ausgeht, dass fast 90 Prozent aller Haushalte in postkommunistischen Ländern zu einem unterschiedlichen Grad in die informelle Ökonomie involviert sind, kann man durchaus der These zustimmen, dass die Ausübung irgendeiner Form von informeller Ökonomie eine notwendige Bedingung für das ökonomische Überleben für Haushalte in wirtschaftlicher Transformation ist (vgl. Wallace, Haerpfer 2002: 41f.). Besonders in Polen waren schattenwirtschaftliche Aktivitäten als Überlebensstrategie bei einer sich verschlechternden Versorgungslage im Sozialismus stark ausgeprägt (vgl. Cassel 1989, Taigner 1987, Gorski 1988). Wichtig ist die Tatsache, dass die Anzahl armer Menschen in Polen seit der Systemtransformation zugenommen hat. Das meint aber nicht, dass sich der Armutslevel nach unten verschoben hat. Um das nackte Überleben müssen die Wenigsten kämpfen, wohl aber eine breite Masse um einen würdigen Lebensstandard – „and this can only be achieved through informal work“ (Neef 2002a: 20). Armut und der informelle Sektor stehen also in einem engen Zusammenhang (vgl. Köberlein 2003:31). Das Meinungsforschungsinstitut CBOS stellte in einer Studie fest, dass zu den am häufigsten in Polen angewendeten Aktivitäten im Umgang mit finanziellen Engpässen das Verringern von Ausgaben, Sparen, Leihen und das Annehmen von familiärer Hilfe gehören (vgl. Wciórka 2002: 103f.). Da Letzteres aufgrund der schwierigen finanziellen Situation vieler Familien oft nur eingeschränkt möglich ist, sehen sich viele Haushalte gezwungen, Subsistenzproduktion zu betreiben (vgl. Kawczyska-Butrym 2004: 31). Beskid bezeichnet diesen Vorgang als einen Renaturalisierungsprozess des Konsums: “Introduction of the market economy coincides with the appearance of new factors conducive to the process of renaturalization of consumption. (…) More and more housework was done in the do-it-yourself-system, not using the services offered by the market” (Beskid 1992: 180f.). Aufgrund der großen Bedeutung informeller Tätigkeiten befasst sich das nächste Kapitel mit diesem Bestandteil polnischer Haushaltsstrategien. 2.5.1 Die informelle Ökonomie Theoretische Konzepte und Definitionen Informelle Ökonomien spielen in Polens Gesellschaft nach wie vor eine wichtige ökonomische und soziale Rolle. Im Zuge der Systemtransformationen haben Tätigkeiten in der informellen Ökonomie in Polen neue Bedeutungen bekommen. Besonders die Wirtschaftskrise Anfang der 1980er Jahre führte zu einer intensiven Suche der Haushalte nach zusätzlichen inoffiziellen Erwerbsquellen und zur Aufnahme sowie Erweiterung der Produktions- und Dienstleistungstätigkeit im Rahmen der privaten Hauswirtschaft (vgl. Szablewski 1989: 406). Seit dem Systemwechsel kompensieren viele Bürger die ökonomischen transformationsbedingten Ein-
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schnitte durch ihr Engagement in der informellen Ökonomie. „The transformation recession which has continued to the present day has presented the framework for the further development of the informal economy” (Neef 2002a: 10). Mit dem informellen Sektor ist jede Form ökonomischen Handelns gemeint, das – weitgehend außerhalb staatlicher Kontrolle – in einem sozialen Umfeld agierender Individuen geregelt wird (vgl. Elwert 1983: 281ff., Castells, Portes 1989: 12). Informelle Aktivitäten besitzen nach Neef folgende Merkmale: Sie werden in kleinem Umfang auf leicht erreichbaren, unregulierten Märkten mit großer Konkurrenz sowohl von Individuen als auch Familien und sozialen Netzwerken ausgeübt und sind äußerst zeit- und arbeitsintensiv (vgl. Neef 2002: 2). Ein weiteres Kennzeichen ist der Mangel an Kapital und – unter den Ausübenden – unzureichende Qualifikationen, die meist mit der Methode “learning by doing” erworben wurden. Portes fügt einen wichtigen Mechanismus hinzu. Er geht davon aus, dass jegliche ökonomischen Beziehungen auf gegenseitigem Vertrauen fußen (vgl. Portes 1994). Im Gegensatz zum formalen Wirtschaftssektor, bei dem die Funktionalität solcher Beziehungen durch institutionelle Sanktionen garantiert werden kann, basiert die informelle Ökonomie auf starken normativen sozialen Netzwerken. “The less the influence of the state, the more will informal trade depend on social networks and adapt to market mechanisms“ (Neef 2002: 4). Informelle Ökonomien existieren, wenn es für den Einzelnen lohnend sein kann, auf eine Teilnahme am offiziellen Wirtschaftsverkehr zu verzichten und seinen Lebensunterhalt ganz oder teilweise mit dem Ertrag illegaler Aktivitäten zu bestreiten (vgl. Cassel 1989: 40). Mit zwei Punkten dieser Charakterisierung des informellen Sektors stimme ich allerdings nicht überein: Erstens mag die leichte Erreichbarkeit des informell regulierten Marktes zwar für seine Kunden zutreffen, nicht aber in jedem Falle für die informell Beschäftigten. Im Falle des in dieser Arbeit zu untersuchenden Schmuggels ist die Eingebundenheit in entsprechende Netzwerke eine Voraussetzung, um im informellen Sektor tätig zu sein. Zweitens trifft es keineswegs zu, dass nur gering qualifizierte Personen im informellen Sektor tätig sind. Vielmehr zieht sich die Schmuggeltätigkeit an der polnisch-russischen Grenze quer durch alle Gesellschaftsbereiche und wird von Personen aller Bildungsabschlüsse getragen. Auch empfinde ich die These als fragwürdig, dass der informelle Sektor keine Qualifizierung voraussetzt. Die Bedeutung formaler Qualifikationen mag durchaus in den Hintergrund treten, aber die Spezifität des informellen Sektors verlangt bestimmte Schlüsselqualifikationen wie hohe Flexibilität, Risikobereitschaft und Mut der dort Aktiven. Dies wird deutlich, führt man sich die Bedingungen vor Augen, mit denen Beschäftigte im informellen Sektor zu kämpfen haben: Sie sind mit unsicheren Erwerbsperspektiven, der Nichtzugehörigkeit zu den sozialen Sicherungssystemen und äußerst niedrigen Löhnen konfrontiert.
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2 Theoretischer Rahmen
Individuelle Bedeutungen des informellen Sektors Die wachsende Bedeutung informeller Tätigkeiten hängt mit den Effekten der wirtschaftlichen Transformationsprozesse zusammen, die sich für viele Einwohner der postkommunistischen Staaten in Arbeitslosigkeit, sinkenden Löhnen und daraus resultierenden Verarmungsprozessen äußern. Für „Verlierer“ des Transformationsprozesses, die im Zuge des politischen Wandels ihre ökonomische Stabilität, ihren sozialen Status und die Anerkennung ihrer erworbenen Qualifikationen verloren haben, stellt die Tätigkeit in der informellen Ökonomie eine Strategie dar, um die Konsequenzen des Transformationsprozesses abzumildern. “The informal economy has been held up as a resource enabling households to cope with poverty, unemployment or economic uncertainty and/or to develop a new material basis” (Neef 2002a: 1). Oft stellt das Engagement im informellen Sektor aber nur ein Element der Überlebensstrategie von Haushalten dar und wird sowohl mit formaler Erwerbstätigkeit als auch mit Subsistenzproduktion kombiniert, um das Haushaltseinkommen zu optimieren (vgl. Evers 1987: 353ff.). Diese verschiedenen Einkommensarten können höchst unterschiedliche Anteile in den jeweiligen Haushalten besitzen, so dass der Schluss nahe liegt, dass die Aktivitäten in der informellen Ökonomie jeweils völlig andere Bedeutungen und Funktionen für die einzelnen Haushalte haben. Diese These wird durch empirische Studien untermauert: “Empirical studies indicate that some people use informal activities as a way of surviving, some as a way of supplementing incomes and some as a way of profiting” (Duchene, Neef 1998 in Wallace, Haerpfer 2002: 32). Neef hat daraus drei Typen von informellen Ökonomien entwickelt: “survival economy“, “improving informal economy“ und “informal business” (Neef 2002a: 16ff.). Bei Haushalten, die mit informellen Tätigkeiten sowie oftmals zusätzlich mit Subsistenz-Landwirtschaft ihr nacktes Überleben sichern, liegt das formale Einkommen unter dem Existenzminimum. An Akkumulation von Kapital oder Weiterqualifizierung ist nicht zu denken. “Various forms of survival economy move in a circle of dependence, in which resources and reserves are used up for pure survival and no qualifications can be built up” (ebenda: 19). Haushalte, die die Strategie “improving informal economy” verfolgen, können auf stabile formale Erwerbsquellen zurückgreifen, mit denen die regelmäßigen laufenden Kosten gedeckt werden. Mit dem Zusatzerwerb durch informelle Arbeit werden über den täglichen Bedarf hinausgehende Ausgaben bestritten, wie z.B. solche für das Pflegen sozialer Kontakte, die Zukunftssicherung der Kinder oder größere Anschaffungen. Der letzte Typ schließlich, das “informal business“, basiert auf dem Ziel des maximalen Profits durch ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, was Selbstausbeutung mit einschließt, z.B. im Rahmen eines Einmannunternehmens.
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2.5.2 Die informelle Ökonomie in Polen Welche Bedeutung hat der informelle Sektor nun aber in Polen? Zu sozialistischen Zeiten war das Entstehen der informellen Ökonomie eine Antwort auf die in den 1980er Jahren dramatische Formen annehmende staatliche Mangelwirtschaft. Der Staat seinerseits akzeptierte private Produktion und Dienstleistung bis zu einem gewissen Grad, wenn dadurch die allgemeine Versorgungssituation verbessert werden konnte. Die staatliche und die informelle Ökonomie waren oftmals miteinander verzahnt. “Secret or open side activities became more and more common, both with normal officials and employees. These involved also illegal activities such as corruption, fraud and embezzlement, smuggling and half or completely criminal businesses“ (ebenda: 6). Scharfe Grenzen zwischen legalen und illegalen Aktivitäten zu ziehen war schwierig, weil weite Teile der Bevölkerung im informellen Sektor aktiv waren und institutionelle Vorgaben nur mäßig ernst nahmen (vgl. ebenda: 7). Die informelle Ökonomie im Sozialismus lebte von sich über das gesamte Land erstreckenden extensiven sozialen Netzwerken, in denen informelle Haushaltsdienstleistungen ausgetauscht wurden (vgl. Cassel 1989: 50). “The strength of weak ties“ (vgl. Granovetter 1974) lässt sich daran gut beobachten. Nicht nur direkte Verwandte und Freunde waren Teile dieser Netzwerke, auch entfernte Bekannte, Freunde von Freunden, wurden in den Prozeß des „zaatwia“35 miteinbezogen. Die Stärke dieser weitreichenden schwachen Beziehungen liegt darin, dass für Person A durch den Kontakt zu Person B, die am Rande des Netzwerkes von Person A, gleichzeitig aber im Zentrum ihres eigenen Netzwerkes steht, das Netzwerk von Person B ebenfalls erreichbar wird. Durch die Nutzung dieser Brückenfunktionen multipliziert sich die Anzahl von potenziell nützlichen Ansprechpartnern. Waren soziale Netzwerke im Sozialismus eine ökonomische Notwendigkeit (vgl. Roth 2007: 8), um den Mangel an Waren zu kompensieren, so liegt ihre Funktion nach dem Systemumbruch darin, den Mangel an Geld in vielen Haushalten auszugleichen. Bittner spricht in dem Zusammenhang von einer „Monetarisierung sozialer Beziehungen“ (Bittner 2006: 286f.). Soziales Kapital ist notwendig, um an ökonomisches zu kommen; man muss die richtigen Leute kennen, „um einen zweiten Job zu finden, ein Darlehen zu bekommen oder ein postsozialistischer Selbstunternehmer zu werden“ (ebenda). Aus zwei Gründen haben die Strukturen der informellen Ökonomie nach dem Systemwechsel nicht nur überdauert, sondern sogar eine Stärkung erfahren. Erstens hat der intermediäre Prozess zwischen dem Legitimationsverlust der alten Autoritä35 Das Verb „zaatwia“ bedeutet wörtlich übersetzt so viel wie erledigen, regeln, lösen. Nach Meinung des Journalisten Adam Soboczyski kann es auch „es irgendwie hinkriegen“, „sich durchwurschteln“, oder aber „gesellschaftlichen Regeln zu mißtrauen“ (Soboczynski 2006: 83ff.) heißen. „Es ist der Stolz des Regelbruchs, der den gewohnten Lauf der Dinge unterbricht, der der Ausnahme der Regel huldigt“ (ebenda: 85).
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2 Theoretischer Rahmen
ten und dem Aufbau einer funktionierenden neuen Regierung viel ungeregelten Spielraum für informelle Aktivitäten gelassen. Zweitens führte die Verringerung der Kaufkraft vieler Haushalte zu einer Beibehaltung der bevorzugten Nutzung der – verglichen mit formalen Angeboten – günstigeren informellen Dienstleistungen (vgl. Neef 2002a: 7). Eine von Wallace und Haerpfer in den 1990er Jahren unternommene Panelstudie in elf postkommunistischen Ländern, unter anderem in Polen, hat die Dynamiken der dortigen informellen Ökonomien und die Formen der Teilhabe an ihr untersucht (vgl. Wallace, Haerpfer 2002: 28ff.). Für polnische Haushalte wurde von 1992 bis 1998 ein Rückgang der Bedeutung des formalen Sektors bei gleichzeitig steigender Bedeutung von Subsistenzwirtschaft festgestellt (ebenda: 36). Mit anderen Worten: „More than ever they [social casualties, B.B.] depend on their own potential, on their qualifications, land property and working instruments, and these are poor for most of those concerned” (Neef 2002a: 8, Hervorhebung im Original). Eine populäre Form des informellen Sektors besteht im grenzüberschreitenden Kleinhandel und Schmuggel. Schon zu Zeiten der polnischen Teilungen war der kleine Grenzhandel über die preußisch-russische Grenze in Masuren stark ausgeprägt. Als die russischen Behörden im Jahr 1823 für viele Produkte eine Zollsperre verhängten, lohnte sich formeller Handel nicht mehr, so dass der Schmuggel eine Blütezeit erlebte (vgl. Kossert 2001: 141) und das Königsberger Konsistorium den „entsittlichenden Einfluss der Schmuggelei“ für die rohen Sitten der Masuren verantwortlich machte (vgl. Evangelisches Zentralarchiv Berlin in ebenda). Auch im sozialistischen Polen waren legaler und illegaler Kleinhandel besonders ausgeprägt, obwohl sie in allen Ostblockstaaten ausgeübt wurden (vgl. Williams, Baláž 2002: 326). Schon 1972, im Jahr der Grenzöffnung zwischen Polen und der DDR, fiel dem Ministerium für Staatssicherheit der massive Einkaufstourismus der Polen auf (vgl. Kochanowski 1999). Aber besonders vor dem Hintergrund der Versorgungskrise in Polen in den frühen 1980er Jahren nahm der Warenschmuggel von der DDR nach Polen sehr große Ausmaße an. „Im Januar 1984 schätzte man bei der Staatssicherheit den Wert ‚illegaler Ausfuhren‘ aus der DDR durch polnische Bürger auf mehrere hundert Millionen DDR-Mark“ (vgl. Borodziej, Kochanowski 2000: 18, Hervorhebung im Original). Bis heute wird Polen als die Haupthandelsnation in der Region bezeichnet (vgl. Wallace 1999b: 757). Auch diese Aktivitäten haben die Systemveränderungen überdauert und vom Sozialismus bis in die Gegenwart kontinuierlich vielen Menschen als Erwerbsquelle gedient. Grenzüberschreitender Kleinhandel ist verwurzelt in informellen ökonomischen Praktiken des späten Sozialismus und wurde während der Transformation reorganisiert und transformiert (vgl. Williams, Baláž 2002: 324). Der Kleinhandel besaß für die ihn Ausführenden zu sozialistischen Zeiten eine andere Bedeutung als für die heutigen Kleinhändler. Vor dem Systemumbruch war kaum jemand existentiell vom Kleinhandel in vor allem
2.5 Ökonomische Strategien armer Haushalte
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westliche Nachbarländer abhängig (vgl. Iglicka 2001: 507).36 Vielmehr wurde er als Möglichkeit genutzt, bestimmte Waren für den Eigenbedarf zu erlangen, die es in der Volksrepublik Polen nur schwer zu kaufen gab, wie z.B. bestimmte Arten von Bekleidung, Schuhe, Fahrräder, Mopeds und Zigaretten. Oft wird die These vertreten, dass sich vor dem Hintergrund der notorisch mangelhaften sozialistischen Planwirtschaft ein eigener unternehmerischer Geist in der Bevölkerung gebildet hat. Indem auf informelle Maßnahmen zurückgegriffen wurde, um sich mit bestimmten Gütern zu versorgen, wurde dieses Verhalten als die allgemein geltende soziale Norm anerkannt (vgl. z.B. Gabor 1994, Los 1990 in Morawska 1999: 360). Das staatliche Versagen, eine breite und vielfältige Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, legitimierte das Dehnen bzw. Brechen von formalen Regeln. Im Zuge des Systemwechsels hat der Schmuggel eine andere Bedeutung bekommen. Konfrontiert mit Arbeitslosigkeit und unzureichender sozialstaatlicher Absicherung ist der Schmuggel für viele Menschen zum Ersatz für Erwerbs- oder soziale Absicherung geworden. Obwohl die Tätigkeit des Schmuggelns an sich gleich geblieben ist, haben die veränderten gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen dazu geführt, dass sich der Schmuggel als Antwort auf die sozialistische Mangelwirtschaft zu einem – im Extremfall – Überlebenstraining im Kapitalismus gewandelt hat. “In Eastern Europe (…) transition brought in its initial stage a sharp slump in living standards for most of the people. (…) For some, CBST [cross-border small-scale trade, B.B.] became a survival strategy in the transitional period” (Egbert 2006: 353). Mit Beginn der Transformation hat die Anzahl derer zugenommen, für die Schmuggel zu einer wichtigen Einnahmequelle geworden ist. “In the first years the considerable differences in prices and exchange rates encouraged trade and smuggling in the adjacent countries and in this connection there was also a boom in the informal currency trade. Trade on the streets and open markets and border trade and smuggling saw a marked increase at the beginning of the transformation. In the meantime, they have become more difficult since the price differences and opportunities for profit have dropped and state controls have become more rigorous, thus raising the cost of bribing (Wallace 1999), but on the whole, the informal trade has stabilized at a considerable level.“ (Neef 2002a: 9)
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass aufgrund nachteiliger struktureller Bedingungen ein wichtiges Element der Lebensführung von Menschen im polnischen Grenzgebiet zu Kaliningrad in ökonomischen Haushaltsstrategien vor dem Hintergrund von Armutsbewältigung bzw. -vermeidung besteht. Der informelle 36
Während des ökonomischen Zusammenbruchs Anfang der 1980er Jahre mag diese Behauptung so nicht gelten. So sind z.B. Williams und Baláž der Auffassung, dass Einkaufsreisen in Nachbarländer angesichts des Warenmangels eher eine Notwendigkeit als einen Luxus für viele Polen darstellten (vgl. Williams, Baláž 2002: 326).
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2 Theoretischer Rahmen
Sektor spielt dabei, mit weiteren Einkommensquellen verflochten, für viele Haushalte eine wichtige Rolle, um die negativen Transformationseffekte wie Verarmung, Einkommenseinbußen und prekäre Unsicherheiten ökonomisch auszugleichen. Dabei ist wichtig zu betonen, dass Aktivitäten im informellen Sektor wie Schmuggel keineswegs erst mit dem Systemumbruch aufgekommen sind, sondern dass es sich dabei um ein Kontinuum handelt, das sowohl im Sozialismus als auch in heutigen Zeiten Einkommensgenerierung zum Ziel hatte. Das impliziert, dass auch die Praxis der Kombination mehrerer Einkommensquellen den Sozialismus überdauert hat. Allein die individuelle Bedeutung von informellen Aktivitäten hat sich gewandelt: von der Vergrößerung der Warenspannbreite in der sozialistischen Mangelwirtschaft hin zu einer Bandbreite von individuellen Motiven und Bedeutungen der informellen Tätigkeit in heutigen Zeiten. Wurde Schmuggel und damit das Dehnen und Brechen von Regeln zu sozialistischen Zeiten durch die schlechte staatliche Güterversorgung moralisch legitimiert, wird er seit dem Systemwechsel mit dem Hinweis auf hohe Arbeitslosigkeit und unzureichende staatliche Sozialleistungen begründet. Statt Gütermangel kompensiert Schmuggel seit dem Systemwechsel einen Mangel an Arbeit. 2.6 Fazit Für die theoretische Positionierung dieser Arbeit heißt das: Es wird Kritik an der Zielgerichtetheit des modernisierungstheoretischen Transformationsbegriffs geübt. Da hier die Überzeugung vertreten wird, dass jeglicher Transformationsprozess durch handelnde Akteure bestimmt wird, wird der Begriff der Transformation als ein offener Aushandlungsprozess verwendet, der zu einer „uncertain transition“ führt. In Polen hat diese zur Verschärfung sozialer Ungleichheiten und bei weiten Teilen der Bevölkerung zu Verarmungsprozessen geführt. Armut wird hierbei als subjektorientierter Prozess verstanden, dessen Auswirkungen auf der ökonomischen Ebene auch in andere Lebensbereiche ausstrahlen. Zur Analyse des individuellen Umgangs mit Armut werden deshalb zwei Konzepte herangezogen: Um die finanzielle Rolle des Schmuggels in einem Haushalt zu analysieren, werden ökonomische Haushaltsstrategien verwendet, die die gewählten Einkommensarten und Haushaltsziele umfassen, die jeweils erreicht werden sollen. Die Theorie der alltäglichen Lebensführung indessen wird herangezogen, um diese ökonomischen Strategien in die gesamte Alltagsgestaltung der Haushaltsmitglieder einzubetten und damit die über die ökonomische Sphäre hinausgehenden Bedeutungen der Schmuggeltätigkeit als Teil einer Armutsbewältigungs- bzw. Armutsvermeidungsstrategie für den Einzelnen und seinen Haushalt deutlich zu machen.
3 Schmuggel in der Grenzstadt Bartoszyce
Ziel dieses Kapitels ist es, die relevanten Rahmenbedingungen und Handlungskontexte für den Schmuggel in Bartoszyce aufzuzeigen. Diese Kontextualisierung der Schmuggeltätigkeit ist unabdingbar, um ihre Abläufe und Mechanismen zu verstehen. Deshalb widmet sich der folgende Abschnitt zunächst den allgemeinen sozioökonomischen Bedingungen in Bartoszyce, bevor auf die Spezifika der polnisch-russischen Grenze eingegangen wird. Danach wird der Fokus auf Bartoszyce als Grenzstadt gelegt und die lokale Bedeutung des Schmuggels diskutiert. 3.1 Die Stadt Bartoszyce Wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde, haben sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen durch Einführung von Demokratie und Marktwirtschaft in Polen grundlegend verändert. Es wurde verdeutlicht, dass der politische und wirtschaftliche Umbruch spürbare Konsequenzen für den Alltag der Polen mit sich gebracht hat. Im Folgenden geht es konkret um die Veränderungen, mit denen die Stadt Bartoszyce im Zuge der Transformation konfrontiert war und ist. Es sollen die ökonomischen und sozialen Hintergründe geschildert werden, vor denen Schmuggel und Kleinhandel in Bartoszyce stattfindet, um ihn richtig einordnen zu können. Dazu gehört auch eine kurze Erläuterung der gesetzlichen Bestimmungen. Zuvor wird jedoch grob ein historischer Abriss der Stadtentwicklung bis zum politischen Umbruch 1989/90 gegeben. Dies soll die veränderte Bedeutung der Grenznähe für Bartoszyce aufzeigen. 3.1.1
Historischer Abriss: Von Bartenstein nach Bartoszyce
Bartoszyce liegt im Norden der Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie am Ufer des Flusses Alle (yna) im Landschaftsgebiet Nizina Spopolska. Durch die Stadt führt die Fernstraße 51 von der 72 Kilometer entfernten Woiwodschaftshauptstadt Olsztyn (Allenstein) über den 17 Kilometer entfernten Grenzübergang Bezledy zur russischen Exklave Oblast Kaliningrad nach Kaliningrad (Königsberg). Der deutsche Orden errichtete im Jahr 1241 am Ufer der Alle eine Burg, die Bartenstein genannt wurde und mehrfach von dem dort ansässigen Volk der Prussen zerstört wurde. Anfang des 14. Jahrhunderts hatte sich dort eine Siedlung ent-
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3 Schmuggel in der Grenzstadt Bartoszyce
wickelt, die 1326 erstmals erwähnt wurde und 1332 durch den Hochmeister Luther von Braunschweig unter dem Namen Bartenstein Stadtrecht erhielt. Ursprünglich jedoch war die Siedlung unter dem Namen Rosenthal auf dem linken Ufer der Alle gegründet worden. Da die Bewohner damit jedoch nicht zufrieden waren, wurde sie kurzerhand 1332 auf die andere Flussseite verlegt. In den nächsten 200 Jahren entwickelte sich die Stadt beständig weiter und trieb regen Handel mit Königsberg, Braunberg, Danzig und Elbing (vgl. Mrozek 1998: 16). Im 16. und 17. Jahrhundert erlebte die Stadt als Teil des Herzogtums Preußens eine wirtschaftliche Blütezeit. Hinsichtlich ihrer Fläche, Einwohnerzahl, deren Qualifikationen und der Entwicklung von Handwerk und Handel war sie die zweitbedeutendste preußische Stadt nach Königsberg in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Während des polnisch-schwedischen Krieges erlebte Bartenstein einen wirtschaftlichen Niedergang, der u.a. der Einquartierung der Armeen geschuldet war. Außerdem wurde die Stadt von Epidemien heimgesucht, so dass die Einwohnerzahl erheblich sank. Im Jahre 1850 wurde ein großer Teil des Stadtgebietes von einem Feuer zerstört. Eine Besserung der Situation trat ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein. 1868 wurde die Ostpreußische Südbahn durch die Stadt geführt und damit die Voraussetzung für die Ansiedlung zahlreicher Industriebetriebe geschaffen: Es entstanden eine Eisengießerei, eine Maschinen- und eine Waggonfabrik. Außerdem entwickelte sich ein bedeutender Eichenholzhandel, und es wurden ein Sägewerk, eine Kachelfabrik, eine Ziegelei, ein Gaswerk, etwas später ein Schlachthof, eine Brauerei und eine Textilfabrik gegründet. Letztere beschäftigte in den 1930er Jahren über 400 Arbeiter und stellte somit zusammen mit der Molkerei den größten Arbeitgeber Bartensteins dar (vgl. Petraszko, Wakar 1987a: 83). Außerdem galt Bartenstein als Verkehrsknotenpunkt, da es an der Trasse Warschau-Königsberg lag. Das Leben in der Provinzstadt wurde bereichert durch Versammlungen und Treffen unterschiedlicher Interessenkreise in Bereichen des Sports, des Handels und der Sportschützen (vgl. Mrozek 1998: 19). Zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert behielt Bartenstein zwar seine Tradition als Handels- und Handwerkerstadt bei. Eine größere gesellschaftliche Bedeutung erhielt aber die Stadt durch ihre Funktion als Verwaltungs- und Militärsitz (vgl. Petraszko, Wakar 1987a: 81f.). Es entstand eine Vielzahl öffentlicher Institutionen: 1849 das Kreisgericht und 1881 das Bezirksgericht, an das sechs Jahre später ein Gefängnis angeschlossen wurde. 1865 wurde das städtische Krankenhaus gebaut, wenig später der Bahnhof und die Post. Nachdem sich Bartenstein zur größten Stadt im Kreis entwickelt hatte, wurde es 1902 Kreisstadt und gab 1927 dem Kreis auch seinen Namen. Bis 1919 war Bartenstein Sitz drei großer Kasernen. Bartenstein hatte sich zu einem Dienstleistungsstandort mit guten Einkaufsmöglichkeiten und zahlreichen Handwerksbetrieben entwickelt (vgl. Waack 1994: 67). Im Zuge der Entwicklung der lokalen Industrie und der guten Transportanbindung stieg die Einwohnerzahl der Stadt rasant. 1880 lebten 7.132 Einwohner in der Stadt, 1939 waren es schon 13.000. In schnellem Tempo wurden in der Innen-
3.1 Die Stadt Bartoszyce
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stadt luxuriöse Villen errichtet wie auch für die steigende Zahl von Fabrikarbeitern primitive Unterkünfte am Stadtrand (vgl. Mrozek 1998: 25). Die Stadt „proletarisierte sich“ (vgl. Petraszko, Wakar 1987a: 82), die Zahl der Selbstständigen sank kontinuierlich zugunsten derer der angestellten Arbeiter37, aber die Zahl der Arbeitslosen stieg in der Zwischenkriegszeit beständig.38 Dem entsprach die nachteilige wirtschaftliche Entwicklung im gesamten Ostpreußen der Zwischenkriegszeit, die dem Verlust großer Teile Westpreußens aufgrund des Versailler Vertrags geschuldet war, woraufhin Ostpreußen zu einer Exklave wurde und den Ausfall seiner Zulieferungsund Absatzgebiete verkraften musste. Damit wurde die periphere Lage Ostpreußens, d.h. auch Bartensteins, noch verstärkt. Am 31. Januar 1945 wurde Bartenstein von sowjetischen Truppen eingenommen und dabei bzw. in der Folgezeit zu 60 Prozent zerstört. Nachdem die Stadt 1945 mit dem südlichen Ostpreußen unter polnische Verwaltung kam, wurde sie in Bartoszyce umbenannt. Im Mai des gleichen Jahres wurden in Bartoszyce noch knapp 3.000 Deutsche gezählt, inklusive Masuren und Ermländern, was ein Fünftel der Gesamtbevölkerung Bartensteins von 1944 ausmachte (vgl. Petraszko, Wakar 1987b: 111). Die wenigen nicht geflüchteten deutschen Bewohner wurden bis zum Frühling 1947 vertrieben bzw. später ausgewiesen oder gezwungen, die polnische Staatsangehörigkeit anzunehmen. Zwischen September 1945 und Anfang 1946 wuchs der Anteil der polnischen Bevölkerung von Bartoszyce stark an. Eine große Gruppe stellten Emigranten aus Warschau, Wilno und Umgebung dar. Während des Winters 1945/46 erreichten viele Bauern aus Mazowien und Podlasie Bartoszyce.39 Eine dritte Gruppe der neuen Bevölkerung umfasste Repatrianten aus Polens verlorenen östlichen Gebieten. Schließlich erreichten als letzte große Gruppe zwischen Mai und Juli 1947 ca. 8.000 Ukrainer aus dem Raum um Lublin und Rzeszów Bartoszyce, die im Rahmen der „Aktion Weichsel“40 nach Ermland und Masuren
37 Gab es im Jahr 1880 noch 182 selbstständig Tätige, so waren es im Jahr 1930 nur noch 119 (vgl. Petraszko, Wakar 1987a: 82). 38 Im Jahr 1918 wurden 219 Arbeitslose in der Stadt gezählt, 1927 waren es schon 333 plus 684 „Halbarbeitslose“, die Teilzeit arbeiteten und gleichzeitig staatlich unterstützt wurden (vgl. Petraszko, Wakar 1987a: 83f.) Im Jahr 1928 erhielten im Kreis Bartenstein etwa 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung staatliche Unterstützung (vgl. Waack 1994: 68). 39 Auch die zu Beginn umgesiedelte ländliche Bevölkerung zog es vor, in der Stadt Bartoszyce zu bleiben, da hier die Versorgung mit Lebensmitteln von der Stadtverwaltung übernommen wurde und nicht, wie auf dem Land, in der Eigenverantwortung der Umsiedler lag. Auch war das Leben in der Stadt sicherer als auf den umliegenden Dörfern (vgl. Petraszko, Wakar 1987b: 115). 40 Im Zuge der „Aktion Weichsel“, mit der die Zwangsumsiedlung ethnischer Ukrainer innerhalb der Grenzen Polens nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet wird, wurden ca. 150.000 Personen deportiert. Nachdem die ursprünglich geplante Verdrängung der Ukrainer in die Sowjetunion mit dem Ziel, einen ethnisch homogenen polnischen Staat zu schaffen nicht funktioniert hatte, sollte es durch Assimilierung der Ukrainer in Polen doch noch erreicht werden. Dazu diente die zerstreute Ansiedlung ukrainischer Familien in den ehemals ostpreußischen Gebieten.
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3 Schmuggel in der Grenzstadt Bartoszyce
vertrieben worden waren. Die Einwohnerzahl lag im Jahr 1946 nur bei 3.400, und erst 1960 hatte die Stadt mit 11.600 Einwohnern ihre Vorkriegsgröße erreicht. Nach dem Krieg wurden Industriebetriebe aus der deutschen Vergangenheit wieder in Betrieb genommen wie die Mühle, die Molkerei, eine Kachelfabrik und eine Tischlerei (vgl. Mrozek 1998: 19). Bis zum späten Herbst 1945 dominierte in der Stadt der informelle Tauschhandel, danach stieg die Zahl der Lebensmittelgeschäfte und Dienstleistungen stetig an. Ende des Jahres 1946 gab es in Bartoszyce 32 private Lebensmittelläden. Darüber hinaus zählte man neun Bäckereien, drei Restaurants, drei Fleischereien und drei Schneidereien, vier Friseure, zwei Fotogeschäfte, drei Schuster, einen Uhrmacher, drei Obsthandlungen, zwei Eisenwarenhandlungen, drei Schlossereien und eine Mineralwasserherstellung (vgl. Petraszko, Wakar 1987b: 121). Prägend für die Betriebslandschaft in Bartoszyce bis zum politischen Umbruch 1989 war die Textilfabrik „Morena“, die 1952 aus der Strickwarenfabrik Walter Dörings hervorging. Er hatte bis zum Zweiten Weltkrieg 250 Arbeiter beschäftigt. Ein Jahr nach ihrer Gründung beschäftigte die Fabrik 152 Personen, 1960 war die Zahl der Mitarbeiter auf über 900 angestiegen. „Übrigens arbeiteten alle Frauen früher bei Morena“, sagte eine ehemals dort Beschäftigte und unterstreicht damit die große Bedeutung des Betriebs als jahrzehntelang größter Arbeitgeber der Stadt. Was der Betrieb „Morena“ für die Frauen war, stellte „Tartak“ für die Männer in Bartoszyce dar. Hier wurden Schnittholz und Holzbaumaterial hergestellt, später auch Betonfertigteile. 1960 hatte der Betrieb knapp 180 Mitarbeiter (vgl. Petraszko, Wakar 1987b: 147). Weitere größere Arbeitgeber waren die mechanische Tischlerei, die sich ab 1951 „Bartoszycer lokale gewerbliche Betriebe“ nannte und 1960 114 Mitarbeiter beschäftigte, die Bezirksmolkereigenossenschaft und das staatliche Maschinenzentrum, in dem 160 Personen Arbeit fanden. Einige Hundert Einwohner waren im Handel tätig, der traditionell eine wichtige Rolle im Wirtschaftsleben der Stadt gespielt hat. In Bartoszyce hatte sich also relativ schnell nach Kriegsende eine vielfältige Landschaft von Industriebetrieben und einem Dienstleistungssektor entwickelt, der zum einen die grundlegende Versorgung der Stadt garantierte und zum anderen dafür sorgte, dass die Stadt vorerst nicht mit dem Phänomen der Arbeitslosigkeit zu kämpfen hatte. 1960 suchten ganze 35 Personen beim Beschäftigungsamt in Bartoszyce eine Arbeit, wo sie aus 66 freien Stellen wählen konnten (vgl. ebenda: 159). Einen spürbaren Aufschwung brachten die 1960er und frühen 1970er Jahre. Durch eine hohe Geburtenrate und eine zunehmende Land-Stadt-Migration verdoppelte sich die Einwohnerzahl Bartoszyces im Laufe von 20 Jahren auf über 20.000 Personen im Jahr 1980. Insbesondere junge Leute kehrten ihren Heimatdörfern den Rücken und profitierten von den zahlreichen Beschäftigungsmöglichkeiten in der Stadt. Die meisten Arbeitsplätze bot die Industrie. Von insgesamt 8.764 in der volkseigenen Wirtschaft Beschäftigten arbeitete mehr als ein Drittel, nämlich über 3.000 Personen, im industriellen Sektor. Weitere 1.163 Personen waren im
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3.1 Die Stadt Bartoszyce
Bauwesen beschäftigt, über 800 im Transport. 890 Menschen waren im Handel aktiv, und über 1.400 hatten als Arbeitgeber das Bildungs- und Gesundheitswesen (vgl. liwiski 1987: 162). Ende der 1970er Jahre hatte sich Bartoszyce also zu einem der größten industriellen Zentren in der Region entwickelt (vgl. ebenda: 166). Im Einzelnen bestand die Bartoszycer Industrie aus den folgenden sieben großen Betrieben (siehe Tabelle 3): Tabelle 3:
Wichtige Industriebetriebe in Bartoszyce in den 1960er bis 1980er Jahren
Name des Betriebs
Branche
Gründungsjahr
Morena
Textilproduktion
1952
Unternehmen zur Produktion und der Montage von landwirtschaftlichen Bauprodukten Bartoszycer Filiale der Möbelfabrik in Olsztyn Bezirkliche Milchgenossenschaft Warschauer Pumpenfabrik
Produktion von Baumaterial aus Holz und Beton
1964
Möbelproduktion, Küchen
1970
Molkerei
vor 1961
zuerst Betreuung technischer landwirtschaftlicher Maschinen, ab 1977 Produktion von Industriepumpen
Papier- und Druckgenossenschaft „Poligrafika“
Genossenschaft, Grafische Produktion, Verpackung, Druck
MöbelGenossenschaft im Namen von Janek Krasicki Unitra-Unitech
Produktion von Polstermöbeln
1977 (hervorgegangen aus dem staatlichen Maschinenzentrum, gegründet 1950) 1967 (hervorgegangen aus der Genossenschaft „Drukarz“) 1958
Metallverarbeitung
1978 (bis dato Mitglied der WojewodschaftsDienstleistungsgenossenschaft)
Jahr und Zahl der Mitarbeiter 1970: 1.470 Personen
200 Personen
1968: 234 Personen, 1980: knapp 400 Personen
1990: 310 Personen
Quelle: Petraszko, Wakar 1987b: 147, 160, 166ff. Allerdings brachten die beinahe erreichte Vollbeschäftigung und die Entwicklung des industriellen Sektors keine spürbare Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung mit sich. Ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre kam es – wie im
66
3 Schmuggel in der Grenzstadt Bartoszyce
ganzen Land – auch in Bartoszyce zu Unruhe und Missmut in der Bevölkerung aufgrund von drastischen Preiserhöhungen. Die Stimmung war geprägt von einer Verschlechterung der Einkommensverhältnisse und des Lebensstandards nach einer Phase relativen Wohlstands der 1970er Jahre (vgl. Korcelli 1996: 252). Obgleich in Bartoszyce die Zahl der Geschäfte und Dienstleistungsbetriebe kontinuierlich anstieg, entsprach das vorhandene Angebot dennoch bei weitem nicht der Nachfrage (vgl. liwiski 1987: 174), was zu starken Vorbehalten und Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung führte (vgl. ebenda: 175). Die gleiche Situation traf auf die Wohnungssituation in Bartoszyce zu, die sich bis in die 1980er Jahre hinein nicht entspannte. Im Jahr 1970 gab es in der Stadt 3.999 Wohnungen, aber 4.198 Haushalte, was bedeutete, dass Wohnungen oftmals überbelegt wurden. Zehn Jahre später warteten immer noch knapp 3.000 Personen auf eine Wohnung (vgl. ebenda: 178). Das Umland Bartoszyces war traditionell landwirtschaftlich geprägt. Die bäuerliche Privatwirtschaft zu ostpreußischen Zeiten wurde nach 1945 durch die Dominanz staatlicher landwirtschaftlicher Großbetriebe abgelöst. So befanden sich im Kreis Bartoszyce bis zum Umbruch 97 PGRs, die sowohl Getreide- als auch Viehwirtschaft betrieben und den einzigen größeren Arbeitgeber auf dem Land darstellten. Der materielle und auch soziale Status der PGR-Arbeiter war nicht hoch, sie galten als die am wenigsten gebildete Bevölkerungsschicht im sozialistischen Polen (vgl. Kawczyska-Butrym 2004: 6ff.), und ihr einziges materielles Privileg war die garantierte Unterbringung in Wohnungsblöcken mit Zentralheizung und Anschluss an die Kanalisation. 3.1.2 Das Erbe der Transformation: Die sozioökonomische Situation in Bartoszyce seit Anfang der 1990er Jahre „Das ist ein Massaker, wie viele arme Leute es in Bartoszyce gibt (.), ich weiß nicht, was das werden soll. Die Stadt stirbt.“41 Zu sozialistischen Zeiten war Bartoszyce eine Stadt, deren wirtschaftliche Aktivität vor allem von industriellen Produktionsfirmen im Textil-, Elektro-, Bau- und Holzbereich sowie im Umland von großen staatlichen Landwirtschaftsbetrieben geprägt war. Schon zu sozialistischen Zeiten gehörte Bartoszyce zu den wirtschaftlich rückständigeren Regionen mit industriellen und landwirtschaftlichen Monokulturen, wenngleich die Situation in der Stadt selbst weitaus besser war als in der ländlichen Umgebung. Die Grenze zur Sowjetunion spielte zwar aufgrund ihrer hermetischen Abriegelung (vgl. S. 78f.) für den Alltag der Bevölkerung keine Rolle. Jedoch brach41 Das Zeichen (.) steht für eine Sprechpause unter einer Sekunde, das Zeichen (1) bedeutet eine Sprechpause von einer Sekunde (siehe Transkriptionsrichtlinien im Anhang).
3.1 Die Stadt Bartoszyce
67
te der Standort am Rande der Volksrepublik für die Stadt wenig Infrastruktur und eine schlechte Transportanbindung mit sich, was der wirtschaftlichen Entwicklung nicht förderlich war. Die stabile, wenn auch auf einem niedrigen Niveau, wirtschaftliche Situation in und um Bartoszyce änderte sich jedoch mit dem Systemumbruch schlagartig. Mit Ende der zentral gelenkten Planwirtschaft wurde die Stadt auf einmal mit der Einführung der Marktwirtschaft mit voller Wucht von den Nachteilen ihrer peripheren grenznahen Lage getroffen. Der größte Arbeitgeber im jetzigen Kreis Bartoszyce42, der Staat, ging Konkurs. Die PGRs wurden fast ausnahmslos geschlossen oder mittels Privatisierungen erheblich verkleinert. Die ehemaligen PGR-Arbeiter verloren von einem Tag auf den anderen ihre Arbeitsplätze. Aufgrund ihres niedrigen Qualifikationsniveaus und ihrer isolierten Wohnorte war es für sie besonders schwierig, eine alternative Quelle für die Sicherung ihres Lebensunterhaltes zu finden. „Osiedle popegeerowskie“, also eine ehemalige PGR-Siedlung, ist ein Synonym für Arbeitslosigkeit, Armut und Hoffnungslosigkeit. Nicht nur auf dem Land, auch in der Stadt verloren die Menschen massenhaft ihre Arbeitsplätze, meistens durch Schließungen der Betriebe. Waren z.B. bis Anfang der 1990er Jahre im größten Betrieb in Bartoszyce, der Textilfabrik „Morena“, über 1.300 Personen beschäftigt, arbeiten in den Nachfolgebetrieben heute nur noch einige hundert. Der mechanisch-elektronische Betrieb „Unitra-Zumech“, der zu sozialistischen Zeiten über 300 Personen beschäftigte, reduzierte seine Belegschaft auf ca. 80 Angestellte (vgl. Kowalczyk 1998: 33). Zwei große staatliche Baufirmen, die für umliegende PGRs produzierten, wurden Anfang der 1990er Jahre geschlossen. Während die staatlichen Industriebetriebe in der Stadt abgewickelt wurden, entwickelte sich gleichzeitig rasant das private Unternehmertum in der Stadt. So waren im Jahr 1994 von 1.312 Wirtschaftseinheiten nur sieben in staatlicher Hand (vgl. Kowalczyk o.J.: 15f.). Der wirtschaftliche Wandel machte sich auch in der Struktur der Unternehmen bemerkbar. 1989 hatten Baufirmen einen 29prozentigen Anteil an allen Wirtschaftseinheiten, gefolgt von Dienstleistungsfirmen (23 Prozent), Transportfirmen (16 Prozent) und Handel (9 Prozent). Fünf Jahre später, 1994, war fast die Hälfte, nämlich 46 Prozent, aller registrierten Unternehmen im Handel tätig, 16 Prozent im Dienstleistungsgewerbe und nur noch jeweils sieben Prozent in Transport und Bau (vgl. ebenda: 16f.).
42
Zum Kreis Bartoszyce, der 1999 im Zuge einer Verwaltungsreform eingeführt wurde, gehören neben der gleichlautenden Stadt die Städte Spopol, Bisztynek und Górowo Iaweckie sowie ihre ländlichen Gemeinden. In diesem Kapitel wird vor allem mit Daten des Kreises Bartoszyce gearbeitet. Dies liegt daran, dass sich das Forschungsinteresse zwar auf die Stadt konzentriert, wohl aber auch Interviews mit Bewohnern der ländlichen Gemeinden um Bartoszyce herum geführt wurden. Außerdem gibt es unterhalb des Kreisniveaus viele statistische Angaben für einzelne Orte nicht, wie z.B. Einkommensverhältnisse oder Rentenzahlungen. Wenn Daten für Stadt und Kreis vorliegen, werden selbstverständlich beide genannt.
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3 Schmuggel in der Grenzstadt Bartoszyce
Allerdings konnten die durch die zeitgleiche Schließung vieler großer staatlicher Betriebe massenhaft freigesetzten Arbeitskräfte nicht durch die beginnende Entwicklung der Privatwirtschaft aufgefangen werden, denn dabei handelte es sich vor allem um kleine und mittlere Unternehmen, die nur einen geringen Bedarf an Arbeitskräften hatten. Diese Entwicklung führte zu mehreren Konsequenzen: erstens zum Einsetzen einer strukturellen Massenarbeitslosigkeit in Bartoszyce zu Beginn der 1990er Jahre, zweitens zu einem sehr niedrigen Lohnniveau in der Region, drittens zu einer starken Abwanderung der Bevölkerung und viertens zu der Ausbreitung des informellen Sektors. Die Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie hat unter allen Regionen Polens die höchste Anzahl von Arbeitslosen, was die aktuell verfügbaren Statistiken für die Jahre 2003 und 2004 belegen. Von 1.000 Personen waren im Jahr 2004 demnach 113,6 arbeitslos, im polnischen Durchschnitt waren es nur 78,6 (vgl. GUS 2006a: 27). Abbildung 3 verdeutlicht, dass die Woiwodschaft landesweit am stärksten von Arbeitslosigkeit betroffen ist. Abbildung 3:
Arbeitslosenquote Dezember 2006 in Polen
Quelle: GUS (2007d)
3.1 Die Stadt Bartoszyce
69
Innerhalb der Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie wiederum ist der Kreis Bartoszyce überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen (siehe Abbildung 4, Tabelle 4), was bedeutet, dass die Arbeitslosigkeit im Kreis und in der Stadt Bartoszyce zur höchsten in ganz Polen gehört. Dem entspricht der hohe Anteil an Sozialausgaben im Budget der Stadt Bartoszyce. Er lag im Jahr 2005 bei knapp 27 Prozent (vgl. Burmistrz Miasta Bartoszyce 2006: 18ff.). Im Jahr zuvor lag der Anteil der Einwohner, die vom Sozialamt unterstützt wurden, bei ca. 12 Prozent (Interview mit Sozialamt, 23.11.2005). Bartoszyce ist also ein Verlierer der Transformation. Die Arbeitslosigkeit im Kreis Bartoszyce bewegt sich, wie in allen an der Grenze zu Kaliningrad liegenden Kreisen, seit Anfang der 1990er Jahre konstant zwischen 30 und 40 Prozent, wie Abbildung 4 zeigt. Abbildung 4:
Arbeitslosenquote in der Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie im Dezember 2006 nach Kreisen
Quelle: GUS 2006c
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3 Schmuggel in der Grenzstadt Bartoszyce
Die 1990er Jahre bezeichnet eine Vertreterin des örtlichen Sozialamtes als die „Periode der Abhängigkeit“, als Abhängigkeit einer Vielzahl Arbeitssuchender von staatlichen Unterstützungsleistungen. Tabelle 4:
Jahr
Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Polen und der Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie (WM) in Prozent, Zahlen jeweils für Dezember 1991–2007
1991
Arbeitslosenquote Polen 11,8
Arbeitslosenquote WM 18,2
Arbeitslosenquote Kreis Bartoszyce k.A.
1992
13,6
23,6
k.A.
1993 1994
15,7
27,8
32,4
16,0
27,2
34,2
1995
15,2
26,4
35,6
1996
14,3
24,6
33,7
1997
10,3
20,5
30,7
1998
10,4
19,7
29,1
1999
13,1
22,8
30,4
2000
15,1
24,5
32,9
2001
17,5
28,7
35,9
2002
20,0
28,8
36,5
2003
20,0
28,3
35,9
2004
19,0
29,2
38,7
2005
17,6
27,2
38,7
2006
14,8
23,6
34,7
11,4 19,0 31,3 2007 Quelle für Polen: GUS 2008a Quelle für Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie und Kreis Bartoszyce 2004–2007: GUS: Bank danych regionalnych Quelle für Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie und Kreis Bartoszyce 1992–2003: GUS 1992–2003
3.1 Die Stadt Bartoszyce
71
Dabei handelt es sich oft um Langzeitarbeitslosigkeit: Von den offiziell 9.268 registrierten Arbeitslosen im Kreis Bartoszyce waren im Jahr 2005 knapp 3.325 seit zwei Jahren ohne Beschäftigung, also knapp 36 Prozent (GUS: Bank danych regionalnych). In der Stadt Bartoszyce waren im Jahr zuvor 39,7 Prozent von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen. Besorgnis erregend ist, dass nur knapp 16 Prozent aller Arbeitslosen im Kreis Bartoszyce im Jahr 2005 Anspruch auf Arbeitslosengeld hatten.43 52 Prozent der Arbeitslosen in dem Zeitraum waren Frauen, und knapp 70 Prozent der Arbeitslosen hatten höchstens eine neunjährige Schulausbildung. Von Arbeitslosigkeit betroffen waren jeweils zu einem Fünftel die Altersgruppen 18–24 Jahre, 25–34 Jahre, 35–44 Jahre, 45–54 Jahre und 55–59 Jahre. Arbeitslosigkeit in Bartoszyce ist also charakterisiert durch Langfristigkeit, mangelnde finanzielle Unterstützung, geringen Bildungsgrad, einen hohen Anteil an Frauen und Altersunabhängigkeit. Vordergründig ist die hohe Arbeitslosigkeit in der Region mit dem Fehlen großer Firmen verbunden, die dort investieren. Diese Zurückhaltung ist u.a. der schlechten Transportinfrastruktur, der peripheren Lage weitab von wirtschaftlichen Zentren, fehlendem politischen Willen und der geringen Einwohnerzahl geschuldet (Interview mit Unternehmensberater, 28.11.2005, Kowalczyk o.J.: 23f.). Die mangelhafte Verkehrsanbindung der Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie zur Zeit der Datenerhebung wird deutlich durch Abbildung 5 illustriert. Zusammen mit den Woiwodschaften Podlaskie und witokrzyskie war sie als einzige Region Polens nicht an das Autobahnnetz des Landes angeschlossen. Auch in Zukunft ist eine Anbindung an das Autobahnnetz der Woiwodschaft nicht geplant (vgl. Ministerstwo Infrastruktury 2008).
43 In Polen hat man in Städten wie Bartoszyce, in denen die Arbeitslosenquote mehr als doppelt so hoch ist wie im Landesdurchschnitt, Anrecht auf 12 Monate Arbeitslosengeld, wenn man in einem Zeitraum von 18 Monaten mindestens 365 Tage gearbeitet hat. Die Höhe des Arbeitslosengeldes ist seit 1997 nicht mehr vom vorherigen Gehalt abhängig, sondern bemisst sich nach einem festen Satz, der im Jahr 2005 bei 504,20 Zoty (125 Euro) lag. Dieser variiert je nach Beschäftigungszeitraum (bis fünf Jahre: 80 Prozent, fünf bis 20 Jahre: 100 Prozent, über 20 Jahre: 120 Prozent) (vgl. Szylko-Skoczny 2009: 304). Das Arbeitsamt bietet als Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zwei Programme an, Interventionsarbeit (praca interwencyjna) und öffentliche Arbeit (praca publiczna). Die daran Teilnehmenden gelten währenddessen nicht als arbeitslos. Alle Arbeitslosen sind über das Arbeitsamt krankenversichert. Hingegen richtet sich die gemeinnützige Arbeit (praca spoeczno-uyteczna) an Sozialhilfeempfänger, die gleichsam als Arbeitslose gelten. Sie bekommen pro Arbeitsstunde 6 Zoty und dürfen nicht länger als zehn Stunden pro Woche arbeiten. Lehnen sie die Tätigkeit ab, bekommen sie für drei Monate keine Sozialhilfe. Einen Anspruch auf Sozialhilfe haben alleinlebende Personen, deren monatliches Einkommen unter der staatlich festgelegten Armutsgrenze von 461 Zoty liegt, bzw. als Mitglied eines Mehrpersonenhaushalts 316 Zoty. Es wird die Differenz zwischen dem tatsächlichen Einkommen und dem staatlichen Kriterium vom Sozialamt bezahlt, je nach Situation als feste oder periodische Unterstützung. Darüber hinaus können Wohn- und Kindergeld sowie Naturalien beantragt werden (vgl. Ustawa z dnia 20 kwietnia 2004r., Nowa ustawa o pomocy spoecznej 2005). Die staatliche Sozialunterstützung in Polen reicht jedoch nicht zur Sicherung des Lebensunterhaltes aus.
72 Abbildung 5:
3 Schmuggel in der Grenzstadt Bartoszyce
Existierende und geplante Autobahnen in Polen 2005
Quelle: Borsig, Knappe 2006: 38 Einige neue Arbeitsplätze wurden durch die Einrichtung einer Spezialzone der Sonderwirtschaftszone Warmisko-Mazurskie im Jahre 2000 an zwei Standorten in und am Rande der Stadt geschaffen, von deren vorteilhaften Investitionsbedingungen im Moment vier Unternehmen profitieren (siehe Tabelle 5). Die ursprünglichen Erwartungen an die Wirtschaftszone wurden bisher allerdings aus oben genannten
73
3.1 Die Stadt Bartoszyce
Gründen nicht erfüllt. Ursprünglich sollte von der Nähe Bartoszyces zum russischen Markt stärker wirtschaftlich profitiert werden. Die wenigen in der Zone operierenden Unternehmen konzentrieren sich jedoch auf den westeuropäischen Markt, wie ein Unternehmensberater konstatiert. Tabelle 5:
Firmen in der Sonderwirtschaftszone in Bartoszyce 2006
Firma WM-Glass
Branche Glasverarbeitung
Mazur Look International KBM-SAT
Polstermöbel
Zahl der Mitarbeiter 30 fest, 20 saisonale Mitarbeiter 250 Mitarbeiter
Produktion von Dekodern für Fernsehempfang per Satellit Ferwas Metall- und Holzelemente 30–40 Mitarbeiter für den Bau Quelle: IHK Warmisko-Mazurskie, Interview vom 28.11.2005 Neben den genannten vier Unternehmen operierten zur Zeit der Datenerhebung zehn Firmen mit je mehr als 100 Mitarbeitern im Kreis Bartoszyce. Hoffnungen ruhen darauf, mit Hilfe von EU-Mitteln den Zustand der Fernstraßen um Bartoszyce zu verbessern, um auf diese Weise attraktiver für potenzielle Investoren zu werden (Interview mit Bürgermeister, 14.11.2005). EU-Mittel werden auch für Vernetzungsprojekte zur Verringerung der Arbeitslosigkeit im Kreis verwendet (vgl. Powiat Bartoszyce 2003). Ein weiteres Element im Kampf gegen die hohe Arbeitslosigkeit stellt die Schaffung eines Gemeinde-Informationszentrums dar, das als Informationsbasis für Arbeitssuchende dienen soll und vor allem junge Leute beim Eintritt ins Berufsleben unterstützt. Auch das Unternehmernetzwerk „Inicjatywa“ (auf deutsch „Initiative”) setzt sich für die Stärkung des lokalen Arbeitsmarktes ein, indem es für die Interessen und die Existenz lokaler Unternehmen kämpft. Trotz dieser Initiativen und der Schaffung einiger neuer Arbeitsplätze bestätigt die schlechte sozioökonomische Situation die Regel, dass „jene Regionen mit den höchsten Arbeitslosenwerten in der Regel Gegenden sind, die seit Alters her wirtschaftlich rückständig sind, in die ungenügend investiert wurde und die sich durch industrielle oder landwirtschaftliche Monokultur auszeichnen“ (Jarosz 2005: 167). Neben einer hohen Arbeitslosigkeit ist Bartoszyce von einem niedrigen Lohnniveau betroffen (vgl. Tab. 6). Generell sind die Löhne im privaten Sektor in Polen niedriger als im öffentlichen, was sich in Bartoszyce aufgrund der Dominanz privater Arbeitgeber stark niederschlägt. Die Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie bildete im Jahr 2004 im polnischen Vergleich das Schlusslicht, wenn es um die Höhe der
74
3 Schmuggel in der Grenzstadt Bartoszyce
Einkommen geht: Dort wurden nur 86,5 Prozent des polnischen Durchschnittslohns gezahlt (vgl. GUS 2006a: 29). Da das Einkommensniveau im Kreis Bartoszyce noch unter dem der gesamten Woiwodschaft liegt, kann davon ausgegangen werden, dass die lokalen Einkommen zu den niedrigsten in Polen gehören. Viele private Arbeitgeber in und um Bartoszyce zahlen nicht mehr als den staatlich festgelegten Mindestlohn, der 2005 brutto 849 Zoty (ca. 210 Euro) und netto 617 Zoty (ca. 153 Euro) und 2006 brutto 899 Zoty (ca. 222 Euro) und netto 648 Zoty (ca. 161 Euro) betrug, so die Aussage einer Mitarbeiterin des Arbeitsamtes (Interview mit Arbeitsamt, 17.11.2005). Tabelle 6:
Durchschnittliche monatliche Entlohnung in Zoty und Euro (in Klammern)44 in Polen, der Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie (WM) und dem Kreis Bartoszyce
2004 2005 2006 Polen 2.290 (597) 2.380(620) 2.477 (645) WM 1.967 (513) 2.104 (548) 2.218 (578) Kreis Bartoszyce 1.836 (478) 1.910 (497) 1.981 (516) Quelle: Polen: GUS 2008b Quelle: Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie und Kreis Bartoszyce: GUS 2007a: 110f Auch das Rentenniveau ist im Kreis Bartoszyce niedriger als auf Woiwodschaftsund Staatsebene. So lag die durchschnittliche Rentenhöhe hier im März 2006 bei 1.038 Zoty (274 Euro), in der Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie bei 1.142 Zoty (302 Euro) und im gesamten Land bei 1.305 Zoty (ca. 345 Euro) (vgl. ZUS 2006). Die Tatsache, dass im heutigen Polen Arbeitslosigkeit und Armut eng verknüpft sind, obgleich auch das Phänomen der „working poor“ existiert, der armen arbeitenden Bevölkerung, die für ihre Tätigkeit nur einen sehr niedrigen Lohn erhält (vgl. Tarkowska 2008: 5), lässt sich am Beispiel Bartoszyce deutlich zeigen. Beide Faktoren, die Armut begünstigen, also Arbeitslosigkeit und geringe Entlohnung für Erwerbstätigkeit, sind in Bartoszyce und der gesamten Woiwodschaft WarmiskoMazurskie sehr stark ausgeprägt. Tabelle 7 verdeutlicht die wenig überraschende Tatsache, dass der Anteil der von relativer Armut Betroffenen in der Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie weit über dem polnischen Durchschnitt liegt. In der Woiwodschaft war darüber hinaus im Jahr 2005 der unterhalb des Existenzminimums (siehe S. 36f.) lebende Bevölkerungsanteil mit über 16 Prozent der Gesamtpopulation im polnischen Vergleich am höchsten (vgl. GUS 2007c: 40).
44
Das Arbeitsamt in Bartostzyce bezifferte den Durchschnittslohn im Kreis Bartoszyce in einem Interview allerdings mit ca. 1400 Zoty brutto (Field Notes, 09.05.06).
3.1 Die Stadt Bartoszyce
Tabelle 7:
75
Anteil der von relativer Armut Betroffenen in Polen und der Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie (WM)
von relativer Armut Betroffene in Prozent Jahr 1995 2000 2003 2004 2005 Polen 12,8 17,1 19,7 20,3 18,1 WM k.A. 21,2 23,3 29,5 25,3 Quelle für Polen: GUS 2007b: 71 Quelle für Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie: GUS (2001, 2004, 2007b) Aufgrund der beschriebenen perspektivlosen Lage auf dem offiziellen Arbeitsmarkt ist Bartoszyce seit dem Umbruch von einer hohen Abwanderung der Bevölkerung betroffen. Hatte die Stadt 1997 noch 26.472 Einwohner, waren es im Jahr 2006 noch 25.552. Im Kreis Bartoszyce waren 1997 66.185 Personen gemeldet, neun Jahre später waren es ca. 4.000 weniger, nämlich 62.154. Dass vor allem junge und gut ausgebildete Menschen (46 Prozent der Auswanderer aus der Woiwodschaft waren zwischen 20 und 29 Jahren alt, vgl. GUS 2007c: 26) die Region verlassen, wird von Verantwortlichen als Gefahr für die weitere Entwicklung der Region gesehen (vgl. Powiat Bartoszyce 2003: o.S.). Der Kreis Bartoszyce gehörte im Jahr 2006 mit einem Migrationssaldo von - 9 auf 1.000 Einwohner zu den am stärksten von Abwanderung betroffenen Regionen in der Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie (vgl. GUS 2007c: 26). Als Zwischenbilanz lässt sich festhalten, dass der Kreis Bartoszyce stärker als andere polnische Regionen von den negativen Konsequenzen der Transformation wie hoher Arbeitslosigkeit, einem hohen Anteil armer Bevölkerung, hoher Erwerbsmigration sowie einem geringen Lohnniveau betroffen ist. Die starke Präsenz des informellen Sektors in Bartoszyce ist eng mit dem letzten Faktor verbunden. Diese beiden kurzen Auszüge aus meinen Field Notes während der Feldforschung dokumentieren das gleiche Phänomen: den beiderseitigen finanziellen Nutzen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber, der sich aus einem informellen Arbeitsverhältnis ergibt. Janek, 20 Jahre alt, hat erstmals für drei Monate eine Arbeit bei einem kleinen Unternehmen als Schleifer gefunden. Vollzeit, sechs Tage die Woche acht Stunden für 622 Zoty im Monat. Im ersten Monat hat er 200 Zoty zusätzlich bekommen, „weil der Chef mit seiner Arbeit zufrieden war“, wie seine Mutter berichtet. Er bekommt das Geld bar auf die Hand, die Firma zahlt so weniger Abgaben. (Field Notes, 14.11.2005) Wera ist 58, Frührentnerin und arbeitet Vollzeit in zwei Schichten in einem kleinen Lebensmittelgeschäft. An Rente bekommt sie 600 Zoty und verdient im dem kleinen Laden 580 Zoty, bar auf die Hand. „Mein Chef hat mich eingestellt,
76
3 Schmuggel in der Grenzstadt Bartoszyce
weil ich Rente beziehe und er für mich keine Abgaben zahlen muss“, sagt sie. (Field Notes, 22.02.2006) In beiden Fällen sind die Arbeitnehmer nicht offiziell angestellt, und der Arbeitgeber führt keine Sozialabgaben ab. Im ersten Fall versucht der Arbeitgeber die Motivation seiner Angestellten zu erhöhen, indem er das durch die Schwarzarbeit eingesparte Geld dem Arbeitnehmer zukommen lässt, statt es an den Staat abzuführen. Im zweiten Fall spart der Arbeitgeber bei den Lohnnebenkosten, weil er für Rentner keinen Versicherungsbeitrag zahlen muss. „Die Arbeitgeber suchen nach einem Hintertürchen, um funktionieren zu können“, meint eine Angestellte des Arbeitsamtes dazu. Die hohen Sozialabgaben führen vor dem Hintergrund des niedrigen Lohnniveaus dazu, dass eine offizielle Anstellung sowohl für Arbeitgeber als auch für Arbeitnehmer unattraktiv erscheint – für den einen wegen der hohen Kosten, die die Stelle verursacht, für den anderen aufgrund des niedrigen Gehaltes. Diese Situation führt zu dem Paradoxon, dass es trotz hoher Arbeitslosenquote oftmals schwierig für Arbeitgeber ist, qualifizierte Fachkräfte zu finden. „Oft ist es so, dass Arbeitslose nicht zur Arbeit gehen wollen. Wenn es z.B. um Facharbeiter wie Maurer geht, sie haben oft so private Hintertürchen, so ein Bauarbeiter, wenn er privat arbeitet und irgendwem die Wohnung macht, verdient er dreimal so viel wie bei einem Arbeitgeber, bei dem er die gleiche Arbeit verrichten würde“, berichtet eine Mitarbeiterin des Arbeitsamtes. Ein Mangel an motivierten qualifizierten Arbeitskräften wiederum zieht keine potenziellen neuen Investoren an und führt somit auch nicht zur Schaffung zusätzlicher regulärer Arbeitsplätze. Der beschriebene Umstand lässt auch die hohe offizielle Arbeitslosenquote in einem anderen Licht erscheinen, denn vieles spricht dafür, dass arbeitslos gemeldete Personen zwar offiziell keine Einkünfte beziehen, aber oftmals schwarz doch erwerbstätig sind und so zu ihrem Lebensunterhalt beitragen, jenseits von staatlichen Bestimmungen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Mechanismen des offiziellen Arbeitsmarktes in Bartoszyce schlecht greifen und mit denen des informellen Sektors konkurrieren. Niedrige Einkommen, hohe Lohnnebenkosten45 und hohe Arbeitslosigkeit sind Faktoren, die die Ausweitung des informellen Sektors begünstigen, was man anhand der Situation in Bartoszyce ablesen kann. Auf der einen Seite führt diese Entwicklung zu einer massenweisen Prekarisierung von Lebens- und Arbeitsbedingungen. So sagt eine Mitarbeiterin des Arbeitsamtes: „Die Leute leben einfach im Hier und Jetzt, sie hören auf, sich um morgen Gedanken zu machen. (…) Die Veränderungen, die irgendwann Anfang der 45
Ein Beispiel: Zahlt der Arbeitgeber 2006 den staatlich festgelegten Mindestlohn von 899,10 Zoty, so kommen auf ihn allein für die Sozialversicherungen Abgaben in Höhe von zusätzlichen knapp 250 Zoty zu (vgl. ZUS 2006).
3.2 Hintergrund: Die polnisch-russische Grenze
77
1990er Jahre passiert sind, haben sich sehr in dem moralischen Skelett unserer Gesellschaft widergespiegelt.“ Schwarz arbeitende Angestellte werden zwar für die getane Arbeit entlohnt, sorgen aber nicht für ihre Rente vor. Die Stabilität von Wohnort und Einkommen wird immer geringer, es findet eine kleinteilige soziale Differenzierung statt. Auf der anderen Seite bietet eine Tätigkeit im informellen Sektor für viele Menschen auch die Rettung vor der Armutsfalle. Dabei stellt die Nähe zur polnisch-russischen Grenze einen entscheidenden Faktor dar, wie noch zu sehen sein wird. Für die Einwohner Bartoszyces ist die politische und wirtschaftliche Transformation also vor allem mit der Auflösung von Stabilität und einem Anstieg von Mobilität sowie der Zunahme existenzieller Unsicherheiten verbunden. Bisher wurden die sozioökonomischen Hintergründe der Stadt und des Kreises Bartoszyce dargestellt, um den eigentlichen Gegenstand der Arbeit, den Schmuggel, zu kontextualisieren und richtig einordnen zu können. Im Folgenden wird auf die Besonderheiten der polnisch-russischen Grenze eingegangen. Zunächst geht es um historische Entwicklungslinien, dann werden das Ausmaß und die Beschaffenheit des Schmuggels vor dem Hintergrund rechtlicher Bestimmungen diskutiert. 3.2 Hintergrund: Die polnisch-russische Grenze In diesem Kapitel sollen die Charakteristika der polnisch-russischen Grenze vorgestellt werden. Nach einem Überblick über die Wandlungen der Grenze in ihrer relativ kurzen Geschichte wird auf ihre aktuelle Funktionsweise eingegangen. 3.2.1 Historische Entwicklungslinien Die Grenze zwischen Polen und Kaliningrad hat eine Länge von rund 198 Kilometern. An neun Grenzübergängen kann sie überschritten werden, wie auf Abbildung 6 (S. 86) zu sehen ist. Bezledy ist der größte Grenzübergang. Dort werden Personen und Güter in Pkws, Bussen und Lkws abgefertigt. Da dieser Grenzübergang auch einen Teil des in dieser Arbeit erforschten Feldes darstellt, wird die Funktionsweise der Grenze im Folgenden beispielhaft an den Entwicklungen am Grenzübergang Bezledy dargestellt.46 Die Grenze zwischen Polen und Russland hat, als ein Ergebnis des Zweiten Weltkriegs, eine verhältnismäßig junge Geschichte. Während des Moskauer Alliiertentreffens 1941 wurde die Entscheidung gefällt, Ostpreußen von Deutschland 46
Da die Rahmenbedingungen an allen Straßen-Grenzübergängen der polnisch-russischen Grenze weitgehend gleich sind, können die hier am Beispiel von Bezledy vorgestellten Entwicklungen durchaus auf die Übergänge Gronowo und Godap übertragen werden.
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3 Schmuggel in der Grenzstadt Bartoszyce
abzutrennen. Die Westalliierten wollten es Polen eingliedern, doch auf der Konferenz von Teheran erhob Stalin Territorialansprüche auf einen Teil Ostpreußens. Das Potsdamer Abkommen von 1945 sprach Russland dann auch den nördlichen Teil der Region zu und bestimmte dessen Größe, indem es den Grenzverlauf festlegte (vgl. Wojnowski 1999: 269). Damit wurde das bis dahin deutsche Gebiet zwischen Russland und Polen aufgeteilt und die Grenze geschaffen, die in vorliegender Arbeit von Interesse ist. Nicht nur die Grenze war neu, auch die sie umgebende Bevölkerung wurde nach Kriegsende neu angesiedelt. Mit Änderung der Staatsangehörigkeit des Gebietes ging ein radikaler Bevölkerungsaustausch einher (siehe S. 63f.). Der Russland zugesprochene Teil wurde zu 70 Prozent mit Russen, zu 21 Prozent Belarussen und zu kleineren Teilen mit Ukrainern und Litauern aus von der Wehrmacht verwüsteten Gebieten der Sowjetunion besiedelt. In die grenznahen Gebiete auf beiden Seiten zogen einander vollkommen fremde Menschen, die keine gemeinsame Vergangenheit miteinander verband. Mit dieser Grenzziehung wurde ein historisch zusammengewachsenes Gebiet, das eine kulturelle, wirtschaftliche und administrative Einheit bildete, auseinandergerissen. Besonders gut lässt sich diese künstliche Teilung an Transportwegen veranschaulichen: Im Jahre 1937 gab es 13 Bahnstrecken, die die heutige Grenze überschritten. Zehn wurden 1945 geschlossen, von den drei weiterhin bestehenden werden auf einer Strecke Fahrgäste transportiert, die beiden anderen dienen dem Güterverkehr (vgl. Sakson 2001: 34). Weiterhin lassen sich 17 grenzüberschreitende Straßen finden, das macht bei einer Grenzlänge von 198 km alle 12 km einen – theoretischen – Übergang. Von den 17 Straßen führen heute nur noch drei über die Grenze, und zwar an den drei Straßen-Grenzübergängen in Gronowo, Bezledy und Godap. Direkt nach Entstehung der Grenze verloren aber erst einmal alle vorher intensiv genutzten Transportwege ihre Funktion: Die Grenze wurde abgeriegelt und die sie kreuzenden Straßen, Wege und Schienen wurden zu Sackgassen degradiert, überwucherten bald und verödeten. Direkt nach Kriegsende war es schlicht unmöglich, die Grenze zu überschreiten. Das hatte mit dem militärischen Charakter der Oblast zu tun. Die Oblast Kaliningrad als westlichster militärischer Vorposten der Sowjetunion war von einer ungeheuren Militärpräsenz charakterisiert (vgl. Knappe 2003: 336). Noch Anfang der 1990er Jahre waren bis zu ca. 250.000 Militärangehörige im Kaliningrader Gebiet stationiert (vgl. Wörster 1993: 135). Deshalb war das Gebiet von 1945 – 1990 nicht nur für Ausländer sondern auch für Russen aus anderen Gebieten des Landes nur mit einer Sondergenehmigung zugänglich. In den Jahren 1948 – 1955 existierte kein einziger Grenzübergang und – außer im militärischen Gebiet – keine einzige Form der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Die Grenze war dicht geschlossen und wurde streng überwacht. Der erste grenzüberschreitende Verkehr begann erst 1955, zehn Jahre nach dem Krieg. Aber auch nun gelang es nur wenigen, die
3.2 Hintergrund: Die polnisch-russische Grenze
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Grenze von der anderen Seite zu sehen. 1957 wurde ein Plan der Zusammenarbeit zwischen Olsztyn und Kaliningrad erstellt, in dessen Rahmen jedes Jahr einige Hundert ausgewählte Personen wenige Tage das Nachbarland besuchen konnten. Mit der Unterzeichnung eines Vertrages über visafreien Verkehr zwischen der UdSSR und Polen im Jahre 1979 wurde die Voraussetzung für erleichterte grenzübergreifende Kontakte geschaffen (vgl. Wust, Haase 2002: 14). Beispielsweise gab es in den 1970er Jahren die „Autobusse der Freundschaft“, deren Insassen jeweils für drei Tage nach Polen bzw. Kaliningrad reisen konnten. Nach einer Pause Anfang der 1980er Jahre, während der Gültigkeit des Kriegsrechts in Polen, fuhren die Busse wieder ab Mitte der 1980er Jahre, diesmal vor allem für Schüler und Schülerinnen. Die Zusammenarbeit zwischen Polen und Russland in der Zeit von 1955–1990 trug vor allem propagandistischen Charakter. An spontane individuelle Besuche war nicht zu denken, die seltenen Begegnungen spielten sich zwischen offiziellen Delegationen ab. Diese Programme wurden von staatlichen Stellen aus mehrfach geprüft. „Wenn wir ein Auto mit russischem Nummernschild hier sahen, waren wir alle aus dem Häuschen, so eine Besonderheit war das“ (Field Notes, 18./19.06.2005), erinnert sich ein Bekannter aus Górowo Iaweckie. Statistiken machen seine Reaktion verständlich: 1980 z.B. überquerten aus beiden Richtungen ca. 5.000 Personen und 300 Autos im ganzen Jahr die Grenze (vgl. Sakson 2001: 34). Auch während der russischen Perestrojka intensivierte sich die Zusammenarbeit zwischen Polen und Kaliningrad nicht merklich, da die Oblast Kaliningrad nach wie vor aufgrund ihres militärischen Charakters ein geschlossenes Gebiet darstellte. Die beschriebenen zaghaften Versuche einer grenzüberschreitenden Kommunikation konnten aber insgesamt nichts an der verbreiteten gesellschaftlichen Wahrnehmung der Grenze als bedrohlich, ungerecht und störend ändern. Zum einen wurde diese negative Wahrnehmung durch unschöne Erfahrungen mit dem sowjetischen System gestützt, die ein großer Teil der aus den polnischen Ostgebieten umgesiedelten Bevölkerung gemacht hatte. Zum anderen erschwerte die Grenze das alltägliche Leben der Menschen, die in ihrer Nähe wohnten. Schon die Annäherung an die Grenze war verboten, so dass sie eine geheimnisvolle, bedrohliche Ausstrahlung bekam (vgl. Wojnowski 1999: 254). Bedeutende Änderungen fanden nicht vor 1989/90 statt. Im Oktober 1990 wurde im Rahmen der „Zwei-plus-Vier-Gespräche“47 beschlossen, Kaliningrad für das Ausland zu öffnen. Im darauf folgenden Jahr wurde die Freihandelszone „Jantar“ eröffnet, die aber nicht die gewünschten wirtschaftlichen Entwicklungen mit sich brachte. Die Zeit der Isolation für Kaliningrad endete also, und die Grenze 47 Die „Zwei-plus-Vier-Gespräche“ mündeten in den „Zwei-plus-Vier-Vertrag“, der die außenpolitischen Aspekte der deutschen Wiedervereinigung regelt. Sie fanden im Jahr 1990 zwischen der BRD, der DDR und den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs Frankreich, Großbritannien, den USA und der Sowjetunion, statt.
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3 Schmuggel in der Grenzstadt Bartoszyce
verlor ihren „Ende-der-Welt-Charakter“. Sie wurde zugänglich, passierbar, erfahrbar und sogar von vielen gern gesehen. Den Weg für eine offizielle Annäherung der Grenzregionen auf beiden Seiten ebnete das im Mai 1992 unterzeichnete „Abkommen zwischen der Regierung der Polnischen Republik und der Regierung der Russischen Föderation über die Zusammenarbeit der nordöstlichen Woiwodschaften der Polnischen Republik und des Kaliningrader Gebiets der Russischen Föderation“, was die Aufnahme vielfältiger grenzüberschreitender Kooperationen beider Länder in unterschiedlichen Bereichen wie Verkehr, Tourismus und Wissenschaft regelte. Ein konkretes Ergebnis des Abkommens bestand zudem in der Öffnung der Grenze, was einen rapiden Anstieg der Zahl der Grenzübertritte mit sich brachte (vgl. Wojnowski 2001: 207). Wurden im Jahr 1990 am Grenzübergang Bezledy knapp 43.000 Grenzübertritte registriert (GUS 1991), so stieg ihre Zahl zwei Jahre später auf über 576.000 an (siehe Tabelle 9, S. 88). Der rapide Anstieg der Grenzübertritte spiegelt die veränderte Wahrnehmung der Grenze durch die Bewohner der an sie angrenzenden Region wider. Die bisher ungeliebte Grenze bekam für sie eine enorme ökonomische Bedeutung, und zwar durch legalen oder illegalen Handel von Waren, meist Zigaretten, Alkohol und Benzin, von Russland nach Polen. Damit kam es auch zu ersten Kontakten zwischen den Bevölkerungen beiderseits der Grenze, die bisher strikt voneinander getrennt gelebt hatten. Anders als z.B. an der polnisch-ukrainischen Grenze gab es durch den Bevölkerungsaustausch nach Kriegsende keinerlei verwandtschaftliche oder ethnische grenzüberschreitende Beziehungen zwischen der Bevölkerung in den polnischen und russischen Grenzgebieten. Für diesen Bedeutungswandel der Grenze spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Erstens ist die Tatsache ausschlaggebend, dass die Grenze auf einmal passierbar war. Eine große Rolle spielte zweitens die hohe Arbeitslosigkeit in den grenznahen Regionen. Die finanzielle Situation verschlechterte sich dadurch dramatisch bei großen Teilen der Bevölkerung, so dass neue Einkommensmöglichkeiten gesucht wurden und die Möglichkeit des Grenzhandels sehr willkommen war (vgl. Kapitel 3.1.2). Der dritte Faktor, der das Geschäft mit der Grenze lukrativ und lohnenswert macht, besteht im Wohlstandsunterschied, der sich im Preisgefälle zwischen den Nachbarländern bemerkbar macht. Tabelle 8 zeigt die Marktpreise 2005/2006 von ausgewählten, oft geschmuggelten Zigarettenmarken, Alkohol und Benzin in den Verkaufsbuden in Bagrationowsk, auf dem Markt in Bartoszyce und in polnischen Geschäften. Der Schmuggel von zehn Stangen Zigaretten und zwei, drei Litern Wodka im Linienbus beschert einen ungefähren Reingewinn von 50 Zoty (ca. 13 Euro) pro Fahrt. Fährt man im Monat 12-mal, so entspricht der damit erzielte Verdienst dem staatlichen Mindestlohn.
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3.2 Hintergrund: Die polnisch-russische Grenze
Tabelle 8:
Preise von Zigaretten, Alkohol und Benzin 2005/2006 Preise
Schmug gelgut
Umfang
Bagrationowsk (Russland)
Markt in Bartoszyce
Jin Ling
2,35 $
1,83 €
19 Z.
4,70 €
L&M
Stange (=10 Päckchen) Stange
5,70 $
4,46 €
33 Z.
8,16 €
West
Stange
5,20 $
4,10 €
35 Z.
8,66 €
Marlboro
Stange
8,00 $
6,26 €
45 Z.
11,13 €
LD
Stange
3,30 $
2,60 €
25 Z.
6,19 €
Benzin 95
Liter
15 Rubel
0,44 €
3,20 Z.
0,79 €
Wodka
0,5 Liter 1 kg
1,00 $
0,78 €
7 Z.
1,73 €
Zucker
Polnische Geschäfte bzw. Tankstelle -
43,50 Z. – 5,85 Z. 57,50 Z. 62,50 Z. – 71,00 Z. 43,00 Z. 3,67 Z. – 4,26 Z. 10,00 Z.
10,76€ – 14,47€ 14,23 € 15,46€ – 17,57 € 10,64 € 0,90 € –1,05 €
2,47 €
13 0,38 € 2,50 0,62 € Rubel Z. Quelle: Eigene Recherche und Berechnung, Wechselkurs vom 08.04.2006, www.oanda.com Der Handel mit geschmuggelten Waren rentiert sich also sowohl für den Schmuggler, der sie günstig in Russland einkauft und in Bartoszyce verkauft, als auch für den Käufer in Bartoszyce, der für geschmuggelte Zigaretten, Alkohol und Benzin deutlich weniger bezahlen muss als in polnischen Geschäften. Die Kombination von hoher Arbeitslosigkeit und großer Preisspanne sorgte für das Entstehen und Aufblühen des Kleinhandels und Schmuggels, übrigens auf beiden Seiten der Grenze. Die Grenze war somit auf einmal gleichbedeutend mit der Sicherung des Lebensunterhaltes für weite Teile der Bevölkerung. Sie bedingte
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3 Schmuggel in der Grenzstadt Bartoszyce
zum Teil die hohe Arbeitslosigkeit in den sie umgebenden Gebieten durch ihre Peripherisierung, schuf aber gleichzeitig neue Einkommensmöglichkeiten in Form von Kleinhandel und Schmuggel, die die Folgen der Erwerbslosigkeit abmilderten. Mit anderen Worten: Im Laufe ihres Bestehens hat sich die Bedeutung der Grenze für die Bewohner der sie umgebenden Gebiete radikal verändert: Wurde sie bis zum Zerfall der Sowjetunion vorrangig als bedrohliches Geheimnis wahrgenommen, stellt sie seit ihrer Öffnung Anfang der 1990er Jahre vor allem eine ökonomische Ressource dar. 3.2.2 Die Grenze heute: Die Grenze zwischen Polen und Kaliningrad in ihrer Funktion als EU-Außengrenze „Das hier ist eine reine Schmuggelgrenze.“ An dieser vorrangig ökonomischen Funktion der Grenze für weite Teile der Anwohner hat auch die Tatsache nichts geändert, dass sie mit dem EU-Beitritt Polens in eine EU-Außengrenze verwandelt wurde. Es ist eher davon auszugehen, dass der Beitritt Polens zum Schengener Abkommen am 21.12.2007 aufgrund immens angestiegener Visumskosten die Durchlässigkeit dieser EU-Außengrenze einschränken wird. Die Behandlung dieser Entwicklung würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen und soll deshalb an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden.48 Dieses Kapitel beschäftigt sich daher ausschließlich mit der Situation zur Zeit der Feldforschung 2005/06, auf der diese Arbeit basiert. Rechtliche Bestimmungen Polens Beitritt zur EU hat das Land stärker an Westeuropa angebunden. Gleichzeitig werden mit diesem Schritt aber auch Abgrenzungsmechanismen in Richtung der östlichen Nachbarn in Gang gesetzt. Hier, in unmittelbarer Nähe dieser neuen Außengrenze, macht sich die polnische EU-Mitgliedschaft nach und nach folglich in einer verminderten Durchlässigkeit der Grenze zu Russland bemerkbar. 48 Seit dem 21.12.2007 ist Polen Teil des Schengenraumes. Seitdem ist für die Einreise nach Polen ein Schengenvisum notwendig, welches für russische Staatsbürger aufgrund des Vertrages vom 17.05.2007 zwischen der EU und Russland über die Erleichterung der Visumsvergabe für EU-Bürger und russische Staatsbürger 35 Euro für eine Einreise kostet, statt 60 Euro für Bürger von Staaten, die kein solches Abkommen mit der EU unterzeichnet haben, wie z.B. Belarus. Neben den finanziellen Hürden ist die Visumsausstellung sehr bürokratisch und zeitaufwendig. Polnische Bürger müssen für ein Einmalvisum nach Russland seitdem ebenfalls 35 Euro zahlen. Dies sind völlig neue finanzielle Belastungen, die seitdem mit dem Grenzübertritt verbunden sind und voraussichtlich den Schmuggel für viele Menschen finanziell nicht mehr lohnend machen wird. Diese Entwicklung bedeutet neuen Forschungsbedarf, der mit dem Forschungsprojekt „Geographie[n] an den Rändern des europäischen Projekts“ am LeibnizInstitut für Länderkunde eingelöst wird. Es widmet sich der Ausgestaltung ökonomischer Praktiken an unterschiedlichen EU-Außengrenzen, die z.T. auch den Schengenraum begrenzen.
3.2 Hintergrund: Die polnisch-russische Grenze
83
Bis zum Jahr 2003 basierten die Beziehungen zwischen Polen und Russland auf dem zwischen Polen und der UdSSR im Jahr 1979 abgeschlossenen Vertrag über visumfreien Grenzverkehr, dem Zusatzvereinbarungen angefügt wurden. Diesem Vertrag zufolge haben sowjetische und polnische Bürger das Recht, auf Grundlage einer Einladung durch die zuständigen Staatsorgane ohne Visumspflicht private Reisen zu unternehmen (Umowa 13.12.1979, Nr. 13, poz. 41). Die Grenze konnte nach dem Systemwechsel höchst unkompliziert und kostengünstig von Polen und Russen nach Erwerb eines Hotelvouchers passiert werden (vgl. Haase u.a. 2004: 43). Dies änderte sich im Oktober 2003, als im Hinblick auf den polnischen EU-Beitritt im darauf folgenden Jahr die Visumspflicht für polnische und russische Bürger gleichermaßen eingeführt wurde. Bis zur Einführung des Schengenvisums, das 35 Euro kostet, kostete ein Einmalvisum für Bürger beider Staaten für die Einreise in den jeweils anderen Staat 10 Euro, ein Visum mit zweifacher Einreiseberechtigung 16 Euro und ein Mehrfachvisum 50 Euro. Die Bewohner Kaliningrads und polnische Bürger, die in die Oblast Kaliningrad einreisen wollten, wurden allerdings bevorzugt behandelt. Sie bekamen ein Jahr gültige Mehrfachvisa ohne Vorlage einer Einladung ausgestellt und wurden darüber hinaus von den Visagebühren befreit (Umowa midzy RP a FR w sprawie ruchu osobowego 2003). Nur denjenigen kostete die Visumsausstellung 50 Zoty (13 Euro), der sich die Mühe sparte und die Visumsbeschaffung einem Reisebüro überließ. Auch nach Polens EU-Beitritt genossen die Bewohner der Oblast Kaliningrad und dorthin reisende polnische Staatsbürger großzügigere Visaregelungen als generell zwischen Polen bzw. der EU und Russland gelten. Die gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingungen änderten sich für polnische Bürger, die nach Kaliningrad reisen wollten, mit Polens EUBeitritt bis zur polnischen Übernahme des Schengener Abkommens also nicht stark. Wenngleich diese personenbezogene Neuregelung für polnische Schmuggler an der polnisch-russischen Grenze wenig spürbar ist, so macht sich die verstärkte Grenzsicherung für sie jedoch im Bereich des Warentransports bemerkbar, in Form der Einführung neuer Kontrollstandards sowie der Professionalisierung der Zollbehörde. So berichtet eine Schmugglerin: „Seit vier Jahren fahre ich nonstop mit dem Bus. Na, und bis zu diesem Jahr, bis 2004, war es gut, weil man nicht durch den Hangar fuhr, es gab nur die normale Abfertigung auf der Spur, neben dem Bänkchen kontrollierte der Zöllner. Und ab Februar wurden die Kontrollen verstärkt. Ab Februar jenes Jahres drei Monate lang, bis Mai, als wir in die EU eintraten. Und die ganze Zeit (.) fährt der Bus durch das Gebäude zur genauen Kontrolle, und dort wird die persönliche Kontrolle durchgeführt (…).“ (Beata) So hat das Zollamt Olsztyn, das für die Sicherung der polnisch-russischen Grenze zuständig ist, seine Mitarbeiter seit Polens EU-Beitritt auf über 900 verdoppelt. Am
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3 Schmuggel in der Grenzstadt Bartoszyce
Grenzübergang Bezledy arbeiteten im Jahr 2005 137 Zöllner, vor dem EU-Beitritt waren es 45 (Interview mit der Zollbehörde, 18.05.2006). Eine weitere Neuerung besteht seit dem EU-Beitritt in der Etablierung sogenannter „Mobiler Gruppen“, die im Landesinneren an Straßen und Märkten Zollkontrollen durchführen. In der Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie führten 2005 fünf „Mobile Gruppen“ insgesamt 3.400 Benzinkontrollen durch. Seit dem Jahr 2002 ist der Zoll darüber hinaus mit Röntgengeräten und weiteren modernen Suchapparaten wie einer Endoskopvideokamera, einem sogenannten „Schmuggeldetektor“, der die Materialdicke von Fahrzeugverkleidungen misst, und Spürhunden ausgestattet. Dabei haben sich die Zollgesetze de facto nicht geändert. Nach wie vor gilt die Verordnung (EWG) Nr. 918/83 vom 28.03.1983, wonach ein Liter hochprozentiger Alkohol bzw. zwei Liter Getränke mit einem Alkoholgehalt von weniger als 22 Prozent, eine Stange Zigaretten (200 Stück) und ein voller Tank Benzin plus zehn Liter im Kanister von Russland nach Polen zollfrei eingeführt werden dürfen. Für Bewohner der grenznahen Gebiete49, Angestellte von Transportunternehmen, die zwischen der EU und angrenzenden Ländern unterwegs sind und Grenzarbeitnehmer50 gelten schärfere Bestimmungen: Sie dürfen nur einen halben Liter Alkohol jeglicher Beschaffenheit und ein Päckchen Zigaretten einführen. Die Einfuhr bzw. der Versuch der Einfuhr größerer Mengen als die genannte erlaubte Menge ist illegal und zieht Sanktionen nach sich. Je nach Menge der geschmuggelten Ware stellt Schmuggel entweder eine Ordnungswidrigkeit oder eine Straftat dar. Nach der Verordnung des Ministerrates Nr. 197 poz. 1469 aus dem Jahr 2005 gilt ein Warentransport bis 444 Päckchen mit jeweils 20 Zigaretten, also über 44 Stangen, als Ordnungswidrigkeit, das Schmuggeln größerer Mengen als Straftat. Handelt es sich um eine Ordnungswidrigkeit, so wird ein Strafmandat vom Zoll auf eine bestimmte Person ausgestellt und das gefundene Schmuggelgut einbehalten. Die Höhe des Mandats ist abhängig von der Menge der gefundenen Schmuggelware. Die Mindesthöhe beträgt 90 Zoty, maximal müssen 1.800 Zoty entrichtet werden (Kodeks Karny Skarbowej 1999). Im Falle einer Straftat übergibt der Zoll den Vorfall an ein Gericht, welches über die Höhe der Strafe entscheidet. Dies passiert aber eher selten. Allgemein ist jedoch die Anzahl ausgestellter Strafmandate und Strafverfahren in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen. Wurden im Jahr 2000 vom polnischen Zoll insgesamt 1.257 Mandate und gut 499 Strafsachen vergeben, so waren es im Jahr 2005 insgesamt 18.154 Strafmandate, die vom polnischen Zoll ausgestellt wurden. Im gleichen Zeitraum wurden 1.315 Strafrechtsprozesse eingeleitet. Eine weitere mögliche Prozedur ist es, sich freiwillig zu
49 Als „grenznahes Gebiet“ wird ein nicht mehr als 15 km Luftlinie tiefer Streifen längs der Grenze definiert. Auch Gemeinden, die nur teilweise im Grenzgebiet liegen, werden vollständig dazu gezählt. 50 Als Grenzarbeitnehmer werden Personen bezeichnet, die zur Ausübung ihrer üblichen beruflichen Tätigkeit an den Tagen, an denen sie arbeiten, die Grenze überschreiten (vgl. Europäischer Rat 1983).
3.2 Hintergrund: Die polnisch-russische Grenze
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stellen und Verantwortung für den Schmuggel zu übernehmen51, eine Geldstrafe zu zahlen und so einer Verurteilung durch das Gericht zu entgehen. Seit dem polnischen EU-Beitritt müssen Schmuggler also mit einem höheren Risiko wegen stärkerer Zollkontrollen rechnen. Ausmaß des grenzüberschreitenden Verkehrs und des Schmuggels Die polnisch-russische Grenze kann an neun Übergängen überquert werden. Drei davon sind Straßen-, drei Schienenübergänge, auch ein Flughafen und zwei Häfen stehen zur Verfügung, wie Abbildung 6 zeigt. Der Grenzübergang Bezledy funktioniert seit 1993 und war zu Beginn ausschließlich für polnische und russische Staatsbürger 12 Stunden pro Tag geöffnet. 1996 wurde er für den internationalen Warenverkehr geöffnet. Inzwischen ist er mit neun Fahrspuren der größte Straßenübergang an der polnisch-russischen Grenze sowohl für Personen als auch für Waren und der einzige für Schwertransporte bis 7,5 Tonnen an der Grenze.52 Im Jahr 2005 war er auf polnischer Seite Arbeitsplatz für jeweils knapp 140 Zöllner und Grenzschützer. EU-Richtlinien zufolge wurden im Zuge des polnischen EU-Beitritts einzelne Fahrspuren für Angehörige von EUMitgliedsstaaten und Bürger weiterer Staaten eingerichtet, für Busse, Pkws und Lkws. So gibt es zur Ausfahrt aus Polen zwei PKW-Fahrspuren (eine für EUStaatsbürger und eine für alle anderen) und eine Lkw-Spur. Zur Einfahrt nach Polen stehen sechs Fahrspuren zur Verfügung: für Pkws von EU-Staatsbürgern, für Pkws für alle anderen Bürger, für Busse und Lkws sowie drei „grüne“ Fahrspuren jeweils für Busse, EU-Bürger und andere Bürger, die nichts zu verzollen haben. Die Zahl der Grenzübertritte spiegelt die jeweils gültigen rechtlichen Bestimmungen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Polen und Russland wider und reagiert auf diese. Bis zum Jahr 1997 nahm der Personenverkehr kontinuierlich zu, 1998 kam es aufgrund eines neuen, verschärften Ausländergesetzes in Polen, der Verteuerung polnischer Importe wegen der russischen Finanzkrise und des von Polen geforderten Devisennachweises für einen Aufenthalt im Land zu einem starken Rückgang der die Grenze überschreitenden Personen.53
51
„Dobrowolne poddanie si odpowiedzialnoci“ Seit einigen Jahren wird an dem Übergang „Grzechotki II“ gebaut, der vor allem den Übergang Bezledy vom LKW-Verkehr entlasten soll. Im Juni 2008 war er aber wegen Verzögerungen des Bauprozesses noch nicht eröffnet. 53 Von diesen Maßnahmen waren polnische Staatsbürger allerdings weniger betroffen, so dass dem Rückgang der Gesamtzahl an Grenzüberquerungen die reduzierte Einreiseanzahl von Ausländern zu Grunde liegt. Aufgrund der teilweisen Zurücknahme der geänderten Reisebestimmungen stieg der Grenzverkehr nach 1998 wieder an (vgl. Haase u.a. 2004: 46). 52
86 Abbildung 6:
3 Schmuggel in der Grenzstadt Bartoszyce
Übergänge an der polnisch-russischen Grenze
2003 sank die Anzahl der Grenzübertritte wiederum erheblich, was sowohl auf die Einführung der Visumspflicht im Zuge des bevorstehenden polnischen EU-Beitritts für russische und polnische Grenzanrainer als auch auf die Verschärfung der Zollkontrollen zurückgeführt werden kann. Seit 2005 steigt die Anzahl der Grenzübertritte wieder leicht an, was Abbildung 7 veranschaulicht.
87
3.2 Hintergrund: Die polnisch-russische Grenze
Abbildung 7:
Anzahl der abgefertigten Personen von 1992 bis 2006 am Übergang Bezledy und an der gesamten Grenze
9.000.000 8.000.000 7.000.000 6.000.000 5.000.000
Gesamte Grenze Übergang Bezledy
4.000.000 3.000.000 2.000.000 1.000.000 0
19 92 19 94 19 96 19 98 20 00 20 02 20 04 20 06
Anzahl der Grenzübertritte
Anzahl der Übertritte an der polnischrussischen Grenze 1992 - 2006
Zeitlicher Verlauf
Quelle: Warmisko-Mazurski Oddzia Stray Granicznej (Grenzschutzabteilung Warmisko-Mazurskie, Ktrzyn) Den oben beschriebenen Trend gibt Tabelle 9 differenziert wieder. So ist im Jahr 2003 die Anzahl der Pkws im grenzüberschreitenden Verkehr stark zurückgegangen. Der Einbruch der Pkw-Anzahl liegt nicht nur an der zu dem Zeitpunkt ins Leben gerufenen bedeutenden Erhöhung der Gebühren für die Autoversicherung in Russland. Eine weitere Erklärung könnte der als Vorbereitung auf den EUBeitritt beginnende Einsatz strengerer Zollkontrollen darstellen. Dazu passt die gleichzeitige Zunahme des Busverkehrs bei Abnahme des Pkw-Verkehrs, denn das Risiko des vollständigen Warenverlusts ist für einen busreisenden Schmuggler viel geringer als für einen Pkw-Passagier (siehe Kapitel 5.1). Der ständig wachsende Lkw-Verkehr hingegen lässt sich als eine Zunahme der legalen wirtschaftlichen Beziehungen und des Handelsaustausches zwischen der Oblast Kaliningrad und Polen bzw. der Europäischen Union interpretieren, obgleich der Lkw-Verkehr sich insgesamt auf einem niedrigen Niveau im Vergleich zu anderen Abschnitten der EU-Außengrenze in Polen befindet.
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3 Schmuggel in der Grenzstadt Bartoszyce
Tabelle 9:
Anzahl der die Grenze überquerenden Fahrzeuge am Grenzübergang Bezledy in den Jahren 2000–2005 Jahr
Transportmittel Pkws
2000
2001
2002
2003
2004
2005
856.700
868.400
653.950
371.350
489.370
584.800
Lkws
69.700
80.800
91.300
82.250
104.980
132.700
Busse
6.300
9.600
15.200
16.900
18.600
20.250
Quelle: Zollamt Olsztyn, Zollabteilung Bezledy Mai 2006 Die bisher vorgestellten Daten geben keine direkten Informationen zum Ausmaß des Schmuggels an der polnisch-russischen Grenze. Sie zeigen nur an, dass die Grenze im Zuge des polnischen EU-Beitritts als neue EU-Außengrenze für Personen, aber vor allem für Waren undurchlässiger geworden ist. Folgerichtig hat die Anzahl der Grenzübertritte in den Jahren nach dem Beitritt nicht die Höhe wie in den Jahren bis 2003 erreicht, sondern ist erheblich zurückgegangen. Wie verortet sich das Phänomen des Schmuggels in den vorgestellten Entwicklungen? Ein Zöllner der Dienststelle Bezledy sagt: „Auf Grundlage von Beobachtungen lässt sich schließen, dass sich ca. 85 Prozent aller die Grenze überquerenden Reisenden in Bezledy mit Schmuggel beschäftigen. Einen bedeutenden Teil der schmuggelnden Personen machen Einwohner der Grenzzone und der umliegenden Städte aus.“ Mancher Zöllner geht aufgrund seiner Erfahrung gar von einem 99-prozentigen Anteil schmuggelnder Reisender an der Gesamtheit aller grenzüberschreitenden Personen aus. Diese Aussagen des Zollamtes haben seit der Öffnung der Grenze bis zum Zeitraum der Feldforschung Gültigkeit gehabt. Der hohe Anteil der Grenzüberquerer aus grenznahen Gebieten kann an dieser Stelle durch eine kleine Erhebung illustriert werden. 99 Prozent aller Personen, die die Grenze in Bezledy überqueren, besitzen nach Angaben des Zollamtes entweder die russische oder die polnische Staatsangehörigkeit. 57 Prozent der grenzüberschreitenden Personen sind Polen, 42 Prozent Russen, und nur ein Prozent ist anderer Nationalität. Dass die meisten der Personen, die die Grenze überqueren, von nicht weit her kommen, ist eine Vermutung, die ich anhand einer kleinen eigenen Zählung zwar nicht repräsentativ absichern, aber doch illustrieren kann. Am 22. Juni 2006 beobachtete ich einige hundert Meter vor dem Grenzübergang Bezledy im Zeitraum von 90 Minuten (von 8.10 Uhr bis
3.2 Hintergrund: Die polnisch-russische Grenze
89
9.40 Uhr) den Verkehr von und zum Grenzübergang. In Richtung Russland fuhren in dem Zeitraum insgesamt 75 Pkws an mir vorbei. Davon hatten 25, also ein Drittel, ein Bartoszycer Nummernschild, weitere 23 trugen Kennzeichen aus der Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie. 20 Autos waren in Russland registriert, und nur sieben Pkws hatten Kennzeichen aus anderen weiter entfernten Regionen. Ein ähnliches Bild ergibt sich aus der Zählung des Verkehrs in die andere Richtung, also vom Grenzübergang kommend. Insgesamt zählte ich 86 Fahrzeuge, von denen 31 ein Bartoszycer Kennzeichen trugen. Weitere 19 waren in Orten der Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie registriert. 27 Fahrzeuge kamen aus Russland, nur neun Autos trugen Nummernschilder mit Kennzeichen weiter entfernter Orte. Diese immerhin einen Trend abbildende kleine Auszählung stützt die in der Überschrift des Kapitels 3.2.2 zitierte Behauptung des Zollbeamten, dass die besagte Grenze vornehmlich durch Schmuggel geprägt ist und dass viele Einwohner der grenznahen Gebiete finanziell von ihm profitieren. Aus weiter entfernten Orten lohnt sich der Schmuggel von Kaliningrad kaum noch. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2006 bestätigt den beschriebenen Trend. So lebten knapp 63 Prozent der Reisenden aus Polen am Grenzübergang Bezledy in einem Ort, der weniger als 50 km vom besagten Übergang entfernt ist (vgl. Matejko u.a. 2008: 9f.) Ein weiteres Zeichen des hohen Anteils der Schmuggler an den die Grenze überquerenden Reisenden ist die Tatsache, dass die allermeisten grenzüberschreitenden Personen höchstens einem Tag im Nachbarland bleiben. So galt z.B. für 2002, dass nur neun Prozent der polnischen Grenzüberschreiter sich länger als einen Tag jenseits der Grenze aufhielten, ca. 90 Prozent von ihnen hingegen innerhalb eines Tages wieder nach Polen einreisten (vgl. Macieja u.a. 2004: o.S.). Auch überquerten im Jahr 2006 knapp 65 Prozent aller Reisenden den Übergang Bezledy mindestens einmal in der Woche (vgl. Matejko 2008: 10), was ebenfalls auf eine vorwiegende ökonomische Nutzung des Grenzübertritts hinweist.54 Der Grenzverkehr wird also größtenteils durch den Schmuggel dominiert, aufgrund der abnehmenden Zahlen der Reisenden auf leicht niedrigerem Niveau als in den 1990er Jahren. Wegen des als äußerst hoch geschätzten Anteils der Schmuggler am Gesamtaufkommen des Grenzverkehrs liegt der Schluss nahe, dass sich die Zahl der Reisenden vor allem wegen der strengeren Zollkontrollen verringert hat. Der Schmuggel ist in den letzten Jahren riskanter geworden. Auch die Erhöhung der Strafmandate (siehe S. 84f.) sowie die Zunahme der sichergestellten Zigaretten durch den Zoll (siehe Tabelle 10) bei rückläufiger Anzahl der Grenzübertritte spricht für strengere Zollkontrollen und somit für ein höheres Risiko der Schmuggler.
54 Neben der dominierenden Gruppe der Schmuggler wurden Reisende identifiziert, die aus formalen beruflichen Gründen die Grenze überqueren, die im Nachbarland einkaufen und solche, die Verwandtenbesuche unternehmen und touristische Motive haben (vgl. Matejko u.a. 2008: 11f.).
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3 Schmuggel in der Grenzstadt Bartoszyce
Tabelle 10: Menge der vom Zoll gefundenen Zigaretten am Grenzübergang Bezledy von 2000–2005 in Päckchen55 Jahr
Anzahl der gefundenen Zigarettenpäckchen
2000
437.000
2001
667.000
2002
1,38 Millionen
2003
2,33 Millionen
2004
2,89 Millionen
2005
3,23 Millionen
Quelle: Zusammenstellung Oddzia Celny w Bezledach 2006 Obgleich zollrechtlich mit dem EU-Beitritt keine Änderungen einhergegangen sind (im Unterschied zum Visumsregime, das auf eine neue rechtliche Grundlage gestellt wurde), hat die mit dem EU-Beitritt einsetzende Verschärfung der Zollkontrollen, also die strengere praktische Umsetzung der geltenden Bestimmungen, mindestens ebenso große Veränderungen für die Grenzüberschreiter mit sich gebracht wie die eingeführte Visumspflicht. Nicht nur an Veränderungen des Grenzregimes, auch an weitere rechtliche Modifikationen passen sich Schmuggler schnell an. Ein gutes Beispiel dafür ist der plötzliche Rückgang des Schmuggels von Alkohol bei einem gleichzeitigen Anstieg des Zigarettenschmuggels im Jahr 2002, als in Polen die Steuer auf Alkoholika gesenkt wurde, deren Preis sank und der Schmuggel aufgrund des geringeren Preisunterschieds unattraktiv wurde (vgl. Macieja u. a. 2004: o.S.). Nachdem die polnische Akzise auf Zigaretten im Zuge des Beitritts zur Union auf EUNiveau angehoben wurde, hat sich der Preisunterschied der Zigaretten in Polen und Russland verstärkt und den Zigarettenschmuggel attraktiver gemacht (siehe Tabelle 8). Die Ausgestaltung und das Ausmaß des Schmuggels sind also stets abhängig von und verbunden mit äußeren Bedingungen, was ein Zeichen dafür ist, dass der Schmuggel trotz seiner Illegalität dennoch den gleichen Regeln ökonomischer Rationalität unterliegt wie jede andere Form ökonomischer Aktivität. Ein betriebswirtschaftliches Grundverständnis ist denn auch Voraussetzung für erfolgreichen 55
Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass auch der Grenzschutz eine Statistik über konfiszierte Waren führt. Bis 2003 gab es keine einzelne Statistik der vom Grenzschutz gefundenen Waren, seit 2004 veröffentlichen Grenzschutz und Zoll ihre Statistiken zu diesem Thema getrennt. Deshalb müssen streng genommen für das Jahr 2004 noch 887.000 Päckchen und für das darauffolgende Jahr 191.160 vom Grenzschutz gefundene Päckchen zu den in der Tabelle genannten Zahlen addiert werden. Aus Gründen der Übersichtlichkeit basieren die Darstellungen jedoch ausschließlich auf den Angaben des Zolls – der Behörde, deren Hauptaufgabengebiet sich um Schmuggel dreht.
3.2 Hintergrund: Die polnisch-russische Grenze
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Schmuggel; eine Fähigkeit, die die Schmuggler auch für andere Tätigkeiten jenseits des informellen Sektors qualifizieren kann (vgl. S. 95). Trotz des gestiegenen Risikos bleibt der Schmuggel also der Hauptgrund, um die Grenze zu überqueren. Von allen Waren werden am häufigsten Zigaretten geschmuggelt. Diese werden in Kaliningrad in oft illegal produzierenden Firmen hergestellt. Auch werden in Polen produzierte Markenzigaretten wie „Ares“ und „Mars“ in Kaliningrader Firmen gefälscht. Diese sind für den polnischen Markt bestimmt, während Marken wie „Legal“ und „Sobereiny“ auf den britischen Markt gelangen. Am häufigsten wird die ebenfalls in Kaliningrad hergestellte, sehr günstige Marke „Jin Ling“ geschmuggelt (vgl. Fußnote 1). Über das reale Ausmaß geschmuggelter Ware können keine genauen Angaben gemacht werden. Als Indikator kann, wenn auch nur bedingt, die Menge sichergestellter Ware durch die Grenzautoritäten dienen. Die „Jin Ling“ herstellende Fabrik „Baltic Tobacco Factory“ gibt an, jährlich 250 Millionen dieser Zigaretten an den zwei größten Übergängen der polnisch-russischen Grenze zu verkaufen. Das entspricht der Menge aller in der EU beschlagnahmten „Jin Lings“ im Jahr 2007 (vgl. Candea 2008b) und deutet auf eine niedrige Quote der gefundenen Waren am Gesamtschmuggel hin. Tatsächlich schätzen Zollbehörden den Anteil der beschlagnahmten Zigaretten an der Schmuggelware insgesamt auf nur fünf bis zehn Prozent (vgl. Candea 2008a). 2005 wurden an der gesamten polnisch-russischen Grenze acht Millionen Päckchen Zigaretten (160 Millionen Zigaretten) gefunden, an allen polnischen Grenzen waren es im gleichen Zeitraum gut 20 Millionen Päckchen, (Interview mit der Zollbehörde, 18.05.2006), was 400 Millionen Zigaretten entspricht. Über ein Drittel aller Zigaretten wurden also an der polnisch-russischen Grenze gefunden, über ein Zehntel aller 2005 beschlagnahmten Zigaretten am Übergang Bezledy (siehe Tabelle 10). Ob das nun heißt, dass an der polnisch-russischen Grenze tatsächlich mehr geschmuggelt wird als andernorts oder eher anzeigt, dass der Zoll dort besonders gründlich kontrolliert, sei dahingestellt. Diese Zahlen belegen aber unstrittig, dass der alltägliche Verkehr an der polnisch-russischen Grenze, ihre Nutzung, vor allem vom Schmuggel geprägt ist.56 Konsequenzen des hohen Schmuggelaufkommens an der polnisch-russischen Grenze bis 2007 Zusammenfassend kann der Umgang der Reisenden mit der Grenze seit ihrer Öffnung 1992 bis heute in drei Phasen unterteilt werden. Von 1992 bis 2003 war die polnisch-russische Grenze für die Anwohner aus grenznahen Gebieten beider Sei56 Zum Umgang mit den sichergestellten Zigaretten des Zolls: Bis zum polnischen EU-Beitritt wurden sie versteigert. Der Käufer verpflichtete sich, die Zigaretten untersuchen zu lassen, Warnhinweise an den Verpackungen anzubringen und die polnische Akzise zu kaufen. Seit 2004 werden die Zigaretten entweder verbrannt oder zu Kompost verarbeitet. Andere sichergestellte Waren wie Autos oder Bernstein werden weiterhin versteigert.
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ten und ihre Waren aufgrund Visumsfreiheit und großzügiger Auslegung der Zollbestimmungen recht durchlässig. Sehr viele Menschen schmuggelten sehr viele Waren. Dies änderte sich mit dem polnischen EU-Beitritt 2004, der die Visumspflicht und strengere Zollkontrollen mit sich brachte. Etwas weniger Menschen schmuggelten etwas weniger Waren, doch bis zum polnischen Beitritt zum Schengener Abkommen 2007 war der Schmuggel weiterhin das Motiv fast aller grenzüberschreitenden Reisenden. Seit der Übernahme des Schengener Abkommens hat sich die Durchlässigkeit der Grenze wegen der weitaus höheren Visakosten weiter verringert. Vieles deutet darauf hin, dass das Ausmaß des Schmuggels seitdem stark zurückgegangen ist (siehe Fußnote 18). Was bedeutet der hohe Anteil des Schmuggels am Grenzverkehr nun für die Funktionsweise der polnisch-russischen Grenze? Der Schmuggel dominiert den Alltag und die Verfahrensweisen am Grenzübergang. Die Kombination der starken Frequentierung der Grenze mit dem sehr hohen Anteil des Schmuggels bewirkt lange Wartezeiten, oftmals bis zu einigen Tagen, da viele langwierige Zollkontrollen durchgeführt werden müssen. Im Vergleich zu 17 weiteren Übergängen an den östlichen EU-Außengrenzen sind die Wartezeiten am Übergang Bezledy mit durchschnittlich 487 Minuten mit Abstand die längsten (vgl. Kindler u.a. 2008: 48). Russische und polnische Grenzautoritäten arbeiten räumlich und kommunikativ getrennt voneinander, was zeitliche Ineffizienz bedeutet. Besonders bei der Wiedereinreise im PKW nach Polen sind Wartezeiten von mehreren Tagen keine Seltenheit. Die Dominanz des Schmuggels führt mithin dazu, dass Nicht-Schmuggler die Grenze nur ungern überqueren, trotz der für sie eingerichteten Extraspur. Die Überquerung der Grenze bedeutet vor allem Unbequemlichkeiten, extrem lange Wartezeiten und den schwierigen Umgang mit den russischen Behörden. Sie würden ganz gerne einmal Urlaub auf der Kurischen Nehrung machen, sagt ein Bartoszycer Ehepaar. Das Meer und die Strände in Kaliningrad seien viel schöner und rein räumlich gesehen näher als das Haff in Polen. Aber sie hätten keine Lust, ewig an der Grenze zu warten, da führen sie lieber erst gar nicht hin. Während sich gerade durch den Schmuggel viele Kontakte zwischen der polnischen und russischen Bevölkerung ergeben, hemmt der Schmuggel gleichzeitig auch die Annäherung der nicht schmuggelnden Bevölkerung auf beiden Seiten der Grenze. Dies erschwert nicht nur auf privater Ebene die Zusammenarbeit, auch der offiziellen wirtschaftlichen und kulturellen Kooperation57 zwischen Polen und Russland ist die Schmuggeldo57 Die offizielle Zusammenarbeit findet in Bartoszyce und der Oblast Kaliningrad auf der Grundlage von Partnerstadtverträgen mit Bagrationowsk und Pioniersk vor allem im kulturellen Bereich statt. Zu besonderen Anlässen wie Feiertagen der Städte oder religiösen Feiertagen überqueren Delegationen die Grenze, um an den Festlichkeiten der Partnerstadt teilzunehmen. Die Kulturhäuser der drei Städte organisieren ihre Zusammenarbeit mit einem eigenen Partnerschaftsvertrag. Allerdings reduziert sich die offizielle Zusammenarbeit mehr oder weniger auf einige Zusammenkünfte im Jahr, wobei sich die Bevölkerung nur bedingt kennenlernt. Die Schmuggeltätigkeit ist es eher, die Kontakte zwischen der polnischen und russischen Grenzbevölkerung entstehen lässt. So spricht denn auch eine Mitarbeiterin der Kreisverwal-
3.3 Synthese: Bartoszyce als Grenzstadt
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minanz an der Grenze nicht förderlich, obgleich die informelle Kooperation der Schmuggler der formellen Zusammenarbeit vorausging. Dieses ambivalente Zwischenfazit zeigt aber nur die eine Seite der Medaille. Nachdem die sozioökonomische Situation in Bartoszyce und die Funktionsweise der nahen Grenze beleuchtet wurden, soll nun als Synthese der Frage nachgegangen werden, welche weiteren Bedeutungen der Schmuggel für die Stadt Bartoszyce hat. 3.3 Synthese: Bartoszyce als Grenzstadt „Diese Nähe zur Grenze (.) auf der einen Seite ist sie ein Segen, auf der anderen Seite ist sie ein gewaltiger Fluch.“ (Unternehmerverband) Im Folgenden soll es nun darum gehen, Bartoszyce als Grenzstadt zu charakterisieren, die Bedeutung ihrer grenznahen Lage und die Rolle des Schmuggels auf die regionale Entwicklung zu diskutieren. „Was möchten Sie? Zigaretten, Wodka?“, raunt es den Besuchern des Marktes in Bartoszyce entgegen. Händler stehen nebeneinander in einer langen Reihe im Zentrum des Grenzstädtchens. Ausgerüstet mit Plastiktüten, aus denen Hälse von Wodkaflaschen und bunte Zigarettenpäckchen hervorlugen, warten sie stundenlang auf Kunden. Sie stehen nicht etwa versteckt am hinteren Ende des Marktgeländes, sondern bilden den sichtbarsten Teil des gesamten Verkaufsfeldes. Hinter ihnen breiten sich die Marktstände mit ihren bunt gestreiften Plastikdächern aus. Schuhe, Kleidung für die ganze Familie, Werkzeuge, technische Geräte, Angelzubehör, Obst und Gemüse – alles wird tagtäglich auf dem unbefestigten Gelände angeboten. Unter dem Ladentisch warten auch gefälschte Kassetten und CDs auf Käufer. Die fliegenden Händler mit Schmuggelware bilden die Vorhut des Marktes. Kommt eine gelegentliche Polizeikontrolle, löst sich die Reihe wie von selbst auf, und die Händler stieben mit ihren Tüten in alle Richtungen. Manche fliehen in das benachbarte größte Kaufhaus der Stadt und warten am Fenster das Ende der Kontrolle ab. Ein paar hundert Meter weiter, auf dem Parkplatz vor der Gemeindeverwaltung: Alle Parkplätze sind von Wagen mit russischen und polnischen Kennzeichen belegt. Mit Hilfe von farbigen Plastiktrichtern füllen Männer Benzin aus Kanistern in die Tanks der wartenden Autos. Einfüllen, zahlen, fahren: Schnell und unauffällig werden hier Geschäfte gemacht. Die Schmuggler hätten hier eine Tankstelle eingerichtet, so sehen es die unmittelbar nebenan sitzenden Mitarbeiter der Gemeindeverwaltung. Zuerst hätte sie den ganzen Tag Kopfschmerzen von dem Benzinge-
tung davon, dass es eine Zusammenarbeit „eher ökonomischer Natur“ zwischen den Einwohnern Polens und Kaliningrads schon lange gebe. Der Kreis wolle diese „informelle Zusammenarbeit“ durch den oben genannten Partnerschaftsvertrag formalisieren. Letztlich war also der Schmuggel der Auslöser für eine Annäherung der jahrzehntelang entfremdeten Grenzbevölkerung.
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ruch gehabt, jetzt hätte sie sich daran gewöhnt, so eine Mitarbeiterin (vgl. Wojciechowska 2004: 10). Der Linienbus mit der Aufschrift „Bartoszyce – Bagrationowsk“ hält, aus Russland kommend, am Busbahnhof. Eine Gruppe Frauen steigt aus und verteilt sich rasch auf wartende Kleinwagen und Taxis. Alle sind sie, trotz hochsommerlicher Temperaturen, dick angezogen und tragen voluminöse schwarze Plastiktüten mit sich. In der Fußgängerzone vor einem Verkaufsgeschäft für Mobiltelefone: Vier Frauen stehen mit großen Taschen zusammen, unterhalten sich. Ab und zu bleibt ein Passant vor ihnen stehen, unauffällig wechselt ein Päckchen Zigaretten den Besitzer. Diese vier kleinen Szenen aus dem Alltagsleben in Bartoszyce sind Mosaiksteine, die etwas über die Rolle und den Ablauf des Schmuggels in der Stadt aussagen. Der Schmuggel prägt nicht das Stadtbild, aber er ist präsent. Er weicht nicht auf abgelegene Ecken aus, sondern ist mitten im Stadtzentrum und in Sichtweite der Behörden zu finden, zur Hauptgeschäftszeit. Was steckt dahinter? Fasst man die Ergebnisse der beiden vorherigen Kapitel zusammen, so fällt die Gleichzeitigkeit zweier einschneidender Veränderungen für die Stadt auf: zum einen das Einsetzen einer äußerst hohen Arbeitslosigkeit und von Verarmungsprozessen, zum anderen die Öffnung der seit Jahrzehnten unüberbrückbaren Grenze. Berücksichtigt man das hohe Preisgefälle zwischen Polen und Russland und die Nähe von Bartoszyce zur Grenze sowie das geringe Lohnniveau in der Stadt, so erscheint die massenhafte Schmuggelausübung vieler Einwohner als logische Konsequenz des individuell vorteilhaften Umgangs mit äußeren Bedingungen. In Bartoszyce lässt sich das Paradox der Grenze gut beobachten. Zunächst liegt es an der peripheren grenznahen und strukturschwachen geographischen Lage Bartoszyces, dass die Stadt wie dargestellt besonders stark mit einer Reihe negativer Transformationsauswirkungen konfrontiert wurde. Außerdem bewirkt die Nähe zur Grenze die Abfederung dieser sozialen und wirtschaftlichen Einschnitte durch die Möglichkeit des Schmuggels. Die Grenze wirkt also gleichzeitig als Verursacher existenzieller Nöte und als Rettungsanker zur Überwindung derselben. Dieses Grenzparadadox bringt für die wirtschaftliche Entwicklung Bartoszyces nicht nur positive, sondern durchaus ambivalente Folgen mit sich. Zunächst bedeutet der Schmuggel jedoch für viele arbeitslose Einwohner der Region unbestritten die Rettung vor existenzieller Armut und garantiert eine grundlegende, wenn auch prekäre, Sicherung der Existenz. Davon profitiert auch das städtische Budget, denn die Sozialausgaben wären höher, würde die Armut nicht teilweise durch den Schmuggel abgefangen. Sozialarbeiter, die die Höhe der Sozialhilfe festlegen, berücksichtigen dabei, soweit bekannt, eventuelle Einnahmen durch den Schmuggel (siehe Kapitel 5.1).
3.3 Synthese: Bartoszyce als Grenzstadt
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Des Weiteren setzt Schmuggel Aktivität und Eigeninitiative voraus. Nicht zuletzt verlangt illegales Agieren auch Flexibilität, Kreativität, Mut und Durchhaltevermögen. Ein betriebswirtschaftliches Grundverständnis und unternehmerische Fähigkeiten sind Voraussetzung für erfolgreichen Schmuggel. Insgesamt kann deshalb die These gewagt werden, Schmuggler als Träger sogenannter „weicher“ Kompetenzen sehen, die nicht nur im Schmuggel, sondern auch im Allgemeinen in der Berufswelt von Bedeutung sind.58 Dieser Lesart zufolge stellen die Schmuggler eine große und fähige Arbeitskraftreserve dar, was wiederum attraktiv für potenzielle Arbeitgeber und somit für die regionale wirtschaftliche Entwicklung ist. Einer anderen Lesart zufolge seien Schmuggler gar nicht mehr in der Lage, diszipliniert einen Arbeitnehmeralltag durchzuhalten. So sagt ein Mitglied eines Unternehmerverbandes: „Weil, wenn er so viele Jahre, ich sag es so, Herr seiner Zeit war, als er zum Schmuggel an die Grenze fuhr. Da hat er sich daran gewöhnt, hier gibt es bestimmte Regeln, ein Regime, dass er um sechs Uhr aufstehen muss, um um sieben zur Arbeit zu gehen. Das ist einfach eine erzwungene Disziplin, wenn er das lange nicht hatte, dann fügt er sich nicht an diesem Arbeitsplatz in einem bestimmten Betrieb ein. Das ist genau diese Demoralisierung.“ Wirft man einen genaueren Blick auf die Schmuggeltätigkeit, was in Kapitel 5 getan wird, so wird allerdings deutlich, dass auch die Ausübung der Schmuggeltätigkeit Disziplin verlangt, insbesondere dann, wenn sie über Jahre hinweg die einzige Erwerbsquelle darstellt. In diesem Falle ist sie eher ein Zeichen von Aktivität und Übernahme von Eigenverantwortung, denn ein demoralisierender Prozess. Durch die Einnahmen aus dem Schmuggel steigt die Kaufkraft nicht nur der Schmuggler, sondern auch ihrer Familien. Oft wird das durch den Schmuggel eingenommene Geld vor Ort investiert, was auch Arbeitsplätze entstehen lassen kann. Nutzt ein Schmuggler z.B. seine Schmuggeleinnahmen für die Renovierung seines Hauses, so braucht er dafür evtl. lokale Arbeitskräfte. Ein Vertreter eines Unternehmerverbandes in Bartoszyce hebt die positive Wirkung der Kaufkraftsteigerung und den dadurch entstehenden Konsum durch den Schmuggel für Bartoszyce hervor. „(...) in der Blütezeit des Schmuggels denunzierte ein Nachbar den anderen. Wenn jemand gute Geschäfte machte, wenn er eine Ladung Zigaretten hinüberbrachte, konnte er daran verdienen und dieses Geld ausgeben, bei mir, bei Robert, bei vielen anderen. Der Nachbar, der nicht fuhr, nicht konnte oder so, der griff zum Telefon und rief die Polizei an, dass der Nachbar mit Zigaretten oder mit Wodka handelt. Man muss ihn erledigen, oder so. Und dieser Nachbar hat meiner Überzeugung nach nichts anderes getan, als sein Geld hier zu investieren.“ 58 Manche Forscher sprechen dabei von „protestantischen Tugenden”, die als unerlässlich für das Überleben von Kleinhändlern angesehen werden (vgl. Mai, Buchholt 1987: 142).
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Wächst die Kaufkraft, steigt die Nachfrage. Bartoszyce besitzt einen für die Größe der Stadt gut entwickelten Dienstleistungssektor und viele Einzelhandelsgeschäfte. So gibt es laut Arbeitsamt in der Stadt sieben Taxiunternehmen, während im wenige Kilometer weiter südlich gelegenen Lidzbark Warmiski kein einziges seine Dienste anbietet (Field Notes 09.05.06). Die Nachfrage liegt aber auch in den vielen Einkaufstouristen aus Kaliningrad begründet, die die vielfältigen Dienstleistungen gern in Anspruch nehmen und vor allem große Mengen Lebensmittel in Bartoszyce kaufen. Daran ist abzulesen, dass Bartoszyce ungemein von seiner Lage direkt an der Fernstraße 51, die über die Grenze führt, profitiert. Auch die Funktion als administratives Zentrum des Kreises verschafft Bartoszyce eine höhere Lebensqualität als in den umliegenden Kleinstädten und Dörfern vorherrscht. An dieser Stelle soll anekdotisch auch auf einige Bekleidungsgeschäfte im Zentrum der Stadt hingewiesen werden, die als Nebenprodukt des Schmuggels in großem Stil bezeichnet werden können. Diese Geschäfte werden von ihren Inhabern zur Plausibilisierung ihres eigentlich durch Schmuggel erzielten Einkommens genutzt. Der Einzelhandel dient als offizielle Einnahmequelle, wodurch der offensichtliche Wohlstand seines Inhabers legitimiert wird. Hauptsächlich geht es hier um Geldwäsche. Obgleich diese Geschäfte oft sehr teure Waren anbieten und Kundschaft eher selten auftaucht, stellen sie dennoch eine Bereicherung des Bartoszycer Einzelhandels dar. Neben diesen positiven Konsequenzen des Schmuggels für die Stadt und ihre Einwohner muss aber auch auf negative Begleiterscheinungen der massiv ausgeübten Schmuggeltätigkeit aufmerksam gemacht werden. Neben der schon erwähnten Dominanz des Schmuggels in der Funktionsweise der Grenze und der damit verbundenen Lähmung einer außerhalb des illegalen Kleinhandels stattfindenden Annäherung zwischen Polen und Russen wirken sich die langen Wartezeiten an der Grenze und unregelmäßigen Fahrzeiten negativ auf das Familienleben der Schmuggler aus. Die Leiterin einer psychologisch-pädagogischen Beratungsstelle berichtet von einer Zunahme von Kindern mit Lernschwierigkeiten, deren Eltern aufgrund ihrer Fahrten zur Grenze ihre Kinder vernachlässigen (Interview mit Beratungsstelle, 17.11.2005, 281f.). Eine Vertreterin des Sozialamtes bringt es auf den Punkt: „Wir hatten auch solche Fahrten, dass sich z.B. die Mutter mit den Fahrten beschäftigte, und sich sehr ungünstige Bekanntschaften entwickelten, freundschaftliche, die Alkoholismus, Ehebrüche, Scheidungen bewirkten. (…) Wie ich sagte, dieses lange Stehen während 24 Stunden irgendwo an der Grenze bewirkte diese Situation. Es zeigte sich, dass Mama nicht mehr Mama war, Papa nicht mehr Papa.“ Dies ist eine Ausprägung des klassischen Händlerdilemmas, das darin besteht, Profite erwirtschaften zu müssen, aber gleichzeitig den moralischen Anforderungen der
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Gesellschaft zu genügen (vgl. Mai, Buchholt 1987: 141, Evers, Schrader 1999: 1, Wallace u.a. 1999b: 756), auf der familialen Mikroebene: Auf der einen Seite erfordert ein funktionierendes Familienleben dauernde soziale Integration, für die Zeit gebraucht wird. Zeit erfordert aber auch die Existenzsicherung bzw. die Kapitalakkumulation durch den Schmuggel bzw. Kleinhandel, der unkalkulierbare Wartezeiten an der Grenze mit sich bringt. Die Unmöglichkeit, soziales und wirtschaftliches Überleben im Alltag zu kombinieren, macht den Kern des Händlerdilemmas aus und führt zu einer sozial angespannten Situation in vielen Familien Bartoszyces. Für die Dynamik auf dem regionalen ersten Arbeitsmarkt hat der Schmuggel ebenfalls negative Konsequenzen. Trotz der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit ist es schwierig für Unternehmer, freie Stellen adäquat zu besetzen. Es ist keine Seltenheit, dass von den vom Arbeitsamt geschickten Kandidaten für eine Stelle nur ein verschwindend geringer Teil tatsächlich an formaler Erwerbsarbeit interessiert ist. Wie kann es zu diesem Paradoxon kommen, dass angesichts einer immensen Arbeitslosigkeit freie Stellen nicht besetzt werden können? Ein Unternehmer einer Produktionsfirma in Bartoszyce gibt folgende Antwort: B: „Und Sie sagten vorhin, dass das Problem darin besteht, dass es schwierig ist [Arbeitnehmer zu finden, B.B.]-“ Unternehmer: „Ja, hier ist die Grenze. Und es gibt einfachere Methoden, Geld zu verdienen, als Arbeit. Also, es ist wirklich so, dass die Mehrheit hier „Ameisen“ sind, sie fahren zur Grenze. Und wir sind preislich nicht entsprechend wettbewerbsfähig, um ihnen einen solchen Verdienst zu geben, den sie dort [an der Grenze, B.B.] haben.“ Es wird erkennbar, dass es für einen Teil der Schmuggler finanziell unattraktiv ist, bei einem Unternehmen in der Region angestellt zu sein. Dies liegt nun aber nicht daran, dass der durchschnittliche „kleine“ Schmuggler durch den Schmuggel Reichtümer akkumuliert, sondern an dem schon erwähnten äußerst niedrigen Lohnniveau im Kreis Bartoszyce. Durch Schwarzarbeit oder Schmuggel lässt sich mit weniger Aufwand mehr als der Mindestlohn verdienen, für den man womöglich noch im Schichtdienst arbeiten muss. Die oft formal arbeitslos gemeldeten Schmuggler stehen dem lokalen Arbeitsmarkt wegen ihrer informellen Beschäftigung also de facto gar nicht zur Verfügung. Die fehlende Motivation aufgrund mangelnder Attraktivität regulärer Erwerbstätigkeit führt zu einem faktischen Mangel an verfügbaren gut qualifizierten Fachkräften. Dies wiederum ist ein Grund für die Investititionszurückhaltung potenzieller Arbeitgeber in der Region, die so durch die Nähe zur Grenze für Unternehmen unattraktiv wird. Bisher stellt die Grenze für Bartoszyce tatsächlich Segen und Fluch gleichermaßen dar. Mit anderen Worten: Lokaler wirtschaftlicher Aufschwung in Bartoszyce wird durch den Schmuggel sowohl gefördert als auch behindert.
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3 Schmuggel in der Grenzstadt Bartoszyce
3.4 Bemerkungen zum Forschungsstand Die polenbezogene Forschung in Deutschland im Allgemeinen ist stark defizitär, was im Besonderen auf die soziologische Forschung zutrifft (vgl. Bingen, Loew 2006: 297f.). Dennoch hat die Forschung zu polnischen Grenzregionen in den letzten Jahren größere Aufmerksamkeit erfahren, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass einige der neuen EU-Außengrenzen durch den polnischen EU-Beitritt 2004 mit den östlichen Staatsgrenzen des Landes übereinstimmen und sich durch die veränderten Rahmenbedingungen neuer Forschungsbedarf ergeben hat, der auch informelle ökonomische grenzbezogene Praktiken berücksichtigt.59 Die bisher umfangreichste vergleichende Studie über die polnischen Ostgrenzen haben Knappe, Haase, Wust u.a. im Jahre 2004 vorgelegt.60 Einige Wissenschaftler haben sich mit Kleinhandel und Schmuggel in mittel- und osteuropäischen Grenzregionen beschäftigt. Als wichtigste Vertreter erachte ich Iglicka, die Kleinhandel und Schmuggel mit einer quantitativen Herangehensweise erforscht hat (vgl. Iglicka 1999, 2001), und Holtom, der Iglickas Ansatz aufgegriffen und mit einer Typologie grenzüberschreitender Kleinhändler weiterentwickelt hat (vgl. Holtom 2003, 2004). Auch Wallace, die die Rolle von sozialem Kapital für den grenzüberschreitenden Kleinhandel untersucht hat (vgl. Wallace 1999b), sowie Egbert, der den Ansatz von Wallace aus der Perspektive der „New Institutional Economics“ bearbeitet hat (vgl. Egbert 2006), haben die Kleinhandelsforschung an mittelöstlichen Grenzen maßgeblich bestimmt. Darüber hinaus wurden einzelne Grenzregionen beispielhaft in vereinzelten Aufsätzen vorgestellt, so z.B. der „Kofferhandel“ an der türkisch-russischen Grenze (vgl. Eder u.a. 2003), der damit in der Tradition von Hann und Hann steht, die 1992 das Thema des grenzüberschreitenden Kleinhandels in die anthropologische Forschung eingeführt haben (vgl. Hann, Hann 1992), der internationale Kleinhandel an der ukrainisch-polnischen Grenze (vgl. Williams, Baláž 2002), der Handelstourismus zwischen Bulgarien und der Türkei (vgl. Konstantinov u.a. 1998) oder informelle Märkte in Usbekistan (vgl. Kaiser 1998) und informeller Handel in Rumänien (vgl. Neef 2002b). Mit „Schleichhandel“ in Ostmitteleuropa zu sozialistischen Zeiten befasst sich zurzeit ein Forschungsprojekt an der Universität Jena.61 Wie in obiger Darstellung auffällt, verwenden unterschiedliche Autoren unterschiedliche Begrifflichkeiten, was auf die Heterogenität des Forschungsfeldes hin59
An einer umfangreichen komparativen Studie zu ökonomischen Praktiken an unterschiedlichen Abschnitten der östlichen EU-Außengrenze wird z.B. seit dem Jahr 2007 am Leibniz-Institut für Länderkunde gearbeitet. 60 Es handelt sich dabei um: Haase, A.; Wust, A.; Knappe, E.; Grimm, F.-D. (2004): Wandel in ostmitteleuropäischen Grenzregionen. In: Lentz, S.; Wardenga, U. (Hrsg.): Beiträge zur Regionalen Geographie 59. Leipzig: Leibniz-Institut für Länderkunde. 61 Dabei handelt es sich um das Projekt „Schleichwege. Inoffizielle Begegnungen und Kontakte sozialistischer Staatsbürger 1956 - 1989“ am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte.
3.4 Bemerkungen zum Forschungsstand
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weist. Holtom teilt die grenzüberschreitenden Kleinhändler am Beispiel der polnisch-russischen Grenze grob in mehrere Gruppen ein: in „primitive Unternehmer“ und „Schmuggler“.62 In der ersten Gruppe werden Händler aus Kaliningrad zusammengefasst, die die Grenze überqueren, um auf der polnischen Seite Konsumgüter unterschiedlicher Art wie Lebensmittel oder Textilien zu kaufen, die sie in ihrem Herkunftsland mit Gewinn verkaufen. Mit dieser Art von Kleinhandel beschäftigen sich die meisten der genannten Forschungen, obgleich auch diese Thematik insgesamt ein wenig erforschtes Areal bleibt (vgl. Williams, Baláž 2002: 330). Noch größerer Forschungsbedarf besteht im Hinblick auf die zweite Gruppe, deren Gewinn sich durch den grenzüberschreitenden Transport von Russland nach Polen von nicht versteuerten Waren wie Zigaretten, Alkohol und Benzin und ihren späteren Verkauf in Polen erklärt. Forschungsdefizite werden mit dem illegalen Charakter dieser Tätigkeiten geschuldeten schwierigen Feldzugang erklärt (vgl. ebenda; Adair, Neef 2002: 280). Diese Forschungslücke soll durch diese Arbeit verkleinert werden, die sich ausschließlich mit „Schmugglern“ (Thuen 1999: 741) befasst. Forschungsbedarf besteht dabei besonders bei zwei Aspekten. So wird angemerkt, dass die Phase des Grenzübertritts im grenzüberschreitenden Kleinhandel bisher nicht angemessen untersucht worden ist (vgl. Egbert 2006: 350). Außerdem gibt es Defizite bei der Erforschung der Gründe für das Engagement im Schmuggel (vgl. Thuen 1999: 749). „Is it a survival strategy, or to meet a desire for consumer goods?“, fragt Holtom (Holtom 2004: 6). Diese zwei noch wenig bearbeiteten Punkte sollen in dieser Studie in den Kapiteln 5.1 und 5.2 Beachtung finden. Nicht nur Schmuggel und Kleinhandel, auch die polnisch-russische Grenze wurde in der soziologischen Forschung bisher wenig beachtet. Auch als neue EUAußengrenze bleibt sie in der aktuellen Forschungslandschaft unterrepräsentiert, und nur wenige Wissenschaftler haben sich bisher mit dieser Grenze befasst. Das Interesse an den Ostgrenzen des Landes konzentriert sich vor allem auf die Grenze zwischen der Ukraine und Polen. So beziehen sich von 81 Titeln in einem Literaturverzeichnis zu polnischen Grenzregionen 29 Titel auf die ukrainisch-polnische Grenze, nur drei hingegen ausschließlich auf die polnisch-russische Grenze (vgl. Lorenz, Stokosa 2001). Die meisten Publikationen über die Gebiete entlang der polnisch-russischen Grenze befassen sich mit der grenzüberschreitenden regionalen politischen und ökonomischen Zusammenarbeit und wurden von polnischen Wissenschaftlern erarbeitet (z.B. Kulesza 2003, Romanowska 2004, Wojnowski 2001). Auch die Wahrnehmung der Grenze durch die Bevölkerung wurde thematisiert (vgl. Sakson 2001). Abgesehen von journalistischen Abhandlungen ist die polnische Professorin Kawczyska-Butrym eine der wenigen Wissenschaftler, die eigene empirische Erhebungen zu Kleinhandel und Schmuggel an besagter Grenze durchge62 Die dritte Gruppe, die der „trafficker“, wird der organisierten Kriminalität zugeordnet und interessiert in diesem Zusammenhang nicht.
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führt haben (vgl. Kawczyska-Butrym 2003). Auch hat sie Lebenssituationen von Frauen in der Region unter Anwendung quantitativer und qualitativer Methoden untersucht (vgl. Kawczyska-Butrym 2004) und stellt daher wichtiges Datenmaterial zur Verfügung. Eine qualitativ ausgerichtete, systematische empirische Forschung der Bandbreite persönlicher Bedeutungen des Schmugglers und der Lebenssituationen einzelner Schmuggler steht aber noch aus. „A more in-depth study of the borderland’s households survival and coping strategies, (…) is needed before more concrete conclusions can be made on this subject“ (Holtom 2004: 6). Schließlich gibt es meines Wissens nur zwei Studien, die sich dem Phänomen des Schmuggels mit Hilfe einer ethnographischen Feldforschung genähert haben.63 Mit dieser Studie soll der Schmuggel an der polnisch-russischen Grenze als ein wenig untersuchtes Phänomen in einer von der Forschung bisher vernachlässigten Region beleuchtet werden. Weshalb diese Rahmenbedingungen für die Verwendung ethnographischer Methoden sprechen, erklärt das nächste Kapitel.
63 Es handelt sich dabei um: Irek, Magorzata (1998): Der Schmugglerzug: Warschau – Berlin – Warschau. Materialien einer Feldforschung. Berlin: Das Arabische Buch sowie um Girtler, Roland (2006): Abenteuer Grenze. Von Schmugglern und Schmugglerinnen, Ritualen und "heiligen" Räumen. Münster u.a.: LIT.
4 Zur Methode
4.1 Datenerhebung Welche Rolle spielen Schmuggel und Kleinhandel in Haushaltsstrategien und Lebensführung Einzelner in der Armutsökonomie an der polnisch-russischen Grenze? Wie sehen Lebenswelten von Menschen aus, die Schmuggel über die polnischrussische Grenze treiben? Wie erzeugen sie ihre jeweilige Wirklichkeit? Um Antworten auf solche Fragen finden zu können, reicht es nicht aus, Fragebögen an schmuggelnde Personen zu schicken und auf Antwort zu warten. Aufgrund der Illegalität dieser Beschäftigung und der Anonymität beim Einsatz quantitativer Methoden, der ein persönliches Kennenlernen und den Aufbau einer Vertrauensbeziehung nicht zulässt, hätte ein quantitativer Zugang keine validen Ergebnisse hervorbringen können. Zunächst einmal musste ich Schmuggler ausfindig machen. Dann musste ich sie kennenlernen, Vertrauen aufbauen, einen Zugang zu ihnen bekommen, um schließlich Interviews mit ihnen führen zu können. Darüber hinaus musste ich Kontextwissen über Bartoszyce sammeln, was mich in Bibliotheken, an die Universität in Olsztyn, auf ausgedehnte Spaziergänge führte und ins Gespräch mit lokalen „Experten“ brachte. Regelmäßig kaufte ich die Lokalzeitung, war im Ort präsent und beobachtete, was um mich herum passierte – auf dem Markt, an der Grenze, in Geschäften, in der Nachbarschaft. Mit anderen Worten: Ich betrieb ethnographische Feldforschung. In diesem Kapitel werde ich zunächst diese Forschungsrichtung kurz vorstellen, um dann auf die konstitutiven Elemente und Probleme meiner eigenen empirischen Forschung einzugehen.
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4 zur Methode
4.1.1 Ethnographische Feldforschung64 „From my viewpoint, ethnography is the more general process of understanding another human group (...)“ (Agar 1996: 121). Dieser Grundannahme folgend, drängen sich Fragen auf: Wie sieht dieser Prozess aus? Welche Methoden gestalten ihn? Ziel des ethnographischen Verfahrens ist die verstehende Beschreibung von kleinen sozialen Lebenswelten, von sozial (mit-)organisierten Ausschnitten individueller Welterfahrungen (vgl. Honer 2004: 195). Um das zu erreichen, muss eine Perspektivenübernahme durch den Forscher stattfinden, d.h., er sollte möglichst zum beobachtenden Teilnehmer der thematisierten sozialen Veranstaltung werden (vgl. Honer 1994: 89, Girtler 1984: 63f.). Das impliziert zweierlei: Erstens setzt die Aktivität eines beobachtenden Teilnehmers voraus, dass es etwas zu beobachten gibt, und dass der Forscher dazu Zugang hat. Ist dies gelungen, hängt der Erfolg der Datenerhebung zweitens davon ab, wie der Forscher seine Rolle vor den Teilnehmern der ihn interessierenden sozialen Situation plausibilisieren kann. Diese beiden Vorgänge – Feldzugang und Plausibilisierung der Rolle des Forschers – bilden zwei Voraussetzungen für einen längeren informativen Aufenthalt im Forschungsfeld, was wiederum eine Prämisse jeder ethnographischer Forschung ist (vgl. Lüders 2004: 391f.). „Ethnographic relationships are long-term and diffuse“ (Agar 1996: 120). Der Aufbau von Vertrauensverhältnissen zwischen Forscher und den interessierenden Personen, der eine Voraussetzung für erfolgreiche Feldforschung ist, braucht Zeit. Dies gilt umso mehr für Forschungsgebiete, die wie z.B. der Schmuggel, zu „sensitive topics“ (vgl. Lee 1993) zählen. Erst die umfangreiche Kenntnis der Lebensbedingungen in der Region ermöglicht die "ethnographische Rückversicherung" (vgl. Böhnisch, Funk 1989). Eine weitere Voraussetzung für einen erfolgreichen längeren Feldforschungsaufenthalt besteht in der Anpassungsfähigkeit des Forschers und in seinem flexiblen Methodeneinsatz, denn: Die Forschungspraxis erweist sich als in hohem Maße milieuund situationsabhängig, geprägt durch die beteiligten Subjekte, ihre Lebensformen und -bedingungen und die Unwägbarkeiten des Alltags (vgl. Lüders 2004: 393). Damit korrespondiert eine Offenheit für verschiedene Forschungsmethoden, die im Rahmen einer ethnographischen Feldforschung verwendet werden können. Die Ergebnisse dieser Arbeit basieren auf den Methoden der teilnehmenden Beobachtung, Expertenund problemzentrierten Interviews sowie Dokumentenanalysen, die ich im nächsten 64
Unter ethnographischer Feldforschung wird hier ein Forschungsverfahren verstanden, bei dem der Forscher für eine längere Zeit in der Gruppe, die er untersucht, lebt, ihre Sprache spricht und an ihren Aktivitäten mehr oder weniger intensiv teilnimmt. Häufig wird für diesen Prozess der Begriff „teilnehmende Beobachtung“ gewählt (z.B. von Spittler 2001: 2, Hauser-Schäublin 2003: 33). Nach meinem Verständnis handelt es sich bei Teilnehmender Beobachtung aber um eine Methode, die im Rahmen einer ethnographischen Feldforschung angewendet werden kann (vgl. Ammann, Hirschauer 1997: 16). In dieser Arbeit folge ich der Auffassung von Agar, demzufolge Feldforschung der Prozess der Ethnographie ist: „Doing ethnography is fieldwork“ (Agar 1996: 54, Hervorhebung im Original).
4.1 Datenerhebung
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Abschnitt vorstellen werde. Die „Triangulation“, also die Kombination verschiedener Methoden, dient darüber hinaus der Absicherung gegenüber subjektiven Einflüssen während der Datenerhebung (vgl. Flick 2004: 309, Wagner 2001: 5). Als ein Gütekriterium qualitativer Forschung findet sich in der Literatur die „Breite Beschreibung“ (Becker 2007: 8), also die Einbeziehung möglichst vieler Aspekte in die Datenerhebung, die in irgendeiner Weise den Untersuchungsgegenstand tangieren.65 Qualitativ hochwertige Forschung lässt sich demnach nur durch den Einsatz unterschiedlicher Methoden erreichen. Den theoretischen Hintergrund dieser Methodik bildet die „Grounded Theory“ (vgl. Strauss, Corbin 1996). Um eine in den Daten begründete, gegenstandsbezogene Theorie zu entwickeln, sollte man auf vielfältige Art und Weise Daten erheben, die das gesamte Spektrum zur Forschungsfragestellung abdecken (vgl. Böhm 2004: 476). Datensammlung, Analyse und Hypothesenbildung stehen in einer wechselseitigen Beziehung zueinander (vgl. Strauss, Corbin 1996: 8). Im Unterschied zur quantitativen Methodik, mit der bereits aufgestellte Hypothesen geprüft werden sollen, geht es in der qualitativen Forschung also um das Aufstellen von Hypothesen während des eigentlichen Forschungsprozesses. Diese Herangehensweise schließt aber keinesfalls aus, dass vor Beginn der eigentlichen Forschungen entstandene Ideen und Erwartungen an das Feld bei der Hypothesengenerierung nicht ebenfalls berücksichtigt werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in der ethnographischen Feldforschung eine Vielzahl von qualitativen Methoden angewendet wird, die sich gegenseitig ergänzen und zum Ziel haben, den Forschungsgegenstand möglichst dicht zu beschreiben. Der erfolgreiche Zugang zum Feld und eine plausible Darstellung der Rolle des Forschers sind der Schlüssel für einen erfolgreichen Feldforschungsaufenthalt, in dessen Verlauf Hypothesen und Theorien generiert werden sollen. Nachdem die methodischen Grundzüge ethnographischer Feldforschung dargestellt wurden, beschäftigt sich das nächste Kapitel mit dem Verlauf meiner eigenen Feldforschung in Bartoszyce.
65 Becker spricht von der „breiten Beschreibung“ in Abgrenzung zur „dichten Beschreibung“ im Geertzschen Sinne. Dichte Beschreibungen sind (Re-)Konstruktionen dessen, was die Beteiligten vor Ort konstruieren. Dadurch soll die Bedeutung sozialer Ereignisse auf Basis der Beobachtungen einfacher Handlungen erfasst werden (vgl. Geertz 1983, Wolff 2004: 87). Erster Schritt einer dichten Beschreibung ist die Schilderung des Geschehenen, zu der im zweiten Schritt mögliche Bedeutungsebenen zusammengetragen werden. Im dritten Schritt schließlich geht es darum, analytisch gehaltvolle Schlussfolgerungen aus den beschriebenen Gegenständen zu ziehen (vgl. ebenda: 89ff.).
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4 Zur Methode
4.1.2 Ethnographische Feldforschung in Bartoszyce Schmuggel ist ein heikles Thema, ein „sensitive topic“ (Lee 1993). Das Kennzeichen von „sensitive topics“ liegt darin, dass ihre Erforschung potenziell eine substanzielle Bedrohung für diejenigen darstellen kann, die mit ihnen zu tun haben (ebenda: 4). „(...) sensitive topics present problems because research into them involves potential costs to those involved in the research, including, on occasion, the researcher” (ebenda). Mein Untersuchungsgebiet, der Schmuggel, lässt sich “sensitive topics” zuordnen, da es eine Bedrohung durch Sanktionen für die mir Auskunftgebenden darstellen kann. „The presence of a researcher is sometimes feared because it produces a possibility that deviant behaviour activities will be revealed” (Agar 1996: 6). Genau das war während meiner Forschungen oft der Fall. Aufgrund des teilweise illegalen Charakters des Schmuggels hätte es für meine Interviewpartner gefährliche und weitreichende Konsequenzen haben können, für sie existentiell wichtige Informationen an mich weiterzugeben. Das Engagement im Schmuggel stellte für viele meiner Gesprächspartner die Sicherung ihrer Existenz dar. Deshalb gingen sie mit der Weitergabe von Informationen darüber sehr zurückhaltend um. Abgesehen von möglichen negativen Folgen im rechtlichen Bereich der Informationsweitergabe an mich, fürchteten andere Personen die Reaktionen in ihrem sozialen Umfeld auf die „Veröffentlichung“ sowohl ihrer Verbindungen zum Schmuggel als auch zu den Grenzautoritäten. So berichtete mir eine Interviewpartnerin, dass sie nach dem Interview nicht schlafen konnte, weil sie mir erzählt hatte, dass ihre Tochter beim Zoll arbeitet, und ich das niemandem berichten sollte. Eine Bekannte von mir, deren Bruder schmuggelt, versprach, ihn zu fragen, ob er oder seine Freunde mit mir sprechen würden. Weder der Bruder noch seine Freunde willigten ein, mit der Begründung, dass sie von ihren Freunden schlecht angesehen würden, falls sie Informationen solcher Art weitergäben.66 Acht Personen, die von ihren Bekannten gebeten worden waren, mit mir zu sprechen, lehnten ab. Drei Gespräche konnten nicht stattfinden, weil die Personen zwar bereit, aber nicht anwesend waren. Nicht nur Schmuggler, auch Zöllner waren sehr reserviert. Weder beim Zoll tätige Nachbarn noch Bekannte meiner Gastgeber wollten mit mir sprechen. „Hier gibt es ein kleines Umfeld“, bekam ich immer wieder als Grund für die Absage zu hören.
66 Zur Illustration, was potenzielle Interviewpartner nach Weitergabe von Informationen über den Schmuggel befürchten, hier ein Auszug aus der E-Mail, in der meine Bekannte mir die Weigerung ihres Bruders mitteilte, mit mir zu sprechen. „Leider ist es meinem Bruder nicht gelungen, irgendjemanden zu überreden – keiner seiner Freunde glaubt, dass das nicht zu ihren Ungunsten genutzt wird, sie sind furchtbar mißtrauisch und möchten keinen Ärger haben. Nachdem ein Journalist an der Grenze aufgetaucht ist, haben die Zöllner die Kontrollen verschärft, und es gab eine große Affäre. Seitdem möchte niemand mehr etwas sagen, das ist zumindest die Version meines Bruders. Mein Bruder sagte auch, dass es im Umfeld der Schmuggler nicht gern gesehen wird, wenn jemand daraus jemand anderem darüber erzählt – diese Personen bekommen später Schwierigkeiten.“ (E-Mail vom 20.04.2006).
4.1 Datenerhebung
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Die Tatsache, dass es sich bei meinem Untersuchungsgegenstand um ein „sensitive topic“ (Lee 1993) handelte, hatte Implikationen auf die Art und Weise der Datenerhebung und deren Ergebnisse. Im Folgenden werden vier konstitutive Elemente der ethnographischen Feldforschung in Bartoszyce vorgestellt. Es handelt sich dabei um die Auswahl des Forschungsortes und die Gestaltung des Feldzugangs, die Koordination der unterschiedlichen Aktivitäten während der Feldforschung, die Darstellung und Wahrnehmung meiner Rolle und die Verwendung der ausgewählten Methoden. Dabei soll deutlich werden, wie diese vier, die Feldforschung prägenden Faktoren von dem Untersuchungsthema abhängen, und wie stark die konkrete Ausgestaltung der Feldforschung letztlich vom Untersuchungsgegenstand und der Fragestellung determiniert ist. Die Auswahl des Forschungsortes und der Feldzugang Die Wahl des endgültigen Forschungsortes zog sich über mehrere Monate hin. Nach zwei Wochen Aufenthalt in Bartoszyce wechselte ich kurz entschlossen ins ca. 100 km westlich gelegene Städtchen Braniewo. Dort mietete ich ein Zimmer in der kleinen Plattenbauwohnung einer Rentnerin und begann mit den Forschungen, bei denen ich auf unerwartete Schwierigkeiten stieß. Der Bürgermeister der Stadt brachte dem Projektthema wenig Verständnis entgegen und schlug mir vor, ich solle, statt mich mit so einem hässlichen Thema wie dem Kleinhandel zu beschäftigen, lieber über positive Entwicklungen in der Region schreiben. Eine abwehrende Haltung wie diese begegnete mir nicht nur bei offiziellen Stellen, sondern auch bei privaten Kontakten. So wurde ich mehrfach als Spionin bezeichnet, wenn ich während informeller Treffen mit Bekannten Fragen stellte, die mit Kleinhandel zu tun hatten. Aufgrund dieser wenig erbauenden Erfahrungen am Anfang der Feldforschung und engerer Kontakte nach Bartoszyce entschied ich mich endgültig im September 2005, Braniewo zu verlassen und den Rest der Feldforschung in Bartoszyce zu betreiben. Zwei weitere Faktoren unterstützten den Umzug. Erstens liegt Bartoszyce nur 17 km vom Grenzübergang Bezledy entfernt, was den Schluss nahe legt, dass nicht wenige Einwohner der geringen Anfahrtskosten wegen die Nähe zur Grenze nutzen. Zweitens ist die Stadt ein typischer grenznaher Ort, dessen sozioökonomische Rahmenbedingungen die Situation aller grenznahen Gebiete der Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie widerspiegeln. So teilt Bartoszyce seine vielfältigen sozialen Probleme mit seinen Nachbarkreisen, ebenso die damit verbundene hohe Arbeitslosigkeit und starke Pendelmigration unter der Bevölkerung. Gleichzeitig stellt die Stadt mit ihren ca. 25.000 Einwohnern aber das administrative und infrastrukturelle Zentrum der Region dar. Dieser vielfältige Charakter des Ortes war für mich als Wissenschaftlerin attraktiv, da ich deshalb ein breit gefächertes Sample vermutete. Und drittens spielten ganz pragmatische Gründe eine Rolle für die Ortswahl: bestehende persönliche Netzwerke der Verfasserin.
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4 Zur Methode
Durch familiäre Kontakte lernte ich Frau Schulz kennen, die in einem kleinen Dorf in der Nähe von Bartoszyce vor dem Krieg geboren, als Kind vertrieben wurde und als Rentnerin nach der Wende begann, Hilfstransporte in einen kleinen Ort in der Exklave Kaliningrad zu organisieren. Auf diesen Reisen lernte sie während zahlreicher Zwischenstopps in Bartoszyce als letztem größeren Ort auf polnischer Seite vor der Grenze viele Einwohner der Grenzstadt kennen. Von Frau Schulz bekam ich vor meiner Abreise drei Telefonnummern, als erste Anlaufstellen vor Ort. Ich rief die erste an, um zu fragen, ob ich die ersten paar Tage unterkommen konnte. „Natürlich“, lautete die Antwort. „Sie können auch das ganze Jahr bleiben.“ So fuhr ich früh morgens mit dem beladenen Auto von Berlin gen Bartoszyce. Um 19.00 Uhr, nach 650 km und 10 Stunden passierte ich das Ortsschild. Ich fuhr durch die liebevoll restaurierte Innenstadt, auf der „autostrada“ vorbei an der Farakirche, über die yna geradeaus Richtung Grenze ins Plattenbauviertel „Hamburg“, sogenannt, weil dort ursprünglich viele Landwirte einzogen.67 Der letzte Wohnblock vor dem Ortsrand wurde für zwei Wochen mein Zuhause.68 Anna, meine Gastgeberin, ist eine kommunikative und beherzte Person. Vierfache Mutter, alleinerziehend, im Sozialamt arbeitend. Sie wusste bald, warum ich hier war und was ich zu tun hatte. „Das wird schwierig“, urteilte sie. „Darüber wollen die Leute nichts sagen.“ Dass sie Recht hatte, merkte ich bald. Eine Nachbarin hörte ein Gespräch zwischen Anna und mir über meine Forschung. Ihr Kommentar: „Das ist ja eine blöde Idee, über den Handel eine Arbeit zu schreiben.“ Die Leute wunderten sich über mein Thema, zumindest diejenigen, denen ich von meinem genauen Vorhaben erzählte. Oft verpackte ich mein Anliegen und erklärte, ich schreibe eine Arbeit über die Grenze und Grenzregionen. Meinen ersten Schmugglerkontakt bekam ich über eine weitere meiner drei Telefonnummern: durch Ira, die die Vorsitzende der deutschen Minderheit in Bartoszyce ist und verheiratet ist mit Harald, der ursprünglich aus einem Ort in der jetzigen Exklave Kaliningrad stammt. Sie versprach, mir zu helfen und tat es auch. Die Nachbarin ihrer Mutter in Bartoszyce fuhr über die Grenze und erklärte sich bereit, mit mir zu sprechen. Der Anfang war gemacht. Ich fuhr mit ihr im Bus mit und lernte auf der Fahrt ihre Freundin Wanda kennen, die ich noch drei Mal nach Russland begleitete. Noch vier weitere Gespräche ergaben sich während gemeinsamer Busfahrten mit Schmugglern.
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Die Bewohner von Bartoszyce nennen dieses Viertel Hamburg, weil dort vor allem chamy und burki lebten: Bauern und Köter. In den 1970er Jahren zogen viele Menschen aus den umliegenden Dörfern in das Neubauviertel, wo es Zentralheizung, warmes Wasser, Badewannen und saubere Toiletten gab (vgl. Becker 2003: 51). Das polnische Wort „cham” ist eine verächtliche Bezeichnung für „chop“, was mit Bauer übersetzt werden kann. 68 Den Rest des Aufenthaltes verbrachte ich in der oberen Etage des Einfamilienhauses, das ein Kollege meiner ersten Gastgeberin mit seiner Mutter bewohnte.
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Während einer Sitzung der deutschen Minderheit konnte ich zwei weitere Kontakte knüpfen: Mit Micha, einem Schüler, und Walentina, einer Bekannten von Ira. Mit beiden führte ich Interviews. Auch über die Bibliothekarin ergaben sich Kontakte zu Interviewpartnern. Meine zweite Hauptkontaktquelle bekam ich über Anna. Als Sozialarbeiterin betreute sie einige Personen, die Sozialhilfe erhalten und sich ihr Einkommen mit Schmuggel ein wenig aufbessern. Sie ermöglichte mir, mit vier von ihnen zu sprechen. Außerdem machte sie mich mit einer ihrer Kolleginnen bekannt, die am Wochenende nach Russland fährt. Weitere Interviews konnte ich dank einer Wissenschaftlerin aus Braniewo führen, die ihre Doktorarbeit über grenzüberschreitende Kommunikation an der polnisch-russischen Grenze geschrieben hatte und wusste, wie schwierig es für mich war, an Material heranzukommen. Dank ihrer Mutter, die einen Elektroladen besitzt und sehr viele Leute kennt, konnte ich zwei Gespräche mit Händlern führen. Ein Interview vermittelte mir ein Bekannter aus Braniewo, den ich über seine Schwester kennen gelernt hatte, die in der Touristeninformation arbeitete. Ein weiteres Interview führte ich mit der Tante der Freundin von Anna. Mit den meisten meiner Interviewpartner führte ich jeweils ein Gespräch, dreimal schloss sich an das erste Interview ein zweites mit Nachfragen an. Manche meiner Gesprächspartner konnte ich nach dem Interview nicht wieder kontaktieren, da ich keine Kontaktdaten von ihnen hatte und das Treffen mit ihnen über eine dritte Person arrangiert worden war. Zu der großen Mehrheit meiner Interviewpartner hielt ich aber den Kontakt während der gesamten Feldforschungszeit aufrecht. Dies ermöglichte mir informelle Nachfragen zu unklaren Äußerungen, die im Interview auftauchten, und eine Kontrastierung des Gesagten zu tatsächlichen Situationen, an denen ich zusammen mit meinem Gesprächspartner nach dem Interview teilnahm. Meine Anfangskontakte, wiederum entstanden durch bestehende Vertrauensverhältnisse, erleichterten den weiteren Feldzugang erheblich. Aus ihnen entwickelten sich insgesamt 12 Interviews, also über die Hälfte aller geführten Gespräche. Dank der Popularität von Frau Schulz in Bartoszyce begegnete man mir anfangs mit wenig Misstrauen. Ich nutzte den Vertrauensvorschuss, den ich als Bekannte von Frau Schulz hatte. Neben den bestehenden Anfangskontakten, die ich bewusst pflegte, wählte ich den aktiven Aufbau weiterer Kontakte als Strategie des Feldzugangs. Ich versuchte, einige regelmäßige Termine einzuhalten, um so einerseits eine persönliche Alltagsstruktur aufzubauen. Andererseits war das eine Möglichkeit, meinen Hobbys weiterhin nachzugehen und dadurch mein soziales Netzwerk zu erweitern. Im Einzelnen nahm ich privaten Russischunterricht, gab Deutschkurse, spielte im Kulturhaus mit einer Klavierlehrerin im Duett und war regelmäßig in der Stadtbibliothek anzutreffen. Dadurch fand ich Zugang zu bestimmten Institutionen wie der Kulturförderung und einer Schule. Zu direkten Händlerkontakten führten diese Aktivitäten
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zwar nicht, wohl aber zu einer sozialen Integration und einem besseren Verständnis des Ortes. Die Bemühungen um einen erfolgreichen Feldzugang waren zu keiner Zeit abgeschlossen. Selbst kurz vor Beendigung meines Aufenthaltes suchte ich noch nach neuen Wegen und Kontakten. 20 von 23 Interviews führte ich in der zweiten Hälfte meines Aufenthaltes, im Jahr 2006. Dies zeigt, dass genug Zeit für die Herstellung eines Vertrauensverhältnisses zwischen Forscher und Interviewpartnern eingeplant werden muss. Eine lange Anwesenheit im Feld ist eine Grundvoraussetzung, wenn es um die Erforschung heikler Themen wie Schmuggel geht. „Anthropological methods of participatory involvement (…) and long-term residential field research are ideal for exploring those elements of the border economy to which other disciplines have no ready or appropriate methodological access (…)” (Donnan, Wilson 1999: 91). Insgesamt reichte die Spannbreite der Reaktionen der Händler auf meine Anfragen von empört-ablehnend bis freudig-enthusiastisch. Gemeinsame Bekannte und Erlebnisse förderten ungemein die Chancen auf ein Interview, während alleiniges Bitten von Vermittlern oft keinen Erfolg brachte. Zum einen machte ich also Gebrauch vom Schneeballsystem, um Kontakt zu Personen aufzubauen, die mich interessierten, was im Großen und Ganzen recht gut funktionierte. Dabei orientierte ich mich am Verfahren des „Theoretical Sampling“ (vgl. Strauss, Corbin 1996: 148ff.). Das bedeutet, dass ich meine Interviewpartner nicht nur im Hinblick auf meine Forschungsfrage auswählte, sondern mein Sample auf Grundlage des im Verlauf des Forschungsprozesses jeweiligen aktuellen Erkenntnisstandes erweiterte. Mein Sample war offen gegenüber den Personen, Plätzen und Situationen, die die größte Chance bieten, die relevantesten Daten über das untersuchte Phänomen zu gewinnen (vgl. ebenda: 153). Übertragen auf mein Forschungsthema bedeutet dies z.B., dass ich mich bei der Auswahl meiner Interviewpartner von der während der Feldforschung gewonnenen Erkenntnis leiten ließ, dass Menschen mit höchst unterschiedlichen sozioökonomischen Hintergründen im Schmuggel aktiv waren. Dementsprechend bemühte ich mich um eine maximale Kontrastierung meines Samples (siehe Tabelle 13 und 14). Zum anderen waren die Schmuggelfahrten nach Russland eine herausragende Gelegenheit, neue Kontakte zu knüpfen und neue Informationen zu erhalten. Meine Forschung litt allerdings unter dem Umstand, dass ich – trotz offizieller Zusammenarbeit mit der Immanuel-Kant-Universität in Kaliningrad und Einladung dieser Institution – kein Jahresvisum bekam, das mir erlaubt hätte, so oft ich wollte nach Kaliningrad einzureisen. Mir wurde lediglich drei Mal ein Dreimonatsvisum ausgestellt, mit dem ich innerhalb des Dreimonatszeitraums zwei Mal die Grenze passieren durfte. Aufgrund dessen konnte ich meine Beobachtungen der Reise an sich nicht so verfeinern, wie ich es mir gewünscht hätte. Auch blieb mir eine gute Gelegenheit verwehrt, regelmäßig in relativ entspannter Atmosphäre mit Schmugglern ungezwungen in ein Gespräch zu kommen. Nichtsdestotrotz gelang es mir auf den
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wenigen Fahrten, an denen ich teilnehmen konnte, die Vorarbeit für vier spätere Interviews mit Schmugglern zu leisten. Die Erarbeitung des Feldzugangs war ständiger Bestandteil meiner Forschungen vor Ort. Die Kombination von langer Anwesenheit und der damit verbundenen Vertrauensbildung, dem Aufbau möglichst vieler Kontakte und gemeinsame Bekannte hatte positive Auswirkungen auf meinen Feldzugang. Organisation des Feldaufenthaltes Das „kleine Umfeld“ in Bartoszyce beeinflusste nicht nur die Reaktionen meiner Interviewpartner bezüglich meiner Tätigkeiten, sondern prägte auch in hohem Maße den Ablauf meiner Feldforschung. Von der richtigen Reihenfolge der verschiedenen Forschungsschritte hing zum großen Teil der Erfolg der Datenerhebung ab. Der eigentlichen Feldphase ging eine Vorbereitungsphase voraus, die ich für Literaturrecherche und die Organisation des Forschungsaufenthaltes wie für die Beschaffung eines Visums zur Einreise nach Russland und die Suche nach einer Unterkunft nutzte. Die Feldforschung selbst bestand aus zwei Phasen. In der ersten, explorativen Phase befasste ich mich vor allem mit der Beschaffung und ersten Analyse amtlicher Daten und Statistiken, trieb meine soziale Integration in den Untersuchungsort voran und führte Experteninterviews, um möglichst viele Hintergrundinformationen über mein Feld zu gewinnen. Darüber hinaus führte ich teilnehmende Beobachtung auf für meine Forschung relevanten Plätzen wie Märkten durch und war bemüht, einen Einblick in bestehende Händlernetzwerke zu bekommen. Während der Hauptphase, die während der zweiten Hälfte meines Aufenthaltes stattfand, praktizierte ich teilnehmende Beobachtung während einiger Schmuggelfahrten nach Russland und führte problemzentrierte Interviews mit Schmugglern. Darüber hinaus komplettierte ich die Literaturrecherche. Das langsam erworbene Vertrauen zu Schmugglern wollte ich während der gesamten Feldforschungsphase aufrechterhalten. Ich war davon überzeugt, dass es empfindlich gestört worden wäre, hätten mich z.B. meine Bekannten aus dem Linienbus nach Bagrationowsk im Gespräch mit Zollbeamten gesehen. Deshalb verschob ich die Datenerhebung mit den Grenzautoritäten an das Ende meines Forschungsaufenthaltes, nachdem alle Interviews mit Schmugglern geführt worden waren und eine eventuelle Blockierung meines Feldzugangs keine dramatischen Konsequenzen für meine Forschung gehabt hätte. Dass meine Sorgen übertrieben waren, zeigt eine Begebenheit im Linienbus auf der Wiedereinreise nach Polen. Bei dem polnischen Grenzschützer, der zur Passkontrolle in den Bus stieg, handelte es sich um einen Verwandten meiner Bekannten Jadwiga, mit dem wir uns eines Abends getroffen hatten. Offensichtlich froh, mich zu sehen, setzte er sich auf den Nebensitz zu mir und fing an, mit mir zu plaudern – im Beisein aller Schmuggler. Nachdem er den Bus wieder verlassen hatte, war ich vom Verlust meines Feldzugangs und vom Vertrauensverlust meiner Busbekanntschaften überzeugt. Zu mei-
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ner anfänglichen Überraschung hatte der Vorfall aber keinerlei Konsequenzen für den Umgang der Schmuggler mit mir, der weiterhin sehr offen blieb. Ich folgerte daraus, dass informelle Kontakte zwischen Schmugglern und Grenzautoritäten zur Normalität gehören, auch für Schmuggler von Vorteil sein können und deshalb nicht als „Spionage“ gewertet wurden.69 Trotzdem fühlte ich mich sehr unwohl und war auf die Vermeidung solch riskanter Situationen bedacht. Eine äußerst wichtige Rolle für den Vertrauensbildungsprozess zwischen Forscherin und Beforschten spielte die glaubhafte Zusicherung der Anonymität meiner Informanten und Interviewpartner. Außer den Orten der Feldforschung, die in Bartoszyce, Braniewo und Bagrationowsk stattfand, wurden alle in dieser Arbeit verwendeten Namen von Personen, Orten und Firmen geändert. Dieses Vorgehen erscheint mir aufgrund der relativen Größe der Feldforschungsorte vertretbar. Ich fühlte mich während der Feldforschungen oft so, wie es der Ethnologe Nigel Barley in seinem Buch „Traumatische Tropen“ beschrieben hat. Allzu oft legte ich den „Feldforschungsgang“ (vgl. Barley 2004: 147) ein, d. h. ich versuchte die Zeit zwischen Interviewterminen oder Schmuggelfahrten irgendwie zu füllen. „Die Feldforschungszeit wurde zur konzentriertesten Leseerfahrung meines ganzen Lebens“ (ebenda). Diesem Satz kann ich nur zustimmen. Ich war frustriert, wenn ein zugesagtes Interview doch nicht zustande kam und ich umsonst gewartet hatte. Oft passierte tagelang gar nichts, und ich saß zu Hause mit dem Gefühl, wertvolle Zeit zu vergeuden, die ich eigentlich mit dem Knüpfen weiterer Netzwerke hätte verbringen sollen. Belastend an der Feldforschungssituation fand ich vor allem den fließenden Übergang zwischen Arbeit und Freizeit. Meine Rolle als Forscherin konnte ich zu keiner Zeit abstreifen, was auch bedeutete, dass ich mit meiner eigenen Meinung zu forschungsrelevanten Themen ständig zurückhaltend sein musste, wollte ich die Untersuchungssituation nicht noch mehr als durch meine bloße Präsenz beeinflussen. Ich merkte, dass ich ständig gegen den Strom schwimmen musste und anfängliche Skepsis und Reserviertheit zerstreuen musste, um notwendige Informationen bekommen zu können. Die Darstellung und Wahrnehmung meiner Rolle: naive Studentin als irrationaler Exot Um das Vertrauen der Zielgruppe zu gewinnen, ist eine plausible Erklärung der Forschungsaktivität unabdingbar. Ich stellte mich meist als Studentin aus Deutschland vor, die eine Arbeit über die Grenze und die Region schreibt. Diese kurze Erklärung war vollkommen ausreichend, um mein Interesse für das Leben und die Gewohnheiten der Schmuggler zu rechtfertigen. „Wenn Du eine Arbeit über die Grenze schreibst, musst Du natürlich mal mit uns mit fahren“, so lautete die oft gehörte Reaktion auf meine Anwesenheit bei Schmugglerfahrten. Ich wurde als 69
Eine Annahme, die sich während der weiteren Forschung bestätigt hat (siehe Kapitel 5.1).
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harmlose junge Fremde mit einem hohen Sympathiefaktor wahrgenommen, die niemand gefährlich werden konnte. Im Gegenteil, ich musste angeleitet werden, wie ich mich während der Fahrten zu verhalten hatte. Schmuggler nahmen mir gegenüber deshalb die Rolle von Experten ein, die ihr Wissen weitergeben konnten. Obgleich ich meine Forscherrolle also ehrlich darlegte und ausnahmslos offen während der Fahrten nach Russland beobachtete, wurde ich von den Schmugglern weniger als Respekt einflößende ernsthafte Forscherpersönlichkeit denn in erster Linie als exotische naive Fremde wahrgenommen. In den Augen der Einwohner von Bartoszyce stellte sich mein Handeln als hochgradig irrational und schwer verständlich dar. Mein Umfeld teilte die Einschätzung von Agar: „First, an ethnographer isn’t really doing anything that makes sense to anyone. He or she lives there and participates in community activities, but it’s a major problem for people to figure out what he or she is up to“ (Agar 1996: 9). Schon allein die Tatsache, dass ich als Deutsche für ein Jahr nach Polen gezogen war, noch dazu in eine auch in Polen als rückständig und peripher geltende Region, warf viele Fragen auf. Vor dem Hintergrund, dass es in der Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie eine hohe Arbeitsmigration nach Westeuropa gibt, schien meine Bewegung in die umgekehrte Richtung umso rätselhafter. Als irrational aus Sicht der Schmuggler aus Bartoszyce galt auch die Tatsache, dass ich die Strapazen der Reise nach Russland und zurück auf mich nahm, ohne – ihrer Meinung nach – einen Nutzen daraus zu ziehen: Ich ließ die Gelegenheit zum Geldverdienen ungenutzt und schmuggelte keine Zigaretten nach Polen. Mein Verhalten war also schwer nachvollziehbar, und ich hatte den Eindruck, dass meine vielen, ebenso unerwarteten Fragen nach Selbstverständlichkeiten aufgrund dessen nur noch wenig Verwunderung hervorriefen. Zusammen mit meinem übrigen Verhalten erzeugten sie mein kohärentes Erscheinungsbild einer naiven, harmlosen und unwissenden Studentin aus Deutschland, die sich wegen ihrer guten Polnischkenntnisse und ihrer Kontakte zu einigen gemeinsamen Bekannten über einen Sympathiebonus freuen konnte und der man zunächst die Grundregeln, die an der Grenze herrschen, beibringen musste. Die Rollen waren von Beginn an klar verteilt: Die Schmuggler waren die Experten, die „Wissenden“, ich als Ethnographin befand mich in einer typischen „one-down position“ (ebenda: 119), in der einer Schülerin. „Mach Dir keine Sorgen, wenn wir an die Grenze kommen“, wollte mich meine Bekannte z.B. beruhigen. „Wir beschützen Dich dann schon.“ Dabei war der Grenzüberschritt ja für mich als Einzige der Busbelegschaft mit keinerlei Risiken verbunden. Diese Anekdote macht die unterschiedlichen Wahrnehmungssysteme von mir und den Schmugglern aus Bartoszyce deutlich. Die gleichen Handlungen und Dinge wurden von mir auf der einen Seite und der Truppe im Schmuggelbus auf der anderen Seite mit unterschiedlichen Bedeutungen belegt. Diese natürliche Distanz, hervorgerufen durch meine andere Nationalität, durch meine anfängliche in jeglicher Hinsicht „Outsider“-Position, habe ich für die Forschung aus oben genannten
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Gründen als recht hilfreich empfunden. Womöglich war es auch für mich als Außenstehende einfacher, das Selbstverständliche des alltäglichen Lebens der Teilnehmer zu sehen. „Die kulturelle Distanz ist über weite Strecken eine Voraussetzung für das ‚Sehen’ von nahezu Ausgeblendetem, aber auch von routinisierten Abläufen, von standardisiertem Verhalten und als normal geltenden Ansichten und Gefühlen“ (Hauser-Schäublin 2003: 38). Eine Konsequenz meiner Wahrnehmung als Fremde für meine Forschung lag in der Notwendigkeit, ausschließlich offene Forschung zu betreiben. Durch meinen deutschen Pass konnte ich schon aus äußeren Gründen nicht verdeckt beobachten. Dies war ohnehin zu keiner Zeit geplant. Der Hauptvorteil meiner offenen Beobachtung lag in der Plausibilität und Nachvollziehbarkeit meines Verhaltens durch die Schmuggler. So kam ich nicht etwa in den Verdacht des Spionierens, sondern stellte eher eine gern gesehene Abwechslung dar. Auf der einen Seite brachte ich frischen Wind in die Fahrten und schmeichelte den Schmugglern durch mein Interesse. Eine Frau sagte im Bus zu mir, sie fände es ganz toll, dass sich endlich mal jemand für die Probleme der Schmuggler interessiere und dass ich jederzeit mit ihr sprechen könnte, wenn ich noch Fragen hätte. Leider stellt dieses Beispiel eine Ausnahme während meiner Datensammlung dar. Im Allgemeinen kann ich aufgrund der heiklen Thematik, die der Schmuggel darstellt, die Erfahrung von Agar im folgenden Zitat nicht teilen. “That’s one of the reasons ethnographic interviews are so easy to get people to agree to: How many times in life do you have the opportunity to talk at great length about how you think the world to a person who is genuinely fascinated by what you are saying?“ (Agar 1996: 47). Auf der anderen Seite hatten manche Schmuggler auch Angst, meine Anwesenheit könnte bei den Pass- und Zollkontrollen Aufsehen hervorrufen und zu genaueren Kontrollen führen. Als Wanda den russischen Zöllnerinnen detailliert erklärte, dass ich über die Grenze schreibe, wurde sie von ein paar Mitfahrerinnen ermahnt, nicht so viel zu erzählen. Als wir im Bus bei der Wiedereinreise nach Polen beratschlagten, welche Erklärung ich mir dieses Mal für die russische Kontrolle zurechtlege70, meinte Larissa, besser nichts davon zu sagen, dass ich eine Arbeit über die Grenze schreibe, sondern mich einfach als Touristin auszugeben. Ob bei der Grenzkontrolle oder im Bus, beim Interview mit dem Kommandanten des Grenzschutzes oder mit Wanda, der Kleinhändlerin – in allen diesen Situationen habe ich die Erfahrung gemacht, dass mein persönliches Auftreten viel 70
Im Gegensatz zu den Händlern im Bus konnte ich der russischen Passkontrolle nicht den wahren Grund für meine kurzen Ausflüge in das Kaliningrader Gebiet mitteilen, da es sonst vermutlich zu bürokratischen Hindernissen bei meiner Einreise gekommen wäre. Das Personal des russischen Grenzschutzes war äußerst misstrauisch, und obwohl ich jedes Mal ein gültiges Visum vorweisen konnte, fehlte die stichhaltige Erklärung für meinen Einreisewunsch. Meine Bekannte Wanda rettete jedes Mal die Kontrolle meines Passes, indem sie sprachlich vermittelnd zwischen mir und dem Grenzschutz auftrat und mich offenbar überzeugend als ungefährliche Studentin darstellen konnte.
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mehr zählte als die plausibelsten und besten Argumente.71 Das Vertrauen, das für die Forschung in einem schwierig zu erschließenden Feld unabdingbar ist, konnte ich am leichtesten durch freundliches, ehrliches und interessiertes Auftreten aufbauen. Anwendung der Methoden Welche Rolle spielt der Schmuggel in Haushaltsstrategien und Lebensführung Einzelner in der Armutsökonomie an der polnisch-russischen Grenze? An dieser Fragestellung orientierte sich die Auswahl der verwendeten Methoden während der ethnographischen Feldforschung. Schmuggel ist die im Mittelpunkt dieser Forschung stehende Aktivität und somit auch der Ausgangspunkt für die Erstellung des methodischen Konzepts. Nach Egbert besteht grenzüberschreitender Kleinhandel72 aus drei Phasen: „In the first stage the raising of capital, travelling abroad and purchasing goods are essential; the second stage is the transport of goods across international borders; the third stage covers the selling of these goods” (Egbert 2006: 349). Diese Definition erfordert die Erforschung aller drei Phasen. Phase eins und drei wurden in dieser Arbeit mit teilnehmender Beobachtung auf Märkten und weiteren Verkaufsplätzen in Bartoszyce abgedeckt (vgl. ebenda). Phase zwei wurde untersucht, indem ich mehrfach mit Schmugglern an Busreisen über die polnischrussische Grenze teilnahm. Um die oben genannte Forschungsfrage beantworten zu können, reichte die alleinige Beschäftigung mit der Schmuggeltätigkeit aber nicht aus. Um ihre jeweilige Bedeutung für die Einzelnen erfassen zu können, führte ich problemzentrierte Interviews mit Schmugglern (vgl. S. 117f.). Experteninterviews sowie Dokumentenanalyse dienten dazu, allgemeine Hintergrundinformationen zur Einordnung des Schmuggelphänomens in die lokale Wirtschaft und Wissen über allgemeine regionale Lebensbedingungen zu erhalten.
71 Auch andere Forscher haben diese Erfahrung gemacht. „My own feeling is to agree with people like William Whyte and Rosalie Wax who conclude that people judged them on how they conducted themselves on a day-to-day-basis rather than on any official explanations they offered” ( Agar 1996: 110, Whyte 1955, Wax 1977). 72 In Tabelle 11 wird grenzüberschreitender Kleinhandel mit CBST abgekürzt, was für „Cross-border Small-scale Trading“ steht (vgl. Egbert 2006: 346–361).
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4 Zur Methode
Tabelle 11: Übersicht der verwendeten Methoden Methode Experteninterviews
Teilnehmende Beobachtung
Anwendungsbereich Vertreter von wichtigen Institutionen wie Kirche, Stadtverwaltung, Sozialamt, Arbeitsamt etc. und Grenzautoritäten Märkte (1. und 3. Phase CBST), Schmuggelfahrten (2. Phase CBST), Alltag in Bartoszyce
Tagebuch, Field Notes
Erlebte Ereignisse
Problemzentrierte Interviews
Schmuggler
Dokumentenrecherche
Statistiken, Lokalmedien, Sekundärliteratur
Zweck Wissensbestände: Hintergrundinformationen über Lebensbedingungen und Umfeld der Schmuggler Verhaltensweisen: Erkenntnisse zu persönlicher Rolle des Schmuggels, Funktionieren des Schmuggels, Exploration des Untersuchungsortes Dokumentation der Informationen und Selbstreflexion Wissensbestände: Erkenntnisse zu persönlicher Rolle des Schmuggels, Lebensführung, Haushaltstrategien, Hintergrundinformationen über Lebensbedingungen und Umfeld der Schmuggler
Experteninterviews „Das Experteninterview kann solchen Wissensbeständen auf die Spur kommen, die für die Erklärung sozialen Wandels von Bedeutung sind. Es eröffnet den Zugriff auf implizite Regeln, nach denen sozialer Wandel enaktiert und prozessiert, aber auch blockiert wird (...)“ (Meuser, Nagel 1994: 191). Im Rahmen des Feldforschungsprozesses dienten die Experteninterviews zur Exploration des Untersuchungsgegenstandes und als Möglichkeit, Informationen zu den Rahmenbedingungen zu erhalten, in die der Schmuggel eingebettet ist. Durch Experteninterviews soll der Wissensvorsprung erfasst werden, der sich aus der privilegierten Position des Experten in einem Funktionskontext ergibt (vgl. Meuser, Nagel 2003: 57). Im Falle dieser Forschung erhoffte ich mir von den Experteninterviews einen Informationszugewinn über die Funktionsweise des Ortes, der besuchten Institutionen und über allgemeine Lebensbedingungen. Von Interesse war auch die jeweilige Einschätzung des Phänomens des Schmuggels durch die einzelnen Experten. Der Leitfaden wurde je nach Zuständigkeit des Gesprächspartners angepasst. Berücksichtigt wurden aber in jedem Interview Fragen nach dem Einfluss der Grenznähe auf das Alltagsleben und auf die wirtschaftliche Entwicklung, nach der Zusammenarbeit mit dem Kaliningrader Gebiet und die Bitte einer allgemeinen Einschätzung der ökonomischen Situation in der Region. Insgesamt führte ich 16 Experteninterviews sowohl mit Vertretern der lokalen Verwaltung als auch mit den Grenzautoritäten, Mitarbei-
115
4.1 Datenerhebung
tern sozialer Einrichtungen und lokaler Medien (siehe Tabelle 12). Das Gespräch mit dem polnischen Generalkonsul wurde nicht aufgezeichnet. Die Kontaktaufnahme erfolgte teils über den offiziellen Weg, teils über private Kontakte. Im Falle des Grenzschutzes und des Zollamtes schrieb ich z.B. einen formellen Brief mit der Bitte um einen Interviewtermin. Einen Vertreter des Grenzschutzes der Dienststelle in Spopol erreichte ich hingegen über einen Bekannten, der mit ihm befreundet ist und mir ein Interview organisierte. Ebenso kam der Kontakt zum Pfarrer durch die Klavierlehrerin des Kulturhauses zustande, die regelmäßig in seinen Gottesdiensten singt. Tabelle 12: Sample der geführten Experteninterviews Einrichtung Arbeitsamt Bartoszyce Miejski Orodek Pomocy Spoecznej (MOPS) (städtisches Sozialamt) Katholische Kirche Polnischer Grenzschutz Goniec Bartoszycki (Lokalzeitung für den Kreis Bartoszyce) Stadtverwaltung Örtliches Unternehmen Stadtbibliothek Pädagogisch-psychologische Beratungsstelle Arbeitsamt Olsztyn Grenzschutz Spopol Polnischer Zoll
Polnisches Konsulat in Kaliningrad Staatliche Busgesellschaft (PKS) Regionale Wirtschaftsförderung Unternehmerverband
Funktion der interviewten Person Leitung Leitung Pfarrer Oberster Kommandeur der Dienststelle Ktrzyn Journalisten Leitung Direktor Bibliothekarin Leitung Abteilungsleitung Leitung der Dienststelle Spopol Leitung der Dienstelle Bezledy, Pressesprecher der Dienststelle Olsztyn Polnischer Generalkonsul Direktor der Niederlassung Bartoszyce Vorsitzender und Mitarbeiter Vorsitzender und stellvertretender Vorsitzender
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4 Zur Methode
Teilnehmende Beobachtung „Die teilnehmende Beobachtung wird (...) bevorzugt dort eingesetzt, wo es (...) um die Erfassung der sozialen Konstituierung und um Prozesse des Aushandelns von Situationsdefinitionen, um das Eindringen in ansonsten nur schwer zugängliche Forschungsfelder geht oder wo für die Sozialforschung Neuland betreten wird“ (Lamnek 1993: 240). Diese Merkmale treffen für das Anliegen dieser Arbeit allesamt zu. Teilnehmende Beobachtung hat den großen Vorteil der flexiblen Anwendbarkeit. Schon am ersten Tag meines Aufenthaltes gewann ich durch sie Kenntnisse über meinen Untersuchungsort. Ich setzte offene Beobachtung mit einem hohen Partizipationsgrad ein. Meine Beobachterrolle war abhängig von der jeweiligen Beobachtungssituation. Während der Busfahrten nach Russland (zweite Stufe des grenzüberschreitenden Kleinhandels, vgl. Tabelle 11) war ich primär Teilnehmerin der Feldsituation und sekundär Beobachterin. Dabei entsprach meine Rolle die der Klassifizierung des „Teilnehmers als Beobachter“ (Lamnek 1993: 264). Beobachter als auch Probanden waren sich einer Feldbeziehung bewusst (vgl. ebenda). Während der Datensammlung auf Märkten und anderen mit Schmuggel in Verbindung stehenden Orten jedoch trat ich eher als „Beobachter als Teilnehmer“ (vgl. ebenda: 265) auf, d.h., ich war in das soziale Marktgeschehen zu einem gewissen Grad involviert, z.B. indem ich selber Waren kaufte. Primär war dabei meine Rolle als nicht teilnehmender Beobachter. Gemein war allen Beobachtungssituationen das interne Dilemma der Forscherin, als Teilnehmerin wahrgenommen werden zu wollen, sich aber nicht als solche zu fühlen: „Teilnehmende Beobachtung setzt sich (...) aus widersprüchlichem Verhalten zusammen, nämlich so zu sein, wie einer, der dazu gehört und gleichzeitig mit einer Wahrnehmung wie einer, der außerhalb steht“ (Hauser-Schäublin 2003: 38). Die mittels teilnehmender Beobachtung gewonnenen Daten sind immer von den Interaktionen des Forschers mit seinem Untersuchungsfeld geprägt (vgl. ebenda: 34). Um eine Veränderung der Feldsituation durch die Anwesenheit des Forschers zu vermeiden, ist deshalb Folgendes wichtig: „Observers must conduct themselves in such a way that the events that occur during their observations do not siginificantly differ from those which occur in their absence“ (Bogdan, Taylor 1975: 45). Dies zu tun, setzt aber ein Mindestmaß an Wissen über die Regeln voraus, die die Beobachtungssituation strukturieren, welches ich zu Beginn meiner Feldforschung nicht besaß. So wusste ich nicht, dass es im Bus eine feste Sitzordnung gab und besetzte – eben ohne es zu wissen – den Stammplatz einer Händlerin. Die Ordnung wurde also durch mich gestört. Ein weiteres Mal geschah dies durch die Kontrolle meines Passes durch den russischen Grenzschutz, die sehr viel mehr Zeit in Anspruch nahm als die Passkontrollen sämtlicher Mitpassagiere, so dass eine durch mich hervorgerufene Wartezeit und somit eine Veränderung des gewohnten Ablaufs der Beobachtungssituation entstand. Grundsätzliche Modifikationen von
4.1 Datenerhebung
117
Handlungsabläufen verursachte meine Anwesenheit aber nicht; andernfalls wäre meine wiederholte Teilnahme wohl nicht auf die erlebte breite Akzeptanz gestoßen. Tagebuch und Field Notes Die Dokumentation der aus der teilnehmenden Beobachtung gewonnenen Informationen erfolgte durch Field Notes. Während der Beobachtung wurden schriftliche Aufzeichnungen vermieden, da diese den Verlauf der jeweiligen Situation hätten stören können (vgl. Lamnek 1993: 295f.) und oftmals aus technischen Gründen wie starkem Wind oder schlechten Straßen während der Busfahrten gar nicht möglich waren. Es wurde Wert auf eine möglichst zeitnahe Protokollierung des Erlebten gelegt, um Erinnerungsverluste und Wahrnehmungsverzerrungen so gut wie irgend möglich zu vermeiden. Doch muss an dieser Stelle auf die Tatsache hingewiesen werden, dass Feldnotizen niemals die Authentizität einer Situation oder einer Handlung wiedergeben, sondern Abbildungen bzw. Repräsentationen davon sind, die mehrfach „gefiltert“ wurden (vgl. Hauser-Schäublin 2003: 49). Das heißt, mit dem Anfertigen von Feldnotizen während der teilnehmenden Beobachtung werden bereits die Grundlagen zur ethnographischen Repräsentation gelegt. Dies beginnt nicht etwa erst mit dem Schreiben eines Buches (vgl. Emerson u.a. 2001: 352f.). Die Field Notes umfassten die folgenden inhaltlichen Aspekte: die Teilnehmer und ihre Interaktionen, die Beschreibung der beobachteten sozialen Situation, die Regelmäßigkeit oder Einmaligkeit des Beobachteten und die Reaktionen der Teilnehmer auf außergewöhnliche Ereignisse (siehe auch Girtler 1984: 133f.). Parallel zu den am Forschungsthema orientierten Field Notes führte ich ein persönliches Tagebuch zur Reflexion meines persönlichen Umgangs mit der Feldforschungssituation, zur Einschätzung des Fortgangs der Forschung und meiner privaten Kontakte in Bartoszyce. Problemzentrierte Interviews Im Hinblick auf das Ziel der Arbeit, nämlich die Herausarbeitung unterschiedlicher Haushaltsstrategien innerhalb einer Armutsökonomie, erschien mir die Methode des problemzentrierten Interviews als angemessen, welches eine Mischung zwischen dem narrativen und dem Leitfadeninterview darstellt. Der Befragte kann sich frei ohne Antwortvorgaben äußern, jedoch ist das zu behandelnde Themengebiet durch die Konzentration des Forschers auf eine bestimmte Problemstellung abgedeckt (vgl. Lamnek 1993: 75). Der Akzent liegt, wie bei der narrativen Form, auf der Erzählung des Interviewten, seine Äußerungen werden jedoch stärker durch den Interviewer geleitet. Dieser hat mit Hilfe eines vorher ausgearbeiteten Leitfadens den Verlauf des Interviews strukturiert, so dass die interviewte Person vom Zwang der selbstständigen Strukturierung ihrer Erzählung teilweise entlastet wird. Allerdings ist auch in dieser Interviewform das für die qualitative Sozialforschung konstitutive
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4 Zur Methode
Merkmal der Offenheit gegeben. Dadurch können die Befragten ihre subjektiven Perspektiven und Deutungen offen legen (vgl. Mayring 1993: 47). Im Leitfaden wurde sowohl nach Motivationen zur Aufnahme des Schmuggels als auch nach Details seiner Durchführung gefragt. Des Weiteren wurde der Biographie des Interviewten nachgegangen und seiner Einschätzung des Lebens in Bartoszyce. Ein besonderer Schwerpunkt wurde auf persönliche Ressourcen des Einzelnen gelegt und auf die Rolle der Schmuggeltätigkeit sowohl für seinen Haushalt als auch für seine Alltagsgestaltung. Die Interviews wurden durch einen kurzen Fragebogen zu persönlichen Daten wie Alter, Beruf, Familienstand und Bildungsabschluss vervollständigt, sofern die Angaben nicht schon im Laufe des Interviews gemacht wurden. Ein so bald wie möglich nach jedem Interview angefertigtes Postscript diente zur Reflexion des Interviewverlaufs und zur Dokumentation nonverbaler Eindrücke (vgl. Witzel 2000: 10). Von den insgesamt 23 geführten problemzentrierten Interviews wurde die Hälfte in den Wohnungen der Befragten geführt.73 Ein Interview kann als nicht gelungen bezeichnet werden und blieb daher in der Datenauswertung unberücksichtigt. Zwei fanden in meiner Unterkunft statt, der Rest an neutralen Orten wie meinem Auto, Wohnungen von Bekannten der Interviewten oder öffentlichen Einrichtungen wie einem Gemeindehaus. Bis auf vier Ausnahmen, wo Familienangehörige oder enge Freunde dem Interview beiwohnten, wurden die Gespräche unter vier Augen geführt. Alle Interviewpartner waren mit der Tonbandaufnahme des Gesagten einverstanden. Das Material wurde nach den Regeln von Bohnsack transkribiert (vgl. Bohnsack 2000: 233f.). Dabei wurden sowohl alle Namen der Interviewten geändert als auch die während des Gesprächs geäußerten Firmen-, Orts- und Personenbezeichnungen, um die Anonymität der Befragten zu wahren. Alle Interviewpartner stellten sich freiwillig zur Verfügung und wussten grob, um welchen Themenbereich es ging. Die Interviews hatten eine Länge zwischen 45 Minuten und zweieinhalb Stunden.
73
Damit wird der Forderung der qualitativen Forschung entsprochen, Personen in ihrer alltäglichen Umgebung zu untersuchen, um forschungsbedingte Verzerrungen der Ergebnisse so weit wie möglich zu vermeiden (vgl. Mayring 1993: 11f., Lamnek 1993: 20).
119
4.1 Datenerhebung
Tabelle 13: Sample der Interviewpartner der problemzentrierten Interviews Name
Alter
Erwerbsstatus
Familienstand
Bildungsabschluss74
Arek
48
arbeitslos
verheiratet, 3 Kinder
Abitur
Anita
24
Studentin
ledig, keine Kinder
Abitur
Agnieszka
38
arbeitslos
verheiratet, 2 Kinder
Grundschule
Beata
44
arbeitslos
verheiratet, 2 Kinder
Berufsschule
Bolesaw
44
Rentner
Berufsschule
Georg
47
erwerbstätig
verheiratet, 3 Kinder, verheiratet, 3 Kinder
Georgia
47
Rentnerin
Berufsschule
Hanna
63
Rentnerin
verheiratet, 2 Kinder (Sohn gestorben) verwitwet, 2 Kinder
Jerzy
54
arbeitslos
Joanna
26
erwerbstätig
Krystian
21
Schüler
ledig, keine Kinder
Angestrebt: Abitur
Lucyna
32
arbeitslos
Berufsschule
Magda
34
arbeitslos
getrennt lebend, 2 Kinder verheiratet, 2 Kinder
Marta
52
Rentnerin
geschieden, 1 Kind
Marzena
33
arbeitslos
verheiratet, 3 Kinder
Micha
20
Schüler
ledig, keine Kinder
Abitur
Oliwia
23
Studentin
Abitur
verheiratet, 2 Kinder (Sohn gestorben) verheiratet, 2 Kinder
Berufsschule
Berufsschule Abitur Angestrebt: Hochschule
Berufsschule Wirtschaftliche Oberschule Berufsschule
Piotr
49
arbeitslos
ledig, in Beziehung, keine Kinder verheiratet, 2 Kinder
Rafa
46
arbeitslos
geschieden, 1 Kind
Technische Oberschule
Walentina
44
arbeitslos
verheiratet, 3 Kinder
Wanda
46
arbeitslos
geschieden, 1 Kind
Gymnasium ohne Abitur Abitur
Zara
56
Rentnerin
verheiratet, 3 Kinder
Abitur
Berufsschule
Zur besseren Übersicht zeigt Tabelle 14 die Verteilung der Interviewpartner nach Altersgruppe, Erwerbsstatus und Bildungsabschluss. 74 Im polnischen Schulsystem ist der Besuch einer sechsjährigen Grundschule und des dreijährigen Gymnasiums Pflicht. Danach haben Schüler vier Möglichkeiten der weiteren Ausbildung, von denen drei direkt zum Abitur führen. Sie können entweder das allgemeinbildende, ein fachspezifisches Lyzeum, oder die technische Oberschule, das „Technikum“, besuchen und nach drei bzw. vier Jahren das Abitur erwerben. Alternativ kann auch eine zweijährige Berufsschule besucht werden.
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4 Zur Methode
Tabelle 14: Übersicht der Interviewpartner Altersgruppe 20 bis 30 Jahre 31 bis 40 Jahre 41 bis 50 Jahre 51 bis 60 Jahre 61 bis 70 Jahre Erwerbsstatus formal erwerbstätig arbeitslos Schüler/Student Rentner (angestrebter) Bildungsabschluss Grundschule Berufsschule Mittlere Reife Gymnasium ohne Abitur Abitur Hochschule Geschlecht weiblich männlich
Anzahl der Interviews 5 4 9 3 1 2 11 4 5 1 9 2 1 8 1 14 8
Die Interviews fanden unter äußerst vielfältigen Bedingungen statt. Die meisten Gespräche profitierten von einer ruhigen, entspannten Atmosphäre in einem ungestörten Ambiente ohne Zeitdruck. Nicht immer jedoch waren diese optimalen Bedingungen gegeben. Es kam vor, dass meine Interviewpartner es vermieden, mich zu ihnen nach Haus einzuladen, um kein Gerede der Nachbarn über den unbekannten Gast aufkommen zu lassen. In solchen Fällen fand das Interview mehrmals bei winterlichen Temperaturen von minus 20 Grad Celsius in meinem Auto ohne Standheizung auf einem Parkplatz statt. Manchmal mussten während des Gesprächs auf dem Rücksitz Kinder betreut werden und auf keinen Fall durfte der nur sporadisch verkehrende Bus in das Heimatdorf meines Interviewpartners verpasst werden, was oft hohen Zeitdruck während des Interviews bedeutete. Diese Beispiele veranschaulichen, wie wichtig eine offene und flexible Gestaltung des qualitativen Forschungsprozesses ist (siehe auch Lamnek 1993:17, Flick 2004: 24f.). Aufgrund der nur wenigen Gelegenheiten, bei denen ich Schmuggler auf Fahrten nach Russland begleiten konnte (vgl. S. 108f.), musste ich auf andere Art und Weise versuchen, Kontakte zu potenziellen Interviewpartnern herzustellen. Vor diesem Hintergrund ist die Tatsache zu sehen, dass einige Interviews durch Vermittlung von Be-
4.2 Datenauswertung
121
kannten zustande kamen, ohne dass ich die Gelegenheit hatte, eine vorherige Beziehung zu meinem Interviewpartner aufzubauen. Fasst man die beschriebenen, für die reine Datenerhebung eher hinderlichen Rahmenbedingungen als ihrerseits eigene Daten auf, lassen sich wichtige Rückschlüsse auf die in der Forschung im Mittelpunkt stehenden Lebensbedingungen der Interviewpartner gewinnen. Dokumentenrecherche Zum besseren Verständnis der Bedingungen, unter denen Schmuggel stattfindet, sammelte ich Dokumente zur lokalen sozioökonomischen Situation, zum Grenzverkehr und zum polnischen Sozialsystem. Dazu stützte ich mich auf lokale Medien, Statistiken verschiedener Behörden und des staatlichen Statistikamtes sowie auf Informationen der staatlichen Versicherungsanstalt. 4.2 Datenauswertung Das durch Triangulation erhobene vielfältige Material verlangt eine ebenso vielfältige Auswertung. Den Mittelpunkt der Analyse bilden die Transkripte der problemzentrierten Interviews, da sie im Hinblick auf die Forschungsfrage die dichteste Datenquelle darstellen. Die Analyse der Interviewtranskripte orientiert sich an der von Mayring eingeführten Technik der strukturierten qualitativen Inhaltsanalyse75 sowie an Witzel (vgl. Witzel 2000: 20ff.) und Schmidt (vgl. Schmidt 2004: 447–456). Angelehnt an Kelle und Kluge (1999) erfolgt die inhaltsanalytische Bearbeitung innerhalb einer empirisch begründeten Typenbildung. Der Prozess der Typenbildung setzt sich aus drei Schritten zusammen: der Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen, der Zuordnung der Fälle zu einem Merkmalsraum und der Charakterisierung der gebildeten Typen (vgl. S. 176ff.). Die qualitative Inhaltsanalyse wurde in den 1980er Jahren von Mayring als eine kritische Alternative und Weiterentwicklung der bis dato vorherrschenden quantitativen Inhaltsanalyse entwickelt, deren Fokus auf dem Auszählen von Häufigkeiten bestimmter Motive im Material lag (vgl. Mayring 1993: 85; Mayring 2004: 468f.). Stattdessen ist das Ziel der qualitativen Herangehensweise der wissenschaftlich kontrollierte Nachvollzug alltagsweltlicher Handlungsfiguren (vgl. Lamnek 1993: 203). Um dieses Muster aufzudecken, wird ein theoriegeleitetes und am Material entwickeltes Kategoriensystem benutzt, das die Äußerungen jedes einzelnen Transkripts in nacheinander systematisch zu bearbeitende Einheiten zerlegt (vgl. Mayring 1993: 86). Anhand der gefundenen Kategorien, die jeweils verschiedene 75 Neben dieser Variante, in der es darum geht, bestimmte Aspekte aus dem Material zu filtern, nennt Mayring noch die zusammenfassende Analyse, die auf Reduktion des Materials beruht und auf Explikation, die zum besseren Verständnis der Textstellen fordert, weiteres Material heranzutragen (vgl. Mayring 1993).
122
4 Zur Methode
Ausprägungen besitzen können, werden nun die Fälle analysiert, indem den einzelnen Ausprägungen einer Kategorie entsprechende Textstellen zugeordnet werden. Die Auswertungskategorien, die zuerst aus dem Material heraus gebildet worden sind, werden danach also auf das Material angewendet (vgl. Schmidt 2004: 452f., Hervorhebung im Original). Nach Abschluss dieses Arbeitsschrittes werden fallübergreifende Typisierungen mit Hilfe unterschiedlicher Ausprägungen der Kategorien herausgearbeitet und so eine Generalisierung der Ergebnisse – eben durch die Zusammenstellung verschiedener Typen – erzielt. Diese Typen werden anhand realer Fälle exemplifiziert, die die Charakteristika jedes Typus am besten repräsentieren. Jeder Typ setzt sich aus einer unterschiedlichen Kombination von kategorialen Ausprägungen zusammen. Dabei ist auf eine maximale Heterogenität auf der Ebene der Typologie zu achten, um die reale Spannbreite unterschiedlicher Schmugglertypen angemessen abbilden zu können. Außer der Codierung der Transkriptionen werden Bemerkungen zu einzelnen Textstellen in Memos dokumentiert. Dies betrifft z.B. auffallende Querverbindungen zwischen Interviews, erste interpretatorische Vermutungen oder auch das Heranziehen weiteren Materials wie Beobachtungsprotokolle, die für das Verständnis einzelner Interviewpassagen von Bedeutung sind. Die Analyse aller Interviews wurde computergestützt mit dem Programm zur qualitativen Datenauswertung „Maxqda“ vorgenommen. Die Auswertung der problemzentrierten Interviews geschieht unter Einbeziehung des aus der Anwendung der weiteren Methoden gewonnenen Materials. So dienen Beobachtungsprotokolle, statistische Daten und Äußerungen aus Experteninterviews zur Kontrastierung, Ergänzung und zum besseren Verständnis der Analyse der problemzentrierten Interviews. Die so angestrebte textuelle Verdichtung „bildet nicht Beobachtungen ab, sie überbietet sie eher, indem sie Protokollnotizen, Sinneseindrücke und situative Assoziationen zusammenkomponiert – ein Unterfangen der Simulation von Erfahrungsqualitäten“ (Ammann, Hirschauer 1997: 35). Die Auswertung der Experteninterviews besteht ebenfalls aus einer Codierung der Transkripte mit Kategorien, allerdings steht hier die rein inhaltliche Verwertung im Vordergrund und nicht die Aufstellung einer Typologie von Handlungsmustern.
5 Analyse des empirischen Materials
Das Ziel dieser Arbeit ist die Analyse der individuellen Bedeutung der Schmuggeltätigkeit von Menschen an der polnisch-russischen Grenze im Rahmen ihrer jeweiligen Lebensführung. Da das Phänomen des Schmuggels deshalb im Mittelpunkt dieser Arbeit steht, soll die Darstellung des empirischen Materials mit einer Beschreibung einer Schmuggelfahrt von Bartoszyce nach Bagrationowsk und zurück beginnen. Zum einen soll die Beschreibung dem Leser eine Vorstellung davon geben, was es konkret heißen kann, die Grenze als Ressource zu nutzen. Zum anderen dient die Beschreibung der transparenten Darstellung der Herleitung der im Anschluss erläuterten Beobachtungsergebnisse. Zunächst geht es an dieser Stelle um den konkreten Ablauf des Schmuggels. Es soll deutlich gemacht werden, auf welchen Voraussetzungen er beruht und welchen Regeln er folgt. Im zweiten Teil des Kapitels (5.2) werden die unterschiedlichen Bedeutungen des Schmuggels für die Haushaltsökonomien des Einzelnen näher untersucht. Die Schmuggeltätigkeit wird dabei in den Gesamtzusammenhang des Alltags der Interviewten eingebettet. 5.1 Anatomie des Schmuggels: Bartoszyce – Bagrationowsk und zurück Mit Wanda, meiner Bekannten, stehe ich auf dem Vorplatz des Bartoszycer Bahnhofs und warte auf den Linienbus in das knapp 20 km entfernte russische Grenzstädtchen Bagrationowsk. Wir gehen zusammen über den Bahnhofsvorplatz zum Bahnhofsgebäude zum Kassenfenster und kaufen von der gelangweilten, bestenfalls gleichgültigen Verkäuferin unsere Fahrkarten. „Zweimal Bagrationowsk um 12.30 Uhr“, sagt Wanda. Wir bezahlen pro Fahrkarte 10 Zoty und schlendern langsam zum Bussteig Nr. 4. Züge fahren vom Bahnhof schon seit einigen Jahren nicht mehr ab, dafür wird der, von einer Gaststätte und kleinen Kiosken gesäumte, schäbige, asphaltierte Vorplatz seit eh und je als Busbahnhof genutzt. Es ist kurz nach 12 Uhr mittags, und wir warten bei Sonnenschein auf einem kleinen Mäuerchen neben dem Bahnhofsplatz. Wanda ist eine zierliche Frau mit blondierten langen Haaren, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat. Sie ist trotz Sonnenschein und sommerlichen Temperaturen recht kältetauglich angezogen. Turnschuhe und eine schwarze Cordhose, dazu eine geöffnete dreiviertellange rote gefütterte Jacke mit Kapuze, unter der ein langer weißer Strickpullover hervorlugt. Zwi-
124
5 Analyse des empirischen Materials
schen ihren Füßen steht eine prall gefüllte bunte Plastiktüte, auf ihrem Schoß hat Wanda einen Kunstlederrucksack platziert. Sie kommt gerade von einer Wechselstube, in der sie Zoty gegen Dollar und einige Euro eingetauscht hat. Während wir warten, setzt sich eine weitere Bekannte neben Wanda. Die beiden rätseln, ob der Bus um 12.30 Uhr überhaupt fahren wird. Möchten ihn weniger als zehn Personen nutzen, wird die Fahrt abgesagt, „und eigentlich müssten Kasia, Aga und die anderen Mädchen schon hier sein“, wundert sich Wanda. Nach und nach entdeckt sie aber ein paar Bekannte, die am Bussteig warten. Das auffällige Charakteristikum dieser Gruppe sind die großen schwarzen Plastiktüten mit einer „BOSS“-Aufschrift, die die Frauen in den Händen halten. Während wir warten, kommen wir auf die Arbeitslosigkeit in Bartoszyce zu sprechen. „Hier gibt es keine Arbeit. Die jungen Leute studieren und stehen nach dem Studium ohne Job da“, bemerkt Wanda. Sie arbeitete früher in einer Bank, aber dort wurden Stellen eingespart, und so wurde sie arbeitslos. „So leben wir hier“, sagt sie. „Toll ist das nicht“, urteilt sie. Der Bus kommt schon um kurz nach zwölf mit Schwung auf den Platz gefahren. Wir setzen uns in die vierte Sitzreihe. Vor uns sitzt eine stark übergewichtige Dame, die dort ihren Stammplatz einnimmt. Unwissenderweise ließ ich mich erst dort nieder, wurde aber von der Frau mit einem missmutigen, strengen Blick aufgefordert, meinen Sitzplatz zu wechseln. Um 12.15 Uhr fährt der Bus ab, also fünfzehn Minuten vor fahrplanmäßiger Abfahrt. „Es sind doch alle da, die mitfahren wollten“, begründet der Busfahrer die verfrühte Abfahrt. Und tatsächlich, niemand scheint weitere Mitfahrer zu vermissen. Alle kennen sich untereinander und wissen um persönliche Probleme der Mitreisenden. Mariana ist stolz auf ihre Tochter, die eine in ganz Polen bekannte Leichtathletin ist und gerade einen wichtigen Wettkampf gewonnen hat, wie sie laut im Bus herumerzählt. „Ewa ist nicht wieder zu erkennen, seit ihr Neffe ertrunken ist“, raunt mir Wanda zu. Der Busfahrer, Herr Mirek, kennt seine Passagiere und macht Späße mit einer hochschwangeren Mitreisenden. „Wenn Du eine Tochter bekommst, wird sie Norma heißen, wird es ein Sohn, wird er auf den Namen Legal getauft“,76 schlägt er der Frau vor und erntet schallendes Gelächter. Der Bus ist sauber und gepflegt. Gepolsterte Sitze, das typische Grau, in der Mitte schmale vertikale Farbstreifen in Herbstfarben. Um Waren in ihm zu verstecken, eignet er sich offensichtlich nicht besonders gut. „Man kann nichts zwischen die Sitze stecken, und unter das Polster kommt man auch schlecht ran“, urteilt Wanda unzufrieden. Neben dem Fahrersitz steht ein blauer Mülleimer, ein Stofftier baumelt am Innenspiegel. Pan Mirek pflegt seinen Bus. Während der Fahrt wird
76 „Norma“ ist der polnische Begriff für „Norm“. Hier ist damit die erlaubte Menge an Zigaretten und Alkohol gemeint, die zollfrei nach Polen eingeführt werden darf. Der Begriff „Legal“ bezieht sich auf den gleichen Sachverhalt.
5.1 Anatomie des Schmuggels: Bartoszyce – Bagrationowsk und zurück
125
ihm die Erlaubnis abgerungen, geschmuggelte Ware in seinem Fahrzeug zu verstecken. „Na gut, aber wehe, ihr hinterlasst Spuren“, droht er scherzhaft. Insgesamt sind wir 18 Personen im 40 Sitze umfassenden Fahrzeug, vierzehn Frauen und vier Männer plus Busfahrer. Jede der Zweiersitzreihen ist von einem Passagier und seinen Tüten belegt. Wanda teilt sich mit dem vor ihr sitzenden Jarek die Verstecke einer Sitzreihe auf. Für ihre Waren werden der Fensterplatz und die Gardine zur Verfügung stehen, Jarek kann den Gangplatz sowie die Luke im Boden nutzen. Abbildung 8:
Auf der Fahrt zum Grenzübergang Bezledy
Foto: Bettina Bruns Während der Fahrt zur Grenze unterhalten sich die Mitfahrer mit ihren Nachbarn. Es herrscht eine ruhige Atmosphäre, alle sitzen auf ihren Plätzen. Georgia näht einen Saum, Zara hat Strickzeug dabei, Danuta blättert in einer Frauenzeitschrift. Es ist kaum Verkehr, die meiste Zeit ist kein weiteres Auto zu sehen. Bezledy ist die einzige größere Ortschaft, die an der Hauptstraße 51 liegt, rechts und links zeigen grüne Ortsschilder kleine Ansammlungen von Häusern an (siehe Abb. 8). Wir passieren eine idyllische Siedlung linker Hand. Schornsteine rauchen, Kühe weiden, alte Häuser harren der Dinge, die da kommen mögen. Streckenweise verwandelt sich die Hauptverkehrsstraße in eine beschauliche Allee. Leuchtend gelbe Rapsfelder säumen beiderseits die sauber asphaltierte Straße, dazwischen Mischwald in verschiedenen Grüntönen. Dreimal wird der Grenzübergang auf großen Verkehrsschildern angekündigt, das letzte Mal vier Kilometer vor Polens nordöstlicher Begrenzung. Geschwindigkeitsbeschränkung auf 40 km/h, Stierrücken tun ihr Übriges. Nach einer Viertelstunde nähern wir uns dem Grenzübergang. Ein polnischer Grenzbeamter hält uns mit einer roten Kelle vor dem Schlagbaum an und steigt ein, um nach der Anzahl der Passagiere zu fragen. Dann fahren wir links einen kleinen
126
5 Analyse des empirischen Materials
Bogen, wenden und warten kurz. Der Grenzübergang wurde als Werbefläche entdeckt! Hinter dem Schlagbaum wirbt ein Baumarkt auf russisch, 10 Meter näher am Übergang auf polnisch. Daneben ein Storchennest im Auftrag einer Firma für Klebstoffe. Das staatliche Busunternehmen PKS ist mit einer großen Tafel vertreten, ebenso ein Teppichbetrieb und ein Versicherungsunternehmen. Einige Passagiere steigen aus und betreten ein großes rundes, heruntergekommenes Gebäude, die sogenannte „Ekspedycja.“77 Ein komplizierter Bau mit mehreren Ebenen roter Dächer beherbergt Toiletten und mindestens sechs Wechselstuben. An der schmutzig-grauen Wand hängt ein Kondomautomat, eine Wechselstube bietet außerdem Begleitservice an. Dort tauschen sie Zoty in US-Dollar um. Währenddessen telefoniert einer der mitreisenden Männer mit Bekannten, die wohl ebenfalls einen Ausflug nach Russland planen. „Heute haben Hitler, der Spanier und der Priester Schicht“, informiert er seinen Bekannten über die einzelnen diensthabenden Zöllner. „Da steht Karola“, informiert Wanda mich über die Identität einer Zöllnerin, die gerade ein Auto kontrolliert. „Die ist ganz in Ordnung, aber wahrscheinlich kommen wir in die Nachtschicht, bei der Anzahl von Bussen, die heute hier steht“, erwägt sie. Die Nachtschicht beginnt um 20.00 Uhr. Ein paar Leute steigen aus, ein Mann kauft sich eine Dose Bier, andere schnappen kurz frische Luft. Es ist 13.00 Uhr. Nachdem alle Passagiere wieder eingestiegen sind, reiht sich der Bus in die LKW-Schlange der ganz rechten Spur ein, zur Passkontrolle. Der polnische Grenzschützer betritt den Bus, kontrolliert ernsthaft alle Pässe und verlässt grüßend den Bus. Wir fahren ca. 100 Meter weiter zur russischen Passkontrolle, direkt vor das Kontrollhäuschen. Dort steigen alle aus und warten 10 Minuten im von einem Radio beschallten Vorraum, weil kein russischer Beamter anwesend ist. Ela steht hinter mir in der Schlange. Sie zeigt mir ihren Pass. „Das ist in diesem Monat meine siebte Fahrt“, stellt sie fest, die Anzahl der Grenzstempel in ihrem Pass zählend. „Obwohl ich schwanger bin, fahre ich noch. Aber was soll ich machen? Schulbücher sind teuer“, urteilt sie. Es ist hell und frisch renoviert im russischen Kontrollraum, Pflanzen stehen auf den Fensterbänken, Gepäck-Röntgengeräte unbenutzt im Raum herum. Endlich kommt eine junge Beamtin mit Pelzmütze und Uniform und setzt sich auf ihren Platz. Sie nimmt jeden Pass, wirft einen genauen Blick auf seinen Inhaber und tippt etwas ein. Zum Schluss wird der Pass mit einem Stempel versehen und zurückgegeben. Mein deutscher Pass bringt sie etwas aus der Fassung. „Wo fahren Sie hin?“, möchte die Dame wissen. „Nach Bagrationowsk“, antwortet Wanda für mich. „Was wollen Sie denn da?“ „Sie macht einen touristischen Ausflug“, erklärt Wanda. „Einen touristischen Ausflug nach Bagrationowsk?“, lacht die Beamtin ungläubig. „Was gibt es denn da zu sehen?“ Eine rhetorische Frage selbstverständlich. „Man kann sich dort vieles ansehen“, beteuert Wanda. Endlich bekomme 77
Ekspedycja heißt auf polnisch u.a. Versandabteilung oder Güterabfertigung.
5.1 Anatomie des Schmuggels: Bartoszyce – Bagrationowsk und zurück
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ich meinen Pass zurück, natürlich auch mit einem Stempel versehen, auf dem die 11 für November gänzlich fehlt. „26 05“ ist zu lesen. Nachdem alle Pässe kontrolliert worden sind, kaufen wir beim Einstieg in den Bus die Rückfahrkarten nach Bartoszyce beim Fahrer, wieder für 10 Zoty. Bevor wir die Grenze endgültig passieren, werden wir nochmals durchgezählt. Wir fahren vorbei an endlosen Autoschlangen, die auf die Abfertigung zur Wiedereinreise nach Polen warten. Russische und polnische Nummernschilder stehen dicht an dicht, die Insassen sitzen entweder in ihren Autos, ordnen ihre Zigaretten, kochen auf Campingkochern oder stehen schwatzend oder Karten spielend zwischen ihren Autos. Abbildung 9:
Verkaufsbungalows vor Bagrationowsk
Foto: Bettina Bruns Ein paar hundert Meter hinter der Grenze erreichen wir eine Ansammlung bunter Bungalows vor dem Ortseingang von Bagrationowsk: unser Ziel (siehe Abb. 9). Es ist 13.30 Uhr. Der Bus hält auf einem großen unbefestigten Platz, der von kleinen Verkaufsbuden eingerahmt ist und auf dem sich Pfütze an Pfütze reiht. Alle Passagiere steigen aus und stieben auseinander. „Jeder hat hier seine Stammbude“, erzählt Wanda mir und steuert die ihrige an. Eine Mitfahrerin fragt zurückhaltend an, ob sie heute mit in Wandas Stammgeschäft kommen kann, wogegen Wanda keine Einwände hat. Der Bungalow ist blassgelb gestrichen, mit einer überdimensionalen Marlboro-Zigarettenpackung und schwarzem Ziegeldach geschmückt. Neben der Verkaufsbude befindet sich ein Anbau, an dem ein Schild verkündet: „Robimy koa“. Wörtlich übersetzt heißt das „Wir machen Reifen“ und bedeutet, dass es sich um eine Garage handelt, in der Zigaretten in Autoreifen verfrachtet werden können. Das Schild ist klar zu lesen und hängt ganz öffentlich an der Tür, keine 500 Meter vom Standpunkt des russischen Zolls entfernt.
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Wanda öffnet die schwarze Holztür, und wir betreten einen kleinen niedrigen Raum. Rechts ist eine weiße Theke aufgebaut, dahinter sind Regale mit Stangen verschiedener Zigarettensorten, Tetrapaks mit Saft, Beutel voller russischen Süßigkeiten, Zuckerpakete, Bierflaschen- und dosen und die obligatorischen Twix, Mars und Milkyway zu sehen. Links hat eine niedrige schmutzigweiße Eckkommode ohne Tür ihren Platz. In ihr steht ein Wasserkocher, ein paar Teebeutel liegen daneben, Plastiklöffel, Instantkaffee, Kaffeeweißer. Obendrauf plärrt ununterbrochen ein kleiner Schwarz-Weiß-Fernseher. Im hinteren Raumteil wurde eine kleine Sitzecke mit Bank und weißen Plastikstühlen eingerichtet. Über der Tür hängt eine Wanduhr. In unserer Bude gibt es eine Toilette, die beste Toilette von allen Geschäften, wie mir Wanda versichert. Sie ist in einem erbärmlichen Zustand. Kein Papier, kein Wasser, verstopft, stinkend. „Die Russen legen auf so etwas wie Hygiene irgendwie keinen großen Wert“, meint Wanda dazu. In dieser Bude wechseln sich drei Verkäuferinnen rund um die Uhr ab, erzählt mir Wanda. Heute hat Ludmila Dienst. Sie macht den Eindruck einer äußerst gelangweilten, behäbigen jungen Frau. Sie ist stark übergewichtig, und bewegt ständig einen Kaugummi im Mund hin und her. Sie trägt eine blaue Kunstseidegarnitur, die aussieht, als handele es sich um einen Schlafanzug. In Hauspuschen schlurft sie durch ihr kleines Reich. Wanda gibt als erstes ihre Bestellung unterschiedlicher Zigarettenmarken bei Ludmila auf:
1 Stange „Marlboro”, 1 Stange „West”, 1 Stange „Saint George”, 1 Stange „North Stone”, 10 Stangen „Jin Ling“ (siebe Abb. 10), 4 einzelne Päckchen „Monte Carlo“.
Dazu kauft sie noch 3 Päckchen Zucker. Abbildung 10: „Jin Ling“ -Zigaretten
Fotos 10-12: Bettina Bruns
Abbildung 11: Russischer Wodka
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Abbildung 12: Zucker Alles zusammen kostet 48 US-Dollar. Der Dollar ist hier das alleinige Zahlungsmittel, obwohl die Preise an den Regalen alle in Rubel ausgeschrieben sind. Ludmila schreibt alles genau auf einen kleinen weißen Zettel und rechnet die Summe mit dem Taschenrechner aus. Wanda bezahlt mit einem 50Dollarschein. Dann geht Ludmila links um die Ecke zum Lager und schließt es auf. Es ist ein fensterloser Raum, bis oben hin gefüllt mit Pappkartons, die wiederum bis oben hin voll mit Zigarettenstangen sind. Es ist sehr kalt in diesem Raum, eine Deckenlampe leuchtet, aber für alle Fälle steht auf einer der Zigarettenkisten eine halb abgebrannte Kerze in einem Plastikbecher. Ludmila sucht die gewünschten Zigaretten zusammen, Wanda holt den Zucker (siehe Abb. 12) und trägt alles zusammen auf ihren Armen in den an den Verkaufsraum angrenzenden Hinterraum. Beide Räume sind durch eine hochgezogene Gardine getrennt, die Ludmila immer ins Gesicht hängt, wenn sie durch die Tür geht. Während der Verkaufsraum gelb gestrichen ist, glänzt der angrenzende Raum durch dezentes Altrosa an den Wänden. Drei Tische stehen in ihm, davon ist einer eine ehemalige Schulbank. Ein Plastikstuhl, drei einfache Hocker, eine Treppe zum oberen Stockwerk, das bewohnt ist, schon ist der Raum ausgefüllt. Wanda platziert alle Waren auf dem größten Tisch in der Mitte und packt ihre Plastiktüten aus. Sie hat viele Requisiten bei sich, die alle den gleichen Zweck erfüllen: die Zigaretten unsichtbar zu machen, die sie mitnehmen will. Da kommt ein kleines Federmäppchen zum Vorschein, das Platz für ein Päckchen bietet. Dann Nylonstrümpfe, kleine Tüten. Dazu kleine Täschchen, Klebeband, Schaumstoffquadrate, Schere, eine lange weiße Unterhose, eine Radlerhose, drei weitere Unterhosen eine lange Cordhose. Zwei Baumwolloberteile. All das wird ordentlich nebeneinander auf den Tisch gelegt. Wanda verspricht, gleich wiederzukommen und kauft in einem anderen Geschäft vier 0,5 Literflaschen Wodka „Pschemitsnaja“ (Abb. 11), den es in dieser Bude nicht gibt. Jetzt beginnt die Verpackung. Wanda entpackt alle Stangen in einzelne Päckchen. Zuerst füllt sie eine alte Handtasche, die viele Öffnungen hat. Dort ein Päckchen, dort zwei, versteckt in einer Nylonstrumpfhose oder zusammengeklebt auf den Boden der Tasche gelegt. In einer kleinen Handtasche finden so ca. 20 Päckchen Platz. Insgesamt kaufte Wanda 14 Stangen, das macht 140 Päckchen, die untergebracht werden müssen. Eine Stange gibt sie mir, eine Stange darf auch sie legal mitnehmen, also bleiben 12 Stangen übrig. Einzelne Päckchen werden in kleine Plastiktüten gepackt, die wiederum in die großen Tüten. Langsam wird der Haufen kleiner. „Jin Ling“-Zigaretten verpackt Wanda einzeln in den Verpackungen der
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Stangen, ohne die Päckchen. Die sind für ihre Familie gedacht, zwei Stangen kauft sie für ihre Schwester. Nachdem so etwas weniger als die Hälfte aller Zigaretten verschwunden ist, macht Wanda eine Pause und isst ein Brötchen. Es ist 14.30 Uhr. Während des Einpackens herrscht ständiges Kommen und Gehen in der Bude. Ludmila ist unermüdlich zwischen Lager und Theke unterwegs, Käufer schleppen ganze Kartons. „Die Leute nehmen die Zigaretten im Auto mit. Das sind gute Zigaretten, die werden weiter in den Westen transportiert“, meint Wanda. Nebenan ist eine Garage, dort können die Autos in aller Ruhe präpariert werden. Meist seien es junge Leute, die auf diese Art und Weise handeln. „Mit dem Auto kann man mehr transportieren, und man muss es auch, wenn sich die Fahrt lohnen soll“, macht mir Wanda klar. „Überall muss man bezahlen: Damit man nicht auf die patelnia78 muss, damit die Russen nicht kontrollieren, damit man nicht warten muss.“ Zwischen 50 und 70 Dollar kostet es, die Warteschlange zu vermeiden. Auch die Umgehung der Kontrolle hat ihren Preis. Russische Zöllner nehmen für jedes Päckchen, das über die erlaubte Menge herausgeht, von Autofahrern einen halben Dollar. Die Verkaufsbungalows werden vom russischen Finanzamt ab und zu kontrolliert, aber „in Russland ist es einfach, illegal zu arbeiten“, meint Wanda. „Wenn eine Kontrolle ansteht, schließen einfach alle ihre Läden.“ Wenn es gut läuft, verdient Wanda 100 bis 150 Zoty netto mit einer Fahrt. Außer ihr verdienen noch viele andere, sagt sie. Die Bude verdient, die fahrenden Schmuggler verdienen, die Händler, an die sie die Zigaretten weiterverkaufen, verdienen ebenfalls und die Kunden sparen dabei, und das noch in Deutschland. „Das ist nicht spannend, das ist harte Arbeit. Aber was bleibt uns anderes übrig?“, fragt sie. „Arbeit gibt es keine. Die Leute würden lieber arbeiten, als hierher zu fahren, das steht fest“, macht sie mir klar. „Aber es ist besser zu fahren, als vom Sozialamt Unterstützung zu kassieren. So hat man wenigstens sein eigenes Geld.“ Diese Informationen bekomme ich, während Wanda den Rest der Zigaretten verstaut – an ihrem Körper. Sie zieht ihre Cordhose aus und zieht zuerst eine lange Unterhose, darüber eine Radlerhose und darüber wiederum drei Unterhosen an, teilweise mit Mieder ausgestattet. An die inneren Unterschenkel schiebt sie jeweils drei zusammengeklebte Päckchen. Am Rücken schiebt sie zwischen die Unterhosenschichten jeweils zwei zusammengeklebte Päckchen, das drei- oder viermal. Dann baut sie sich drei Gürtel aus Zigarettenpäckchen, einen um die Hüfte, einen um die Taille, einen darüber. Pro Gürtelschicht werden so ca. acht, neun Päckchen verstaut. Das alles klebt sie mehrfach mit breitem Klebeband fest. Im Schritt wer78
„Patelnia“ heißt Pfanne und bezeichnet unter Schmugglern einen mehrere Kilometer vom Grenzübergang entfernten Parkplatz. Dort bekommen die Wartenden eine Karte, die sie berechtigt, sich in die Warteschlange vor dem Grenzübergang einzureihen. Die durchschnittliche Wartezeit auf der „Pfanne“ bis zum Erhalt der Karte beträgt 48 Stunden, dann folgt das Warten am Grenzübergang, das mindestens 24 Stunden dauert. Es kostet also ca. drei Tage, ohne monetäre Kosten die russische Grenzkontrolle zu passieren.
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den auch zwei Päckchen versteckt. Über die Gürtel steckt sie Schaumstoff und zieht zum Schluss ihre weite Cordhose an. Den Oberkörper bedeckt sie mit zwei Oberteilen und dem weiten Pullover. An die Innenseite der Oberarme klebt sie jeweils zwei zusammengeklebte Päckchen. „Wie ein Bodybuilder“, lacht sie und lässt mich ihre Muskeln aus Zigaretten fühlen. Über die drei Gürtel hängt sie noch einen Ring aus einer Nylonstrumpfhose, in dem sich sechs Päckchen befinden. Auch in ihrer Jacke lässt Wanda einzelne Päckchen verschwinden. „Das sind billige Zigaretten. Wenn ich bei der Zollkontrolle etwas abgeben muss, dann hole ich diese aus der Jacke heraus. Das geht schnell, und ich mache keinen großen Verlust“, erklärt sie. Ein Päckchen kommt in einen kleinen Regenschirm, den sie zuklappt und im Bus auf die Gepäckablage legen wird. Zwei Päckchen legt Wanda in leere Kekspackungen, und jeweils drei zusammengeklebte Päckchen hängt sie mit Sicherheitsnadeln in ihre lange Jacke. Einzelne Zigaretten verstaut sie in einer leeren Zuckerdose und in einer umgebauten Haarsprayflasche. Um 15.15 Uhr ist alles restlos eingepackt. Wir treten nach draußen, und um 15.30 Uhr fährt der Bus mit allen Passagieren und vielen gekauften Waren wieder ab. Kurz darauf sind wir bei der russischen Passkontrolle angelangt, wo wir alle den Bus verlassen und ein zweites Mal in das Kontrollhäuschen gehen. Ich werde gefragt, wann ich denn eingereist sei, was ja auch an dem unvollständigen Stempel ohne die 11 nicht zu erkennen ist. Die Kontrolle verläuft ohne Probleme. Kaum dass alle wieder eingestiegen sind, beginnen sie in Windeseile, die Zigaretten im Bus zu verstecken, die sie nicht mehr an sich selber unterbringen konnten: unter das Deckenfenster, unter die Sitze, in die Sitzpolster, in die Lehnen. Dazu wird der Bezug zurückgeschoben, die Zigaretten unter dem Polster versenkt und das Loch mit Nadel und Faden wieder zugenäht. Wanda dreht das Sitzpolster um, öffnet es, steckt Zigaretten hinein und platziert es wieder richtig. Über die Gardine steckt sie vier zusammengeklebte Päckchen, unter der Gardine findet versteckt ein einziges Platz. Jarek öffnet die Bodenluke und schiebt ein paar Stangen darunter. Dann bindet er sich mit Tesafilm zwei Päckchen an den Unterschenkel. Beide verrenken sich unter den Sitzen. Hosen werden heruntergezogen, Zigaretten darunter versteckt. Beata packt Zigaretten in den Mülleimer, unter die Sitzpolster. Sie geht zu meinem Vordersitz, greift in den Plastikgriff, zieht ihn hervor und schiebt vier Päckchen dahinter. „Das kannst du auch aufschreiben“, lacht sie mich an. Sie legt Zigaretten auf das Dachfenster. Wanda hat gerade von einer Gruppe Mitreisender erfahren, dass die Zöllnerin Magda heute Dienst in der Spätschicht hat. Da Magda dafür bekannt ist, insbesondere Handtaschen einer genauen Kontrolle zu unterziehen, packt Wanda kurzerhand um. Nur ein paar Päckchen bleiben in ihrer Handtasche, den Rest bringt sie an ihrem Körper unter. Während alle hektisch mit dem Verstauen ihrer Zigaretten im Bus beschäftigt sind, steht auf einmal die russische Grenzschützerin im Bus und möchte noch einmal meinen Pass sehen. Die Schmuggler lassen sich von der Uniformierten in keiner Weise von ihren Tätigkeiten abhalten und ignorieren ihre Anwesenheit. Die Grenzschützerin blickt
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in den Pass, gibt ihn mir grußlos zurück. „So lebt ihr hier“, kommentiert sie mit vielleicht etwas Verachtung in der Stimme das Verstecken der Ware und verlässt den Bus. Nachdem alles verpackt ist, geht es zum Duty-free-shop „Königsberg Trading“, in kyrillischen Lettern geschrieben. Wanda kauft dort zwei LiterWodkaflaschen. „Können wir weiter?“, fragt der Busfahrer. „Nein“, tönt es ihm entgegen, „wir sind noch nicht soweit.“ Zehn Minuten später ist endlich alles eingepackt, und wir rollen ein paar Meter voran. Ela sammelt von jedem schmuggelnden Passagier einen Dollar ein. Als der Bus vor einem Schlagbaum anhält, steigt sie aus und übergibt das Geld einem russischen Zöllner. Die Bestechung des russischen Zolls stellt aus zwei Gründen eine höchst effektive, da institutionalisierte Risikoverminderungsstrategie dar. Erstens muss die Höhe der Bestechungssumme nicht jedes Mal neu verhandelt werden, sondern beträgt seit einiger Zeit einen Dollar pro schmuggelnde Person, unabhängig von der geschmuggelten Menge. Zweitens werden alle Händler in einem Bus vom russischen Zoll als eine Einheit betrachtet, so dass die Übergabe des Bestechungsgeldes gesammelt stattfinden kann und nicht durch jeden einzelnen Händler geleistet werden muss, was den Handlungsablauf stark verkürzt. Wir werden noch einmal durchgezählt, dann sind wir wieder auf der polnischen Seite. Es ist 16.30 Uhr, als wir uns in die Busschlange vor der polnischen Kontrolle einreihen. Dort werden wir die nächsten fünf Stunden stehen. Vier Busse sind vor uns. Die erste Wodkaflasche wird geöffnet und macht die Runde, weißrussischer ubrówka. Eine rundliche Frau beginnt als erste, im Bus zu tanzen. Sie stellt sich in den Gang und tanzt zur Musik, die der Fahrer bestimmt. Er hat Kassetten dabei. Herr Mirek selber holt einen Campingkocher hervor und kocht sich Wasser für eine heiße Suppe. Wir essen Chips aus kleinen Tüten und trinken Wodka aus Plastikbechern, den Beata spendet. Danach wird Limonade nachgeschüttet. Jetzt beginnen auch andere zu tanzen, vorne und hinten im Bus und singen dazu. Wandas Tochter ruft an. „Hier wird telefoniert, lass uns nach hinten gehen“, sagt eine aus Rücksichtnahme. Es beginnt sich herumzusprechen, dass ich eine Arbeit über Schmuggel schreibe. Von hinten kommt Georgia und setzt sich hinter mich. Es stellt sich heraus, dass wir eine gemeinsame Bekannte in Deutschland haben. Wir sind alle ein wenig angeheitert, und obwohl sich der Bus keinen Zentimeter bewegt, ist es nicht langweilig. Ab und an gehen die Raucher nach draußen. Mit der polnischen Passkontrolle beginnt der sensibelste und unkalkulierbarste Teil der Tour für die Händler. Die Kontrolle durch den polnischen Zoll stellt das Nadelöhr für sie dar. Ihr Verlauf entscheidet über Erfolg oder Misserfolg der Fahrt. Ein polnischer Grenzschützer kommt in den Bus, und dabei handelt es sich ausgerechnet um einen Bekannten von mir. Er erkennt mich, kontrolliert die Pässe von allen, gibt mir meinen Pass am Schluss wieder und wechselt ein paar Worte mit mir. Ich sollte doch mal wieder vorbeikommen, und er freue sich, mich zu sehen. Nach-
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dem er den Bus verlassen hat, fragt Wanda mich sofort, ob das mein Bekannter sei. Ich sage die Wahrheit und denke, dass damit alles passé ist. Letzten Endes fällt diese kleine Episode aber gar nicht so sehr ins Gewicht. Nach der polnischen Passkontrolle steigt eine Zöllnerin in den Bus, sammelt die Pässe ein und fragt jeden Passagier, was er mitführt. „Na, eine Stange und einen Liter“, lautet die Standardantwort eines jeden. „Sind Sie sicher, dass es nur eine Stange ist?“, fragt die Zöllnerin freundlich ein paar Passagiere. Sie fährt mit uns in den Hangar. Es ist inzwischen 22.00 Uhr. Der Hangar ist eine große hohe Halle, in der der Bus kontrolliert wird. Es ist trist, kaputt und kalt dort. Die Kunststoffwände sind beschmiert. Wir steigen aus und gehen links die paar Treppenstufen auf die Rampe hoch. „Rauchen verboten“ verkündet ein hoch an der Wand hängendes Schild. Der mit Zigarettenstummeln übersäte Boden beweist, dass es keine große Wirkung zeigt. Auch aus unserer Gruppe stecken sich einige eine Zigarette an, aus Nervosität wegen der bevorstehenden Kontrolle. „Die ersten beiden Damen bitte“, kündigt die Zöllnerin an. Georgia und Marta folgen der Zöllnerin einen kurzen Gang hinunter in einen kleinen Raum. Kurze Zeit später kommen sie wieder heraus. Marta flüstert uns im Vorbeigehen zu: „Zeig ihr fünf Stück.“ Die Zöllnerin forderte also von ihr, fünf Päckchen herauszugeben. Wenig später sind Wanda und ich an der Reihe. Wir gehen zusammen in den kargen, dunkelgelb gestrichenen Raum, in dem ich nur einen großen Tisch wahrnehme, auf dem ein Haufen „Jin Ling“-Zigaretten liegt. Die Zöllnerin glaubt mir, dass ich nur die erlaubte Mengen von einer Stange Zigaretten und einem Liter Wodka mitführe und wendet sich Wanda zu. „Also sieben Päckchen könnten Sie schon hier hinlegen“, weist sie Wanda an. „Das haben alle so gemacht.“ Wanda reagiert bestürzt. „So viele habe ich doch gar nicht“, lügt sie. „Ach doch, hier ist ja eins“, sagt sie und zieht ein Päckchen aus der Jackentasche. „Vielleicht finde ich noch eins“, sagt sie und legt letzten Endes noch vier Päckchen auf den Stapel. Damit ist die Zöllnerin zufrieden und bittet uns, die nächsten beiden Damen herein zu rufen. „Die Mädchen sind in der Ekspedycja“, stellt Wanda fest, als draußen vor dem Hangar niemand zu sehen ist. Auch wir gehen in das runde Gebäude. Die Passagiere haben sich auf alle vier Ecken verteilt und sind eifrig dabei, Zigaretten unter ihren Kleidungsstücken hervorzuziehen, um wieder bequemer gehen zu können. Alles landet in den zahlreichen mitgeführten Plastiktüten. Ich befürchte, dass jeden Moment ein Zöllner hereinkommen kann, aber außer mir scheint sich darüber niemand Gedanken zu machen. „Hier sollten sie eigentlich nicht reinkommen“, meint Wanda. Einige rauchen, andere essen etwas. „Ich muss jetzt was essen, wegen des Stresses“, sagt Danuta und beißt in ein Sandwich. Die Frauen rekapitulieren den Verlauf der polnischen Zollkontrolle. „Ein paar hat sie an den Beinen gefunden“, resümiert Ela, „aber nicht viele.“ „Mich hat sie ein paar Mal durchsucht, das ist Schikane“, empört sich Marta. „Alles in Ordnung. Das war eine gute Zöllnerin“, freut sich Wanda. „Außerdem war alles gut versteckt.“
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Wir gehen alle hinaus und stehen vor dem Gebäude, dann bewegt sich die Gruppe zum Hangar, aus Neugierde. Schon eine Stunde wird der Bus durchleuchtet. Der Busfahrer ist dabei, zwei Zöllner suchen und suchen. „Das ist eine schlimme Schicht: Jakubek und Bocian, das bedeutet nichts Gutes“, wissen die Händler. Fast alle Zöllner haben Spitznamen: Rolnik (auf Deutsch: Bauer), Bocian (auf Deutsch: Storch), Down, Fanda, Barbi, Hitler, Hiszpan (auf Deutsch: Spanier) usw. Die Zöllnerin Magda verlässt den Hangar und kommt zurück. „Guten Tag“, grüßt Luisa sie. Sie grüßt zurück und fragt leise in die Menge, ob jemand Lift-Zigaretten habe. Sie würde sie für eine andere Marke tauschen. Sofort holt eine Frau eine Stange der gewünschten Marke hervor. „Gib ihr doch nicht alle, obwohl, das ist die Norm, das kannst du ihr ruhig geben“, werden ihr schnell Ratschläge erteilt. Ich frage, was das bedeutet. Die Zöllnerin hat das Strafmandat für den Bus aufgesetzt und genau aufgeschrieben, wie viele Zigaretten von welcher Marke gefunden wurden. Nun fehlt aus unerklärlichen Gründen eine Stange Lift, und um keinen Ärger mit ihrem Chef zu bekommen und das Mandat nicht noch einmal schreiben zu müssen, braucht sie diese bestimmte Stange und gibt der Händlerin dafür eine andere. Um kurz vor 23.30 Uhr ist die Kontrolle des Busses durch den Zoll beendet. Herr Mirek fährt aus dem Hangar rückwärts heraus und parkt daneben. Alle stürmen hinein und prüfen, wie viele Zigaretten noch da sind. Zwei einzelne Päckchen liegen unschuldig auf dem Boden. Die hat der Zoll wohl einfach vergessen, oder sie sind ihm heruntergefallen. Durchweg sind die Passagiere zufrieden. Wanda hat nur acht Päckchen im Bus verloren, das ist nicht viel. Es wurden nicht alle Sitze durchsucht. Es wurden auch nicht alle Päckchen in einem Sitz gefunden, zumindest nicht alle mitgenommen. Schnell wird alles eingepackt und der Bus wieder in Ordnung gebracht. Die Gardinen werden wieder ordentlich hinter die Halter geklemmt, die Sitzbezüge geglättet. Dieses Mal nimmt Beata das Strafmandat auf sich, dessen Höhe sich nach der Anzahl der gefundenen Zigaretten richtet. Dieses Mal müssen 360 Zoty bezahlt werden. Geteilt durch 18 Personen, macht das 20 Zoty für jeden. Das sei nicht viel, sagt Wanda. Bis 25 Zoty ist so ein Mandat normal. Beata sammelt von jedem 20 Zoty ein. Im Bus wurden ca. 20 Stangen gefunden, mutmaßen die Schmuggler aufgrund der Höhe des Mandates, das innerhalb von sieben Tagen beglichen werden muss. Um Mitternacht Uhr fährt der Bus los, alles ist eingepackt. Auf dem Weg nach Bezledy steht ein Auto des Grenzschutzes an der Straße und begutachtet ein angehaltenes Auto. Auf der Hälfte des Weges nach Bartoszyce hält der Busfahrer auf einmal an einer Haltestelle an. „Nun aber schnell an die Arbeit“, ruft er seinen Passagieren zu. Die letzten Spuren werden beseitigt, indem Tesafilm von den Wänden abgekratzt wird, abgenommene Kleinteile wieder genau eingesetzt werden. Es ist 00.30 Uhr. Ich verabschiede mich von Wanda, Marta, Georgia, Mariana, Ela. Einige von ihnen werden am nächsten Tag auf dem Markt in Bartoszyce stehen, um ihre geschmuggelten Waren zu verkaufen. Andere übergeben die Ziga-
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retten einem Zwischenhändler und nutzen die so gewonnene Zeit für eine erneute Reise nach Russland. Aus dieser Beschreibung lassen sich zwei Beobachtungen ableiten, die Aufschluss über die generelle Funktionsweise des grenzüberschreitenden Kleinhandels an der polnisch-russischen Grenze geben und im Folgenden erläutert werden. 1. Beobachtung zu den Rahmenbedingungen des Schmuggels: Der Schmuggel ist in eine regionale Schmuggelinfrastruktur mit legalen und illegalen Elementen eingebettet und kann nur vor dem Hintergrund der Gültigkeit spezifischer regionaler Normen verstanden werden. „Ich denke, solange es die Grenze gibt, gibt es Schmuggel, das ist normal.“ (Georgia) 2. Beobachtung zu der Ausgestaltung des Schmuggels durch die Schmuggler: Ziel der Schmuggler ist ein möglichst geringer Warenverlust. Zum Erreichen dieses Ziels wenden sie unterschiedliche Risikovermeidungsstrategien an, die auf Vertrauens- und Misstrauensbeziehungen zu unterschiedlichen Akteuren basieren. „Weil man fährt, weißt du, jeder mit einer Vertrauensperson, und der Rest interessiert dich nicht.” (Wanda) 5.1.1
Rahmenbedingungen des Schmuggels
In obiger Beschreibung wird auf den Ankauf der Waren in Russland, ihren Transport im Linienbus über die Grenze und auf ihren Verkauf auf dem Markt in Bartoszyce eingegangen, also auf die drei Stufen des grenzüberschreitenden Kleinhandels (Egbert 2006: 349), die an dieser Stelle erläutert werden sollen, da sie Grundelemente einer grenzüberschreitenden Schmuggelinfrastruktur darstellen. Mit der Ausbreitung des grenzüberschreitenden Kleinhandels hat sich im Laufe der Zeit eine eigene Schmuggelinfrastruktur entwickelt, die sich über Polen und Russland erstreckt und sowohl legale als auch illegale Elemente beinhaltet. Verkaufsbuden auf russischer Seite Ein Element der Schmuggelinfrastrukturkette stellen die grenznahen Verkaufsbuden auf russischer Seite dar. Sie sind vollständig auf die Bedürfnisse von Schmugglern abgestimmt und beziehen ihre Gewinne ausschließlich aus dem Verkauf von Waren an Schmuggler. Erstens befinden sie sich in unmittelbarer Grenznähe, wodurch die Transportkosten niedrig gehalten werden können. Zweitens ist ihr Warenangebot genau auf die Nachfrage der Schmuggler zugeschnitten. So besitzt Wandas Stammbude einen ganzen Lagerraum ausschließlich für Zigaretten, wohingegen die weiteren Verkaufsartikel wie Süßigkeiten oder Tee auf einem kleinen Regal ausliegen. Schon die äußere Dekoration der Buden wie die riesengroße Zigarettenpackung auf Wandas Stammbude deutet auf ihre wichtigsten Verkaufsgüter hin. Drittens bieten die Bungalows neben dem reinen Verkauf der gewünschten
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Waren noch einen geschützten Rückzugsort an, um die Waren und sich selbst auf den Transport nach Polen vorzubereiten und alles in Ruhe einzupacken. Hinter dem Verkaufsraum bieten die Gebäude ein weiteres Zimmer mit Tischen und Stühlen und genug Platz, um die Waren ausbreiten und verstauen zu können. Einen weiteren Indikator für die ausschließliche Nutzung der Verkaufsbuden für den Schmuggel liefern die Garagen, die an einige Verkaufsräume angrenzen. Hier können Autos unbeobachtet bepackt werden. Spezielle Geräte helfen dabei, Zigaretten in schwer zugänglichen Orten wie in den Reifen zu verstecken. Der Linienbus Ein weiteres sichtbares Kennzeichen der Schmuggelfinfrastruktur ist der Linienbusverkehr der staatlichen polnischen Busgesellschaft PKS, der im Jahre 2000 eingerichtet wurde – wegen der hohen Nachfrage, wie der Direktor des Bartoszycer PKS-Büros sagt. „Aus ökonomischer Sicht kam es dazu aufgrund der Nachfrage dieser Art von Dienstleistung, also dieser Transportform, d.h. es gab Menschen, Passagiere, die fahren wollten.“ Diese Aussage wird von vielen Schmugglern in Interviews bestätigt. „Und später, als sie diese Linienbusse einführten bei uns am Bahnhof, da haben die Leute angefangen zu fahren.” Ein Mitarbeiter des Busunternehmens bringt die Angelegenheit auf den Punkt. „Wie die Linie nach Bagrationowsk entstanden ist, wollen Sie wissen“, lacht er. „Das müssen Sie die Schmuggler fragen, nicht mich.“ Bis 2005 fuhren pro Tag vier PKS-Busse die Strecke Bartoszyce – Bagrationowsk, um 06.00 Uhr, 12.30 Uhr, 18.00 Uhr und 21.45 Uhr. Infolge sinkender Passagierzahlen wurde im Laufe jenes Jahres der frühmorgendliche Bus abgeschafft. Zusätzlich zu den polnischen Linienbussen fahren pro Tag vier Busse des russischen Partners die gleiche Strecke. Darüber hinaus fahren auch die sogenannten „turystyczny“-Busse, die nicht nach Fahrplan, sondern nach privat festgelegten Terminen unterwegs sind, sowie Linienbusse privater Unternehmen. Ein Charakteristikum eines Linienbusses besteht darin, dass er ein öffentliches Transportmittel ist. Deshalb werden Schmuggelfahrten von Uneingeweihten als öffentlicher Transport von Passagieren wahrgenommen. Tatsächlich wird die Linie Bartoszyce – Bagrationowsk aber nur von einem Ausschnitt der Öffentlichkeit benutzt, der die Linienbusfahrt zu einem eher privaten und geschlossenen Ereignis werden lässt. Fakt ist, dass mindestens 85 Prozent aller Personen, die die polnischrussische Grenze überschreiten, dies mit dem Ziel des Schmuggels tun (Interview mit Zollbehörde, 18.05.2006). Folglich beschäftigen sich auch die meisten Passagiere eines grenzüberschreitenden Linienbusses mit dieser Tätigkeit. Dass dem so ist, konnte ich während der Fahrten feststellen, die ich begleitete. Außer mir schmuggelten alle Passagiere. Der private geschlossene Charakter einer Linienbusfahrt nach Russland zeigt sich zum Beispiel daran, dass es Stammplätze und feste Warenverstecke gibt, die bestimmte Personen nutzen dürfen, andere nicht. Auch das Verhalten des Busfahrers lässt ähnliche Schlüsse zu. Obwohl die fahrplanmäßige Ab-
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fahrtszeit des Busses mit 12.30 Uhr angegeben ist, blickt er eine Viertelstunde vorher in sein Fahrzeug, schließt die Türen und fährt los. „Wir sind doch jetzt alle beisammen. Es ist doch keiner mehr da, der noch mitfahren wollte“, urteilt er. Die Wahrscheinlichkeit, dass unerwartete, fremde Fahrgäste auftauchen, schätzt er also als sehr gering ein. Ein zweites Merkmal des allgemeinen Linienbusverkehrs liegt in seiner Legalität. Aufgrund der oben genannten Besonderheiten der Strecke Bartoszyce – Bagrationowsk wäre es für das Busunternehmen aber von wirtschaftlichem Nachteil, sich genauestens an alle Regeln zu halten. Diese sehen z.B. vor, dass der Busfahrer dem Zoll meldet, wenn er weiß oder sieht, dass in seinem Fahrzeug Schmuggelware versteckt ist. Ein Mitarbeiter des Busunternehmens sagt: „Gewiss verstecken sie irgendetwas, auf eigenes Risiko, der Busfahrer ist verpflichtet, dem Kontrolleur mitzuteilen, wenn er erfährt, dass sie [die Passagiere, B.B.] irgendwo etwas verstecken. Aber wenn er das nicht sieht, weiß er es nicht. Weil wenn jemand ganz hinten was versteckt oder etwas an sich trägt, dann ist er dafür nicht verantwortlich. Allerdings trägt er Verantwortung für Ware, die offen und sichtbar herumliegt, so etwas sollte ein Busfahrer nicht zulassen.“ Da es gar nicht möglich ist, das Verstecken der Waren vor dem Busfahrer zu verheimlichen, wäre er also jedes Mal verpflichtet, den Zoll auf versteckte Waren hinzuweisen. Diese Vorgehensweise würde aber den Interessen der Zielgruppe zutiefst zuwiderlaufen, wegen deren Nachfrage der Busverkehr erst eingerichtet wurde. Deshalb überrascht die kooperative Unterstützung des Fahrers und seine ausdrückliche Erlaubnis, die Waren im Fahrzeug zu verstecken, nicht. Mit dem Umgehen von Regeln sichert er letzten Endes seinen Arbeitsplatz, denn das Unternehmen ist auf Fahrgäste angewiesen. Werden deren Bedürfnisse gewahrt, werden sie weiterhin den Bus nutzen. Auch sie sind auf ihn angewiesen, denn er bietet die einfachste, günstigste und schnellste Möglichkeit, die Strecke zurückzulegen. Deshalb fahren viele Schmuggler so häufig wie möglich, um den Busverkehr aufrecht zu erhalten, wie Georgia schildert: „Ich fahre vielleicht nicht jeden Tag, aber fast, einfach, um den Kurs aufrechtzuerhalten, weil wenn wir nicht im Linienbus fahren, können sie die ganze Strecke einstellen, die Leute müssen fahren.“ Der Linienbus als ein Element einer komplexen Schmuggelinfrastruktur wird als äußerlich öffentliches und gesetzestreues legales Transportmittel dargestellt, das eine illegale Routine garantieren kann, indem die Bedürfnisse von Passagieren und Busgesellschaft für beide Seiten zufriedenstellend berücksichtigt werden. Kurz nach Aufnahme der Linienbusfahrten gab es einen starken Andrang auf die Bustickets, wodurch die Schmuggelinfrastruktur die Ausübung einer weiteren Dienstleistung ermöglichte und somit eine neue Einkommensquelle schuf: den Aufkauf großer Mengen Bustickets im Voraus, die dann an die Schmuggler mit einem Aufpreis weiterverkauft wurden. Die Schmuggler hatten damals keine andere
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Wahl, als die Tickets von der „Mafia“ oder von den „koniki“79 zu erwerben. Die Tatsache, dass sie dies taten und die Busse ausgelastet waren, zeigt, dass sich die Fahrt nach Russland trotz der erhöhten Ticketpreise lohnte und sowohl Schmuggler als auch Fahrkartenhändler Gewinn machten. Markt in Bartoszyce und Warenverkauf in der Stadt Zwischen zwei Supermärkten breitet sich der unbefestigte Marktplatz der Stadt aus. Blau-weiß gestrichene Stoffplanen schützen die Marktstände vor Regen. Neben Kleidungsstücken, Werkzeugen, Schuhen befinden sich zu Pyramiden aufgetürmte Waschmittelkartons. Bunte Plastiktüten und die obligatorische schwarze BOSSTüte werden, an Wäscheleinen geklammert, zum Verkauf feilgeboten. In kleinen roten Kiosken kann man sich mit Zapiekanka80 und Hamburgern stärken. Der asphaltierte Weg, der in dieses Getümmel führt, ist tagtäglich von Händlern gesäumt, die aus Russland geschmuggelte Zigaretten und Wodkasorten anbieten. Der Markt ist gleichzeitig Beginn und Ende des Schmuggelkreislaufs. Hier heimsen Händler den Lohn für die langen Fahrten nach Russland ein, indem sie ihre mitgebrachten Waren verkaufen. Der daraus erzielte Verdienst ist aber gleichzeitig Voraussetzung für den erneuten Ankauf von Waren. Auf dem Markt finden also Aktivitäten der ersten und dritten Stufe des grenzüberschreitenden Kleinhandels statt, nämlich „raising of capital“ und „selling of goods“ (Egbert 2006: 349). Diese Aktivitäten werden aber nicht unbedingt von den gleichen Personen ausgeführt, die auch die zweite Stufe des Kleinhandels, den Transport der Güter über die Grenze, erfüllt haben. Der Markt als Teil der Schmuggelinfrastruktur stellt eine Einnahmequelle für weitere Personen dar: Menschen, die als Zwischenhändler den grenzüberschreitenden Kleinhändlern ihre Waren abkaufen und mit dem Verkauf an Endabnehmer ein wenig verdienen können. Verkaufen heißt, bei Wind und Wetter stundenlang mit einer kleinen Warenauswahl als Glied einer Menschenkette auf Kunden zu hoffen und dabei stets wachsam zu sein, um einer jederzeit möglichen Polizeikontrolle zu entgehen. Über den Verkäufern, an der Wand des angrenzenden Supermarktes, hängt ein Schild. „Handeln verboten“ steht darauf. „Weil das ist doch auch nicht legal, absolut nicht“, weiß eine Händlerin. „Das alles ist nicht legal, wie auf der ganzen Welt, du stehst irgendwo, heimlich, verstohlen.“ Die im Folgenden beschriebene Situation verdeutlicht, womit die illegal Verkaufenden rechnen müssen. An einem sommerlichen Vormittag ist die Schlange der Händler auf dem Markt besonders lang. Plötzlich taucht ein uniformierter Polizist an der Straße auf, die auf den Markt führt. Innerhalb von Sekunden hat sich die Schlange aufgelöst. Eine Händlerin versteckt sich hinter einem Baum auf der kleinen Wiese hinter den ersten Marktständen. Ein 79 80
„Konik“ heißt soviel wie Pferdchen und wird zur Umschreibung eines Schwarzverkäufers genutzt. Bei einer Zapiekanka handelt es sich um ein langes Baguette mit Pilz- und Ketchupbelag.
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Mann wartet hinter einem Stand. Mehrere Personen flüchten in das benachbarte Einkaufszentrum und schauen von oben aus dem Fenster, ob sich der Beamte noch auf dem Marktgelände aufhält. Sein Verschwinden wird beobachtet, und kaum ist er in seinen Wagen gestiegen, stellen sich die Händler wieder in der gleichen Reihenfolge wie vor dem Zwischenfall auf. Als sei nichts geschehen. All dies hat keine zehn Minuten gedauert und deutet auf Folgendes hin: Die Händler sind auf unangekündigte Kontrollen eingestellt und richten ihren Verkaufsstil danach. Eine geringe Warenmenge, die darüber hinaus eingepackt ist, garantiert schnelle Bewegungen und hohe Mobilität. Die Information einer sich nähernden Kontrolle kann schnell verbreitet werden, da die Händler dicht an dicht stehen. Nicht zuletzt bietet das Marktumfeld den Händlern vielfältige Möglichkeiten, sich unauffällig unter die Marktkunden zu mischen. Mit Tüten bepackte Personen fallen zwischen den Ständen überhaupt nicht auf. Der Rollenwechsel vom illegal agierenden Händler zu einem gemeinen Marktkunden funktioniert wegen der Einbettung des illegalen Handelns in das legale Markttreiben. Die schnelle Rückkehr der Händler an ihre ursprünglichen Plätze deutet darauf hin, dass es sich bei dem Verkauf um ein begrenztes Risiko handelt. Es wurden drei konstituierende Elemente der Schmuggelinfrastruktur der Strecke Bartoszyce – Bagrationowsk vorgestellt, in denen die drei Phasen des grenzüberschreitenden Kleinhandels ablaufen: der Linienbus, die Warenverkaufsräume auf russischer Seite und der Marktplatz in Bartoszyce. Diese Schmuggelinfrastruktur beinhaltet eine in sich verzahnte Verdienstkette. Nicht nur die in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehenden grenzüberschreitenden Schmuggler verdienen an der illegalen Handelstätigkeit, sondern, wie oben dargelegt, eine Vielzahl von Menschen, die weitere Dienstleistungen innerhalb der Schmuggelinfrastruktur an der polnischrussischen Grenze ausüben. Die folgende Grafik, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, soll die Reichweite der Schmuggelindustrie veranschaulichen. Aufgrund ihres teilweise illegalen Charakters kann ihre Funktionsweise nur vor dem Hintergrund der Gültigkeit eigener regionaler Normen begründet werden, die im folgenden Abschnitt dargestellt werden. Die langfristige Aufrechterhaltung und Nutzung der oben beschriebenen komplexen Schmuggelinfrastruktur mit illegalen Elementen wie dem Warenkauf in Russland, dem Transport unverzollter Waren über die Grenze und dem Verkauf der Waren in Polen kann nur vor dem Hintergrund einer breiten Akzeptanz des Schmuggels der regionalen Entscheidungsträger, der Einwohner und der im Schmuggel aktiven Personen funktionieren, wie im Folgenden dargestellt werden soll.
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Vertreter der öffentlichen Verwaltung als regionale Entscheidungsträger bewerten die Schmuggeltätigkeit vieler Einwohner Bartoszyces ambivalent. Gut nachvollziehen lassen sich die Argumentationen am Beispiel des Sozialamtes81 in Bartoszyce. Abbildung 13: Schmuggelinfrastruktur und an ihr verdienende Akteure
Die Leitung des Sozialamtes spricht sich entschieden gegen den Schmuggel aus. „(…) das ist kein Treiben, das wir unterstützen. Natürlich nicht, das ist eine Tätigkeit, die im Widerspruch zum Gesetz steht.“ Nichtsdestotrotz ist sich die Leitung bewusst, dass viele ihrer Leistungsempfänger ihr Einkommen mit Schmuggel aufbessern. Die folgende Äußerung verdeutlicht exemplarisch die ambivalente Haltung zum Schmuggel, die die geltenden Normen prägt. „Das [der Grenzhandel, B.B.] ist ein notwendiges Übel, und vom moralischen Standpunkt aus gesehen ist er sehr negativ zu bewerten. Aber auf der anderen Seite, wenn jemand für sich fährt, die
81 In Bartoszyce haben der MOPS (=Miejski Orodek Pomocy Spoecznej, Stadt-Sozialamt) und der GOPS (=Gminny Orodek Pomocy Spoecznej, Land-Sozialamt) ihren Sitz. Im Folgenden wird von beiden Institutionen die Rede sein.
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sogenannten Ameischen, d.h. die Personen, die bei uns und an der Grenze sind. Sie verdienen auf so einem Niveau, dass es für’s Brot reicht.“ Das im Zitat verwendete Diminutiv von „Ameise“ deutet auf die finanziell geringe Bedeutung der Schmuggeltätigkeit hin. Schmuggel wird aufgrund seiner Illegalität abgelehnt; seinen Konsequenzen jedoch, nämlich der Aufbesserung der finanziellen Situation der ihn betreibenden Familien, steht das Sozialamt positiv gegenüber, da so Kosten gespart werden können. „Der Sozialarbeiter (2), das ist so, dass die Sozialarbeiter die Milieus hervorragend kennen, also können sie auch bestens beurteilen, was sie dort verdienen. Und die Skala bewerten, was wir ihnen geben sollten.“ Offiziell distanziert sich das Amt damit vom Schmuggel und unterstützt ihn ausdrücklich nicht, gleichzeitig profitiert es aber vom durch Schmuggel erzielten Einkommen. Schmuggel dient dem Sozialamt als Rechtfertigung für die Reduzierung seiner finanziellen Unterstützung des Einzelnen, indem Schmuggel als reguläre Einkommensquelle anerkannt wird. Damit korrespondiert der Bericht einer Schmugglerin von einer Bekannten, die sich ans Sozialamt wandte und von dort aufgefordert wurde, es doch zunächst einmal an der Grenze zu versuchen. „Am schlimmsten ist das, so empörend, dass meine Bekannte, sie fuhr nicht nach Russland. Sie ging zur Fürsorge, damit sie ihr helfen (2). Weißt du, was die Dame von der Fürsorge ihr gesagt hat? (1) ‚Bitte, so viele Leute wissen sich zu helfen, und Sie können nicht an die Grenze fahren?’ (...) Das ist am empörendsten, dass, wenn Leute zur Fürsorge gehen, dass sie es fertig bringen zu sagen, so viele Leute wissen sich zu helfen, fahren an die Grenze, und Sie fahren nicht.“ Die Tatsache, dass Schmuggel weit verbreitet ist und vielen Menschen als Einnahmequelle dient, dient hier der Verwaltung als Argument der Verweigerung von Beihilfen. Nicht schmuggeln zu wollen, wird als Bequemlichkeit gedeutet, als Unwillen, sich um den eigenen Lebensunterhalt selbst zu bemühen. Das Recht auf sozialstaatliche Unterstützung wird mit dem Hinweis auf die Aufnahme illegaler Tätigkeiten verweigert. Staatliche Vertreter selbst biegen also die Normen, auf denen ihre Entscheidungen beruhen und werten dadurch die Schmuggeltätigkeit moralisch stark auf, indem diese als offizielle Einnahmequelle anerkannt wird. Die obige Schilderung wird durch eine Mitarbeiterin des Amtes bestätigt, die selber an den Wochenenden Schmuggelfahrten nach Russland unternimmt. Sie hat kein Verständnis für Menschen, die sich lieber vom Sozialamt versorgen lassen als sich selber an der Grenze etwas hinzu zu verdienen. Anstatt zu jammern, sollten sie lieber per Autostopp zur Grenze fahren und mit ein, zwei Stangen 30 - 40 Zoty. Gewinn machen. Sie meint, dass Leute, die in anderen Regionen Polens wohnen, sie
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hier beneiden, weil die Grenznähe ihnen die Möglichkeit gibt, Geld zu verdienen. Für sie ist es also moralisch verwerflich, die Gelegenheit nicht zu nutzen, die die Grenznähe bietet, und stattdessen dem Staat auf der Tasche zu liegen. Die illegale, aber auf Eigeninitiative beruhende Tätigkeit des Schmuggelns wird der legalen, aber passiven Leistungsbeziehung moralisch vorgezogen. Auch die Stadtverwaltung macht durch ihre ambivalente Bewertung des Schmuggels die Eigenarten der vor Ort geltenden Normen deutlich. Die Leitung der Verwaltung stellt heraus, dass Schmuggel auf der einen Seite im informellen Sektor angesiedelt und deshalb „tadelnswert“ ist. Diese offizielle Feststellung spiegelt auf der anderen Seite allerdings nicht deren persönliche Meinung wider, was das folgende Zitat veranschaulicht. „(...) Trotz des sehr großen wirtschaftlichen Kollapses in dieser Region wissen sich die Einwohner irgendwie zu helfen, d.h. es funktioniert der sogenannte, der Handelstourismus, das ist in der Grauzone zweifellos, das ist ein tadelnswertes Phänomen. Wenn wir nicht im Stande sind, für die Leute Erwerbsalternativen auszuarbeiten, dann ist es mit Sicherheit auch für uns, die Behörden, leichter, wenn die Leute sich zu helfen wissen und nicht mit jeder Armut zu uns finden. (...) Aber wenn wir nicht im Stande sind, Alternativen anzubieten, d.h. konkrete Arbeitsplätze, dann erachte ich das nicht als völlig tadelnswert. Nicht wir, die lokalen Vogte sind Schuld an der wirtschaftlichen Situation des ganzen Landes, sondern der Systemwechsel (...).“ Für die Verwaltungsleitung der Stadt bedeutet der Schmuggel in erster Linie eine Entlastung seines Budgets und ist ein Beweis für die Eigeninitiative und die Aktivität seiner Einwohner, die damit individuelle Flexibilität in der Marktwirtschaft zeigen. Diese pragmatische Sichtweise auf den Schmuggel ist ein Kennzeichen seiner normativen Bewertung. Wie die Schmuggler selbst legitimiert auch die Leitung der Stadtverwaltung Schmuggel mit Verweis auf die hohe Arbeitslosigkeit. Sie vermeidet es dabei aber, die gesamte Verantwortung für die Ausbreitung des Schmuggels selbst zu tragen, sondern sieht die Ursache dafür in der wirtschaftlichen Transformation Polens. Letzten Endes stärkt ihre Haltung die regionale Akzeptanz von Schmuggel, da die offizielle Haltung der Stadtverwaltung auch von den Schmugglern wahrgenommen wird. „Aber, ich nehme an, dass sie [Behörden, B.B.] zufrieden sind, dass die Leute nicht öfter zur Fürsorge gehen müssen, weil sie dafür zahlen müssen, dass sie es vorziehen, an die Grenze zu fahren, als dass sie dafür zahlen müssten.“ (Piotr) Schmuggel wird von den ihn Ausführenden sehr wohl als illegale Handlung betrachtet, die von ihnen allerdings durch unterschiedliche Gründe moralisch legitimiert wird. Am häufigsten wird die eigene Schmuggeltätigkeit mit finanziellen Notwendigkeiten begründet, die fast immer mit eigener Langzeitarbeitslosigkeit zusammen-
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hängen, wie die Aussagen von Wanda und Ela in obiger Beschreibung deutlich machen (vgl. S. 124, 126). Schmuggel wird dabei als einziger Ausweg gesehen, um den durch die Arbeitslosigkeit entstandenen Verdienstausfall zu kompensieren. Die Schmuggeltätigkeit wird nicht freiwillig aufgenommen, sondern als Ergebnis bestimmter äußerer Umstände dargestellt, die keine freie Auswahl der Form der eigenen finanziellen Versorgung zulassen. So betonen sehr viele Interviewpartner den äußeren Zwang zum Schmuggel.82 Damit machen sie deutlich, dass ihre Entscheidungsfreiheit durch äußere Einflüsse eingeschränkt ist und die Schmuggeltätigkeit nicht unbedingt ihrem Willen entspricht, sondern ökonomischen Notwendigkeiten gehorcht. Schmuggel steht für die Kompensation nicht nur von Verdienstausfall wegen fehlender Erwerbstätigkeit, sondern auch von staatlichen Leistungen. Schmuggel wird also neben der persönlichen wirtschaftlichen Lage auch durch das wahrgenommene Unvermögen des Staates legitimiert, Arbeitsplätze zu garantieren und, wenn der Staat dabei versagt, Sozialunterstützung zu zahlen. Diese Forderung überrascht nicht ob des aus sozialistischen Zeiten gewohnten moralischen Anspruches an den Staat, für Arbeitsplätze zu sorgen. So sagt ein Schmuggler: „Die Leute sind gezwungen in dieser Region, es gibt keine Bedingungen, es gibt keine Arbeit, Arbeitslosengeld gibt es nicht, die Sozialhilfe hat kein Geld, so versorgen sich die Leute damit, retten sich.“ (Arek) Sich auf den Staat zu verlassen, wird oftmals für nicht lohnenswert und für keine echte Alternative gehalten. Die Tatsache, dass die angebotene Sozialunterstützung zur Garantie des Lebensunterhalts nicht ausreicht (vgl. Kapitel 3), führt zur moralischen Legitimierung der eigenen Schmuggeltätigkeit. Andere möchten die staatliche Hilfe nicht in Anspruch nehmen und bewerten die Schmuggeltätigkeit als moralisch hochwertiger. Das folgende Zitat zeigt, dass Schmuggel eine alternative Möglichkeit bietet, sich aus eigener Kraft versorgen zu können. Aufgrund der damit realisierten Verantwortungsübernahme für die eigene Person wird der Schmuggel dem als Bittstellen empfundenen Beantragen staatlicher Leistungen vorgezogen. „Und das [Arbeit, B.B.] gibt es nicht. Russland blieb übrig. Also Geld, nein, ich gehe nicht, wohin kann ich gehen. Außer zur Fürsorge und bitten, dass sie mir was geben. Na, aber das ist doch nichts, dort muss man den ganzen Tag stehen, um was zu bekommen, ich weiß nicht, wie viel sie geben, 20, 30 Zoty. Aber dort muss man hingehen, dort kannst du hingehen. Etwas dort ausfüllen. Aber nimm, geh und bitte dort mal um etwas. Na, ich ziehe Russland vor. Weißt du, 82
„Ich war gezwungen” („Byem zmuszony”); allein diese Formulierung benutzten neun von 22 Interviewpartnern.
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du verdienst nicht legal, aber du verdienst. Ich klaue das nicht. Ich habe nur, man muss betrügen, leider, das ist wahr.“ (Jerzy) Da Jerzy für sich keine Möglichkeit sieht, legale Arbeit auszuüben, stellt Schmuggel für ihn die beste Alternative dar, mit der er durch eigene Leistung Geld verdienen kann. Das Sozialamt als Einnahmequelle ist für ihn moralisch weniger hoch anzusehen als seine illegale Tätigkeit, da eine Versorgung durch das Amt bedeutet, sich nicht aus eigener Kraft zu versorgen. Geld aber „irgendwoher zu nehmen“ sieht Jerzy als verwerflich an, ebenso wie Diebstahl. Sowohl Schmuggel als auch Diebstahl sind illegale Tätigkeiten. Die Illegalität des Schmuggels verliert aber ihre moralische Verwerflichkeit, da sie für Jerzy nur ein unvermeidliches Nebenprodukt des Prozesses ist, mit dem er sich aus eigener Kraft über Wasser halten kann. Diebstahl hingegen steht für Jerzy eher auf gleicher Stufe mit der Versorgung durch das Sozialamt, da die Versorgung aus diesen beiden Quellen auf fremdem Kapital basiert. Beim Schmuggel hingegen investiert er sein eigenes Vermögen. Eine dritte Legitimierung des Schmuggels durch die ihn ausführenden Akteure besteht also im Vergleich mit anderen illegalen Alternativen, durch den die Investition eigener Arbeitskraft in die Schmuggeltätigkeit diese entkriminalisiert und moralisch aufwertet. Der Regelbruch wird hingenommen in Anbetracht der eigenen Arbeit und Mühe, die in die Schmuggeltätigkeit gesteckt wird. Schmuggel wird also erstens moralisch legitimiert mit persönlicher Arbeitslosigkeit und damit einhergehenden finanziellen Notlagen. Die als mangelhaft wahrgenommene staatliche soziale Absicherung und die Inkaufnahme der Illegalität des Schmuggels werden zweitens als unvermeidbare Konsequenz einer dadurch erreichten selbstverantwortlichen Versorgung gesehen. In der moralischen, auf eine dritte Art den Schmuggel legitimierenden Bewertung von bisher angesprochenen Einkommensmöglichkeiten steht legale Erwerbsarbeit ganz oben, gefolgt von Schmuggel, Versorgung durch das Sozialamt und Diebstahl. Trotz dieser mehrfachen Legitimation wird Schmuggel von den ihn Ausführenden gleichzeitig mit Scham belegt. Man ist nicht stolz auf sein Engagement im Schmuggel, man tut es aus pragmatischen Gründen und im Stillen. Die Tätigkeit des Schmuggelns an sich wird als demütigend und erniedrigend empfunden: „Und ich wollte nicht zu den Russen fahren. Man war dazu gezwungen. Das ist so eine Erniedrigung, Scham, dass du andere Menschen anlügen musst, diese Zöllner, obwohl du diese Pfeifen an dir hast, und sie behandeln dich, leider, als wären sie was Besseres, diese Zöllner, und du was Schlechteres.“ (Joanna) Die gleichzeitige mehrfache Legitimierung der Schmuggeltätigkeit deutet darauf hin, dass der Schmuggel in Bartoszyce normativ akzeptiert und dadurch erst ermöglicht wird. Die gleichzeitige Schamhaftigkeit im Umgang mit dem Thema Schmuggel
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zeigt aber die Persistenz der allgemeingültigen, als apodiktisch aufgefassten Regeln, Normen und Gesetze, die in den regional gültigen Normen umgedeutet werden. Die ambivalente Bewertung des Schmuggels deutet auf einen Widerstreit zwischen denjenigen Normen hin, die sich regional herausgebildet haben und inoffiziell gelten, und denjenigen, die durch verbindlich geltende Gesetze manifestiert werden. Die im Methodenkapitel beschriebenen Schwierigkeiten bei der Datenerhebung (vgl. S. 109f.) sind ebenfalls ein Indiz dafür, dass es zwar eine regionale Akzeptanz des Schmuggels und ihn unterstützende Rahmenbedingungen gibt. Schmuggel gilt unter den ihn Ausführenden nicht als krimineller Akt, sondern als aktive Kompensationsleistung der durch Arbeitslosigkeit und mangelnde soziale Absicherung hervorgerufenen Unsicherheiten, bei der die teilweise Illegalität billigend in Kauf genommen wird ob der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts. Trotzdem reichen die dargestellten Legitimierungen der Schmuggler in Bezug auf die eigene Tätigkeit nicht aus, um Schmuggel als eine Arbeit wie andere auch zu begreifen. Die Illegalität der Tätigkeit, die durch bestehende Gesetze definiert wird, führt zu einer schamhaften und defensiven Auseinandersetzung mit der Schmuggeltätigkeit. Die Einwohner von Bartoszyce, die nicht selber schmuggeln, aber deren Alltag doch mit Schmuggel verwoben ist, sei es durch schmuggelnde Bekannte, Erwerb von geschmuggelten Waren etc., nehmen den illegalen Handel größtenteils sehr positiv auf. Für diese Haltung lassen sich mehrere Gründe anführen. Erstens profitiert die Stadt aufgrund der erweiterten Kaufkraft der Schmuggler (vgl. Kapitel 3). Das durch Schmuggel erworbene Geld wird investiert in Geschäfte, neue Dienstleistungen entstehen, wovon alle Einwohner profitieren. Die Grenznähe erleichtert den Schmuggel, deshalb wird sie als wichtiger Standortvorteil aufgefasst. „Hier wird alles durch den Schmuggel aufrecht erhalten, weil wir es gut haben, dass wir es nah zur Grenze haben“, schätzen Reporter der Lokalzeitung für den Kreis Bartoszyce, „Goniec Bartoszycki“. Schmuggel wird also gern gesehen, da er die lokale Wirtschaft ankurbelt. Eine Bibliothekarin hat folgenden Eindruck: „Dass die Leute handeln, (2) hat positiven Einfluss auf die Stadt im ökonomischen Sinn, na weil das die ganze Maschinerie antreibt, dass heißt, wenn sie Geld haben, ich weiß nicht (.), sie klauen nicht, sie kombinieren nicht auf andere Art und Weise, sie haben nur stabile Einkünfte und irgendwie verwenden sie dieses Geld, ob sie eigene Läden eröffnen, die als Tarnung für die Einnahmen aus dem Schmuggel gelten, das passiert sehr oft, oder irgendeine andere Tätigkeit, (...) und darüber hinaus machen sie den Einwohnern Dienstleistungen zugänglich, die es früher hier nicht gab, Tankstellen oder Autowäschereien zum Beispiel.“ Wiederum wird Schmuggel zunächst moralisch als hochwertiger betrachtet als Diebstahl. Dazu kommt seine gesellschaftliche Funktion, die in der Verbesserung der Dienstleistungs- und Versorgungsinfrastruktur besteht. Wenn der Schmuggelgewinn vor Ort investiert wird, profitiert nicht nur der Schmuggler selbst von sei-
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nem Gewinn, sondern indirekt auch die lokale Gesellschaft. Die Verbesserung der Lebensqualität der Bartoszycer Bevölkerung wird hier als Grundlage der moralischen Legitimierung des Schmuggels angesehen. Zweitens wird Schmuggel vor allem als positiv zu bewertende pragmatische Eigeninitiative von Einzelnen aufgefasst, die damit ein gesellschaftlich höchst anerkanntes Ziel verfolgen, nämlich ihre Familie zu ernähren. Das Erreichen dieses Ziels wird allgemein als wichtiger erachtet als die Einhaltung aller Regeln. Mit anderen Worten: Regeln müssen gebrochen werden, um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern, wie die Leiterin einer pädagogisch-psychologischen Beratungsstelle verdeutlicht: „Recht ist Recht, und Leben ist Leben. Und hier haben wir es damit zu tun, entweder man fügt sich dem Recht, oder man vernachlässigt es etwas und ernährt die Kinder. Dann ziehe ich es vor, die Kinder zu ernähren. Also muss ich den Zöllner betrügen, ihm sagen, dass ich nicht weiß, dass ich eine Flasche habe, während ich drei oder vier versteckt habe. Aber das sind solche Paradoxa, aber leider, so ist das Leben.“ Legitimiert wird die Schmuggeltätigkeit hier durch Verweis auf das altruistische Motiv der Kinderversorgung, das per se nicht unmoralisch sein kann. Das Paradox besteht darin, dass staatliche Gesetze gebrochen werden müssen, um eigene existentielle persönliche Interessen durchzusetzen. Staatliche und persönliche Interessen stehen also im Widerspruch zueinander. In den regionalen Normen wird nun dem Schmuggel, mit dem das persönliche Interesse der Versorgung der eigenen Familie verfolgt wird, eine höhere Priorität eingeräumt als dem staatlichen Interesse der Einnahmen durch Warenverzollung. Begründet wird diese Prioritätenverschiebung durch das staatliche Versagen, legale Einkommensalternativen zu schaffen, was erst zu dem Zwang für den Einzelnen führt, seinen Lebensunterhalt auf illegale Art und Weise zu sichern. Die Leiterin einer Beratungsstelle führt aus: „Dieser gesellschaftliche Aspekt ist bestimmt positiv, dass die Leute nicht herumsitzen, sie sitzen nicht so lange zu Hause, nur sie können sich immer ein paar Groschen dazuverdienen. Schade nur, dass das auf illegale Weise passiert, dass der Staat sich keinen Rat weiß und den Leuten hier ein würdiges Leben garantieren kann, aber besser das als gar nichts.“ Hier ist die Denkfigur erkennbar, dass der Staat letztlich durch Schmuggel betrogen werden muss, weil er den Menschen keine andere Verdienstmöglichkeit anbietet und die Verantwortung für den finanziellen Verlust, den der Schmuggel für den Staat mit sich bringt, selber trägt. „Man bestiehlt den Staat, aber wenn der Staat an Stelle dessen nichts gibt (.)“, so der Reporter einer Lokalzeitung. Ein anschauliches Beispiel für die Heroisierung des Schmuggels bietet die nachfolgende Erzählung über eine Schmugglerin. Es handelt sich dabei um eine chronisch kranke Frau von ca. 50 Jahren. Ihr Mann bekommt Frührente, die er vor
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allem für den Kauf von Alkoholika verwendet. Ihre beiden erwachsenen Kinder sind arbeitslos. Um etwas „in den Kochtopf werfen zu können“, fing diese Frau vor drei Jahren an, Zigaretten und Wodka zu schmuggeln. Sie fährt an die Grenze und kehrt mit ein paar Stangen zurück. Die Erzählerin, eine in geordneten Verhältnissen lebende, nicht schmuggelnde Nachbarin der Hauptperson empfindet dies so: „Ich erblicke in dieser Frau die Mutter Polens83. Eine Frau, die selbst krank ist, die es fertig bringt, zwei Tage nicht zu schlafen, um für ihre Kinder 20 Zoty zu verdienen, das ist unheimlich, unbegreiflich. (…) Sie sitzt nicht herum, guckt einem nicht weinend in die Augen und verfällt nicht in irgendeine Depression oder in Alkoholismus, sie weiß nur, dass, obwohl es nur 20 Zoty sind, verdient sie trotzdem. Das ist für mich das Heldentum dieser Leute, das ist verrücktes Heldentum.“ Die Schmugglerin wird zur Heldin stilisiert, da sie sich für ihre Familie aufopfert. Die hohe moralische Legitimation des Schmuggels hängt also eng mit den Motiven des Schmuggelnden zusammen. Frauen, die ihre Familien durch den Schmuggel ernähren, werden mit mehr Verständnis behandelt als ein Schüler, der sich mit den Fahrten ein neues Handy finanzieren will. Die Art der Nutzung der Schmuggeleinnahmen entscheidet über den Grad der Legitimation des Schmuggels durch die breite Öffentlichkeit. Generell wird Schmuggel in Bartoszyce mit breiter Akzeptanz, Pragmatismus und Verständnis begegnet. Welche Bedeutung der Grenzhandel für die Allgemeinheit schon Anfang der 1990er Jahre hatte, lässt sich auch im Umgang der Medien mit ihm ablesen. Im „Goniec Bartoszycki“ entstand im Jahr 1993 die Rubrik „przygraniczne kruchy“ (Grenzkrümel), in der Leser neueste Meldungen von der Grenze veröffentlichen konnten. Das waren oft ganz praktische Tipps und Informationen für Schmuggler und Händler, wie z.B. der aktuelle Dollarkurs, die Preisentwicklung von Zigaretten in Russland und der Hinweis, sich für längere Wartezeiten mit Proviant zu versorgen. Meldungen wie „Der Schichtwechsel am Grenzübergang ist total unübersichtlich geworden. Es wird immer schwieriger, bekannte Gesichter zu treffen. Für Eingeweihte gebe ich bekannt, dass ‚Der Dicke’ immer noch regiert.“ (Goniec Bartoszycki 1993a: 2) oder „Die, die aus Kaliningrad kommen und nichts mitnehmen, müssen das gut erklären. Denn wie kann man nichts zu verzollen haben!“ (Goniec Bartoszycki 1994: 2) geben authentische Eindrücke vom Umgang zwischen Zöllnern und Schmugglern. Vor allem deuten sie auf die hohe Popularität und Offensichtlichkeit des Schmuggels hin, auf seine Normalität im Alltag der Bewohner 83 Die Mutter Polens gilt seit jeher als Symbol von Aufoperung und Kraft, als Frau, die auf eigene Träume und Aspirationen für Güter wie Nation und Vaterland verzichtet (Zdziechowska 2005: 35). Eine andere Interperation bietet die Assoziation mit der Heiligen Maria an. Die Mutter Gottes gilt als Schutzpatronin des Landes. Eine solche Bezeichnung darf also in jedem Fall als große Wertschätzung und Ehrerbietung der gemeinten Person interpretiert werden.
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Bartoszyces. Besonders das zweite erwähnte Zitat macht die Normalität des Schmuggelns deutlich. Man hebt sich von der Allgemeinheit ab, wird man ohne Waren bei der Wiedereinreise nach Polen angetroffen. In öffentlichen Medien werden geschickte Schmuggelverstecke mitgeteilt wie im folgenden Zitat „In Ventilatoren in Pkws kann man viele Zigarettenstangen befördern. Nur schade, dass das auch die russischen Zöllner wissen“ (Goniec Bartoszycki 1993d: 15) oder in dieser Meldung: „Linienbusse haben Geheimverstecke, die für den Transport von Alkohol dienen. Gegen einen symbolischen Betrag können sie von jedem ‚Touristen’ genutzt werden. Der Zöllner ist statt mit einer Waffe mit einem Schraubenzieher ausgerüstet.“ (Goniec Bartoszycki 1993c: 23). Diese Rubrik ist auch ein Forum für besonders beeindruckende Schmuggelleistungen, was die folgende Meldung veranschaulicht. „Während eines Tages war ein tüchtiger Einwohner von Bartoszyce fähig, viermal nach Kaliningrad auszureisen. Der Pole schafft es!“ (Goniec Bartoszycki 1993b: 3). Hier wird die positive Konnotation der Schmuggler deutlich, die als fleißig und ehrgeizig geschildert werden. Lokale Medien bieten eine Dienstleistung für Schmuggler in Form einer Informationsplattform, was sowohl auf eine starke Verbreitung der Schmuggeltätigkeit innerhalb der Bevölkerung als auch auf hohe allgemeine Akzeptanz des Schmuggels als einkommensgenerierende Tätigkeit wie andere auch hinweist. Wäre Schmuggel aber tatsächlich eine Arbeit wie jede andere, würden die sie Ausführenden nicht mit Scham und Zurückhaltung über sie sprechen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Schmuggel in Bartoszyce auf der einen Seite normativ und moralisch akzeptiert und geduldet ist. Schmuggel gilt nicht als kriminell, sondern eher als lobenswerter eigenaktiver Versuch der Lösung finanzieller Probleme. Auf der anderen Seite bringt die Eingebundenheit in geltende informelle Normen in Bartoszyce keine rechtlichen Verbindlichkeiten mit sich, auf die sich Schmuggler berufen könnten. Aufgrund des illegalen Charakters seiner Tätigkeit muss der Schmuggler stets mit Unsicherheit und Risiko rechnen. Obwohl er keine sozialen Sanktionen fürchten muss wie etwa den Ausschluss aus seinem Bekanntenkreis, ist er aufgrund seiner illegalen Handlungen in jedem Moment angreifbar. Wird er mit dem geltenden Gesetz konfrontiert, hilft ihm der Schutz lokaler informell geltender Normen nicht unbedingt. Diese stellen eine Einbettung des Schmuggels dar, dessen informelle Abweichungen von allgemein gültigen Gesetzen eine relative Handlungssicherheit für die Schmuggler darstellt. Sie bildet eine Voraussetzung für die starke Präsenz der Schmuggeltätigkeit in Bartoszyce und basiert auf der breiten Akzeptanz des Schmuggels. Schmuggel wird nicht kriminalisiert, da sowohl ihn Ausführende als auch die örtlichen Entscheidungsträger und die Bevölkerung von ihm profitieren und ihn legitimieren. Da in Bartoszyce gültige Normen letzten Endes auf einem besonders großzügigen Umgang mit allgemein gültigen Gesetzen beruhen, und diese nicht etwa ersetzen, prägt eine ambivalente Einstellung aller Akteure zum Schmuggel den Umgang mit ihm.
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5.1.2 Ausgestaltung des Schmuggels durch Schmuggler Beschäftigte sich die erste Beobachtung mit den Rahmenbedingungen und Voraussetzungen des Schmuggels, so soll es an dieser Stelle um die Ausgestaltung des Schmuggels durch die Akteure selbst gehen. Welchen Regeln ein Schmuggler innerhalb der Schmuggelinfrastruktur folgt, wie er Risiko vermeidet: Diese Fragen sollen mit Hilfe des Luhmannschen Vertrauensbegriffs analysiert werden. Zum einen kann das Konzept des Vertrauens auf vielfältige Situationen angewendet werden und ist daher ein flexibles Analysewerkzeug. Zum anderen aber gehe ich hier von der Annahme aus, dass die wichtigste Handlungsmotivation der Schmuggler eine möglichst effektive und zuverlässige Minimierung des Verlustrisikos ist, sei es während des Einkaufs, Transports oder Verkaufs von geschmuggelten Waren. Da Vertrauensbeziehungen risikominimierend wirken, scheint eine Konzentration auf die Rolle von Vertrauen innerhalb der Schmuggeltätigkeit der Akteure sinnvoll und zentral. Nach Luhmann geht es bei persönlichem Vertrauen um die Reduktion von Komplexität, die mit der Freiheit anderer Menschen einhergeht, und die den Einzelnen radikal verunsichern kann (vgl. Luhmann 1968: 29). Im Akt des Vertrauens reduziert der Vertrauende die Komplexität seiner Zukunft und engagiert sich so, als ob es in der Zukunft nur bestimmte Möglichkeiten des Handelns geben würde (vgl. ebenda: 18). Indem er vertraut, überbrückt der Einzelne ein Unsicherheitsmoment im Verhalten anderer Menschen und erwartet ein bestimmtes Verhalten seines Interaktionspartners. Dessen kann sich der Vertrauende aber nicht vollkommen sicher sein, da er nicht über ausreichende Informationen für ein erfolgssicheres Handeln verfügt, sondern nur über überzogene Informationen aus der Vergangenheit, die als Anhaltspunkte für Vertrauensbildung dienen (vgl. ebenda: 31). Durch den Akt des Vertrauens setzt sich der Handelnde über diese Informationslücke willentlich hinweg (vgl. ebenda: 30). Das bedeutet, dass Vertrauen immer ein Risiko beinhaltet, ein „Wagnis“ bleibt (vgl. ebenda: 24). „Vertrauensbeziehungen lassen sich nur durch Vorleistungen anbahnen – dadurch, dass der Initiator selbst Vertrauen schenkt. Seine Verwundbarkeit ist das Instrument, mit dem er die Ausbildung einer Vertrauensbeziehung in Gang setzt“ (ebenda: 41). Dabei ist es wichtig, dass der Vertrauende seine eigene Risikobereitschaft unter Kontrolle hält. „Er muss (...) sich klar machen, dass er nicht bedingungslos vertraut, sondern in Grenzen und nach Maßgabe bestimmter, vernünftiger Erwartungen“ (ebenda: 28). Diese Forderung wird durch eine weitere Voraussetzung für den Umgang mit Vertrauen erfüllt, nämlich der, am sozialen Leben teilzunehmen und in der Lage zu sein, fremde Erwartungen in die eigene Selbstdarstellung einzubauen, also ein vertrauenswürdiges Bild abzugeben (vgl. ebenda: 59). Die Selbstdarstellung des Interaktionspartners entscheidet über den Grad seiner Vertrauenswürdigkeit. Gelingt es dem Gegenüber, in seiner Selbstdarstellung ein konsistentes Bild von sich zu entwerfen und seine Freiheit im Sinne der dargestellten Persönlichkeit zu handhaben,
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gilt er als vertrauenswürdig. „Vertrauenswürdig ist, wer bei dem bleibt, was er bewusst oder unbewusst über sich selbst mitgeteilt hat“ (ebenda: 37). Vertrauen ist nur in vertrauten Lebenswelten möglich, in denen die Gültigkeit bestehender Regeln nicht angezweifelt wird und bestimmte Erfahrungen Vertrauen rechtfertigen. Im Zustand der Vertrautheit handeln alle Akteure auf Grundlage der gleichen Verständnisgrundlage, sie ermöglicht daher relativ sicheres Erwarten und damit ein Absorbieren verbleibender Risiken (vgl. ebenda: 17). Abbildung 14 stellt die Vertrauens- und Misstrauensbeziehungen von Schmugglern mit weiteren in der Schmuggelinfrastruktur tätigen Akteuren dar, die im Folgenden nacheinander erläutert werden. Abbildung 14: Vertrauens- und Misstrauensbeziehungen zwischen Akteuren in der Schmuggelinfrastruktur
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Schmuggler – Verkäufer in russischen Verkaufsbuden Wie in obiger Abbildung dargestellt, kann ein Vertrauensverhältnis zwischen polnischen Schmugglern und dem Verkaufspersonal der russischen Verkaufsbungalows festgestellt werden. So berichtet ein Schmuggler zunächst von einem eingespielten, routinierten Verhältnis zwischen Verkäufern und Schmugglern: „Wir haben uns mit ihnen mit Vornamen angeredet (.) und hatten es gut, weil immer (.) immer hatten wir ein Zimmer, wo wir uns verkleiden konnten, sie wussten immer, wann wir kommen und gaben unser Zimmer, das wir immer hatten, nie jemand anderem. Wir hatten sogar unseren Rekorder mit, hörten Musik und packten. So war’s netter.“ (Micha) Der Gebrauch von Possessivpronomen („unser Zimmer“) deutet auf eine symbolische Aneignung des Umkleideraums durch Micha und seine Freunde hin, was noch durch das Musik hören unterstrichen wird. Deutlicher wird ein bestehendes Vertrauen der Verkäufer zu den Schmugglern im folgenden Zitat: „Das heißt, am Anfang war das dort ein bisschen schwierig, gegenwärtig habe ich dort keine Probleme. Ich kann dort hinfahren, ich habe dort eine Bude, eine Bekannte die ganze Zeit. Ich brauche überhaupt kein Geld. Ich fahre, und sie geben mir Ware, ohne Geld. Sie sagt ‘Nimm dir, was du willst, schreib es nur auf die Karte, was du mitnimmst.’ Also, damit gibt es überhaupt kein Problem. Und dort, (.) klauen kann ich nicht. Ich komme auch in der Nacht an. Sie wacht auf, steht auf, öffnet die Tür, sagt ‚Gut Rafa, da nimm dir, was du willst’, und sie geht wieder schlafen. Und ich packe in Ruhe, schreibe alles auf, sie zählt, ich zahle, bedanke mich, Auf Wiedersehen.“ (Rafa) Beide Zitate drücken Routine aus: in Michas Schilderung durch die Betonung auf der Wiederholung („immer“), bei Rafa durch die knappe Schilderung des Kaufablaufs. In beiden Zitaten wird durch die Benutzung der Vornamen die Personenbezogenheit der Beziehung zwischen bestimmten Schmugglern und Verkäufern deutlich. Vertrauen wird Rafa aufgrund der Tatsache entgegengebracht, dass er schon längere Zeit in der gleichen Bude einkauft und sich nach und nach einen Ruf eines zuverlässigen Kunden erworben hat, der es ihm erlaubt, Waren anschreiben zu lassen. Mit anderen Worten: Rafa wurde Vertrauenswürdigkeit zugeschrieben, weil er kontinuierlich so gehandelt hat, wie es die Verkäuferin aufgrund seiner Selbstdarstellung vermutet hat: Er hat sie nicht betrogen, sondern die Ware immer bezahlt. Das Vertrauen zwischen der Verkäuferin und Rafa konnte sich also entwickeln, da Rafa Gelegenheiten zum Vertrauensbruch – z.B. Ware anschreiben lassen und sie nachträglich nicht zu bezahlen – nie genutzt hat. Vertrauen wurde durch Erfahrung und Kontinuität aufgebaut. Hätte er diesen Vertrauensbruch begangen, wäre er dafür sanktioniert worden: Er hätte sich bei der Verkäuferin nicht mehr blicken lassen können. Womöglich
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hätten ihm auch andere Verkäufer keine Waren mehr verkauft. Die Verkäuferin geht also nur ein kalkulierbares Risiko ein, wenn sie Rafa erlaubt, seine Waren später zu bezahlen, da sie weiß, dass Rafa durch ihre Sanktionsmöglichkeiten zu einem Vertrauensbruch nur sehr schwach motiviert ist. Dieses Beispiel zeigt, dass das Eingehen und Entwickeln von Vertrauensbeziehungen für den Schmuggler in seiner Rolle als Käufer von großer Bedeutung ist. Illegalität erfordert also ein höheres Maß an Vertrauen, aber auch klare Sanktionen im Falle von Vertrauensbruch, was wiederum das Gemeinschaftsgefühl zwischen vertrauten Akteuren stärkt. Schmuggler – Endabnehmer Nicht nur der Kauf der Schmuggelwaren, sondern auch ihr Verkauf basiert auf persönlichen Vertrauensbeziehungen zwischen Käufer und Verkäufer. Nun wird ein weiteres Mal die hohe Bedeutung der Eingebundenheit in soziale Netzwerke des Schmugglers – hier für seine Funktion als Verkäufer – deutlich. Die Bedeutung persönlicher Kontakte wird vor dem Hintergrund verständlich, dass es sich beim Verkauf geschmuggelten Benzins um ein riskantes Geschäft für den Käufer handelt, was das folgende Zitat von Lucyna veranschaulicht: „Ich behalte ein bisschen für mich, und den Rest verkaufe ich an Nachbarn oder irgendeinen Bekannten dort, keinem weiteren von fremden Leuten, weil man es dort eigentlich nicht verkauft, weil dort verkauft es sich nicht, weil es niemand haben will. Weil jeder, wenn er Benzin kauft, dann hat jeder seine Leute, zu denen er Vertrauen hat. Er weiß, dass er gutes Benzin kauft, weil manche mehr verdienen wollen und das Benzin mit Wasser vermischen, sie mischen Benzin mit Öl. Sie machen unterschiedliche Dinge, und jeder hat seine Abnehmer, von denen er nimmt. Und er gießt es ins Fahrzeug und weiß, dass seinem Auto nichts passieren wird.“ (Lucyna) Da der Käufer im Moment des Kaufens die Beschaffenheit des Benzins nicht prüfen kann, minimiert er das Risiko, schlechte Waren zu kaufen, indem er den Treibstoff von einer ihm bekannten und für vertrauenswürdig erachteten Person erwirbt. Er vermeidet eine für ihn riskante Situation durch Ausnutzung bereits bestehender sozialer Netzwerke und Kontakte. Die Vertrautheit des Verkäufers ist also in dem Fall eine wesentliche Motivation für Vertrauensbildung zu ihm.84 Dabei zeigt sich, dass das Vertrauen in eine bestimmte Person immer aktuell wird, wenn der Vertrauende diese konkrete Person trifft, ungeachtet der jeweiligen Rollenzusammenhänge (vgl. Luhmann 1968: 26). Vertraue ich einer Person, tue ich das angesichts jeder ihrer Rollen, sei es als Nachbar, Joggingpartner oder eben als Verkäufer geschmuggelter Ware. Aufgrund der vielfältigen Abhängigkeiten gibt es bei sozialen Netzwer-
84 Denn, so hat Luhmann erkannt: „Dem Vertrauten traut man eher als dem Fremden” (Luhmann 1968: 31).
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ken, die durch verschiedene Rollen geprägt sind, auch ein höheres Maß an Sanktionsmöglichkeiten als in unilateralen Beziehungen. Der Schmuggler ist also sowohl beim Kauf als auch beim Verkauf der Waren auf seine Eingebundenheit in soziale Netzwerke und auf Vertrauensbeziehungen in den Interaktionen mit den jeweiligen Akteuren angewiesen. Hier wird deutlich, dass er sich erst in seinem sozialen Umfeld etablieren muss, um langfristig Erfolg zu haben und Gewinne zu erzielen. „Na, wenn Leute kommen und sehen, dass es bei mir kein Benzin gibt, dann fahren sie zu einer anderen Person. Aber wenn welches da ist, dann kaufen sie es. Und die Leute wissen, wer handelt, wer Benzin verkauft. Das spricht sich per stille Post herum. [Aha] Die Anfänge sind schwierig, weil wenn jemand nicht fährt oder zu fahren beginnt, dann weiß das niemand. Aber nach einem Monat wissen es alle.“ (Bolesaw) Wenn es „alle wissen“, kommt es vor allem auf die kontinuierlich vertrauenswürdige Selbstdarstellung des Verkäufers an, um sich das Vertrauen seiner Kunden zu sichern – böte er nur einmal gemischtes Benzin an, wäre seine konsistente Selbstdarstellung als Verkäufer Benzins guter Qualität zerstört und damit auch das Vertrauen seiner Kunden in ihn dahin. Genau wie im Fall von Paul besitzt auch der Benzinverkäufer keine hohe Motivation, einen Vertrauensbruch zu begehen, da er daraufhin mit Sanktionen rechnen müsste: Seine mangelnde Vertrauenswürdigkeit würde sich durch die „Stille Post“ wie ein Lauffeuer verbreiten, so dass er keine Abnehmer mehr hätte. Die Fähigkeit, Vertrauensbeziehungen zu entwickeln und aufrecht zu erhalten, ist für den Schmuggler also auch in seiner Rolle als Verkäufer unerlässlich. Schmuggler – Schmuggler Die Analyse der Interaktionen zwischen Schmugglern gestaltet sich komplexer als die beiden vorangegangenen Beziehungen zwischen Schmugglern und weiteren Akteuren. Schmuggler, die den Linienbus nutzen, pflegen sowohl Vertrauens- als auch Misstrauensbeziehungen zu ihren Mitreisenden, um das Risiko des Warenverlustes während der Fahrt gering zu halten. Vertrauen wird selektiv geschenkt anhand einer Trennlinie von Vertrautem und Unvertrautem, die sich durch die gesamte Busbesetzung zieht. „Also ehrlich, und in der Gruppe, in der wir fahren, das sind solche ruhigen Mädchen. Und wir fahren so viele Jahre zusammen und solches Vertrauen haben wir zueinander, und wir wissen, was sich jede leisten kann, und so haben sich solche Gruppen eben gebildet in den Bussen, solche Grüppchen, so, die Vorderen vorn, die Mittleren in der Mitte und im Hinterteil. Es gibt nicht so eine Einheit, es gibt nicht den ganzen Bus, der als Ganzes fährt. Nein, das sind eben Gruppen, solche gekünstelten Gruppen.“ (Beata)
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Mitglieder, die der gleichen Gruppe im Bus angehören, schenken sich also gegenseitig Vertrauen und können sich auf gegenseitige Unterstützung verlassen. Die Vertrautheit, die eine Gruppe bietet, stellt für ihre Mitglieder einen starken Faktor zur Vertrauensbildung mit anderen Mitgliedern dieser Gruppe dar. Aufgrund der langen Zeitspanne gemeinsamen Fahrens haben sie füreinander die Rolle einer Vertrauensperson erlangt. Darüber hinaus haben viele Buspassagiere schon zu sozialistischen Zeiten gemeinsam in den gleichen Betrieben gearbeitet. Es gibt aufgrund der langen Bekanntheit zwischen ihnen genug Sicherheit, um auch über private Themen wie die persönliche finanzielle Situation zu sprechen. Um Mitglied einer Gruppe zu werden, und damit den Status eines vertrauenswürdigen Mitreisenden zu erwerben, muss man am sozialen Leben im Bus teilnehmen, sich auf eine bestimmte Art selbst darstellen. „In so einem Bus zu fahren, da kann man nicht so jemand, jemand egoistisches sein, so ein Selbstverliebter, man muss sich eben immer unterhalten, sich melden für irgendwas, so ein Kontakt, den wir so viele Jahre und die Mädchen mit uns, na, das ist doch, und wir packen gemeinsam, wir lachen und scherzen gemeinsam.“ (Beata) Durch die gemeinsamen Erlebnisse wird die Vertrauenswürdigkeit der einzelnen Gruppenmitglieder, der „Mädchen“, ständig überprüft. Da Beata von mehreren Jahren gemeinsamen Fahrens spricht, liegt der Schluss nahe, dass diese Überprüfungen positiv ausgefallen sind und die Einzelnen sich so verhalten haben, wie es ihre Interaktionspartner erwartet haben. Dies legt die Abwesenheit von Vertrauensbrüchen innerhalb der Gruppe nahe, was nicht überraschend ist: Mit Vertrautheit und hohen Kosten im Falle eines Vertrauensbruchs für den Einzelnen wie den Ausschluss aus der Gruppe liegen zwei Faktoren vor, die die Vertrauensbildung zwischen Buspassagieren begünstigen. Vieles deutet darauf hin, dass ein langer Zeitraum gemeinsamer Fahrten der gleichen Personen den Ausschlag für die Bildung von Vertrauensbeziehungen der Passagiere gibt und entscheidend dafür ist, ob sich die Schmuggler in einem Bus vertrauen oder nicht. So sagt Marzena: „Das gibt es dort nicht, die eine hilft der anderen wie das, ob umpacken oder etwas, da gibt es keine Probleme. Aber das muss eine beständige Mannschaft sein vor allem, weil, wenn es so eine Sammlung ist, von hier, von dort, na, beim ersten Mal verstehe ich das, wenn jemand das erste Mal fährt, dann muss man helfen. Aber wenn er das nächste und das nächste Mal fährt und der eine dem andern nicht hilft, dann ist das ein wenig unfair, ungerecht.“ (Marzena) Marzena stellt die Begriffe „beständige Mannschaft“ und „Sammlung“ gegenüber. Eine Mannschaft impliziert Teamgeist, ein Zusammengehörigkeitsgefühl, gegenseitige Unterstützung. Als Mitglied einer Mannschaft fährt man nicht auf eigene Faust, sondern trägt Verantwortung für seine Gruppe. Von einem Mannschaftsmitglied
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wird erwartet, dass es „den anderen hilft“ und sich für bekommene Unterstützung erkenntlich zeigt. Eine „Sammlung“ hingegen meint ein zufälliges Zusammentreffen einzelner Personen, die nicht miteinander verbunden sind und deshalb nicht aufeinander angewiesen sind. Was Marzena mit „Mannschaft“ bezeichnet, umschreibt Agnieszka mit „Firma“: „Nein, nein, nein, wenn es darum geht, die eine hilft der anderen. Wenn es sogar darum geht, wie wir die Zigaretten verstecken, weil klar, das verstecken wir, das schrauben wir auseinander, im Kofferraum verstecken wir oder dort, im Innern des Sitzes, na, dabei helfen wir uns. Die eine hilft der anderen. Das ist so eine solide Firma, weil die eine der anderen nicht mal eine Schachtel wegnimmt.“ (Agnieszka) In einer Firma arbeiten die Mitarbeiter gemeinsam für den Erfolg der Firma, solide meint so viel wie haltbar, zuverlässig, gefestigt. Die Firma ist solide, weil in ihr niemand den anderen betrügt. Gelegenheiten zum Vertrauensbruch verstreichen ungenutzt. Die Schmuggler gehen ein Risiko ein, wenn sie sich gegenseitig beim Verstecken der Zigaretten helfen, weil dadurch das wertvolle Wissen um die eigenen Versteckplätze mit den anderen Passagieren geteilt wird. Hier wird reziprokes Vertrauen gewagt. Stabile, langfristige Strukturen sorgen offenkundig für vertrauensvolle offene Zusammenarbeit und damit für eine Minimierung des Risikos des Einzelnen, Waren zu verlieren. Erstens, weil sie durch die gegenseitige Hilfe gut versteckt werden können und zweitens, weil der Einzelne sicher sein kann, dass kein Mitreisender diese stiehlt oder verrät. Innerhalb einer Gruppe sind die Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern also von Vertrauen geprägt, mit Passagieren, die nicht zu ihrer Gruppe gehören, gehen die Einzelnen misstrauisch und distanziert um, wie Marta ausführt: „Nein, na eigentlich, in so einem Kreis von Bekannten, Freundinnen, klar, dass die der anderen hilft, aber so allgemein sind das unterschiedliche Leute. (...) Die Grüppchen, die sind zusammen, aber was gehe ich irgendwen an, wenn er mich nicht kennt oder irgendeinen Kerl, wenn ich ihn nicht kenne. Ich fühle auch mit, aber ich werde nicht von ihm zu Tränen gerührt sein, mich geht das selbst nichts an.“ (Marta) Die Trennung zwischen der eigenen Gruppe, in der Vertrauen und Solidarität herrschen, und weiteren Schmugglern ist auch unter Auto fahrenden Schmugglern zu finden. So sagt Bolesaw: „Leute kennen sich, warnen, wie wer tickt oder ob der Grenzschutz am Weg steht, dann warnt der Bekannte den Bekannten, weil zu den Nichtbekannten, wenn man kein Telefon hat, ist es schwierig. [Aha] Wenn von der Grenze Autos kommen, das trägt sich durch die Autos mit der Stillen Post herüber, dass sie an der Grenze stehen, z.B. fünf Kilometer, dann wissen das alle an der
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Grenze schon lange und die, die viel transportieren, fahren überhaupt nicht, sie stehen und warten in Russland (...).“ (Bolesaw) In diesem Fall profitieren die Personen außerhalb der Netzwerke von den sozialen Kontakten anderer Schmuggler, was die hohe Bedeutung der Eingebundenheit in soziale Netzwerke für den Erfolg des Schmuggels noch einmal unterlegt. Misstrauen wird hier als die Abwesenheit von Vertrauen definiert. Das bedeutet, dass der Misstrauende nicht sicher sein kann, dass sein Interaktionspartner im Sinne seiner Selbstdarstellung handelt, ihn also nicht als vertrauenswürdig erachtet. An diese negative Erwartung passt der Misstrauende seine Handlung an: Er vermeidet, soweit möglich, jegliche Kommunikation mit der Person, der er misstraut und gibt somit wenige Informationen preis. Dieses Vorgehen lässt sich als eine Risikominimierungsstrategie verstehen. Diesen Mechanismus veranschaulicht folgende Szene aus dem Beobachtungsprotokoll vom 12.12.2005: „Wanda, eine andere Frau aus dem Bus und ich sitzen im Hinterzimmer eines russischen Verkaufsbungalows und sind mit Packen beschäftigt. Ab und zu geht die Verkäuferin durch den Raum, ein paar Mal holen sich Schmuggler Zigaretten aus dem Lager und streifen dabei unsere Tische. Wanda entscheidet sich in der Verkaufsbude, dieses Mal nur die Norm mitzunehmen. Trotzdem packt sie einige Päckchen Zigaretten und einen halben Liter Wodka mehr ein, als es die Norm vorsieht. Darauf weise ich sie laut im Hinterzimmer der russischen Verkaufsbude hin. Wanda sieht sich daraufhin erschrocken um und legt den Finger auf den Mund.“ Wanda steht im beschriebenen Moment ihrem Umfeld also misstrauisch gegenüber. Sie hat weder Vertrauen zu der Mitpassagierin aus dem Bus, die ebenfalls einpackt, noch zu den sonstigen durch den Raum laufenden Personen. Daraus folgt, dass diese erstens nicht zur vertrauten Gruppe von Wanda gehören. Das heißt, dass man nicht von einem regelmäßigen Zusammenkommen dieser Personen ausgehen kann. Das wiederum bedeutet, dass die Kosten für eine Person für den Missbrauch dieser Information nicht sehr hoch wären. Angenommen, eine Person nutzt die von mir geäußerte vertrauliche Information aus, indem sie z.B. den Zoll darüber informiert, könnte Wanda dieses Verhalten aufgrund der relativen Anonymität der Personen kaum sanktionieren. Auch Micha vermeidet Risiko im Umgang mit Schmugglern außerhalb seiner vertrauten Gruppe, indem er misstrauisch ist und heikle Informationen nur selektiv preisgibt. „Die Leute, meistens (1), aber es gibt auch großen Neid, Leute (.), Leute rufen sich gegenseitig an, und (.) verpetzen sich gegenseitig, beschuldigen sich, dass der so viel hat, der so viel und (.) aus Eifersucht, dass der durchkommt aber ich nicht, und beim nächsten Mal rufe ich an, dass sie ihn
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einkassieren. Und so ist es auch und man muss (.) man muss – man muss aufpassen, worüber man sich mit wem unterhält, wie viel Zigaretten er hat.“ (Micha) Im Kontext der eigenen Gruppe dient Vertrauen also der Risikominimierung, im Umgang mit weiteren Schmugglern erfüllt Misstrauen dieselbe Funktion. Dieses selektive Vertrauen kollidiert aber mit der Praxis der Strafmandatsvergabe des polnischen Zolls, während der alle Passagiere des Busses als eine Einheit betrachtet werden. Alle innerhalb des Busses und während der individuellen Personenkontrollen gefundenen Zigaretten werden zusammengezählt. Ihre Summe entscheidet über die Höhe des Strafmandats. Strafmandate werden immer auf eine bestimmte Person im Bus ausgestellt, die die Summe innerhalb einer Woche zu begleichen hat. Die Passagiere wechseln sich mit der Mandatsbegleichung ab. Unter den Passagieren ist es Usus, dass sich jeder zu gleichen Teilen am Mandat beteiligt. Dabei ist die Menge der mitgeführten als auch der durch den Zoll gefundenen Ware des Einzelnen unerheblich. Allerdings gibt es einen Konformitätsdruck unter den Passagieren bezüglich der Menge der individuell mitgeführten Zigaretten. Werden von einzelnen Reisenden sehr große Mengen an Schmuggelware transportiert, steigt auch das Risiko, dass der Zoll viele Zigaretten findet. Damit wiederum erhöht sich die im Strafmandat festgelegte und von der ganzen Gruppe zu zahlende Summe, was selbstredend negative Folgen für den Einzelnen hat. Um auf diese Weise auf die Mandatsvergabe reagieren zu können, müssen zunächst einmal alle Passagiere diese Übereinkunft kennen und sich an diese halten. Sie funktioniert nur, solange sich die Person, auf die das Mandat ausgestellt wird, sicher sein kann, dass sie nicht mit den Kosten allein gelassen wird. Sie muss allen weiteren Passagieren im Bus vertrauen, dass jeder seinen Anteil zahlt. Es wurde aber weiter oben herausgearbeitet, dass nicht alle Passagiere in einem Bus Vertrauensbeziehungen zueinander pflegen, sondern dass Vertrauens– und Misstrauensbeziehungen bestehen. Eine Risikominimierungsstrategie besteht nun darin, gemeinsame Fahrten mit neuen oder unbekannten Passagieren möglichst zu vermeiden und so viele vertraute Personen als Mitfahrer zu haben, wie Jerzy erläutert: „Na und hör zu, mit Neuen ist es immer problematisch. Ich mag es lieber ruhig, ich ziehe meinen Bus vor, so einen, wo es kein Durcheinander gibt. Aber wenn irgendwelche neuen Verdächtigen einsteigen, dann fühlen wir uns nicht so gut. Also für mich ist es am besten, wenn - ich hab z.B. Vertrauen in die, die mit mir fahren. Ich weiß, dass sie geprüft sind, dass sie dort keinen Schaden verursachen, dass sie auch das Mandat bezahlen, weil einige wollen noch nicht mal das Mandat bezahlen, weil sie kein Geld haben, weil das, weil jenes. Dann fährt er und was? Soll jemand für ihn bezahlen? (...) Und sie sind solche, und ich kann ihnen glauben, und weiß, mit wem ich fahre. Wenn es schlecht wird, dann werden wir es alle schlecht haben. Wir werden zahlen, wir werden weinen, wir werden uns nicht schlagen.“ (Jerzy)
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Jerzy hält seine Mitfahrer für vertrauenswürdig. Sie sind geprüft und nicht etwa verdächtig, d.h. sie haben sich bewährt und Gelegenheiten zum Vertrauensbruch nicht ausgenutzt – z.B. haben sie immer ihren Mandatsanteil bezahlt. Ihre Selbstdarstellung korrespondiert mit ihren Handlungen, die Jerzys Erwartungen entsprechen. Er vertraut diesen Mitfahrern, weil sie wiederholt konsistent aufgetreten sind, und weil ihr Verhalten seine eigenen Absichten (ruhige, komplikationslose Fahrt, geringer Verlust) unterstützt. Mit Luhmanns Worten: Er vertraut, weil er davon ausgeht, dass das Verhalten des Interaktionspartners sich in seinen eigenen Lebensführungsplan sinnvoll einfügen wird (vgl. Luhmann 1968: 71). Jerzy antizipiert solidarisches Verhalten derer, die sein Vertrauen genießen. Alle sind von der strengen Kontrolle gleichermaßen betroffen, keiner versucht, „besser wegzukommen“ als der andere. Aggressionen richten sich nicht gegen Mitfahrer („wir werden uns nicht schlagen“). Es sollte in Erinnerung bleiben, dass Vertrauen immer ein Risiko mit sich bringt: das Risiko, dass sich derjenige, dem vertraut wird, als nicht vertrauenswürdig herausstellt. Dieses Risiko ist hoch, wenn der Schaden, welcher der Vertrauen brechenden Person entsteht, dieser Person geringer erscheint als der Vorteil, den sie sich von einem Vertrauenserweis verspricht. Dann wird eine Risikominimierungsstrategie angewendet, die auf Kosten der Mitreisenden geht. „Es zeigen sich in den Bussen solche, Leute bringen es fertig, einer den anderen zu beklauen, die Hand in die Handtasche zu stecken, man muss sehr auf sein Gepäck aufpassen, weil du fährst sogar mit einer Freundin oder so, man darf den Leuten nicht glauben, man muss nur kontrollieren, na, na leider. Sie spricht mit dir, hübsch, nett, so war die Situation bei uns, redete hübsch, schön, sie tranken zusammen und später stellte sich heraus, dass die eine der anderen etwas geklaut hatte, so macht man das nicht.“ (Beata) In obiger Schilderung mindert eine Schmugglerin ihr Risiko eines Warenverlusts dadurch, dass sie Waren von anderen Mitreisenden stiehlt. Dadurch bricht sie Vertrauen, das sie vorher durch eine täuschende Selbstdarstellung erworben hatte, indem sie sich als nette, offene, dazugehörende Frau präsentiert hatte. Der Diebstahl korrespondiert nicht mit den Informationen, die sie vorher bewusst über ihre Persönlichkeit mitgeteilt hat. Damit hat sie bei den anderen Mitreisenden ihre Vertrauenswürdigkeit verloren, gleichzeitig aber das Risiko eines Warenverlusts gemindert. Allerdings hat dieser kurzfristige Gewinn langfristige Konsequenzen für die im Zitat genannte Schmugglerin, denn ist die Täuschung einmal ans Licht gekommen, kann die auf ihr aufbauende Selbstdarstellung nicht länger für Vertrauenserwerb genutzt werden.85
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„Man kann Vertrauen durch täuschende Selbstdarstellung erwerben, aber man kann es sich nur erhalten und als laufend verfügbares Kapital nur nutzen, wenn man die Täuschung fortsetzt” (Luhmann 1968: 62).
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Das große Verlustrisiko für den Einzelnen und der damit verbundene Stresszustand mögen dazu führen, dass täuschende Selbstdarstellungen oft im Rahmen der Kontrollen durch den polnischen Zoll aufgegeben werden, wie das Zitat von Marta verdeutlicht. „Und hier ist das so, jeder ist voller Panik und es scheint so, na, anscheinend sieht es so aus, dass sich jeder um den anderen kümmert, (.) aber das ist so eine, ich fühle mit dir, aber im Geist denke ich, gut, dass es mir gelungen ist. Die Leute lernen sich kennen, sage ich manchmal, dass die Charakter der Menschen sich an der Grenze zeigen, später nach der Kontrolle fallen die Masken.” (Marta) Schmuggler pflegen im Hinblick auf andere Schmuggler sowohl Vertrauens- als auch Misstrauensbeziehungen, um ihr individuelles Verlustrisiko möglichst gering zu halten. Schmuggler – Zöllner Das Ziel von Schmugglern während einer Fahrt nach Russland besteht darin, möglichst viele dort gekaufte Waren nach Polen zu transportieren. Die unter Beobachtung eins vorgestellte Schmuggel-Infrastruktur erleichtert es, dieses Ziel zu erreichen. Grenzautoritäten hingegen erschweren das Ziel der Schmuggler. Ihre Interessen und die der Schmuggler sind diametral entgegengesetzt. Die Begegnung zwischen beiden Seiten ist demnach für den Erfolg oder Misserfolg der Reise des Schmugglers von entscheidender Bedeutung. Während der Zollkontrollen bei der Wiedereinreise nach Polen entscheidet sich für die Schmuggler, ob sich die Fahrt gelohnt hat oder nicht. Sie stellen das Nadelöhr dar, das durchschritten werden muss. Um dies möglichst unbeschadet zu tun, wenden Schmuggler unterschiedliche Strategien der Risikoeindämmung an, wie im Folgenden gezeigt werden soll. „Dort nimmt sich jeder ein Stück vom Kuchen“ (Lucyna) – Umgang der Schmuggler mit russischen Grenzautoritäten Einer Kontrolle durch den russischen Zoll wird durch Zahlung von Bestechungsgeldern vorgebeugt. Dieses Vorgehen hat sich als äußerst sichere Risikovermeidungsstrategie erwiesen. Der russische Zoll akzeptiert diesen Austausch jedes Mal, da die russischen Zöllner keinerlei Sanktionen seitens ihrer Vorgesetzten im Falle der Annahme von Bestechungsgeldern befürchten müssen.86 Die Vorgehensweise ist beiden Seiten klar, die Regeln sind akzeptiert: Jeder Buspassagier zahlt einen Dollar an die russischen Uniformierten, unabhängig von der genauen Höhe der
86 Das Verhalten der russischen Zollbeamten lässt sich in dieser Arbeit nur oberflächlich analysieren. Um dies umfassend tun zu können, müssten genaue Informationen über ihre Arbeits- und Lebensbedingungen eingeholt werden, was im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden kann.
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gekauften Ware.87 „Mit den russischen Zöllnern gibt es überhaupt kein Problem. Man zahlt ihnen einen halben Dollar für jede Stange und schon ist es gut“, befindet der Schmuggler Arek. Die Schmuggler zeigen sich dem russischen Zoll gegenüber also authentisch und legen ihr Motiv für die Fahrt, den Schmuggel, offen. Eine aufwändige Darstellung von Rollen ist für die Reduzierung des Risikos nicht nötig, da diese schon von der Bestechung geleistet wird. Sie hat sich im Umgang mit dem russischen Zoll als zuverlässige Methode herausgestellt, seine Waren unbehelligt mitnehmen zu können. Einen Beleg dafür, wie sehr die Schmuggler der Methode der Bestechung im Umgang mit den russischen Grenzautoritäten vertrauen, stellt die Anwesenheit einer russischen Grenzschützerin im Bus in dem Moment dar, als alle Passagiere gerade damit beschäftigt sind, ihre Zigaretten und Alkoholflaschen im Fahrzeug zu verstecken. Keiner der Schmuggler wird hektisch oder versucht, seine Tätigkeit auf irgendeine Weise zu vertuschen. Dieses Verhalten deutet daraufhin hin, dass die Schmuggler den russischen Grenzschutz als ungefährlich für ihre Schmuggeltätigkeit einstufen und sich deshalb offen in ihrer Rolle als Schmuggler zeigen können. Ein Risiko für die Schmuggler wird bei der Begegnung mit dem russischen Zoll also durch die Strategie der Bestechung weitgehend ausgeschaltet. Dies wiederum deutet darauf hin, dass auch der russische Zoll seiner Rolle als gesetzestreuer Warenkontrolleur nicht nachkommt. Er erfüllt sie schlicht nicht und gibt dies den Schmugglern gegenüber offen zu erkennen, eben durch die Annahme von Bestechungsgeldern. Das Verhältnis zwischen polnischen Schmugglern und russischem Zoll ist durch Ehrlichkeit gekennzeichnet, die beiden Seiten Handlungssicherheit gibt. Beide bemühen sich nicht, ihre eigentlichen, offiziellen Funktionen durch entsprechende Selbstdarstellungen zur Schau zu stellen: Der Zoll kontrolliert nicht, die Schmuggler signalisieren durch ihre Zahlung von Bestechungsgeldern, dass sie etwas zu verstecken haben und nicht nur Passagiere eines Linienbusses sind. Die Risikovermeidung funktioniert deshalb so zuverlässig, weil durch ihren Gebrauch beide Seiten profitieren und sich eine ökonomische Win-Win-Situation ergibt: Schmuggler können ihre Ware behalten, und Zöllner bekommen ein sicheres Zusatzeinkommen. Eine Vertrauensbeziehung zwischen Schmugglern und russischen Zöllnern ist also gar nicht nötig, um das Verlustrisiko der Schmuggler zu verringern. Der ökonomische Profit beider Seiten deutet darauf hin, dass es sich bei der Interaktion zwischen diesen beiden Akteuren um eine relativ risikofreie Rollenbeziehung handelt, die kaum Ansatzpunkte für die Entwicklung und Stabilisierung persönlichen Vertrauens bietet.88 Persönliches Vertrauen bildet sich nur dort, wo es ge87
Im Gegensatz zu einer pauschalen Abgabe im Bus müssen Auto fahrende Schmuggler pro Stange, die sie über die erlaubte Menge hinaus mitnehmen, einen halben bis einen Dollar an den russischen Zoll zahlen, um die Waren über die Grenze bringen zu dürfen. 88 Die Schmuggler vertrauen dabei zwar durchaus auf die Zuverlässigkeit und Regelhaftigkeit der Bestechungsgeldannahme der russischen Zöllner, dabei bildet sich aber kein persönliches Vertrauen heraus.
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braucht wird (vgl. Luhmann 1968: 43), und bei der Interaktion zwischen polnischen Schmugglern und russischen Zöllnern ist dies nicht der Fall. Die Bestechung des Zolls durch die Schmuggler ist also Grundvoraussetzung dafür, die gekauften Waren zollfrei auf die polnische Seite mitführen zu können. Damit ist das Risiko auf der russischen Seite der Grenze aber nicht vollkommen ausgeschaltet. Aufgrund des dargestellten Mechanismus‘ des gegenseitigen Profitierens müssen die Schmuggler zwar nicht den Verlust ihrer Waren befürchten. Jedoch müssen sie damit rechnen, dass sich ihr Reingewinn der Fahrt recht stark verkleinert, da außer den russischen Zöllnern auch die Grenzschützer und die Polizei die Schmuggler erpressen, was folgendes Zitat eines Schmugglers veranschaulicht: „Einmal fuhr ich, und schon, als sie uns von der Pfanne herunterfahren ließen, riefen sie die Polizei an, dass sie uns durchlassen. Die Polizei fuhr auf die Straße, stand und schnappte Autos. Und für fünf, zehn Dollar. Für alles, dafür, dass der Motor verstaubt ist, dass das Auto hässlich angemalt ist, da sollte er sich nichts krallen. Er sagt, dass der Verbandskasten, dass man einen polnischen und einen russischen Verbandskasten haben muss. Das mussten ihre sein, und ein russischer Feuerlöscher. Ich sagte ihm, dass das ein Originalverbandskasten sei. Er sah hin, und meinte: ‚Das sind alte Bandagen.’ Er sagte: ‚Wie du willst. Entweder zahlst du eine Strafe, oder wir nehmen dich mit aufs Präsidium.’ Mit ihnen fahren heißt, dass ein halber Tag vergeht. Also fragte ich, wie viel sie wollen. „Na, gib uns 100 Rubel.“ Na, und ich gab ihnen 100 Rubel und konnte losfahren.“ (Georg) Die Erpressung von Schmugglern ist aufgrund ihrer ungünstigen Machtposition gegenüber den russischen Beamten ein gut gehendes Geschäft. Das Risiko für die Schmuggler besteht darin, dass der Preis für den ungestörten Warentransport auf russischer Seite zu hoch werden kann, wenn mehrere einzelne Akteure sich ihr Einverständnis teuer bezahlen lassen. Darüber hinaus muss der Schmuggler ständig abwägen, wie viel Geld ihm wie viel ersparte Wartezeit wert ist. Die schnellste Möglichkeit, wieder nach Polen einzureisen, kostet 70 US- Dollar. Dabei handelt es sich um die sogenannte „Zajawka“, einen Passierschein, der von einem russischen Polizisten telefonisch bestellt wird. Damit kann man ohne Wartezeiten die Grenze überqueren. Wer kein Geld, dafür aber mindestens drei Tage Zeit zur Verfügung hat, den kostet die Wiedereinreise zumindest in dieser Hinsicht nichts. Zwischen diesen beiden Polen gibt es mehrere Möglichkeiten der partiellen Zeitersparnis. Das Prinzip ist immer das Gleiche: Russische Behörden versuchen, so viel Profit wie möglich aus dem Bemühen der Schmuggler zu schlagen, so schnell wie möglich möglichst alle gekauften Waren nach Polen zu transportieren. Der Behalt der Ware ist garantiert, ein Risiko für die Schmuggler stellt die ungewisse Höhe der dazu notwendigen Kosten dar.
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„Das hängt von der Auffassung des Zöllners ab, sag ich.” (Bolesaw) „Wenn es ein normaler verständnisvoller Mensch ist, dann nimmt er ein, zwei Stangen und lässt dich gehen” (Micha) – Umgang der Schmuggler mit den polnischen Grenzautoritäten89 Begegnungen mit dem polnischen Zoll verlangen andere Verhaltensweisen, um das Risiko eines Misserfolgs für die Schmuggler möglichst gering zu halten. Während der Ablauf der Begegnung mit dem Zoll auf russischer Seite recht vorhersehbar ist, stellen die Kontrollen durch den polnischen Zoll für die Schmuggler das riskanteste Element der gesamten Fahrt dar. Das liegt vor allem daran, dass die Bestechungsstrategie im Falle der polnischen Zöllner nicht anwendbar ist. Erstens wird die gesamte polnische Seite des Grenzübergangs und somit jede Abfertigung durch die polnischen Grenzautoritäten videoüberwacht. Diese Daten werden drei Monate gespeichert. Zweitens müssen bestechliche Zöllner sowohl mit ihrer Entlassung bzw. Versetzung als auch mit unangenehmen öffentlichkeitswirksamen Gerichtsverfahren sowie Haftstrafen rechnen.90 Die Schmuggler müssen mit anderen Mitteln versuchen, ihr Risiko möglichst gering zu halten, um so viele ihrer Waren wie möglich behalten zu können. Die Art und Weise, wie sich am besten Risiko vermeiden lässt, hängt vom Charakter der jeweiligen Zollkontrollen ab. Im Gegensatz zum Verhältnis der Schmuggler zum russischen Zoll ist der Kontakt mit den polnischen Zollbeamten Schmugglern viel direkter. Während es auf russischer Seite in der Regel keinen unmittelbaren Kontakt zwischen Schmuggler und Zöllner gibt, finden zwischen Schmugglern und polnischen Zöllnern regelmäßig enger körperlicher Kontakt und verbale Kommunikation während der Kontrolle statt. Das ist der Moment, der über das Gelingen der Fahrt entscheidet. Aufgrund dieser Tatsache hängt der Erfolg der Schmuggler stark von ihrem spezifischen Wissen und ihrer Ausstattung mit sozialem Kapital ab, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Der erste Schritt, der erhebliches Wissen erfordert, ist die Überlegung des Schmugglers, zu welchem Zeitpunkt er die Grenze passieren soll. Diese Entscheidung wird auf Grundlage des Schichtplans des polnischen Zolls getroffen. Hat eine „gute Schicht“ Dienst, wird die Fahrt gewagt, bei einer „schlechten Schicht“ nimmt der Schmuggler Abstand von einer Reise nach Russland. Was bedeuten die Bezeichnungen „gute“ und „schlechte Schicht“? Die Schmuggler bewerten das Verhalten der jeweils diensthabenden Zöllner. Während einer schlechten Schicht ist das
89 Die Darstellungen in diesem Abschnitt gelten ausschließlich für Schmuggler, die mit einem Linienbus die Grenze überqueren. 90 Drei Zöllnerinnen wurden aufgrund der Annahme von Bestechungsgeldern zwischen 1992 und 2002 zu drei Monaten Haft verurteilt, worüber die Lokalzeitung ausführlich berichtete. Im Jahr 2000 wurde eine gesamte Schicht von Grenzschützern wegen Verwicklungen in den Drogenschmuggel an einen anderen Grenzabschnitt versetzt, was in einem Artikel mit der Überschrift „Die Säuberung der Grenze“ in der Lokalzeitung veröffentlicht wurde (Mateusiak 2000). Gänzlich ausgeschlossen werden kann Korruption unter polnischen Zollbeamten natürlich nach wie vor nicht. Jedoch kam sie in meiner Untersuchungsgruppe nicht zur Anwendung.
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Risiko erhöht, Waren wegen strenger und unerwarteter Kontrollen zu verlieren, wie Magda berichtet: „Und nehmen wir an, es gibt eine schlechte Schicht, wir stoßen auf eine schlechte Schicht, sagen wir mal auf irgend einen Zolldienst wie die Schwarzen91 zum Beispiel, und sie sammeln Zigaretten ein, das ist ein großer Verlust.“ (Magda) Eine gute Schicht hingegen zeichnet sich durch diensthabende Zöllner aus, die gelassen kontrollieren, meint Micha: „Wenn man auf einen normalen Menschen trifft, dann muss er immer ein bisschen wegnehmen. Ein bisschen nimmt er, aber zum Rest drückt er ein Auge zu. Aber wenn man an einen pedantischen Beamten gerät, der nimmt alles weg.“ (Micha) Welche Schicht wann Dienst hat, haben regelmäßig fahrende Schmuggler im Kopf, da sie die Dienstpläne kennen. Es kommt vor, dass Reisende, die am Grenzübergang sehen, welche Zöllner Dienst haben, dieses Wissen am Telefon an Bekannte weitergeben, die zu späterer Stunde eine Fahrt planen. Schmuggler, die gerade aus dem Raum der Personenkontrolle kommen, raunen den Wartenden Verhaltenshinweise zu. „Zeig ihr [der Zöllnerin, B.B.] fünf Schachteln, dann ist gut“, riet z.B. eine Schmugglerin ihrer Nachfolgerin, während sie den Warteraum verließ. Die Einbindung in Netzwerke ist also eine Voraussetzung für die Erlangung spezifischen relevanten Wissens, welches wiederum die Basis für eine erfolgreiche Fahrt darstellt. Wenn dieses Wissen nicht vorhanden ist, können sich Angstgefühle beim Schmuggler entwickeln, wie z.B. bei Marzena: „Ich orientiere mich nicht, weil, wie ich sagte, nach dieses Bezledy fahre ich seit kurzem, zumindest nicht nach so einer langen Pause. Und da ist Angst, weil, wenn man fährt, dann weiß man nicht, an wen man gerät.“ (Marzena) Nicht nur über die Schicht Bescheid zu wissen, mindert die Risikogefahr. Ebenso wichtig ist es für die Schmuggler, sich gut im Transportfahrzeug auszukennen und die jeweiligen Innenausstattungen und möglichen Warenverstecke zu kennen. „Nun, es kommt darauf an, welche Schicht Dienst hat, wenn man zu einer Schicht fährt, dann weiß ich einfach, wie viel diese Schicht toleriert, wie man das wo transportieren, verstecken kann. Und es kommt auf den Bus drauf an, wenn es irgendein guter Bus ist, wenn er mehrere Verstecke hat, dann nimmt man mehr mit und versteckt mehr.“ (Wanda) 91 „Die Schwarzen” ist eine informelle Bezeichnung für eine besondere Abteilung des polnischen Zolls, der unregelmäßig hinter dem Grenzübergang auf polnischer Seite Fahrzeuge kontrolliert.
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Wie genau die Schmuggler über einzelne Zöllner informiert sind, macht sich zum Teil in den Spitznamen bemerkbar, mit denen sie bezeichnet werden. Oft werden Spitznamen nach äußeren Merkmalen der Zöllner vergeben, wie es z.B. bei den Bezeichnungen „Spanier“, „Klempner“, „Storch“ und „Breiter Hintern“ der Fall ist. Es werden aber auch Charaktereigenschaften durch die Spitznamen ausgedrückt, wie z.B. bei „Hitler“ oder „Mieses Weib“. Handelt es sich um unbeliebte Zöllner, so drückt der Spitzname oft die geringe Popularität seines Trägers aus, wie z.B. im Fall der Zöllnerin, die als „Künstliches Gebiss“ bezeichnet wird. „Und da gibt es diese Zöllnerin, sie hat das Pseudonym ‚Künstliches Gebiss’, weil nicht genug damit, dass sie hässlich ist. Sie trägt außerdem eine Zahnspange. Na, und sie mögen sie überhaupt nicht, sie ist immer so eine, nicht genug, dass sie rüpelhaft ist in der Beziehung zu anderen Leuten, sie räumt komplett auf. Sie lässt praktisch nichts übrig.“ (Oliwia) Im Falle eines Zöllners deutet sein Spitzname „wyskocz z butów“ („Spring aus dem Schuh“) auf die Art und Weise seines Kontrollverfahrens hin: Er sucht vorzugsweise in Schuhen nach versteckten Zigaretten. Wie gezeigt wurde, trägt genaues Wissen der Schmuggler über die Arbeitsweise des Zolls erheblich zur Verringerung des Risikos bei, Waren zu verlieren. Eine weitere Risikovermeidungsstrategie besteht in der Inszenierung von Rollen, die sowohl der Zoll als auch die Schmuggler vornehmen. Mehrere Forscher sprechen im Kontext des grenzüberschreitenden Kleinhandels von einem „theatre play“, was sich am Grenzübergang abspielt (z.B. Egbert 2006, Konstantinov 1996). Schmuggler und Zöllner spielen je eigene Rollen. Unter Rolle wird hier in der Definition des Symbolischen Interaktionismus ein vorherbestimmtes Handlungsmuster, das sich während einer Darstellung entfaltet und auch bei anderen Gelegenheiten vorgeführt oder durchgespielt werden kann, verstanden (vgl. Goffman 2000: 18). Die Interaktionspartner werden dabei als Rollenspieler gesehen, die das, was als rollenadäquates Handeln akzeptiert wird, während ihrer Interaktion ständig neu aushandeln. Rolleninhaber tragen dadurch gegenseitig bestimmte Verhaltenserwartungen aneinander heran. Damit sorgen Rollen für regelmäßiges, vorhersagbares Verhalten als Voraussetzung für kontinuierlich planbare Interaktionen und erfüllen somit eine allgemein soziale Orientierungsfunktion (vgl. Peuckert 1998: 290). Handelt der Interaktionspartner ständig so, wie es seine Rolle erwarten lässt, handelt er also gemäß seiner Selbstdarstellung, erweist er sich als vertrauenswürdig (vgl. Luhmann 1968: 37). Übertragen auf die Rollenspieler Schmuggler und Zöllner bedeutet dies, dass beide jeweils bestimmte Verhaltenserwartungen an die Rolle des anderen haben. Diese Erwartungen haben wiederum Einfluss auf ihr eigenes Handeln. Hierbei ist der Prozess der Rollenübername von Bedeutung, worunter Mead die Fähigkeit der Empathie versteht, sich in den anderen hineinversetzen zu können, um dessen
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Verhalten zu antizipieren und in den eigenen Handlungsentwürfen berücksichtigen zu können (vgl. Peuckert 1998: 293). Der Schmuggler erwartet vom Zöllner zunächst eine strenge Kontrolle und den Verlust einiger seiner Waren. Damit diese Erwartung möglichst nicht erfüllt wird, spielt er dem Zoll gegenüber eine Rolle, die ihn als harmlosen Buspassagier erscheinen lassen soll. Schmuggler verhalten sich höflich und freundlich und sind darauf bedacht, ein möglichst sympathisches Bild von sich abzugeben. „Na, weil seit so vielen Jahren fahre ich, dort hat kein Zöllner mich je von einer schlechten Seite gesehen, z.B. meine Freundin sagt auch nichts von ihrer schlechten Seite. Das, dass wir Zigaretten transportieren, weil wir uns weder streiten noch herumbrüllen. Na, sie [eine Zöllnerin, B.B.] befiehlt herausziehen, dann schweigt man, mit Schmerzen macht man das, aber man zieht es heraus, na leider aber, das, das musst du, nicht?“ (Beata) Die asymmetrische Rollenverteilung bedeutet für die Schmuggler Abhängigkeit vom Zoll. Durch Freundlichkeit und unterwürfiges Verhalten sollen Zollbeamte besänftigt werden. Eine Schmugglerin berichtet von einer Schmuggelfahrt: „Einige wollten schneller zurückkehren, aber andere nicht. Das ging nicht in ihren Kopf und dort gab es ein Trinkgelage oder so was. Das regt auch den Zöllner auf, wenn er z.B. in so einen Bus geht, wo es nach Alkohol riecht. Dann weiß er, dort fahren wer weiß was für Leute mit, und die haben mit Sicherheit mehr Waren dabei als die Norm vorsieht, nicht?“ (Anita) Es geht also darum, sich auf eine bestimmte Art und Weise zu präsentieren, die dem Zöllner keine Verbindungen zu Schmuggelaktivitäten nahelegen sollen. Goffman spricht an dieser Stelle von „impression management“ (vgl. Goffman 2000). Ganz deutlich wird die Negierung der Schmugglerrolle in dem Moment, in dem ein polnischer Zöllner jeden Buspassagier nach der Menge seiner mitgeführten Waren fragt. Keiner sagt die Wahrheit, sondern alle geben die Standardantwort, die ein jeder Reisender geben würde; etwas verwundert und ungehalten ob dieser misstrauischen Nachfrage: „Na, einen Liter und eine Stange natürlich.“ Der Schmuggler präsentiert sich also als Nichtschmuggler und versucht so, den Zöllner über seine Rolle zu täuschen. Er ist darauf bedacht, eine konsistente Selbstdarstellung während der Interaktion mit dem Zöllner aufrecht zu erhalten, mit der nicht seine tatsächliche Rolle als Schmuggler, sondern seine vorgetäuschte Rolle als harmloser Buspassagier verkörpert wird. Mit dieser Täuschung kann er Vertrauen beim Zöllner erwerben, kann aber dieses nur erhalten und als laufend verfügbares Kapital nutzen, wenn er die Täuschung fortsetzt (vgl. Luhmann 1968: 62). Er distanziert sich von seiner Rolle, die er dem Zöllner gegenüber im Moment der Warenkontrolle am Grenzübergang hat. Der fragende Zöllner nimmt die Antworten zur Kenntnis, wissend, dass die gegebenen Informationen nicht stimmen. „Das ist ein bisschen so,
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sie wissen, dass wir sie beschwindeln, wir wissen, dass sie uns das Fell über die Ohren ziehen. Manchmal ist es so, dass alle weinen, dort sitzen und sich streiten, was hier morgen sein wird“, berichtet Jerzy. Dieses Wissen wird aber bei der direkten Begegnung zwischen Zöllner und Schmuggler von keinem preisgegeben. Vielmehr spielen beide Seiten in dem Moment ihre Rollen so, wie vom jeweils anderen Interaktionspartner erwartet. Der Augenblick der persönlichen Kontrolle durch den polnischen Zoll kann für den Schmuggler das Aufdecken der bis dahin aufrechterhaltenen Selbstdarstellung als nicht schmuggelnder Passagier bedeuten, nämlich dann, wenn der Zöllner am Körper und in Taschen mitgeführte Zigaretten über der erlaubten Menge entdeckt. Seine Selbstdarstellung kann zusammenbrechen oder ist zumindest mit Widersprüchen konfrontiert. In der auf Seite 134 geschilderten Kontrolle durch eine polnische Zöllnerin lässt sich hingegen eine konsequente Aufrechterhaltung von Wandas Selbstdarstellung als nicht schmuggelnde Passagierin beobachten. Sie reagiert empört-überrascht auf die Aufforderung der Zöllnerin, Zigaretten abzugeben, fügt sich aber der Anweisung und inszeniert ein zufälliges Finden einiger Päckchen in ihrer Jackentasche. An dieser Szene lässt sich noch etwas zum Verhältnis der beiden ablesen. Nachdem Wanda vier Päckchen abgegeben hat, beendet die Zöllnerin die Kontrolle. Dies deutet darauf hin, dass sie Vertrauen zu Wanda hat, dass diese keine all zu großen Mengen an Schmuggelgut mit sich führt. Wäre dies der Fall und wäre Wanda von einer unerwarteten Kontrolle nach Passieren des Grenzübergangs betroffen, müsste sich die Zöllnerin für ihre lasche Kontrolle verantworten. Sie geht mit ihrer kurzen Kontrolle ein Risiko ein, dass sie aber aufgrund ihres Vertrauens zu Wanda für vertretbar hält. Die polnischen Zöllner handeln zunächst formal ihrer Rolle zufolge als Hüter des Steuergesetzes: Alle die Grenze übertretenden Personen und Fahrzeuge werden kontrolliert. Sie nehmen keine Bestechungsgelder an. Von den Schmugglern erwartete Rituale wie Nachfragen, persönliche Kontrollen und die Durchsuchung des Busses werden tatsächlich vorgenommen. Die polnischen Zöllner füllen ihre Rolle also gemäß ihrer Verpflichtung aus. Allerdings lässt die gegebene Rollenverpflichtung eine individuelle Identifikation jedes Rollenträgers zu. So kommt es aus der Perspektive der Schmuggler zu einer Hypertrophierung der Rolle, zu einer übertriebenen Ausführung der Zollpflichten, wenn der Zöllner die Kontrollen sehr genau nimmt und eine große Anzahl Zigaretten findet. Oft beobachten Schmuggler bei Zöllnern aber auch eine Distanzierung von der eigenen Rolle, bei Aufrechterhaltung ihres formalen Rollenhandelns: „Es gibt verständnisvollere Zöllner, die, wenn sie sehen, dass man nicht viel hat, ein Auge zudrücken und einen leicht durchlassen und es gibt solche, dass, weißt du (.) und besonders diese Neuen, die jetzt gekommen sind. Die möchten sich beweisen, und es ist sehr schwer.“ (Wanda)
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Die neuen Zöllner, von denen Wanda spricht, handeln rollenkonform. Sie richten sich strikt nach den Vorschriften. Mit Luhmanns Worten werden sie so als Selbst nicht sichtbar, weil ihre Rollenkonformität wenig Gelegenheit zur Selbstdarstellung bietet, was wiederum keine Vertrauensbildung zulässt (vgl. ebenda: 59f.). Ein verständnisvoller Zöllner hingegen weicht von seiner Rolle ab, indem er nachsichtig kontrolliert. Damit passt er sich nicht an seine professionelle Rolle an, sondern stellt sich selbst auf eine spezifische Art und Weise dar. Indem er damit auf fremde Erwartungen eingeht, hier auf die der Schmuggler, kann er Vertrauen auf Seiten der Schmuggler schaffen. Der verständnisvolle Zöllner erfüllt die Erwartungen der Schmuggler besser als erwartet, wenn er ihnen nur wenige Waren abnimmt. Mit dieser Handlung bewahrt er das Vertrauen, dass die Schmuggler in ihn haben, weil er die Gelegenheit zum Vertrauensbruch in Form einer überaus strengen Kontrolle nicht nutzt. Vertrauensbeziehungen können sich nur entwickeln, wenn der, dem vertraut werden soll, Gelegenheit zum Vertrauensbruch bekommt und diese nicht nutzt (vgl. ebenda: 42). Hier ist der, dem vertraut werden soll, der polnische Zoll. Dass ein Zöllner bei einer Kontrolle alle Zigaretten eines Bus reisenden Schmugglers findet und konfisziert, passiert meinen Beobachtungen zufolge sehr selten. Würde ein Schmuggler regelmäßig seine gesamte Ware bei der Zollkontrolle verlieren, würden sich die Fahrten für ihn überhaupt nicht lohnen. Die einfache Tatsache, dass immer noch drei Mal am Tag Linienbusse nach Bagrationowsk ausreichend besetzt sind, lässt darauf schließen, dass die Passagiere durch diese Fahrten einen Gewinn erzielen, was den Transport eines Großteils der in Russland gekauften Zigaretten nach Polen voraussetzt. Es ist also eher die Regel als die Ausnahme, dass Zöllner ihre Rollen als strenge Kontrolleure nur äußerlich darstellen, indem sie sich von eben dieser Rolle distanzieren und dem Schmuggler wohlwollend nachsichtig gegenüber treten. Tabelle 15 verdeutlicht die realen und inszenierten Rollen von Schmugglern und polnischen Zöllnern. Tabelle 15: Rollen und ihre Darstellungen von Schmugglern und Zöllnern dargestellte Rolle
tatsächliche Rolle
Schmuggler
unschuldiger Passagier
Schmuggler
polnischer Zöllner
strenger Kontrolleur
nachsichtiger Eingeweihter
Es kann der Schluss gezogen werden, dass die Schmuggler im Bus bei Kontrolle durch eine „gute Schicht“ und ohne unvorhersehbare Überprüfungen durch „die Schwarzen“ oder andere Behörden davon ausgehen können, dass sie nur einen kleinen Teil ihrer Waren abgeben müssen, den größeren Teil aber unbeschadet nach Polen transportieren können. Die heutige Situation kann man als abgeschwächte Variante des Vorgehens Mitte der 1990er Jahre verstehen, als das Risiko für
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Schmuggler aufgrund stärkerer Vorhersehbarkeit des Verhaltens der Zöllner äußerst gering war, wie das folgende Zitat einer Schmugglerin verdeutlicht: „Es gab so eine Phase, dass der Bus heranfuhr, ein Zöllner hineinkam, uns einen Karton gab und sagte, dass der Karton gefüllt werden muss, er gab zum Schein irgendein Strafmandat. Da nahm man mehr mit, wegen des Abwurfs in den Karton. Aber sie haben uns überhaupt nicht kontrolliert, nicht berührt. Und wir hatten immer mehr, legten etwas in diesen Karton. Für uns lohnte es sich, für sie lohnte es sich. Und wir hatten Ergebnisse, die Zöllner hatten Ergebnisse.“ (Wanda) Der hier dargestellte Mechanismus einer vorteilhaften Interaktion für beide Seiten ist im Grunde noch immer gültig, obgleich die Machtposition des Zolls um vieles stärker ist als die des Schmugglers. Wie kommt es nun aber dazu, dass Zöllner sich oftmals von ihrer formalen Rolle distanzieren und eher als „nachsichtiger Eingeweihter“ agieren, ihre Machtposition Schmugglern gegenüber also nicht ausnutzen? Mehrere Gründe lassen sich hierfür anführen. Erstens ein äußerst pragmatischer und einleuchtender: purer Zeitmangel. Jeden Tag passieren ca. 50 Busse den Grenzübergang Bezledy. Im Jahr 2005 wurden insgesamt über 20.000 Busse kontrolliert. Im gleichen Zeitraum überquerten 1,6 Millionen Personen den Grenzübergang, das sind pro Tag durchschnittlich über 4.000 Menschen, pro Stunde 180, pro Minute drei Personen. Die durchschnittliche Wartezeit am Grenzübergang Bezledy beträgt mit 487,6 Minuten mehrere Stunden (vgl. Matejko u.a. 2008: 50). Um einen Reisenden gründlich zu durchsuchen, müssten mindestens 20 Minuten Arbeitszeit veranschlagt werden, was die Wartezeit noch einmal deutlich erhöhen würde. Eine hundertprozentige Kontrolle kann schon aus logistischen Gründen vom Zoll nicht geleistet werden. Die hohe Zahl der Grenzübertritte bringt es mit sich, dass die polnischen Grenzautoritäten allein aus personellen Gründen nur selektiv genaue Zollkontrollen durchführen können92 und sich deshalb bei ihren Bemühungen in der Eindämmung des Schmuggels vor allem auf die organisierte Kriminalität konzentrieren. „Wir konzentrieren unser Interesse nicht auf einzelne Personen, die geringe Mengen an Zigaretten transportieren, sondern nur auf die Organisatoren dieses Prozederes“, sagt der Kommandant des Grenzschutzes in Ktrzyn. „Das wäre unökonomisch, die Kräfte auf den Schmuggler zu richten, der zwei, drei oder fünf Stangen schmuggelt, wenn neben ihm jemand damit beschäftigt sein könnte, 200, 300, 500 Stangen zu schmuggeln, oder?“, ergänzt sein Kollege. Zweitens kann die Tatsache in Betracht gezogen werden, dass nicht nur die Zöllner Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Schmugglern besitzen, sondern dass dies auch umgekehrt der Fall ist. Während die Zöllner aufgrund offizieller Gesetze direkt am Grenzübergang finanziell in Form eines Strafmandats sanktionieren, 92 Allerdings kann davon ausgegangen werden, dass jede die Grenze überschreitende Person am Übergang Bezledy eine persönliche Kontrolle durchläuft, die aber oftmals nur wenige Minuten dauert (siehe auch Matejko u.a. 2008: 32).
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stehen den Schmugglern subtilere Wege offen, bei unliebsamen Kontrollen den Zöllner zu sanktionieren.93 Aufgrund der Tatsache, dass Bartoszyce ein kleiner Ort ist und viele der Zöllner aus der Region stammen (Interview mit Zollbehörde, 18.05.2006), gibt es wenig Anonymität an der Grenze, sowohl für Schmuggler als auch für Zöllner. Diese fehlende Anonymität stellt sich nun für Schmuggler als risikomildernd heraus, da sie ihre Machtposition stärkt. Das Wissen über die Person eines unbeliebten Zöllners haben manche Schmuggler dazu benutzt, diesen zu bedrohen oder zu erpressen. So fand ein Zöllner eines Morgens sein Auto mit zerstochenen Reifen vor. Ein anderer wurde mit dem Vorwurf der Bestechlichkeit konfrontiert, hervorgerufen durch einen anonymen Anrufer bei der Zollbehörde, der behauptet hatte, der betreffende Zöllner haben von ihm Bestechungsgelder angenommen, was tatsächlich nicht der Fall war. Ein Zöllner teilte mir in einem informellen Gespräch mit, dass er sich nicht traue, abends in Bartoszyce auszugehen, aus Furcht vor Begegnungen mit aufgebrachten Schmugglern. Im Jahr 2005 gelangten 120 Anzeigen von Zöllnern zur Staatsanwaltschaft, die Gewaltdrohungen von Schmugglern erhalten hatten (Interview mit Zollbehörde, 18.05.2006). Drittens ist anzumerken, dass auch Zöllner von einem guten Verhältnis zu Schmugglern profitieren können. Dieser Umstand wird in der oben beschriebenen Szene deutlich, in der das geschriebene Strafmandat nicht mit der tatsächlich gefundenen Anzahl von Zigaretten übereinstimmte und die verantwortliche Zöllnerin sich an eine Gruppe von Schmugglern wandte, um von ihnen die fehlende Zigarettenstange zu bekommen und so die Differenz auszugleichen. Hier lässt sich auch eine Vertrauensbeziehung zwischen besagter Zöllnerin und einigen Schmugglern vermuten. Indem die Zöllnerin sich an die Schmuggler wendet, mit ihnen ein Geschäft abschließt, macht sie sich ihnen gegenüber angreifbar. In dem geschilderten Moment muss sie sich recht sicher gefühlt haben, dass keiner der Schmuggler diesen Vorfall ihrem Vorgesetzten meldet. Die Tatsache, dass viele Zöllner in der Region aufgewachsen sind, lässt viertens den Schluss zu, dass sie mit den wirtschaftlichen und sozialen Problemen der Region vertraut sind und die Handlungsmotive von Schmugglern nachvollziehen können. „Ja, ein guter Zöllner für die, die schmuggeln ist einer, der nichts finden möchte, der einfach durchsucht, weil wenn er wollte, würde er was finden, klar, sie haben Schulungen, aber sie verstehen, dass die Leute Not wegen der Arbeitslosigkeit haben. Aber sie bemühen sich auch, etwas zu 93
Hierbei ist allerdings anzumerken, dass diese Form des Sich Wehrens kaum noch in Bartoszyce praktiziert wird. Als der Schmuggel in der ersten Hälfte der 1990er Jahre erstarkte und Polen noch nicht der EU beigetreten war, hatten die Schmuggler eine starke Position gegenüber dem Zoll. Bedrohungen und Verleumdungen wurden aber vor allem von solchen Schmugglern praktiziert, die sehr große Mengen über die Grenze brachten. Mir ist nicht bekannt, dass Schmuggler, die den Bus benutzen, sich Zöllnern auf diese Weise gegenüber verhalten hätten.
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verdienen. Drei Mal lassen sie durch, beim vierten Mal lassen sie einen nicht durch, irgendein Gleichgewicht muss sein.“ (Oliwia) Dieses Zitat einer Schmugglerin macht mehrere Dinge deutlich. Erstens zeigt es nochmals die Wahrnehmung einer symbolischen Distanzierung eines Zöllners von seiner Rolle (nichts finden wollen) bei gleichzeitigem formalen Rollenhandeln (kontrollieren, durchsuchen) eines Schmugglers. Zweitens ist es Ausdruck gegenseitiger Perspektivübernahme und empathischer Fähigkeiten von Schmugglern als auch Zöllnern. Der Schmuggler hat den Eindruck, dass der Zöllner seine Lebenssituation nachvollziehen kann, und er selbst kann sich das Verhalten des Zöllners erklären. Drittens zeigt das Zitat von Oliwia, welche Risikovermeidungsstrategie sich bei polnischen Zöllnern findet. Bei Kontrollen erzielen sie ein Ergebnis, dass sowohl ihre Vorgesetzten als auch die Durchsuchten zufrieden stellt. Dass alle Waren gefunden werden, passiert, wie oben dargelegt, sehr selten. Dass überhaupt nichts gefunden wird, ist ebenso unwahrscheinlich. Indem der Zöllner einige wenige Zigaretten während der Kontrolle konfisziert, berücksichtigt er sowohl die Bedürfnisse und Erwartungen seines Arbeitgebers als auch jene der Schmuggler. Mit dieser Vorgehensweise wird ein Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen aller Beteiligten geschaffen, das mit jedem Zusammentreffen, mit jeder Kontrolle aufs Neue manifestiert wird. Auf diese Weise können Schmuggler wie Zöllner ihr Gesicht wahren. Das Zitat einer Schmugglerin zeigt, wie durch Kommunikation zwischen den offiziellen Gegenspielern Schmuggler und Zöllner eine Situation beiderseitigen Nutzens entstehen kann, die die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigt und sie in einem Gleichgewicht stehen lässt: „Ich erinnere mich immer an einen alten Zöllner an der Grenze, und er sagte immer zu mir, ‚Denk dran’, sagte er, ‚iss mit kleinen Löffeln, das ist ein polnisches Sprichwort, dass du dich mit einem großen Löffel verschlucken kannst, und mit einem kleinen kannst du dich satt essen.’“ (Lucyna) Durch Kommunikation zwischen Zöllnern und Schmugglern wird ein Einverständnis erzielt, das für beide Interaktionspartner akzeptabel ist: nur wenige Waren über die Grenze zu bringen. Würde ein Schmuggler sich nicht daran halten und unerwartet viele Waren transportieren, würde er dadurch ein provokatives Ungleichgewicht herstellen. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Schmuggler Hinweise der Zöllner beherzigen und sich nach ihnen richten. Dies ist wiederum ein Anzeichen von Vertrauen, das sie den Zöllnern entgegenbringen: Indem sie die Hinweise des Zolls ernst nehmen und weniger Waren mitnehmen, vertrauen sie darauf, dass diese Entscheidung sich auszahlt und sie nur wenige Waren bei der Kontrolle abgeben werden müssen.
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„Auf der polnischen Seite (.) versteckt man es gut, man muss ein bisschen ein Psychologe sein und, und das menschliche Verhalten kennen, die Verhaltensweise der Zöllner kennen, wo wer sucht (1) ich rege mich nicht auf, wenn ich einmal im Monat ein Mandat bekomme und sie einige Pakete wegnehmen, das ist, als ob ich Einkommenssteuer bezahle. Wenn man einmal im Monat zahlt, dann passiert nichts, oder? Irgendeine Steuer führt der Mensch ab, und in meinem Fall zum Beispiel versuche ich, wenn ich von jemandem ein Mandat bekomme, dann versuche ich, dass bei der nächsten Überfahrt der gleiche Zöllner Dienst hat, der mich bestraft hat. (...) Dann erinnert er sich an mich, dass er mich letztens bestraft hat, und Zöllner sind auch Menschen, und ein zweites Mal kommt es selten vor, dass der gleiche Zöllner dich beim nächsten Mal bestraft. ‚Ja, Herr Inspektor, vor drei Tagen haben sie mich bestraft, aber heute habe ich wirklich nichts.’ Und dann sucht er nicht mehr so, so kommt es mir zumindest vor. In meinem Fall mache ich es so, und es funktioniert. Andere vermeiden das, ich mache es ein wenig zum Trotz, aber effektiv.“ (Arek) Auch die oben geschilderte Interaktion zwischen Schmuggler und Zöllner ist Darstellung einer Risikovermeidungsstrategie des Schmugglers durch Einsatz von Wissen („Wer wo sucht“), höflichem, respektvollem Auftreten („Herr Inspektor“), einer Rollendarstellung und Rollenantizipation. Arek präsentiert sich als nichts verbergender Autofahrer („Dieses Mal habe ich bestimmt nichts dabei“). Er tut dies, weil er die Reaktion des Zöllners antizipiert (wiederholte strenge Kontrolle) und versucht, diese erwartete Reaktion abzuwenden, indem er sich vom gleichen Zöllner innerhalb kurzer Zeit nochmals kontrollieren lässt. Diese Überlegung deutet darauf hin, dass sich Arek bei der zweiten Kontrolle relativ sicher fühlt und nur ein geringes Risiko in Betracht zieht. Da der Zoll davon ausgeht, dass so gut wie alle Grenzüberquerer dies aus Schmuggelmotiven tun, wird der Zöllner von einer erneuten strengen Kontrolle nicht absehen, weil er in Arek keinen Schmuggler vermutet. Vielmehr lässt sich Areks Wahrnehmung des Verhaltens des Zöllners als Beispiel für die Aufrechterhaltung des beschriebenen Gleichgewichts zwischen Kontrolleur und Kontrolliertem interpretieren. Das Zitat lässt darüber hinaus erkennen, dass sich Areks Akzeptanz der Sanktionen des Zolls am Erwerbsarbeitssystem orientiert. Er setzt die Zahlung eines Strafmandats mit der Einkommenssteuerzahlung gleich. Dies zeigt, dass sein Bezugspunkt bei der Bewertung der Sanktionen im Erwerbsarbeitssystem liegt. Übersteigen die Zahlungen der Mandate nicht die Summe, die er als angestellter Erwerbstätiger als Einkommenssteuer veranschlagen würde, empfindet er die Sanktion als gerecht. Er überträgt damit Kategorien aus formaler Erwerbstätigkeit in seine informelle Schmuggeltätigkeit und misst mit ihnen den Grad der Gerechtigkeit der erlebten Strafen. Sein Bewertungssystem von der Höhe der Sanktionen korrespondiert also in keiner Weise mit dem des Zolls, das die gefundene Warenmenge als Maßstab geltend macht. Trotz Anwendung verschiedener Strategien bleibt der Grenzübertritt für Schmuggler eine riskante Angelegenheit mit ungewissem Ausgang.
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„Das lohnt sich für mich, das Fahren. Die Schichten, wenn ich weiß, dass ich eine Aussicht zum Transport habe. Das ist keine 100-prozentige Möglichkeit, aber um einiges größer. Das ist (.) das ist ein Risiko (.), immer gibt es ein Risiko, so ein Totolotto, entweder sie haben (.) das hängt auch vom Menschen ab, von seiner Laune und von dem Befehl, den er von seinem Vorgesetzten erhält und, (.) na, das kommt drauf an.“ (Micha) Micha unterscheidet zwischen Schichten je nach der Höhe des Risikos, die sie für ihn bedeuten. Eine gute Schicht ist demnach eine, in der er das Verlustrisiko für sich gering einschätzt. Solch eine Schicht stellt für ihn einen Anhaltspunkt für Vertrauensbildung dar, wodurch das Risiko nicht eliminiert, aber verkleinert wird („Das ist keine 100-prozentige Möglichkeit, aber um einiges größer“). Anhaltspunkte für Vertrauensbildung geben keine vollständige Information über das zu erwartende Verhalten der Vertrauensperson (vgl. Luhmann 1968: 31). Deshalb spricht Micha von Totolotto und ständigem Risiko, auch in Bezug auf eine gute Schicht. Sie garantiert ihm eine begrenzte und strukturiertere Ungewissheit als andere Schichten, da in ihr im Durchschnitt eher Vertrauen gebildet wird als in anderen, nicht bewährten Schichten. Das Zitat macht auch deutlich, dass Micha trotz der hoffnungsvollen Erwartung, nur wenige Waren bei der polnischen Zollkontrolle zu verlieren, gleichzeitig auch die gegenteilige Situation eines großen Verlusts antizipiert, sei es aufgrund der schlechten Laune des Zöllners, der seines Vorgesetzten usw.. Dieses vorsichtige Vertrauen nennt Luhmann unsichere Erwartungen (vgl. Abbildung 14). Bei unsicheren Erwartungen wird das Gegenteil gleich mitgedacht, ohne dass die Erwartung selbst deswegen aufgegeben würde. „Enttäuschungserklärungen sind so in sie eingebaut, dass eine Enttäuschung im Einzelfall kein Problem bietet, sondern die Erwartungsstruktur insgesamt bestätigt“ (Luhmann 1968: 78). Exemplarisch findet es Arek durchaus angemessen, wenn er einmal im Monat ein Strafmandat bekommt, während der übrigen Zeit aber relativ unbehelligt die Kontrollen übersteht. Letztendlich stellt eine polnische Zollkontrolle den Konflikt gegensätzlicher Interessen dar, trotz beschriebener Formen der Kommunikation und Kooperation zwischen Schmugglern und Zöllnern. „Na und sie geben sich Mühe zu suchen, sie werden dafür bezahlt, dass sie etwas finden. Und wir fahren, um was rüber zu bringen. Und genau das ist das Problem.” (Arek) Die beschriebenen Strategien können nur die Wahrscheinlichkeit erhöhen, aus der Fahrt Gewinn zu ziehen. Nicht alle entscheidenden Faktoren können von den Schmugglern kontrolliert werden. Unerwartete Überprüfungen oder nicht vorhergesehene Schichtbesetzungen stellen Unwägbarkeiten dar, die auf die asymmetrischen Machtverhältnisse zwischen Schmugglern und Zöllnern hinweisen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Schmuggler während der Kontrollen des russischen und polnischen Zolls je unterschiedliche Strategien zur Risikominderung anwenden. Ziel der Risikominderung ist es, möglichst wenige Waren abgeben zu müssen. Im Fall des russischen Zolls wird dies durch den Ein-
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satz ökonomischen Kapitals der Schmuggler erreicht. Die Bestechung der Zollbeamten garantiert einen sicheren Transport der Waren. Auf polnischer Seite fußen die Risikovermeidungsstrategien der Schmuggler auf vier Faktoren. Zum ersten müssen sie soziales Kapital als Voraussetzung zur Erlangung relevanten spezifischen Wissens über das Auftreten der polnischen Zöllner einsetzen. Dazu ist Eingebundenheit in soziale Netzwerke unumgänglich. Zweitens betreiben Schmuggler wie Zöllner eine strategische Darstellung ihrer Rollen, um Anhaltspunkte für Vertrauensbeziehungen herzustellen. Diese gegenseitigen Vertrauensbeziehungen dienen ihnen drittens zur Verringerung des Verlustrisikos. Viertens führen die jeweiligen Selbstdarstellungen auch zu einem Gleichgewicht in der Befriedigung der Bedürfnisse aller Beteiligten während ihrer Interaktion. Insgesamt kann festgehalten werden, dass die primäre Handlungsmotivation der Schmuggler bei allen ihren Beziehungen zu weiteren Akteuren im Rahmen des Schmuggels aus einer möglichst effektiven Risikominimierung besteht. Dafür ist der Aufbau von Vertrauensbeziehungen eine Voraussetzung. Erfolgreicher Schmuggel ist ohne Engagement in Vertrauensbeziehungen nicht möglich. Vertrauensbildende Wirkung besitzen langfristige personenbezogene Beziehungen zwischen Akteuren, die sich innerhalb der Schmuggelinfrastruktur bewegen. Trotz der bestehenden Vertrauensbeziehungen werden sie von Unwägbarkeiten und Risiken begleitet. Diese sind durch wechselseitige Abhängigkeiten miteinander mehr oder weniger stark verbunden. All diese Faktoren führen dazu, dass Schmuggel ein soziales Phänomen darstellt, in dem Vertrauensbeziehungen leicht entstehen können. Denn: „In sozialen Zusammenhängen, die so strukturiert sind, nämlich durch relative Dauer der Beziehung, wechselnde Abhängigkeiten und ein Moment der Unvorhersehbarkeit ausgezeichnet sind, findet man einen günstigen Nährboden für Vertrauensbeziehungen. Es herrscht das Gesetz des Wiedersehens.“ (Luhmann 1968: 35)
Vertrauen ist sowohl Voraussetzung als auch Wirkung der Interaktionen der Akteure innerhalb der Schmuggelinfrastruktur. 5.1.3 Fazit Ausgehend von einer Beschreibung einer Schmuggelfahrt sollten mit Hilfe daraus entwickelter Einsichten Voraussetzungen und Regeln der Schmuggeltätigkeit aufgedeckt werden. Beide Beobachtungen konnten unter Hinzuziehung weiteren empirischen Materials präzisiert werden. So wurde herausgearbeitet, dass der Schmuggel in ein regionales Umfeld eingebettet ist, in dem seine bestehende faktische Illegalität mit seiner moralischen Legitimierung seitens der Autoritäten ambivalent kombiniert wird. Voraussetzung für seine massenhafte Ausübung ist die pragmatische funktio-
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nale Auslegung geltender Gesetze durch regionale Entscheidungsträger, die erst durch das Wissen um die sozioökonomische Situation des Untersuchungsgebietes nachvollziehbar wird. Schmuggel genießt angesichts der hohen Arbeitslosigkeit trotz seines illegalen Charakters eine hohe moralische Legitimität, die eng mit seinem praktischen Nutzen für Behörden, Einwohner und die ihn Ausführenden verbunden ist. Die Interpretation von Schmuggel durch Grenzregime und Stadtverwaltung orientiert sich damit nicht am reinen Verordnungstext, sondern schafft ihre eigene objektive Realität in Form einer ambivalenten Doppelmoral von apodiktisch geltenden Gesetzen und deren großzügiger, pragmatischer Auslegung durch regionale Entscheidungsträger, die die Gesetze praktisch umzusetzen haben. Dies wird erstens durch die öffentliche Sichtbarkeit der Schmuggelinfrastruktur auf beiden Seiten der Grenze manifestiert, wie z.B. durch den Linienbus, der keinem anderen Zweck als dem Schmuggel dient, oder die Verkaufsbuden auf russischer Seite. Zweitens ist auch die Aufrechterhaltung bestimmter Rollen während der Zollkontrolle, bei der der Zollbeamte als nachsichtiger Eingeweihter, der Schmuggler hingegen als unschuldiger Reisender auftritt, ein Zeichen dafür, dass der Schmuggeltätigkeit zwar Illegalität zugeschrieben, diese Eigenschaft aber nicht an schwerwiegende Sanktionen gekoppelt wird. „Die Regeln der Konventionalität und Theoretizität des Handelns“ von Mc Hugh (vgl. Büttner 1999: 65) führen die Nichtsanktionierung einer Normverletzung darauf zurück, dass der Beschuldigte offizielle Kontrollinstanzen davon überzeugen kann, dass ihm keine alternativen Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Auf die polnisch-russische Grenze übertragen bedeutet das, dass ein Schmuggler seine normwidrige Tätigkeit vor Vertretern der Exekutive wie Bürgermeister oder Zoll mit Verweis auf fehlende Arbeitsplätze, Armut und Alternativlosigkeit vor Ort rechtfertigen, legitimieren kann. Illegale Routine erscheint im Ergebnis als normale Legalität. Die Illegalität des Schmuggels bedingt auch die spezifischen Regeln, auf denen seine konkrete Ausführung beruht. Zunächst wird deutlich, dass auch die illegale Praktik des Schmuggels betriebswirtschaftlicher Rationalität folgt; eine Tatsache, die seine konkrete Ausgestaltung determiniert. Ökonomisch rationales Verhalten beim Transport von Zigaretten über die polnisch-russische Grenze bedingt Illegalität. Diese wiederum erfordert zwangsläufig Risikobereitschaft, um erfolgreich zu sein. Ziel ist bei allem die größtmögliche Risikovermeidung, um tunlichst wenige Waren zu verlieren. Verschiedene Elemente von Risikovermeidungsstrategien lassen sich aus der Fahrtbeschreibung explizieren. Es konnte gezeigt werden, dass diese auf selektiven Vertrauensbeziehungen unterschiedlicher Intensität zu relevanten Akteuren in der Schmuggelinfrastruktur basieren. Die verfrühte Abfahrt des Busses deutet auf eine feste Gruppe von Passagieren und stabile langfristige soziale Netzwerke hin. Der Austausch über Kontrollmethoden zeigt gegenseitige Solidarität sowie Teilung und Schaffung lokalen Wissens, das Voraussetzung für erfolgreichen
5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung
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Schmuggel ist, denn: Je genauer das relevante Wissen, desto umfassender ist die Kontrolle der Schmuggler über den Erfolg ihrer Strategien, trotz ihrer eigentlich niedrigen Machtposition dem Grenzregime gegenüber. Das Verstecken der Waren ist ein Beispiel für Vertrauen zu anderen Passagieren, dass man nicht verraten wird und Waren nicht entwendet werden. Vertrauen erfordert auch das Teilen des Strafmandats. Sowohl in der Rolle des Käufers als auch des Verkäufers muss der Schmuggler seine Vertrauenswürdigkeit bewahren, um letztlich Gewinne zu erzielen. Dies trifft ebenso für den Umgang mit dem polnischen Zoll zu, der von Vertrauensbeziehungen und unsicheren Erwartungen geprägt ist, wohingegen persönliches Vertrauen zu russischen Grenzautoritäten gänzlich fehlt. Illegalität erfordert ein höheres Maß an Vertrauen, aber gleichzeitig auch klarere Sanktionen im Falle von Vertrauensbruch. Damit gilt für die Illegalität des Schmuggels das Gleiche wie früher für die Effekte des sozialistischen Systems: „(…) it [the effects of the socialist system, B.B.] made personal trust in small primary groups and the maintenance of strong informal social networks and ‚niches’ a necessity of life, because they were the only ones on which one could rely“ (Roth 2007: 10). 5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung Im vorangegangenen Kapitel wurden grundlegende Mechanismen aufgezeigt, nach denen die Schmuggeltätigkeit funktioniert. Nachdem die Funktionsweise des Schmuggels an sich beleuchtet wurde, soll nun – im Hauptteil der empirischen Analyse – auf die Bedeutung der Schmuggeltätigkeit für den Einzelnen eingegangen werden. Die Analyse dieser Fragestellung orientiert sich an einem an dieser Stelle vorzustellenden Kategoriensystem, das sich sowohl am Material als auch an der Forschungsfrage orientiert, also sowohl induktiv als auch deduktiv gebildet wurde. Ziel dieses Kapitels ist es, beispielhafte Bewältigungs- bzw. Vermeidungssstrategien von Armut darzustellen, von denen Schmuggel ein Teil ist. Da diese Tätigkeit im Mittelpunkt der Arbeit steht, geht es besonders um die Frage, welche Rolle der Schmuggel innerhalb der jeweiligen individuellen Bewältigungsstrategie spielt. Die Analyse des empirischen Materials besteht aus drei Schritten und orientiert sich an dem von Kelle, Kluge (1999) vorgeschlagenen Typenbildungsverfahren. Der erste Schritt (in Kapitel 5.2.1) besteht in der Konstruktion und Definition von Kategorien und ihren Merkmalsausprägungen, auch Subkategorien genannt. Diese Kategorien sollen auf ein übergreifendes theoretisches Gerüst bezogen werden (vgl. ebenda: 101), um die theoretische Bedeutung der heraus zu arbeitenden Muster und Strukturen aufzeigen zu können. Bei der Konstruktion des Kategoriensystems müssen dem Theoriekapitel zufolge sowohl ökonomische Haushaltsstrategien als auch die darüber hinausgehende
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5 Analyse des empirischen Materials
Alltagsorganisation des Individuums berücksichtigt werden, um die Elemente seiner Bewältigungsstrategie hinreichend herausarbeiten zu können. Danach richtet sich auch das im Folgenden präsentierte Kategoriensystem. Die Oberkategorien wurden sowohl deduktiv anhand der Forschungsfrage als auch induktiv anhand des verfügbaren Materials, die Subkategorien ausschließlich induktiv durch eine vergleichende Analyse der zu den Subkategorien gehörenden Textpassagen entwickelt. Dabei bildet empirisch gehaltvolles Alltagswissen die Grundlage. In einem zweiten Schritt (in Kapitel 5.2.2) werden alle Fälle um die Kategorien und ihre Ausprägungen gruppiert. Dies wird in Tabellenform dargestellt. Durch die Abbildung eines Merkmalsraums wird jeder einzelne Fall seiner jeweiligen Merkmalskombination zugeordnet, woraus sich eine vorläufige Gruppierung der Fälle ergibt. Nach dieser ersten Strukturierung werden die inhaltlichen Sinnzusammenhänge zwischen den Ausprägungen analysiert und somit die Anzahl der Gruppen von Fällen auf wenige verdichtete Typen reduziert. In einem dritten und letzten Schritt (in Kapitel 5.2.3) erfolgt die Charakterisierung dieser Typen durch eine jeweilige Exemplifizierung anhand empirischer Beispiele und abschließend jeweils eine abstrahierende Erläuterung der Merkmale und überindividuellen Muster jeden Typs. Damit sollen über den Einzelfall hinausgehende systematische Zusammenhänge zwischen einzelnen Elementen der Armutsvermeidung- bzw. Armutsbewältigung festgestellt werden. Dabei sollte der rein analytische Charakter der zu bildenden Typen beachtet werden. Nicht die Realität im Ganzen soll damit wiedergegeben werden, sondern die hier vorgenommene Typisierung dient vielmehr dem Zwecke des Verstehens, der Handhabbarmachung und Einordnung eines bestimmten Ausschnitts der Realität, hier dem Schmuggel an der polnisch-russischen Grenze. 5.2.1 Vom Einzelfall zum Typus: Die Erarbeitung relevanter Vergleichsdimensionen Das folgende Kategoriensystem wurde anhand des Materials und der Forschungsfrage entwickelt. Um dem theoretischen Rahmen dieser Arbeit gerecht zu werden, soll die Zuordnung zu den Merkmalsausprägungen sowohl auf individueller Ebene, da ja persönliche Lebensführungskonzepte und Bewältigungsstrategien im Fokus stehen, als auch auf Haushaltsebene gemacht werden, da erst unter Einbeziehung des gesamten Haushalts die Spannbreite von Einkommenskombinationen deutlich wird. Deshalb wurden auch Aussagen von bzw. Informationen von weiteren Haushaltsmitgliedern in die Analyse mit einbezogen.
5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung
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1. Kategorie: Persönliche Gründe und Motivationen für die Schmuggeltätigkeit Um die individuelle Bedeutung des Schmuggels feststellen zu können, muss auch auf die Gründe für die Aufnahme der Schmuggeltätigkeit eingegangen werden. In diesem Zusammenhang wird besonders auf bedeutsame eventuelle biographische, möglicherweise transformationsbedingte Brüche geachtet. Unterkategorien sind dabei:
geringe staatliche Sozialleistungen (darunter fällt Arbeitslosengeld genauso wie Leistungen vom Sozialamt, Altersbezüge und Krankheitsrenten), geringes Erwerbseinkommen, gar kein Einkommen, Neugierde, Langeweile.
2. Kategorie: Soziale Netzwerke als wichtige Haushaltsressource Wie auf S. 48f. angemerkt, wird eine ökonomische Haushaltsstrategie innerhalb der Familie zwischen deren einzelnen Mitgliedern ausgehandelt. Dabei sind die bestehenden Machtverhältnisse innerhalb der Familie nicht unerheblich. Aber auch außerfamiliäre Netzwerke sind von Interesse sowohl für die Analyse von Haushaltsstrategien als auch der individuellen Lebensführung, da sie immer ein Teil derselben sind und ihre Beschaffenheit die Art und Weise der Armutsbewältigung beeinflusst. Die Frage, welche Rolle die Qualität unterschiedlicher sozialer Netzwerke für den Schmuggelerfolg des Einzelnen spielt, ist hier von Interesse. Unterkategorien sind dabei:
Netzwerke zu Grenzautoritäten (mit den Ausprägungen eng = Bestechung, neutral = keine besonderen Vorkommnisse, konflikthaft = Bedrohung, verbale Attacken), Netzwerke zu Bekannten (mit den Ausprägungen eng = vertrauensvoll, gegenseitige Unterstützung, neutral = distanziertes Verhältnis, konflikthaft = von Misstrauen geprägt, ambivalent), Netzwerke innerhalb der Familie (mit den Ausprägungen eng = vertrauensvoll, gegenseitige Unterstützung, neutral = distanziertes Verhältnis, konflikthaft = von Misstrauen geprägt, ambivalent), Netzwerke zu anderen Schmugglern (eng = vertrauensvoll, gegenseitige Unterstützung, neutral = distanziertes Verhältnis, konflikthaft = von Misstrauen geprägt, ambivalent).
3. Kategorie: Organisation des Schmuggels Die dritte Kategorie leitet von der Haushaltsstrategie zur Lebensführung über. Wie wird der Schmuggel organisiert, und auf welche Weise werden andere Lebensberei-
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5 Analyse des empirischen Materials
che mit seiner Ausführung kombiniert? Die Häufigkeit der Schmuggelfahrten, die Art und Weise des Verkaufs der Schmuggelware, ihre Menge und die Wahl des Transportmittels lassen Rückschlüsse auf die Priorität des Schmuggels in der individuellen Lebensführung zu. Unterkategorien sind dabei:
Häufigkeit (mit den Ausprägungen häufig = mehrmals in der Woche, sporadisch = mehrmals im Monat, selten = mehrmals im Jahr), Verkaufsart (auf Markt, im Familien- und Bekanntenkreis, an Großhändler), Transportmittel (Linienbus, privater Bus, privates Fahrzeug).
4. Kategorie: Schmuggel in Kombinationen von Einkommensquellen Um Aussagen über die Bedeutung des Schmuggels in der Haushaltsökonomie treffen zu können, bedarf es eines Überblicks über eventuell weitere Einnahmequellen des Haushalts. Wird Schmuggel, und wenn ja, wie wird er mit weiteren informellen, formellen und Subsistenz-Aktivitäten verbunden? Mögliche kombinierbare Einkommensquellen sind:
Schmuggel, weitere informelle Tätigkeiten, formelle Erwerbstätigkeit, Subsistenzwirtschaft, staatliche Unterstützungsleistungen, familiäre Unterstützung.
Die bloße Aufstellung von Einkommenskombinationen macht aber noch nicht die konkrete Rolle des Schmuggels darin deutlich. So ist es z.B. möglich, dass trotz einer Einkommenskombination aus Schmuggel, staatlicher Unterstützung, Subsistenzwirtschaft und informellen Tätigkeiten der Großteil des Einkommens aus dem Schmuggel stammt und die anderen Erwerbsquellen eher unbedeutend sind. Andersherum ist es auch denkbar, dass bei einer Einkommenskombination zwischen Schmuggel und formeller Erwerbsarbeit die Schmuggeleinnahmen kaum ins Gewicht fallen. Um die ökonomische Bedeutung des Schmuggels zu erfassen, bedarf es einer Aufstellung des Grades der ökonomischen Abhängigkeit der Schmuggeleinnahmen des Einzelnen bzw. seines Haushalts. Wird der größte Teil des Haushaltseinkommens aus Schmuggel gewonnen, ist die finanzielle Abhängigkeit von den Schmuggeleinnahmen sehr hoch. Diese Tatsache hat wiederum Auswirkungen auf die Alltagsorganisation. Es kann die These aufgestellt werden, dass es einen Zusammenhang zwischen der Priorität des Schmuggels in der Alltagsorganisation und dem Grad der finanziellen Abhängigkeit von ihm gibt. Z.B. besitzt die Schmuggeltätig-
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keit bei hoher Abhängigkeit von ihr höchste Priorität und dominiert die Alltagsorganisation. In dem Zusammenhang soll auch kurz auf die persönliche Bewertung der Schmuggeltätigkeit eingegangen werden. Unterkategorien sind dabei: Schmuggel ist wichtigste und/oder alleinige Einnahmequelle (Schmuggel hat hohe Priorität, da der größte Teil des Haushaltseinkommens aus ihm gewonnen wird), Schmuggel ist eine Einnahmequelle unter weiteren gleich bedeutenden (Schmuggel hat mittlere Priorität, da das Haushaltseinkommen zu ungefähr gleichen Teilen aus ihm und anderen Einnahmequellen gewonnen wird), Schmuggel ist eine unbedeutende Einnahmequelle (Schmuggel hat niedrige Priorität, da nur ein geringer Teil des Haushaltseinkommens aus ihm gewonnen wird). 5. Kategorie: Verwendung der Schmuggeleinnahmen für die Haushaltsökonomie Auf der ökonomischen Ebene ist von Interesse, wofür die Einnahmen aus dem Schmuggel verwendet werden. Werden damit laufende Ausgaben beglichen, oder wird der Gewinn gespart? Handelt es sich um Kapital, mit dem in die Zukunft investiert wird, oder stellt es die nötigen Reserven für die nächste Fahrt nach Russland dar? Der Umgang mit dem aus Schmuggel gewonnenen Einkommen lässt wichtige Rückschlüsse auf die zukünftige Entwicklung der Region und das Ausmaß des Schmuggels zu. Bei der Analyse der Verwendung der Schmuggeleinnahmen muss die gesamte Einkommensstruktur des jeweiligen Haushalts Betracht gezogen werden, um den Verwendungszweck in einen sinnvollen Zusammenhang stellen zu können. Unterkategorien sind dabei:
Verwendung für laufende Kosten, Investitionen in Schmuggelaktivität, Investitionen in persönliche Konsumgüter und Freizeitgestaltung, langfristige Zukunftsinvestitionen (Bildung, Renovierung usw.), Sparen.
Da hier Überschneidungen zwischen den Ausprägungen möglich sind, erfolgt die Zuordnung auf Grundlage der vorwiegenden Verwendung der Schmuggeleinnahmen im Haushalt. 6. Kategorie: Verlaufsmuster der Schmuggeltätigkeit Wichtige Rückschlüsse auf die Bedeutung der Schmuggeltätigkeit im Alltag kann man daraus ziehen, ob sie über Jahre einen kontinuierlichen Bestandteil des Alltags darstellt oder in unregelmäßigen Abständen je nach Bedarf aufgenommen wird.
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5 Analyse des empirischen Materials
Unterkategorien sind dabei:
episodischer Verlauf des Schmuggels, durchgängiger Verlauf des Schmuggels.
Es mag auffallen, dass keine Kategorie „Alltagsorganisation“ aufgeführt wird, obwohl das Ziel dieser Analyse in der Herausarbeitung der Rolle des Schmuggels für individuelle Lebensführungen besteht. Die Analyse der Fälle mit Hilfe der vorgestellten Kategorien soll jedoch gerade dies im Ergebnis zeigen: wie Alltag organisiert wird und welche Rolle Schmuggel dabei spielt. 5.2.2 Zuordnung der Fälle Nun werden die Fälle jeweils der passenden Subkategorie, also der jeweils auftretenden Merkmalsausprägung zugeordnet. Daraus geht hervor, dass die große Mehrheit der Befragten die Schmuggeltätigkeit aus ökonomischen Gründen aufgenommen hat und nur wenige etwa aus Neugier oder Langeweile schmuggeln. Dies untermauert die in dem Abschnitt zur Kategorie 3 formulierte These, dass der Grad der ökonomischen Abhängigkeit von Schmuggeleinnahmen die Rolle des Schmuggels für den Einzelnen und seinen Haushalt determiniert. Die Kategorie „Schmuggel in Kombinationen von Einkommensquellen“ besitzt also eine herausgehobene Position im Kategoriensystem, da ihre Ausprägungen diejenigen weiterer Kategorien beeinflusst: Die Schmuggelorganisation z.B. richtet sich nach dem Grad der ökonomischen Abhängigkeit vom Schmuggel und somit nach der jeweiligen Priorität des Schmuggels im Alltag, ebenso das Verlaufsmuster des Schmuggels. Deshalb erfolgt eine erste Gruppierung der Fälle anhand ihrer Zuordnung zu den Ausprägungen der oben genannten Kategorie. Die Fälle werden je nach der Bedeutung des Schmuggels als wichtigste, als ebenbürtige Einnahmequelle unter weiteren und als unbedeutende Einnahmequelle sortiert (siehe Tabelle 16). Wie aus der Tabelle ersichtlich, muss der Schmuggel für Angehörige der gleichen Lebensformgruppe (wie z.B. Arbeitslose, Rentner, Studenten, Erwerbstätige) nicht die gleiche Bedeutung besitzen. Für den einen Arbeitslosen kann er eine reine Belastung darstellen, für den anderen die Möglichkeit, seine unternehmerischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Diese Einteilung gibt aber noch nicht die vielfältige Spannbreite dessen wieder, welche unterschiedlichen Bedeutungen Schmuggel für die ihn Ausführenden haben kann.
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Tabelle 16: Zuordnung der Fälle zu Kategorie 3: „Schmuggel in Kombinationen von Einkommensquellen“ Ökonomische Bedeutung des Schmuggels
Fälle
Vorkommende Lebensformgruppen
Schmuggel hohe Priorität: alleinige oder wichtigste Einnahmequelle Agnieszka, Arek, Georgia, Jerzy, Lucyna, Magda, Marzena, Rafa, Walentina, Wanda, Bolesaw Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Rentner
Schmuggel mittlere Priorität: eine Einnahmequelle unter weiteren Joanna, (Walentina, Georgia, Georg, Wanda, Jerzy zeitweise) Zara, Beata, Piotr Erwerbstätige, Arbeitslose, Rentner
Schmuggel niedrige Priorität: unbedeutende Einnahmequelle Marta, Krystian, Georg, Hanna, Oliwia, Anita, Micha
Studenten, Rentner, Erwerbstätige
Kombiniert man die obige Zuordnung mit den Ausprägungen der Kategorie „Vorwiegende Verwendung der Schmuggeleinnahmen“, so lassen sich aus der so entstandenen Merkmalskombination folgende fünf Typen begründen, die Tabelle 17 abbildet. Die fett gedruckten Namen bilden die Fälle ab, die zur Charakterisierung der gebildeten Typen herangezogen werden. Die Kombination der Ausprägungen der beiden Kategorien „Ökonomische Bedeutung des Schmuggels“ und „Vorwiegende Verwendung der Schmuggeleinnahmen“ ermöglichen eine eindeutige Zuordnung der unterschiedlichen Ausprägungen der Kategorien zu bestimmten Typen, die in der Tabelle dargestellt sind. Deshalb wurden diese beiden Kategorien für die Darstellung ausgewählt und die weiteren an dieser Stelle nicht berücksichtigt. Die Kategorie „Verlaufsmuster des Schmuggels“ besitzt nur zwei Ausprägungen, weswegen eine aussagekräftige Zuordnung nicht möglich ist. Die Kategorien „Gründe“, „Schmuggelorganisation“ und „Netzwerke“ sind zum einen zu komplex und daher ungeeignet, um auf übersichtliche Art und Weise einen Merkmalsraum darzustellen. Zum anderen sind die Ausprägungen dieser Kategorien vor allem wichtig, um Sinnzusammenhänge zwischen den Kategorien zu erläutern und weniger deutlich in der Definition bestimmter Typen. Ziel ist an diesem Punkt die transparente Herleitung der in Tabelle 17 zum ersten Mal dargestellten Typen, was durch den tabellarischen Merkmalsraum erreicht wird.
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5 Analyse des empirischen Materials
Tabelle 17: Merkmalsraum und Typenbildung Ökonomische Bedeutung des Schmuggels Schmuggel mittlere Priorität: Schmuggel hohe Priorität: eine gleichwertige Einnahmequelle unter weiteren alleinige oder wichtigste ErwerbsarSozialtransEinnahmebeit und fers und quelle Schmuggel Schmuggel Vorwiegende Verwendung der Schmuggeleinnahmen
Investieren in Schmuggel
laufende Ausgaben
„professioneller Unternehmer“ Rafa, Arek, Walentina, Bolesaw „starker Existenzsicherer“ Agnieszka, Lucyna, Magda, Marzena, Wanda „pragmatischer Kompensierer“ Zara, Beata, Piotr, Georgia, Jerzy
laufende Ausgaben/ Zukunftsinvestitionen
laufende Ausgaben/Zukunftsinvestitionen
persönliche Konsumgüter, Freizeit
Schmuggel niedrige Priorität: unbedeutende Einnahmequelle
„prekärer Multiverdiener“ Joanna, (Walentina, Georgia, Georg, Wanda zeitweise) “abenteuerlustiger Nebenverdiener” Marta, Krystian, Georg, Hanna, Oliwia, Anita, Micha
5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung
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Wichtig zu erwähnen ist, dass sich zwar die meisten Fälle eindeutig den genannten Typen zuordnen lassen, manche jedoch auch Merkmale unterschiedlicher Typen vereinigen. Verschiedene Personen haben die Zugehörigkeit zu einem der vorgestellten Typen im Laufe ihres Lebens gewechselt. So konnte man Georg, Wanda, Walentina und Georgia zum Beispiel während früherer Lebensabschnitte zum Typ des „prekären Multiverdieners“ zählen, während die Rolle des Schmuggels für sie gegenwärtig eine andere ist (siehe Tabelle 17). Nachdem das Sample bestimmten Typen von Schmugglern zugeordnet wurde, sollen die genannten Typen im Folgenden detailliert charakterisiert und erläutert werden. 5.2.3 Charakterisierung der gebildeten Typen In diesem Schritt werden inhaltliche Sinnzusammenhänge zwischen den Merkmalsausprägungen für jeden Typ rekonstruiert, um zu einer umfassenden und präzisen Charakterisierung der gebildeten Typen zu gelangen. Dabei werden die Besonderheiten jedes Typs zuerst durch einzelne Fälle veranschaulicht, die dem jeweiligen Typus besonders passgenau entsprechen. Bei der Exemplifizierung der gefundenen Typen wird einerseits das Typische an den ihnen zugeordneten ausgewählten Fällen aufgezeigt und ein Schwerpunkt auf jene Charakteristika gelegt, die den zugrunde liegenden Typus am besten repräsentieren. Andererseits soll die Veranschaulichung der konstruierten Typen anhand untersuchter realer Fälle dazu dienen, dicht am Material zu bleiben und damit auch individuelle Lebenssituationen und Besonderheiten in den Blickpunkt zu rücken. Ziel dieser Analyse ist die Herausarbeitung der unterschiedlichen Bedeutungen von Schmuggel in der Armutsbewältigung bzw. Armutsvermeidung des Einzelnen. Dies umfasst sowohl die ökonomische Rolle der Schmuggeltätigkeit für die Haushaltsökonomie als auch die anschließende Frage, wie die alltägliche Lebensführung um den Schmuggel herum organisiert wird. Es geht also um die Herausarbeitung individueller Bewältigungsstrategien in der Armutsökonomie unter Skizzierung der ökonomischen Haushaltsstrategien und der allgemeinen Alltagsgestaltung des Einzelnen.
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5 Analyse des empirischen Materials
5.2.3.1 Typ „Professioneller Unternehmer“: „Geld muss immer im Haus sein“ Biographische Eckdaten Rafa wurde 1957 geboren und begann sein Berufsleben nach dem Abschluss der Mittelschule mit einer Ausbildung zum Schweißer. Nach Abschluss der Ausbildung arbeitete er zweieinhalb Jahre auf der Werft in Gdask in seinem erlernten Beruf. Anfang der 1980er Jahre heiratete er und zog zu seiner Frau nach Braniewo. Dort fand er in der „Staatlichen Maschinen-Traktoren-Station“ (Pastwowy Orodek Maszynowy“, POM94) zunächst für kurze Zeit Beschäftigung als Schweißer. Danach arbeitete er für den gleichen Arbeitgeber als Fahrer. Fünf Jahre lang fuhr er Traktoren, später lenkte er Personenfahrzeuge. 1982 wurde seine Tochter geboren, zwei Jahre später folgte ein Sohn. Im Maschinenzentrum gefiel es ihm, er lobt die dortigen Arbeitsbedingungen und hätte dort gern noch länger gearbeitet. „Im POM, dort, wo ich früher arbeitete, wenn es sich nicht aufgelöst hätte, würde ich bis heute dort arbeiten, dort ging es mir gut.“ Während der Zeit bei POM unternahm Rafa mit dem Betrieb auch Ausflugsfahrten ins benachbarte Kaliningrad und nach Litauen. 1993 wurde der Betrieb geschlossen. Daraufhin wechselte Rafa zu einem privaten Unternehmen, das mit Farben handelte. Dort blieb er sechs Jahre. Seine Aufgabe bestand in der Auslieferung von Farben im gesamten Gebiet der Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie. Diese Arbeit erinnert er als sehr anstrengend, mit langen Arbeitszeiten und körperlich fordernden Tätigkeiten. „Ich arbeitete bei ihm, mit diesen Farben, da arbeitete ich ab acht bis ich es geschafft hatte. Wenn ich früher alles fertig hatte, dann war ich früher, aber früher, das war fünf oder sechs Uhr, und manchmal wurde es auch acht Uhr abends. Zwei Tonnen Ladung allein, mit der Hand, ins Auto. Und diese Ladung verteilen in den Läden, im ganzen Gebiet, ich machte 200, 300 km täglich. Das war viel Fahrerei und viel Schlepperei, weil zwei Tonnen Ladung einladen und zwei Tonnen ausladen, na, das war schon ein bisschen, vier Tonnen.“ Im Jahr 1999 wechselte er freiwillig die Arbeitsstelle zu einer etwas besser bezahlenden Firma im Umweltschutzbereich, für die er am Grenzübergang eine Umweltschutzgebühr von den Reisenden einsammelte. Im gleichen Jahr verlor seine Frau ihre Arbeitsstelle in der Küche der Brauerei, wo sie nach einer kurzen Zeit beim Polnischen Roten Kreuz die letzten Jahre arbeitete. In ihrem gelernten Beruf als Schneiderin war sie nie tätig.
94 Die „POM”s boten maschinelle Dienstleistungen für die Kooperationen und die Staatsgüter an (vgl. Philipp 1983: 19).
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Die Mehreinnahmen durch Rafas neue Stelle waren dem Haushalt also sehr willkommen. Dabei handelte es sich um eine ermüdende und erschöpfende Tätigkeit. Rafa arbeitete bei jedem Wetter rund 12 Stunden. Sein auf zwei Jahre befristeter Vertrag wurde aufgrund einer Personalreduzierung nicht verlängert, so dass er 2001 zum ersten Mal in seinem Leben arbeitslos wurde und für ein Jahr Arbeitslosengeld bezog. Nach Bezugsende der Unterstützung standen Rafa und seine Frau ohne jegliches Einkommen da. Auch ihre Kinder waren zu dem Zeitpunkt noch nicht erwerbstätig. Rafa bewohnt mit seiner Frau und seinem Sohn eine Eigentumswohnung von 47 qm. Von seinen kürzlich verstorbenen Eltern hat er eine zweite Wohnung geerbt, die er für seinen Sohn ausbauen möchte, falls dieser sich zur Heirat entschließt. Gründe für Schmuggel und Netzwerke In dieser Situation begann Rafa mit dem Schmuggel: „Ich war einfach gezwungen. Deshalb, weil es keine Arbeit gab. Das Arbeitslosengeld war zu Ende, also von irgendetwas musste man leben. Umso mehr, als dass meine Frau nicht arbeitet. Der Sohn arbeitet jetzt, aber arbeitete damals auch nicht. Die Tochter auch nicht. Na, vier Personen, man muss für Licht, Strom, die Telefone, für alles muss man bezahlen, und wovon? Also war ich gezwungen.“ Das Zitat beginnt und endet mit einem Verweis auf äußere Zwänge, mit denen Rafa seine Schmuggeltätigkeit legitimiert. Schmuggel als logische und folgerichtige Reaktion auf unverschuldete, außerhalb der eigenen Einflusssphäre liegende Umstände. Dadurch gibt Rafa seine persönliche Verantwortung für die Entscheidung für den Schmuggel ab. Er sieht sich in seiner Handlungsfreiheit derart eingeschränkt, dass er Schmuggel als die einzig mögliche sinnstiftende Handlungsoption darstellt. Seine vorhergehende zweijährige Tätigkeit am Grenzübergang bot vorteilhafte Voraussetzungen für seine Schmuggeltätigkeit. Erstens war er dadurch mit dem Prozedere der Grenzabfertigung vertraut, und zweitens knüpfte er in der Zeit viele Kontakte zu weiteren Schmugglern, was ihm bei seiner eigenen Schmuggeltätigkeit zugute kommt. „Ich habe sehr viele Bekannte, viele, viele, weil ich an dieser Grenze gearbeitet habe. Und aus diesem Grund habe ich sehr, sehr viele Bekannte.“ Aber nicht nur zu weiteren Schmugglern, auch zu den Grenzautoritäten pflegt Rafa äußerst enge Beziehungen. Durch unterschiedliche Abhängigkeiten, durch die bestimmte Zöllner mit ihm verbunden sind, kann er davon ausgehen, dass seine Waren bei Kontrollen durch diese Zöllner nicht entdeckt werden. Einer von ihnen ist sein Nachbar, ein anderer sein Cousin und ein Dritter mietet bei Rafa eine Wohnung. Wenn Rafa von diesen Bekannten kontrolliert wird, kann er sicher sein, dass er kein Strafmandat bekommt und daher keine Strafgebühren zahlen muss.
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„Ungefähr weiß ich, wer an der Grenze zu welcher Schicht gehört. Ich weiß das. Es gibt eine Schicht, zu der kann man nicht fahren, es gibt so eine, zu der man fahren kann. (…) Hier hinten habe ich einen Nachbarn, der auch dort [an der Grenze, B.B.] arbeitet. Sie haben dort nur eine Schicht, zu der man ohne Mandat fahren kann. Ich habe kein Mandat, nicht ein einziges Mal ist mir das bei der Schicht passiert.“ Da Rafa keine weiteren Erwerbsverpflichtungen hat, ist er zeitlich flexibel und kann seinen Alltag so planen, dass er immer dann nach Russland fährt, wenn die „gute“ Schicht Dienst hat, und sei es nachts. Sein Haushalt ist existentiell auf die Schmuggeleinnahmen angewiesen, daher verwendet Rafa viel Energie darauf, das Verlustrisiko so gering wie möglich zu halten. Er muss er sich nach dem Arbeitsplan des Zolls richten, was wiederum aufgrund der Ausschließlichkeit des Schmuggels als einkommensgenerierende Tätigkeit zeitlich und organisatorisch kein Problem ist. Seine außergewöhnlich intensive Einbettung in soziale Netzwerke führt dazu, dass er sein Risiko des Warenverlusts als sehr gering einschätzt und sich den Kontrollautoritäten mit großem Selbstbewusstsein nähert. „Und die Polizei steht, da muss man aufpassen. Aber ich habe schon, praktisch alles Bekannte, also im Grunde hab ich keine Angst, ich fahre da durch. Andere haben Angst, ich fahre da, gucke nicht, ob sie stehen oder nicht, ich fahre nach Hause und Schluss.“ Seine besondere Stellung wird im Zitat durch den Vergleich mit anderen Schmugglern deutlich, die im Gegensatz zu ihm Angst vor etwaigen Straßenkontrollen haben. Schließlich nutzt Rafa die guten Beziehungen zu seiner Frau und seiner Tochter für den Schmuggel. Zu Beginn seiner Schmuggelfahrten ist er allein nach Russland gefahren, doch kurz darauf überredete er seine Frau, mit ihm mitzukommen, weil man doch zu zweit mehr Waren mitnehmen kann als eine einzelne Person. Seit einigen Monaten fährt auch noch seine Tochter mit seiner Frau nach Russland, so dass Rafa aus einer Einmannfirma ein Familienunternehmen gemacht hat, das auch durch andere Familienmitglieder, wie dem als Zöllner arbeitenden Cousin, unterstützt wird. Rafa profitiert also in seiner Schmuggeltätigkeit stark von dichten und vielfältigen Netzwerken. Die folgende Abbildung soll Rafas Einbindung in soziale Beziehungen veranschaulichen. Wie anhand der Grafik deutlich zu erkennen ist, sind alle von Rafa angegebenen Netzwerkbeziehungen zu Akteuren relevant für seinen Schmuggelerfolg, was zeigt, wie stark und vielfältig die Schmuggeltätigkeit mit Rafas Alltag verwoben ist.
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Abbildung 15: Egozentriertes Netzwerk von Rafa95
Organisation des Schmuggels Da Rafa sein gesamtes Einkommen aus dem Schmuggel bezieht, muss er häufig fahren, um genug damit zu verdienen. Er ist mindestens drei bis vier Mal in der Woche zusammen mit seiner Frau unterwegs. Diese wiederum fährt zwei bis drei Mal mit der Tochter, während Rafa sich ausruht. Um häufige Fahrten zu realisieren, darf eine einzelne Fahrt nicht zu lange dauern. Die russische Grenzadministration entscheidet maßgeblich über die Länge der Wartezeit auf russischer Seite. Um nicht Tage warten zu müssen, bezahlt Rafa jedes Mal 50 Rubel (ca. 1,5 Euro) an die 95
Keine der Netzwerkabbildungen erhebt Anspruch auf Vollständigkeit. Die Länge der Pfeile und die Anordnung der Netzwerkmitglieder tragen keine relevante Aussage. Die Dicke des gestrichelten Pfeils, der eine konflikthafte Beziehung abbildet, zeigt ihre Bedeutung für den Mittelpunkt des jeweiligen Netzwerkes.
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russische Polizei, die Miliz, und darüber hinaus legt er einen Dollar für den Grenzschutz in seinen Pass, um effektive Kontrollen zu vermeiden. Zum Zeitpunkt des Interviews fährt Rafa normalerweise nachts, während seine Frau und Tochter sich tagsüber auf den Weg machen. Wer wann fährt, machen alle Beteiligten aber von dem Dienstplan des Zolls abhängig. Durch das sukzessive Fahren versorgen sich die drei schmuggelnden Familienmitglieder immer mit den neusten Informationen von der Grenze und können reihum die Weiterverarbeitung der Schmuggelware96 für die Übergabe an den Zwischenhändler übernehmen, so dass die Waren nur für eine sehr kurze Zeit bei ihnen zu Hause bleiben müssen. Außerdem kann sich Rafa durch die von Frau und Tochter erschmuggelten Einnahmen erlauben, eine Zeitlang zu pausieren und Urlaub zu machen – auch durch ein Mehr an Freizeit bei gleichbleibenden Einnahmen profitiert er vom Einstieg weiterer Familienmitglieder in sein Schmuggelunternehmen. Was bei Rafa im Vergleich zu allen weiteren befragten Schmugglern am stärksten ausgeprägt ist, ist der Grad seiner Professionalisierung. Neben den zuverlässigen Netzwerken zu Zöllnern macht sich dies sehr gut an seinem Fahrzeug bemerkbar. Nachdem er die ersten Male mit dem Auto nach Russland gefahren ist, kaufte er sich auf der Börse in Gdask ein Motorrad und benutzt dieses seither zum erfolgreichen Schmuggeln. Der Vorteil des Motorrads liegt laut Rafa in den besseren Versteckmöglichkeiten, die es im Vergleich zu seinem Auto bietet. Außerdem ist das Fahrzeug weniger wertvoll als sein Auto, dem die Zöllner, zu denen er ein distanzierteres Verhältnis hat, mit Schraubenziehern zu Leibe rücken und es beschädigen könnten. Darüber hinaus kann er mit dem Motorrad an den wartenden Autos vorbeifahren und so Wartezeit sparen. Rafa transportiert den größten Teil der Schmuggelware in seinem Motorrad und nicht am Körper. Dazu hat er den Original-Zehnlitertank herausgenommen und durch einen nur einen Liter fassenden Tank ersetzt. Durch diese Veränderung hat er Platz für ein Versteck von ca. sieben Zigarettenstangen geschaffen, die er – bisher unentdeckt – transportieren kann. Rafa richtet sich bei Warenmenge und Warenart ausschließlich nach den Wünschen seines Abnehmers, der seine Waren wiederum weiterverkauft. Dieser schreibt ihm für jede Fahrt eine Liste, was genau er mitbringen soll. So ist Rafa in der komfortablen Situation, sich keine Gedanken um den Verkauf seiner Waren machen zu müssen, sondern er hat eine Abnahmegarantie und weiß, welche Preise ihm der Abnehmer für welche Zigaretten zahlt. Rafas Schmuggelorganisation zeichnet sich vor allem durch betriebswirtschaftliche Rationalität und größtmögliche Effizienz aus: passgenaue Verstecke, abgesprochene Wareneinkäufe, Zeitersparnis durch geschickte Wahl des Transportmittels und Bestechung, strategischer Einsatz 96 Zur Weiterverarbeitung gehört vor allem die originalgetreue Wiederherstellung der verkaufstauglichen Verpackungen in Form von Stangen von jeweils zehn Zigarettenpäckchen. Auch das Umfüllen von Alkohol aus unverdächtig aussehenden Saftflaschen in die Originalflaschen ist ein Beispiel für die Weiterverarbeitung von Schmuggelware.
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von Kontakten. Durch mehrfache effektive Risikominimierung schmuggelt er überaus erfolgreich. Einkommensstruktur und Verwendung der Schmuggeleinnahmen Seit 2001 leben Rafa und seine Haushaltsmitglieder fast ausschließlich von den Einnahmen aus dem Schmuggel, den er also durchgängig betreibt. Wie hoch sind diese Einnahmen und wie setzen sie sich zusammen? Welche Ausgaben werden damit bestritten? Rafa nimmt auf jeder Fahrt mit seiner Frau zwischen 25 und 35 Zigarettenstangen mit. Während des Untersuchungszeitraums dieser Arbeit waren es mindestens 30 Stangen. Seine Frau und seine Tochter nehmen auf ihren Fahrten ungefähr die gleiche Warenmenge mit. Das ist im Vergleich zu anderen befragten Schmugglern sehr viel, wie auch Rafa selbst meint. „Wie der Kollege gesagt hat, er nimmt um die zehn mit. Ich in diesem Moment nehme mindestens 30.“ Die Warenmenge erklärt sich daraus, dass Rafa schon ein Strafmandat und den Verlust einiger Stangen bei der Zollkontrolle einkalkuliert. „Deshalb nimmt man mehr mit. Wenn ich fünf Stangen wegwerfen und 100 Zoty für das Mandat bezahlen muss, dann muss man mehr nehmen. Dann lohnt es sich für mich.“ Angenommen, der Zwischenhändler trägt Rafa auf, 25 Stangen „Jin Ling“ und drei Liter Wodka der Marke „Remova“ zu besorgen. Eine Stange „Jin Ling“ kostet in den russischen Verkaufsbungalows im Zeitraum der Feldforschung 2,20 US-Dollar. Nach dem damaligen Wechselkurs war ein US-Dollar 3,20 Zoty wert, also kostet eine Stange umgerechnet gut 7 Zoty. Da Rafa von einem Warenverlust ausgeht, kauft er vorsorglich 30 Stangen „Jin Ling“ ein und bezahlt dafür umgerechnet knapp 212 Zoty. Jeder Liter Wodka kostet im Duty-Free-Shop 10 Zoty, insgesamt also 30 Zoty. Eine Stange „Jin Ling“ verkauft Rafa für 21 Zoty an den Weiterhändler weiter, den Wodka nimmt dieser für 18 Zoty ab. Rafa macht also bei jeder Stange „Jin Ling“ 14 Zoty Gewinn, der Liter Wodka wirft 8 Zoty ab. Bei 30 Stangen und 3 Litern ergibt sich daraus eine Summe von 444 Zoty. Abzüglich eines Mandats in Höhe von 100 Zoty und des Verlusts von fünf Stangen, der 70 Zoty ausmacht, bleiben Rafa als Reingewinn 274 Zoty von dieser fiktiven Fahrt. Davon müssen noch der Sprit für das Motorrad abgezogen werden und die Kosten auf russischer Seite von einem Dollar (3,20 Zoty) für den Grenzschutz, ca. 100 Rubel (12 Zoty) für die Polizei und einen halben Dollar pro geschmuggelte Stange an den Zoll, was sich auf 48 Zoty beläuft. Insgesamt bedeutet die Fahrt ca. 220 Zoty Reingewinn. Diese Rechnung bestätigt Rafas Angaben, wonach er pro Fahrt zwischen 200 und 300 Zoty Reingewinn erwirtschaftet. Er gibt an, pro Monat zwischen 4.000 und 5.000 Zoty durch den Schmuggel zu verdienen. Wenn alle Familienmitglieder pro Monat insgesamt ca. 20 Fahrten unternehmen, ist die Summe erreicht. Zur besseren Lesbarkeit folgt eine tabellarische Darstellung Rafas Schmuggeleinnahmen und -ausgaben. Diese geben die unteren Grenzen seiner möglichen Einnahmen wieder, da mögli-
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5 Analyse des empirischen Materials
che, aber nicht zwingende, Verluste durch Strafmandate und einbehaltene Ware schon berücksichtigt wurden. Tabelle 18: Zusammensetzung der schmuggelbedingten Einnahmen und Ausgaben bei einer Fahrt von Rafa Einnahmen Posten 30 Stangen „Jin Ling“ 3 Liter Wodka
Gesamt
Ausgaben Posten
Summe (in Zoty) 420
Zahlung an russische Polizei Zahlung an russ. Zoll Zahlung an russ. Grenzschutz Mandat
24
444
Reingewinn: 211 Zoty (ca. 58
Summe (in Zoty) 12 48 3,20 100
5 Stangen Verlust bei polnischer Zollkontrolle
70
Gesamt
233
Euro)97
Zu diesen Schmuggeleinnahmen kommen noch geringe Mieteinnahmen durch den beim Zoll tätigen Untermieter. Außerdem baut die Familie im kleinen Garten Gemüse für den Eigenbedarf an. Rafas dreiköpfigem Haushalt stehen also im Monat 4.000 bis 5.000 Zoty zur Verfügung. Einen Teil davon investiert Rafa wieder in seine Schmuggeltätigkeit, indem er neue Waren kauft. Ein weiteres Kennzeichen seiner hohen Professionalisierung besteht aber darin, dass er fortwährend in die Effektivität seines Schmuggelunternehmens investiert. Da er mit den Versteckmöglichkeiten seines Pkws nicht zufrieden war, kaufte er sich vom durch Schmuggel erzielten Kapital für 2.000 Zoty sein Motorrad, in dem er aufgrund besserer Versteckmöglichkeiten größere Warenmengen als im Auto transportieren kann. Kurz vor dem Interview kaufte er ein zweites Motorrad für seine Tochter, so dass alle drei Personen gleichzeitig unterwegs sein können und sich das Fahrzeug nicht mehr teilen müssen. „Man muss noch mehr herausholen“, sagt Rafa dazu. Einen zweiten, aber quantitativ unerheblichen Teil des monatlichen Einkommens verwendet die Familie für ihre laufenden Ausgaben. Diese belaufen sich nach Rafas Angaben 97Allen Währungsumrechungen liegen Wechselkurse vom Frühjahr 2006, also ein Datum während der Feldforschungsphase zugrunde. Berechnet auf www.oanda.com.
191
5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung
auf ca. 450 Zoty im Monat. Darin enthalten sind Ausgaben für die Betriebskosten der Wohnung (110 Zoty), das Telefon (90 Zoty), Strom (90 Zoty), die Gartenpacht (30 Zoty) und die Gebühr für die Lebensversicherung von allen dreien (pro Person 45 Zoty). Zum Zeitpunkt des Gesprächs ist Rafa noch dabei, Raten für sein neues Auto in Höhe von 700 Zoty abzuzahlen. Zur besseren Veranschaulichung folgt eine Gegenüberstellung der genannten monatlichen Einnahmen und Ausgaben in Rafas Haushalt. Die Subsistenzproduktion im eigenen Kleingarten wird von Rafa explizit und ungefragt genannt, was auf eine hohe Bedeutung dieser Einnahmequelle für sein Haushaltsbudget schließen lässt. Um diesen Posten in die Berechnung der monatlichen Einnahmen und Ausgaben aufnehmen zu können, muss sein Wert monetarisiert werden. Um Subsistenzproduktion in quantitativen Werten auszudrücken, schlagen die Bielefelder Entwicklungssoziologen zwei Wege vor: entweder eine Berechnung des zeitlichen Aufwands für jede Form der Subsistenzproduktion, um Aussagen über die interne Haushaltsorganisation zu bekommen, oder – wie hier angestrebt – eine monetäre Umrechnung dieser Aktivitäten. Umrechnungen solcher Art sind immer problematisch (vgl. Evers u.a. 1982: 20f.). Da es hier nur um die Monetarisierung des eigenen Gemüseanbaus und nicht etwa um den Wert von Hausarbeit geht, kann der gängige Verkaufspreis von Gemüse auf dem Markt herangezogen werden (vgl. ebenda: 21). Diese Vorgehensweise wird bei allen folgenden Fällen in dieser Arbeit beibehalten. Rafa spricht explizit vom Möhrenanbau. Angenommen, er erntet pro Jahr 40 kg Möhren, die auf dem Markt pro Kilo 1,36 Zoty kosteten, bedeutet das eine Kostenersparnis von 54 Zoty pro Jahr, also pro Monat ca. 5 Zoty. Tabelle 19: Zusammensetzung der monatlichen Einnahmen und Ausgaben von Rafa Einnahmen Posten
Ausgaben Posten
Schmuggeleinnahmen Mieteinnahmen Subsistenzanbau
Summe (in Zoty) 4.000–5.000 300 5
Gesamt Gewinn:
4.305–5.305 Gesamt 455 3.850–4.850 Zoty (1.143–1.440 Euro)
Wohnung Telefon Strom Gartenpacht Lebensversicherung
Summe (in Zoty) 110 90 90 30 135
Einem Gesamteinkommen von 4.000–5.000 Zoty monatlich stehen ständige Haushaltsausgaben von ca. 450 Zoty gegenüber, ein Zehntel des Einkommens. Die
192
5 Analyse des empirischen Materials
Tochter verwendet ihr erschmuggeltes Einkommen für sich, der große Rest wird gespart und als finanzielles Notpolster für größere Ausgaben angelegt. „Man muss sparen, weil es sein kann, dass der Sohn heiratet, man muss die Hochzeit ausrichten, Geld muss immer im Haus sein.“ Neben einer eventuellen Hochzeit plant Rafa, ein Haus zu bauen, das Badezimmer zu renovieren und seinem Sohn ein Auto zu schenken. Das verfügbare Einkommen wird also zum Teil in Schmuggel investiert, es wird für laufende Ausgaben verwendet und dient zur Finanzierung größerer Anschaffungen und Ausgaben. Schmuggel als wichtigste Einnahmequelle und Bewertung des Schmuggels Für Rafas Haushalt bedeutet der Schmuggel die mit Abstand wichtigste Einnahmequelle, mit der das tägliche Überleben gesichert wird und langfristige Investitionen getätigt werden. Dies ist ein Beispiel für die „Enhancement-Strategie“, die die Verbesserung des Lebensstandards zum Ziel hat. Auf ökonomischer Ebene bedeutet der Schmuggel für Rafa und seinen Haushalt eine deutliche langfristige Verbesserung, nicht nur gegenüber der Zeit der Arbeitslosigkeit, sondern auch verglichen mit seiner offiziellen Erwerbstätigkeit. Im Farbenhandel verdiente er 650 Zoty monatlich netto, im Umweltunternehmen waren es 750 Zoty. Mit seinem damaligen Erwerbseinkommen und dem seiner Frau konnten zwar alle Ausgaben gedeckt werden, aber an Sparen und größere Investitionen war nicht zu denken. Durch den Schmuggel verbessert sich der Lebensstandard von Rafa. Solange er schmuggelt, plant er größere Anschaffungen. „Solange die Grenze da noch ist, kann es sein, dass ich mir da was ausdenke.“ Er ist zufrieden mit seiner Situation und möchte, wenn es seine Gesundheit zulässt, noch lange Zeit schmuggeln. Ihn treibt ein ausgeprägtes finanzielles Sicherheitsbedürfnis an. „Man muss Geld verdienen, weil nichts klar ist.“ Schmuggel stellt für ihn eine beruhigende Absicherung gegen alle Eventualitäten dar. Am meisten Geld verdienen lässt sich für ihn durch diese spezielle Art Handel. Eine Erwerbsarbeit vor Ort in einem Betrieb anzunehmen, kommt für ihn überhaupt nicht in Frage, da sie für ihn finanziell uninteressant ist. Ein Monatsgehalt verdient er mit drei Fahrten nach Russland, so sein Vergleich zwischen Erwerbsarbeit und Schmuggel, der letztere Tätigkeit stark aufwertet. Schmuggel ist für ihn wenig belastend, weil er aufgrund seiner spezifischen Organisation das Risiko fast vollkommen minimieren kann. Schmuggel stellt für Rafa eine lukrative, stabile und erwartbare Einkommensquelle dar, von deren Existenz er selbstbewusst auch in seinen Zukunftsplänen fest ausgeht. Er legitimiert seine Schmuggeltätigkeit mit dem Fehlen akzeptabler Alternativen, worunter er eine gut dotierte Stelle versteht, die ihm einen Lebensstandard ermöglicht, wie es zurzeit der Schmuggel tut: „Na ja, wenn es hier Arbeit gäbe, dann würde man zur Arbeit gehen, man würde eine Arbeit aufnehmen und arbeiten. Aber wenn ich hier zu einem Betrieb gehen würde, das sind kleine Einkommen. Sie zahlen 700, 800 Zoty. Was soll ich damit?“
5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung
193
Aus Rafas Perspektive ist die Schmuggeltätigkeit die bestmögliche Wahl aus den realistischen Optionen. Da es keine Aussicht auf eine gut bezahlte Arbeit gibt, ist für ihn Schmuggel die zweitbeste theoretisch mögliche, aber beste real mögliche Option. An letzter Stelle rangiert ein schlecht bezahltes Arbeitsverhältnis. Neben der ökonomischen Bedeutung nimmt Rafa noch weitere Vorteile des Schmuggels gegenüber einer regulären Erwerbsarbeit wahr. Obwohl er die Schmuggeltätigkeit wie seine vorherigen Erwerbstätigkeiten sehr wohl als körperlich belastend empfindet, profitiert er beim Schmuggel davon, sein eigener Herr zu sein und seine Arbeitszeiten bestimmen zu können. Die Schmuggeltätigkeit gewährt ihm Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten und eine Autonomie, über die er als Angestellter nicht verfügen konnte. Diese Selbstbestimmtheit gibt ihm die Möglichkeit, seine Erwerbstätigkeit im Schmuggel mit zahlreichen weiteren Aktivitäten zu kombinieren. Er pflegt den Schrebergarten, schnitzt Holzgegenstände, werkelt in seiner Werkstatt, repariert das Motorrad. Er könne nicht ohne Beschäftigung zu Hause sitzen, er müsse etwas tun, sagt er. Fazit Rafa profitiert in seiner Armutsvermeidungsstrategie von einer äußerst effektiven Schmuggelorganisation (Schmuggel als Familienunternehmen), einer engen Einbindung in für den Schmuggelerfolg relevante Netzwerke (enge Kontakte zum Zoll, zur Polizei, Familie, zu Bekannte, zu weiteren Schmuggler) und seinem hohen Professionalisierungsgrad (enge Netzwerke mit Zöllnern, schmuggelgerechter Fahrzeugumbau, Investitionen in die Schmuggeltätigkeit). Diese Faktoren minimieren das Risiko beträchtlich und machen den Schmuggel für Rafa zu einer zuverlässigen und profitablen Einkommensquelle. Er ist mit seiner Lebenssituation allgemein zufrieden. Der Schmuggel, der im Vergleich zu offizieller Erwerbstätigkeit keine institutionelle und soziale Absicherung bietet, stellt für Rafa ein höheres Maß an Sicherheit dar, als es sein Dasein als Arbeitnehmer tat. Gleichzeitig genießt er die flexible Ausgestaltung des Schmuggels, die es ihm erlaubt, nach Belieben Pausen einzulegen, da die daraus entstehenden Einkommensverluste durch die Fahrten weiterer Mitglieder des Familienunternehmens ausgeglichen werden. Mehr Sicherheit bei größerem Handlungsspielraum – das bietet ihm die Schmuggeltätigkeit. Obgleich der Schmuggel für die Alltagsgestaltung von Rafa und seinen Haushaltsmitgliedern oberste Priorität hat und alle weiteren Aktivitäten strukturiert, ermöglicht diese Prioritätensetzung die Erfüllung von Rafas Bedürfnissen und des Ziels seiner Lebensführung: finanzielle Sicherheit, Anhebung des Lebensstandards und Zeit für Freizeitaktivitäten und Ruhepausen. Für ihn gilt deshalb: „So ist alles bisher in Ordnung.“ Rafa gibt ein gutes Beispiel für den Typ des professionellen Unternehmers, dessen allgemeine Merkmale kurz abstrahiert dargestellt werden sollen. Charakteristika des Typus „professioneller Unternehmer“
194
5 Analyse des empirischen Materials
Der Typus des „professionellen Unternehmers“ zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass für ihn die ökonomische Abhängigkeit vom Schmuggel extrem hoch ist, höher als für Vertreter aller anderen Typen. Dies hängt damit zusammen, dass er all seine Energie, Zeit und finanziellen Ressourcen in die Schmuggeltätigkeit steckt und er keiner alternativen einkommensgenerierenden Beschäftigung nachgeht. Schmuggel stellt die ausschließliche ökonomische Basis für den Haushalt dar. Dieses Faktum führt zu zahlreichen Konsequenzen, die durch sinnstiftende Zusammenhänge zwischen den Kategorien abgebildet werden. Ökonomische Abhängigkeit vom Schmuggel heißt, dass die Organisation der Schmuggeltätigkeit absolute Priorität in der Alltagsgestaltung besitzt. Fahrten nach Russland können deshalb je nach Erfolgswahrscheinlichkeit geplant werden, die wiederum von den diensthabenden Zöllnern auf polnischer Seite abhängt. Der Unternehmer fährt sehr häufig über die Grenze und hat dort enge Kontakte zu den Grenzautoritäten aufgebaut. Durch Absprachen mit einzelnen polnischen Zöllnern hält er das Verlustrisiko während der Zollkontrollen gering. Außer zu den Grenzautoritäten erfreut sich der Unternehmer guter Kontakte innerhalb seiner Familie, in seinem Bekanntenkreis vor Ort und mit weiteren Schmugglern. Seine Eingebundenheit in soziale Netzwerke ist Voraussetzung für erfolgreiches Unternehmertum. Seine Waren verkauft er an Zwischenhändler, um keine Zeit damit zu verlieren, sondern so schnell wie möglich wieder eine neue Fahrt unternehmen zu können. Alle weiteren Verpflichtungen werden im Alltag den Erfordernissen der Schmuggeltätigkeit untergeordnet. Der Unternehmer nutzt als Transportmittel sein privates Fahrzeug, da so größere Warenmengen mitgenommen werden können als im Bus. Den durch Schmuggel erwirtschafteten Gewinn investiert er sowohl in die Verfeinerung und Professionalisierung seiner Schmuggeltätigkeit als auch in die Absicherung seiner Familie, indem er spart. Er beschäftigt sich durchgehend mit der Schmuggeltätigkeit und sieht sie – im Gegensatz zum Beispiel zu dem Typ des abenteuerlustigen Nebenverdieners – nicht als Intermezzo, sondern als seine stabile Erwerbstätigkeit an. Seine Einnahmen aus ihr sind beachtlich und ermöglichen eine kontinuierliche Verbesserung des Lebensstandards seines Haushaltes. 5.2.3.2 Typ „Starker Existenzsicherer“: „Also hier geht es nur um die Kinder“ Biographische Eckdaten Lucyna wurde 1974 als drittältestes Kind von fünf Geschwistern geboren. 1980 zogen ihre Eltern in einen kleinen Ort ein paar Kilometer von Bartoszyce entfernt, wo sie beide in einer PGR arbeiteten. Kurz darauf starb der Vater. Lucyna wurde in Bartoszyce eingeschult und machte dort im Jahr 1990 in der landwirtschaftlichen Mittelschule ihren Abschluss als Bäuerin. In diesem Beruf hat sie nie gearbeitet, da
5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung
195
sie ihn nicht mag. Kühe melken und Schweine hüten, solche Tätigkeiten reizen sie auch heute noch nicht. Da sich keine andere passende Schule im Umkreis befand und ihre Mutter es sich nicht leisten konnte, Lucyna den Besuch einer weiterführenden Schule zu ermöglichen, endete ihre schulische Laufbahn mit 16 Jahren und – trotz ihres Desinteresses am Fach – mit einem guten Abschlusszeugnis. Durch die Empfehlung einer Freundin fand sie nach Beendigung der Schule Arbeit in einer Garnelenfabrik in einem Städtchen 15 km von Bartoszyce entfernt. Dort arbeitete sie ungefähr ein Jahr. Nach einigen Monaten, in denen sie Arbeitslosengeld bezog, begann sie als Verkäuferin in einem Gemischtwarenladen zu arbeiten. Zuerst verkaufte sie Lebensmittel, später wechselte sie in die Textilabteilung. Insgesamt beträgt die Zeit ihrer offiziellen Erwerbstätigkeit fünf Jahre, in denen sie immer wieder mehrere Monate arbeitslos wurde und unregelmäßig zu Schmuggelfahrten nach Russland aufbrach. 1994 heiratete sie, und als zwei Jahre später das erste Kind geboren wurde, endete die Zeit der Erwerbsarbeit für sie endgültig. Seit 1996 schmuggelt Lucyna regelmäßig. Im Jahr 2000 kam das zweite Kind auf die Welt. Ihr Mann, von dem sie sich vier Jahre später trennte, arbeitete zu der Zeit in der Holzverarbeitung in einem Bartoszycer Gärtnereibetrieb. Direkt nach der Hochzeit zog Lucyna mit ihrem Mann in eine kleine Wohnung zur Untermiete in einen kleinen Ort in der Nähe von Bartoszyce. Als sich die Familie vergrößerte, bezog sie eine Zweizimmerwohnung in einem Dreifamilienhaus, in dem Lucyna mit ihren Kindern bis heute wohnt. Die Wohnung umfasst 40 qm und ist dringend renovierungsbedürftig, aber eine Modernisierung kann Lucyna nicht bezahlen. Auch ein Telefon leistet sie sich nicht. Außer ihr leben nur noch fünf weitere Familien sowie einige aus Bartoszyce exmittierte Personen98 in ihrem Wohnort. Gründe für Schmuggel und Netzwerke Für Lucyna ist der Beginn des Schmuggels mit der Geburt ihrer Kinder verbunden. Solange ihre Ehe kinderlos war, waren sowohl ihr Mann als auch sie berufstätig. Er verdiente 700 Zoty im Monat, sie hatte, wie oben beschrieben, wechselnde Einkünfte zur Verfügung. In dieser Zeit begannen ihre Fahrten nach Russland. Anfangs handelte es sich dabei um Freizeitausflüge mit dem Bus. Eher zufällig nahm sie das erste Mal an einer solchen Fahrt teil und war neugierig auf das Nachbarland. Sie besuchte Diskotheken, Tanzabende, Sehenswürdigkeiten. Bei dieser Gelegenheit kaufte Lucyna günstige Lebensmittel in Kaliningrad ein – Konserven, Fleisch, aber auch Uhren. Diese Waren verkaufte sie auf polnischen Märkten und verdiente damit ein wenig Geld. Gleichbedeutend mit dem ökonomischen Gewinn war aber 98 Der polnische Begriff „Eksmisja” lässt sich mit Zwangsräumung übersetzen. In Bartoszyce kam es im Untersuchungsraum zu einigen Zwangsräumungen, wenn Mieter über einen langen Zeitraum hinweg ihre Miete nicht bezahlten. Sie mussten ihre Wohnungen verlassen und wurden in leerstehende, sich meist in einem schlechten Zustand befindende Wohnungen in ehemaligen PGR-Siedlungen im ländlichen Gebiet um Bartoszyce umgesiedelt.
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5 Analyse des empirischen Materials
anfangs das touristische Element solcher Ausflüge. Langsam änderte sich die Gewichtung, und der ökonomische Nutzen wurde immer wichtiger: „Das erste Mal, da war das so ein Ausflug, um sich das alles anzugucken. Ja, und später dann das alles. Es gab keine Arbeit, also musste man was machen. Und um was zu tun, um irgendwelches Geld zu haben. Später wurden die Kinder geboren, da musste man den Kindern etwas zu essen geben.“ Wie bei Rafa werden auch bei Lucyna die äußeren ökonomischen Zwänge deutlich, die hinter ihrer Schmuggeltätigkeit stecken. Sie reagiert mit Aktivität auf die Arbeitslosigkeit. „Was machen“ bedeutet in ihrem Falle schmuggeln. Sie spricht in unpersönlichen Formulierungen, was eine grundsätzliche Regel ausdrücken soll, eine Generalisierung. „Es gab keine Arbeit, also musste man was machen.“ Das klingt grundsätzlicher und allgemeiner als die mögliche Aussage „Ich hatte keine Arbeit, also musste ich was machen.“ Mit der unpersönlichen Formulierung stellt Lucyna ihre eigene Situation unter einen übergeordneten, gestaltenden Kontext, den sie nicht beeinflussen kann: Es gab nun mal keine Arbeit. Dass es nicht nur für sie keine gab, sondern es sich dabei um ein strukturelles Problem außerhalb ihres eigenen Verantwortungsbereichs handelte, von dem viele andere Personen mit betroffen waren, wird in der „man“-Konstruktion deutlich. Sie legitimiert ihre nicht ganz legale Schmuggeltätigkeit vor sich selbst und anderen mit dem Verweis auf eine moralisch hochwertige Aufgabe, nämlich die Versorgung ihrer Kinder. Damit bestätigt sie verschiedene Untersuchungsergebnisse, wonach teilweise illegale Einkommensstrategien von ihren Nutzern dennoch als legitim aufgefasst werden. „Dabei scheint es so zu sein, dass illegale Einkommensstrategien vor allem dann als legitim erachtet werden, wenn sie als Aspekt einer allgemein anerkannten Lebensführung (Erziehung kleiner Kinder) auftreten“ (Vobruba 2000: 113). Diese Verschiebung von Legalität und Illegalität tritt im Zuge der Auseinanderentwicklung von institutionalisierter Normalität und realer Lebenssituationen auf (vgl. ebenda): Die gewährte staatliche Sozialunterstützung reicht nicht zur Existenzsicherung von Lucyna und ihren Kindern, als überlebensnotwendige Reaktion darauf antwortet sie situationsabhängig mit Schmuggel. Die Versorgung der Kinder kann Lucyna nicht mehr über Erwerbsarbeit gewährleisten, da sie wegen ihres Nachwuchses keinen Arbeitsplatz mehr findet. Bei der Arbeitssuche stellen die kleinen Kinder ein Hindernis dar, da potenzielle Arbeitgeber längere Ausfälle der Mutter befürchten. Ihr Mann verdient zu wenig, um die gesamte Familie zu ernähren, und so sieht Lucyna als zweifache Mutter den Schmuggel als einzige Erwerbsmöglichkeit. Hier werden die ambivalenten Effekte des Systemwechsels deutlich: Auf der einen Seite führte die Einführung der Marktwirtschaft zu einer Verarmung der landwirtschaftlich geprägten Gebiete, da die randständigen Gebiete nahe der Staatsgrenze unattraktiv für Investoren sind und
5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung
197
die Schließung der Staatsbetriebe nach 1989/90 nicht durch neue Betriebsgründungen aufgefangen wurden. Auf der anderen Seite schafft aber gerade die Grenznähe, die ein Grund für die wenigen Arbeitsplätze in der Region darstellt, gleichzeitig eine Abschwächung der Konsequenzen der hohen Arbeitslosigkeit in den Grenzregionen, indem sich wegen der kurzen Anfahrtswege der Schmuggel für ihre Einwohner lohnt, so auch für Lucyna (vgl. Kapitel 1). Um schmuggeln zu können, ist Lucyna in mehrfacher Hinsicht auf soziale Netzwerke angewiesen. Erstens hat sie Angst, als Frau allein nächtelang in der Warteschlange in Russland im Auto zu sitzen und fährt daher nur, wenn ihr Bruder sie begleitet. Zweitens kann sie nur nach Russland fahren, wenn sie für die Zeit ihrer Abwesenheit eine Kinderbetreuung organisieren kann. Obgleich ihre Eltern und Geschwister im Umkreis von wenigen Kilometern wohnen, können sich diese aus gesundheitlichen Gründen und Zeitmangel nicht um Lucynas Kinder kümmern. Diese Aufgabe übernahm bis vor wenigen Monaten die Freundin ihres Bruders, die sich gegen Kost und Logis während der Schmuggelfahrten um ihre Kinder kümmerte. Die Trennung von Lucynas Bruder führte allerdings zu ihrem Weggang und bedeutete zugleich das Ende der Kinderbetreuung. Zum Zeitpunkt des Interviews befindet sich Lucyna in einer finanziell angespannten Übergangsphase ohne Schmuggel, da sie bisher keine neue Kinderbetreuung gefunden hat. Soziale Netzwerke stellen für Lucyna demnach die Voraussetzung für Schmuggel und somit für ihr ökonomisches Überleben dar. Drittens ist sie auch beim Verkauf ihrer Schmuggelwaren auf Netzwerke angewiesen. Den höchsten Gewinn erzielt Lucyna durch den Verkauf von geschmuggeltem Benzin. Der Weiterverkauf von Treibstoff erfordert im Vergleich zu anderen Schmuggelwaren wie Zigaretten und Alkohol die intensivste Vertrauensbeziehung zwischen Käufer und Verkäufer, da es für den Käufer praktisch unmöglich ist, die Qualität und den Zustand der Ware zu erkennen. Lucyna verkauft das Benzin daher ausschließlich an Nachbarn und Bekannte. „Jeder, der Benzin kauft, jeder hat es von seinen Leuten, zu denen er Vertrauen hat. Er weiß, dass er gutes Benzin kauft, weil einige wollen mehr verdienen, mischen Wasser mit Benzin, verschiedene Dinge machen sie und jeder hat seine Leute, von denen er nimmt.“ Zu den Grenzautoritäten hat sie im Gegensatz zum Typus des professionellen Unternehmers keine außergewöhnlichen Kontakte, da sie wegen der schwierigen Organisation der Kinderversorgung nicht regelmäßig über die Grenze fährt. Folgende Grafik des egozentrierten Netzwerks von Lucyna veranschaulicht ihre Einbindung in soziale Beziehungen.
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5 Analyse des empirischen Materials
Abbildung 16: Egozentriertes Netzwerk von Lucyna
Im Gegensatz zu Rafa kann Lucyna nicht alle ihre bestehenden Netzwerke für die Schmuggeltätigkeit nutzen. Das bedeutet in ihrem Fall, dass sie den Schmuggel nicht so problemlos wie Rafa in ihre alltägliche Lebensführung integrieren kann, da er nicht problemlos mit ihren weiteren Lebensbereichen kompatibel ist. Besonders eindrucksvoll macht sich dies in der Beziehung zu ihren Kindern bemerkbar. Organisation des Schmuggels Lucyna organisiert ihre Schmuggeltätigkeit in Abhängigkeit von den Bedürfnissen ihrer Kinder. Deren Wohlergehen hat absolute Priorität: „Also am wichtigsten sind für mich die Kinder. Das ist grundlegend, ich würde es nie zulassen, dass ihnen jemand etwas antut, auf gar keinen Fall, ich werde immer wollen, dass es den Kindern so gut wie nur möglich geht.“
5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung
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Damit es den Kindern so gut wie nur möglich geht, müssen sie gut versorgt werden, was Lucyna seit ihrer Geburt nur über die Schmuggeleinnahmen gewährleisten kann. Lucyna transportiert entweder gar nichts über oder nur kleine Mengen über der erlaubten Warenmenge.99 Damit minimiert sie das Risiko des Warenverlusts erheblich und kann sich auf das durch Schmuggel bzw. Kleinhandel erzielte Einkommen verlassen. Das bedeutet wiederum in ihren Augen, dass sie der Verantwortung für ihre Kinder nachkommen kann und diese gut versorgt sind. Durch das Vermeiden von Illegalität stellt sie das kontinuierliche Wohlergehen ihrer Kinder sicher. Trotz der geringen Warenmenge stellt sich der Grenzübertritt für Lucyna sehr stressig dar, da von ihrem Schmuggelerfolg direkt die Versorgung ihrer Kinder abhängt, und sie sich jedes Mal selbst unter Druck setzt, keine Waren zu verlieren: „Und man denkt manchmal an die Kinder, weil wenn ich nicht zur Grenze fahre, wenn sie mir was wegnehmen, wenn ich dort [während der Zollkontrolle, B.B.] etwas schlecht sage. Polnische Zöllner nehmen mir die Waren weg, ob Zigaretten oder Alkohol, dann werde ich den Kindern nichts zu essen geben können. (…) Wenn ich es schlecht mache, werden meine Kinder nichts zu essen haben.“ Erfolgreiche Risikominimierung beim Schmuggel ist für Lucyna mit der Bestätigung verbunden, eine gute Mutter zu sein. Ein Baustein ihrer Risikominimierungsstrategie ist das weitgehende Vermeiden von Illegalität.100 Vor zwei Jahren kaufte sie sich ein Auto, bis dahin fuhr sie sehr häufig, bis zu drei Mal täglich, in Fahrzeugen von Bekannten und weiteren Personen über die Grenze. Mit der sogenannten „podsiadka“101 nahm sie, je nach Schicht, die erlaubte Menge oder etwas darüber hinaus mit. Nach dem Kauf ihres Autos hatte sie die Möglichkeit, neben kleinen Mengen an Alkohol und Zigaretten auf legale Art und Weise Benzin zu transportieren. Der dadurch erzielte höhere Verdienst wurde durch die selteneren Autofahrten, die sie vier bis sechs Mal monatlich unternahm, im Vergleich zur „podsiadka“ kompensiert. Beiden Schmuggelarten ist das weitgehende Fehlen illegaler Elemente gemein.
99
Das bedeutet genau genommen, dass Lucyna sowohl Schmuggel als auch Kleinhandel betreibt (vgl. Kapitel 1). Aus Gründen der besseren Lesbarkeit und Praktikabilität wird hier jedoch durchgängig von Schmuggel gesprochen. 100 Dies ist keine spezifische Eigenart des Typs des „starken Existenzsicherers“, sondern die exemplarische Strategie von Lucyna, ihr Hauptinteresse, nämlich die Sicherung des materiellen Wohlergehens ihrer Kinder, zu erreichen. Letzteres ist allen Vertreterinnen dieses Typs gemein, aber sie realisieren es auf unterschiedlichen Wegen. Agnieszka, eine weitere Repräsentantin des Typs des „starken Existenzsicherers“, versucht z.B. mit dem Schmuggel besonders großer Warenmengen, ihren Kindern die Konsumwünsche zu erfüllen. 101 „Podsiadka” meint eine Form des Transports, bei der der Reisende ein Auto anhält, darin die Grenze passiert und nach Warenkauf in Russland auf die gleiche Art und Weise wieder nach Polen einreist, also eine Form des Trampens praktiziert.
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5 Analyse des empirischen Materials
Einen weiteren risikominimierenden Faktor stellt neben der geringen Warenmenge die Tatsache dar, dass Lucyna ausschließlich günstige Zigaretten kauft, um bei Abnahme durch den Zoll den Wertverlust gering zu halten, sowie ihre Wahl des Verkehrsmittels. Sowohl die Fahrt im eigenen Pkw als auch als „podsiadka“ verlangen geringere Ausgaben als z.B. die Fahrt im Bus, der der Kauf einer Fahrkarte vorausgehen muss. Ihr ist wichtig, sich nicht in einen Kreislauf hineinziehen zu lassen, sich nicht „anstecken“ zu lassen: Je höhere Ausgaben die Schmuggeltätigkeit erfordert, desto mehr muss geschmuggelt werden, um die Ausgaben wieder zu decken. Da für Lucyna aus oben genannten Gründen der illegale Transport großer Warenmengen nicht in Frage kommt, muss sie die Schmuggelausgaben in jedem Fall gering halten, um mit dem legalen Transport genug zu verdienen. Die kleine Menge an geschmuggelten Gütern bestimmt auch die Art und Weise des Warenverkaufs. An einen Zwischenhändler kann sie die wenige Ware nicht weitergeben, sondern verkauft sie ausschließlich im Bekanntenkreis. Neben der materiellen Versorgung ihrer Kinder, die Lucyna durch Schmuggel gewährleistet, hat sie gleichzeitig den Anspruch, viel Zeit mit ihnen zu verbringen, um sie in Bildung und allgemeiner Entwicklung zu unterstützen. Dafür ist ihre Schmuggeltätigkeit aber eher hinderlich. Die Erfüllung beider Bedürfnisse ihrer Kinder erfordert einen schwierigen Balanceakt und ist nur mit kostenloser und zuverlässiger Kinderbetreuung möglich. Da sie diese zum Zeitpunkt des Interviews nicht hat, können beide Bedürfnisse der Kinder nicht gleichzeitig befriedigt werden. Lucyna entscheidet sich dafür, Zeit mit ihnen zu verbringen und gegen die materielle Versorgung, indem sie nicht mehr zu Schmuggelfahrten aufbricht: „Und jetzt, wenn ich niemanden habe, bei dem ich sie lassen kann, weil sie lernen, man muss ihnen bei den Aufgaben helfen, man muss schreiben und lesen lernen und so weiter, so leider, man muss das aufgeben, um den Kindern zu helfen. Auswählen zwischen Kindern und Geld.“ Allerdings ist das Wohlergehen ihrer Kinder ohne die Schmuggeleinnahmen auch nicht sichergestellt, so dass sich Lucyna zum Zeitpunkt des Gesprächs in einer Übergangsphase befindet. Lucynas Schmuggelorganisation ist gekennzeichnet durch das Bemühen um Vereinbarung aller Bedürfnisse ihrer Kinder mit dem Schmuggel. Schmuggel bedarf einer funktionierenden Alltagsorganisation, die die Kinderbetreuung sicherstellt. Obgleich Schmuggel oberste finanzielle Priorität hat, richten sich seine Organisation und Ausgestaltung nach dem wichtigsten alltagsstrukturierenden Element in Lucynas Leben: ihren Kindern. Das hat zur Folge, dass sie weitaus uneffektiver, d.h. weniger gewinnorientiert, schmuggelt als Vertreter des Typs des professionellen Unternehmers, da sie nur zu bestimmten Zeiten fahren und sich daher nicht auf bestimmte Zöllner einstellen kann und ihr Gewinn geringer ausfällt.
5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung
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Einkommensstruktur und Verwendung der Schmuggeleinnahmen Lucynas Haushalt lebt von einem bescheidenen Einkommensmix. Seit ungefähr sechs Jahren bekommt sie ständige Beihilfen vom Sozialamt, die sich im Moment auf ca. 300 Zoty pro Monat belaufen. Ab und zu bekommt sie eine Lebensmittellieferung vom Sozialamt mit Grundnahrungsmitteln wie Reis, Käse, Kartoffeln und Milch. Von ihrer in Deutschland lebenden Schwester wird sie in unregelmäßigen Abständen mit gebrauchter Kleidung für ihre Söhne versorgt. Darüber hinaus ist ihr Mann, von dem sie getrennt lebt, zu Unterhaltszahlungen von 300 Zoty monatlich verpflichtet, denen er aber aufgrund eigener Mittellosigkeit nicht nachkommt. Von Zeit zu Zeit steckt er ihr 50 Zoty für die Kinder zu, aber als regelmäßige Einnahmequelle betrachtet sie die Zahlungen ihres Mannes nicht. Neben den Unterstützungsleistungen des Sozialamtes stellen ihre Schmuggeleinnahmen das zweite und wichtigere ökonomische Standbein ihres Haushalts dar. Seitdem sie ein Auto hat, fährt sie zwischen zwei und acht Mal monatlich nach Russland. Öfter sei wegen der langen Wartezeiten und der ermüdenden Fahrten gar nicht möglich, urteilt sie. Mit einer Fahrt verdient Lucyna abzüglich aller Ausgaben zwischen knapp 90 Zoty und 120 Zoty. Wie setzt sich dieser Gewinn zusammen? Der Tank in ihrem Pkw umfasst 70 Liter, dessen Füllung sie legal nach Polen transportieren darf. Darüber hinaus füllt sie noch einen externen Zehnlitertank auf. Für einen Liter Benzin bezahlt sie in Russland zwei Zoty., den sie in Polen für drei Zoty weiter verkauft. Damit machen sowohl sie als auch der Käufer ein Geschäft, denn an polnischen Tankstellen kostete der Liter Benzin zum Zeitpunkt des Interviews 3,60 Zoty. Den Inhalt des externen Tanks benutzt Lucyna zum Eigenbedarf, so dass sie am Benzinverkauf 70 Zoty pro Fahrt verdient. An einem Päckchen „Jin Ling“ und einer Literflasche Wodka verdient sie ca. 20 Zoty, so dass ihr Gewinn pro Fahrt bei mindestens 90 Zoty liegt. Bei einer „guten Schicht“ nimmt sie drei oder vier Stangen über der erlaubten Norm mit, so dass sich ihr Gewinn auf bis zu 120 Zoty erhöhen kann. Die sich nach Anzahl der geschmuggelten Waren richtenden informellen Abgaben an die russischen Grenzbehörden schmälern den Gewinn angesichts der kleinen Mengen nur wenig. Zur besseren Lesbarkeit zeigt Tabelle 20 eine Zusammenstellung von Lucynas Schmuggeleinnahmen und -ausgaben. Bei angenommenen zwei Fahrten pro Monat stünde ihr ein Gewinn von 180–260 Zoty zur Verfügung, bei acht Fahrten im Monat 720–1.040 Zoty. Geht man von einem monatlichen Durchschnitt von vier Fahrten mit einem durchschnittlichen Verdienst von 105 Zoty aus, erhält man ein monatliches Gesamteinkommen von 720 Zoty, das ihr selbst und ihren Kindern zur Verfügung steht. Davon muss Lucyna den gesamten Lebensunterhalt ihres Dreipersonenhaushalts bestreiten. Von der Summe kann sie keine Rücklagen bilden, sondern verwendet sie für die laufenden monatlichen Ausgaben. An ständigen Ausgaben zahlt sie pro Monat 30 Zoty für Strom, 30 Zoty für Gas und 10 Zoty für Wasser. Vierteljährlich muss sie eine Immobiliensteuer bei der Gemeinde in Höhe
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5 Analyse des empirischen Materials
von 170 Zoty bezahlen, deren Kosten aber bei erfolgreichem Antrag von der Gemeinde übernommen werden. Pro Monat fallen also knapp 130 Zoty an laufenden Kosten an. Tabelle 20: Zusammensetzung der schmuggelbedingten Einnahmen und Ausgaben bei einer Fahrt von Lucyna Einnahmen Posten 1 Stange „Jin Ling“ 4 Stangen „Jin Ling“ 70 Liter Benzin
Summe (in Zoty) 12 48
Ausgaben Posten Zahlung an russische Polizei
70
Zahlung an russ. Zoll 1 Liter Wodka 8 Zahlung an russ. Grenzschutz Gesamt 90–126 Gesamt Reingewinn: 85–116 Zoty (22–30 Euro)
Summe (in Zoty) entfällt
1,60–6,40 3,20 4,80–9,60
Zur besseren Übersichtlichkeit folgt eine Gegenüberstellung der genannten monatlichen Einnahmen und Ausgaben in Lucynas Haushalt in Tabelle 21. Tabelle 21: Zusammensetzung der monatlichen Einnahmen und Ausgaben von Lucyna Einnahmen Posten Sozialunterstützung Unterhalt Ehemann (zahlt meist nicht) Einnahmen aus Schmuggel Naturalien und Kleidung Gesamt Gewinn
Summe (in Zoty) 300 300 420
Ausgaben Posten Strom Gas
Summe (in Zoty) 30 30
Wasser
10
Immobiliensteuer
60
720 Gesamt 590 Zoty (155 Euro)
130
Fällt eine Sonderausgabe an, wie z.B. eine neue Brille, gerät der Finanzplan durcheinander und Lucyna muss Ratenzahlungen vereinbaren, um die Summe überhaupt
5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung
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bezahlen zu können. Dazu kommen die Kosten für Verpflegung und Kleidung und für die Unterhaltung des Autos, auf das Lucyna für die Bewältigung der Alltagsorganisation angewiesen ist. Auto und Führerschein bezahlte Lucyna auch aus Schmuggeleinnahmen. Dafür fuhr sie jahrelang als „podsiadka“ und verdiente bei einer Fahrt zwischen 30 Zoty und 40 Zoty. Das gesamte verdiente Geld investierte sie in den Führerschein, der 700 Zoty kostete. „Also den Führerschein habe ich durch Russland gemacht, kann man sagen.“ Das erinnert an das Merkmal des „professionellen Unternehmers“, der seine Schmuggeleinnahmen in seine Schmuggeltätigkeit reinvestiert. Zunächst trifft das auch auf Lucyna zu, da das Auto ihre Schmuggeleinnahmen durch den Benzintransport erheblich vergrößert. Allerdings nutzt sie es nicht ausschließlich für Schmuggel, sondern ist auch in ihren sonstigen Lebensbereichen auf das Fahrzeug angewiesen. Deshalb handelt es sich hier eher um eine Investition, mit der laufende Kosten gesenkt werden können und der Alltag leichter bewältigt werden kann. Es lohnt sich finanziell für Lucyna z.B. mehr, mit dem Auto nach Bartoszyce zu fahren und dort in den großen Supermärkten einzukaufen, als zu Fuß in das Geschäft in ihrem Wohnort zu gehen. Auch kann sie damit ihre Söhne von der Haltestelle des Schulbusses abholen. Das verfügbare Einkommen wird von Lucyna also für laufende Ausgaben und für Sparstrategien verwendet. Schmuggel als wichtigste Einnahmequelle und Bewertung des Schmuggels Den größten Teil ihres Haushaltseinkommens bestreitet Lucyna über den Schmuggel. Damit stellt er für sie die wichtigste Einkommensquelle dar, die ihr allerdings nur dann zur Verfügung steht, wenn sie ihn mit der Kinderbetreuung kombinieren kann. Gelingt ihr das nicht, wie zum Zeitpunkt des Interviews, stößt sie finanziell an ihre Grenzen, denn allein die Sozialunterstützung reicht zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht aus. Die Kombination aus Sozialunterstützung und Schmuggeleinnahmen benutzt Lucyna im Rahmen einer „Coping-Strategie“ zum physischen Überleben, die keine Ressourcen zur Verbesserung ihrer Lebenssituation bietet wie z.B. die Renovierung ihrer Wohnung. Durch den Schmuggel stellt sie das Überleben von Tag zu Tag sicher, schafft sich aber dadurch keine Planungssicherheit: „Ich bin der Meinung, dass ich nie die Zukunft plane, ich versuche immer zu leben, zumindest in diesen Zeiten. Man muss am heutigen Tag leben und vielleicht eine Woche planen. Und der Rest so, wie Gott es gibt.“ Die mangelnde Planbarkeit des Schmuggels gefällt ihr aber nicht. Erstens weiß sie nie, wie viele Stunden sie nicht zu Hause sein wird. „Nach Hause fuhr ich nach zwei, drei Tagen. Nach 72 Stunden, nach 56 Stunden, so etwas. Dann kam man fertig an.“ Diese Ungewissheit empfindet sie als sehr unangenehm, vor allem, weil sie während der Zeit nicht für ihre Kinder da sein kann, und weil eine Fahrt für sie
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5 Analyse des empirischen Materials
eine körperliche und psychische Herausforderung darstellt. Schmuggel ist für sie eine belastende, ungeliebte Pflicht, die sie jederzeit ohne zu zögern für eine alternative Einkommensquelle aufgeben würde. „Ja, nach jedem Mal hat man genug, wenn ich dort nur hinfahren muss, dann habe ich zwei Tage vorher Magenschmerzen wegen der Nerven gehabt, dass ich dort hinfahren und einige Zeit verbringen muss.“ Zweitens macht ihr auch das Fehlen jeglicher finanzieller Sicherheiten Sorgen, das mit ihrer Schmuggeltätigkeit einhergeht. Obwohl sie betont, nur über kurze Zeiträume zu planen, denkt sie doch an ihre Rente und sieht die Notwendigkeit, eine formale Erwerbsarbeit aufzunehmen, um im Alter versorgt zu sein. Für Lucyna ist Erwerbsarbeit – im Gegensatz zu Rafa – weitaus attraktiver als Schmuggel. Während Rafa aus dem Schmuggel Planungssicherheit und finanzielle Gewissheit schöpft, stellt er für Lucyna eine demütigende, nervenaufreibende und anstrengende Tätigkeit dar, die zudem schwer in ihren Alltag als alleinerziehende Mutter zu integrieren ist. Eine Erwerbsarbeit hingegen bietet geregelte Arbeitszeiten und ein sicheres Entgelt für eine weniger ermüdende Tätigkeit, die die Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und Geldverdienen leichter macht. Aus Lucynas Perspektive ist eine Erwerbsarbeit, mit der sich die Kinderbetreuung kombinieren lässt, die ideale Option, der sie auch realistische Chancen einräumt. Falls sich so eine Gelegenheit nicht ergibt, sieht sie als weitaus weniger attraktive Wahl die Wiederaufnahme der Schmuggelfahrten als „podsiadka“, während die Kinder in der Schule sind. Weiterhin zu schmuggeln, ist in Lucynas Augen eine nicht anzustrebende Notlösung, falls sich keine andere Erwerbsquelle auftut: „Falls ich nirgends Arbeit finde, wenn ich nirgends etwas organisieren kann, dann muss ich in dem Falle das Geld in Russland verdienen.“ Das hieße auch zukünftig die Abhängigkeit von staatlichen Sozialleistungen, was Lucyna unbedingt vermeiden möchte: „Weil das ganze Leben zur Fürsorge gehen und dort um ein Stück Brot bitten, das ist keine gute Perspektive im Leben. Weil wenn ich das so mache, sehen meine Kinder das, dann werden sie in Zukunft auch nicht arbeiten wollen, sie werden nicht lernen wollen, weil sie sehen, dass sie von der Fürsorge was bekommen, hier, dort, also das hat überhaupt keinen Sinn. Besser wäre es zu arbeiten und den Kindern zu zeigen, was der Sinn des Lebens ist.“ Lucyna sieht sich nicht als gutes Vorbild für ihre Kinder, solange sie von staatlichen Unterstützungen profitiert. Ihr ist wichtig, dass ihre Söhne auf eigenen Füßen stehen lernen und unabhängig von Hilfeleistungen sind. Den Schmuggel spricht sie in diesem Zusammenhang nicht an, was darauf hindeutet, dass sie die Schmuggeltätigkeit nicht so negativ bewertet wie die Versorgung durch das Sozialamt, sondern eher in die gleiche Kategorie wie Erwerbsarbeit einordnet. Das verbindende Ele-
5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung
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ment von Schmuggel und Erwerbsarbeit liegt in die Tatsache, dass durch ihre Ausübung der Lebensunterhalt aus eigenen Kräften verdient wird, im Gegensatz zum Gang zum Sozialamt. Fazit Lucyna bewältigt ihre ökonomische Armut, indem sie die Rolle einer „Armutsmanagerin“ (vgl. S. 53) übernimmt: Sie sichert das Überleben ihrer Familie von Tag zu Tag ohne langfristige Planungen aufs Neue durch Anwendung verschiedener genannter Sparstrategien, durch die sie ihre Ausgaben so gering wie möglich hält. Ihre ökonomische Haushaltsstrategie besteht aus Einkommen aus der informellen Schmuggeltätigkeit und der staatlichen Unterstützung durch das Sozialamt. Damit erreicht sie das Ziel ihrer Haushaltsstrategie: das „Coping“, die Sicherung der physischen Existenz ihrer Familie. Schmuggel spielt hier also die Rolle der Gewährleistung der täglichen Versorgung von Lucynas Haushalt. Trotz kurzfristiger Sicherung des Lebensunterhalts bilden die vielen Jahre, die sie bereits schmuggelt, bei Lucyna rückblickend durchaus eine Konstante ihres Lebenslaufes. Diese Kontinuität schafft sie sich nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in ihrer Zukunftsplanung. Obwohl sie finanziell nicht in langen Zeiträumen planen kann, stellen ihre Kinder dennoch eine langfristige, kontinuierlich handlungsleitende Perspektive für sie dar. Die äußeren Rahmenbedingungen und die inneren Ressourcen ihres Haushalts machen es ihr schwer, das oben genannte Haushaltsziel zu erreichen und ihre Haushaltsstrategie in ihren Alltag zu integrieren. Ihr abgelegener Wohnort lässt wegen seiner geringen Größe den Aufbau von extensiven sozialen Netzwerken in räumlicher Nähe nicht zu. Als alleinerziehende Mutter, die die Versorgung ihrer Familie durch den Schmuggel sichert, ist sie aber auf soziale Kontakte angewiesen, um die Existenzsicherung mit der Betreuung ihrer Kinder vereinbaren zu können. Daraus folgt, dass Lucynas alltägliche Lebensführung von Bemühungen gekennzeichnet ist, die Bedürfnisse ihrer Kinder mit den Erfordernissen des Schmuggels zu vereinbaren. Ihre Alltagsorganisation wird durch ihre Kinder strukturiert, sie genießen höchste Priorität. Da ihr Wohlergehen, das für Lucyna im Mittelpunkt ihrer Lebensführung steht, auch von ihrer materiellen Versorgung abhängig ist, ist sie auf den Schmuggel angewiesen, um das Ziel ihrer Lebensführung zu erreichen. Das gestaltet sich aber aufgrund nicht ausreichend vorhandener sozialer Netzwerke schwierig. Der finanziell gesehen höchsten Priorität des Schmuggels steht also die im Alltag höchste Priorität des Wohlergehens ihrer Kinder entgegen. Dieser Konflikt lässt den Schmuggel für Lucyna zu einer psychischen Belastung werden, die sie mit der Aufnahme einer regulären Erwerbsarbeit abbauen zu können glaubt. Schmuggel bedeutet für Lucyna ein notwendiges Übel, das sie solange ausführen wird, bis sich eine attraktivere Alternative bietet. „Ich habe schon genug von Russland. Nur wenn ich keinen anderen Ausweg haben werde, fahre ich weiter.“
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5 Analyse des empirischen Materials
Charakteristika des Typus „starker Existenzsicherer“ Der Typ des „starken Existenzsicherers“ wird im hier verwendeten Sample ausschließlich von Frauen präsentiert. Seine Vertreterinnen sehen sich dem Konflikt zwischen gleichzeitiger erwerbs- und familienbezogener Lebensführung ausgesetzt. Für diesen Typus ist der Schmuggel genauso wie für den Unternehmer ein existenzielles Element der ökonomischen Haushaltsstrategie. Die daraus erzielten Einnahmen reichen allerdings nicht zum Sparen, sondern werden für laufende Ausgaben verwendet. Der „starke Existenzsicherer“ bestreitet darüber hinaus einen Teil seiner Ausgaben mit Unterstützungsleistungen des Sozialamtes. Das Wohl seiner Familie, hier seiner Kinder, steht im Mittelpunkt. Obgleich der Schmuggel finanziell oberste Priorität für Repräsentanten dieses Typs hat – wie beim Typ des Unternehmers –, übt der „starke Existenzsicherer“ ihn deshalb zurückhaltender aus und unternimmt nur sporadische Fahrten nach Russland. Er wägt ständig die Bedürfnisse seiner Familie bzw. Kinder mit dem Zwang der Erwerbstätigkeit in Form von Schmuggel ab. Um beides miteinander vereinbaren zu können, ist er auf enge soziale Netzwerke angewiesen. Er übernimmt die Hauptverantwortung für das ökonomische Überleben der Familie. Zum Zoll pflegt er keine engen Beziehungen. Das Risiko des Warenverlusts ist höher als beim Typus des Unternehmers, da der Existenzsicherer die Planung der Schmuggelfahrten eher von der Betreuungsorganisation seiner Kinder als von der diensthabenden Schicht abhängig macht. Der Schmuggel stellt eine seit mehreren Jahren durchgängig ausgeübte einkommensgenerierende Beschäftigung für den Typus des starken Existenzsicherers dar. Für ihn handelt es sich bei dieser Art der Sicherung des Lebensunterhalts in erster Linie um eine psychische wie physische Belastung, die er sehr gern zugunsten einer regulären Erwerbstätigkeit aufgeben würde. 5.2.3.3 Typ „prekärer Multiverdiener“: „Wir haben zwei Einkommen, aber sind gezwungen, nach Russland zu fahren” Biographische Eckdaten Joanna wurde 1980 in Bartoszyce geboren. Als ältestes von fünf Geschwistern musste sie schnell Pflichten im Haushalt übernehmen und sich um ihre jüngeren Geschwister kümmern. Da eine Schwester körperlich behindert zur Welt kam, bedarf sie der besonderen Pflege der Mutter, welche wiederum auf Joanna bei der Betreuung der weiteren Kinder angewiesen war. So kommt es, dass Joanna ihre Jugendzeit wenig genießen und kaum mit ihren Freunden verbringen konnte, was sie ihren Eltern bis heute vorwirft: „Das nehme ich dir übel, sag ich, ich hab dir die Kinder großgezogen, sage ich, die jüngsten, ich war die Älteste, sage ich du, sag ich, bist in den Schrebergarten gegangen, weil du das gern moch-
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test, und ich musste deine Kinder großziehen. Und zur Disko ins Kulturhaus bin ich nicht gegangen, sage ich, mit meinen Altersgenossen, ich hab nur mit den Knilchen gespielt.” Für Joannas Mutter war es also selbstverständlich, von ihrer ältesten Tochter teilweise die Übernahme der Mutterrolle zu verlangen und durch die unentgeltliche Betreuung der Geschwister die Reziprozität und Solidarität innerhalb der Familie aufrecht zu erhalten. Ihre Mutter übte nie einen Beruf aus, sondern kümmerte sich voll und ganz um ihre Familie. Nach Abschluss der Berufsschule heiratete sie und wurde mit 17 Jahren mit Joanna schwanger. Ihr Mann begann nach Abschluss der Berufsschule in einem großen staatlichen Betrieb und arbeitete bis zur Auflösung dieses Betriebs im Jahr 2002 in unterschiedlichen Bereichen: im Bau, in der Getränkeabfüllung, in der Schlachterei und zuletzt in der Bäckerei. Als er seine Arbeit verlor, war er Anfang 40. Joanna hatte zu diesem Zeitpunkt schon eine eigene Familie gegründet. Schon während der Abiturprüfungen im Jahr 1999 wurde sie schwanger. Kurz nach Beendigung der Schulausbildung wurde ihre erste Tochter geboren. Zu jener Zeit, im Wintersemester 1999, begann Joanna ein berufsbegleitendes Informatikstudium in Olsztyn, das sie aber nach zwei Monaten abbrach, weil sie ihr Baby nicht ständig allein lassen mochte. Bis zur Heirat im darauf folgenden Jahr blieb Joanna mit ihrem Kind in der Wohnung ihrer Eltern, dann zog sie mit ihrem Ehemann in eine eigene Wohnung ins Zentrum von Bartoszyce. Sie leben in einem äußerlich ziemlich heruntergekommenen Mehrfamilienhaus, von dem die Farbe und der Putz abblättern. Ihre kleine Dreizimmerwohnung ist allerdings frisch renoviert, mit Laminat ausgelegt und geschmackvoll eingerichtet. Mittelpunkt des Wohnzimmers stellt ein riesiger Fernseher dar. 2001 wurde die zweite Tochter geboren. Nach der Geburt blieb Joanna ein Jahr zu Hause, um sich um ihre Kinder zu kümmern. 2002 suchte sie eine Arbeit und fand eine Stelle als Aushilfe in einem Restaurant, das sie aber schon nach zwei Wochen enttäuscht verließ. Der ihr versprochene Lohn wurde nicht ausgezahlt. Da es sich um Schwarzarbeit handelte, konnte sie sich dagegen schlecht wehren. Im übernächsten Jahr bemühte sich Joanna aktiv um eine neue Arbeit und fragte beim Arbeitsamt nach Beschäftigungsmöglichkeiten. Man bot ihr dort eine Beschäftigung im Rahmen eines Arbeitsbeschaffungsprogramms an, die sie bis Februar 2005 ausübte. Konkret handelte es sich dabei um Buchhaltungstätigkeiten in einem Wasserwerk. Durch Vermittlung und Fürsprechen ihrer Schwiegermutter ergatterte Joanna schließlich im März 2005 eine zunächst auf drei Jahre befristete volle Stelle als Buchhalterin beim Sozialamt, das sich um die ländlichen Gemeinden Bartoszyces kümmert. Um sich weiter zu qualifizieren und dadurch ihre Stelle zu sichern, begann sie, ebenfalls im Jahr 2005, mit einem berufsbegleitenden Wirtschaftsstudium in Warschau, das sie 2008 beendet haben wollte. Jedes zweite Wochenende besuchte sie dazu Vorlesungen.
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5 Analyse des empirischen Materials
Joannas Mann studiert ebenfalls berufsbegleitend. Seine berufliche Tätigkeit begann 2001 mit der Aufnahme von Schwarzarbeit in einem Holzverarbeitungsbetrieb. Dort war er während seiner halbjährigen Beschäftigungsdauer für das Schärfen der Sägen verantwortlich. Von 2003 – 2005 arbeitete er als Fahrer für das Sozialamt, in dem Joanna zurzeit angestellt ist. Währenddessen begann er sein berufsbegleitendes Studium zum Sportlehrer. Seit September 2005 macht er dafür ein Praktikum an der Schule, die von seiner Mutter geleitet wird. Joanna ist zufrieden mit der derzeitigen Situation, empfindet ihre zahlreichen Verpflichtungen aber als anstrengend. „Es ist schwer, sehr schwer, umso mehr, als dass da das Haus ist, Kinder, Arbeit, und noch die Schule jedes zweite Wochenende. Dafür braucht man doch Zeit und Kraft. Wir sind junge Leute, aber manchmal so müde wie alte Großmütter und Großväter.“ Normalerweise beginnt Joanna um 7.00 Uhr morgens zu arbeiten, ihr Mann muss um 8.00 Uhr in der Schule sein. Auf dem Weg zur Arbeit bringt er die Töchter in den Kindergarten. Abgeholt werden sie meistens von Joanna und ihrem Mann gemeinsam. Abends legt Joanna ihren Kindern und ihrem Mann die Kleidung für den nächsten Tag hin, bereitet das Abendessen und kümmert sich um die Wohnung. Zusätzlich zu den aufgezählten Alltagsbereichen finden auch gelegentliche Schmuggelfahrten in Joannas Alltagsgestaltung Platz, die die Vereinbarung ihrer vielen Tätigkeiten nicht einfacher machen. Gründe für Schmuggel und Netzwerke Joannas Motivation zum Schmuggel ist mit der Beziehung zu ihren Eltern verknüpft. Schon vor dem Verlust seiner Arbeitsstelle brach Joannas Vater ab und zu zu Schmuggelfahrten auf, um die Versorgung der Familie zu sichern. Als Älteste nutzte Joanna die Gelegenheit, ein wenig eigenes Geld zu verdienen, was sich problemlos mit ihren schulischen Verpflichtungen vereinbaren ließ: „Also ich war schon die Älteste, als Papa anfing zu fahren, also ich wollte immer ein paar Groschen haben, also so fing ich an zu fahren. Früher stand man nicht so in der Schlange, also fuhr ich nach der Schule und in vier Stunden waren wir wieder zu Hause. Dann schaffte ich es noch, die Hausaufgaben zu machen, mich auf den nächsten Schultag vorzubereiten und zur Schule zu fahren.“ In diesem vergangenen Lebensabschnitt ist Joanna eher dem Typus des „abenteuerlustigen Nebenverdieners“ zuzuordnen, was sich aber im Verlauf ihres weiteren Lebenslaufs ändern sollte. Als sie kurze Zeit später ihren Mann kennen lernte, fuhren sie zunächst zu dritt mit dem Auto ihres Vaters nach Russland. Nach der Hochzeit verschlechterte sich mit dem Umzug in eine eigene Wohnung die finanzielle Situation Joannas und ihres Mannes, da weder sie noch er zu der Zeit erwerbstätig
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waren. Es begann eine Phase, in der Joannas Schmuggeltätigkeit Merkmale des Typus der „existenzsichernden Mutter“ aufweist: Sie und ihr Mann waren existenziell auf die Schmuggeleinnahmen angewiesen und finanziell vollkommen vom Schmuggel abhängig. Ihre einzige Nebeneinkommensquelle bestand in einer Familienzuwendung vom Sozialamt in Höhe von 38 Zoty im Monat. Während der Phase ohne offizielle Einkünfte, die sich ca. ein Jahr hinzog bis in die Mitte des Jahres 2001, baten sie das Sozialamt um Unterstützung. Joanna und ihr Mann bewiesen, dass sie sich um Arbeit bemühten, die Betriebe aber keine freien Arbeitsplätze anbieten konnten. Trotzdem bekamen sie keine staatlichen Hilfeleistungen, was Joanna zu der Überzeugung führte, dass „man in keiner Weise mit irgendetwas vom Staat als Hilfe rechnen kann.“ Sie fuhr weiter nach Russland. Von nun an fuhren sie und ihr Mann gemeinsam als „podsiadka“ (vgl. S. 199f.) und verdienten auf diese Weise um die 40 Zoty pro Fahrt. Auch nach Aufnahme der Arbeit in einem holzverarbeitenden Betrieb fuhr ihr Mann weiterhin nach Russland, da die 600 Zoty Lohn im Monat nicht ausreichten. Immerhin konnten sie sich ein kleines Auto vom Verdienten leisten, das sie auch für die Schmuggelfahrten nutzten. Auch nach Aufnahme der Arbeit als Fahrer im Sozialamt fuhr Joannas Mann weiterhin an den Wochenenden nach Russland. Joanna begann 2003, als ihre kleinere Tochter alt genug für eine mehrstündige Abwesenheit der Mutter war, für ein Jahr in Linienbussen zu fahren, weil sie dadurch nicht so lange warten musste wie ihr Mann im Auto. Zu dem Zeitpunkt waren beide erwerbstätig und gewannen beide zusätzliche Einnahmen aus gemeinsamen Schmuggelfahrten. Ab dieser Phase lässt sich Joannas Schmuggelaktivität zum Typus des „prekären Multiverdieners“ zuordnen. „Aber zwischendurch, immer an den Wochenenden fuhr man nach Russland, um was dazu zu verdienen. Bis jetzt fahre ich, ich fahre bis zu diesem Zeitpunkt, mit meinem Mann, um immer ein paar Zoty zu haben, für diese Schule, um zu zahlen, oder irgendwelche eigenen Bedürfnisse, irgendwelche Kosmetika, weil das der Mann nicht mehr gibt. Na, und mein Mann fährt zu den Russen, verdient dort, weil es bis zur Lohnauszahlung fehlt. Es gibt zu viele Kosten. Wir haben zwei Löhne, aber wir sind gezwungen, nach Russland zu fahren.“ Trotz doppelten Gehaltes sind Joanna und ihr Mann auf die Nebeneinkünfte durch Schmuggel angewiesen, um finanziell den Monat zu überstehen. Diese Lage ist schwierig, misslich, also prekär. Wie Rafa und Lucyna spricht auch Joanna vom Zwang zu schmuggeln und macht damit die aus ihrer Sicht wahrgenommene Alternativlosigkeit zur Schmuggeltätigkeit deutlich. Bei Joanna kommt als ein weiterer Grund für den Schmuggel die dadurch erreichte finanzielle Unabhängigkeit von ihrem Ehemann hinzu. Das Zitat legt nahe, dass trotz offensichtlicher Gleichberechtigung und beiderseitiger gleich starker Belastung durch Erwerbsarbeit in Joannas Haushalt traditionelle Geschlechterrollen aufrechterhalten werden und sich daran auch durch den Schmuggel nichts ändert. Joannas Mann hat weiterhin die
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Finanzhoheit inne und bestimmt, wofür das verdiente Geld ausgegeben wird oder eben nicht, wie z.B. für Joannas Kosmetika. Darüber hinaus ist Joanna wie selbstverständlich für die Haushaltsführung und die Kinderbetreuung zuständig, obwohl sie – wie ihr Mann – erwerbstätig ist und sie meist gemeinsam auf Schmuggelfahrt gehen: „Mein Mann verstand es nicht, sich mit Kindern zu beschäftigen. Und bis jetzt vielleicht kann er es nicht, sogar wenn er versucht, mit ihnen zu spielen, bringt er sie immer zum Weinen.“ Nach der Rückkehr aus Russland gehört es zu Joannas Aufgaben, sich um den Haushalt zu kümmern, Ordnung zu machen, die Kinder anzuziehen und das Essen zu kochen, während ihr Mann sich um die geschmuggelte Ware kümmert. Das eigene durch den Schmuggel verdiente Geld gewährt Joanna einen begrenzten eigenen Entscheidungsfreiraum. Vor allem aber garantiert er die Unabhängigkeit von ihren Eltern, die Joanna sehr wichtig und Teil ihres Selbstverständnisses ist. Sie ist stolz, dass sie seit sechs Jahren finanziell von ihren Eltern unabhängig ist, im Gegensatz z.B. zu ihrem 20-jährigen Bruder, der immer noch „am Kochtopf von Mama hängt“. Joannas Gründe für ihre Schmuggeltätigkeit sind somit vielfältig: Neben der finanziellen Sicherstellung der ausreichenden Versorgung ihres Haushalts ist es die Unabhängigkeit von den Eltern, zum Teil von ihrem Ehemann und staatlicher Versorgung, die sie dazu motiviert. Die angestrebte Unabhängigkeit führt gleichzeitig zu Schwierigkeiten, enge Netzwerke zu unterhalten, was besonders auf die Beziehung zu Joannas Familie zutrifft. Während der Schmuggelfahrten am Wochenende und zu Vorlesungszeiten sind Joanna und ihr Mann auf externe Kinderbetreuung angewiesen. Nachdem ihre Großmutter und ihre Mutter Unwillen gezeigt haben, ihre Enkel zu betreuen, bezahlt Joanna ihre Geschwister dafür, dass sie auf ihre Nichten aufpassen, obwohl das in Polen durchaus unüblich ist. Diese Vorgehensweise vergrößert aber wiederum ihre Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit. „Aber ich gab es [Geld, B.B.] von mir selbst aus, ich sah, dass ich sie später fragen kann, wenn ich möchte, und sie können auf sie aufpassen.“ Während Joanna sich selbstverständlich ohne Bezahlung um ihre jüngeren Geschwister gekümmert hat, wird dieses reziproke familiale System nun von ihren Geschwistern aufgebrochen in eine neue monetäre Form von Reziprozität. Dies wiederum ist durchaus im Sinne Joannas, weil sie sich durch ihre Entlohnung der Unterstützung durch ihre Geschwister sicher sein kann, also eine Garantie der Erfüllung der abgesprochenen Dienstleistung besitzt, was für sie einen Zuwachs an Autonomie und Planbarkeit bedeutet.
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Abbildung 17: Egozentriertes Netzwerk von Joanna
Während die Beziehungen zu ihrer Familie konflikthaft bis eng sind, bestehen aus Zeitmangel außer zu ihrer besten Freundin praktisch keine engen Beziehungen zu weiteren Freundinnen. Auch zu ihren Arbeitskollegen pflegt sie keine über berufliche Kontakte hinausgehenden Beziehungen. Die Kontakte zu Nachbarn sind eher distanziert, umso mehr, seit ein Nachbar Benzinkanister im Keller von Joanna und ihrem Mann gesehen hat und daraufhin die Polizei alarmiert hat – um illegales Schmuggelgut zu melden. Enge Kontakte zu Grenzautoritäten können Joanna und ihr Mann genauso wenig pflegen, da sie nur zu festgelegten Zeiten fahren können und sich dabei nicht nach der diensthabenden Schicht richten. „Nein, wir ausgerechnet achten nicht auf das [die Schicht, B.B.]. Weil wir am Wochenende fahren wollen, wissen wir nicht, wer genau am Wochenende da sein wird. Und sogar wenn wir manchmal
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hören, dass manchmal irgendwer Schreckliches kontrolliert, so einer, wie sie sagen, der schlägt zu, oh, bei dem bringst du nichts durch, nein. Wir gucken darauf nicht. Wir riskieren das, mit Rücksicht darauf, dass wir uns nur am Wochenende erlauben können zu fahren.“ Joannas verfügbare Netzwerke stellen für die Ausübung ihrer Schmuggeltätigkeit also keine bedeutende Vereinfachung dar, wie Abbildung 17 zeigt. Organisation des Schmuggels Die inneren Ressourcen von Joannas Haushalt in Form von wenig verlässlichen Netzwerken und der Ausübung formeller Erwerbsarbeit haben Einfluss auf die Organisation des Schmuggels. Die Erwerbsarbeit stellt für Joanna und ihren Ehemann das alltagsstrukturierende Element dar, dem die Schmuggeltätigkeit untergeordnet wird, was dazu führt, dass, wie das obige Zitat verdeutlicht, Schmuggel ausschließlich an freien Wochenenden ausgeführt werden kann. Während der Schulzeit fährt das Ehepaar durchschnittlich alle zwei Wochen nach Russland; in den Schulferien probieren sie es an jedem Wochenende. Festgelegte begrenzte Zeitfenster, in denen Schmuggel ausschließlich möglich ist, führen neben der Gefahr unberechenbarer Kontrollen durch den polnischen Zoll dazu, dass Joanna und ihr Mann sich die Garantie einer nicht allzu langen Wartezeit auf russischer Seite durch Zahlungen an russische Grenzautoritäten erkaufen müssen: „Wir stehen nicht in der Schlange. (…) Das dauert manchmal drei Tage. Und das können wir uns nicht erlauben. Da gibt es das Risiko, dass man es nicht zur Arbeit schafft, und die Kinder sind klein. Und man zieht es vor, ein wenig zu bezahlen, hm, ein wenig, nicht ein wenig, das ist viel Geld, weil man dort viel Geld zahlt. (…) 50 Dollar zahlt man überwiegend. Manchmal zahlt man 60. Dafür, dass man schnell zurückkommt.“ Die sporadischen, nicht häufigen Fahrten bedingen die große Warenmenge, die bei jeder Fahrt transportiert wird. Als Paar nehmen sie jedes Mal 16–20 Zigarettenstangen mit, einen Liter Wodka und einen gefüllten Tank. Dabei achten sie auf größtmögliche Wirtschaftlichkeit: Um mögliche Verluste während der Kontrollen gering zu halten, transportieren sie jedes Mal zum großen Teil die preisgünstigen „Jin Ling“-Zigaretten. Außerdem wählen sie die Verkaufsbude einzig und allein nach der Höhe des Verkaufspreises aus und sind deshalb nirgends Stammkunden. Darüber hinaus setzen sie die Vorgaben ihres Abnehmers auf eine für sie gewinnbringende Weise um: Stellt der Weiterhändler drei unterschiedliche Marken zur Auswahl, die er kaufen möchte, wählen Joanna und ihr Mann natürlich die Marke, bei deren Schmuggel sie am meisten verdienen. Ihre Verkaufsstrategie, die in der möglichst schnellen garantierten Weitergabe der Waren nach Rückkehr aus Russland an einen Zwischenhändler besteht, bietet eine Risikominimierung, die angesichts der konflikthaften Netzwerke zu den Nachbarn besonders wichtig ist: je kürzer die Zeit, die
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die Schmuggelware im Haus aufbewahrt wird, desto geringer das Risiko ihrer Entdeckung und somit ihres Verlusts.Joannas Schmuggelstrategie zeichnet sich hauptsächlich durch die Bemühung um größtmögliche Gewinnmaximierung aus. Dies ist so wichtig, da sowohl brüchige, sensible Netzwerke als auch begrenzte Zeit Geld kosten (in Form der Bezahlung ihrer Geschwister für die Kinderbetreuung und der Bezahlung der russischen Uniformierten für eine schnelle Weiterreise), die den Schmuggelgewinn schmälern. Einkommensstruktur und Verwendung der Schmuggeleinnahmen Das verfügbare Einkommen von Joannas Haushalt setzt sich aus den Gehältern des Ehepaares und ihrem Schmuggeleinkommen zusammen. Joanna verdient monatlich als Buchhalterin knapp 700 Zoty netto, ihr Mann als Lehrer im Praktikum 900 Zoty netto. Vom gemeinsamen Verdienst von knapp 1.600 Zoty gehen monatlich 400 Zoty für die Vorschule ab, 250 Zoty müssen für die Betriebskosten der Wohnung veranschlagt werden. Strom schlägt mit 100 Zoty zu Buche, Gas kostet 200 Zoty. Einen weiteren Kostenfaktor bilden die Hochschulgebühren. Joannas Ausbildung kostet monatlich 250 Zoty, die Hochschule ihres Mannes berechnet pro Semester 2.400 Zoty. Da er von seinem Arbeitgeber ein Stipendium in Höhe von 600 Zoty pro Semester erhält, bleibt ein monatlicher Eigenanteil von 300 Zoty bestehen, von dem ab und zu seine Mutter die Hälfte übernimmt. Im Monat brechen sie im Jahresdurchschnitt vier bis fünf Mal zu Schmuggelfahrten auf, in den Ferienzeiten öfter, während der Schulzeit seltener. An einer Stange „Jin Ling“ verdienen sie 12–13 Zoty, abhängig vom aktuellen Kauf- und Verkaufspreis, der je nach Nachfrage und Wechselkurs leicht schwanken kann. Bei erfolgreichem Transport von 20 Stangen „Jin Ling“ ohne Strafmandat bedeutet das einen Gewinn von 240 Zoty bis 260 Zoty. Darüber hinaus erzielen sie Einnahmen von 0,40 Zoty pro Liter Benzin, was bei einem 60-Litertank eine Summe von 24 Zoty ergibt. Von diesem Gewinn müssen allerdings 50 US-Dollar an die russische Polizei abgezogen werden, um die Wartezeit zu verkürzen, was mit ca. 160 Zoty zu Buche schlägt. Darüber hinaus verlangt der russische Zoll einen halben Dollar pro geschmuggelte Stange, was sich auf 10 US-Dollar (32 Zoty) beläuft. Zuletzt gilt die ungeschriebene Regel, dem russischen Grenzschutz pro zehn Stangen einen Dollar in den Pass zu legen. Zur besseren Veranschaulichung werden in Tabelle 22 die schmuggelbedingten Einnahmen und Ausgaben gegenübergestellt.
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Tabelle 22: Zusammensetzung der schmuggelbedingten Einnahmen und Ausgaben bei einer Fahrt von Joanna Einnahmen Posten 20 Stangen „Jin Ling“ 60 Liter Benzin 1 Liter Wodka
Summe (in Zoty) 240–260 24 8
Gesamt 272 - 292 Reingewinn: 74–94 Zoty (19–25 Euro)
Ausgaben Posten Zahlung an russische Polizei Zahlung an russ. Zoll Zahlung an russ. Grenzschutz Gesamt
Summe (in Zoty) 160 32 6,40 198
Pro Fahrt erzielen sie also einen durchschnittlichen Gewinn von bis zu 100 Zoty, was bis zu 500 Zoty monatliche Mehreinnahmen durch Schmuggel bedeutet. Ihr monatliches Gesamteinkommen beläuft sich also maximal auf knapp 2.100 Zoty, denen 1.300–1.500 Zoty feste monatliche Ausgaben gegenüberstehen. Zur besseren Veranschaulichung folgt eine Gegenüberstellung der genannten monatlichen Einnahmen und Ausgaben in Joannas Haushalt in Tabelle 23. Tabelle 23: Zusammensetzung der monatlichen Einnahmen und Ausgaben von Joanna Einnahmen Posten Gehalt Joanna Gehalt Ehemann Einnahmen aus Schmuggel
Gesamt Gewinn:
Summe (in Zoty) 700 900 500
Ausgaben Posten Vorschule Wohnung Strom
Gas Studium Joanna Studium Ehemann 2.100 Gesamt 600 Zoty (157 Euro)
Summe (in Zoty) 400 250 100 200 250 300 1500
Zur freien Verfügung bleiben ihnen 600 Zoty, im Falle der Übernahme von Zweidritteln der Studiengebühren durch die Mutter des Ehemannes 800 Zoty. Für eine
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vierköpfige Familie ist das keine große Summe, die Joanna und ihr Mann als schmuggelnde Doppelverdiener erwirtschaften: „Na, zusammen mit meinem Mann arbeiten wir, zu den Russen fahren wir, aber sogar, um etwas zu kaufen, das geht alles für’s Essen drauf, es ist schwer, etwas zum Anziehen zu kaufen. Das ist wirklich, abgetretene Schuhe, oder die Kinder haben etwas nicht oder was, zu Weihnachten oder zum Namenstag sagen wir schon zu den nahen Verwandten, zu Mama, Papa, zur Familie, dass sie uns etwas kaufen sollen, vor allem bitten wir um etwas zum Anziehen.“ Das Schmuggeleinkommen erfüllt in Joannas Haushalt verschiedene Funktionen. Zum ersten ist es Voraussetzung, um den Monat finanziell zu überstehen und das frei verfügbare Einkommen, das nach Abzug aller fixen Kosten bleibt, zu vergrößern. Die Schmuggeleinnahmen sichern also das Überleben im Rahmen einer „Coping-Strategie“. Zum zweiten kann sich Joanna manchmal von einem Teil des Schmuggeleinkommens bescheidene persönliche Wünsche erfüllen. Drittens aber ist es auch der Schmuggel, der Joanna auf den Gedanken einer persönlichen Weiterqualifizierung brachte. Die Schmuggeleinnahmen erschienen als ein sicheres finanzielles Polster zu der Zeit, als sie mit dem Bus fuhr, so dass sich die Gelegenheit zur Aufnahme des Studiums bot. Das Studium bedeutet für Joanna vor allem die Sicherung ihrer Arbeitsstelle und damit ihrer finanziellen Unabhängigkeit. Schmuggel stellt für sie eine Investition dar, die sich in Zukunft auszahlen soll: „Ich lerne, jetzt bin ich im zweiten Jahr, ich studiere Wirtschaft, um die Arbeit, die ich habe, nicht zu verlieren. Ich habe einen Vertrag genau für diesen Zeitraum [des Studiums, B.B.] und sollte genau die Schule beenden, das Lizenziat. Also entweder bleibe ich in meiner Arbeit oder nicht. Das hängt schon davon ab, ob ich das Papierchen bekomme. Aber ich denke, dass es was wird, dieses Mal plane ich nicht mehr aufzugeben.“ Mit der Weiterbildung erhofft sich Joanna größere Chancen auf dem Arbeitsmarkt und einen höheren Verdienst. Die Aufnahme ihres Studiums wäre ohne die zusätzlichen Einnahmen durch den Schmuggel nicht möglich gewesen. Das heißt wiederum, dass Joanna den Schmuggel für die Sicherung ihrer Zukunft nutzt. Im Gegensatz zu Rafa tut sie das aber nicht direkt, sondern indem sie den Schmuggel für die Finanzierung des Studiums nutzt. Schmuggel dient ihr als Mittel zum Zweck. Mit den so erwirtschafteten Einnahmen wandelt sie ökonomisches in kulturelles Kapital um: durch Schmuggeleinnahmen zum Bildungsabschluss. Dieser soll letztlich dazu dienen, den Schmuggel irgendwann beenden und ihren Lebensunterhalt mit qualifizierter Erwerbsarbeit bestreiten zu können. Wenn beide mehr verdienen, prophezeit Joanna, werden sie mit Sicherheit nicht mehr nach Russland fahren. Sie hätten nicht vor, ihr ganzes Leben „von Russland zu leben“. Bildung dient also als Chance der Legalisierung ihrer Unterhaltsquellen.
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„Das ist das letzte Jahr, das ich fahre [sagt ihr Mann, B.B.]. Er verspricht sich schon, dass, wenn er das Praktikum beendet hat, ab dem nächsten Jahr nicht mehr fahren wird. Und ich denke, dass, wenn ich die Schule beende, dann fahre ich mit Sicherheit auch nicht mehr.“ Schmuggel wird von Joanna episodisch gedacht, um eine Voraussetzung zu schaffen, damit in Zukunft wieder aufhören zu können. Im Lebensentwurf von jungen Paaren wie Joanna und ihrem Mann stellt der Schmuggel eine vorübergehende biographische Schleife dar, die eine wichtige Station in der geplanten Konsolidierung des Familien- und Berufslebens ausfüllt und demnach für die Zukunftsplanung eine determinierende Rolle spielt. Schmuggel als eine Einnahmequelle unter weiteren und Bewertung des Schmuggels Für Joanna stellt der Schmuggel eine genauso wichtige und unverzichtbare Einkommensquelle dar wie ihre Erwerbsarbeit. Ihr Haushalt ist auf beide Erwerbsquellen angewiesen, damit die ökonomische Haushaltsstrategie erfolgreich sein kann. Joanna und ihr Mann verfolgen dabei als Ziel die „Mitigation-Strategie“. Um sich vor dem Risiko der Arbeitslosigkeit so gut wie möglich zu schützen, streben sie ihre berufliche Weiterqualifikation an, die sich nur durch die Kombination von Erwerbseinkommen und zusätzlichen Schmuggeleinnahmen finanzieren lässt. Schmuggel dient pragmatisch als Werkzeug zur Erreichung eines konkreten Ziels und ist nicht als dauerhafte zukünftige Einkommensquelle geplant. Joanna sieht die Nähe der Grenze als Chance für sich selbst: „Also zum Leben bleiben 300 Zoty. Nimm die und leb von 300 Zoty. Wir müssen zu diesen Russen fahren. Wir fahren zu diesen Russen. Man verdient immer ein wenig dazu. Das ist nicht so, dass man etwas zurücklegen kann. Man lebt von Monat zu Monat. Man lebt von Monat zu Monat, um einfach zu überleben. Um die Hochschulen zu bezahlen. Aber es ist gut, dass es diese Chance gibt, dass es diese Grenze gibt, dass es die Möglichkeit zum Verdienen gibt. Und immerhin kann man noch, wir können lernen, wir können arbeiten, wir können die Kinder zur Vorschule schicken.“ Das zusätzliche Schmuggeleinkommen ermöglicht also zum einen eine bescheidene finanzielle Sicherung: Ihr Studium, das ihres Mannes und die Vorschule für die Kinder sind immerhin dauerhaft möglich. Zum zweiten spricht Joanna im obigen Zitat auch an, dass der Schmuggel organisatorisch mit dem Erwerbsalltag vereinbar ist. Deshalb bewertet Joanna ihre momentane Gesamtsituation recht positiv: „Irgendwie haben wir es hingekriegt, wirklich, wir haben es sehr gut. Andere junge Leute haben es nicht so gut wie wir jetzt. Wir haben zwei Kinder, wir haben eine Wohnung und das wichtigste, wir haben Arbeit.“
5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung
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Joanna legitimiert die Schmuggeltätigkeit vor sich selbst, indem sie deren Übergangscharakter betont und deren Bedeutung für die Erreichung des übergeordneten Ziels: finanzielle Unabhängigkeit durch berufliche Weiterbildung. Auch dadurch distanziert sie sich von ihren Eltern, die den Schmuggel nicht wie sie als Zuverdienst nutzen, sondern ihren Lebensunterhalt vollkommen aus seinen Einnahmen bestreiten. Der Umgang ihrer Eltern mit dem Schmuggel ist für Joanna ein abschreckendes Beispiel, welches für sie undenkbar ist: das ganze Leben nach Russland zu fahren, statt eine Erwerbsarbeit anzustreben. Ihrem Vater fehlen anderthalb Jahre zum Rentenanspruch. Für Joanna ist es unverständlich, weshalb er diese nicht abarbeitet, sondern stattdessen schmuggelt. Aus ihrer Sicht hat ihn die Grenze kaputt gemacht, da er sich gehen lässt und das verdiente Geld vertrinkt. Joanna hingegen nutzt die Grenze für ihre eigene Zukunftssicherung, um später nicht mehr von ihr abhängig zu sein. Für sie ist es am wichtigsten, eine Erwerbsarbeit zu haben. Um diesen Zustand zu garantieren, setzt sie zeitweilig den Schmuggel ein. Man muss eine Arbeit haben, sagt sie, um nicht das ganze Leben nach Russland zu fahren und von diesem Russland zu leben. Die momentane Kombination von Erwerbsarbeit und Schmuggel fällt ihr dementsprechend auch nicht leicht. Sie befürchtet, mit Schmuggelwaren erwischt zu werden und deshalb ihren Ruf bei ihrem Arbeitgeber zu beschädigen. „Wenn sie mich kriegen würden, hätte ich wer weiß wie verschissen. Hier arbeite ich angeblich, und dort beschäftige ich mich mit so etwas.“ Joanna spricht von dem Gegensatzpaar Arbeit und Schmuggel, wobei sie den Schmuggel abwertend beschreibt („mit so etwas“). Das sagt weniger etwas über ihren eigenen Standpunkt zum Schmuggel aus (der ja, wie oben gesehen, kohärent und positiv ist), als dass es die Perspektive ihres Arbeitgebers beschreibt, mit der sie aber tagtäglich konfrontiert ist. Die Trennung beider Aktivitäten ist für Joanna eine Voraussetzung für die Aufrechterhaltung ihrer Haushaltsstrategie, die sich aus Schmuggel und Erwerbsarbeit zusammensetzt. Daher ist auch besonders wichtig, dass die geschmuggelten Waren schnell weiterverkauft werden. Selbst auf dem Markt zu stehen und Zigaretten zu verkaufen, könnte Joanna sich in ihrer Situation nicht leisten. Fazit Joanna kombiniert in ihrer ökonomischen Haushaltsstrategie zwei Einkommensarten miteinander: Erwerbseinkommen und Schmuggeleinkommen. Dadurch erreicht sie das angestrebte Ziel, die Vorbeugung von Risiken, also „Mitigation“. Schmuggel ist für sie in diesem Prozess ein effektives, pragmatisches und zukunftsorientiertes Hilfsmittel, dessen Ausführung sie auf der einen Seite zwar als anstrengend und auslaugend empfindet. Auf der anderen Seite jedoch ist sie dankbar für die Gele-
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genheit dieser Form des Zuverdienstes. Ihre Haushaltsstrategie ist eingebettet in ihre alltägliche Lebensführung, die sich vor allem um die Sicherung und den Erhalt ihrer finanziellen Unabhängigkeit dreht. Diesen Bemühungen entsprechen zwei handlungsleitende Überzeugungen von Joanna: Man sollte niemandem vertrauen und sich dementsprechend auch nicht auf den Staat verlassen. Schmuggel dient als episodisches Mittel zu dem Zweck, diese Unabhängigkeit durch einen sicheren Arbeitsplatz zu erlangen, was wiederum Investitionen in persönliche Weiterbildung voraussetzt. Er besitzt für Joanna mittlere Priorität im Alltag. Dieser richtet sich nach den Erfordernissen der Erwerbsarbeit, die damit höchste Priorität genießt und der die Organisation des Schmuggels unterordnet wird. Dank der gut an Joannas Haushalt angepassten erläuterten Schmuggelorganisation lassen sich aber die Elemente der Haushaltsstrategie, also Erwerbsarbeit und Schmuggel, sowohl problemlos miteinander als auch mit anderen Alltagsbereichen wie der Kinderbetreuung vereinbaren. Armut bewältigt Joanna, indem sie tatkräftig Voraussetzungen für eine sicherere Zukunft schafft. Dabei ist sie auf den Schmuggel angewiesen, um ihn später nicht mehr nötig zu haben. Sie investiert damit in ihre persönliche Zukunft. Für Joanna sind mit der Schmuggeltätigkeit zukünftige Chancen verbunden, die sie motivieren und die sie den Schmuggel legitimieren lassen. Daraus folgt, dass Schmuggel episodischen Charakter für sie hat. Auch in der Gegenwart trägt der Schmuggel dazu bei, die durch ihre Lebensführung angestrebte Unabhängigkeit zu realisieren: „Na, und wir kommen allein klar, und zumindest wissen wir, dass das, was wir haben, unseres ist. Aus eigener Arbeit, niemand gibt uns etwas, und keiner hilft.“ Charakteristika des Typus „prekärer Multiverdiener“ Aus der Analyse von Joannas Umgang mit Schmuggel lassen sich folgende allgemeingültige Aussagen über den Typus des „prekären Multiverdiener“ treffen, den sie repräsentiert: Repräsentanten dieses Typus‘ gehen einer formellen Erwerbstätigkeit nach, von deren Verdienst allein sie aber ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können. Um das zu erreichen, ist der prekäre Multiverdiener auf zusätzliche Einnahmen angewiesen, die er durch Schmuggel bekommt. Für ihn hat der Schmuggel die gleiche ökonomische Bedeutung wie seine weitere Einnahmequelle, die Erwerbsarbeit. Schmuggel besitzt für diesen Typus also mittlere Priorität, da er nicht ausschließlich finanziell auf ihn angewiesen ist. Alltagsstrukturierendes Element ist demnach nicht der Schmuggel, sondern die formelle Erwerbstätigkeit. Das hat zur Folge, dass die Schmuggelorganisation sich nach den Erfordernissen der formellen Erwerbstätigkeit richten muss. Zeitpunkte der Schmuggelfahrten richten sich nicht nach der diensthabenden Schicht, sondern nach den eigenen Arbeitszeiten. Dementsprechend profitiert der prekäre Multiverdiener nicht von engen Kontakten zu den Grenzautoritäten, da er bei jeder Fahrt auf andere Zöllner trifft. Diese Anord-
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nung hat zur Konsequenz, dass das Risiko beim Schmuggel nur bedingt eingeschränkt werden kann, und der Schmuggel möglicherweise an Effektivität und Gewinn einbüßt. Auch die nur sporadische Aufnahme von Schmuggelfahrten ist der Unterordnung dieser Aktivität unter die Erfordernisse der formellen Arbeitsstelle geschuldet. Um die Wahrscheinlichkeit eines Gewinns zu erhöhen, nimmt der prekäre Multiverdiener bei seinen vergleichsweise seltenen Fahrten eine große Warenmenge mit. Der prekäre Multiverdiener hat aufgrund der ambivalenten Betrachtung von Schmuggel (vgl. Kapitel 5.1) noch weitere Probleme, formelle Erwerbstätigkeit mit Schmuggel zu vereinbaren: Er fürchtet um seinen guten Ruf und um seinen Arbeitsplatz, sollte seine Schmuggeltätigkeit publik werden. Deshalb ist er um Diskretion bemüht, was u.a. Auswirkungen auf seine Verkaufsstrategien hat. Waren werden an einen festen Großhändler verkauft, der sie zeitnah nach der Rückkehr aus Russland abholt, damit ihre riskante Lagerung zu Hause vermieden wird. 5.2.3.4 Typ „pragmatischer Kompensierer“: „Das ist illegale Arbeit. Aber das ist verdientes Geld dank meiner Arbeit“ Dieser Typus wird deutlich von Jerzy und seiner Frau Georgia präsentiert, die als Ehepaar oft gemeinsam schmuggeln. Die Darstellung des Typus‘ erfolgt in der Hauptsache durch die Konzentration auf Jerzys Aussagen und wird durch Äußerungen von Georgia komplettiert. Biographische Eckdaten Jerzy wurde 1952 als drittes von sechs Geschwistern in der Nähe von Supsk geboren. Sein Vater arbeitete im Straßenbau, seine Mutter in einer Handschuhfabrik, bis sie aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in Rente ging. Jerzy machte eine Schlosserlehre und arbeitete daraufhin sieben Monate in diesem Beruf, bis er zum Militärdienst einberufen wurde. Nach Beendigung des zweijährigen Militärdienstes ließ sich Jerzy 1971 von einer seiner Schwestern überreden, nach Bartoszyce zu kommen und sich dort eine Arbeit zu suchen, wo sie seit einiger Zeit mit ihrem Mann wohnte. Auch seine Eltern waren mit seinem Umzug einverstanden, da ihre finanziellen Mittel kaum für die jüngeren Geschwister reichten und es eine Erleichterung für sie darstellte, dass Jerzy für sich selber sorgen würde. In Bartoszyce lernte er seine spätere Frau kennen und heiratete sie 1977. Er fand eine Stelle beim lokalen Wegebauamt und machte in der Abendschule sein Fachabitur, womit er die Schule als ausgebildeter Techniker und Mechaniker verließ. Im Zuge einer Verwaltungsreform wurde das Amt aufgelöst, und Jerzy nahm für kurze Zeit eine neue Stelle in der Abteilung öffentlicher Wege in Lidzbark an, wohin er jeden Morgen eine halbe Stunde fuhr. Da ihm der lange Arbeitsweg überflüssig erschien angesichts der Möglichkeit, jederzeit in Bartoszyce eine Arbeit zu fin-
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den, kündigte er und begann daraufhin 1979 als Schweißer in der woiwodschaftsweiten Kundendienst-Genossenschaft zu arbeiten. Nach einem Jahr seiner dortigen Tätigkeit wurde der Betrieb verkauft und verwandelte sich in eine Materialverarbeitungsfirma. Damit ging auch eine Veränderung seines Tätigkeitsbereiches einher. Begann Jerzy als Schweißer, war er ab dem Verkauf der Firma bis zu seinem Weggang im Jahr 1996 mit der Herstellung von Fernsehteilen beschäftigt. Aufgrund seines Schulabschlusses boten sich ihm Aufstiegsmöglichkeiten: Er bekam sowohl als Schweißer als auch als Verarbeiter für Kunststoffe den Meistertitel und leitete eine Abteilung mit 30 Mitarbeitern. 1983 wurde er in einen Reifenbetrieb in Fürstenwalde bei Berlin entsandt und kaufte von seinem dortigen guten Verdienst ein kleines Auto, damit er mit seiner Familie ans Meer fahren konnte, wie er im gleichen Atemzug anführt. Während dieser Zeit pendelte er fast jedes Wochenende ins heimatliche Bartoszyce, um seine Familie mit Lebensmitteln zu versorgen, die es in den Jahren nach Ausrufung des Kriegsrechts im Dezember 1981 in Polen nicht zu kaufen gab. Inzwischen waren Jerzys Kinder fünf Jahre und ein Jahr alt. Georgia konnte Erziehungsurlaub nehmen, weil Jerzy in Deutschland sehr gut verdiente. Da das Ehepaar die Trennung als belastend empfand, kehrte er trotz der damit verbundenen finanziellen Einbußen nach drei Jahren nach Bartoszyce in seinen alten Betrieb zurück. Seine Frau begann nach dem Abschluss der Mittelschule 1976 in einem Möbelherstellungsbetrieb zu arbeiten, wo sie die nächsten 20 Jahre blieb. Sie erkrankte schwer, ist seither arbeitsunfähig und bezieht eine Invalidenrente. Der Sohn starb 1998 durch einen Unfall, woraufhin Georgia zwei Jahre lang psychologisch behandelt werden musste. Die Tochter absolviert ein Abendstudium in Olsztyn und lebt mit Georgia und Jerzy in der 45 qm großen, renovierten 2-Zimmerplattenbauwohnung zusammen, in der das Ehepaar seit 1981 wohnt. Der Systemumbruch 1989 leitete die langsame Auflösung von Jerzys Betrieb ein. Viele Mitarbeiter wurden Anfang der 1990er Jahre entlassen. Kurz vor der Privatisierung 1997 kündigte Jerzy von sich aus, um dadurch von einer hohen Abfindungssumme zu profitieren. Nach einem halben Jahr Arbeitslosigkeit vermittelte sein Schwager ihm eine neue Arbeitsstelle in der Buchhaltung eines Gebrauchtwarenhandels mit Autowerkstatt. Wieder füllte Jerzy eine Leitungsposition aus, die ihm Spaß machte und gut bezahlt war. Im Rahmen eines Betriebsausflugs fuhr Jerzy 1998 das erste Mal nach Russland. Das Essen dort war gut und billig, man konnte sich kostengünstig vergnügen, es gab noch keine langen Warteschlangen. Weil deshalb Fahrten nach Russland ohne großen zeitlichen und organisatorischen Aufwand möglich waren, fuhr Jerzy mit seiner Frau manchmal an den Wochenenden mit dem Auto über die Grenze, um in Russland günstigere Waren wie Öl, Zucker und Zigaretten für den Eigenverbrauch einzukaufen. Nach vier Jahren Betriebszugehörigkeit wurden in Jerzys Firma Gelder veruntreut. Die drei Vorsitzenden stritten sich. Den Mitarbeitern, die immer häufiger von
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Kündigungen betroffen waren, wurde ihr Lohn unregelmäßig und in bar ausgezahlt, bis der Betrieb Konkurs anmelden musste und verkauft wurde. 2001 verlor Jerzy das zweite Mal in seiner beruflichen Laufbahn seine Arbeitsstelle aufgrund einer Betriebsauflösung. Nach anderthalb Jahren Arbeitslosigkeit begann er als Lagerverwalter in einer Polsterei unter äußerst nachteiligen Bedingungen zu arbeiten. Für 14stündige Arbeitstage wurde ihm der staatliche Mindestlohn gezahlt. Die einzige Motivation für den Behalt der Stelle wäre der Ausblick auf den Bezug von Frührente gewesen, auf die er ein Anrecht hätte, wenn er mit Erreichen seines 55. Lebensjahres mindestens 35 Jahre gearbeitet hätte. Da er diese Zeitspanne nicht erfüllte, sah er in der anstrengenden und finanziell nicht lohnenden Tätigkeit keinen Sinn mehr und kündigte. Die Stelle in der Polstereifabrik brachte keine der positiven und für Jerzy wichtigen Funktionen seiner früheren Erwerbstätigkeiten mit: Erstens reichte das geringe Gehalt für die Versorgung seiner Familie nicht aus. Zweitens konnte er es auch aufgrund seiner langen Arbeitszeiten nicht durch gelegentliche Schmuggelfahrten am Wochenende aufbessern. Drittens stellte die Anstellung in der Polsterei auch fachlich eine Verschlechterung im Vergleich zu seinen früheren Tätigkeiten dar, in denen er Leitungsfunktionen inne hatte und Personalverantwortung trug. Alle diese Faktoren veranlassten Jerzy nach zwei Wochen, die Kündigung einzureichen und stattdessen regelmäßig zu schmuggeln. Gründe für Schmuggel Nutzt Jerzy den Schmuggel während seiner Erwerbstätigkeit als willkommenen Nebenverdienst in seiner Freizeit, stellt er sich ihm später – bei direktem Vergleich mit seiner in mehrfacher Hinsicht unattraktiven Tätigkeit als Lagerverwalter – als sinnvolles Instrument zur Sicherung des Lebensunterhalts dar. In dieser Lage ist die Aufnahme der informellen Schmuggeltätigkeit für Jerzy attraktiver als eine formelle Erwerbsarbeit, da sie ihm höhere Gewinnchancen bietet als die Anstellung für den Mindestlohn.
J: „Ich war da mit einem Kollegen, der ist auch länger geblieben, er hat es auch versucht, es dort auszuhalten und sagte, dass er sich keinen Rat weiß und aufgab. Er sagte, es geht nicht, weißt du, er behandelte uns als Unfreie. Diese 600 Zoty auch noch. Wenn ich 14 Stunden schaffte. Und das war nicht so, dass du gesessen hast. Na, manchmal hast du gesessen, aber man musste auch die Verantwortung für das Lager übernehmen. Man musste alle, weißt du, von diesen Unterabteilungen gibt es viele, aber das sind Leute. Wenn jemand den Schlüssel wollte, musste man ihn ausgeben, das aufschreiben, nehmen, das Lager ist ein Lager. Und er sagte mir noch, dass ich bezahlen werde, wenn etwas passiert.“ I: „Und was passierte dann, Sie arbeiteten dort zwei Wochen und“ J: „Noch nicht mal zwei Wochen habe ich dort gearbeitet“ I: „Und dann?“ J: „Kündigte ich und fing an, nach Russland zu fahren.“
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I: „Sie wussten sofort, dass Sie das so machen werden?” J: „Nein, ich sagte mir, dass ich für das Geld das dort nicht machen werde, weil ich sehe, dass mir die Arbeitsjahre nichts bringen, und ich nur, was soll ich, von 600 Zoty versorge ich meine Familie nicht. Und deshalb kündigte ich damals, weil ich mir sagte, so. Nach Russland fahre ich nicht, manchmal, dazu verdienen, weil ich es nicht einrichten konnte, Samstags arbeitete man. Weißt du, ich war zu müde. Und heute bereue ich es. Weil der Mann später ging, vielleicht wäre es heute dort besser, weißt du. Aber in dem Moment war ich sauer. [Ja] Ich dachte, ich verschulde mich noch, weil man für alles zahlen musste, für die Wohnung, Strom (.) Und die Tochter wollte studieren, dafür auch Geld [Ja] das ging nicht! Aber so oder so gaben sie mir nicht allzu viel, weil die Gehälter zu gering sind. Ja, und ich hörte auf und fuhr nach Russland, dort verdiente man ein wenig mehr.“ Jerzy wählt die Schmuggeltätigkeit als eine bewusste Alternative zur Erwerbsarbeit, da er dadurch sein Anliegen, die Versorgung der Familie, eher sicherstellen kann als durch seinen Job. Die Arbeit als Lagerverwalter ist für Jerzy eine Stressquelle auf mehreren Ebenen. Neben der körperlich anstrengenden Arbeit und dem Gefühl, ausgebeutet zu werden, bereitet ihm das niedrige Gehalt existenzielle Sorgen. Er hat Angst, sich zu verschulden, um über die Runden zu kommen. Deshalb schlägt er seinem Arbeitgeber vor, bei Akzeptanz des 600 Zoty-Lohns, sein Gehalt mit Prämien aufzubessern, was dieser aber ablehnt. Jerzy bemüht sich, die Stelle aufzuwerten, um sie behalten zu können und damit seinem Ziel, der Frührente, näher zu kommen. Da es aber keinen Verhandlungsspielraum gibt, kündigt er letztlich. Diesen Schritt legitimiert er im Interview mit Hinweis auf seinen ebenfalls den Job aufgebenden Kollegen und objektiviert letztlich damit die Tatsache, dass die Arbeitsbedingungen zu schlecht waren. Von sich aus die Stelle zurückzuweisen fällt ihm also nicht leicht, was auch seine spätere Reue ausdrückt, gekündigt zu haben. Im Nachhinein erfuhr er nämlich, dass er aufgrund einer Gesetzesänderung noch ein weiteres Jahr Zeit gehabt hätte, seine 35 Arbeitsjahre abzuleisten für die Frührente. Diese Perspektive vor Augen, hätte er die schlechten Bedingungen auf sich genommen, anstatt auf den Schmuggel umzusteigen. Dies ist ein Beispiel für eine Konstellation, die sich wie ein roter Faden durch Jerzys Lebenslauf zieht: Im aktuellen Moment richtig erscheinende Entscheidungen stellen sich nachträglich ob veränderter Rahmenbedingungen als ungünstig heraus. Anders ausgedrückt: Die Richtigkeit oder der Nutzen individuell getroffener Entscheidungen ist nur bedingt abzuschätzen, da sie immer einen spezifischen Kontext voraussetzen. Ändert sich dieser, kann sich die vorher getroffene Entscheidung für den neuen Kontext als ungünstig erweisen. Dies liegt dann aber nicht an der falschen individuellen Entscheidung, sondern an nicht beeinflussbaren äußeren Umständen. Dies wiederum bedeutet gleichfalls eine Abgabe der Verantwortung für individuelle Handlungen. Jerzy erwähnt dafür mehrere Beispiele. Mit der Systemtransformation ändert sich eine Rahmenbedingung mit großem Einfluss auf sein
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eigenes Leben. Zu sozialistischen Zeiten getroffene Weichenstellungen nimmt Jerzy im Kapitalismus auf einmal als unvorteilhaft wahr.
I: „Und wie fühlen Sie sich jetzt, weil Sie Ihr Leben lang gearbeitet haben, und jetzt sagen Sie, dass es für Sie schon keine Arbeit mehr gibt und Sie nach Russland fahren?“ J: „Na, das ist jetzt schon so konstruiert. Weil wenn man gewusst hätte, dass es so kommen wird, nicht wahr? Hätte ich gewusst, dass es so sein wird, dass der Kommunismus untergeht, hätte ich mich anders entschieden. Ich hätte keine Wohnung im Block gemietet, sondern hätte irgendwo etwas gebaut. Weil ich das damals konnte. Weil als ich in der DDR war, da habe ich wirklich gut verdient. Ich verdiente gut, also konnte ich mir irgendwo Baugrund kaufen, und jemanden bezahlen, dass er mir etwas baut, heute könnte ich irgendein Geschäft mein eigen nennen. Etwas Eigenes haben, nicht?“ Die Aufnahme des Schmuggels setzt Jerzy in Verbindung damit, dass er zu sozialistischen Zeiten nichts ansparen konnte. Obwohl er gut verdiente, konnte er wegen einer weiteren von ihm heute als falsch bewerteten Handlung keine Rücklagen bilden: Er kaufte sich für teures Geld ein Auto, was damals ein Luxusobjekt darstellte und durchaus von hohem praktischen Nutzen war, anstatt sich selbstständig zu machen. Dass Jerzy nun viele Jahre später schmuggelt, führt er letztlich auch auf seine Entscheidungen vor mehreren Jahrzehnten zurück, die die heutige Situation, in der er sich zum Schmuggel veranlasst sieht, mit verursacht haben: „Das ist jetzt schon so konstruiert“ ist eine passive Satzkonstruktion, in der er als eigenständig handelndes Individuum keinen Platz hat und die auf abgeschlossene vergangene Ereignisse hinweist, die seine heutigen Handlungen bestimmen. An anderer Stelle spricht er davon, dass es sich so ergeben hat, dass er zur Grenze fahren muss. Auch diese Formulierung lässt darauf schließen, dass Jerzy sich bestimmten äußeren Gegebenheiten angepasst hat, sich mehr in sein Schicksal gefügt hat als dass er sich als gestaltender Akteur aktiv aus freien Stücken für den Schmuggel entschieden hat. Damit wird auch Jerzys Legitimationsmuster für seine illegale Schmuggeltätigkeit deutlich, indem er seine Alternativlosigkeit betont und seine Entscheidung mit äußeren Zwängen begründet. Nicht nur den Systemwechsel, auch andere unvorhersehbare Ereignisse sieht Jerzy im Rückblick als verantwortlich dafür an, dass sich einmal getroffene Entscheidungen als negativ herausstellen beziehungsweise Pläne sich nicht verwirklichen lassen. Insbesondere betrifft dies den Erwerbsbereich, also im Grunde genommen mögliche Alternativen zum Schmuggel, über die Jerzy lange nachgedacht hat. So bewirbt er sich im Jahr 2001 um ein Visum für die USA. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 sieht er als Grund für die Ablehnung seines Antrags. Zwei Jahre später erhält er von Verwandten aus Irland ein Jobangebot. Er sagt zu, doch dann stellt sich heraus, dass es sich um eine Tätigkeit als Dachdecker handelt, die er aus gesundheitlichen Gründen nicht ausüben darf. Darüber hinaus ärgert es
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ihn, dass er in seiner Firma nur kurz in seinem erlernten Beruf als Schweißer arbeiten konnte, denn es werden Fachkräfte in Gdynia gesucht. Da er aber über zu wenig Arbeitserfahrung verfügt, kann er diese Gelegenheit nicht wahrnehmen. „Wenn es wenigstens so wäre, dass die Leute nicht an diese Grenze dächten, dass sie denken, wenn sie gehen, finden sie etwas, wie, weißt du, in diesen Zeitungen für die Jugend, da braucht man Sprachen, und so was. Für uns gibt es keine Arbeit. Oder für einen guten Facharbeiter. Weißt du, aber auch dafür hätte man sich früher entschließen müssen. Jetzt ist es schon zu spät. Hätte ich gewusst, dass sie Schweißer in Gdynia nehmen, hätte ich diesen Beruf früher ausgeübt, nicht? Und ich wäre ein Fachmann und müsste mich jetzt nicht ängstigen. Aber weil die Bedürfnisse früher andere waren, hat man woanders gearbeitet, ich zum Beispiel habe später Schweißer gelernt. Und ich wollte schweißen, aber sie haben mich woanders hingesteckt. Das wollte ich selbst nicht, aber der Betrieb hat seine Mannschaft nach Plan aufgestellt.“ Das Zitat zeigt, dass sich Jerzy tendenziell als ein Opfer vergangener Konstellationen und Entscheidungen anderer sieht, das sich den Erfordernissen seiner Umgebung beugt. Er hat eigene Ideen, deren Realisierung aber an außerhalb seiner Verantwortung liegenden Faktoren scheitern. Die Ausübung qualifizierter Erwerbsarbeit, die Migration ins Ausland, den Lebensunterhalt als selbstständiger Unternehmer verdienen, der Bezug von Frührente – nicht eine dieser Einkommensoptionen kann von Jerzy umgesetzt werden, da immer etwas von ihm nicht Beeinflussbares dazwischen kommt. So bleibt nur der Schmuggel als wirtschaftliche Notlösung, „weil ich nur dort [an der Grenze, B.B.] hier [in der Bartoszycer Region, B.B.] Geld sehe.“ Bewertung von Schmuggel und Netzwerke Jerzy begründet und legitimiert seine Schmuggeltätigkeit mit dem Hinweis auf ungünstige äußere Umstände, die alternative Erwerbstätigkeiten verhindern. Das bedeutet, dass äußere Rahmenbedingungen ihn zum Schmuggel geführt haben und Schmuggel eine Antwort auf die sich ständig wandelnden Rahmenbedingungen darstellt, in die sein Leben eingebettet ist. Für Jerzy ist der Schmuggel keine Tätigkeit, die er besonders gern ausführt oder mit der er sich identifiziert. Es ist eher das pragmatische Resultat der Inkompatibilität früher getroffener individueller beruflicher Entscheidungen unter unsicheren, sich wandelnden Kontexten. Vor dem Hintergrund dieser ständig wechselnden Rahmenbedingungen, die in seinem Leben biographische Brüche produzieren, zuletzt der mehrmalige Verlust des Arbeitsplatzes, erfüllt die Schmuggeltätigkeit eine kompensatorische, stabilisierende Funktion. In Jerzys Fall kann sie als eine Verlängerung seiner Erwerbstätigkeitsphase bezeichnet werden, da für ihn der Schmuggel eine Form von Erwerbsarbeit darstellt und er die Schmuggeltätigkeit nicht etwa mit Arbeitslosigkeit gleichsetzt:
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„Jetzt gibt es keine Arbeit. Russland ist geblieben. Also Geld-, nein, ich gehe nicht, wo gehe ich hin. Außer zur Fürsorge und bitten, dass sie mir etwas geben. Aber das blieb doch auch nicht, dort muss man auch den ganzen Tag stehen, um etwas zu bekommen, ich weiß nicht, wie viel sie geben, 20 oder 30 Zoty. Aber dort muss man hin, dort kannst du hingehen. Etwas ausfüllen. Aber geh da mal hin und bitte um etwas! Da ziehe ich Russland vor. Weißt du, nicht legal verdienen, aber verdienen. Ich klaue das nicht. Ich muss nur, man muss betrügen, leider, das ist wahr. Aber mir scheint es, als ob auf dieser Welt schon alle unehrlich auftreten (lachen). Na, und ich lebe auch nicht-, aber ich klaue das nicht. Weil ich die Waren einkaufen muss. Dort muss ich Waren kaufen, weil sie sie mir umsonst nicht geben. Ich muss sie noch rüberbringen und verkaufen. Das heißt, das ist eine Arbeit, eine illegale. Das ist illegale Arbeit. Aber das ist verdientes Geld dank meiner Arbeit. Weil es nicht so war, dass ich irgendwo hin gegangen bin, dass ich etwas genommen habe oder so. Nur, dass ich die Regeln breche.” Jerzy unterscheidet im ersten Satz zwischen Arbeit und Schmuggel, hebt diese Unterscheidung aber im zweiten Teil des Zitats auf, wenn er Schmuggel als eine illegale Arbeit bezeichnet. Für ihn ist der Schmuggel zunächst nichts anderes als eine Reihe von Tätigkeiten, die jeder Kleinhändler durchführen muss: das Kaufen der Waren, ihren Transport und Verkauf, also erst einmal eine betriebswirtschaftlich rationale und transparente Art und Weise, sein Geld zu verdienen. Erst entsprechende gesetzliche Vorgaben lassen diese Tätigkeit unter bestimmten Bedingungen (abhängig von der Warenmenge) zu einer illegalen Praktik werden. Den durch die staatlichen Bestimmungen hergestellten illegalen Charakter von Jerzys Handelstätigkeit übernimmt er selbst nicht in seine Bewertung der Schmuggeltätigkeit. Er übernimmt zwar die gesetzliche Definition, legitimiert sie moralisch aber vor sich selbst, indem er sie mit Diebstahl kontrastiert, was in seinen Augen ein verwerfliches Delikt ist. Dies lässt sich als einen Versuch deuten, eine kognitive Dissonanz aufzulösen. Bei kognitiver Dissonanz handelt es sich um einen als negativ empfundenen inneren Spannungszustand, der durch sich gegenseitig ausschließende bzw. nicht zueinander passende Kognitionen wie Meinungen oder Einstellungen entsteht (vgl. Wiswede 2004: 91). In Jerzys Fall lautet die eine Einstellung: „Schmuggel ist eine illegale und daher unmoralische Handlung, deshalb sollte ich sie nicht ausführen“ und die zweite, gegenteilige Einstellung: „Mit der Schmuggeltätigkeit verdiene ich Geld, also bin ich auf sie angewiesen.“ Um diese beiden Kognitionen miteinander kompatibel zu machen, wertet Jerzy die Schmuggeltätigkeit entgegen seiner eigentlichen Überzeugung vor sich selber moralisch auf. Auf diese Art und Weise findet eine innere Anpassung Jerzys an die schwierigen äußeren Bedingungen statt, mit denen er konfrontiert wird. Außerdem reiht er sich in die Normalität des menschlichen Handelns allgemein ein, indem er auf die Unehrlichkeit aller anderen verweist. Für Jerzy ist sein Handeln dann legitim, wenn er unter Einsatz seiner eigenen Ressourcen (finanziell wie körperlich) einen eigenen Verdienst durch rechtmäßigen Erwerb von Eigentum,
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in diesem Fall von Zigaretten und Alkohol, erzielt. Der Schmuggel gibt ihm das gleiche Gefühl wie eine Erwerbsarbeit, nämlich durch eigene Anstrengung für sich sorgen zu können. Deshalb ordnet er Schmuggel in den Erwerbsarbeitsbereich ein, da das Ergebnis beider Tätigkeiten das gleiche ist: die Gewissheit, durch eigene Aktivität seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Aus diesem Grund lehnt er auch vehement die Inanspruchnahme der Sozialfürsorge ab: Anstelle eines eigenen Verdienstes müsste er dort um den Lebensunterhalt betteln. Dazu ist er zu stolz. „(…) Es gibt noch die Süppchen, es scheint, als ob man dort umsonst essen kann, nicht? Aber das ist auch, ich sag dir ehrlich, dass dort nicht jeder hingeht, ja, da gehen schon solche hin, dort sind vielleicht Leute, ich sage nicht, dass es die schlimmsten Leute sind, oder so etwas, aber man muss sich überwinden. So wie ich zum Beispiel 33 Jahre lang gearbeitet habe, dann soll ich jetzt dorthin gehen und irgendwelche Süppchen essen? Da ziehe ich vor zu schauen, wie ich etwas verdienen kann. Stehlen werde ich nicht, dorthin gehe ich nicht, ich werde niemanden bestehlen.“ Jerzy grenzt sich deutlich von den Nutznießern der Sozialfürsorge ab, indem er seine lange Erwerbstätigkeit anführt, nach der es ihm unpassend erscheint, sich mit mageren „Süppchen“ zufrieden geben zu müssen. „Süppchen“ symbolisieren für ihn eine würdelose, seinem Stand nicht gerecht werdende Versorgung. An dieser Stelle wird deutlich, dass Jerzy die Jahre seiner Schmuggeltätigkeit nicht zu den 33 Jahren seiner Erwerbstätigkeit zählt, obwohl er an anderer Stelle von illegaler Arbeit spricht, wenn er Schmuggel thematisiert. Einiges spricht dafür, dass er den Schmuggel nur deshalb nicht dazu zählt, weil er durch ihn keine Rentenansprüche erwirbt, was ja, wie erläutert, ein wichtiges Thema für Jerzy ist. Eine Abgrenzung wegen seiner langen Erwerbstätigkeit, wie sie Jerzy von der Sozialfürsorge vornimmt, macht er also nicht in Bezug auf Schmuggel, da – wie ausgeführt – Schmuggel für ihn auch eine Form von Erwerbsarbeit darstellt. Interessant ist in dem Zusammenhang, dass Jerzy (wenn auch indirekt) Einflüsse seiner früheren beruflichen Tätigkeiten auf die jetzige Ausübung des Schmuggels thematisiert und damit wiederum beide Bereiche miteinander verbindet. Zum einen handelt es sich dabei um positive Auswirkungen von Berufserfahrung und Arbeitsalltag auf die Art und Weise, mit dem Schmuggel umzugehen und ihn auszuüben. „Für diese Jungen ist das [die Grenze, B.B.], weißt du, die Jugend wird demoralisiert. Weil der Mensch von Anfang an lernt, zwei linke Hände zu haben. Jemanden zu betrügen, die Wahrheit zu verdrehen. Ich sehe das so, weißt du, weil ich weiß zum Beispiel, als ich anfing, fing ich mit wenig Geld an, aber ich hatte etwas. Vom Schüler, weißt du, zuerst ging man in einen Betrieb in die Lehre. Da warst du drei Jahre, dort zahlten sie dir nicht viel, aber viel über Geld hast du nicht nachgedacht. Aber jetzt gibt es so was nicht mehr. (…) Und diese jungen Leute sind nicht wissbegierig, weil sie niemand nimmt, weil sie keinen Beruf haben. Sie fahren an die Grenze. An der Grenze gehen sie völlig kaputt. Ich habe bemerkt, dass sie dort keinerlei Disziplin haben. Sie
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betrinken sich, weißt du? Nein, das ist nichts. Für uns, ich kann davon profitieren, die Älteren profitieren vielleicht nicht alle, weil du weißt, du fährst dahin für dein Leben. (…) Das ist der Unterschied. Weil zur Arbeit, wenn man sich zur Arbeit aufmacht, da ist Disziplin, um sich von der Arbeit auszutragen oder zu stempeln, man muss diese acht Stunden arbeiten, nicht?“ Jerzy benennt konkrete Risiken des Schmuggels für junge Menschen, die nicht existenziell vom Schmuggel abhängig sind und noch nie gearbeitet haben. Umgekehrt heißt das, dass die lange Arbeitserfahrung, die daraus gewonnene Disziplin und nicht zuletzt die ökonomische Notwendigkeit, die hinter Jerzys Schmuggelmotivation steht, vorteilhaft für die Ausgestaltung von Jerzys Schmuggeltätigkeit sind. Seine kritische Bewertung des Schmuggels trifft also nicht auf ihn zu, da er dank seiner Arbeitserfahrungen vor den Gefahren der Grenze gefeit ist. Vor diesem Hintergrund ist Jerzy froh, dass seine Tochter kein Interesse am Schmuggel zeigt und sich auf ihr Abendstudium in Olsztyn konzentriert. Die zweite Auswirkung seines langen Berufslebens in Bartoszyce auf die Schmuggeltätigkeit und somit auch eine Verbindung zwischen Arbeitsleben und Schmuggel sind die vielen berufsbedingten Kontakte, die sich im Laufe der Jahre ergeben haben und die nun durch gemeinsame Schmuggelfahrten wieder reaktiviert werden. Wie Jerzy ist es vielen seiner ehemaligen Mitarbeiter gegangen, so dass ehemalige Betriebskollegen aufs Neue gemeinsam Geld verdienen, nur eben dieses Mal statt in der Produktionshalle im grenzüberschreitenden Linienbus.
I: „Und haben Sie hier in Bartoszyce viele Bekannte?“ J: „Jetzt habe ich sehr viele, weil ich schon seit 1971 hier bin, das ist eine Reihe von Jahren, nicht? Und ich habe nicht in irgendeinem Betrieb gearbeitet, auf einem Büroposten oder so, ich habe mit Menschen gearbeitet. Also fahre ich sogar im Bus mit denen, die bei mir gearbeitet haben. Mit denen, die in meiner Schicht waren. Solche Jüngeren, aber sie haben gearbeitet und erinnern sich noch – oh, mein Meister (lachen).“ Langjährige Bekanntschaften und Netzwerke machen aufgrund von über die Jahre aufgebautem Vertrauen die gemeinsamen Busfahrten über die Grenze unkomplizierter und mindern das Verlustrisiko. Darüber hinaus mögen sie auch eine individuelle Entlastung bringen. Durch die vielen Menschen mit ähnlichen Erlebnissen von Arbeitsplatzverlust und Firmenschließungen wird das individuelle Scheitern weniger als selbstverschuldet denn als Ergebnis makrostruktureller Umordnungen wahrgenommen. Langjährige Vertrauensbeziehungen führen nach Jerzys Wahrnehmung zwar zu einer Eindämmung des Verlustrisikos der Buspassagiere. Dies passiert jedoch nicht etwa durch eine besonders starke Solidarität untereinander, sondern ist der Tatsache geschuldet, dass man sich aufgrund langjähriger Bekanntschaft einzuschätzen weiß und das Verhalten der anderen vorhersehbarer ist als bei fremden Mitfahrern. Dies ist wichtig, da es oft vorkommt, dass alle Buspassagiere
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5 Analyse des empirischen Materials
ein auf eine Person ausgestelltes Strafmandat zu gleichen Teilen begleichen. Dessen Höhe richtet sich nach der Anzahl der sowohl im Bus als auch bei den einzelnen Passagieren gefundenen Waren. Nimmt ein Schmuggler nun bedeutend mehr Waren mit als die anderen Passagiere, und werden diese gefunden, tragen für das dementsprechend teurere Mandat auch die anderen Schmuggler die Konsequenzen, die nur wenige Waren transportieren, da sich alle zu gleichen Teilen daran beteiligen.
I: „Und wie ist das, die, die sich schon seit langem kennen, fahren zusammen im Bus?“ J: „Ja, zusammen, weißt du, anders, es gibt dort keine große Kollegialität, weil es dort vor allem um den Schmuggel geht. Jeder versucht auf eigene Faust, es kommt sogar zu Streit, es gibt Mandate, Geld, manchmal große Mandate. Einer verliert, der zweite verliert, der eine sagt, der hat was verloren, der zweite – na, weißt du, hängt davon ab, wie nervös man ist. Scheinbar ist alles schön, aber bis man in den Hangar fährt. Dort, auf diesem Hangar, gibt es auf einmal viele Feinde. Weil, weißt du, er zahlt, nicht nur, dass er die Waren verloren hat, er muss noch das Mandat bezahlen, der zweite hat nichts verloren, aber muss auch zahlen. Eigentlich gibt es keine Kollegialität, dass irgendwer sehr hilfsbereit wäre, weißt du.“ Im ersten Satz stellt Jerzy Kollegialität und Schmuggel als einen unvereinbaren Gegensatz dar. Weil es um Schmuggel geht, kann es kein kollegiales Verhalten geben. Jeder handelt auf eigene Rechnung, jeder möchte seinen Verlust möglichst gering halten. Diesem individuellen Ziel steht aber die Abhängigkeit von den anderen Schmugglern im Bus entgegen. Versteckt jemand seine Waren schlecht, verliert er die Nerven, ist die Menge zu groß – das Verhalten anderer hat aufgrund des Sammelmandates Einfluss auf die eigene Gewinnbilanz. Die fehlende wirtschaftliche Zusammenarbeit – jeder verbucht individuelle Gewinne, entscheidet allein über Menge und Art der Waren – führt zu einer fehlenden Solidarität gegenüber dem Zoll. Diese fehlende Solidarität bemerkt Jerzy nicht nur im Linienbus unter Schmugglern, sondern ebenso als Kennzeichen des kapitalistischen Wirtschaftssystems: „Das ist dieser kapitalistische Bann, es gibt nicht, weißt du, entweder bist du oben, dann bist du oben, oder du bist unten, dann bist du unten, außer vielleicht, so was, sie sagen nicht, dass sie dir Knüppel zwischen die Beine werfen, aber besonders viel helfen tun sie auch nicht, weil sie dazu keine Möglichkeit haben, weißt du.“ Auf eigene Rechnung handeln, für eigenes Handeln persönliche Verantwortung übernehmen und sich nur auf sich selbst verlassen – dies gilt sowohl für den Schmuggel im Kleinen als auch im kapitalistischen Wirtschaftssystem im Großen. Für Jerzy ist Schmuggel demnach eine Tätigkeit, die nach kapitalistischen Spielregeln funktioniert und gleichzeitig erst durch die Umwandlung vom sozialistischen ins kapitalistische System in Polen ermöglicht wurde.
5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung
229
Jerzy handelt allerdings nicht auf eigene Rechnung, sondern in Absprache mit seiner Frau. Der Schmuggel ist das gemeinsame Projekt des Ehepaares. Die beiden fahren meist im gleichen Bus, zählen den täglichen Gewinn gemeinsam und verfügen gemeinsam über ihn. Als gleichwertige Mitglieder einer kleinen Wirtschafts- und Solidargemeinschaft schaffen sie sich gegenseitig Erleichterungen und Zeitersparnis. So nimmt Jerzy z.B. seine und Georgias Schmuggelwaren mit auf den Markt, um sie dort zu verkaufen, so dass seine Frau sich nicht um die Abnahme kümmern muss. Auch die Hausarbeit teilen sie sich nach pragmatischen Gesichtspunkten. Fährt Georgia nach Russland, kümmert sich Jerzy um Einkauf und Vorbereitung des Mittagessens. Meistens unternehmen sie die Schmuggelfahrten aber gemeinsam, „so sehen sie sich wenigstens“, sagt Jerzy. Schmuggel kann also in seinem Fall auch als Gelegenheit zur Pflege der eigenen Beziehung aufgefasst werden. Im Gegensatz zu Joanna und ihrem Mann, wo sie sich seinen Entscheidungen unterordnet, organisieren Jerzy und Georgia den Schmuggel gleichberechtigt und partnerschaftlich. Daneben profitiert Jerzy auch von der Anwesenheit anderer männlicher Buspassagiere während der Schmuggelfahrten, da er so bei den Zollkontrollen, die nach Geschlechtern getrennt stattfinden, als einzelner männlicher Passagier nicht so im Mittelpunkt steht. Allgemein ist Jerzy nicht in enge, außerfamiliale Netzwerke eingebettet, wie aus Abbildung 18 ersichtlich wird. Manche Bekanntschaften haben sich aufgrund seiner dem Schmuggel geschuldeten unvorhersehbaren Terminplanung aufgelöst. Die Unvorhersehbarkeit des zeitlichen Umfangs jeder Schmuggelfahrt steht der Aufrechterhaltung enger sozialer Beziehungen im Wege, denn diese leben von reziprokem Verhalten. Diese Reziprozität in Form des Einhaltens und Aussprechens von Verabredungen kann Jerzy aufgrund der hohen Alltagspriorität des wenig planbaren Schmuggels nicht zuverlässig einhalten. Schmuggel erschwert also auf der einen Seite die Aufrechterhaltung von Beziehungen zu Akteuren, die nicht in ihn involviert sind. Auf der anderen Seite ist aber gerade bei Jerzy gut zu beobachten, dass die Schmuggeltätigkeit auch zu einer Intensivierung von Beziehungen führen kann, wenn zwei Akteure an ihr beteiligt sind, wie z.B. Jerzy und seine Frau. Auch schafft das wiederholte Bestehen einer Krisensituation emotionale Nähe zwischen ihnen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Jerzy für den Schmuggel vor allem von seiner engen Beziehung zu seiner Frau und den langjährigen Netzwerken mit ehemaligen Kollegen profitiert. Formalisierte Erwerbsarbeit und informeller Schmuggel stellen für Jerzy ein Kontinuum dar. Gemeinsam ist ihnen, dass beide für Jerzy eine Möglichkeit bieten, seinen Lebensunterhalt aktiv selbstständig zu verdienen. Diese Bedeutung des Schmuggels für Jerzy schlägt sich auch in seiner Organisation nieder, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
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5 Analyse des empirischen Materials
Abbildung 18: Egozentriertes Netzwerk von Jerzy
Organisation des Schmuggels Jerzy und Georgia fahren seit mehreren Jahren normalerweise an vier bis fünf Tagen in der Woche gemeinsam mit dem Linienbus um 12.30 Uhr. Dass sie ihre Schmuggeltätigkeit als eine Form von Erwerbsarbeit betrachten, wird in der zeitlichen Strukturierung ihrer Woche deutlich, die sich stark an ein Normalarbeitsverhältnis anlehnt: „Also ich werte das als Arbeit, als meine Arbeit. Weil es keine Arbeit gibt, habe ich schon dies angenommen, ja, das ist meine Arbeit, ich versuche, jeden Tag zu fahren. Am Sonntag fahren wir nicht, weil das Sonntag ist, man muss sich ausruhen und zur Kirche und so weiter, und ich behandele das als meine Arbeit. (…) Also ich ziehe es vor, dorthin zu fahren, und unter Menschen zu sein, ich verdiene noch ein wenig Geld und behandele das als meine Arbeit. Also wir gehen normal
5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung
231
wie zur Arbeit raus, es gibt keine Faulheit, dass wir uns freinehmen könnten, wir gehen einfach wie zur Arbeit, wir haben uns dran gewöhnt, wie zur Arbeit gehen wir, fast täglich, so eine Norm.“ Das Fehlen formeller Arbeitsplätze führt bei Georgia dazu, dass sie anstelle dessen den Schmuggel als „Ersatzarbeit“ ansieht und ihn auch derart ausgestaltet. In der Schmuggelorganisation wendet sie die gleichen Normen und Regeln an, die für sie während ihrer Erwerbstätigkeit gegolten haben. „Ich gehe normal wie zur Arbeit raus“, in dem Fragment wird die Kontinuität sichtbar, die der Schmuggel für Jerzy und Georgia innehat. Normal ist für Georgia offensichtlich ein geregeltes formales Erwerbsverhältnis in Vollzeit, in dem man morgens die Wohnung verlässt, am Arbeitsplatz Kollegen um sich hat und abends heimkehrt. Für die Herstellung dieser Normalität ist eine möglichst ähnliche Wochenstrukturierung durch den Schmuggel wie früher durch Erwerbsarbeit hilfreich. Dies schafft einen festen und vertrauten Orientierungsrahmen, an den sie sich während ihrer Berufstätigkeit gewöhnt hatten. Dabei ist ein wichtiges Element die soziale Komponente, unter Menschen zu kommen, kommunizieren können. Georgia nennt den sozialen Kontakt sogar vor dem finanziellen Aspekt, was auf seine hohe Bedeutung für sie hindeutet. Auch hier wird Kontinuität hergestellt und eine Brücke zur langjährigen Erwerbsarbeit geschlagen, weil auch Georgia mit einigen ehemaligen Kollegen aus dem Möbelbetrieb nun zusammen im Bus nach Russland fährt. Aus den ehemaligen Arbeitskollegen sind nun Busnachbarn geworden. Auch aufgrund der personellen Überschneidungen mögen Erwerbsarbeit und Schmuggel für das Ehepaar eng zusammenliegen. Auffallend ist die Tatsache, dass es im Gegensatz zur Erwerbsarbeit, wo unentschuldigtes Fernbleiben sanktioniert werden konnte, diesen äußeren, direkten Zwang zum Schmuggel nicht gibt, Georgia aber trotzdem mit der gleichen, dieses Mal intrinsisch motivierten, Disziplin die Regelmäßigkeit einer „vollen Schmuggelstelle“ aufrecht erhält. Schmuggel ist das vorrangige alltagsstrukturierende Element im Haushalt von Georgia und Jerzy. Zum einen liegt das mit Sicherheit an der starken, im Zitat angesprochenen verinnerlichten Norm, den Erwerbsarbeitsrhythmus beizubehalten. Zum anderen liegt es aber auch auf der Hand, dass ökonomische Gründe für die Regelmäßigkeit der Schmuggelfahrten eine Rolle spielen. Zum Zeitpunkt des Interviews war es des Öfteren vorgekommen, dass anstatt des geteilten Strafmandats individuelle Mandate über 90 Zoty ausgestellt wurden. Deshalb nehmen Jerzy und Georgia nicht mehr sieben bis acht Stangen mit, sondern nur noch die Hälfte, was natürlich auch einen um die Hälfte geschmälerten Gewinn bedeutet. Um den Verdienstausfall auszugleichen, müssen sie so oft wie möglich fahren. Trotzdem halten sie dabei ihren Fünf-Tage-Rhythmus ein und machen „keine Überstunden“. Das heißt wiederum, dass sie nicht viel Zeit für den Verkauf der Waren haben, sondern auf eine schnelle Abnahme des Schmuggelgutes angewiesen sind. Am Vormittag nach der Rückkehr aus Russland verkauft Jerzy die von ihm
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5 Analyse des empirischen Materials
und seiner Frau geschmuggelten Zigaretten an einen Zwischenhändler, der die Waren auf dem Basar in Bartoszyce an Endabnehmer verkauft. Einkommensstruktur und Verwendung der Schmuggeleinnahmen Das Haushaltseinkommen von Jerzy und Georgia setzt sich zu einem kleineren Teil aus Georgias Krankenrente und einer Mietbeihilfe und zu einem größeren Teil aus den Schmuggeleinnahmen des Ehepaars zusammen. Tabelle 24: Zusammensetzung der monatlichen Einnahmen und Ausgaben von Jerzy und Georgia Einnahmen Posten Rente Georgia
Summe (in Zoty) 460
Ausgaben Posten
Summe (in Zoty) 250
Mietbeihilfe Einnahmen aus Schmuggel – Jerzy Einnahmen aus Schmuggel – Georgia Gartengemüse
120 640–800
Wohnung u. Garage, Gas und Heizung Telefon Mobiltelefon
800–1.000
Strom
50
8
Ärzte, Medikam. Lebensversicherung Studiengebühren Tochter
200 105 350
Gesamt Gewinn
2.028–2.388 973–1.333 Zoty (242–332 Euro)
80 50
1.055
Seit zehn Jahren bekommt Georgia eine Invalidenrente in aktueller Höhe zum Zeitpunkt des Interviews von monatlich 460 Zoty. Die monatliche Mietbeihilfe vom Sozialamt beläuft sich auf 120 Zoty. Darüber hinaus besitzt das Ehepaar einen kleinen Garten, in dem sie Tomaten, Gurken und weiteres Gemüse ziehen und sich mit Gemüse komplett selbst versorgen. Georgia freut sich, dass sie überhaupt kein Gemüse kaufen müssen. Für eine einigermaßen korrekte Monetarisierung des Gemüseanbaus aus diesen Angaben sind zwei Informationen Voraussetzung: erstens die jährlich angebaute Menge des Gemüses und der dafür auf dem Markt zu entrichtende Preis. Außer Tomaten und Gurken nennt das Ehepaar keine konkreten Gemüsesorten, also wird sich an den gängigen in Polen wachsenden und populären Sorten wie Kohl, Zwiebeln, Mohrrüben und Kartoffeln orientiert. Ein Kleingarten von einer Größe von 80 qm wirft durchschnittlich bei guter Pflege 80 kg Gemüse
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5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung
im Jahr ab. Der Kilopreis von Mohrrüben lag im Jahr 2005 in der Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie bei 1,36 Zoty, die gleiche Menge Kartoffeln kostete in dem Zeitraum 0,84 Zoty (vgl. GUS 2006b: 223), was einen jährlichen Gewinn von ca. 88 Zoty bedeutet, also ca. 8 Zoty im Monat. Zusammen mit den Schmuggeleinnahmen verfügen sie – erfolgreichen Schmuggel vorausgesetzt – monatlich über eine Summe zwischen 2.100 Zoty und 2.500 Zoty. Davon muss die knappe Hälfte für ständige monatliche Ausgaben abgerechnet werden (siehe Tabelle 24), so dass Georgia und Jerzy eine Nettosumme von 1.085 Zoty bis 1.425 Zoty zur Verfügung steht. Der Gewinn aus dem Schmuggel setzt sich folgendermaßen zusammen (siehe Tabelle 25). Zum Zeitpunkt des Interviews nehmen sowohl Georgia als auch Jerzy wegen des Risikos der Individualmandate höchstens vier Stangen Zigaretten der Marke „Jin Ling“, einen Liter Wodka und ein, zwei Kilogramm Zucker mit. Eine Packung zu sieben Kilogramm kostet in Russland umgerechnet 8,75 Zoty, also ein Kilogramm für 1,25 Zoty. Ein Kilogramm geschmuggelter Zucker wird in Polen für 2,50 Zoty verkauft, so dass man bei einem Transport von zwei Kilo Zucker pro Fahrt 2,50 Zoty verdient. Die Schmuggeleinnahmen verwenden Jerzy und Georgia für laufende Ausgaben, haben damit aber vor einigen Jahren auch die Renovierung ihres Badezimmers finanziert. Der Umbau kostete insgesamt 8.000 Zoty. Die Summe bekamen sie innerhalb eines Jahres durch den Schmuggel zusammen, indem sie von den Einnahmen jeder Fahrt einen kleinen Teil sparten. Neben der Sicherung der laufenden Ausgaben schaffen sich Jerzy und Georgia auch ein kleines finanzielles Polster für Notfälle und überraschende Ereignisse. Da Georgia medikamentös behandelt wird, können die Kosten für die Medikamente variieren, je nach ihrem Gesundheitszustand. Sie verfolgen demnach in ihrem Haushalt sowohl eine „Coping-“ als auch „Mitigation-Strategie“. Tabelle 25: Zusammensetzung der schmuggelbedingten Einnahmen und Ausgaben bei einer Fahrt von Jerzy Einnahmen Posten 4 Stangen „Jin Ling“ 1 Liter Wodka
Summe (in Zoty) 44 8
2 kg Zucker 2,50 Gesamt 54,50 Reingewinn: ca. 50 Zoty (13 Euro)
Ausgaben Posten Zahlung an russ. Zoll Zahlung an russ. Grenzschutz Gesamt
Summe (in Zoty) 1,60 3,20 4,80
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5 Analyse des empirischen Materials
Das renovierte Badezimmer ist darüber hinaus ein Beispiel für die Anwendung einer „Enhancement-Strategie“. Dazu sind sie allerdings zum Zeitpunkt des Interviews aufgrund geringerer Gewinne nicht mehr in der Lage. Die durch den Schmuggel gewonnenen Einnahmen betrachtet Jerzy auch in ihrer Relation zu seinen früheren Einnahmen: „Woher wir das Geld haben? Weil wir doch, sie hat auch 20 Jahre lang gearbeitet, viel hat sie dort auch nicht verdient, nicht? Aber sie hat verdient und langsam, langsam haben wir es zu etwas gebracht, aber das ist ja jetzt schon fast das Lebensende, und jetzt, am Ende, ist es so gekommen, dass wir zur Grenze fahren müssen, um das nicht zu verlieren. Weil wenn wir uns verschulden würden, dann verlierst du es, ohne Scherz. Du bezahlst die Wohnung nicht, sie nehmen sie dir weg. Und wenn du dich verschuldest, da gibt es keinen Ausweg, keiner leiht dir etwas, wenn du nicht arbeitest, es gibt dir keiner etwas.“ Die Schmuggeleinnahmen haben hier die Funktion, durch Erwerbsarbeit Erspartes bewahren zu können, indem durch sie eine Verschuldung vermieden wird. Die Früchte vergangener Arbeit werden durch Schmuggel gesichert, womit eine weitere Verbindung zur Erwerbstätigkeit hier bei Jerzy deutlich wird. Den mühsam in vielen Jahren erarbeiteten („langsam, langsam haben wir es zu etwas gebracht“) Verdienst durch Verschuldung schnell zu verlieren und damit in eine Abwärtsspirale zu geraten (Angst vor Verlust der Wohnung) und seinen Lebensunterhalt nicht selber garantieren zu können, das ist es, was Jerzy befürchtet. Durch Schmuggel wird das mühselig Angesparte gerettet, das für den wohlverdienten Ruhestand gedacht war. Die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit klingt im Zitat an: Nach langen Jahren schlecht bezahlter Erwerbstätigkeit kann sich das Ehepaar nicht etwa auf dem Ersparten und Erarbeiteten ausruhen, sondern muss jetzt noch im letzten Lebensabschnitt durch eine neue Anstrengung, nämlich den Schmuggel, seine Verfügbarkeit sicherstellen. Fazit Jerzy und Georgia verfolgen mit ihrer Haushaltsstrategie die Ziele des „Copings“ (tägliche Ausgaben), „Mitigation“ (Schaffung eines finanziellen Polsters für unerwartete Notlagen) und „Enhancement“ (Investieren in die Bildung der Tochter, Renovierung des Badezimmers). Schmuggel ist dabei eine Einnahmequelle neben staatlicher Sozialunterstützung, hat jedoch sowohl unter finanziellen als auch organisatorischen Gesichtspunkten die höchste Priorität im Haushalt des Ehepaars. Die Ziele ihrer Haushaltsstrategie erreichen sie unter Nutzung ihrer spezifischen Ressourcen, die ihnen beim Schmuggel zugute kommen: unkomplizierte intrafamiliäre Entscheidungsprozesse und gemeinsame Verfügung des erwirtschafteten Gewinns, durch lange Erwerbsarbeit angeeignete Disziplin und durch mehrjährige Praxis erworbene Schmuggelroutine. Die Haushaltsstrategie ist Teil der alltäglichen Le-
5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung
235
bensführung, die bei Jerzy vor allem Herstellung und Beibehaltung von Kontinuität angesichts ständig wechselnder äußerer Rahmenbedingungen zum Ziel hat. Biographische Brüche nimmt er wahr und bewältigt sie durch Offenheit und Neuorientierung bei gleichzeitigem Bemühen um Bewahrung größtmöglicher Kontinuität durch seine Lebensabschnitte hindurch. Auch durch die Schmuggeltätigkeit stellt er eine Verbindung zu früherer Erwerbstätigkeit her. Schmuggel stellt für Jerzy eine Kompensation des durch mehrfachen Arbeitsplatzverlust erlittenen biographischen Bruches auf mehreren Ebenen dar. Finanzielle Sicherheit, eigene Sicherung des Lebensunterhalts, strukturierter Alltag, soziale Kontakte im Erwerbsleben – all diese Funktionen von Erwerbsarbeit brechen mit dem Verlust des Arbeitsplatzes weg, werden aber durch die alternative Schmuggeltätigkeit wieder erfüllt. Dementsprechend wird Schmuggel von Jerzy dauerhaft ausgeführt. Nur so kann er langfristige Orientierung und Stabilität gewährleisten, was unter kapitalistischen Rahmenbedingungen, die er als besonders unkalkulierbar einschätzt, umso wichtiger für ihn ist. Auch ökonomische Armut bewältigt Jerzy durch den Schmuggel als Möglichkeit dauerhafter Einkommensgenerierung. Dadurch übernimmt er Eigenverantwortung, was er im kapitalistischen System als noch wichtiger als zu sozialistischen Zeiten erachtet, und sichert sich somit bestmöglich gegen riskante und wechselhafte Umstände ab. Charakteristika des Typus „pragmatischer Kompensierer“ Auf Grundlage der vorangegangenen Analyse der Bedeutung des Schmuggels für Jerzy lassen sich folgende verallgemeinernde Aussagen über den Typus des „pragmatischen Kompensierers“ treffen, den Jerzy exemplifiziert: Vertreter dieses Typus‘ haben gemeinsam, dass sie lange Jahre zu sozialistischen Zeiten und teilweise darüber hinaus berufstätig waren. Im Zuge des Systemwechsels gehören sie wie die Vertreter des „professionellen Unternehmers“ und des „starken Existenzsicherers“ zu denjenigen, die ihre Arbeitsplätze durch die völlige Abwicklung bzw. Privatisierung ihrer ehemals staatlichen Betriebe verloren haben und dadurch plötzlich mit der bisher undenkbaren Situation der Arbeitslosigkeit konfrontiert wurden. Es handelt sich hier also um bedeutende biographische Brüche, für die jeder Einzelne eine individuelle Bewältigungsform finden muss. Es sind in erster Linie ökonomische Notwendigkeiten, aufgrund derer die Vertreter des oben genannten Typus‘ den Verlust der Erwerbsarbeit durch Schmuggel auffangen. Dieser wird in ihrer ökonomischen Haushaltsstrategie mit anderen Einnahmequellen wie Rente oder Frührente kombiniert, die ihnen ob ihrer langen Erwerbstätigkeit und ihres mittleren bis fortgeschrittenen Alters zustehen. Schmuggel stellt also meist eine Einnahmequelle unter weiteren, dabei aber auch den einzigen aktiven Verdienst dar. Das bedeutet wiederum, dass Schmuggel das alltagsstrukturierende Element dieses Typus ist. Die Schmuggeltätigkeit übernimmt auf mehreren Ebenen die Funktion der früher ausgeübten Erwerbstätigkeit, weswegen sich
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5 Analyse des empirischen Materials
die Schmuggel beinhaltende Alltagsorganisation stark an die zeitliche Struktur eines Erwerbstätigenalltags anlehnt. Demzufolge bricht der „pragmatische Kompensierer“ häufig zu Schmuggelfahrten auf, oftmals an fünf Tagen in der Woche. Da er bei jeder Fahrt zur Risikovermeidung nur geringe Warenmengen mitnimmt, dient das häufige Fahren zum einen der Sicherstellung genügend hoher Einnahmen. Zum anderen können die häufigen, fast täglichen Fahrten als Wiederaneignung einer Struktur gesehen werden, die der eines normalen Arbeitsalltags sehr ähnelt. Repräsentanten des „pragmatischen Kompensierers“ gehen der Schmuggelaktivität dauerhaft nach. Diese Herstellung größtmöglicher Kontinuität trotz biographischer Brüche mit Hilfe von Schmuggel kann gleichermaßen als eine Kompensation des durch die plötzliche Arbeitslosigkeit erlebten Wegfalls an ökonomischer und lebensplanerischer Stabilität dienen.102 5.2.3.5 Typ „abenteuerlustiger Nebenverdiener“: „Ich fuhr so ein bisschen zum Vergnügen, zur Unterhaltung“ Biographische Eckdaten Hanna wurde 1943 in einem Dorf in der Nähe von Vilnius geboren. Ihre Eltern arbeiteten dort beide in einer Schule, ihr Vater als Lehrer, ihre Mutter als Sekretärin. Wie die übrige polnische Bevölkerung der Stadt wurde auch Hannas Familie nach Ende des Zweiten Weltkriegs vertrieben und siedelte sich in Giycko an, einer Kleinstadt ca. 150 km östlich von Bartoszyce gelegen. Dort ging Hanna zur Schule und begann 1958 als Krankenschwester zu arbeiten. Vier Jahre später heiratete sie und folgte ihrem Mann nach Górowo, einer kleinen Stadt im Umland von Bartoszyce, der dort in der Krankenhausverwaltung tätig war. Sie selbst begann im gleichen Jahr, 1962, in der Notfallsprechstunde in Górowo zu arbeiten, wo sie bis zu ihrer Frühverrentung im Jahr 1998 tätig blieb. Aufgrund ihrer langen Arbeitszeit konnte sie mit 55 Jahren ohne Reduzierung der Rentenhöhe in den Ruhestand treten. Seit über 30 Jahren wohnt sie in ihrer 41 qm großen Zweizimmerwohnung in einem niedrigen Plattenbau in Górowo. Einst teilte sie sich die Wohnung mit ihrem Mann, den zwei Töchtern und zeitweilig ihrer Schwiegermutter, was Hanna als beklemmend eng erinnert. Dann starb die Schwiegermutter und 1999 ihr Mann. Währenddessen hatten die Töchter geheiratet und waren ausgezogen, so dass sie nun seit neun Jahren ihre Wohnung allein bewohnt. Manchmal kommen ihre Töchter mit ihren Kindern zu Besuch. Eine Tochter lebt in Gdask, die andere ein paar
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Schmuggel als Kompensation des Verlusts des Arbeitsplatzes trifft natürlich nicht ausschließlich für den Typ des „pragmatischen Kompensierers” zu. Jedoch wird die Diskontinuität hier besonders stark empfunden und thematisiert.
5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung
237
Straßen von Hanna entfernt. Hanna erwähnt einige Male während des Interviews, dass sie als Rentnerin über viel, vielleicht zu viel freie Zeit verfügt: „Ja, manchmal ist das so, weil man sich manchmal langweilt, jeder hat mal einen schlechten Tag. Dann ziehe ich los zu meinen Freundinnen, und dann erinnert man sich, nicht? Man erinnert sich an alles. Du kommst zurück nach Hause, und aufs Neue ist es wieder gut.“ Das Zitat verdeutlich folgende Dinge: Hanna unterscheidet zwischen ihrer ausgefüllten Erwerbsarbeitsphase und ihrem jetzigen, um vieles ruhigeren, Rentnerinnendasein. Sie fühlt sich gut, wenn sie sich an Zurückliegendes erinnert, woraus man schließen kann, dass sie sich während ihrer vollen Erwerbstätigkeit wohl gefühlt hat und dass sie in ihrer aktuellen Situation als Rentnerin manchmal etwas vermisst. Zudem wird auch die hohe Bedeutung lokaler sozialer Kontakte für Hanna deutlich. Beziehungen zu ihren Freundinnen braucht sie für ihr Wohlbefinden. Zum einen wird dadurch ihr als eintönig empfundener Alltag abwechslungsreicher, zum anderen bieten die Gespräche eine gemeinsame Reflektion ihrer Lebenssituation. Hanna kritisiert also die Langeweile, die sie mit Beginn ihrer Rentenzeit erlebt und bemüht sich aktiv, diesen Zustand zu ändern. Dies passiert z.B. durch die Betreuung ihres Enkels, der kurz vor Hannas Renteneintritt geboren wurde. Bis zu seiner Einschulung passte sie fünf Jahre lang täglich auf ihn auf und war mit der Kinderbetreuung gut ausgelastet. Dann schrieb sie sich in einen Rentnerverein ein, an dessen organisierten Ausflugsfahrten sie regelmäßig teilnimmt. Seit dem Jahr 2001 arbeitet sie während der Sommermonate zudem halbtags vier Stunden am Nachmittag als Urlaubsaushilfe bei ihrem ehemaligen Arbeitgeber in der Notfallsprechstunde: „Im Sommer sitze ich nicht zu Hause herum“, bilanziert Hanna. „Also für mich ist das [die Arbeit als Aushilfe, B.B.] gut, weil ich unter Menschen bin und Unterhaltung habe.“ Auffallend an diesem Zitat ist die Tatsache, dass Hanna ihre Tätigkeit nicht in erster Linie mit dem daraus resultierenden Einkommen in Verbindung setzt, sondern als Hauptfunktion deren soziale Komponente hervorhebt. Die gleiche Motivation, nämlich Abwechslung im Alltag und sich in Gesellschaft befinden, spielt bei Hanna auch in ihrer Entscheidung für die Aufnahme der Schmuggeltätigkeit eine Rolle. Gründe für Schmuggel und Netzwerke Hanna begann im November 2002 mit dem Schmuggel und fuhr bis Mai des darauffolgenden Jahres regelmäßig mit einem privaten Bus nach Russland. Ihre Beweggründe für den Beginn der Schmuggeltätigkeit geben Hinweise auf den Stellenwert des Schmuggels, den er für sie besitzt.
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5 Analyse des empirischen Materials
I: „Und wie kam es, dass Sie sich plötzlich für den Schmuggel entschieden haben?” H: „Na, weil mich eine Bekannte überredet hat, dass alle um uns herum fahren, und dass auch wir losfahren sollten! Und da es uns am Anfang finanziell was gebracht hat, sind wir gefahren, zum Zeitvertreib.“ Zunächst spielen Hannas persönliche Netzwerke wieder eine wichtige Rolle. Sie fährt immer mit einer Freundin nach Russland, nie allein. Sie wurde dazu überredet, d.h. es war nicht originär ihre Idee zu schmuggeln. Damit weist Hanna die Verantwortung für die Entscheidung zu schmuggeln anderen zu und legitimiert damit ihre eigene Ausführung der illegalen Tätigkeit. Auch deutet das Zitat darauf hin, dass existenzielle ökonomische Motive bei Hanna nicht vorhanden waren, denn sonst hätte sie sich vermutlich aus eigenem Antrieb heraus über den Schmuggel informiert und ihn ausprobiert. Die Tatsache, dass sich die Fahrten finanziell lohnten, war für Hanna eher ein angenehmer Nebeneffekt, über den sie sich freute, aber nicht ihre Hauptmotivation. Diese benennt Hanna im Zitat mit „rozrywka“, was soviel wie Vergnügen, Unterhaltung, Zerstreuung bedeutet. Jedoch setzt auch sie einen finanziellen Gewinn voraus. Dass es Hanna beim Schmuggel jedoch vor allem um das Finden einer Beschäftigung, einer Aktivität geht, kommt im folgenden Zitat deutlich zum Ausdruck.
I: „Und glauben Sie, dass Sie irgendwann in Zukunft noch dorthin [nach Russland, B.B.] fahren werden?“ H: Ich weiß nicht, aus Langeweile vielleicht (lacht). Aus Langeweile würde ich fahren, weil ich viel Freizeit habe, nicht wahr?“ Nach acht Monaten regelmäßiger Fahrten hörte Hanna mit dem Schmuggel auf, weil nun die Zollkontrollen strenger verliefen, was sich in längeren Wartezeiten an der Grenze und größerem Warenverlust bemerkbar machte. Es wurde ihr zu unbequem. Sie schließt aber erneute zukünftige Fahrten nach Russland nicht aus. Wiederum fallen ökonomische Erwägungen weniger ins Gewicht als Hannas Bemühungen um die Vermeidung von Langeweile. Sie ist um die Schaffung eines souveränen Selbstbildes bemüht. Damit die Schmuggelfahrten aber tatsächlich eine willkommene Auflockerung des Alltags darstellen, muss eine Voraussetzung erfüllt sein: Mindestens eine Person, mit der sie sich gut versteht, muss mit nach Russland fahren. Folgerichtig führt Hanna nicht die besseren Gewinnchancen an, wenn man sich auf eine Vertrauensperson im Bus verlassen kann, sondern spricht davon, dass zu zweit die Stimmung besser sei:
I: „Und sind Sie immer allein oder mit einer Freundin gefahren?” H: „Mit einer Freundin, Bekannten, damit es fröhlicher wurde, weil zu zweit ist es lustiger. Man sitzt zusammen, man packt zusammen (.).“
5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung
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Neben dieser einen engen Vertrauensperson erwähnt Hanna, dass sie während ihrer jahrzehntelangen Tätigkeit als Krankenschwester in Górowo viele Menschen kennenlernte, die sie jetzt im Bus nach Russland wiedertraf. Da gäbe es kein Problem, sie kenne alle „durch und durch.“ Spricht Hanna von diesen Netzwerken, dann stellt sie in erster Linie einen Zusammenhang zwischen dem Bekanntsein und dem Spaß her, den man zusammen an der Grenze hat. Aus ihren Schilderungen wird dann eher nebenbei deutlich, dass sich aufgrund des bestehenden Vertrauensverhältnisses zwischen ihr und den übrigen Passagieren auch der Schmuggelerfolg vergrößert. Besonders anschaulich gibt folgendes längeres Zitat Hannas Einbindung in soziale Netzwerke und deren Konsequenzen beim Schmuggel wieder. Während des Interviews schilderte Hanna wiederholt einzelne Anekdoten von ihren Fahrten nach Russland und betonte dabei vor allem, oft lachend, wie lustig es dort zuging. Der Fakt, dass sie das Gespräch zu großen Teilen dazu nutzte, um herauszustellen, wie sie sich auf den Schmuggelfahrten amüsierte, deutet ebenfalls auf den abwechslungsreichen, abenteuerlichen Zeitvertreib als Hauptgrund für ihre Schmuggeltätigkeit hin. „Wir kauften uns immer einen halben oder einen Viertelliter, das transportiert man ja schließlich, und dazu isst man ein belegtes Brot, und jeder ein halbes Glas, na, ich übertreibe, nach dem Gläschen bekam man Mut, und man ist mutig (lacht). Nein, ich sagte selbst, als wir fuhren, wenn jemand eine Kamera gehabt und alles gefilmt hätte, das wäre, mit so einer versteckten Kamera, das wäre ein Zirkus, nicht wahr? Das wäre sehr komisch, das zu sehen. (…) Manchmal war es sehr lustig, weil man abhaute. Ich erinnere mich, einmal zogen sie uns in den Hangar, ein Bus fuhr ein, die stiegen schon aus dem gefilzten Bus aus, ich weiß nicht, woher er kam. In jedem Fall fragten wir die Frauen, die ausstiegen, wie es war, und sie sagen, dass sie nichts haben, dass alles [die Schmuggelware, B.B.] weg ist. Was macht man da? Wir fuhren in den Hangar, d.h. sie schließen hinter uns die Tür und da stehen so ein paar Grenzschützer, solche, die dort stehen und aufpassen. Aber es kamen noch zwei Frauen, auch Bekannte, als letzte heraus, bis zum letzten Hemd kontrolliert. Und beim Herauskommen winkt mir die eine mit der Hand zu, dass ich flüchten soll. Ich sage, wie soll ich aus dem Bus flüchten, aber sie winkt (lachen) und so denke ich, dass vielleicht keiner von den Grenzschützern da ist. Als sie mir ein Zeichen gab, flog ich mit meiner Bekannten aus dem Bus und wir gucken uns um, und sie [die beiden Frauen, B.B.] gehen hinaus und wir schauen, und es gibt keinen einzigen Grenzschützer. Also wir hinter ihnen her, und wir sind weiter gegangen, dort weiter hinten gibt es so Räume, Wechselstuben, man kann dort etwas essen, dort hielten wir an.“ Hanna berichtet romantisierend von Nervenkitzel, Flucht, von einem „Zirkus“, der es wert wäre, gefilmt zu werden. Das mit dem Schmuggel verbundene Risiko besitzt für sie eine positive Konnotation und steht für Abwechslung. Sie schätzt den Unterhaltungswert einer Schmuggelfahrt als recht hoch ein. Mit keinem Wort erwähnt sie ihre Erleichterung über die letztendliche Rettung der Schmuggelware, sondern
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5 Analyse des empirischen Materials
berichtet detailliert von den spannenden Minuten im Hangar. Zu der erfolgreichen „Flucht“ hat ihr eine Bekannte verholfen, ohne deren Signale es dazu nicht gekommen wäre. Hanna hat also in diesem Fall keine Netzwerke zu den Grenzautoritäten genutzt, über die sie ohnehin nicht verfügt, sondern verdankt ihren Schmuggelerfolg ihrer Beziehung und ihrem Vertrauen zu der Zeichen gebenden Schmugglerin. Generell kann Hanna auf ein solides Netzwerk zurückgreifen. Abbildung 19: Egozentriertes Netzwerk von Hanna
Bemerkenswert ist dabei, dass sie zu ihrer Familie nur enge bis weniger enge Kontakte pflegt, demgegenüber aber starke und zahlreiche Beziehungen zu Freunden und Bekannten besitzt. Das mag vor allem an der räumlichen Nähe liegen. Während ihre Verwandten nur zum geringen Teil in Górowo leben, sondern meist in Giycko, hat sich Hanna während ihrer jahrzehntelangen örtlichen Gebundenheit im Ort vielfältige außerfamiliale Kontakte aufgebaut, die sie nun intensiver ausgestaltet und von denen sie stärker profitiert als von ihren losen familiären Kontakten. Zu ihren
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Töchtern hat sie keinen besonders engen Kontakt, aber ihr Enkel ist ihr wichtig. Ihre nächsten Familienangehörigen leben nicht in Górowo, und die Kontakte zu ihnen beschränken sich auf zwei Besuche im Jahr. Für ihre Schmuggeltätigkeit profitiert sie vor allem von der engen Beziehung zu ihrer Freundin und von den Kontakten zu ihren ehemaligen Patienten, die sie im Bus nach Russland wieder trifft. Zu ihren ehemaligen Kolleginnen in der Notfallsprechstunde unterhält sie noch enge Kontakte. So fand das Interview mit Hanna im Haus und im gewünschten Beisein ihrer Kollegin statt. Relevant für den Schmuggel sind hierbei vor allem die Beziehungen zu ihrer besten Freundin und denjenigen Mitfahrern im Bus, die sie als vormalige Patienten kennengelernt hatte (siehe Abbildung 19). Organisation des Schmuggels Hanna schmuggelte während eines Zeitraums von acht Monaten regelmäßig zweimal in der Woche. Sie fuhr jedes Mal im gleichen Bus mit einem „Piloten“103 und ihrer Freundin als ständiger Begleiterin. Der Schmuggel war während der Zeit ihre einzige regelmäßige Beschäftigung und hatte deshalb automatisch eine alltagsstrukturierende Funktion. Trotz der niedrigen ökonomischen Abhängigkeit von ihm entwickelten sich die Schmuggelfahrten zu einer Routine, zu deren Erfüllung Hanna sich selbst verpflichtete. So spricht sie davon, dass die Fahrten sie anziehen, dass sie sich daran gewöhnt hat, im positiven Sinne. Da sie keine weiteren Verpflichtungen – weder im familiären noch im beruflichen Bereich – mit den Schmuggelfahrten verbinden musste, brauchte sie nicht auf zeitliche Beschränkungen zu achten, sondern konnte eine Fahrt vollkommen „auskosten“. In ihrem Fall scheint es angemessen, von einer positiven Wahrnehmung der Fahrten auszugehen, da sie diese während des Interviews des Öfteren mit „vergnüglich, komisch, lustig“ umschreibt. So kommt es zu einer paradoxen Anordnung: Obgleich Hanna, verglichen mit den anderen hier vorgestellten Schmugglern, auf den Schmuggel am wenigsten finanziell angewiesen ist, konnte sie ihm doch am meisten Zeit widmen. 30 bis 40 Stunden im Bus zu verbringen konnte sie sich eben aufgrund der Tatsache, dass sie keine weiteren Verpflichtungen hatte, leisten. Diese lange Dauer erklärt auch, warum sie nicht öfter als zweimal in der Woche nach Russland aufbrechen konnte. Welche Zollschicht bei ihrer Ankunft am Grenzübergang gerade Dienst hatte, war auch nicht von Hannas Interesse, da sie zwar einen möglichst geringen Warenverlust anstrebte, einer besonders strengen Kontrolle mit hohem Risiko aber gleichfalls gelassen entgegensehen konnte. „Ich sag, kann sein, dass es uns gelingt, aber wenn nicht, na dann ist es halt so.“ Die Organisation der Schmuggelfahrten steht bei Hanna also nicht im Mittelpunkt, da es nicht viel zu organisieren gibt. Bei ihr lassen sich aus der Organisati103 Mit Pilot wird die Person bezeichnet, die bei Fahrten mit privaten Bussen die Reise leitet und Entscheidungen über organisatorische Fragen trifft.
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onsform und Ausgestaltung kaum Rückschlüsse auf die Schmuggelbedeutung ziehen. Der Verkauf ihrer Waren z.B. gestaltet sich sehr bequem, indem sie die geschmuggelten Zigaretten direkt im Bus an den Piloten verkaufen kann. Diese Vorgehensweise nutzt sie aber nicht zur Gewinnmaximierung, sondern freut sich über das bequeme Verfahren. Einkommensstruktur und Verwendung der Schmuggeleinnahmen Hanna stehen neben der Schmuggeltätigkeit noch weitere Einnahmequellen zur Verfügung. Sie kann sich auf eine monatliche Rentenzahlung in Höhe von 1.200 Zoty verlassen. Während drei bis vier Sommermonaten bezieht sie für ihre temporäre halbe Stelle als Aushilfskraft in der Notfallsprechstunde eine monatliche Entschädigung von 680 Zoty. Während ihrer achtmonatigen Schmuggeltätigkeit erwirtschaftete sie pro Monat ca. 640 Zoty Gewinn, wenn man ihren Angaben folgt, nach denen sie pro Woche zweimal nach Russland fuhr und auf jeder Fahrt ca. 80 Zoty einnahm. Diesen Einnahmen stehen monatlich 400 Zoty an ständigen Ausgaben gegenüber, die Hanna für die Betriebskosten ihrer Eigentumswohnung, für Strom, Gas und Telefon aufwendet. Zur besseren Veranschaulichung folgt eine Gegenüberstellung der genannten monatlichen Einnahmen und Ausgaben. Dabei muss beachtet werden, dass Hanna die Schmuggeltätigkeit nicht in den Monaten ausführen kann, in denen sie in der Notfallsprechstunde tätig ist. Die Einnahmen beider Tätigkeiten bekommt sie also nicht parallel, sondern in unterschiedlichen Monaten. Zum Zeitpunkt des Interviews schmuggelte sie weder, noch ging sie einem Nebenverdienst nach, so dass sie ausschließlich ihre Rente zur Verfügung hatte. Aus diesem Grund wird die Einkommensspanne in der Tabelle vom alleinigen Rentenbezug als niedrigster Wert und die Kombination von Rente und temporären Gehalt als höchster Wert begrenzt. Tabelle 26: Zusammensetzung der monatlichen Einnahmen und Ausgaben von Hanna Einnahmen Posten Rente
temporäres Gehalt Einnahmen aus Schmuggel Gesamt Gewinn:
Summe (in Zoty) 1.200
Ausgaben Posten Wohnung, Strom, Gas, Telefon
Summe (in Zoty) 400
680 640 1.200–1.880 Gesamt 800–1.440 Zoty (210–378 Euro)
400
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Hanna stehen also im ungünstigsten Fall zwei Drittel ihres monatlichen Einkommens zur freien Verfügung. Sparen kann sie davon nicht viel, bedenkt man, dass sie von dem Betrag Verpflegung und Bekleidung sicherstellen muss. Ihre Rente allein ist für ihren Lebensunterhalt in jedem Fall ausreichend, Extraausgaben muss sie hingegen langfristig planen. Die zusätzlichen Einnahmen durch den Schmuggel entspannen ihr Haushaltsbudget und lassen eine Phase des Sparens zu, wie im folgenden Zitat deutlich wird.
I: „Und was haben Sie mit dem Geld [von den Schmuggeleinnahmen, B.B.] gemacht?“ H: „Ach, welches Geld, das waren 100 Zoty bei einer Fahrt.“ I: „Und was haben Sie damit gemacht?“ H: „Also gespart habe ich nichts. Dem Enkel habe ich was gegeben, ich kaufte immer etwas besseres, irgendwelche Geburtstagsgeschenke. Und mir selbst kaufte ich eine Waschmaschine, ich legte es zu dem anderen dazu, das war nicht so während dieser acht Monate, das war einfach ein wenig Geld, so dass ich nicht meine Rente nehmen musste, weil die ist auf dem Konto. Sie zahlen mir 1.200 Zoty auf das Konto, das musste ich nicht nehmen. Weil ich zweimal pro Woche fuhr, da war es jedes Mal so. Zuerst musste man Geld dazulegen, weil man die Waren brauchte, um später zu verdienen. Und später war es schon zum Leben, und damit die Rente nicht angetastet werden musste. Die nahm ich für die ständigen Ausgaben.“ Zuerst betont Hanna, wie geringfügig die Schmuggeleinnahmen seien und dass sie davon nichts zurücklegen könne. Im weiteren Verlauf des Zitats wird deutlich, dass zwar nicht die Schmuggeleinnahmen direkt gespart wurden, diese es ihr aber ermöglichten, den Großteil ihrer Rente zu sparen, indem sie die Lebenshaltungskosten mit den Schmuggeleinnahmen finanzierte. Durch den Schmuggel konnte sie ihr finanzielles Polster vergrößern und unbefangener Sonderausgaben für ihre Enkel oder größere Anschaffungen tätigen, so dass die so erwirtschafteten Einnahmen durchaus für Hannas Haushaltsbudget ins Gewicht fallen und mehr Bedeutung besitzen, als sie es anfangs darstellt. Vergleicht man Hannas Rente mit den Gehältern von Joanna und ihrem Mann, merkt man, dass Hanna durch ihre Rente recht gut versorgt ist. Dies zeigt auch die Einordnung ihrer Rentenhöhe in den Durchschnitt in der Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie. So lag die durchschnittliche Rentenhöhe im Jahr 2005 dort bei 1.142 Zoty. Im Kreis Bartoszyce, zu dem Hannas Wohnort Górowo gehört, wurde sogar nur eine monatliche durchschnittliche Rente von 1.038 Zoty ausgezahlt (vgl. ZUS 2006). Nicht nur die Schmuggeleinnahmen, auch ihre Rente bezeichnet Hanna allerdings als kaum ausreichend. Im ersten Teil des Interviews nennt sie als ersten Grund für den Schmuggel die geringe Rente.
I: „Können Sie mir sagen, wie es kam, dass Sie anfingen, zur Grenze zu fahren?” H: „Ich fing an, weil es an Rente fehlte. Drei Enkel, man muss den Kindern Geschenke kaufen, sich selbst etwas für die Wohnung kaufen, wenn man 1.200 Zoty Rente im Monat bekommt,
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dann bleibt, wenn man alles bezahlt, die Wohnung, Gas, Licht, dann bleibt von dem so viel um zu überleben.“ Offensichtlich stellt sie als Großmutter recht hohe Ansprüche an sich und ihre finanzielle Lage, so dass sie extra mit dem Schmuggel anfängt, um ihre Enkel beschenken zu können. Die Tatsache, dass Hanna als Begründung für ihre zu niedrig empfundene Rente anführt, dass sie zu wenig Geld für Geschenke für ihre Enkel hat, zeigt, dass sie sich keine existenziellen Sorgen machen muss und für alles Notwendige gesorgt ist. Trotzdem scheint ihr Verweis auf finanzielle Gründe auf die Frage nach ihren Schmuggelmotivationen darauf hinzudeuten, dass es vor allem der Wunsch nach einem höheren Einkommen war, der Hanna mit den Busfahrten beginnen ließ. Allerdings zeigen obige Zitate, dass Hanna in erster Linie das Verlangen nach Abwechslung getrieben hat und der finanzielle Aspekt zweitrangig ist. Auch stammt das letzte Zitat vom Anfang des Interviews, als Hanna sich noch nicht so offen wie im weiteren Verlauf des Gesprächs äußerte. Der Hinweis auf unzureichende eigene finanzielle Mittel ist immer ein plausibler und nachvollziehbarer Grund für den Schmuggel, der bei ihr aber nicht ausschlaggebend ist. Wie setzen sich nun die Schmuggeleinnahmen zusammen? Hanna transportiert meist 15 Stangen Zigaretten „Monte Carlo“ und eine Literflasche Wodka pro Fahrt. Vom Verkauf einer Stange Zigaretten erzielt sie einen Gewinn von knapp acht Zoty, was eine Gesamtsumme von ca. 120 Zoty ergibt. Der Gewinn pro Stange ist deshalb vergleichsweise so gering, da Hanna den bequemen Verkaufsweg wählt und ihre Waren sofort dem Piloten im Bus übergibt, der sich der schnellen und somit vorteilhaften Entledigung der Schmuggelware durch seine Passagiere durchaus bewusst ist und deswegen schlecht zahlt. Durch den Verkauf einer Flasche Wodka im Bekanntenkreis nimmt sie acht Zoty ein. Vom Reingewinn in Höhe von 128 Zoty gehen die Kosten für das Busticket in Höhe von 25 Zoty sowie die informellen Zahlungen des Piloten an den russischen Zoll, der von jedem Passagier fünf Dollar (15 Zoty) einsammelt, um sich einer risikolosen Kontrolle zu versichern.104 Diese Angaben sind in folgender Tabelle 27 dargestellt.
104 Während im Linienbus von jedem Passagier ein Dollar eingesammelt wird, gelten in Privatbussen andere Regeln.
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5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung
Tabelle 27: Zusammensetzung der schmuggelbedingten Einnahmen und Ausgaben bei einer Fahrt von Hanna Einnahmen Posten
Summe (in Zoty) 120
15 Stangen „Monte Carlo“ 1 Liter Wodka 8 Gesamt 128 Reingewinn: ca. 88 Zoty (23 Euro)
Ausgaben Posten Zahlung an Zoll Busfahrkarte Gesamt
russ.
Summe (in Zoty) 15 25 40
Schmuggel als unbedeutende Einnahmequelle und Bewertung des Schmuggels Hanna verfügt über mehrere Einkommensquellen, mit denen sie ihren Lebensunterhalt bestreitet. Die stabilste und regelmäßigste stellt ihre Rente dar, zu der die Einnahmen ihrer Aushilfserwerbstätigkeit kommen. Die Schmuggeleinnahmen sind kein regelmäßiger Posten im Haushaltsbudget, sondern dienen Hanna eher als punktuelle Finanzspritze, wenn größere Anschaffungen geplant sind. Hanna kombiniert in ihrer Haushaltsstrategie also Einnahmen aus staatlichen Zahlungen, formeller Erwerbstätigkeit und informellen Tätigkeiten. Damit möchte sie ihre Haushaltsziele erreichen, die unter „Enhancement“ (z.B. der Kauf eines Kühlschranks) und „Mitigation“ (z.B. die Schaffung einer finanziellen Rücklage) fallen. Die Wahl ihrer Haushaltsstrategie, ihren Einkommensarten und Zielen, sind u.a. abhängig von Hannas Ressourcen (vgl. Abbildung 2). Diese bestehen vor allem aus einem sehr hohen Anteil frei verfügbarer Zeit, finanzieller Unabhängigkeit von einkommensgenerierenden Tätigkeiten, dem starken Bedürfnis nach Kommunikation mit anderen Menschen und Hannas Entscheidungsfreiheit: Da sie allein lebt, werden intrafamiliale Aushandlungsprozesse und Diskussionen über Handlungsoptionen obsolet. Diese Faktoren haben Einfluss auf Hannas Ausgestaltung ihrer Schmuggeltätigkeit. Aufgrund der niedrigen finanziellen Priorität des Schmuggels für ihren Haushalt stellt er eine unbedeutende Einnahmequelle dar, auf deren Existenz sie wirtschaftlich nicht angewiesen ist. „Für uns, wir, die wir schon Rente kriegen, war das nur so unter der Hand verdientes Geld, wie man so sagt“, charakterisiert Hanna die Bedeutung ihrer Schmuggeltätigkeit. Ihre materielle Versorgung ist durch die Rente gesichert. Ein Zwang zur Anpassung an die Erfordernisse eines risikoarmen Schmuggels ist also nicht gegeben. Der Schmuggel hat daher keinen großen Einfluss auf ihre Lebensplanung und ihren Alltag. So ist auch der episodische Charakter des Schmuggelns zu erklären, der bei Hanna gut zu erkennen ist, da sie ja zur Zeit des Interviews schon nicht mehr schmuggelt. Erfüllt der Schmuggel für Hanna also nur in zweiter Reihe eine ökonomische Funktion, so dient er ihr hauptsächlich als Strategie zur Vermeidung von Langeweile und als Möglichkeit zur Schaffung eines
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abwechslungsreicheren Alltags, die zudem zur Aufrechterhaltung und Knüpfung sozialer Kontakte und Austausch beiträgt, was für Hanna eine hohe Bedeutung hat. Gleiches trifft für ihre Erwerbstätigkeit in der Notfallsprechstunde zu. Neben dem finanziellen Aspekt, den Hanna durchaus erwähnt und der in ihrer Entscheidung für die Annahme der Stelle gewiss eine starke Motivation war, begründet sie aber auch ihre Erwerbstätigkeit mit dem Argument des „unter Menschen sein“ und „beschäftigt sein“. Formelle Erwerbsarbeit und informelle Tätigkeit besitzen für Hanna also die gleiche Funktion: Zeitvertreib. Dies ist nur möglich aufgrund ihrer weitgehenden finanziellen Unabhängigkeit von diesen zwei Erwerbsquellen, da ihre wirtschaftliche Versorgung durch die staatlichen Rentenzahlungen sichergestellt wird. Fazit Hanna betreibt eine erfolgreiche Armutsvermeidungsstrategie, indem sie ihr sicheres Renteneinkommen durch zeitweilige Nebeneinkünfte in Form von formaler Erwerbsarbeit und informellem Schmuggel ergänzt. Da sie ihren Lebensunterhalt schon durch die Rente allein sichern könnte, bedeuten die Zusatzeinnahmen die Möglichkeit der Kapitalakkumulation, was wiederum eine Absicherung gegen eventuelle Risiken ermöglicht. Hanna ist finanziell nicht auf den Schmuggel angewiesen, deshalb stellt ein Warenverlust auf einer Schmuggelfahrt nur ein geringes Risiko für sie dar. Wegen dieser Abkopplung des Schmuggels von seiner ökonomischen Notwendigkeit bedeuten die Fahrten nach Russland für Hanna keine Stressquelle, sondern besitzen für sie vor allem Freizeit- und Ausflugscharakter. Dementsprechend gering fällt der Aufwand aus, den sie für die Risikovermeidung an der Grenze betreibt. So verfügt sie z.B. nur über wenig Wissen über die Zollkontrollen. Der Schmuggel spielt in ihrer ökonomischen Haushaltsstrategie also keine bedeutende Rolle. Jedoch ist er ein wichtiges Element in ihrer Lebensführung, die auf die Bewältigung der dem Ruhestand geschuldeten vermehrten Passivität im Alltag abzielt. Schmuggel ist dabei aber nicht so bedeutsam, als dass Hanna die Schmuggeltätigkeit unter allen Umständen fortführen würde. So beträgt die Dauer ihrer bisherigen Schmuggeltätigkeit nur acht Monate. Das hängt damit zusammen, dass sie neben dem Schmuggel noch weitere Aktivitäten nutzt, um der drohenden Langeweile zu entfliehen: Ihre Einschreibung in den Rentnerverein, ihre Treffen mit den Freundinnen und nicht zuletzt ihre Erwerbstätigkeit in den Sommermonaten tragen dazu bei, Hannas Ziele in ihrer Lebensführung zu erfüllen: Aktivität und soziale Kommunikation. Der Schmuggel dient ihr dabei als ein temporär, bei Bedarf einsetzbares Ventil, dessen jederzeit mögliche Abrufbarkeit für Hanna eine beruhigende Gewissheit darstellt, selbst wenn sie keinen Gebrauch vom Schmuggel mehr machen sollte. „Und falls ich zufällig mal wieder gerne fahren würde, da fahren so ein paar Frauen von uns. Und eine sagt: ‚Wollen Sie fahren? Bitte schön.‘“
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Charakteristika des Typus „abenteuerlustiger Nebenverdiener“ Repräsentanten dieses Typus‘ haben gemein, dass ihre finanzielle Abhängigkeit vom Schmuggel sehr niedrig ist, niedriger als für Vertreter aller anderen Typen. Da sie ihren Lebensunterhalt durch andere stabile Einkommensquellen sichern können, besitzt der Schmuggel für sie nur niedrige ökonomische Priorität. Jedoch setzen sie einen finanziellen Nutzen der Schmuggelaktivität voraus und würden ohne Gewinnaussichten nicht fahren. Dementsprechend verwenden sie die Schmuggeleinnahmen auch nicht für existenzsichernde ständige Basisausgaben wie Miete oder Lebensmittel, sondern benutzen den Zusatzverdienst für die Erfüllung persönlicher Konsumwünsche, für ihre Freizeitgestaltung und als Sparmöglichkeit. Aufgrund der geringen finanziellen Bedeutung der Schmuggeleinnahmen für den Haushalt, brechen „abenteuerlustige Nebenverdiener“ unregelmäßig und sporadisch bis selten zu Fahrten nach Russland auf. Schmuggel stellt nicht das strukturierende Element ihres Alltags dar. Die Entscheidung für oder gegen eine Schmuggelfahrt machen Vertreter dieses Typus weniger von der diensthabenden Schicht am Grenzübergang abhängig als von ihrer jeweiligen persönlichen Laune: Die Grenzfahrten sollen in erster Linie Spaß machen, die Langeweile vertreiben und den eintönigen Alltag auflockern. Da für die Vertreter des „abenteuerlustigen Nebenverdieners“ die Qualität einer Schmuggelfahrt stark von ihrem Geselligkeitsfaktor abhängt, ist für sie eine Überquerung der Grenze im Pkw nicht attraktiv: ein beengtes Auto eignet sich nicht gut zum Feiern, und darüber hinaus schrecken die möglichen langen Wartezeiten im Pkw den „abenteuerlustigen Nebenverdiener“ ab. Für ihn ist der Bus das passendere Verkehrsmittel. Für die Schmuggeltätigkeit des abenteuerlustigen Nebenverdieners“ ist die Eingebundenheit in soziale Netzwerke dahin gehend wichtig, als dass sie unabdingbar für eine gute Stimmung im Bus ist. Für die Erzielung eines guten Gewinns benutzen Vertreter dieses Typus‘ im Gegensatz zu denen des „professionellen Unternehmers“ ihre sozialen Netzwerke eher weniger. Die aus dem Schmuggel erzielten Einnahmen sind nicht hoch. Als feste Größe können sie schlecht im Haushaltsbudget verplant werden, da ihre genaue Höhe schwer vorauszusehen ist. Das hängt zum einen mit der Unregelmäßigkeit der Fahrten zusammen, zum anderen spielt aber auch das nur geringe Wissen über die Kontrollgewohnheiten einzelner Zöllner eine Rolle, das aufgrund der seltenen Fahrten mit langen Pausen zwischen ihnen nicht akkumuliert werden kann. „Abenteuerlustige Nebenverdiener“ betreiben den Schmuggel nicht dauerhaft, er stellt lediglich eine Episode in ihrem Lebenslauf dar. 5.2.4 Fazit Ziel dieses Kapitels war es, individuelle Bedeutungen der Schmuggeltätigkeit innerhalb der Armutsbewältigungs- bzw. Armutsvermeidungsstrategie unter Berücksich-
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5 Analyse des empirischen Materials
tigung der ökonomischen Haushaltsführung und deren Einbettung in eine allgemeine Lebensführung des Einzelnen zu erfassen und eine Schmugglertypologie zu bilden. Deren Elemente werden an dieser Stelle vergleichend vorgestellt. Es wurde gezeigt, dass der Schmuggel für die hier Befragten keineswegs eine homogene Bedeutung aufweist, sondern dass diese individuell unterschiedlich ist. Vor allem der jeweilige Grad der finanziellen Abhängigkeit vom Schmuggel ist ausschlaggebend für die individuelle Schmuggelbedeutung. Ist dieser hoch, ist auch die Priorität der Schmuggeltätigkeit im Alltag höher als bei jemandem, der seinen Lebensunterhalt aus anderen Quellen bezieht. Allerdings erklärt dieser Zusammenhang nicht hinreichend die Ausdifferenzierung der herausgearbeiteten Schmuggelbedeutungen, wie sie in Tabelle 28 abgebildet werden. Tabelle 28: Typenbezogene Schmuggelbedeutungen Typus
Ökonomische Abhängigkeit vom Schmuggel hoch
Hauptziel der Haushaltsstrategie Enhancement
starker Existenzsicherer (Lucyna)
hoch
Coping
prekärer Multiverdiener (Joanna)
mittel
Mitigation
pragmatischer Kompensierer (Jerzy)
mittel
Mitigation
abenteuerlustiger Nebenverdiener (Hanna)
niedrig
Mitigation
professioneller Unternehmer (Rafa)
Vorwiegende Schmuggelbedeutung flexibel handhabbare Quelle von Sicherheit und Vermögensvermehrung physisch und psychisch belastende ökonomische Notwendigkeit untergeordnete Ergänzung des Einkommens aus Erwerbsarbeit kontinuitätsstiftender Ersatz von Erwerbsarbeit auf mehreren Ebenen Kommunikation und Abwechslung im Alltag bietendes spannendes Erlebnis
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So ist zwar z.B. die ökonomische Abhängigkeit vom Schmuggel bei Rafa und Lucyna gleichermaßen hoch, jedoch stellt die Schmuggeltätigkeit für Rafa eine positive und angenehme Erfahrung, für Lucyna hingegen ein abschreckendes und unangenehmes Erlebnis dar. Bei der Erklärung dieser unterschiedlichen Bedeutungen bei ähnlich hoher finanzieller Abhängigkeit vom Schmuggel spielen soziale Netzwerke eine wichtige Rolle. Rafa profitiert davon, dass er sich in sozialen Netzwerken bewegt, die ausnahmslos den Erfolg seines Schmuggels unterstützen und diesem förderlich sind. Das ist gleichfalls ein Zeichen für die Zentralität und vielfältige Verquickung des Schmuggels mit vielen, wenn nicht allen, seiner Lebensbereiche, wie es typisch für den Typus des „professionellen Unternehmers“ ist. Diese Durchdringung des Schmuggels in vielen Facetten seines Alltags und in seinen sozialen Kontakten vereinfacht seine Schmuggeltätigkeit, führt zu einer Risikoverringerung und demzufolge zu einer als wenig belastend wahrgenommenen Schmuggeltätigkeit. Im Gegensatz dazu wirken Lucynas soziale Kontakte nur zum Teil unterstützend für den Schmuggel, was zu einem Anstieg ihres Verlustrisikos und erhöhtem Zeitdruck führt und somit den Schmuggel für sie zu einer psychischen Belastung werden lässt, das Hauptmerkmal für Repräsentanten des Typs des „starken Existenzsicherers“. Während Rafas Netzwerke einheitlich den Schmuggel unterstützen, muss Lucyna gegenläufige Bedürfnisse in ihrem Netzwerk erfüllen. So läuft die Pflege der wichtigen Beziehung zu ihren Kindern einer erfolgreichen Schmuggelausführung zuwider. Je mehr für den Schmuggel relevante Akteure sich in einem persönlichen sozialen Netzwerk finden, desto einfacher gestaltet sich also die Integration des Schmuggels in den Alltag des Einzelnen, lautet ein wenig überraschendes Ergebnis. Netzwerke sind also grundsätzlich für die praktische Ausgestaltung des Schmuggels von hoher Bedeutung, unabhängig von der finanziellen Abhängigkeit. Netzwerke erfüllen hierbei unterschiedliche Funktionen. Stellen sie für den „professionellen Unternehmer“ eine gewinnmaximierende Business-Strategie dar, so fungieren sie für den „abenteuerlustigen Nebenverdiener“ als Vergnügungsfaktor oder für den „pragmatischen Kompensierer“ als kontinuitätsstiftende Brücke zwischen Schmuggel und Erwerbsarbeit. So wie Netzwerke in der Ausgestaltung der Schmuggeltätigkeit der verschiedenen Typen unterschiedliche Funktionen besitzen, so übernehmen auch, wie dargestellt, die Schmuggeleinnahmen vielfältige Rollen in den individuellen Haushaltsstrategien. Auf dieses Ergebnis geben auch schon die explizierten Schmuggelbedeutungen Hinweise. Von dem das Überleben sichernden Einsatz im Rahmen einer „Coping-Strategie“ des „starken Existenzsicherers“ über Risikoabsicherung innerhalb der „Mitigation-Strategie“, die vom „prekären Multiverdiener“, vom „pragmatischen Kompensierer“ und vom „abenteuerlustigen Nebenverdiener“ betrieben wird, bis hin zum wichtigen Element der Kapitalakkumulation in der „Enhancement-Strategie“ des „professionellen Unternehmers“ spielen die Schmuggeleinnah-
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men für die ökonomischen Haushaltsstrategien der Schmuggler eine mehr oder weniger wichtige Rolle (vgl. Tabelle 29). Die finanzielle Bedeutung des Schmuggels innerhalb einer Haushaltsstrategie richtet sich auch nach der Einkommensstruktur der Haushalte. Hier wurde eine breite Spannweite festgestellt. Vertreter aller Typen kombinieren die Schmuggeleinnahmen mit weiteren Einnahmequellen, keiner lebt ausschließlich vom Schmuggel. Vertreter des „professionellen Unternehmers“ besitzen neben dem Schmuggel zwar keine weiteren wichtigen Einnahmequellen, jedoch kombiniert Rafa seine Haupteinnahmequelle Schmuggel mit Subsistenzwirtschaft und Mieteinnahmen. Lucyna als Repräsentantin des „starken Existenzsicherers“ kombiniert Schmuggel mit staatlichen Unterstützungsleistungen. Schmuggelnde im Sinne des „prekären Multiverdieners“ ergänzen ihre Einnahmen aus formeller Erwerbstätigkeit mit ihrer informellen Tätigkeit, wie man bei Joanna sehen kann. Auch „pragmatische Kompensierer“ leben von einem Einkommensmix: Jerzys und Georgias Haushalt lebt von Sozialunterstützung, Schmuggeleinnahmen und Subsistenzwirtschaft. Vertreter des „abenteuerlustigen Nebenverdieners“ schließlich sichern ihren Lebensunterhalt durch eine oder mehrere verlässliche Erwerbsquellen, und ergänzen dieses Einkommen sporadisch mit Schmuggel. So lebt Hanna in erster Linie von ihrer Rente, gefolgt von temporärer Erwerbsarbeit und Schmuggel. Ein gemeinsames Merkmal aller Schmugglertypen liegt demnach darin, dass sie alle von einer Kombination unterschiedlicher, mehr oder weniger unsicherer monetärer Einkommensquellen leben, die bei einigen Typen durch Einnahmen aus der Subsistenzproduktion ergänzt werden. Damit stellen sie den Beweis für die Gültigkeit der These dar, dass die Ausbreitung von kleinunternehmerischen Aktivitäten einen zunehmenden Teil der Existenzsicherung im Rahmen von Income Mixes übernehmen (vgl. Vobruba 2000: 127). Aus dieser Perspektive repräsentieren alle Schmugglertypen den auch in Polen aktuell zu beobachtenden und lange vorausgesagten Wandel von Erwerbsarbeit: „Das, was bislang gegenüber gestellt wurde – formelle und informelle Arbeit, Beschäftigung und Arbeitslosigkeit –, wird in Zukunft zu einem neuartigen System flexibler, pluraler, risikovoller Formen von Unterbeschäftigung verschmolzen.“ (Beck 1986: 228, Hervorhebung im Original)
Wurden vielfältige Bedeutungen der Schmuggeltätigkeit in den jeweiligen ökonomischen Haushaltsstrategien festgestellt, ist die Schmuggeltätigkeit für den weiteren Fokus der alltäglichen Lebensführung bei den hier Untersuchten durchgängig von großer Bedeutung, und zwar auch unabhängig von der finanziellen Ebene. Für alle hier analysierten Vertreter der genannten Typen stellt der Schmuggel ein bedeutsames Element dar, um das jeweilige Ziel ihrer Lebensführung zu erreichen. So erreicht es Rafa, ein geordnetes und gesichertes, von ihm kontrolliertes Leben führen zu können. Lucyna kämpft beständig dafür, das Ziel ihrer Lebensführung zu erreichen, nämlich die stabile Vereinbarkeit einer einkommensgenerierenden Tätigkeit,
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wie dem Schmuggel, und der Betreuung ihrer Kinder zu leisten. Joanna kommt ihrem emanzipatorischen Lebensführungsziel, der Sicherung ihrer finanziellen Unabhängigkeit, durch die Schmuggeltätigkeit ein gutes Stück näher. Bei Jerzy spielt der Schmuggel für sein Lebensführungsziel ebenfalls eine nützliche Rolle, indem er die Überwindung seines durch Erwerbsarbeitsverlust hervorgerufenen biographischen Bruches unterstützt. Schließlich stellt der Schmuggel für Hanna ein Element dar, um das Ziel ihrer Lebensführung zu erreichen, nämlich die Bewältigung ihres als eintönig wahrgenommenen Alltags als Rentnerin. Tabelle 29 stellt diese Befunde zusammenfassend und pointiert dar. Hierbei handelt es sich – wie bei der Typisierung – um ein analytisches Instrument, um in der Realität nicht trennscharf voneinander abgrenzbare Befunde dennoch operationalisierbar zu machen. Tabelle 29: Ziele der Lebensführung von Vertretern der Schmuggeltypen Schmuggler Rafa Lucyna Joanna Jerzy
Ziel der Lebensführung gesichertes, geordnetes und selbst kontrolliertes Leben Vereinbarkeit zwischen einkommensgenerierender Tätigkeit und Kinderbetreuung finanzielle Unabhängigkeit und Zukunftssicherung Überwindung des biographischen Bruchs
Joanna
Bewältigung des unausgefüllten Alltags
Die große Spannweite der Rolle des Schmuggels sowohl in den Haushaltsstrategien als auch in der alltäglichen Lebensführung deutet auf eine starke Heterogenität der den Schmuggel ausübenden Gruppe hin. Und tatsächlich: In dem in dieser Arbeit vorgestellten Sample befinden sich Personen jeden Alters aus allen Gesellschaftsschichten, mit unterschiedlichsten Bildungsabschlüssen und vielfältigen familialen Kontexten (siehe Tabelle 13, 14). Schmuggel ist also keine gesellschaftliche Randerscheinung marginalisierter einzelner „Unterschichtsexistenzen“, sondern ein ernst zu nehmendes massives Phänomen, das sich quer durch die gesamte Gesellschaft zieht. Die Vielfältigkeit derer, die Schmuggel betreiben, bedeutet auch, dass sie nicht viel verbindet. Dafür spricht auch die oft gehörte Aussage in den geführten Interviews, dass man mit den weiteren Buspassagieren oder Co-Schmugglern in seiner Freizeit keinen Kontakt habe. Gemein ist den meisten Schmugglern nur die Wohnregion und das Betreiben des Schmuggels. Die gleichen regionalen Rahmenbedingungen, unter denen sie alle leben, führen aber nicht dazu, dass sie den Schmuggel auf die gleiche Weise nutzen. Trotz des Schmuggels als gemeinsamer Aktivität, als kleinstem gemeinsamem Nenner, können die Lebensbedingungen von Schmuggler zu Schmuggler stark variieren, wie in diesem Kapitel dargestellt wurde. Gerade weil der Schmuggel so
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vielfältig einsetzbar ist und das Individuum ihn so flexibel auf die eigene Lebenssituation und an die eigenen Bedürfnisse anpassen kann, ist eine stark ausgeprägte Heterogenität der ihn Ausführenden möglich. Schmuggel wird zu einer individualistischen Tätigkeit, in der der Einzelne zwar fundamental auf soziale Netzwerke und somit auf andere Menschen angewiesen ist. Dennoch handelt jeder Schmuggler auf eigene Rechnung und ist niemandem verpflichtet. Jeder schmuggelt anders, jeder bewertet den Schmuggel anders, und jeder möchte mit ihm unterschiedliche Ziele erreichen. Dies führt zu einer stetigen Ausdifferenzierung der persönlichen Lebensumstände des Einzelnen, zu einer Individualisierung jeden Schmugglers. In diesem Zusammenhang deutet vieles darauf hin, dass Schmuggler keine Wertegemeinschaft, kein in sich geschlossenes Milieu bilden. Der Milieubegriff vereint objektive gesellschaftliche Strukturen mit individuellen subjektiven Orientierungen und ist somit auf einer Ebene zwischen Individuum und Gesellschaft anzusiedeln. Mitglieder eines Milieus haben ein gleiches Verhältnis zu ihrer Umwelt, reagieren also ähnlich auf objektive Bedingungen. Unter Milieus werden Kontexte von Umweltbedingungen verstanden, die von bestimmten Bevölkerungsgruppen auf bestimmte Weise wahrgenommen und genutzt werden, so dass sich bestimmte Lebensformen herausbilden (vgl. Hradil 1992: 17). Die Ergebnisse dieser Studie zeigen nun aber, dass die hier untersuchte Gruppe schmuggelnder Menschen nicht homogen auf ihre Umweltbedingungen reagiert, sondern dass die Mitglieder dieser Gruppe den Schmuggel differenziert wahrnehmen und nutzen und mit ihm unterschiedliche Ziele verfolgen. Plausibler erscheint es, dass jeweils Repräsentanten des gleichen Schmuggeltypus ein Milieu bilden, da sie jeweils in einem ähnlichen Verhältnis zu ihrer Umwelt stehen und ähnlich auf diese reagieren. Die dargelegten unterschiedlichen finanziellen Bedeutungen von Schmuggel stellen gleichzeitig die Elemente der jeweiligen Armutsbewältigungs- bzw. Armutsvermeidungsstrategien der Individuen dar. Zwar ist allen Befragten gemein, dass sie in einer mehrfach von Armut betroffenen Gegend leben (vgl. Kapitel 3). Jedoch muss diese Tatsache nicht automatisch bedeuten, dass alle Einwohner dieser als arm bezeichneten Region gleichermaßen von Armut betroffen sind. Deshalb wäre es auch falsch, in dieser Arbeit ausschließlich von Strategien zur Armutsbewältigung zu sprechen, da sich nicht alle der hier Untersuchten tatsächlich in Armut befinden, sondern sie erfolgreich beständig vermeiden. So liegt Rafa mit seinen bemerkenswert hohen Schmuggeleinnahmen deutlich über allen Armutsindikatoren. Sein monatliches Einkommen ist mit 4.300 Zoty bis 5.300 Zoty mehr als doppelt so hoch wie das durchschnittliche Monatseinkommen in der Woiwodschaft WarmiskoMazurskie im Jahr 2006, welches bei 2.118,29 Zoty lag (vgl. GUS 2007c: 35). Auch Hanna steht mit ihrer Rente aufgrund ihrer langen Erwerbsarbeitszeit relativ gut da und repräsentiert damit die in Polen vorherrschende allgemeine Situation, dass Rentner nicht überdurchschnittlich stark von Armut betroffen sind (vgl. Tarkowska 2008: 5, S. 245). Hanna und Rafa nutzen den Schmuggel also erfolgreich, um Ar-
5.2 Schmuggel als ein Element individueller Armutsvermeidung
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mut zu vermeiden und nicht, um sie zu bewältigen, weil sie von ihr nicht betroffen sind. Im Gegensatz dazu stehen Lucyna, Georgia, Jerzy und Joanna, die jeweils mehrere charakteristische Formen von Armut in sich vereinigen. So ist Lucyna als alleinerziehende Mutter existenziell auf den Schmuggel angewiesen. Sie exemplifiziert den aktuellen Trend der Feminisierung der Armut in Polen (vgl. ebenda: 4f.) und ist darüber hinaus ein Beispiel für dauerhafte und der Arbeitslosigkeit geschuldete Armut. Georgia und Jerzy sind ebenfalls von dauerhafter Armut durch Arbeitslosigkeit bzw. geringes Einkommen betroffen. Letzteres trifft auch auf Joanna zu, die man zu den „working poor“ zählen kann. Sie alle nutzen den Schmuggel auf die beschriebene vielfältige Art und Weise, um mit ökonomischer Armut zu Recht zu kommen bzw. sie zu umgehen. Dieses aktive Vorgehen gegen die eigene Mittellosigkeit ist bemerkenswert, da insbesondere in der Gruppe der Arbeitslosen Passivität und Inanspruchnahme sozialer Hilfsangebote vorherrschen (vgl. Tarkowska 2008: 2). Schmuggler zeichnen sich also zunächst durch Aktivität aus, eben durch ihre Schmuggeltätigkeit, und heben sich dadurch von passiveren armen Menschen ab. Eine erfolgreiche Schmuggeltätigkeit erfordert unter anderem Mut, Risikofreudigkeit, betriebswirtschaftliches Grundverständnis, Disziplin, Durchhaltevermögen und Flexibilität. Diese Eigenschaften sind nicht nur für die informelle Tätigkeit des Schmuggelns nützlich, sondern auch auf dem offiziellen Arbeitsmarkt gefragt. Deshalb kann die These gewagt werden, dass gerade die eigenaktiven Schmuggler über individuelle Ressourcen verfügen, die sie auch für sozialversicherungspflichtige, formelle Erwerbstätigkeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt qualifizieren würden. Somit scheint es dringend geboten, attraktive Arbeitsplätze in der Region zu schaffen, um das Potenzial einer Vielzahl von Menschen, das im Moment aufgrund fehlender Alternativen für die Ausübung des Schmuggels verwendet wird, für eine langfristige wirtschaftliche Entwicklung der Region zu nutzen.
6 Schlussbemerkungen
Bedeutungen des Schmuggels innerhalb einer Armutsvermeidungs- bzw. Armutsbewältigungsstrategie individueller Haushalte Diese Arbeit beschäftigt sich mit individuellen Bedeutungen des Schmuggels für den Umgang mit Armut in den grenznahen Gebieten der polnischen Woiwodschaft Warmisko-Mazurskie. Ziel der Analyse auf individueller Ebene war es, die Rolle des Schmuggels in Armutsbewältigungs- bzw. Armutsvermeidungsstrategien aufzuzeigen, unter Berücksichtigung der ökonomischen Haushaltsführung und deren Einbettung in die allgemeine Lebensführung des Einzelnen. Dabei konnte die Eingangsthese bestätigt werden, dass die Schmuggeltätigkeit für alle explizierten Schmuggeltypen eine Bewältigung der negativen Effekte der Transformation in Polen darstellt. Erlebte Arbeitslosigkeit z.B. macht die umfassende Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt für den Einzelnen deutlich. Die durch Arbeitslosigkeit erlebte Exklusion kann durch Tätigkeiten im informellen Sektor durchbrochen werden. Schmuggel wirkt dabei als gesellschaftlich inkluierender Faktor. Zieht man die Definition von Arbeit nach der Theorie der alltäglichen Lebensführung heran, nach der Arbeit u.a. mit Planung und Ergebnisorientierung zusammenhängt (siehe Fußnote 28), so enthält die Schmuggeltätigkeit für alle explizierten Typen, außer für den „abenteuerlustigen Nebenverdiener“, Elemente von Erwerbsarbeit. Diese strukturiert gleichermaßen die alltägliche Lebensführung, allerdings im Beckschen Sinne im Rahmen eines „entstandardisierten Systems flexibler Unterbeschäftigung“ (vgl. Beck 1986: 234). Die Auflösung der Achse einer stabilen Lebensführung, die aus Erwerbsarbeit und Beruf bestand (vgl. ebenda: 220), und die im Zuge der Systemtransformation auch in Polen zu beobachten ist, führt zu einer Gestaltung und Erprobung neuer Lebensformen und Lebensstilen (vgl. ebenda: 152). Aus dieser Perspektive stellen die vorgestellten Lebensführungen von Schmugglern das beste Beispiel für diese Pluralisierung von Erwerbsarbeit dar, die Auswirkungen in alle Lebensbereiche mit sich bringt. Für alle Typen ist die Schmuggeltätigkeit als Element ökonomischer Haushaltsstrategien innerhalb ihrer Lebensführungen sinnstiftend und Ausdruck aktiver Armutsbewältigung bzw. Armutsvermeidung. Dabei variiert die Rolle der informellen Tätigkeit in den einzelnen Haushalten beträchtlich. Zieht man die unterschiedlichen Typen informeller Ökonomien heran (vgl. Neef 2002a: 13–20), so lässt sich feststellen, dass unterschiedliche Schmugglertypen unterschiedliche informelle Ökonomien in ihren Haushaltsstrategien verfolgen. So betreibt der „professionelle
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6 Schlussbemerkungen
Unternehmer“ ein „informal business“, der „prekäre Multiverdiener“, der „pragmatische Kompensierer“ und der „abenteuerlustige Nebenverdiener“ schmuggeln im Rahmen einer „improving informal economy“, und der „starke Existenzsicherer“ ist auf den Schmuggel innerhalb seiner „survival economy“ angewiesen. Die Analyse der Schmuggelbedeutungen für das Individuum bzw. seinen Haushalt hat eine weitere Eingangsthese bestätigt: Menschen, die an den polnischen Ostgrenzen leben und Waren über diese Grenzen schmuggeln, bilden keine homogene Gruppe, kein geschlossenes Milieu. Die so vielfältig ausgeübten Schmuggeltätigkeiten und ihre Bedeutungen sind vielmehr Ausdruck einer zunehmenden Ausdifferenzierung der Arbeits- und Lebensbedingungen dieses Landstrichs. Diese Entwicklung geht einher mit einer Prekarisierung der Lebensverhältnisse auf zwei Ebenen. Zum einen findet die Ausübung der Schmuggeltätigkeit außerhalb der staatlichen Sicherungssysteme statt, ist ungeschützt und abhängig von einer Vielzahl sich stark ändernder Bedingungen. Jenseits staatlicher wirtschaftlicher Kontrollmechanismen sind die Schmuggler in ihren Transaktionen einem höheren Risiko ausgesetzt als es legal agierende Händler sind, die ihr Recht notfalls einklagen können. Funktionsweise des Schmuggels Nicht nur die Schmuggeltätigkeit an sich ist prekär: Zum anderen schlägt sich der hohe Risikograd ihrer Einnahmequelle auch in der allgemeinen Lebensführung der Schmuggler nieder, in der sie mit existenziellen Unsicherheiten konfrontiert werden. Der Grad der individuellen Prekarisierung richtet sich dabei nach der Stärke der finanziellen Abhängigkeit vom Schmuggel. Die Illegalität des Schmuggels erfordert Risikovermeidung für die Akteure, sofern dabei betriebswirtschaftlich kalkuliert und ein Gewinn angestrebt wird. Es wurde gezeigt, dass Risiko durch selektive Vertrauensbeziehungen, die Einbettung in soziale Netzwerke sowie durch die Schaffung und das Teilen lokalen Wissens verringert werden kann. Die Illegalität des Schmuggels erfährt des Weiteren unter Verweis auf die transformationsbedingte schwierige Situation der Region eine öffentliche moralische Legitimierung. Dabei geht die Duldung des Schmuggels nicht nur auf die Spezifik der aktuellen Rahmenbedingungen zurück, sondern sie bildet ein die politische Transformation überschreitendes Kontinuum in Polen, einem Land, in dem Schmuggel eine lange Tradition hat und generelles Misstrauen dem Staat gegenüber bei gleichzeitigem Rückzug in private soziale Netzwerke stark ausgeprägt ist (vgl. S. 30ff.). War der flexible Umgang mit offiziellen Regeln im sozialistischen Polen alltägliche Praxis innerhalb der Mangelwirtschaft, so basiert auch der Schmuggel auf der individuellen Auslegung und dem Umgehen von Gesetzen. Diese Tradition des „Austricksens“ der Obrigkeit, die die traditionellen Legitimationsprobleme der staatlichen Institutionen und der staatlichen Führung in Polen widerspiegelt, mag ebenfalls ein Grund für die hohe moralische Legitimierung der illegalen Tätigkeit des Schmuggels an den polnischen Ostgrenzen sein.
6 Schlussbemerkungen
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Die Wahrnehmung des illegalen Schmuggels als buchstäblich „normale“ Routine führt dennoch nicht zu einer Betrachtung des Schmuggels als eine Tätigkeit wie jede andere, sondern ihre Ausführung bleibt mit Scham besetzt. Der ambivalenten Bewertung von Schmuggel entsprechend ist die Schmuggeltätigkeit für die Schmuggler nichts, worauf sie stolz sind. Dies machte sich an den sich wiederholenden Legitimationsmustern der Schmuggler bemerkbar, in denen auf äußere Zwänge verwiesen wird. Fast alle Interviewpartner gaben an, sofort mit dem Schmuggel aufhören zu wollen, sobald sich ihnen eine finanziell lohnende Alternative bietet; manche von ihnen hatten dies auch schon getan. Schmuggel ist also in den meisten Fällen eine subsidiäre Einnahmequelle. Gleichzeitig ist der Schmuggel auch Beweis für einen aus der Not heraus geborenen Zwang zur Aktivität und Zeichen eines aktiven Umgangs mit der eigenen Armut. Dabei kommt gerade den Schmugglern an der polnisch-russischen Grenze die Rolle von globalisierenden Pionieren zu, da sie als erste die jahrzehntelang hermetisch abgeriegelte Grenze überschritten und die bestehenden grenzüberschreitenden Kontakte zwischen Polen und Kaliningrad angestoßen haben. Diskussion der Bedeutung des Schmuggels für die regionale Entwicklung Die komplexe Diskussion um die Bedeutung des Schmuggels über die polnischrussische Grenze für die wirtschaftliche Entwicklung Bartoszyces kann nicht mit einem eindeutigen Fazit abgeschlossen werden. Vielmehr handelt es sich dabei um ein vielschichtiges und ambivalentes Phänomen. Das aufgezeigte Grenzparadox führte in Bartoszyce zu einer Entwicklung weg von formellen, dauerhaften Arbeitsverhältnissen hin zu einer Ausbreitung des informellen Sektors mit Schwarzarbeit und Schmuggel. Informelle Wirtschaftsstrukturen werden in Bartoszye nicht nur durch den Schmuggel gebildet, sondern ebenso im Rahmen von Angestelltenverhältnissen praktiziert. Auch das mag zu der moralischen Akzeptanz des Schmuggels beigetragen haben (siehe Kapitel 5.1). Die Grenze kompensiert seit ihrer Öffnung durch den Schmuggel die Funktion der nicht mehr existenten staatlichen Arbeitgeber. Zum großen Teil ersetzt sie die komplexen Beschäftigungsstrukturen, die mit der Transformation zusammenbrachen, wie ein Verantwortlicher eines Unternehmerverbandes sagt: „In Bartoszyce ist wirklich alles seit dem Beginn der Demokratie eingestürzt. PGRs, Baufirmen, alles, alles. Hier gab es kein Bedürfnis etwas zu investieren, nur die Grenze, die Grenze, die Grenze.“ Die Konzentration auf die Grenze, also auf den Schmuggel als QuasiMonopolisten, der Beschäftigung und Einkommen garantiert, bringt mit sich, dass die sozioökonomische Situation in Bartoszyce fast ausschließlich vom jeweiligen Grenzregime abhängig ist. Das heißt seit 2004, als die polnisch-russische Grenze
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durch den polnischen EU-Beitritt zu einer EU-Außengrenze wurde, dass die wirtschaftliche Situation in der Stadt sehr eng mit der EU-Politik verquickt ist. Lokalpolitik wird durch EU-Politik gemacht. Der polnische Beitritt zum Staatenbündnis brachte für Bartoszyce ebenfalls ambivalente Konsequenzen mit sich. Zum einen kann die Stadt seither von den EU-Förderungsmöglichkeiten profitieren. Zum anderen aber wirkt sich die damit einhergehende Minderung der Grenzdurchlässigkeit sofort und unmittelbar auf die Arbeitsmarktsituation in der Stadt aus, was aus der Äußerung einer Mitarbeiterin des Arbeitsamtes ersichtlich wird: „Wir haben hier mal den großen Einfluss dieser Grenze bemerkt, weil es diese Phase gab, als die Grenze geschlossen wurde und sofort wuchs uns die Arbeitslosigkeit in diesem Monat, ich weiß nicht, um sogar einige Prozent. Die Leute sahen einfach, dass ihnen ein da ein Weg geschlossen wurde. Ihre Einkommensquelle brach weg, und sofort ließen sie sich bei uns registrieren.“ In der einseitigen Abhängigkeit von einem jener Faktoren, auf denen der Schmuggel beruht, nämlich neben dem Preisgefälle zwischen Russland und Polen die unkomplizierte Durchlässigkeit der Grenze für die Bevölkerung, liegt die Gefahr für die weitere Entwicklung der ostpolnischen Grenzregionen, insbesondere nach dem Beitritt Polens zum Schengenraum. Sollte der Schmuggel als MassenEinnahmequelle wegfallen, gibt es keine Alternative, die den Lebensunterhalt für die vielen Schmuggler garantieren würde. Und selbst wenn es noch über Jahre hinweg möglich sein sollte, Geld durch Schmuggel zu verdienen, hätten die örtlichen Behörden irgendwann mit massiver Altersarmut all derer zu rechnen, die jahrelang gut vom Schmuggel gelebt, derweil aber nicht für ihre Rente vorgesorgt haben. Zwar stellten auch zur Zeit der Datenerhebung Rentner einen erheblichen Anteil aller Schmuggelnden dar, doch diese waren wegen ihrer langen Erwerbsarbeitszeiten und der darauf folgenden Rentenzahlungen vorwiegend nicht existenziell auf den Schmuggel angewiesen. Schon allein deshalb ist es wichtig, nach realen Alternativen für die Schmuggeltätigkeit zu suchen. Ein wichtiges Element bei der Entkoppelung der sozioökonomischen Stadtentwicklung von der Nutzung der Grenze ist die Schaffung gut bezahlter, attraktiver Arbeitsplätze in der Region, die von den erwähnten Kompetenzen der heutigen „Arbeitslosen“ profitieren könnten. Um eine offizielle Einstellung auch für Arbeitgeber interessant zu machen, könnten die Lohnnebenkosten gesenkt und Unternehmen mit staatlichen Förderungen in der Schulung und Qualifizierung von Arbeitnehmern unterstützt werden. Auch eine Verbesserung der Infrastruktur durch Modernisierung von Fernstraßen usw. könnte die Region für Arbeitgeber attraktiver werden lassen. Zu weiteren Perspektiven der Regionalentwicklung gehören außerdem die Stärkung des kaum mehr vorhandenen industriellen Sektors sowie die stärkere Förderung der touristischen Infrastruktur.
6 Schlussbemerkungen
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Schmuggel als Problem oder Lösung? Schmuggel ist nicht nur prägend für Bartoszyce, sondern ist in allen Gemeinden nahe der polnisch-russischen Grenze und in ähnlicher Form auch an der polnischbelarussischen und polnisch-ukrainischen Grenze anzutreffen. Um es noch einmal zu betonen: Beim Schmuggel handelt es sich um ein gesamtgesellschaftlich relevantes Phänomen, das statt exotisierender medialer Aufmerksamkeit vermehrt politische Berücksichtigung finden sollte, wenn es um die spezifische Förderung grenznaher polnischer Gebiete nahe der östlichen EU-Außengrenze geht. Stellt die massive Schmuggeltätigkeit der Einwohner der Grenzregionen denn nun ein Problem oder eine Lösung dar? Bedeutet Schmuggel die Rettung vor der absoluten Armutsfalle oder ist er eine Sackgasse ohne Wendemöglichkeit? Die Ergebnisse dieser Arbeit zeigen, dass diese Frage sowohl mit Ja als auch mit Nein beantwortet werden kann. Die meist prekären und unsicheren einkommensgenerierenden Bedingungen der Schmuggler werden von ihnen als vorteilhafter als gar keine einkommensgenerierende Tätigkeit gesehen, aber als nachteiliger als eine geregelte, den Lebensunterhalt nachhaltig sichernde Erwerbstätigkeit. Wie gezeigt, kann Schmuggel je nach allgemeiner Lebenssituation, verfügbaren Netzwerken und finanzieller Abhängigkeit von ihm für den Einzelnen Sackgasse oder Rettung bedeuten. Fakt ist, dass die Ausübung der Schmuggeltätigkeit viel Energie kostet und den Schmugglern bestimmte Kompetenzen abverlangt (vgl. S. 95). Sowohl für die Schmuggler als auch für die grenznahen Regionen wäre es ein Gewinn, wenn diese Energien statt in die Schmuggeltätigkeit in Normalarbeitsverhältnisse vor Ort fließen könnten und das Arbeitskräftepotenzial, das die große Zahl der Schmuggler darstellt, für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung genutzt werden könnte. Bis die dafür notwendigen Arbeitsplätze aber nicht entstanden sind, hätte es fatale Folgen für die vom Schmuggel lebenden Haushalte, wäre diese Einkommensquelle plötzlich nicht mehr nutzbar. Insbesondere nach dem polnischen Beitritt zum Schengener Abkommen droht die Gefahr eines weiteren wirtschaftlichen Niedergangs der grenznahen Gebiete, eben durch die Erschwerung des Schmuggels. Umso dringender erscheint die zeitnahe Schaffung gut bezahlter Arbeitsplätze in den grenznahen Regionen. Bis dahin unterstützt die Berliner Cafébesitzerin mit ihrem Kauf von geschmuggelten „Jin Ling“ Zigaretten zwar die organisierte Kriminalität, aber auch die durch die polnische Systemtransformation weitgehend stabiler Zukunftsaussichten beraubten Menschen an der polnisch-russischen Grenze.
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