Veræffentlichungen des Instituts fçr Deutsches, Europåisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitåten Heidelberg und Mannheim
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Herausgegeben von Gærg Haverkate, Thomas Hillenkamp, Lothar Kuhlen, Adolf Laufs, Eibe Riedel, Jochen Taupitz (Geschåftsfçhrender Direktor)
Thomas Hillenkamp ´ Brigitte Tag (Herausgeber)
Intramurale Medizin ± Gesundheitsfçrsorge zwischen Heilauftrag und Strafvollzug
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Reihenherausgeber Professor Dr. Gærg Haverkate Professor Dr. Dr. h.c. Thomas Hillenkamp Professor Dr. Lothar Kuhlen Professor Dr. Dr. h.c. Adolf Laufs Professor Dr. Eibe Riedel Professor Dr. Jochen Taupitz (Geschåftsfçhrender Direktor) Bandherausgeber Professor Dr. Dr. h.c. Thomas Hillenkamp Ruprecht-Karls-Universitåt Heidelberg Lehrstuhl fçr Strafrecht und Strafprozessrecht Friedrich-Ebert-Anlage 6±10 69117 Heidelberg
[email protected] Professor Dr. iur. utr. Brigitte Tag Universitåt Zçrich Lehrstuhl fçr Strafrecht und Strafprozessrecht Rechtswissenschaftliches Institut Freiestraûe 15 8032 Zçrich
[email protected] ISSN 1617-1497 ISBN-10 3-540-26635-6 Springer Berlin Heidelberg New York ISBN-13 978-3-540-26635-8 Springer Berlin Heidelberg New York Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet çber
abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschçtzt. Die dadurch begrçndeten Rechte, insbesondere die der Ûbersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfåltigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfåltigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulåssig. Sie ist grundsåtzlich vergçtungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de ° Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wåren und daher von jedermann benutzt werden dçrften. Umschlaggestaltung: Erich Kirchner, Heidelberg SPIN 11507642
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Vorwort Krankheit ist kein Schutz gegen Straffälligkeit. Straftaten werden daher auch von Menschen begangen, die nicht anders als andere Menschen unter körperlichen oder geistigen Erkrankungen leiden. Krankheit schützt in der Regel auch nicht vor Strafe. Werden erkrankte Menschen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, nehmen sie ihre Krankheit hinter die Gefängnismauern mit. Auch der Strafvollzug schützt nicht vor Krankheit, Knast selbst macht nicht selten krank. Deshalb bleiben gesund einrückende Straftäter nicht notwendig von Krankheit verschont. Es versteht sich daher von selbst, dass die medizinische Versorgung der Strafgefangenen innerhalb der Gefängnismauern gewährleistet sein muss. Die Intramurale Medizin, die das leistet, steht mit ihren Einrichtungen, Strukturen und Problemen im Spannungsfeld zwischen Medizin und Recht unter den besonderen Bedingungen des Strafvollzugs. Die daraus erwachsenden Fragen in einem interdisziplinären Gespräch sichtbar zu machen, Defizite aufzudecken und Anstöße für Wissenschaft, Praxis und Kriminalpolitik zu geben, war Ziel eines Symposions, das im Januar 2005 in der Alten Aula der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg stattfand. An diesem von der DFG geförderten und von der LÄK Baden-Württemberg als Fortbildungsveranstaltung für Ärzte anerkannten Rundgespräch, zu dem sich über 100 Gäste aus Wissenschaft, Ministerialverwaltungen und namentlich dem Strafvollzug einfanden, haben sich 26 Expertinnen und Experten aus den beteiligten Fachdisziplinen mit Referaten und Statements beteiligt, die in dem hier vorgelegten Band zusammengefasst sind. Die Veranstalter des Symposions und Herausgeber dieses Bandes danken allen, die mit Referaten, Statements und Diskussionsleitungen das Symposion mitgestaltet und uns ihre Manuskripte überlassen haben. Unser Dank gilt aber auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die durch ihre tatkräftige Unterstützung die Vorbereitung und Durchführung des Symposions und die Herstellung dieses Bandes ermöglicht haben. Es waren dies aus Heidelberg die Ref. Anne Käßner, Sybille Knörzer und Thomas Seibert, die studentischen Hilfskräfte Anke Barnick, Hella Bickmann, Joachim Kannegießer und Holger Scherer und die Sekretärinnen des Instituts für Kriminologie Elisabeth Leitner und Marlis Peters-Hofmann sowie aus dem Institut für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim die wissenschaftlichen Mitarbeiter Dr. Marcus Oehlrich, Andreas Pitz und Carmen Rösch, sowie die studentischen Hilfskräfte Anne Laspeyres, Katharina Teske und Christian Wermke. Ganz besonderen Dank schulden wir aber vor allem Frau Bri-
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Vorwort
gitte Seib, die als Sekretärin des Heidelberger Lehrstuhls für Strafrecht und Strafprozessrecht die Organisation des Symposions mit Übersicht und Perfektion gemeistert hat. Heidelberg und Zürich im April 2005
Thomas Hillenkamp Brigitte Tag
Inhaltsverzeichnis Thomas Hillenkamp Begrüßung................................................................................................................1 Peter Hommelhoff Grußwort...................................................................................................................5 Jochen Taupitz Grußwort...................................................................................................................7
1. Tagungsabschnitt Grundsatzfragen der Gesundheitsfürsorge im Strafvollzug Thomas Hillenkamp Der Arzt im Strafvollzug – Rechtliche Stellung und medizinischer Auftrag.....................................................................................11 Wolfgang Riekenbrauck Statement................................................................................................................31 Bernd-Dieter Meier Ärztliche Versorgung im Strafvollzug: Äquivalenzprinzip und Ressourcenknappheit........................................................35 Klaus J. Fritsch Statement................................................................................................................57 Axel Boetticher Einwilligung und Aufklärung in der Strafvollzugsmedizin..............................................................................................61 Knut Amelung Statement................................................................................................................81 Brigitte Tag Das Arztgeheimnis im Strafvollzug.......................................................................89
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Inhaltsverzeichnis
Rüdiger Wulf Statement..............................................................................................................107
2. Tagungsabschnitt Einzelfragen der Gesundheitsfürsorge im Strafvollzug Bettina Kirschke Geschlossener Vollzug und freies Beschäftigungsverhältnis – Zwei-Klassen-Medizin?........................................................................................121 Görg Haverkate Statement..............................................................................................................139 Klaus Foerster Psychisch Kranke im Strafvollzug.......................................................................143 Hans Eugen Bisson Statement..............................................................................................................159 Karlheinz Keppler Gefängnismedizin im Frauenvollzug....................................................................169 Klaus Laubenthal Sucht- und Infektionsgefahren im Strafvollzug....................................................195 Gisela Dahl Statement..............................................................................................................213 Christian Laue Zwangsbehandlung im Strafvollzug.....................................................................217 Frank Arloth Statement..............................................................................................................239 Ralph Ingelfinger Strafrechtliche Risiken des Anstaltsarztes............................................................247 Joachim Walter Statement..............................................................................................................259
Inhaltsverzeichnis
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3. Tagungsabschnitt Schlussbemerkungen Heinz Schöch Schlussbemerkung................................................................................................273 Adolf Laufs Schlussbemerkung................................................................................................279 Heinz Müller-Dietz Schlussbemerkung................................................................................................281 Horst Schüler-Springorum Schlussbemerkung................................................................................................287 Hans-Dieter Schwind Schlussbemerkung................................................................................................289 Dieter Dölling Schlussbemerkung................................................................................................295 Rainer Rex Schlussbemerkung................................................................................................297 Autorenverzeichnis...............................................................................................301
Begrüßung Thomas Hillenkamp
Magnifizenz, Spectabilis, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Begrüßung – die ich zugleich im Namen von Frau Kollegin Tag an Sie richte – muss kurz ausfallen: wir haben ein dicht, ein sehr dicht gedrängtes Programm. Ich freue mich, Sie zu unserem Symposion über Intramurale Medizin in Heidelberg willkommen heißen zu können. Dabei ist die Alte Aula, in der wir tagen, ein Stückchen Spiegel unseres Programms. Zwar findet sich mit der Inschrift „Semper apertus“ – Sie sehen sie auf den Tafeln des Brüstungsgitters links und rechts an den Balkonen – ein Wahlspruch, der die Universität gewiss besser kennzeichnet als den Strafvollzug, der bekanntlich nicht immer offen ist. Aber Sie finden in den vier in quadratische Rahmenfelder eingelassenen Tondi an der Kassettendecke über Ihnen Allegorien auch jener beiden Fakultäten, die neben der Theologie und der Philosophie zu den bereits 1386 hier vorhandenen gehörten: Sinnbilder der Jurisprudenz und der Medizin. Und eben diese beiden Fachgebiete möchten wir in unserem von der DFG geförderten und von der LÄK Baden-Württemberg als Fortbildungsveranstaltung anerkannten Rundgespräch zu einem interdisziplinären Diskurs zusammenführen. Das geschieht auf einem Feld, das von beiden Disziplinen zu bestellen ist, und das deshalb mehr als manches andere auf fachlichen Austausch und gegenseitiges Verständnis, an dem es zwischen Juristen und Medizinern bekanntlich bisweilen fehlt, angewiesen ist. Und deshalb freue ich mich, dass wir nicht nur für unsere Referate und Statements namhafte Vertreter und Vertreterinnen beider Disziplinen gewinnen konnten – die ich hiermit herzlich begrüße –, sondern auch darüber, dass unser Publikum aus beiden Fachrichtungen und vor allem aus der Praxis kommt. An Sie möchte ich die ausdrückliche Einladung aussprechen, das Symposion durch Ihre Diskussionsbeiträge zu einem auch
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Thomas Hillenkamp
in diesem Sinne „unseren“ zu machen, auch wenn dafür nur ein sehr karges Zeitbudget zur Verfügung steht. Wir haben – meine Damen und Herren – mit unserer Thematik das Rad nicht erfunden. 1996 hat die Evangelische Akademie Bad Boll eine Tagung zur „Gesundheitsfürsorge im Gefängnis“ veranstaltet, an der Herr Kollege Müller-Dietz und Herr Dr. Bisson – beide heute bei uns – schon teilnahmen. 1999 fand in Berlin ein von der Kaiserin-Friedrich-Stiftung veranstaltetes Symposion über „Medizinische Probleme des Strafvollzugs“ statt, auf dem Herr Dr. Riekenbrauck und auch der hier im Publikum anwesende Herr Dr. Rex referiert haben. In Fribourg haben im Jahr 2000 Kollegen aus der Schweiz über „Medizin und Freiheitsentzug“ getagt. Wir möchten den Lauf dieses Rades aufnehmen, seine Spur verbreitern und ihm in Wissenschaft und Praxis deutlicher beachteten Schwung verleihen. Denn die Thematik lohnt es. Das gilt zunächst um der Menschen willen, die in sie involviert sind. Und damit meine ich nicht nur die den aufopferungsvollen und schweren medizinischen Dienst verrichtenden Ärztinnen und Ärzte im Vollzug auf der einen, und die erhebliche Verantwortung tragenden Juristen und Juristinnen in den Anstalten und Ministerien auf der anderen Seite, sondern namentlich auch die Gefangenen, deren im doppelten Sinne des Wortes „Behandlung“ im Vollzug als Seismograph der gesellschaftlichen Verfasstheit unseres Menschenbildes gelten kann. Wir sind nicht nur, wie die ehemalige niedersächsische Justizministerin Alm-Merk es einmal ausgedrückt hat, verpflichtet, „Gefangene nicht kranker aus dem Vollzug zu entlassen, als sie hineingekommen sind“, sondern wir sollten Gesundung, Gesunderhaltung und in die Zukunft gerichtete Gesundheitsförderung als Teil der Aufgabe begreifen, Selbstbestimmung und Verantwortung im Umgang mit sich selbst als eine Grundlage für das Bestehen in Freiheit schon im Vollzug zu stärken. Wenn dabei der Strafvollzug – was Hermann Kriegsmann in seiner 1912 in Heidelberg erschienenen „Einführung in die Gefängniskunde“ noch als Warnung verstand – die Strafanstalt in gesundheitlicher Sicht zum „Dorado der ärmeren Klasse der Bevölkerung“ werden sollte, hätte ich dagegen nichts einzuwenden. Die Thematik lohnt sich aber auch aus wissenschaftlicher Sicht. Das werden unsere Diskussionen erweisen. Die Integration der Gesundheitsfürsorge in den auf juristische Absicherung bedachten Vollzug ist schon für sich genommen ein Konstrukt mit manchen Tücken. Es verändert die Dimensionen von Einwilligung und Aufklärung, trägt Brüche in die Schweigepflicht, wirft Haftungs- und Strafbarkeitsrisiken eigener Art und auch Fragen der Zwangsbehandlung auf. Und es muss unter dem Diktat knappster Ressourcen einer „draußen“ so nicht vorfindbaren Ballung von Problemgruppen, wie psychisch Kranken, Sucht- und Infektionsgefährdeten, aber auch den Spezifika der Frauen im Vollzug mit ärztlich vertretbaren Lösungen begegnen. Dabei zerfällt das ohnehin schwierige „Patientengut“ in zwei sehr unterschiedlich versorgte Welten: den normalen Vollzug und das freie Be-
Begrüßung
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schäftigungsverhältnis. All das lohnt es, einer kritischen Reflektion zu unterziehen. Unser Thema ist schließlich in die wachsende Internationalisierung der Kriminalund Vollzugspolitik eingebunden. Wir können uns den daraus erwachsenden Herausforderungen nicht versagen. Schon die 1955 von den Vereinten Nationen angenommenen „Standard Minimum Rules for the Treatment of Prisoners“ haben den Angleichungsgrundsatz zum Programm gemacht, das UN-Projekt „Health in Prisons“ trägt wie die im Herbst 2004 in Bonn abgehaltene 1. Europäische Konferenz zur Gesundheitsförderung in Haft den Gedanken allgemeiner Gesundheitsförderung in vielen Ländern in die von uns reflektierte Institution. Die „Europäischen Vollzugsgrundsätze“ von 1987 – selbst schon mit Aussagen zur Gesundheitsförderung versehen – haben durch eine Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates über ethische und organisatorische Aspekte der Gesundheitsversorgung im Gefängnisbereich aus dem Jahre 1998 noch konkretere Vorgaben erhalten, an denen wir die Gesundheitsfürsorge innerhalb der deutschen Gefängnismauern messen müssen. Bevor ich – meine Damen und Herren – Magnifizenz Hommelhoff und den Geschäftsführenden Direktor unseres Heidelberg-Mannheimer Medizinrechtsinstituts, Herrn Kollegen Taupitz, um ihr freundlicherweise zugesagtes Grußwort bitte, lassen Sie mich meine wenigen Worte mit einer Begrüßung unserer Sektionsleiter abschließen. Ich freue mich, mit Heinz Schöch und Dieter Dölling zwei noch im aktiven Geschirr befindliche Kollegen begrüßen zu können, die das – man muss heute sagen – vormalige Wahlfach Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug, das jetzt in leicht veränderter Form in ein Schwerpunktfach verwandelt ist, in München und in Heidelberg betreuen; ich freue mich aber auch und besonders, dass ich mit Adolf Laufs unseren großen Heidelberger Medizinrechtler und mit Heinz Müller-Dietz, Horst Schüler-Springorum und Hans-Dieter Schwind drei weitere Emeriti begrüßen darf, die alle zusammen ihren großen Erfahrungsschatz und ihre Sachkunde aus langen Lebensjahren in unser Symposion einbringen werden und unserer Veranstaltung mit ihren Namen Glanz verleihen. Dazu erlaube ich mir, Herrn Schüler-Springorum ein besonders herzliches Willkommen zu sagen, war er es doch, der zu meinen Studienzeiten den Strafvollzug als Wissenschaft nach Göttingen brachte und mich und andere auf dieses wichtige Feld erst aufmerksam gemacht hat. Ich danke Ihnen allen für Ihr Kommen und wünsche uns einen lebhaften und anstoßgebenden Gedankenaustausch.
Grußwort Peter Hommelhoff
Meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrte und liebe Damen und Herren Kollegen, liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, im Namen der Ruprecht-Karls-Universität begrüße ich Sie herzlich in der Alten Aula zum Symposion „Intramurale Medizin – Gesundheitsfürsorge zwischen Heilauftrag und Strafvollzug“ und wünsche Ihren Verhandlungen einen erfolgreichen Verlauf und weitertragende Ergebnisse. In welchem Spannungsverhältnis facettenreich der ärztliche Heilauftrag und die Erfordernisse des Justizvollzuges zueinander stehen, weiß ich selbst aus monatelangen Diskussionen um die Zwangsernährung hungerstreikender RAF-Häftlinge. Die Komplexität der Probleme und Fragen, die mit der intramuralen Medizin verbunden sind, erfordert nicht bloß ihre wissenschaftliche Durchdringung, sondern diese in einem interdisziplinären Dialog, für den eine Universität vom Zuschnitt der Heidelberger eine ideale Plattform liefern kann. In diesem Symposion kommt ein weiteres Mal die Stärke der Ruperto Carola zum Tragen, nicht eine bloße Ansammlung unverbundener, also aequidistanter Einzeldisziplinen zu sein, sondern diese stets aufs Neue in der universitas literarum scientiariumque kunstvoll zu verknüpfen. Hierfür möchte ich den Initiatoren, Herrn Kollegen Hillenkamp und Frau Kollegin Tag aus Zürich herzlich danken und heiße Sie, liebe Frau Tag, gern willkommen in Ihrer alten alma mater. In diesem Symposion präsentiert sich die Ruprecht-Karls-Universität in einem ihrer Profil gebenden Schwerpunkte, wie ihn Herr Altrektor Adolf Laufs vor langer Zeit begründet hat. Er hatte damals maßgeblich mit dazu beigetragen, die Rechtsmedizin als Fach in Deutschland zu etablieren. Im neuen Wissenschaftsjargon wird man Sie, hochverehrter, lieber Herr Laufs, gewiss als Leuchtturm bezeichnen dürfen; seien Sie an Ihrer alten Wirkstätte ganz besonders herzlich willkommen geheißen. Das Medizinrecht erwuchs in dieser Region Rhein-Neckar zum Vehikel einer hier bislang einzigartigen Kooperation zwischen den Universitäten Heidelberg und Mannheim im Institut für Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik dieser beiden Universitäten, im IMGB. Leider ist es der Heidelberger Fakultät nicht
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Peter Hommelhoff
gelungen, Sie, lieber Herr Kollege Taupitz, in Mannheim als Nachfolger von Herrn Laufs abzuwerben. Deshalb freut es mich umso mehr, dass die Juristische Fakultät Heidelberg ebenso wie die in Mannheim an der Kooperation festhalten und dies erste (und hoffentlich nicht letzte) interuniversitäre Institut zwischen Heidelberg und Mannheim fortführen wollen. Heidelberg wird in dies Institut unverändert das Strafrecht einbringen und sich hierauf konzentrieren. Besonders herzlich möchte ich in Ihrem Kreis die Damen und Herren aus der Praxis begrüßen. Wissenschaftlich lässt sich das Gebiet der intramuralen Medizin nur im intensiven und andauernden Dialog mit der Praxis durchdringen, in Auseinandersetzung mit den spezifischen Erfahrungen, die in den Justizvollzugsanstalten und in den Krankenanstalten des Strafvollzuges täglich gesammelt werden. Diese Erfahrungen sind auch und vor allem in einer Universität unverzichtbar, die sich betont der Grundlagenforschung verschrieben hat. Ihre Anwendungsferne darf sie nicht zum Elfenbeinturm erstarren lassen. Auch Grundlagenforschung braucht Impulse aus der Praxis und ist darauf angewiesen, in die Praxis hineinwirken zu können. Geboten ist dieser Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis auch im Bereich der intramuralen Medizin, wie ich aus langen Gesprächen mit meiner Mutter weiß – Gefängnisärztin im Hamburger Zentralkrankenhaus und in Fuhlsbüttel. Wie sehr hätte ich mir gewünscht, dass sie an Ihrem Symposion teilnehmen kann. Sie werden diesen Gedankenaustausch hier in Heidelberg national beginnen, um ihn sodann in Zürich zu internationalisieren – eine verheißungsvolle Perspektive für die „Intramurale Medizin“; viel Erfolg!
Grußwort Jochen Taupitz
Magnifizenz, meine sehr geehrten Damen und Herren, zwei konkurrierende Universitäten – ein gemeinsames Institut, so lautet das Konzept, das hinter dem Institut für Medizinrecht der Universitäten Heidelberg und Mannheim steht. Als Geschäftsführender Direktor dieses Instituts freue ich mich, dass ein Kollege unseres Direktoriums, Herr Professor Hillenkamp, die Initiative ergriffen hat, Rechtsfragen der Gesundheitsfürsorge im Strafvollzug erstmals in einem größeren Zusammenhang zu diskutieren. Er hat die Initiative zur Durchführung des Symposions „Intramurale Medizin“ ergriffen, das unter Beteiligung eines hochkarätigen Kreises von Wissenschaftlern und Praktikern heute und morgen in diesen wunderschönen Räumen der Universität Heidelberg stattfinden wird. Und ich möchte Sie, die Teilnehmer und Zuhörer des Symposions, auch im Namen der übrigen Direktoren des Instituts auf das Herzlichste willkommen heißen. Das Thema des Symposions lautet „intramurale Medizin“. Ich bin gespannt, ob sich diese – wenn ich es richtig sehe – erstmals auf dem heutigen Symposion in einem breiteren Kontext verwendete Bezeichnung für die Gefängnismedizin allgemein durchsetzen wird. Immerhin weckt der Begriff „intramurale Medizin“, wörtlich übersetzt also „Medizin in den Mauern“, auch die medizinhistorische Assoziation, dass ein Gegensatz zur früher sehr verbreiteten Ausübung der Heilkunde im Umherziehen ausgedrückt werden soll. Und immerhin wird diese Ausübung der Heilkunde im Umherziehen noch immer als Problem des ärztlichen Standesrechts gesehen, wie es die ärztlichen Berufsordnungen mit ihren einschlägigen Vorschriften nachdrücklich beweisen1. Ob die heute zulässige Ausübung ärztlicher Praxis an mehreren Orten2 ebenso wie die inzwischen zugelassenen „überörtlichen Praxisgemeinschaften“, die auch dem einzelnen Arzt einen Wechsel des Berufsausübungsortes ermöglichen3, nicht weithin auf das Gleiche hinaus1
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Vorbildhaft für die Berufsordnungen der einzelnen Ärztekammern § 17 Abs. 3 S. 1 der Musterberufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte gemäß den Beschlüssen des 107. Deutschen Ärztetages 2004. Vgl. § 17 Abs. 2 S. 1 Musterberufsordnung. Vgl. § 18 Abs. 3 Musterberufsordnung.
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Jochen Taupitz
laufen (wenn auch das Ganze „in den Mauern“ von „ortsfesten“ „Niederlassungen“ geschieht), will ich nur am Rande als vorsichtige Frage in den Raum stellen. Wie dem auch sei, mit dem Symposion zeigen wir jedenfalls, dass die Rechtswissenschaft, die im Institut für Medizinrecht betrieben wird, nicht hinter verschlossenen Mauern, also im sprichwörtlichen Elfenbeinturm, stattfindet. Das heutige Symposion setzt denn auch eine Reihe von Veranstaltungen fort, die zum Teil hier in Heidelberg, zum Teil in Mannheim, aber beispielsweise auch in Göttingen, Regensburg, Tokio und Seoul unter maßgeblicher Beteiligung unseres Instituts durchgeführt wurden. Mit dem heutigen Symposion wenden wir uns einer Fülle von wissenschaftlich interessanten und praktisch bedeutsamen Fragen zu. Ein Ausschnitt aus dem großen Themenspektrum lässt sich unter der Überschrift „Visite beim Knastdoktor“ zusammenfassen, wie es Walter Schmidt in einem kürzlich erschienenen Beitrag in der Zeitung „Die Zeit“ getan hat. Hinter Gittern haben weder Arzt noch Patienten die freie Wahl. Hinter Gittern ist die Motivationslage der Patienten oft eine andere als jenseits der Mauern; sie reicht von Ablehnung über Apathie und psychische Krankheiten bis hin zum Versuch, durch vorgetäuschte Krankheiten Vergünstigungen im Knastalltag zu erlangen. Hinter Gittern ist auch die Frage der Zwangsbehandlung unter Umständen anders zu beantworten, als dies bezogen auf freie Bürger der Fall ist. Und wie steht es etwa mit der ärztlichen Schweigepflicht, wenn ein Knastbruder dem Arzt von einem Verbrechen erzählt, für das ein anderer einsitzt? Wie ist es schließlich mit den Sparzwängen, die wir auf dem freien Gesundheitsmarkt allenthalben beklagen: Machen sie vor den Gefängnismauern halt, etwa weil der Staat eine besondere Fürsorgepflicht für die Strafgefangenen hat? Werden also Verbrecher besser versorgt als unbescholtene Bürger, die sich die Fahrt zum Arzt und die notwendigen Gesundheitsleistungen nicht leisten können? Meine sehr geehrten Damen und Herren, da Sie zu dem heutigen Symposion gekommen sind, erspare ich es mir, Sie näher auf die Themen der Veranstaltung einzustimmen. Denn Ihre Neugier ist ja ganz offenkundig bereits zuvor geweckt worden – ganz abgesehen davon, dass die meisten von Ihnen sehr viel mehr von den Dingen verstehen als ich und mich Herr Hillenkamp vielleicht gerade deshalb um lediglich kurze Begrüßungsworte gebeten hat. Freuen wir uns vielmehr gemeinsam auf die Vorträge und Diskussionen der nächsten zwei Tage. Freuen wir uns darauf, dass wir die Vorträge und Zusammenfassungen der Diskussionen später noch einmal in der Schriftenreihe des Instituts werden nachlesen können. Freuen wir uns aber auch auf die Pausengespräche und fachlichen Kontakte abseits der öffentlichen Diskussionen; denn auch sie tragen ganz maßgeblich zum Ertrag einer Veranstaltung bei und sind nicht selten sogar der eigentliche Grund, wissenschaftliche Tagungen zu besuchen. In diesem Sinne wünsche ich uns allen zwei spannende, anregende und ertragreiche Tage. Vielen Dank.
1. Tagungsabschnitt: Grundsatzfragen der Gesundheitsfürsorge im Strafvollzug
Der Arzt im Strafvollzug – Rechtliche Stellung und medizinischer Auftrag Thomas Hillenkamp
I. Der Arzt im Strafvollzug bestellt ein schwieriges Feld. Es ist in die Problem- und Mangellagen eingebettet, die den Vollzug als Ganzes belasten. Überbelegung und drangvolle Enge, Personalknappheit, Bau-, Ausstattungs- und Sicherheitsdefizite, die Vielzahl von Dokumentations- und Verwaltungsabläufen, das alles sind Rahmenbedingungen, unter denen der Strafvollzug schon allgemein, aber auch die Gesundheitsfürsorge als sein integraler Bestandteil leiden. Eine veränderte Gefangenenpopulation mit zunehmender Gewaltbereitschaft und einem Verständigungsund Integrationsprobleme aufwerfenden hohen Ausländeranteil1 ist von einem an der „Belastungsgrenze“ stehenden Vollzugspersonal zu betreuen. Überschreitungen dieser Grenze sind auch darauf zurückzuführen, dass einem hohen Krankenstand dieser Gruppe, der von den auf das Personal einströmenden mannigfachen Stressfaktoren ausgelöst wird, bislang nur mit eher zaghaften Ansätzen einer betrieblichen Gesundheitsförderung im Vollzug begegnet wird.2 Das Sanitätspersonal im Vollzug, das im Wechseldienst die aufwändige Krankenpflege und Arzneimittelausgabe gegenüber den mit Unfreiheit und Krankheit doppelt belasteten
1
2
S. die Übersichten bei G. Kaiser/H. Schöch, Strafvollzug. Eine Einführung in die Grundlagen, 5. Aufl., Heidelberg 2003, § 10 Rn 20; K. Laubenthal, Strafvollzug, 3. Aufl., Berlin/Heidelberg 2003, Rdnr. 75. S. zum Krankenstand G. Kaiser/H. Schöch, Strafvollzug, 5. Aufl., Heidelberg 2002, § 3 Rdnr. 40; zur Notwendigkeit der Gesundheitsförderung auch gegenüber dem Personal s. J. Herzog, Betriebliche Gesundheitsförderung (auch) im Justizvollzug!, in: G. Rehn/R. Nanning/A. Thiel (Hrsg.), Freiheit und Unfreiheit, Herbolzheim 2004, S. 510 ff; W. Nafzger, Burnout und Gesundheit des Vollzugspersonals, in: N. Queloz/F. Riklin/A. Senn/P. de Sinner (Hrsg.), Medizin und Freiheitsentzug, Bern 2002, S. 203 ff.; auch der sog. „setting-Ansatz“ der WHO umgreift im Health-in-Prisons-Projekt das Personal, das Interesse richtet sich aber vorerst vornehmlich auf die Gesundheitsförderung der Gefangenen, s. dazu z. B. H. Stöver, Healthy-Prisons: Strategien der Gesundheitsförderung im Justizvollzug, Oldenburg 2000, S. 13 f., 45 ff.; K. Tielking/S. Becker/H. Stöver, Entwicklung gesundheitsfördernder Angebote im Justizvollzug, Oldenburg 2003, S. 40 f., 59 f., 71 ff.
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Thomas Hillenkamp
Patienten leistet und die ärztliche Sprechstunde unterstützt, ist hiervon nicht anders als das allgemeine Vollzugspersonal betroffen. Die 68. Konferenz der Justizministerinnen und -minister, von der diese Mangelliste in Teilen stammt, zählte 1997 das Anwachsen „schwieriger Gefangenengruppen“ wie „Drogenabhängige und HIV-Infizierte, Sexual- und Gewalttäter sowie psychisch auffällige Gefangene“ zu diesen Grundproblemen hinzu. 3 Will man das Bild insoweit vervollständigen, muss man neben den Drogenkonsumenten die Alkohol- und Medikamentenabhängigen nennen, darf neben den HIV-Infizierten und Aids-Kranken die Mitinsassen und Personal eher stärker gefährdenden Hepatitis- und Tuberkuloseträger nicht vergessen, hat unter den psychisch Auffälligen an einen hohen Anteil Suizidgefährdeter zu erinnern und muss schließlich neben die Ausländer die quantitativ zwar deutlich kleineren, vollzuglich und gesundheitlich qualitativ aber kaum minder schwierigen Problemgruppen der Alten, der Behinderten und auch der im Vollzug mit spezifischen Problemen konfrontierten Frauen stellen.4 Listet man die Dinge so auf, wird bestätigt, was Friedrich Leppmann in seinem Buch „Der Gefängnisarzt“ schon 1909 einleitend hervorgehoben hat: dass nämlich „ein Arbeiten mit so eigenartigem Menschenmaterial und unter so besonderen äußeren Bedingungen wie in den Anstalten“ für den Arzt im Vollzug Voraussetzungen schafft, die „eine Vereinigung mannigfacher Kenntnisse und Erfahrungen verlangt, die von der allgemeinen ärztlichen Praxis großenteils weit abseits liegen“.5 Auf diese Einsicht komme ich zurück. Es ist aber nicht nur die defizitäre räumliche, personelle und in den Krankenabteilungen oft auch spärliche apparative Ausstattung des Vollzugs 6 und die hierdurch 3
4
5 6
S. den Bericht über die Beschlüsse der 68. Justizministerkonferenz vom 11./12. Juni 1997 in: ZfStrVo 1997, S. 296 ff.; die fehlende „betriebliche Gesundheitsförderung“ wird hier allerdings nicht thematisiert. Überblicke über die im Vollzug versammelten „Problemgruppen“ finden sich z. B. bei F. Arloth/C. Lückemann, Strafvollzugsgesetz, Kommentar, München 2004, § 56 Rn 4 ff.; A. Böhm, Strafvollzug, 3. Aufl., Neuwied 2003, Rdnrn. 234 ff., 239 ff.; A. Boetticher/H. Stöver, in J. Feest (Hrsg.), Alternativkommentar Strafvollzugsgesetz, 4. Aufl. Neuwied 2000, vor § 56 Rdnrn. 12, 25 ff.; R. Rex, Die Stellung des Arztes im Justizvollzug – Staatlicher Strafanspruch, rechtstaatlich garantierte Individualinteressen, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 258, 261 ff.; U. Romkopf/W. Riekenbrauck, in: H.-D. Schwind/A. Böhm, Strafvollzugsgesetz, 5. Aufl. Berlin 1999, § 56 Rdnrn. 4 ff. S. auch die Empfehlung R (98) 7 des Ministerkomitees des Europarates über ethische und organisatorische Aspekte der Gesundheitsfürsorge im Gefängnisbereich vom 8. April 1998, abgedruckt in: Bundesamt für Justiz, Bern, Informationen über den Straf- und Maßnahmenvollzug, 2/98, S. 25 ff. sowie – mit Kommentar – in: N. Queloz/F. Riklin/A. Senn/P. de Sinner (Hrsg.), Medizin und Freiheitsentzug, Bern 2002, S. 229 ff., 253 ff. F. Leppmann, Der Gefängnisarzt, Berlin 1909, S. 1. S. dazu die Antwort der Niedersächsischen Landesregierung vom 9.7.2004 (Nds. Landtag, DS 15/1192, S. 1, 4 ff.) auf eine kleine Anfrage der Grünen zur Gesundheitsversorgung in den niedersächsischen Strafvollzugsanstalten, in der schon einleitend auf die „begrenzten finanziellen Ressourcen“ und auf „deutliche Grenzen in älte-
Der Arzt im Strafvollzug – Rechtliche Stellung und medizinischer Auftrag
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noch schwerer gemachte Bewältigung der gegenüber der Allgemeinbevölkerung ganz ungewöhnlichen Ballung hochkomplexer und vielfach ja nicht nur den Patienten, sondern auch das mit ihm eingeschlossene Umfeld bedrohenden Krankheitsbefunde und Abläufe, was den ärztlichen Dienst innerhalb der Gefängnismauern so schwer macht. Vielmehr wird man hierzu auch das Dilemma rechnen müssen, das aus dem „Spannungsverhältnis zwischen Behandlungs- und Sicherungsauftrag“7 des Vollzugs unter solchen Bedingungen erwächst. Es zeigt sich etwa dann, wenn die optimale Diagnostik oder Therapie intramural nicht möglich, medizinisch aber auch nicht eindeutig indiziert und es deshalb in das Ermessen des Arztes gestellt ist, die Inanspruchnahme extramuraler Dienste durch Ausführung oder Verlegung bei der Anstaltsleitung einzufordern. Kosten, Personalaufwand und ein oft erhebliches Sicherheitsrisiko, dazu unfreundliche Erfahrungen mit Berührungsängsten und daraus resultierender Aufnahmeverweigerung außervollzuglicher Institutionen befördern die Maxime, der intramuralen Versorgung in der Breite und Spezialisierung mehr abzuverlangen oder zuzutrauen, als sie zu leisten vermag.8 Dann wird es unter Umständen riskant für den Patienten, wie für den Arzt. Umgekehrt mag sich unter einer der juristischen Rundumabsicherung penibel den Vorrang einräumenden und den Anstaltsarzt hierauf verpflichtenden Anstaltsleitung eine „Defensivmedizin“ entwickeln, die mal dem Gefangenen nützt, oft aber auch – wie es Riekenbrauck beschreibt – zu „uferlosen Untersuchungen und Vorstellungen bei zivilen ‚Kapazitäten‘ “ führt und damit überflüssige Kosten und möglicherweise sogar unnötige gesundheitliche Risiken provoziert.9 Zu diesem das ohnehin nicht unproblematische Verhältnis intra- und extramuraler Medizin in einem seiner Brennpunkte beleuchtenden Dilemma treten statusbedingte Belastungen hinzu, die den Arzt im Strafvollzug in seiner Rolle und täglichen Arbeit beschweren. Das hinter Mauern versetzte „Patientengut“ wird verbreitet als problematisch beschrieben. Es wird – wovor freilich manche auch warnen – recht pauschal der Simulation und Wehleidigkeit, der Arbeitsunlust und des Hangs zum Medikamentenmissbrauch bezichtigt, nicht selten als undankbar und aggres-
7 8
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ren und insbesondere kleineren Anstalten und Abteilungen“ sowie auf die „KostenNutzen-Aspekte“ bei der „Gerätebeschaffung“ hingewiesen wird. S. Bericht der JustMinK, in: ZfStrVo 1997, S. 296, 297. S. dazu Rex, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 258, 260; zur Problematik der externen Inanspruchnahme s. auch B. Nieszery, Suchtprobleme hinter Gefängnismauern, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 302, 304; U. Romkopf/W. Riekenbrauck, in: Schwind/Böhm, StVollzG, § 58 Rndr. 11; zu daraus resultierenden Bemühungen, fachärztliche Beratung innerhalb der Anstalt zu ermöglichen, s. z.B. D. Zettel, Anstaltsarzt und ärztliche Versorgung, in: H.-D. Schwind/G. Blau (Hrsg.), Strafvollzug in der Praxis, 2. Aufl., Berlin 1988, S. 193, 194. S. die positive Einschätzung von „Defensivmedizin“ bei Zettel, Anstaltsarzt, S. 193, 203 und die eher skeptische bei W. Riekenbrauck, Schweigerecht versus Auskunftspflicht des Anstaltsarztes – Sicht des Vollzugsmediziners, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 277, 278.
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siv gegenüber einem in erster Linie als Repräsentanten der „feindlichen Institution“ gesehenen Arzt beschrieben. Auch gilt es als Ansammlung von Menschen, die oft nicht primär ärztlich behandelt, sondern vom Arzt in ihren vollzugsbedingten Sekundärinteressen bedient werden wollen.10 „Das Ergebnis“ sagt Rex, „ist eine von Begehrlichkeit und Misstrauen getragene ambivalente Einstellung der Patienten“, die dem Arzt draußen nicht erwerbbares „Erfahrungswissen“, Geduld, Frustrationstoleranz und „nervliche Belastbarkeit“ abverlangen und seine Sprechstunde zeitweise in eine Abwehrschlacht gegen Vergünstigungen anstrebende Instrumentalisierungsversuche umwandelt.11 Auch jenseits solcher gewiss nur begrenzt verallgemeinerungsfähiger Einstellungen gibt es Patienteneigenschaften, die das Arzt-Patienten-Verhältnis belasten und ein erfolgreiches Therapieren gefährden. So entspricht es zwar verbreiteter Beobachtung, dass manche, die in den Strafvollzug einrücken, hier nach jahrelanger gesundheitlicher Verwahrlosung durch Obdachlosigkeit, Alkohol- oder Drogenabhängigkeit von schon äußerlich stigmatisierenden Symptomen befreit und erstmals einer sachkundigen und regelmäßigen Gesundheitsfürsorge zugeführt werden, die sie von Abhängigkeiten löst und ihren Allgemeinzustand jedenfalls im Sinne der Normalisierung von Körpergewicht und Laborwerten verbessert. 12 Andererseits hat aber die volkstümliche Behauptung, Knast mache krank, nach der Einschätzung von Experten trotz über die Jahrhunderte fraglos deutlich verbesserter Hygiene- und Gesundheitsfürsorgebedingungen hinter Gittern kaum etwas von ihrer Gültigkeit verloren. Das gilt vornehmlich im Sinne der pathogenen Bedeutung dieser Aussage für psychische (Neu-)Erkrankungen mit nicht selten psycho-
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Zur vorstehenden nicht durchgehend als realistisch gekennzeichneten und vor allem mit Vorbehalten zur Simulation versehenen Beschreibung s. z.B. Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, vor § 56 Rdnrn. 18 ff; C. Flügge, Instrumentalisierung der Vollzugsmedizin, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 265, 269; D. Husen, Ärztlicher Dienst im Strafvollzug, in: G. Eisen (Hrsg.), Handwörterbuch der Rechtsmedizin, Band III, Stuttgart 1977, S. 574, 575; Riekenbrauck, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 277, 278; ferner auch schon F. Leppmann, Gefängnisarzt, S. 110, der vor einer vorschnellen Annahme von Simulation warnt; Berichte aus der Praxis sprechen freilich bisweilen auch von beeindruckendem „Vertrauen, Aufgeschlossenheit und Offenheit der Menschen“, zu denen „menschliche Beziehungen“ herzustellen den Arzt „mit besonderer Freude, ja Stolz erfüllt“, s. R. Maykemper, Gedanken über die Tätigkeit eines Arztes im Strafvollzug, in: ZfStrVo 1968, S. 271, 272 sowie den gleichnamigen Bericht von H. Voss, in: ZfStrVo 1968, S. 266 ff. S. zu diesen Kennzeichnungen Rex, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 258, 261; Zettel, Anstaltsarzt, S. 193, 196. S. dazu A. Böhm, Strafvollzug, 3. Aufl., Neuwied 2003, Rdnr. 238; Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, vor § 56 Rdnr. 10; Husen, Ärztlicher Dienst, S. 574, 583; K. Keppler, Gesundbleiben in Haft, in: Deutsche AIDS-Hilfe e.V. (Hrsg.), Betreuung im Strafvollzug. Ein Handbuch. Berlin 1996, S. 83; Rex, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 258, 263.
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somatischer Symptomatik.13 Es gilt aber wohl auch für rein körperliche Erkrankungen, die z. B. durch ein Absinken der Abwehrkräfte, durch körperliche oder sexuelle Aggression oder Deprivation oder durch die Häufung infektiöser Krankheiten im Vollzug begünstigt werden.14 Ist eine Erkrankung in einen kausalen Zusammenhang mit dem Vollzugsleben zu stellen, kuriert der Arzt an Symptomen, deren Auftreten der Institution zugeschrieben und deren Behandlung und Beherrschung in eben dieser Institution folglich aus der Sicht des Patienten nicht immer als aussichtsreich eingeschätzt werden. Hieraus folgender Vertrauensverlust in die Leistungsfähigkeit der Vollzugsmedizin und mit ihm einhergehende, die Gesundung behindernde Passivität machen den ärztlichen Dienst zusätzlich schwer. Er trifft ohnehin auf Patienten, deren Eingeschlossensein Ängste verstärkt, krank gemacht, nicht angemessen behandelt und im Notfall nicht rechtzeitig versorgt zu werden und deren weitgehend fremdbestimmter und monotoner Alltag in eine durch Lethargie, Unselbstständigkeit und Hilflosigkeit geprägte Versorgungshaltung führt. 15 Aktive Mitwirkung am Gesundungsprozess ist wie eine Mobilisierung der Selbsterhaltungs- und -heilungskräfte unter solchen Bedingungen kaum zu erwarten. Sie sind auch durch die nach § 56 II StVollzG bestehende Verpflichtung des Gefangenen, „die notwendigen Maßnahmen zum Gesundheitsschutz und zur Hygiene zu unterstützen“, nicht erzwingbar, da die Anwendung von Zwang oder die Androhung von Disziplinarmaßnahmen zur Durchsetzung ärztlich-therapeutischer Verordnungen unzulässig und im Übrigen auch therapeutisch unsinnig sind.16 Zu den Statusbelastungen gehören neben denen des gefangenen Patienten naturgemäß auch die des Anstaltsarztes. Sie fließen aus einer antinomischen Spannung, die die Vollzugsmedizin aus ihrer Einbettung in das rechtliche Netzwerk des freiheitsentziehenden und -begrenzenden, des regulierenden und kontrollierenden Vollzugs bezieht. Diese Einbettung verpflichtet den Arzt zu einer partiellen Mit13
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S. z.B. N. Konrad, Psychisch Kranke im Justizvollzug, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 288; Laubenthal, Strafvollzug, Rdnrn. 228 ff.; L. Missioni, Über die Situation der Psychiatrie im Vollzug, in: ZfStrVo 1996, S. 143, 144 f.; K. Tielking/S. Becker/H. Stöver, Entwicklung, S. 43 ff.; Walter, Strafvollzug, Rdnrn. 267 ff.; s. auch schon Leppmann, Gefängnisarzt, S. 23 ff. S. z.B. Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, vor § 56 Rdnr. 9; zur Sexualität als medizinisches Problem im Vollzug, Rdnrn. 14 ff.; s. auch Rex, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 258, 259. Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, vor § 56 Rdnr. 9; zu den beschriebenen Ängsten s. auch M. Gähner, Medizinische Versorgung im Strafvollzug, in: Vorgänge 1986, S. 57, 60. Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, § 56 Rdnr. 2; R.-P. Calliess/H. Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz, 10. Aufl., München 2005, § 56 Rdnr. 5; K. Keppler, Grundlagen der Anstaltsmedizin, in: Deutsche AIDS-Hilfe, e.V. (Hrsg.), Betreuung im Strafvollzug. Ein Handbuch. Berlin 1996, S. 111, 113; Romkopf/Riekenbrauck, in: Schwind/Böhm, StVollzG, § 56 Rdnr. 3.
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wirkung am allgemeinen Behandlungsauftrag des Vollzugs, aber auch in vielfacher Weise zu Leistungen, die den reibungslosen und sicherungsorientierten, auch juristisch abgesicherten Ablauf des Gefängnisalltags flankieren. Das zwingt den Arzt in eine sein eigentliches Berufsethos spaltende Bifunktionalität. „Absicherung, Vorsicht und Rückversicherung“ in einer in diesem Sinne defensiv betriebenen Medizin können ebenso wie eine Überidentifikation mit den Vorstellungen und Zielen der Strafvollzugsinstitution sich hieraus ergebende Verhaltensmuster mit den mit ihnen verknüpften Gefahren für eine effektive und dem Gefangenen zugewandte Gesundheitsfürsorge sein.17 Dem gefangenen Patienten bleibt der so gespaltene Arzt nicht verborgen. Er erfährt ihn als einen dem Heilauftrag verpflichteten Helfer, aber zugleich auch als einen in die Hierarchie des Anstaltspersonals eingereihten und juristisch gefesselten Träger von Vollzugs- und Kontrollaufgaben, der seine Arbeits- oder gar Arrestfähigkeit feststellt, eine Zwangsbehandlung vornimmt oder den Verbleib in einem besonders gesicherten Haftraum medizinisch legitimiert. Verliert der gefangene Patient hierdurch Vertrauen, kann er weder den Arzt, noch der Arzt ihm ausweichen. Eine freie Arztwahl findet nicht statt,18 ein Patient kann nicht abgewiesen werden. Der Anstaltsarzt bleibt – wie es Keppler nennt – „Zwangsansprechspartner“.19 Das ist er in den Augen manch anderer Beteiligter auch sonst. So wird er nicht nur vom Gefangenen oder seinem Verteidiger, sondern häufig auch von der Anstaltsleitung, den Staatsanwaltschaften oder von Gerichten zu begutachtenden Stellungnahmen gebeten, zum Gesundheitszustand, zur Suizidgefährdung, zur Haft- oder Verhandlungsfähigkeit und manchem mehr. Geht er solchen Aufträgen allzu freimütig nach, gerät auch ein Restvertrauen bedenklich ins Wanken.20
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S. dazu Walter, Strafvollzug, Rdnr. 232; ferner F. Dünkel/A. Rosner, Die Entwicklung des Strafvollzugs in der Bundesrepublik Deutschland seit 1970, Freiburg 1981, S. 272, die die „Probleme des Arztberufes im Strafvollzug“ daher in erster Linie in den „Einflüssen der institutionellen Bedingungen auf die Tätigkeit des Arztes“, etwa im Sinne einer Identifikation des Vollzugsarztes mit den Vorstellungen der Strafvollzugsinstitution sehen. Das gilt nicht für den in einem freien Beschäftigungsverhältnis stehenden Freigänger, wohl aber für den „normalen“ Strafgefangenen, s. dazu eingehend B. Kirschke, Medizinische Versorgung im Strafvollzug, Hamburg 2003, speziell zur freien Arztwahl S. 91 ff.; ihr Fehlen kritisiert z. B. G. Bemmann, in: StV 2001, S. 61 ff.; s. auch Rex, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 258, 261; Walter, Strafvollzug, Rdnr. 230. K. Keppler, Grundlagen, S. 111. S. die dazu ausgesprochenen Mahnungen zur Zurückhaltung bei Flügge, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 265 f., 271. Ferner J. Bernheim, Ethische Probleme ärztlicher Tätigkeit im Strafvollzug, in: SchwZStr 108 (1991), S. 355, 364; Husen, Ärztlicher Dienst, S. 582; Keppler, Grundlagen, S. 125; Rex, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 258, 260; Zettel, Anstaltsarzt, S. 202; s. auch schon Leppmann, Gefängnisarzt, S. 196 ff.
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II. Die hiermit sicher lückenhaft und holzschnittartig vorgenommene Skizzierung einiger den ärztlichen Dienst im Vollzug kennzeichnender Züge gibt nicht vor, die Wirklichkeit der Gesundheitsfürsorge fair und ausgewogen abzubilden. Wollte man das, müsste man den durchweg etwas kritischen Schlaglichtern das aufopferungsvolle Engagement der vielen haupt- und nebenamtlichen sowie auf vertraglicher Basis im Vollzug tätigen Ärzte und Ärztinnen, des Krankenpflegepersonals, den im europäischen Vergleich gewiss im oberen Bereich liegenden Leistungs-, Qualitäts- und Sicherheitsstandard der Vollzugsmedizin21 und die in ihr vielfach geleistete sozialmedizinische Zuwendung hervorheben, die durch die Maschen selbst des Gesundheitssystems gefallene Menschen in das die elementarsten Bedürfnisse nach körperlicher und seelischer Gesundheit schützende Netz der Gesellschaft zurückholt.22 All das verkenne ich nicht. Das folglich bewusst die Habenseite vernachlässigende Bild ist hier nur deshalb so gezeichnet, weil es den Blick für die Defizite und Spannungen schärfen soll, die man beheben oder mildern muss, wenn man den in mancher Hinsicht fraglos unbefriedigenden status quo auf eine die im Vollzug zu einem Zwangstandem zusammengeschlossene Arzt-Patienten-Gemeinschaft auf beiden Seiten befriedigendere Ebene befördern will. Dazu möchte ich auf dem Hintergrund meiner Skizze drei Vorschläge machen. 1. Als erstes sollte man den Arzt im Vollzug auf die auf ihn wartenden Aufgaben besser vorbereiten. Das Fach Vollzugsmedizin wird nirgends gelehrt. Es ist auch kein Bestandteil des in der Approbationsordnung als Prüfungsstoff verankerten Fächerkanons. Ein Facharzt für Intramurale Medizin sieht als Gebietsbezeichnung weder die Musterweiterbildungsordnung des Deutschen Ärztetages,23 noch bislang irgendein Landesrecht vor. Damit könnte man sich abfinden, wenn Medizin draußen und drinnen nicht anders wäre. Das aber ist, wie ich herauszustellen versucht habe, nur mit erheblichen Einschränkungen so. Gewiss bedarf es zum Erkennen einer Appendizitis oder zur Behandlung einer Hepatitis keines intramuralen Spe21
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Zur Einschätzung des deutschen Strafvollzugs im europäischen Vergleich s. G. Kaiser, Deutscher Strafvollzug in europäischer Perspektive, in: W. Feuerhelm/H.-D. Schwind/M. Bock (Hrsg.), Festschrift für A. Böhm, Berlin/New York 1999, S. 25, 46 ff; zu spezifisch die Gesundheitsfürsorge im Strafvollzug betreffenden Rügen des CPT (auch) gegenüber anderen Ländern s. instruktiv R. Bank, Die internationale Bekämpfung von Folter und unmenschlicher Behandlung, Freiburg i. Brsg. 1996, S. 179 ff.; G. Kaiser/M. Rebmann, Genügen die deutschen Regelungen zur Rolle des Arztes bei der Vorbeugung von Misshandlungen durch Polizei und Strafvollzugspersonal den europäischen Anforderungen?, in: NStZ 1998, S. 105, 106. Den fehlenden Krankenund Sozialversicherungsschutz deutscher Häftlinge rügte die Genfer Arbeitsorganisation ILO, s. International Labour Office, in: World Labour Report, Genf 1993, S. 16 f. Rex, in ZaeFQ (2000) 94, S. 258, 263 spricht von „sozialer Lückenfüllung“. S. dazu m.w.N. A. Laufs, in: A. Laufs/W. Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., München 2002, § 11 Rdnr. 16; zur Weiterbildung als Ländersache Rdnrn. 10 ff.
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zialistentums. Auch gibt es AIDS, Alkohol- und Drogenprobleme extra muros. Aber es drängt sich doch auf, dass sich der unter den hauptamtlichen Anstaltsärzten wohl dominant vertretene Facharzt für Allgemeinmedizin angesichts der geschilderten Problemgruppen im Vollzug einer so komplexen Ballung hygienischer, internistischer, infektiologischer, psychiatrischer und wohl auch epidemologischer Fragestellungen gegenübersieht, dass die durchlaufene Ausbildung für allseits kompetente Antworten am Anfang nicht reicht. Fortbildung, deren Wahrnehmung die ärztlichen Berufsordnungen zur rigiden Bedingung weiterer ärztlicher Betätigung machen, wird in auf die Bedürfnisse der Vollzugsmedizin zugeschnittenen Veranstaltungen kaum angeboten. Der Erfahrungsaustausch aus den in manchen Bundesländern jährlich stattfindenden „Anstaltsärztetagen“24 oder gelegentlichen Symposien25 kann helfen, reicht aber nicht aus. Sicher kann ein kompetentes Sanitätsdienstpersonal Defizite mildern.26 Auch kann die Anleitung durch erfahrenere Kollegen in den Vollzugskrankenhäusern und ausgedehnteren medizinischen Abteilungen größerer Anstalten gelingen. Vielfach wird die nötige Spezialisierung namentlich in kleineren Anstalten aber weitgehend der Eigeninitiative und dem autodidaktischen Geschick des Arztes überlassen bleiben. Das gilt zumal für nebenamtlich oder vertraglich verpflichtete Ärzte, die nur stundenweise in die Vollzugsmedizin mit einbezogen sind oder in kleineren Anstalten sie sogar gänzlich bestreiten.27 Ein dem Ausbildungsmangel abhelfendes Curriculum der Vollzugsmedizin kann hier nicht im Einzelnen entworfen werden. Es könnte Leistungsnachweise in verschiedenen Querschnittsfächern des zweiten Ausbildungsabschnitts zur Pflicht erheben und sich als eigenes Fach hier etablieren. 28 Für eine Facharztausbildung 24 25
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S. dazu Nds. LReg, in: Nds. Landtag Ds 15/1192, S. 12. Die Evangelische Akademie Bad Boll hat 1996 eine vornehmlich für Anstaltsärzte gedachte Tagung zur „Gesundheitsfürsorge im Gefängnis“ abgehalten, s. die von der Akademie herausgegebene Zusammenfassung in Materialien 3/97, die KaiserinFriedrich-Stiftung Berlin 1999 ein interdisziplinäres Symposion über „Medizinische Probleme im Strafvollzug“, s. ZaeFQ (2000) 94, S. 256-315; inwieweit diese Veranstaltungen als Fortbildungsveranstaltungen anerkannt worden sind, entzieht sich der Kenntnis des Verf. Zu einer Tagung über „Medizin und Freiheitsentzug“ in Fribourg im Jahr 2000 s. den Tagungsbericht von N. Queloz/F. Riklin/A. Senn/P. de Sinner (Hrsg.), Medizin und Freiheitsentzug, Bern 2002. S. Rex, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 258, 264 mit dem Kommentar: „Das muss nicht schlecht sein, entbehrt aber oft leider des umfassenden Horizonts“. S. zur die Regel bildenden erheblichen Beteiligung von Vertragsärzten und deren in kleineren Anstalten alleiniges Auftreten anschaulich Nds. LReg, in: Nds. Landtag Ds 15/1192, S. 9 ff. § 27 Abs. 1 der Approbationsordnung für Ärzte vom 27. Juni 2002 (BGBl I, S. 2405) nennt als Querschnittsfächer z.B. Epidemiologie, Ethik der Medizin, Öffentliche Gesundheitspflege, Infektiologie, Imunologie, Pharmakotherapie, Prävention, Gesundheitsförderung, Rehabilitation und auch die mittlerweile durch ihre stark sozial ausgelösten Einsätze sich im Patientenkreis mit der Vollzugsmedizin häufig überschneidende Notfallmedizin.
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wären Vollzugskrankenhäuser und größere Krankenabteilungen als Ausbildungsstätten heranzuziehen. Auf beiden Ebenen hätte ein Ausbildungssegment die rechtlichen Rahmenbedingungen zu bedenken. Die Vergewisserung über das Berufsfeld bestimmende Normen des Strafprozess- und des Strafvollzugsrechts könnten wie auch die Information etwa über die Grenzen legaler Substitutionsprogramme29 die Spannungen zwischen Juristen und Medizinern im Vollzug vermindern, Verständnis wecken und für den Arzt Sicherheit gegenüber den vom Vollzug produzierten Fragen schaffen.30 Integrieren könnte man schließlich angesichts des erheblichen Ausländeranteils an der Gefangenenpopulation ein Fremdsprachensegment, das neben allgemeinen Sprachkenntnissen in zwei besonders vollzugsrelevanten Fremdsprachen medizinische Fachausdrücke vermittelte. 31 Anlass, in Richtung auf eine profundere Qualifikation Forderungen zu stellen, bieten neben der sachlichen Einsicht auch die 1998 vom Ministerkomitee des Europarates verabschiedeten Empfehlungen R (98) 7 über ethische und organisatorische Aspekte der Gesundheitsversorgung im Gefängniswesen, wenn es dort heißt: „Die im Gefängnisbereich tätigen Ärzte sollen über eine gute fachliche Kompetenz in der Allgemeinmedizin und in Psychiatrie verfügen. Ihre Ausbildung sollte den Erwerb theoretischer Anfangskenntnisse, Verständnis für den Gefängnisbereich und dessen Auswirkungen auf die Ausübung des Arztberufes im Gefängnis, eine Bewertung der erworbenen Kompetenzen und ein Praktikum unter der Leitung eines erfahrenen Arztes beinhalten. Die im Gefängnisbereich tätigen Ärzte sollten auch in den Genuss einer regelmäßigen Weiterbildung kommen“. 32 Angesichts dessen sollte man sich zwar über die Chancen einer Gebietsbezeichnung „IM“ keine Illusion machen, ist die Erweiterung um ein neues Fach doch nach verbreiteter Erfahrung ein ähnlich schwieriges Unterfangen wie die Einführung einer neuen Disziplin bei den olympischen Spielen. Gleichwohl sollte man nur wegen der „geringen Größe und Ausstrahlung“ des Faches nicht vorzeitig die
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S. dazu H. Preusker, Suchtprobleme hinter Gefängnismauern, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 309, 312 mit Blick auch auf „sozialethische Folgen und Einstellungen zur Subsitutionsbehandlung“. Zu Ausbildungsdefiziten und –erfordernissen s. z. B. Böhm, Strafvollzug, Rdnr. 100; K. Hübner, Ein Krankenhaus für den Strafvollzug, in: ZfStrVo 1991, S. 88, 97 f.; Preusker, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 309, 312; Rex, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 258, 264; ferner Missioni, in: ZfStrVo 1996, S. 143, 146 mit Blick auf die Psychiatrie. S. dazu Rex, ZaeFQ (2000) 94, S. 258, 262, 264. S. Bundesamt für Justiz, Bern, Informationen über den Straf- und Maßnahmenvollzug, 2/98, S. 20, 25; vgl. auch schon Nr. 22 (1) der Dienst- und Vollzugsordnung (DVollzO) 1961, wo es zur Qualifikation der Ärzte heißt: „Sie sollen in der inneren Medizin, der kleinen Chirurgie, der Psychiatrie und der Psychologie erfahren sein und die amtsärztliche Prüfung abgelegt haben oder ablegen.“ S. auch schon Nr. 23 der in Genf beschlossenen „Minimum Rules“ der Vereinten Nationen: „Jede Anstalt muss mindestens über einen tüchtigen Arzt verfügen, der auch psychiatrische Kenntnisse besitzen sollte“, zitiert nach H.-H. Jescheck, ZStW 67 (1955), S. 659, 671.
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Waffen strecken.33 Dagegen steht die gesamtgesellschaftliche Bedeutung dieses Gebiets. 2. Als zweites möchte ich mit Keppler für „das Primat der Medizin“ eintreten.34 Die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze nennen als erstes Ziel der Behandlung der Gefangenen im Vollzug, „ihre Gesundheit und Selbstachtung zu erhalten“.35 Das Strafvollzugsgesetz legt dementsprechend den Vollzugsbehörden die „Fürsorgepflicht auf, für die körperliche und geistige Gesundheit des Gefangenen zu sorgen“.36 Garanten der Erfüllung dieser Pflicht sind nach der Konzeption des Gesetzes zuvörderst die „hauptamtlichen Ärzte“ (§ 158 StVollzG). Sie stehen durch die organisatorisch-funktionelle Einbindung in den Vollzug und durch das damit ausgelöste Zusammenarbeitsgebot des § 154 StVollzG im Spannungsverhältnis zwischen den Gesundheitsinteressen des Gefangenen und den Sicherheitsund Behandlungsinteressen des Vollzugs.37 Das Primat der Medizin heißt in diesem Zusammenhang, dass – solange man dieses Spannungsverhältnis nicht radikal auflöst, wozu ich unter 3. noch etwas sagen werde – der Eid des Hippokrates den Amtseid hierarchisch überlagert. „Die Gesundheitsbedürfnisse des Inhaftierten“ stehen – so sagt es die Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates von 1998 – „beim Gefängnisarzt immer an erster Stelle“. „Klinische Entscheidungen und alle anderen den Gesundheitszustand inhaftierter Personen betreffende Bewertungen sollen“ hiernach „einzig und allein aufgrund medizinischer Kriterien getroffen werden.“38 Adolf Laufs drückt das nach einer Übersicht über die ärztlichen Berufe – darunter der Anstaltsarzt – im großen Handbuch des Arztrechts so aus: „Der Ausbau des Sozialstaates, die fortschreitende wissenschaftliche Spezialisierung und die Differenzierung der Arbeitswelt schaffen ... berufliche Alternativen für den Arzt, unterwerfen sein Verhältnis zum Patienten aber im Interesse überge33
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Der Forderung nach einem eigenen Fach „Vollzugsmedizin“ (auch „Desmoterische Medizin“ genannt, s. Riekenbrauck, in: ZaeFQ (2000), 94, S. 277, 278) wurde auf dem 23. Symposion für Ärzte und Juristen über „Medizinische Probleme im Justizvollzug“ der Berliner Kaiserin-Friedrich-Stiftung am 23./24.04.1999 angesichts der „geringen Größe und Ausstrahlung“ des Faches „kaum Chancen auf Realisierung“ zugestanden, s. J. Hammerstein, Zusammenfassung der Diskussion, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 271, 272; s. auch die Forderung nach besserer Ausbildung bei K. Luginbühl, Die Organisation des Gesundheitswesens im Straf- und Massnahmenvollzug aus der Sicht des Anstaltsleiters, in: N. Queloz/F. Riklin/A. Senn/P. de Sinner (Hrsg.), Medizin und Freiheitsentzug, Bern 2002, S. 65, 77. Keppler, Grundlagen, S. 126. Europäische Vollzugsgrundsätze, Empfehlung Nr. R (87) 3 des Ministerkomitees des Europarates, in deutscher Sprache abgedruckt in: Bundesamt für Justiz, Bern, Informationen über den Straf- und Maßnahmenvollzug, Sonderbeilage zu Heft 1/95, Nr. 3 unter Teil I: Grundprinzipien. RegEStVollzG, BT-Ds 7/918, Begr. S. 72. S. Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, § 158 Rdnr. 1; Husen, Ärztlicher Dienst, S. 577 (Anstaltsarzt); Keppler, Grundlagen, S. 126; Stöver/Lesting, Recht und Psychiatrie, 1999, S. 150, 155. Empfehlung R (98) 7, Nrn. 19, 20.
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ordneter“ Belange auch „zusätzlichen Regeln, die in Konflikte führen können. Umso nachdrücklicher“ – so seine Mahnung – „gilt es an den ärztlichen Pflichten auf allen Tätigkeitsfeldern festzuhalten und das Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten und Patienten überall zu schützen. Der Arzt bleibt Arzt, auch wenn er seinen Beruf nicht als Niedergelassener oder in einem herkömmlichen Dienstverhältnis, sondern in spezieller Funktion und Rechtsposition ausübt. Im Blick auf die herkömmlichen Grundpflichten, die für alle Mitglieder des Standes gelten, sollte“ deshalb – so Laufs – „vom ärztlichen Beruf im Singular ... gesprochen werden“. 39 Daraus folgt beispielhaft, dass der Arzt sich einer von der Anstaltsleitung nahe gelegten „Medizinalisierung“ von Vollzugsproblemen wie der Vergabe von Sedativa in disziplinarischen Problemfällen ebenso widersetzt40 wie einer medizinisch nicht gebotenen, vom Gefangenen aber unter dem Mantel vorgeschobener Krankheitssymptome begehrten Sondervergünstigung etwa im Bereich von Nahrung, Kleidung oder Unterbringung.41 Auch einer pauschalen und ohne Rücksicht auf die individuelle Verantwortlichkeit und Zuverlässigkeit des gefangenen Patienten angeordneten Überwachung der Medikamenteneinnahme sollte der Arzt widersprechen. Ihr steht neben ärztlichem Ethos auch die Einsicht des Kammergerichts entgegen, „dass das Selbstbestimmungsrecht und die personale Würde des Patienten es auch bei einem Strafgefangenen verbieten, ihm im Rahmen seiner Behandlung durch den Anstaltsarzt die Rolle eines bloßen Objekts zuzuweisen.“42 Die Inanspruchnahme extramuraler Medizin ist allein nach der medizinischen Indikation zu entscheiden. Personelle Engpässe oder Kosten sind im Rahmen des medizinisch Gebotenen kein legitimer Gegenstand ärztlicher Reflektion. Schließlich sind Haft- oder Arrestfähigkeit selbstverständlich vom Arzt nicht nach dem Interesse an der Durchsetzung des Strafanspruchs oder der Berechtigung des Vollzugsinteresses an einer Disziplinierung und schon gar nicht nach subjektiv empfundenem Verdienst, sondern allein mit Rücksicht auf den Gesundheitszustand zu beurteilen.43 In allem gilt: salus aegroti suprema lex.
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Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 12 Rdnr. 38; so speziell für den Anstaltsarzt auch die Leitlinien des CPT, s. dazu Bank, Bekämpfung, S. 202; das CPT verlangt daher – wie Nr. 20 der Empfehlung R (98) 7 – eine weitgehende „Unabhängigkeit“ des medizinischen Personals gegenüber der Gefängnisleitung; s. auch Kaiser/Rebmann, NStZ 1998, S. 105, 106. S. dazu Husen, Ärztlicher Dienst, S. 577 (Anstaltsarzt); Walter, Strafvollzug, Rdnr. 231; zur Duldung von Cannabis aus solchen Gründen s. Boetticher/Stöver, in: AKStVollzG, vor § 56 Rdnr. 11. S. zu solchen „Begehrlichkeiten“ Husen, Ärztlicher Dienst, S. 577 (Anstaltsarzt); Rex, ZaeFQ (2000) 94, S. 258, 261. KG StV 1988, S. 539, 540; s. auch die Hinweise in VV Nr. 4 I zu § 58 StVollzG, die den Regelfall der Selbstverantwortlichkeit des Gefangenen betonen. S. zu dieser „an den Nerv des Problems“ gehenden „dauernden Herausforderung an den Anstaltsarzt“ Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, § 56 Rdnr. 16; N. Gatzweiler, Haftunfähigkeit, StV 1996, S. 283 ff.; O. Heischel, Haftverschonung aus Gesund-
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3. Der dritte und letzte Vorschlag zielt auf eine denkbare Veränderung der gesetzlichen Konzeption des ärztlichen Dienstes im Vollzug. Sie bildet die Quelle mancher schon angedeuteter Spannungen und Friktionen. Warum das so ist, wird deutlich, wenn man sich die Eckpfeiler der gesetzlichen Rechtslage vergegenwärtigt. Das Strafvollzugsgesetz hat sich – wie schon die 1923 vom Reichsminister der Justiz erlassenen „Grundsätze für den Vollzug der Freiheitsstrafen“ und übrigens auch der Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes 44 – dafür entschieden, die Gesundheitsfürsorge primär hauptamtlichen Anstaltsärzten anzuvertrauen. Nur „aus besonderen Gründen“ kann sie nebenamtlichen oder vertraglich verpflichteten Ärzten übertragen werden (§ 158 I StVollzG).45 Diese besonderen Gründe werden z.B. in der geringen Zahl der Gefangenen oder in nicht hinreichender fachärztlicher Kompetenz des ärztlichen Anstaltsdienstes gesehen.46 Geschieht eine solche Übertragung, handelt der hinzugezogene Arzt nicht im eigenen Namen, sondern im Auftrag der Behörde, wird nach dem Verpflichtungsgesetz verpflichtet und damit im Sinne des § 11 I Nr. 2, 4 StGB Amtsträger. 47 Die Gründe für die damit verbundene und sich im Grundsatz nicht nur auf die ambulante, sondern auch auf die stationäre Behandlung erstreckende Absage an die im Gesetzgebungsverfahren gar nicht erwogene Möglichkeit, Strafgefangene von den Institutionen des auch den freien Patienten zugänglichen Gesundheitsdienstes versorgen zu lassen, werden in den Gesetzesmaterialien nicht deutlich. Sie dürften einerseits in der gebotenen, nach Nr. 4 der Empfehlung R (98) 7 des Ministerkomitees des Europarates „zu jeder Tages- und Nachtzeit“ zu gewährleistenden
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heitsgründen gemäß § 455 StPO, ZfStrVo 1998, S. 40 ff.; Flügge ZaeFQ (2000) 94, S. 265 ff. warnt zu Recht vor einer „Instrumentalisierung der Vollzugsmedizin zu nichtmedizinischen Zwecken“ und empfiehlt daher dem Anstaltsarzt rigoros, zur Haft- oder Verhandlungsfähigkeit überhaupt keine Stellungnahme abzugeben; s. dort S. 267 auch zum Vorrang des hippokratischen Eides. Erstere auf der Grundlage einer Vereinbarung der Landesregierungen, s. RGBl II, Nr. 23 vom 27.6.1923; § 11 I lautet: „Für jede größere Anstalt soll ein Arzt im Hauptamt bestellt werden“. Abs. 2 lautet: „Bei kleineren Anstalten ist, sofern nicht auch dort ein Arzt im Hauptamt bestellt ist, regelmäßige ärztliche Versorgung durch Vertrag mit einem Arzte sicherzustellen“. Nach der Dienstanweisung für Ärzte in Preußischen Strafanstalten gehört der Arzt „zu den Oberbeamten der Anstalt“, s. Leppmann, Gefängnisarzt, Anhang a (nach S. 206). Der AE-StVollzG von Baumann u.a., Tübingen 1973, sah in § 104 III vor, dass der ärztliche Anstaltsdienst von einem Anstaltsarzt geleitet wird. Der RegEStVollzG hatte in § 145 noch die Formulierung gewählt, die ärztliche Versorgung sei „nach Bedarf“ auch durch „weitere Ärzte sicherzustellen“. Der Bundesrat schlug demgegenüber die heutige Fassung des § 158 I StVollzG vor, um die Voraussetzungen der Ausnahme nicht anders als in § 155 I 2 StVollzG heutiger Fassung zu bestimmen; s. BT-Ds 7/918, S. 29, 97, 126. S. z.B. Arloth/Lückemann, StVollzG, § 158 Rdnr. 1; Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, § 158 Rdnr. 1. S. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, § 155 Rdnr. 7 (freilich nach § 11 StGB, nicht § 11 VerpflG, wie dort zitiert).
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Sicherstellung der ärztlichen Versorgung im Vollzug48 und andererseits darin liegen, dass das Strafvollzugsgesetz (wie der AE-StVollzG)49 zahlreiche Vorschriften enthält, die die ständige Anwesenheit des Anstaltsarztes auch aus vollzuglichen Gründen erfordern. Zwar ist es die primäre Aufgabe des Arztes, die medizinische Versorgung der Gefangenen zu gewährleisten. Die Pflichten des Anstaltsarztes als Mitglied des Vollzugsstabes ergänzen diese primäre Aufgabe aber zu seiner schon erwähnten Bifunktionalität. Sie wird schon durch die dem genuin ärztlichen Berufsbild noch weitgehend entsprechende allgemeine Verpflichtung zur Überwachung der gesundheitlichen und hygienischen Verhältnisse in der Anstalt, der Anstaltsernährung und der im Verpflegungsbereich tätigen Gefangenen sowie zur Beratung der Anstaltsleitung in allen Gefangene und Personal betreffenden gesundheits(-förderungs)relevanten Fragen begründet.50 Stärker vollzuglich akzentuiert zeigt sich die Bifunktionalität dann aber in den Mitwirkungspflichten, die zwar nur mit medizinischem Sachverstand erfüllbar, von eigentlich ärztlicher Tätigkeit aber abgekoppelt sind. Dazu kann man etwa die schon im Gesetzgebungsverfahren genannte Beteiligung im Rahmen der Behandlungsuntersuchung und der Aufstellung des Vollzugsplans (§§ 6, 7 StVollzG), der Unterbringung im offenen Vollzug sowie der Gewährung von Vollzugslockerungen und Urlaub (§§ 10-13 StVollzG), der Zuweisung von Arbeit, Ausbildung und Beschäftigungsmaßnahmen (§§ 37-39, 41 StVollzG), der Teilnahme an den Anstaltskonferenzen (§ 159 StVollzG) sowie die aus medizinischen Gründen ausgesprochene Empfehlung einer Absonderung (§ 17 III 1 StVollzG), einer Gemeinschaftsunterbringung (§ 18 I StVollzG), einer bestimmten Verpflegung (§ 21 StVollzG) oder einer Einkaufsbeschränkung (§ 23 II 2 StVollzG) zählen. Auch gehört die begutachtende Ausfüllung solcher Begriffe dazu, die – wie es Michael Walter51 zu den Beispielen Arbeitsfähigkeit, Transportfähigkeit oder Vollzugstauglichkeit ausdrückt – „die Vollzugsverhältnisse auf die Gefangenen hin personalisieren und vergemeinschaften.“ Am deutlichsten zeigt sich die Spaltung zwischen medizinischer und juristisch-absichernder Tätigkeit aber neben der dem Arzt eingeräumten Möglichkeit zur Vornahme von Zwangsmaßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge (§ 101 StVollzG) in der ärztlichen Begleitung besonderer Sicherungsmaßnahmen wie der Einzelhaft, der 48
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S. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, § 158 Rdnr. 1; s. zur Erfüllung dieses Anspruches trotz Versorgung durch „fest zugeteilte externe Anstaltsärzte“ Luginbühl, Organisation, S. 65, 68 f. S. Baumann u.a., AE-StVollzG, Begr. zu § 104 (S. 167). S. z.B. die Bay. Verwaltungsvorschriften zum Strafvollzugsgesetz (BayVVStVollzG) vom 12.12.2002 zu § 158, abgedruckt in Arloth/Lückemann, StVollzG, Anhang 5 sowie die Nrn. 35, 36 der Bad.-Württ. VwV des JuM vom 31.1.2003 zum Gesundheitswesen im Justizvollzug, abgedruckt in: Die Justiz 2003, S. 73; ferner zur allgemeinen Beratungspflicht auch Empfehlung R (98) 7, Nrn. 24, 25; Husen, Ärztlicher Dienst, S. 578 (Beratung des AL). Walter, Strafvollzug, Rdnr. 229.
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Fesselung oder der Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum (§§ 91 II, II, 92 StVollzG) und schließlich in der Mitwirkung des Arztes bei der Disziplinarmaßnahme des Arrestes (§ 107 StVollzG). Die aus solchen Gründen nachvollziehbare Bevorzugung des Anstaltsarztprinzips hat das geltende Recht durch seine Entscheidung gegen eine freie Arztwahl auch im Übrigen – und das heißt auf nicht vollzugliche ärztliche Leistungen bezogen – noch einmal deutlich verschärft. Wie der Kommissions-, der Regierungs- und auch der Alternativentwurf eines Strafvollzugsgesetzes52 gezeigt haben, ist diese Entscheidung auch bei einem grundsätzlichen Primat des Anstaltsarztes nicht zwingend geboten. Eine Mehrheit im Sonderausschuss des Bundestages für die Strafrechtsreform hielt jedoch die „Gefahr des Missbrauchs“ einer dieses Recht einräumenden Vorschrift „für zu gravierend“. Sie berief sich darauf, dass „die Erfahrung der Praxis“ zeige, dass es zahlreichen Gefangenen, die einen freien Arzt in Anspruch nehmen, in vielen Fällen gar nicht um eine verbesserte Gesundheitsfürsorge, sondern darum gehe zu erreichen, was sie über den Anstaltsarzt nicht erzielen konnten, nämlich die Bescheinigung der Haft- oder Arbeitsunfähigkeit, die Verschreibung bestimmter Medikamente, eine Minderung des Arbeitspensums oder verbesserte Kost. Ein Arzt, der mit den Besonderheiten im Vollzug nicht vertraut sei, werde die dafür notwendigen Bescheinigungen leichter ausstellen als der Anstaltsarzt. Auch könnten die Bemühungen des Anstaltsarztes, durch seine Verschreibungspraxis Medikamentenmissbrauch und -handel zu unterbinden, wenigstens unter Kontrolle zu halten, zum Scheitern verurteilt sein, wenn sich die Gefangenen Medikamente über – wie es die Begründung etwas kurios ausdrückt – einen „freien Arzt“ beschaffen könnten. Schließlich sei es nicht gut, wenn Gefangenen die Möglichkeit eröffnet werde, „freie“ Ärzte gegen den Anstaltsarzt auszuspielen. Es sei schon so schwierig genug, zwischen dem Anstaltsarzt und dem Patienten eine vernünftige Vertrauensbasis herzustellen. Für eine freie Arztwahl sprechende Gründe wurden demgegenüber als weniger gewichtig angesehen. 53 Nr. 3 der VV zu § 58 StVollzG mildert die so begründete Entscheidung gegen die 52
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S. § 54 II des 1971 von der Strafvollzugskommission verabschiedeten Entwurfs eines Strafvollzugsgesetzes, der dem Gefangenen (wie der RegE) keinen Anspruch einräumte, aber vorsah, dass dem Gefangenen gestattet „werden kann, auf eigene Kosten einen Arzt seiner Wahl in Anspruch zu nehmen, wenn ein wichtiger Grund dafür vorliegt“. § 53 II des RegEStVollzG (BT-Ds 7/918 vom 28.7.1973) entspricht dieser Regelung, verzichtete aber auf die Einschränkung des wichtigen Grundes. Nach § 106 III AE-StVollzG 1973 „kann“ der Insasse „auf eigene Kosten einen Arzt seiner Wahl in Anspruch nehmen“, muss es sich also nicht gestatten lassen. So auch § 53 II des vom Strafgefangenen Denis Pécic erarbeiteten AE-StVollzG, abgedruckt in: hn-Magazin, Vollzugsanstalten Hamburg-Fuhlsbüttel, September 1973. S. Bericht SA, BT-Ds 7/3998, S. 25 f. und die Debatte dazu in der 41. Sitzung des SA, BT-Stenografischer Dienst, 7. WP, S. 1856 ff.; als Gründe für die freie Arztwahl wurden z.B. die Arbeitsentlastung des Anstaltsarztes, der Abbau manchen Vorurteils gegen den Vollzug und eine bessere Verwirklichung des Angleichungsgrundsatzes angeführt.
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freie Arztwahl in der Praxis wohl nur unmaßgeblich ab, wenn sie unter sehr engen Voraussetzungen dem Anstaltsarzt einräumt, dem Gefangenen zu gestatten, auf eigene Kosten einen beratenden Arzt hinzuzuziehen.54 Die Nachteile, die diese gesetzgeberische Konzeption birgt, lassen sich in drei Richtungen festmachen. Zum Ersten trägt sie Belastungen und Spannungen in das Arzt-Patienten-Verhältnis, von denen schon die Rede war. Der Anstaltsarzt jongliert zwischen Gesundheits-, Sicherheits- und vollzuglichen Behandlungsinteressen, er ist Arzt und doch zugleich „Erfüllungsgehilfe“ des Vollzugs. 55 Auch wenn man das Primat der Medizin betont, kann ihn diese Zwitterstellung in schwer auflösbare Konflikte führen. Vertrauen aufzubauen, fällt unter solchen Vorzeichen schwer. Das lässt sich nicht nur an so deutlichen Beispielen wie der Mitwirkung des Arztes am Arrest oder einer Zwangsbehandlung, sondern schon in der nur scheinbar unverfänglichen Eingangsuntersuchung zeigen. Der Gefangene wird sie in aller Regel als für- und vorsorglichen Gesundheitscheck begrüßen. Da sie dies aber nicht allein ist, ist der Patient fairer- und rechtlicher Weise vorab darüber aufzuklären, dass es zugleich um vollzugsrelevante Erhebungen geht, die nur einer begrenzten Verschwiegenheitspflicht unterliegen (§ 182 II 5 StVollzG). Es versteht sich von selbst, dass bei solchem Beginnen dem unaufkündbaren „Zwangsansprechspartner“56 das eigentlich notwendige Vertrauen nicht zufliegt.57 Zum Zweiten ist der Angleichungsgrundsatz in doppelter Weise berührt. Der Gefangene ist von dem für das Arzt-Patienten-Verhältnis in Freiheit grundlegenden Recht auf freie Arztwahl nicht nur im Gegensatz zum freien Bürger, sondern auch anders als der in einem externen Beschäftigungsverhältnis stehende Freigänger abgeschnitten. Diese Ungleichheit erstreckt sich auf den approbierten Psychotherapeuten.58 Folglich kann weder der Arzt dem Patienten, noch dieser dem Arzt 54
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Diese Möglichkeit hielt schon der SA (BT-Ds 7/3998, S. 26) für mit seiner Entscheidung gegen eine freie Arztwahl vereinbar. S. hierzu Walter, Strafvollzug, Rdnr. 228; ferner Flügge, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 265, 266; N. Konrad, Psychisch Kranke im Justizvollzug – Sicht des forensischen Psychiaters, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 288; K. Neumann, Strafrechtliche Risiken des Anstaltsarztes, Hamburg 2004, S. 34 ff. Keppler, Grundlagen, S. 111. S. zu Gründen des Misstrauens allgemein Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, vor § 56 Rn 7; § 158 Rn 7; Husen, Ärztlicher Dienst, S. 577 (Anstaltsarzt); zu dem speziellen Konflikt und seinen rechtlich nicht unproblematischen Lösungsversuchen durch „Formular-“ oder „routinemäßige“ Generalaufklärung im Aufnahmeverfahren K. Lange-Lehngut, Schweigerecht versus Auskunftspflicht des Anstaltsarztes – Sicht des Anstaltsleiters, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 282, 285; Riekenbrauck, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 277, 280; Schöch, Zur Offenbarungspflicht der Therapeuten im Justizvollzug gemäß § 182 II StVollzG, in: ZfStrVo 1999, S. 259, 261; Schlungbaum, Schlusswort in: ZaefQ (2000) 94, S. 314. S. OLG Nürnberg NJW 2000, S. 889; Ulsenheimer, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 153 Rdnr. 46.
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ausweichen: Sie sind zusammengeschlossen.59 Das ist namentlich dort, wo es nur einen Arzt gibt, ein heikles Konstrukt. Auch wenn sich hierfür sicher neben den schon aus dem Sonderausschuss zitierten Argumenten vollzugsbedingte Kosten-, Personal- und Sicherheitsgründe ins Feld führen und deshalb Rechtfertigungsstrategien auch im Lichte des Angleichungsgrundsatzes finden lassen, sollte man doch auch gegenüber dieser Verschärfung des Anstaltsarztprinzips aufgrund der aus ihm zusätzlich fließenden Bedrohungen für ein die Gesundheit und Gesundung förderliches Behandlungsklima nach Wegen der Abmilderung suchen.60 Das gilt auch deshalb, weil andere Länder hier offenbar ganz anders verfahren. 61 Als dritter Nachteil ist die vom Gesetzgeber sicher nicht beabsichtigte, durch seine Konzeption aber doch begünstigte Verfestigung einer Sonderrolle der Anstaltsmedizin62 zu sehen. Sie hat eine wesentliche Quelle in einer nicht hinreichenden Verzahnung zwischen extra- und intramuraler Medizin, deren Herstellung die Vollzugsmedizin in die extra muros geltende Qualitätssicherung einbeziehen, ihren Standard der medizinischen Versorgung der Bevölkerung stärker angleichen, den angesichts der von den Verfassern des AE-StVollzG beschworenen Gefahren der „Routine und Berufsblindheit“63 notwendigen fachlichen Austausch befördern und dem Gefangenen so eine auch in dieser Hinsicht dem Äquivalenzprinzip und der allgemeinen Gesundheitsförderung besser entsprechende Gesundheitsfürsorge angedeihen lassen könnte.64 Auch wenn das Strafvollzugsgesetz die Inanspruchnahme extramuraler Dienste durch eine Einbestellung von Fachärzten oder die Zuführung der Gefangenen zu ihnen nicht nur nicht ausschließt, sondern in medizinisch indizierten Fällen durch die Gewährung des Anspruchs auf Krankenbehandlung (§ 58 StVollzG) konkludent zwingend macht,65 gleicht diese Möglichkeit 59 60
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Walter, Strafvollzug, Rdnr. 230. Zusammenfassend hierzu Kirschke, Versorgung, S. 91 ff., die die Versagung freier Arztwahl aus Vollzugsgründen rechtfertigt, für den Psychotherapeuten aber zu Recht eine Ausnahme fordert (S. 121 f.); Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, vor § 56 Rdnr. 6 weisen zu Recht darauf hin, dass freie Arztwahl und die Einbeziehung der Gefangenen in die gesetzliche Krankenversicherung Hand in Hand gehen müssten. S. Bemmann, Freie Arztwahl im Strafvollzug?, in: Festschrift für Spinellis, Athen 2001, S. 143 (= StV 2001, S. 61 ff.), der sein Plädoyer für eine freie Arztwahl mit Hinweis auf Griechenland untermauert; zu den Gründen des RegEStVollzG, freie Arztwahl zuzulassen, s. zusammenfassend Corves, in: BT-Stenografischer Dienst, 41. Sitzung des SA, 7. WP S. 1858 f. S. Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, vor § 56 Rn 6. S. Baumann u. a., AE-StVollzG, Begr. S. 167 zu § 104. S. in diesem Sinne dezidiert Keppler, Grundlagen, S. 126; auch Stöver/Lesting, in: Recht und Psychiatrie 1999, S. 150, 155; die Anfrage der Grünen, die zur Antwort der Nds. Landesregierung führte, betont den Bedarf an „differenzierter Gesundheitsberichterstattung und eines Qualitätsmanagements für die Gesundheitsversorgung und die Gesundheitsförderung“, Nds. Landtag, Ds 15/1192, S. 1. Der Kommissionsentwurf eines Strafvollzugsgesetzes hatte in § 54 I 2 die Hinzuziehung zur Pflicht gemacht; der RegE verzichtete darauf, weil sich die Notwendigkeit „nach den auch sonst geltenden ärztlichen Maßstäben für die Beiziehung weiterer
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den beschriebenen Nachteil nicht aus. Das gilt zumal deshalb, weil – wie es die Regelung über die Verlegung in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzugs in § 65 II StVollzG deutlich macht – die externe Inanspruchnahme nur eine subsidiäre und zurückhaltend zu handhabende Form ärztlicher Versorgung gegenüber der Regelbewältigung im Vollzug darstellen soll. Das hier eingeforderte Primat der Medizin kann diese Nachteile nur begrenzt mildern. Es hilft – konsequent befolgt – das Vertrauensverhältnis zu verbessern, die Zwangspartnerschaft erträglicher zu machen und den Anstaltsarzt zu ermutigen, ohne Rücksicht auf Kostendruck, Personalknappheit oder Sicherheitsbedenken die Möglichkeiten externer Inanspruchnahme im Rahmen des medizinisch Gebotenen auszuschöpfen. Der Kern des Dilemmas, die für die Nachteile verantwortliche bifunktionale Gemengelage, aber bleibt. Ihre Auflösung lässt sich auf dem Hintergrund der Aufgabendoppelung der Vollzugsmedizin nicht einfach erreichen. Eine Vollprivatisierung der Gesundheitsfürsorge im Vollzug könnte zwar namentlich dann, wenn sie mit der Einbeziehung der Gefangenen in die gesetzliche Krankenversicherung Hand in Hand ginge, die Störungen des Vertrauensverhältnisses beseitigen und freie Arztwahl ermöglichen. Sie ließe aber die Anstalt mit ihren unverzichtbaren vollzuglichen Ansprüchen an den Arzt weitgehend im Stich. Zwar wird in der hier nicht näher aufgreifbaren Debatte um eine Privatisierung des Strafvollzugs66 die ärztliche Versorgung wegen der in § 158 I 2 StVollzG eröffneten Möglichkeit vertraglicher Verpflichtungen externer Ärzte als ein Beispiel schon de lege lata zulässiger Teilprivatisierung benannt.67 Dabei gilt es aber zu
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Ärzte zur Konsultation oder für die Einschaltung von Fachärzten“ richte, s. BT-Ds 7/918, S. 72. S. dazu auch VV Nr. 2 II zu § 58 StVollzG; ferner Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, § 58 Rdnr. 3; zur Einlassung auf den Wunsch des Patienten in diesem Zusammenhang s. Romkopf/Riekenbrauck, in: Schwind/Böhm, StVollzG, § 58 Rn 10-13; ein Beispiel für die zahlenmäßige Inanspruchnahme findet sich in Nds. LReg in: Nds. Landtag Ds 15/1192, S. 9: danach wurden in den Jahren 1999-2003 33072 konsiliarärztliche Überweisungen und 847 Verlegungen in ein Krankenhaus der Allgemeinversorgung angeordnet. S. dazu nur Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, § 155 Rn 2; A. Kulas, Privatisierung hoheitlicher Verwaltung, 2. Aufl., Köln/Berlin/Bonn/München 2001, mit dem Hinweis auf die in der Qualität nicht schlechte Gesundheitsfürsorge in Privatvollzugsanstalten in den USA (S. 121); s. ferner die die Gesundheitsfürsorge im Strafvollzug freilich aussparenden Beiträge in R. Stober (Hrsg.), Privatisierung im Strafvollzug? Köln/Berlin/Bonn/München 2001. S. z. B. Kaiser/Schöch, Einführung, § 4 Rn 32; Laubenthal, Strafvollzug, Rdnr. 40; auch der Hessische Justizminister C. Wagner berichtet darüber, dass die von ihm eingesetzte Arbeitsgruppe „Modellprojekte zur Privatisierung des Strafvollzugs“ das „Versorgungsmanagement ... ärztliche Versorgung“ für eine schon mit dem geltenden Recht vereinbare Privatisierungsmöglichkeit halte, s. C. Wagner, Privatisierung im Strafvollzug – Ein Konzept für die Zukunft, ZRP 2000, S. 169, 172 (dort – S. 170 – auch zur Begeisterung der Inhaftierten über in Frankreich und Großbritannien etab-
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bedenken, dass eine Übertragung grundrechtsrelevanter Eingriffsbefugnisse wie z.B. des Rechts zur Zwangsbehandlung auf Verwaltungshelfer unzulässig ist. Auch kann man wegen der grundrechtswesentlichen, weil die Verwirklichung der Grundrechte auf Leben und Gesundheit erst ermöglichenden Eigenschaft der Gesundheitsfürsorge gegen ihre Privatisierung gewichtige Bedenken erheben. 68 Nimmt man aus solchen Gründen von diesem Gedanken Abstand, sollte man allerdings gleichwohl aus ihm den Anstoß entnehmen, den gesetzlichen Rahmen im Sinne einer personellen, räumlichen und organisatorischen Verzahnung anstaltsärztlicher intramuraler und von privaten oder öffentlichen Trägern geleisteter extramuraler Medizin auszuschöpfen. Dazu gehörte eine quantitativ erhebliche Inanspruchnahme der Möglichkeit, externe Ärzte für die Gesundheitsfürsorge im Vollzug vertraglich zu verpflichten. Das geschieht in der Praxis offenbar ohnehin schon so, dass von einer Konterkarierung des vom Gesetzgeber vorgegebenen Regel-Ausnahme-Verhältnisses zwischen Anstaltsarzt und nebenamtlich bzw. vertraglich beschäftigten Ärzten zu reden ist. 69 Diese Praxis verdient Ermutigung, weil sie zu einem regen fachlichen Austausch und zum Import extramuraler Standards in die Anstaltsmedizin beiträgt. Bedenkenswert sind zudem die Vorschläge, öffentliche Krankenhäuser mit gesicherten Stationen für inhaftierte Patienten und den Vollzug mit Ambulanzen für externe Fachärzte zu versehen.70 Auch ließen sich mit einer großzügigeren Eröffnung der Möglichkeit für Anstaltsärzte, nebenbei frei zu praktizieren, Bedenken gegen „Routine und Betriebsblindheit“ abschwächen.71 All das fügte sich in die für den europäischen Raum zu beobachtende Tendenz einer stärkeren Anbindung der Anstaltsmedizin an die extra muros praktizierte Gesundheitsfürsorge ein,72 verhülfe dem Angleichungsgrundsatz zu seinem Recht und diente Gefangenen und Ärzten.
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lierte Modellversuche); s. ferner den zusammenfassenden Bericht über das Ergebnis der Arbeitsgruppe in: Der Vollzugsdienst 2000, S. 20, 21; im Bericht selbst erfährt man über diesen Punkt nichts Genaueres: hier ist auf S. 34 die „Gesundheitsfürsorge/ärztliche Versorgung“ pauschal als „Aufgabe mit Dienstleistungs-/Unterstützungscharakter“ und deshalb als privatisierbar eingestuft, auf S. 36 ebenso die hier einzeln geprüfte „ärztliche Aufnahmeuntersuchung“. S. z.B. H. J. Bonk, Rechtliche Rahmenbedingungen einer Privatisierung im Strafvollzug, JZ 2000, S. 435 ff., speziell zu § 155 StVollzG S. 441; Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, § 155 Rdnrn. 5, 7. S. dazu z. B. die Angaben in Nds. LReg. in: Nds. Landtag, Ds 15/1192, S. 9 ff. Keppler, Grundlagen, S. 126. Wie sie der AE-StVollzG befürchtet, s. Baumann u. a., AE-StVollzG, Begr. S. 167 (zu § 104); s. dazu Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, vor § 56 Rn 8. Stöver/Lesting, in: Recht und Psychiatrie 1999, S. 150, 155; s. auch Nr. 12 der Empfehlung R (98) 7, nach der die Rolle des Gesundheitsministeriums verstärkt werden sollte, sowie die noch nicht publizierten Beiträge zur Ersten Europäischen Konferenz zur Gesundheitsförderung in Haft, die am 28./29 Oktober 2004 in Bonn stattgefunden hat.
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Ein Modell, das Dilemma der Bifunktionalität aufzuheben, wäre freilich ein anderes. Es könnte darin liegen, das Aufgabensplitting durch ein Personensplitting zu beseitigen. Der Anstaltsarzt übernähme darin ausschließlich die Aufgaben, die eine Ausbildung zum Arzt voraussetzen, sich aber als Ausfluss spezifisch vollzugsbedingter Aufgaben ausweisen. Die allgemeine Gesundheitsfürsorge würde dagegen einem zweiten Arzt überlassen. Ein solches Splitting liegt eigentlich nahe, weil es dem Bild vieler strukturell nicht unähnlicher Arztberufe entspricht. Weder der Amts-, noch der Schul-, noch der Betriebsarzt müssen ihre besonderen Aufgaben mit dem Spagat auch allgemeiner Behandlung belasten.73 Die Vorzüge eines solchen Modells liegen infolgedessen auf der Hand. Es beseitigt nicht nur das beschriebene Dilemma. Vielmehr könnte es auch der drohenden Gefahr einer – wie es Flügge nennt – „Instrumentalisierung der Vollzugsmedizin zu nichtmedizinischen Zwecken“74 begegnen. Denn es wäre kaum mehr etwas dagegen einzuwenden, wenn sich ein solcher Anstaltsarzt zu Fragen der Haft- oder Verhandlungsfähigkeit gutachterlich äußerte. Warum dieser Vorschlag bislang nicht zu finden ist, muss allerdings Gründe haben. Er scheitert prima facie dort, wo nur ein Arzt vorhanden ist. Dann muss eine zweite Stelle geschaffen werden, die ein Vertragsarzt besetzen könnte. Der Vorschlag mag andererseits ein für manchen unattraktives Arztbild entwerfen. Dem ließe sich vorbeugen, indem man das vom Alternativentwurf zu einem Strafvollzugsgesetz allerdings anders gemeinte Rotationsprinzip75 aufgriffe. Die Rollenverteilung könnte jährlich wechseln.
III. Das Fazit ist, dass der Anstaltsarzt unverzichtbar bleibt. Er sollte ein seiner Verantwortung und Aufgabe angemesseneres Ausbildungsangebot vorfinden und sich zum Facharzt für Vollzugsmedizin weiterbilden können. Seine Tätigkeit steht unter dem Primat der Medizin. Seine Bifunktionalität ist durch einen jährlichen Stafettenwechsel aufzuheben. Wenn dabei vom Anstaltsarzt die Rede war und ist, ist die im Vollzug tätige Ärztin natürlich ununterschieden gemeint. Auch der „Gefängnisarzt“ – wie Friedrich Leppmann seine Monographie noch nannte – ist seit 73
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S. Boetticher/Stöver, vor § 56 Rn 7, die die hier gezogene Schlussfolgerung daraus allerdings nicht ziehen; zu den einzelnen Arztberufen s. Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts § 12 Rn 15 ff. So der gleichnamige Aufsatz von C. Flügge, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 265. Der AE-StVollzG sah in § 104 III 1 vor, dass der den ärztlichen Anstaltsdienst leitende Arzt „diese Funktion hauptamtlich höchstens drei Jahre bekleiden darf.“ Grund für diesen angesichts der Notwendigkeit immer wieder vorzunehmender Neueinarbeitung nicht unproblematischen und deshalb wohl auch zu Recht nicht Gesetz gewordenen Vorschlag war die Befürchtung der Gefahr sonst eintretender „Routine und Betriebsblindheit“ (Begr. S. 167 zu § 104).
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Thomas Hillenkamp
langem nicht mehr ein reiner Männerberuf. Wer das Buch Werners „Vom Waisenhaus zum Zuchthaus“ noch kennt, kann sich vorstellen, dass diese Entwicklung einer Gesundheitsfürsorge zugute kommt, die sich dem gewiss in manchem utopischen Gesundheitsbegriff der Weltgesundheitsorganisation in seiner ganzheitlichen Perspektive nähert.76
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S. krit. hierzu Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts § 1 Rdnr. 10.
Statement Wolfgang Riekenbrauck
Der Vollzug der Freiheitsstrafe bedingt eine Reihe von Einschränkungen der Freiheitsrechte, wie z.B. der Berufsausübung, des Postgeheimnisses und das Alkoholverbot. Auch die Versorgung durch die gesetzliche Krankenversicherung und damit die Arztwahl ist unter Strafvollzugsbedingungen ausgeschlossen. Daher garantiert das Strafvollzugsgesetz dem Inhaftierten, der lediglich zu einer Freiheitsstrafe verurteilt ist, eine umfassende gesundheitliche Fürsorge. Der Anstaltsleiter befindet sich nach § 156 Abs. 2 StVollzG in der Garantenstellung, für diese gesundheitliche Versorgung unter Strafvollzugsbedingungen den Rahmen zu schaffen und inhaltliche Freiräume dem Anstaltsarzt zur Verfügung zu stellen. Die Aufgabe der gesundheitlichen Versorgung übernimmt der Arzt im Rahmen einer Delegation und Mandatierung. Der Anstaltsarzt hat eigene Räumlichkeiten, Geräte und fachspezifische Helfer, um seinen vielfältigen Aufgaben und der besonderen Verantwortung gerecht werden zu können. Gesetzliche Bestimmungen, wie sie z.B. in den §§ 101 und 182 StVollzG oder dem § 455 StPO festgelegt worden sind, markieren seinen Handlungsspielraum. Der 7. Titel des StVollzG beschreibt umfänglich das Tätigkeitsfeld des Anstaltsarztes, welches so zu einer Gesamtverantwortung des Arztes für die gesundheitlichen Belange der Gefangenen wird. Diese starke Stellung des Anstaltsarztes wird jedoch selten voll wahrgenommen. Meist sieht sich der Anstaltsarzt – von Ausnahmen abgesehen – als Einzelkämpfer in einer tradierten und durchstrukturierten Justizvollzugsanstalt. Schon die Rekrutierung der Anstaltsärzte gestaltet sich schwierig, da in der Gesellschaft und unter den Ärzten Vorbehalte gegen eine Tätigkeit unter stark reglementierten Strafvollzugsbedingungen bestehen. Die Auswahl des jeweiligen Anstaltsarztes wird in erster Linie vom Anstaltsleiter durchgeführt, der dabei auch seine subjektiven Interessen ins Spiel bringt. Ein besonderes Problem stellt die Tatsache dar, dass „intramurale Medizin“ nicht systematisch erlernbar ist. Die schwierige Orientierung zwischen den Patienteninteressen und dem Vollzugsanliegen ist nicht leicht und führt gelegentlich zu Überidentifikation des Arztes mit dem Justizvollzug oder auch – aus institutionellen
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Wolfgang Riekenbrauck
Gründen oder fachlicher Schwäche – zu Überpointierung medizinischer Erfordernisse. Im Folgenden möchte ich untersuchen, welche besonderen Erwartungen an den Anstaltsarzt gestellt werden und dabei den Blickwinkel des eher medizinisch Fachlichen, des Justizvollzuges, des Gefangenen und der sozialen und psychologischen Stellung des Arztes einnehmen. Medizinisch fachlich muss der Arzt den gesamten Medizinbetrieb im Strafvollzug organisieren. Dazu gehört das Abdecken sämtlicher medizinischer Fachrichtungen durch ihn selbst oder durch Konsiliarärzte in diagnostischer und therapeutischer Hinsicht. Ganz wesentlich ist für ihn, das Vertrauen der Gefangenen zu erwerben, da sonst seine therapeutischen Bemühungen ins Leere laufen und letztlich sowohl mit Gefahren als auch mit Kosten verbunden sind. Der Gefangene hat Anspruch auf eine umfangreiche Diagnostik und adäquate Behandlung, welche hinter dem qualitativen Versorgungsanspruch der zivilen Medizin nicht zurücksteht. Darüber hinaus muss er auch Vorsorgeuntersuchungen durchführen (§ 57 StVollzG) und Rehabilitation im Sinne der §§ 57 und 58 StVollzG betreiben. Er ist weiterhin zuständig für die Fragen der Ernährung, der Hygiene, der Kleidung, der Wohnund der Arbeitsbedingungen in der Haftanstalt. Sein Augenmerk muss auch auf ärztliche Behandlung zur sozialen Eingliederung gerichtet sein. Er muss für seine eigene Fortbildung Sorge tragen. Nicht zuletzt stellt ein Großteil seiner medizinischen Stellungnahmen eine Beurteilung der Haftfähigkeit dar und hat insofern gutachterlichen Rang. Der Strafvollzug wünscht sich einen Arzt, der die medizinische Versorgung möglichst geräuschlos abwickelt. Der allgemeine Vollzugsablauf soll nicht gestört und ärztlich gesichert werden. Zu letzterem zählt die Bereitschaft zum Durchbrechen der ärztlichen Schweigepflicht nach § 182 StVollzG und auch die Mitarbeit bei Sicherungsmaßnahmen wie der Verbringung in den besonders gesicherten Haftraum. Nur absolut zwingende medizinische Maßnahmen soll er definieren und aus Sicht des Vollzuges damit Bewachungen möglichst vermeiden. Insgesamt ist Kostenvermeidung ein permanentes Anliegen an den Arzt. Dabei sind Maßnahmen wie physikalische Therapien, die Auswahl der Medikamente, die Durchführung von Rehabilitation außerhalb des Justizvollzuges und die Nutzung von Dolmetschergesprächen gemeint. Außerdem werden häufig fachfremde Probleme an ihn herangetragen und er ist insofern aus Sicht des Vollzuges der möglichst restriktive Ansprechpartner für Forderungen nach Privatkleidung, zusätzlicher Freistunde, besonderen Formen der Essenszubereitung und allerlei Annehmlichkeiten, die zu Konfliktfeldern im Vollzug werden. Letztlich soll der Arzt die Haftfähigkeit attestieren und so den Vollzug der Freiheitsentziehung möglich machen. Aus dem Blickwinkel der Gefangenen besteht die Erwartung, dass der Arzt Vertrauen in ihn rechtfertigt, trotz seiner eindeutigen Justizvollzugszugehörigkeit. Er
Statement
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muss Empathie für die Anliegen der Gefangenen zeigen und dabei möglichst weitgehend das Amtsarztgeheimnis erkennbar wahren. Der Gefangene wünscht sich tendenziell eher eine Maximaltherapie und erwartet allerlei Vergünstigungen. Letztlich drängt er, wenn irgendmöglich, mit unterschiedlichsten Argumenten nach Haftunfähigkeit, und der Arzt hält aus der Sicht des Gefangenen den Schlüssel dazu in den Händen. Wenn er für die Gefangenen ein glaubwürdiger Arzt ist, wird er nicht selten zum „Kummerkasten“. Vielfältiges sozialtherapeutisches Handeln zur Vermeidung psychosomatischer Erkrankungen wird ein ständiger Anspruch an ihn, dem er objektiv nicht gerecht werden kann. Die soziale Stellung des Arztes wird von dem eher geringeren Ansehen der Medizin hinter Gittern geprägt. Zu einem nicht unerheblichen Anteil bringt die zivile Medizin aus Unkenntnis dem Anstaltsarzt Misstrauen entgegen. Fast grundsätzlich wird Insuffizienz unterstellt. Das ist auch die Sicht der Patienten, bevor sie eigene gute Erfahrungen gemacht haben, und selbst der eigene Justizvollzugs-„Apparat“ betrachtet die Medizin im Strafvollzug aus dem Blickwinkel des Misstrauens und der Rivalität. Im Gegensatz zu den vollzuglich orientierten Mitarbeitern, welche konkurrenzlos für kustodiale Aufgaben zuständig sind, hat die Medizin im Strafvollzug eine echte Konkurrenz in der zivilen Medizin. Sie wird deutlich bei Stellungnahmen von Gutachtern, bei Behandlungen nach der Haft, beim Konsiliararzt oder letztlich auch bei Obduktionen. Die innere Verfassung des Arztes wird irritiert durch Motivation und Zweifel, wenn er Betrügern, „Unschuldigen“, aber auch Asylbewerbern und Drogenkranken begegnet. Mitunter bedeutet das Ausüben des ärztlichen Berufs im Strafvollzug ein erhebliches Überwinden innerer Abwehr gegen Menschen, welche abscheuliche Taten verübt haben. Der Wunschkandidat für den Arzt im Strafvollzug ist also eher ein „Tausendsassa“ denn real existierender Fachmann. Um der Aufgabenstellung unter den skizzierten Rahmenbedingungen gerecht werden zu können, müssen zwei Forderungen nachhaltig erhoben werden. Die Monopolstellung der Medizin im Justizvollzug erfordert erstens höchste Qualität des Arztes, höchste Qualität der Krankenpfleger, höchste Qualität der Justizvollzugskrankenhäuser und höchste Qualität der Pflegeabteilungen. Zweitens muss unbedingt eine fachlich spezialisierte intramurale Medizin etabliert werden. Dazu ist die Resistenz der Justiz zu überwinden, sich hinter die Kulissen schauen zu lassen. Durch Forschung und Fakten muss die Medizin hinter Gittern eine Standardisierung erfahren. Nur dann ist der Arzt in der Lage, auf dem komplizierten, von widersprüchlichen Interessen geprägten Kraftfeld, die richtigen Weichen zu stellen. Er muss dabei medizinisch äußerst versiert und gleichzeitig in der Lage sein, Ansprüche und Interessen von Rechtsanwälten, inhaftierten Patienten, Gerichten, Staatsanwaltschaften und Justizvollzug nicht auszublenden, sondern angemessen zu berück-
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Wolfgang Riekenbrauck
sichtigen. Auch Einwirkungen der Öffentlichkeit (Presse, Gefangenenhilfeorganisationen, parlamentarische Organe usw.), moralische Gesichtspunkte und die konkreten materiellen Rahmenbedingungen (Ressourcen) muss er in sein Handeln einbeziehen, um für den Patienten unter den obwaltenden Umständen das bestmögliche medizinische Ergebnis zu erreichen. Ein Arzt, welcher zu dieser Ausbalancierung der Interessen nicht in der Lage ist, wird sich in die anfangs geschilderte Überpointierung einer Defensivmedizin oder in eine sarkastische Menschenfeindlichkeit flüchten. Hohe Qualität der Medizin im Strafvollzug lohnt sich außerordentlich zum einen aufgrund menschlicher Gesichtspunkte. Gesundheitlicher Schaden darf nicht mit dem Vollzug der Freiheitsstrafe verbunden sein. Des Weiteren ist der Aspekt der Gerechtigkeit hervorzuheben. Eine Medizin im Strafvollzug, die nicht in Augenhöhe mit der zivilen Medizin handeln kann, stimuliert geradezu Rechtsanwälte, Patienten usw., Gesundheitsfragen zu instrumentalisieren. Menschen mit Intelligenz, Geld, Einfluss und Beharrlichkeit können sich so dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen. Die ganz und gar nicht unwichtigen finanziellen Aspekte sprechen nach meiner Erfahrung ebenfalls für eine aufwändige, fachlich hochstehende medizinische Versorgung hinter Gittern. Andernfalls kommt es zu folgewirksamen Friktionen um den Justizvollzug herum. Ein zu Inhaftierender mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, dem von seinem Hausarzt, seinem Rechtsanwalt, seinem familiären Umfeld und der Öffentlichkeit fälschlicherweise suggeriert wird, dass er vollzugsuntauglich sei, verursacht äußerst viele Kosten und Risiken, falls er rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt ist und der Justizvollzug ansteht oder begonnen hat.
Ärztliche Versorgung im Strafvollzug: Äquivalenzprinzip und Ressourcenknappheit Bernd-Dieter Meier
I. Einleitung Fragt man danach, an welchen Prinzipien sich die ärztliche Versorgung im Strafvollzug orientiert, stößt man auf den Begriff der Äquivalenz. Die ärztliche Versorgung im Vollzug soll zur Versorgung „draußen“, genauer: zur Versorgung in der GKV, äquivalent, gleichwertig sein. Der Strafvollzug soll nach heutigem Verständnis nur die Freiheit nehmen, nicht aber durch schlechtere medizinische Versorgung bestrafen. Entsprechend dem gesetzlichen Auftrag, das Leben im Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich anzugleichen und den schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs entgegenzuwirken (§ 3 Abs. 1 und 2 StVollzG), soll der Gefangene im Vollzug eine medizinische Versorgung, Beratung und Behandlung erhalten, die den außerhalb des Vollzugs erprobten und bewährten Standards und Leitlinien entspricht.1 Dass sich die intramurale ärztliche Versorgung am Äquivalenzprinzip orientiert, ist nicht selbstverständlich. Die medizinische Versorgung der Gefangenen ist teuer. So wandte die Freie und Hansestadt Hamburg im Jahr 2003 für die Gesundheitsfürsorge der Gefangenen 8.388.000 € auf, was einem Anteil von knapp 8 % der Gesamtausgaben für den Strafvollzug entspricht.2 Auch wenn man davon ausgehen kann, dass das rechtlich von der GKV abgekoppelte eigenfinanzierte Gesundheitssystem des Strafvollzugs für den Fiskus immer noch günstiger ist als die flächendeckende Einbeziehung sämtlicher Strafgefangener in die GKV, muss man befürchten, dass derartige Beträge bei Justiz- und Finanzpolitikern Begehrlichkeiten wecken und zu politischem Nachdenken über die Notwendigkeit des Äquivalenzprinzips Anlass geben. Dabei erscheinen die Gefahren für den Fortbestand des Äquivalenzprinzips umso realer, als politisch ein Wechsel der bisherigen Gesetzgebungskompetenz des Bundes zu den Ländern diskutiert wird, was diesen die Möglichkeit eröffnet, auch die Maßstäbe für die Qualität der intramuralen medizinischen Versorgung gesetzlich neu zu bestimmen. 1 2
Boetticher/Stöver, in: AK StVollzG, 4. Aufl., 2000, vor § 56 Rn. 3. Schreiben der Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg vom 25.11.2004, Az.: 4550 – 32.4.
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Die angedeuteten Gefahren geben Anlass, sich der Bedeutung des Äquivalenzprinzips für die Gesundheitsfürsorge im Strafvollzug zu vergewissern und danach zu fragen, welche Relevanz diesem Prinzip gegenwärtig zukommt. Eine Bestandsaufnahme zum Maßstab, an dem sich die intramurale medizinische Versorgung heute orientiert, erscheint dabei nicht allein in rechtlicher Hinsicht geboten. Ein realitätsnahes Bild lässt sich nur dann gewinnen, wenn man auch die Rechtswirklichkeit mit in den Blick nimmt und danach fragt, ob und inwieweit der Anspruch der Äquivalenz in der Praxis tatsächlich eingelöst wird. Doch zunächst zur rechtlichen Seite.
II. Rechtliche Grundlagen der Äquivalenz 1.
Bedeutung und Reichweite
Die zentralen Leistungsansprüche der Gefangenen auf Gesundheitsuntersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten, auf Krankenbehandlung und Versorgung mit Hilfsmitteln ergeben sich aus den §§ 57 bis 59 StVollzG. Die im StVollzG normierten Ansprüche sind parallel zu den im SGB V (Gesetzliche Krankenversicherung) geregelten Ansprüchen der gesetzlich Versicherten konstruiert (§§ 25, 27 und 33 SGB V) und tragen den wichtigsten Interessen der Gefangenen an der Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit Rechnung. Identisch sind die im StVollzG und im SGB V normierten Ansprüche nicht.3 Unterschiede zeigen sich etwa beim Anspruch auf psychotherapeutische Behandlung, der im StVollzG nicht explizit genannt wird, sowie beim Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, der nach § 59 Satz 1 StVollzG unter dem Vorbehalt der Dauer des Freiheitsentzugs steht. Auch steht dem Gefangenen anders als dem gesetzlich Versicherten kein Anspruch auf freie Arztwahl zu; im Vollzug kann sich der Gefangene allein an den Anstaltsarzt wenden. Auf die Einzelheiten ist hier nicht einzugehen; sie bilden das Thema eines eigenen Beitrags.4 Festzuhalten ist aber, dass die wesentlichen Gesundheitsinteressen der Gefangenen durch die Einräumung von subjektivöffentlichen Leistungsansprüchen, die nach § 109 StVollzG ggf. auch gerichtlich durchsetzbar sind, abgedeckt werden. Jedenfalls im Kernbereich der für die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit erforderlichen Maßnahmen erreichen das intra- und das extramurale System bei den Leistungsansprüchen eine Übereinstimmung, die es gerechtfertigt erscheinen lässt, von „Äquivalenz“ zu sprechen. Für die Konkretisierung der genannten Ansprüche kommt § 61 StVollzG besondere Bedeutung zu, denn wenn es diese Vorschrift nicht gäbe, wäre die unbestimmte 3
4
Ausführlich zum Vergleich der Standardbehandlungen nach StVollzG und SGB V Kirschke, Medizinische Versorgung im Strafvollzug, 2003, 91 ff. Vgl. die Beiträge von Kirschke und Haverkate in diesem Band.
Ärztliche Versorgung im Strafvollzug: Äquivalenzprinzip und Ressourcenknappheit
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Begrifflichkeit der §§ 57 bis 59 StVollzG für Einschränkungen durch normausfüllende Verwaltungsvorschriften der Justizministerien offen. Indem § 61 StVollzG für die Bestimmung von Art und Umfang der medizinischen Leistungen auf die Vorschriften des SGB V und die auf dessen Grundlage ergangenen Regelungen verweist, errichtet er gegenüber dem Zugriff der Justizverwaltungen auf die Leistungsansprüche der Gefangenen Hürden und bringt gleichzeitig zum Ausdruck, dass die ärztliche Versorgung auch in ihrer Art und ihrem Umfang intra- und extramural gleichwertig sein muss. Freilich zeigt sich hier auch, dass Äquivalenz für Gefangene nicht nur Vorteile mit sich bringen muss, sondern auch zu Einschränkungen und Begrenzungen führen kann: Die in der GKV üblichen Zuzahlungen und Leistungsbeschränkungen (etwa bei Bagatellerkrankungen, § 34 SGB V) sind im Vollzug angesichts der geringen Einkünfte der meisten Gefangenen kaum ohne weiteres umzusetzen und stehen zu dem Grundsatz, wonach den Gefangenen die Maßnahmen der Gesundheitsfürsorge mit Ausnahme des Zahnersatzes (§ 62 StVollzG) kostenlos zu gewähren sind, in einem Spannungsverhältnis.5 Äquivalenz von intra- und extramuraler Versorgung kann deshalb auch bei der Bestimmung von Art und Umfang der medizinischen Leistungen trotz des einschränkungslosen Verweises in § 61 StVollzG nur als Grundsatz gelten und muss für Anpassungen an die besondere Vollzugssituation offen sein. Begriff und Bedeutung des Äquivalenzprinzips sind damit nicht ausgeschöpft. Innerhalb der durch das StVollzG geschaffenen Rechtspositionen kennzeichnet Äquivalenz auch den Maßstab, der im ärztlichen Umgang mit den Gefangenen an den Tag zu legen ist. Die im StVollzG normierten Ansprüche werden durch unbestimmte Rechtsbegriffe, Beurteilungsspielräume und Ermessen bestimmt. So knüpft der Anspruch auf Krankenbehandlung in § 58 StVollzG an den Begriff der „Krankheit“ an und spricht von „Notwendigkeit“; die im Gesetz vorgesehene Rechtsfolge richtet sich auf „ärztliche Behandlung“. Was diese Begriffe bedeuten und wie sie im Einzelfall auszufüllen sind, steht im fachlich-ärztlichen Ermessen. 6 Rechtlich bedeutet dies nicht, dass der Vollzugsarzt in seinen Entscheidungen über das „Ob“ und „Wie“ der ärztlichen Behandlung völlig frei wäre. Für die Ermessensausübung – konkret etwa: für die Untersuchung des Patienten und die Wahl der Behandlungsmethode – ist der Vollzugsarzt an die allgemein anerkannten Standards der medizinischen Erkenntnis gebunden; der erkrankte Gefangene hat einen Anspruch auf fachgerechte Therapie.7 Behandlung und Versorgung folgen also auch hier intra- und extramural denselben fachlich-medizinischen Standards, was kaum irgendwo deutlicher als darin zum Ausdruck kommt, dass der Gesetzgeber bei der Schaffung des Anspruchs auf Krankenbehandlung intra- und extramural denselben Wortlaut gewählt hat; § 58 StVollzG und § 27 SGB V sind 5 6
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Romkopf/Riekenbrauck, in: Schwind/Böhm, StVollzG, 3. Aufl., 1999, § 61 Rn. 4. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, 10. Aufl., 2005, § 58 Rn. 3; Romkopf/Riekenbrauck, in: Schwind/Böhm, StVollzG, 3. Aufl., 1999, § 56 Rn. 17; OLG Karlsruhe NJW 2001, 3422 (3423). OLG Karlsruhe NJW 2001, 3422.
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in den entscheidenden Teilen textidentisch. Aber auch aus § 61 StVollzG i.V.m. § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V lässt sich dieser Anspruch ableiten; auch für die intramurale Medizin gilt kraft dieses Verweises, dass Qualität und Wirksamkeit der im Vollzug angebotenen ärztlichen Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen haben. Die Orientierungslinie, die der Gesetzgeber für die Vollzugsmedizin mit dem Verweis auf die allgemein anerkannten Standards der medizinischen Erkenntnis liefert, ist zwar unscharf, denn die medizinischen Standards können je nach den personellen und sachlichen Möglichkeiten variieren; in einer größeren Universitätsklinik oder einer personell und apparativ besonders gut ausgestatteten Spezialklinik sind die Maßstäbe andere als in einem mittleren oder kleinen Krankenhaus der Allgemeinversorgung.8 In dieser Unschärfe liegt jedoch kein spezifisches Problem der Vollzugsmedizin; intra- und extramurale Medizin teilen hier Schwierigkeiten, die sich aus der Unschärfe des Maßstabs etwa für die Beurteilung von Haftungsfragen ergeben. Die Frage, die sich für die Vollzugsmedizin im Zusammenhang mit dem Maßstab in herausgehobener Weise stellt, ist, in welchem Umfang die besondere Situation des Vollzugs, und hier namentlich die Beschränkung der finanziellen und personellen Mittel, die Entscheidung über den Einsatz der diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten beeinflussen darf. Sucht man hier nach einer Antwort, ist von der skizzierten Unschärfe des medizinischen Standards auszugehen. Die Vollzugsmedizin ist zwar über das Äquivalenzprinzip an den allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnis gebunden und hat den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen, doch ist der damit in Bezug genommene Maßstab für personelle, apparative und fiskalische Beschränkungen durchaus offen. 9 Auch der von den Gerichten kontrollierte medizinische Standard gebietet es nicht, immer das jeweils neueste Therapiekonzept zu verfolgen und über die auf den neuesten Stand gebrachte apparative Ausstattung zu verfügen; gerade Kostengründe, die auch in der GKV ein Thema sind, können es gestatten, nach älteren, bewährten Methoden zu behandeln, ohne dass hierin ein Sorgfaltspflichtverstoß liegen muss.10 Aus medizinethischer und haftungsrechtlicher Sicht ist die eigentlich relevante Frage deshalb nicht, ob ökonomische Zwänge in der Behandlung überhaupt berücksichtigt werden dürfen, sondern bis zu welcher Grenze sie die Entscheidung beeinflussen dürfen, ohne dass die intramurale Behandlung fehlerhaft wird. Eine Antwort auf diese Frage nach der Untergrenze sorgfaltsgemäßer Behandlung muss hier naturgemäß allgemein gehalten sein; letztlich kommt es auf den konkre-
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BGHZ 102, 17 (24). Vgl. Ebsen NDV 1997, 76 f. BGHZ 102, 17 (24); Sternberg-Lieben, in: Heinrich/Hilgendorf/Mitsch/SternbergLieben (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Weber, 2004, 87 f.
Ärztliche Versorgung im Strafvollzug: Äquivalenzprinzip und Ressourcenknappheit
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ten Einzelfall an, an dem die Grenze zu markieren ist. 11 Die Antwort hat eine fachlich-medizinische und eine rechtliche Seite, die auseinander gehalten werden müssen, obwohl sie eng miteinander verknüpft sind. Fachlich-medizinisch dürfte die Grenze durch die Vertretbarkeit der Abwägung gezogen werden, bei der die Dringlichkeit der medizinischen Maßnahme zur Wiederherstellung und Erhaltung der Gesundheit des Gefangenen die entscheidende Rolle spielt. Der Behandlungsstandard muss nicht optimal, aber wenigstens ausreichend sein, um das dem Gefangenen drohende Gesundheitsrisiko abzuwenden.12 Das medizinisch Notwendige muss auch im Vollzug geleistet werden.13 Der Aufwand etwa, der durch die Ausführung eines Gefangenen zu einer extramuralen Gesundheitsuntersuchung oder durch die Bewachung während der Unterbringung in einem externen Krankenhaus entsteht, kann bei der Abwägung zwar berücksichtigt werden, aber es darf auf ihn dann nicht entscheidend ankommen, wenn für die Gesundheit des Gefangenen ein erhebliches Risiko besteht.14 Im Zweifel hat der Behandlungsanspruch des Gefangenen Vorrang. Auch wenn das einzig wirksame Medikament, das die Beschwerden eines erkrankten Gefangenen noch lindern kann, teuer ist, muss es deshalb verabreicht werden, und wenn das Fachwissen des behandelnden Vollzugsarztes an die Grenzen stößt, muss der externe Spezialist herangezogen werden, selbst wenn dies mit zusätzlichen Kosten verbunden ist – sofern die entsprechende Behandlung in Freiheit von den Krankenkassen finanziert würde, kann sich der Vollzugsarzt in solchen unausweichlichen Situationen nicht auf Ressourcenknappheit berufen. Auf der rechtlichen Seite spielen die Grundrechte des Gefangenen die entscheidende Rolle, denn das Arzt-Patienten-Verhältnis im Strafvollzug ist öffentlichrechtlicher Natur.15 Äquivalenz der intra- und extramuralen Standards bedeutet nicht Gleichheit, sondern Gleichwertigkeit. Abweichungen von den Versorgungsstandards in der GKV sind deshalb, soweit sie nicht schon vom Gesetzgeber selbst bestimmt worden sind, rechtlich auch bei der Ausübung des ärztlichen Ermessens zulässig. Voraussetzung hierfür ist freilich, dass die Abweichungen gerechtfertigt werden können, wobei die Rechtfertigung ihre Grundlage in der besonderen Situation des Strafvollzugs haben muss, da die Inhaftierung den einzigen rechtlich relevanten Unterschied zwischen einem Grundrechtsträger „drinnen“ und „drau-
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Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., 2002, § 99 Rn. 26; v. Wulffen, SGB 1996, 253. Vgl. Sternberg-Lieben, in: Heinrich/Hilgendorf/Mitsch/Sternberg-Lieben (Fn. 10), 88, unter Bezugnahme auf BGH NJW 1994, 1596 (1597 f.). Zum Begriff der medizinischen Notwendigkeit genauer Ratajczak, in: Arbeitsgemeinschaft Rechtsanwälte im Medizinrecht e.V. (Hrsg.), Medizinische Notwendigkeit und Ehtik, 1999, 12 ff. Vgl. OLG Düsseldorf MedR 1984, 69 (70); Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck (Fn. 11), § 99 Rn. 26. KG ZfStrVo 1986, 186 (nur LS); Laubenthal, Strafvollzug, 3. Aufl., 2003, 302.
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ßen“ darstellt.16 Konkret bedeutet dies, dass der Versorgungsstandard, der „draußen“ üblich wäre, aus vollzugsbedingten Gründen, zu denen auch die auf der Institution lastenden ökonomischen Zwänge gehören können, eingeschränkt werden darf. Rechtlich dürfen die Einschränkungen dabei jedoch nicht grenzenlos erfolgen, sondern müssen sich am Verhältnismäßigkeitsgedanken messen lassen; dabei spielt der Wert der bedrohten Rechtsgüter – konkret: der Gesundheit des Gefangenen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) – die entscheidende Rolle. Mit schwer erkrankten Gefangenen darf und muss aus verfassungsrechtlichen Gründen anders umgegangen werden als mit leicht erkrankten, mit Akutfällen anders als mit Dauerpatienten. Im Ergebnis können und dürfen sich aus diesen Abwägungen rechtlich unproblematische zeitliche Verzögerungen bei der Behandlung ergeben, und im Einzelfall sogar auch Versagungen, letzteres etwa bei Bagatellerkrankungen oder dann, wenn Art und Schwere der Erkrankung eine Behandlung mit Blick auf die Dauer der im Strafvollzug verbrachten Zeit nicht als notwendig erscheinen lassen (Situation des § 59 Satz 1 StVollzG). Im Einzelnen muss hier jedoch sehr vorsichtig abgewogen werden. Die Entscheidung über das „Ob“ und „Wie“ der Behandlung darf sich auch hier nicht allein an den Ressourcen orientieren, sondern muss stets die im Hintergrund stehenden Grundrechte im Blick behalten. 17 Das Äquivalenzprinzip ist auch ein Maßstab, der dem Grundrechtsschutz der Gefangenen dient.
2.
Verfassungsrechtliche Begründung
Die letzte Bemerkung leitet über zu der Frage, woraus sich denn die materielle Begründung dafür ergibt, dass Gefangene überhaupt einen Anspruch auf gleichwertige, äquivalente medizinische Versorgung haben. Wäre es nicht möglich, so könnte man fragen, dass das Äquivalenzprinzip, das bis heute im Strafvollzugsgesetz fest verankert ist, durch einen Federstrich des Gesetzgebers beseitigt wird? Dass der Standard der intramuralen Gesundheitsfürsorge abgesenkt und im Strafvollzug nur noch eine medizinische „Basisversorgung“ bereit gestellt wird? Ist das Äquivalenzprinzip sakrosankt? Wie das Bundesverfassungsgericht eine solche Frage beantworten würde, wenn sie ihm vorgelegt würde, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit vorhersagen. Viel spricht aber dafür, dass das Äquivalenzprinzip in den Grundrechten der Gefangenen verankert und dem Zugriff des Gesetzgebers entzogen ist. Nach der grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 197218 ist auch der Strafgefangene ein Bürger, für den die Rechtsgarantien des Grundgesetzes gelten. In die Grundrechte des Gefangenen kann nur durch Gesetz oder aufgrund 16 17 18
Ebenso Kirschke (Fn. 3), 91. So auch BVerfG NStZ 1996, 614 (obiter dictum). BVerfGE 33, 1 (9 ff.).
Ärztliche Versorgung im Strafvollzug: Äquivalenzprinzip und Ressourcenknappheit
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eines Gesetzes eingegriffen werden, eine Anforderung, der der Gesetzgeber bekanntlich durch den Erlass des StVollzG Folge geleistet hat. Aus der Grundrechtsgeltung folgt dabei nicht nur, dass der Gefangene Abwehrrechte gegenüber den staatlichen Organen hat, vielmehr folgen aus ihr korrespondierend auch Schutzpflichten.19 Zwar kommt dem Gesetzgeber wie der vollziehenden Gewalt bei der Erfüllung der aus den Grundrechten abgeleiteten Schutzpflichten grundsätzlich ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich zu, der auch Raum lässt, konkurrierende Interessen zu berücksichtigen, zu denen gewiss auch das Interesse an möglichst sparsamer Haushaltsführung zählt. Der mit einer solchen Schutzpflicht verbundene grundrechtliche Anspruch ist daher im Blick auf diese Gestaltungsfreiheit grundsätzlich nur darauf gerichtet, dass die öffentliche Gewalt solche Vorkehrungen zum Schutz des betroffenen Grundrechts trifft, die nicht gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind.20 Im Umgang mit Strafgefangenen dürften jedoch Besonderheiten gelten, die zu deutlich weitergehenden Schutzansprüchen gegenüber den staatlichen Organen führen. Dabei ist hier zum einen auf die durch die Inhaftierung begründete Garantenstellung der staatlichen Organe zu verweisen: Indem die zuständigen Organe Verurteilte in staatlichen Gewahrsam nehmen, wächst ihnen für die Gesundheit der Inhaftierten eine rechtlich begründete Garantenpflicht zu, da die Inhaftierten in der Situation der Gefangenschaft zum eigenverantwortlichen Schutz ihrer Gesundheit nur noch eingeschränkt in der Lage sind.21 § 56 Abs. 1 Satz 1 StVollzG, der die Fürsorgepflicht der Anstalt für die körperliche und geistige Gesundheit des Gefangenen normiert, greift insofern einen allgemeinen Gedanken auf, der auch unabhängig vom Gesetz gelten würde. Zum anderen spielt der sozialversicherungsrechtlich privilegierte Status der Freigänger (§ 62a StVollzG) in die verfassungsrechtliche Bewertung mit hinein: Adressaten der medizinischen Versorgungsleistungen nach dem StVollzG und damit des Äquivalenzprinzips sind allein diejenigen Strafgefangenen, die nicht als Freigänger in einem freien Beschäftigungsverhältnis stehen, während die Ansprüche nach dem StVollzG für die Freigänger ruhen, wenn und solange sie aufgrund ihres Beschäftigungsverhältnisses gesetzlich krankenversichert sind und deshalb Anspruch auf Versorgungsleistungen nach dem SGB V haben. Auch der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) gebietet mithin, die Unterschiede in der medizinischen Versorgung der Gefangenen nicht zu groß werden und im Vollzug keine „Zwei-KlassenMedizin“ entstehen zu lassen. Den Staat dürfte damit im Ergebnis die verfassungsrechtliche Pflicht treffen, die durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete körperliche Unversehrtheit der Gefangenen zu schützen und für ihre Gesundheit zu sorgen, indem er, wenn er die 19 20 21
BVerfGE 77, 170 (214). BVerfGE 77, 170 (214 f). Boetticher/Stöver, in: AK StVollzG (Fn. 1), vor § 56 Rn. 2.
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Gefangenen schon nicht in die GKV einbezieht, doch zumindest ein System der intramuralen Gesundheitsfürsorge schafft, das dem der GKV gleichwertig sein muss. Eine aus der Sicht des Justizfiskus vielleicht wünschenswerte Lockerung des Äquivalenzprinzips dürfte verfassungsrechtlich ausgeschlossen sein.
III. Das Äquivalenzprinzip in der Praxis Vor dem Hintergrund dieser rechtlichen Überlegungen sei im Folgenden der Frage nachgegangen, welche Bedeutung dem Äquivalenzprinzip heute in der Praxis zukommt. Dabei ist von dem Befund auszugehen, dass diese Frage in der wissenschaftlichen Literatur bislang kaum eine Rolle gespielt hat. Über die gesundheitliche Lage der Gefangenen und die Rahmenbedingungen der medizinischen Versorgung existieren zwar vereinzelte Berichte von im Strafvollzug tätigen Ärzten, 22 und auch Landtagsdrucksachen können sich als ergiebige Quelle erweisen, wenn von Landesjustizministerien auf eine Anfrage im Landtag hin Stellungnahmen erarbeitet und dabei mit rechtstatsächlichem Material angereichert werden. 23 An systematischen Erhebungen und Vergleichen mit der gesundheitlichen Lage der Bevölkerung und der medizinischen Versorgung „draußen“ mangelt es jedoch. Dies gilt auch für eine 2002 an der JVA Oldenburg durchgeführte Befragung zur gesundheitlichen Situation der Inhaftierten;24 auch ihr fehlt der Vergleich mit der Versorgungssituation in Freiheit, so dass sie zur Beurteilung des Äquivalenzprinzips nicht unmittelbar herangezogen werden kann. Wenn man die intra- und die extramurale Versorgung empirisch miteinander vergleichen will, um zu Aussagen über die Beachtung des Äquivalenzprinzips in der Praxis zu gelangen, ist man mit einer Vielzahl methodischer Schwierigkeiten konfrontiert. Was soll eigentlich miteinander verglichen werden? Wie soll „Versorgung“ operationalisiert und ihre Qualität gemessen werden? Welche Indikatoren sind valide genug, um einen solchen Vergleich zu tragen, und stehen die entsprechenden Daten überhaupt zur Verfügung? Vom methodischen Ansatz her ähnelt ein Vergleich der intra- und extramuralen Versorgung einem Gesundheitssystemvergleich, wie er innerhalb der EU, der OECD oder im World Health Report 2000 der WHO25 angestellt wird. Für den internationalen Vergleich von Gesundheitssystemen gibt es mittlerweile einen Kranz von Indikatoren, über deren Validität zwar gestritten wird, die aber dennoch gemeinhin akzeptiert werden. Benötigt werden nicht nur Indikatoren zu den angebotenen medizinischen Leis22
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Rex, ZaeFQ 94 (2000), 258 ff.; Zettel, in: Schwind/Blau, Strafvollzug in der Praxis, 2. Aufl.,1988, 193 ff. Vgl. etwa Baden-Württemberg, Landtagsdrucks. 13/3624; Hamburg, Bürgerschaftsdrucks. 16/6391, 17/2158, 18/182; Niedersachsen, Landtagsdrucks. 15/1192. Tielking/Becker/Stöver, Entwicklung gesundheitsfördernder Angebote im Justizvollzug, 2003. www.who.int/whr/en/.
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tungen, sondern auch zum gesundheitlichen Status der erfassten Population, da hiervon die wesentlichen Impulse für die Ausgestaltung des jeweiligen Gesundheitssystems ausgehen. Doch die Parallele zum Systemvergleich im internationalen Raum „hinkt“ an einem methodisch besonders sensiblen Punkt: Während beim internationalen Vergleich mehr oder weniger geschlossene Systeme gegenüber gestellt und miteinander verglichen werden, ist die intramurale medizinische Versorgung der Gefangenen kein abgeschlossenes, autonomes und autarkes System, sondern ein offenes, auf Durchlässigkeit und – gerade mit Blick auf das Äquivalenzprinzip – Gleichbehandlung hin ausgerichtetes System. Immer dann, wenn die erforderlichen medizinischen Leistungen innerhalb des Vollzugs nicht angeboten werden können, kann und muss auf die extramural angebotenen medizinischen Leistungen zurückgegriffen werden. Methodische Konsequenz dieser Durchlässigkeit des Systems ist, dass die Wirklichkeit der intramuralen medizinischen Versorgung allein mit Indikatoren zur intramuralen Ausstattung nicht adäquat erfasst werden kann; benötigt werden auch Informationen zur Inanspruchnahme extramuraler Versorgungseinrichtungen, namentlich zu Art und Umfang der Inanspruchnahme von niedergelassenen Ärzten und Kliniken „draußen“. Die für den Vergleich erforderlichen Informationen sind, soweit es die extramurale Versorgung betrifft, allgemein zugänglich. Hervorzuheben ist hier namentlich die Gesundheitsberichterstattung des Bundes, die gemeinsam vom Statistischen Bundesamt und dem Robert Koch-Institut betrieben wird und kostenlos über das Internet verfügbar ist.26 Schwieriger ist der Zugang zu den Informationen zur intramuralen Versorgung. Statistisch werden die betreffenden Daten nicht erfasst. Der einzige Weg zur Informationsgewinnung besteht in der Abfrage bei den Landesjustizministerien, die für die Umsetzung des Äquivalenzprinzips in der Praxis die Verantwortung tragen. Eine im Oktober 2004 durchgeführte Befragung unter den 16 Landesjustizministerien war nur beschränkt erfolgreich. Die meisten Ministerien lehnten die Teilnahme an der Befragung mit dem Hinweis ab, dass die erforderlichen Informationen nur mit einem unvertretbar hohen Aufwand zu ermitteln seien – eine Begründung, die erkennen lässt, dass die für die Beurteilung des Äquivalenzprinzips erforderlichen Daten offenbar auch in den Ministerien nicht auf Abruf zur Verfügung stehen. Ausführliche Antwortschreiben gingen lediglich von vier Justizministerien (Berlin, Hamburg, Rheinland-Pfalz und Thüringen) ein. Niedersachsen verwies auf eine Landtagsdrucksache, die in der betreffenden Angelegenheit im Sommer 2004 ergangen war.27 Im Folgenden sei auf zwei Indikatoren genauer eingegangen, die eine erste Einschätzung zur Bedeutung des Äquivalenzprinzips in der Praxis erlauben: die Zahl der Bediensteten bzw. Beschäftigten in der intra- und extramuralen Versorgung und die Höhe der Ausgaben für die medizinische Versorgung. 26 27
www.gbe-bund.de. LT-Drucks. (Nds.) 15/1192.
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1.
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Zahl der Bediensteten bzw. Beschäftigten
Bei dem Vergleich der Bediensteten/Beschäftigten in der intra- und extramuralen Versorgung kann grob zwischen Ärzten und „anderen“, namentlich nichtärztlichem Fachpersonal (medizinisch-technischem, physio- oder ergotherapeutischem Fachpersonal) und Pflegepersonal, unterschieden werden. Schon der Blick auf die Berufsgruppe der Ärzte zeigt die Schwierigkeiten, die der Vergleich der intra- und extramuralen Medizin bereitet. In einer Antwort des baden-württembergischen Justizministeriums vom Oktober 2004 auf eine Große Anfrage der SPD zum zahlenmäßigen Verhältnis von Gefangenen und Bediensteten in Baden-Württemberg und den übrigen Bundesländern wurden u.a. die nach den Haushaltsplänen 2004 dem Justizvollzug zur Verfügung stehenden Haushaltsstellen für Ärzte ausgewiesen.28 Danach gab es 2004 in der Bundesrepublik insgesamt 305 Planstellen für Ärzte. Legt man die Jahresdurchschnittsbelegung im Jahr 2003 zugrunde, die von der baden-württembergischen Landesregierung mit 79.752 Gefangenen angegeben wird, errechnet sich hieraus eine Versorgungsrelation von 1 : 261, d.h. von einem Arzt sind im Durchschnitt 261 Gefangene zu versorgen. Aus der Aufstellung ergibt sich, dass die Verhältnisse in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich sind; die Versorgungsrelationen reichen von 1 : 159 in Berlin bis zu 1 : 931 im Saarland; im thüringischen Strafvollzug gibt es nach der baden-württembergischen Aufstellung gar keine Ärzte (Tab. 1). Die Zahlen sind mit allergrößter Vorsicht zu betrachten. Zunächst ist festzustellen, dass die Zahl der in den Haushaltsplänen ausgewiesenen Planstellen keineswegs identisch zu sein braucht mit der Zahl der im Strafvollzug tatsächlich tätigen Personen, die nach allen Erfahrungen mit öffentlicher Verwaltung überall vermutlich geringer sein wird; Einstellungsstopps und Wiederbesetzungssperren dürften auch dem Strafvollzug nicht fremd sein. Sodann ist festzustellen, dass die Zahl der Gefangenen im Jahr 2004 gegenüber 2003 gestiegen ist. Am 31.3.2004 lag sie bei 81.166,29 wodurch sich das anhand von Tab. 1 errechenbare Arzt/GefangenenVerhältnis auf 1 : 265 verschlechtert. Darüber hinaus sind aber auch zwei Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die die Angaben zur Versorgungsrelation in ein günstigeres Licht rücken: Zum einen bilden die Grundlage der badenwürttembergischen Zahlen die allein in den Haushaltsplänen ausgewiesenen Hauptamtlichen-Stellen, während im Strafvollzug in weitem Umfang auch nebenamtliche Ärztinnen und Ärzte tätig sind; in manchen Anstalten sogar ausschließlich. Zum anderen wird aus der baden-württembergischen Aufstellung nicht deutlich, dass bestimmte, zentral gelegene Vollzugskrankenhäuser nicht nur mit eige28 29
LT-Drucks. (BW) 13/3624, Frage 9, Anhang 4. Statistisches Bundesamt, Bestand der Gefangenen und Verwahrten am Stichtag 31. März 2004.
Ärztliche Versorgung im Strafvollzug: Äquivalenzprinzip und Ressourcenknappheit
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nen, sondern auch mit Gefangenen aus anderen Bundesländern belegt werden. So findet die medizinisch-stationäre Versorgung von Gefangenen aus Bremen im JVKH in Lingen (Niedersachsen) statt und die Versorgung der Gefangenen aus dem Saarland im JVKH in Wittlich (Rheinland-Pfalz). Nach Vereinbarungen, die das thüringische Justizministerium getroffen hat, können das Krankenhaus der JVA Leipzig (Sachsen), das Zentralkrankenhaus bei der JVA Kassel I (Hessen), die Tbc-Abteilung der JVA St. Georgen-Bayreuth (Bayern) und das JVKH Fröndenberg (Nordrhein-Westfalen) mit stationär behandlungsbedürftigen thüringischen Gefangenen belegt werden. Die aus den Haushaltsplänen ersichtlichen ungünstigen Versorgungsrelationen in Bremen, dem Saarland und Thüringen relativieren sich hierdurch erheblich. Ein etwas realistischeres Bild von der intramuralen Versorgungssituation zeichnet – wenngleich nur auf Niedersachsen bezogen – das niedersächsische Justizministerium in einer Antwort vom Juli 2004 auf eine Kleine Anfrage der Grünen. Das Ministerium macht hier differenzierte Angaben zu den einzelnen niedersächsischen Anstalten, wobei das Ministerium hier nicht die normative, aus den Haushaltsplänen ersichtliche Lage, sondern die durch Befragung ermittelte tatsächliche Situation „vor Ort“ angibt und in die Betrachtung auch den Tätigkeitsumfang der nebenamtlich oder aufgrund vertraglicher Verpflichtungen tätigen Ärzte mit einbezieht.30 Für die im vorliegenden Zusammenhang interessierende Berechnung von Versorgungsrelationen wurden die vom Ministerium angegebenen Stundenkontingente der nebenamtlich tätigen Ärzte zusammengerechnet; 40 Stunden/Woche wurden mit einer Vollzeitstelle gleichgesetzt. Lässt man die Leistungen des JVKH in Lingen zunächst unberücksichtigt, zeigt sich, dass die intramuralen Versorgungsrelationen an den einzelnen niedersächsischen Standorten erheblich variieren; sie bewegen sich zwischen 1 : 226 in Celle und 1 : 442 in Hameln (Tab. 2). Die Unterschiede sind deutlich, dürfen allerdings nicht überinterpretiert werden, da die Ergänzung des intramuralen Versorgungssystems durch extramurale Einrichtungen stets mitbedacht werden muss. Eine besondere Rolle können vor allem die Freigänger spielen, die, soweit sie in einem freien Beschäftigungsverhältnis stehen, in der Regel gesetzlich krankenversichert sind und keinen Anspruch auf die intramurale medizinische Versorgung haben (§ 62a StVollzG). Die Notwendigkeit, das Versorgungssystem der GKV nicht aus den Augen zu verlieren, zeigt sich besonders bei dem vordergründig ungünstigen Verhältnis von 1 : 915 in Lingen-Damaschke. Bei dieser Anstalt handelt es sich um eine Einrichtung des offenen Vollzugs, in der der Anteil der gesetzlich Krankenversicherten besonders hoch sein dürfte. Bezieht man das JVKH Lingen in die Berechnungen mit ein, so stehen in Niedersachsen (bei Außerachtlassen von Hildesheim und Bad Gandersheim, für die keine 30
LT-Drucks. (Nds.) 15/1192, Frage 12.
46
Bernd-Dieter Meier
genauen Zahlen vorliegen) 7.065 Gefangenen 24 hauptamtliche Ärzte und 222 Stunden nebenärztliche Tätigkeit pro Woche gegenüber. Auf ganz Niedersachsen bezogen errechnet sich hieraus eine Versorgungsrelation von 1 : 239. Dieser Wert ist höher als der in der baden-württembergischen Aufstellung für Niedersachsen mitgeteilte (1 : 217), dürfte sich aber wegen der andersartigen Berechnungsgrundlage des niedersächsischen Ministeriums näher an der Realität bewegen und deshalb aussagekräftiger sein. Ähnliche Berechnungen lassen sich für diejenigen Bundesländer anstellen, die sich an der Befragung beteiligt haben (Tab. 3). Dabei zeigt der Vergleich von Berlin und Hamburg, dass die beiden Länder mit unterschiedlichen Strategien nahezu dieselben Ergebnisse erzielen: Während Berlin die Versorgung vor allem auf hauptamtlich tätige Ärzte stützt, arbeitet Hamburg vor allem mit nebenamtlichen Kräften. Für Thüringen zeigt sich ein etwas günstigeres Bild als es sich aus der baden-württembergischen Aufstellung ergibt: In Thüringen sind tatsächlich 3 hauptamtliche Anstaltsärzte und 4 Vertragsärzte tätig. Thüringen erreicht damit beinahe den Wert, der sich auch für Rheinland-Pfalz ermitteln lässt. Was bedeutet das alles nun mit Blick auf das Äquivalenzprinzip? Um Aussagen zur Äquivalenz zu erhalten, müssen die mitgeteilten Zahlen zur Dichte der ärztlichen Versorgung der gesetzlich Versicherten in Beziehung gesetzt werden. Dieser Weg kann zwar nicht beschritten werden, da die von der Bundesärztekammer herausgegebene Ärztestatistik nicht danach unterscheidet, ob die erfassten Ärzte innerhalb oder außerhalb des Systems der GKV tätig sind. Zum Vergleich kann aber immerhin die ärztliche Versorgung in der Bundesrepublik insgesamt herangezogen werden. Insoweit ergibt sich aus der Ärztestatistik, dass es am 31.12.2003 in Deutschland 304.117 berufstätige Ärzte gab.31 Bezogen auf die Gesamtzahl der in Deutschland lebenden Einwohner32 errechnet sich hieraus eine Versorgungsrelation von 1 : 271, wobei auch hier zu beachten ist, dass die Dichte der ärztlichen Versorgung regional sehr unterschiedlich ist; sie reicht von 1 : 183 bzw. 1 : 189 in Hamburg bzw. Berlin bis 1 : 340 in Brandenburg und 1 : 490 in NordrheinWestfalen. Vergleicht man den extramuralen Durchschnittswert von 1 : 271 mit den zuvor für den Strafvollzug errechneten Zahlen (Tab. 1 bis 3), drängt sich der Schluss auf, dass die intramurale Versorgung dem Äquivalenzprinzip durchaus entspricht: Das Arzt/Patienten-Verhältnis ist intramural nicht schlechter, und in manchen Bundesländern sogar ein wenig günstiger als in Freiheit.
31 32
www.bundesaerztekammer.de/30/Aerztestatistik/03Kurz/Tabelle10.pdf. www.destatis.de/download/d/bevoe/bev_bl_02_03.pdf.
Ärztliche Versorgung im Strafvollzug: Äquivalenzprinzip und Ressourcenknappheit
2.
47
Höhe der Ausgaben für die medizinische Versorgung
Der zweite Indikator, auf den hier näher eingegangen werden soll, ist die Höhe der Ausgaben für die medizinische Versorgung. Soweit es die extramurale Versorgung betrifft, findet jährlich eine Gesundheitsausgabenrechnung statt, die es erlaubt, die Gesamtausgaben für die Wiederherstellung und Sicherung der Gesundheit differenziert anzugeben und auf die Einwohnerzahl oder die Zahl der gesetzlich Krankenversicherten zu beziehen. Im Jahr 2003 betrugen danach in der GKV die Ausgaben je Mitglied 2.859 €.33 Im intramuralen Bereich stößt der Versuch einer vergleichbaren Rechnung auf Schwierigkeiten. Eine Gesamtaufstellung der Ausgaben für die medizinische Versorgung im Strafvollzug wird in den Haushaltsplänen der Länder nicht ausgewiesen. Angegeben werden die Sachkosten, wobei etwa in Niedersachsen zwischen den Ausgaben für „nebenamtlich und nebenberuflich tätige Ärzte“, „Kleingeräte und Verbrauchsmittel“ sowie für „ärztliche Behandlung und Unterbringung in Krankenanstalten“ unterschieden wird. Nicht getrennt ausgewiesen werden die Personalkosten für die Ärzte, das nichtärztliche Fachpersonal und das Pflegepersonal, die bei den allgemeinen Personalkosten erfasst werden und sich nur über die Stellenpläne ermitteln lassen. Ebenfalls nicht anhand der Haushaltspläne errechenbar ist der zusätzliche Aufwand, der dem allgemeinen Vollzugsdienst durch die medizinische Versorgung der Gefangenen entsteht (z.B. durch Bewachung bei Ausführungen oder die Mitwirkung an der Medikamentenausgabe), sowie der allgemeine Verwaltungsaufwand. In der Umfrage unter den Landesjustizministerien wurde auf die entsprechenden Fragen unterschiedlich reagiert. Während Berlin mitteilte, dass weder zu den tatsächlichen Personalkosten noch zu den gesamten Sachkosten aussagekräftige Erkenntnisse vorlägen, Rheinland-Pfalz nur die Sachkosten angab und Thüringen zwar differenzierte Zahlen mitteilte, dabei aber die Personalkosten nur unvollständig angab (nämlich ohne die Kosten für das nichtärztliche Personal), wurden von Hamburg sowohl die Sachkosten als auch die Personalkosten für das gesamte hauptamtliche medizinische Personal mitgeteilt (insgesamt 8.388.000 € in 2003). Bei einer Stichtagsbelegung von 3.000 Gefangenen am 31.3.2003 errechnet sich hieraus ein Durchschnittsbetrag von 2.796 €, ein Betrag, der nur knapp unterhalb der durchschnittlichen Ausgaben in der GKV liegt (2.859 €) und vermutlich noch darüber liegen würde, wenn man in der Berechnung für die intramurale Versorgung auch die Verwaltungskosten berücksichtigen würde.
33
http://www.bmgs.bund.de/downloads/Kennzahlen_und_Faustformeln.pdf.
48
3.
Bernd-Dieter Meier
Die gesundheitliche Lage der Gefangenen
Sowohl der Blick auf die Zahl der Bediensteten bzw. Beschäftigten als auch der auf die Höhe der Ausgaben deuten damit darauf hin, dass die medizinische Versorgung der Gefangenen nicht schlechter ist als die der gesetzlich Versicherten; intra- und extramural scheint derselbe Versorgungsstandard gewährleistet zu sein. Eine solche Aussage setzt freilich voraus, dass sich der gesundheitliche Status der jeweils erfassten Populationen nicht wesentlich voneinander unterscheidet. Äquivalent ist die medizinische Versorgung nur dann, wenn der gesundheitliche Status der Gefangenen keinen größeren ärztlichen Aufwand erfordert als der der Bevölkerung „draußen“. Der Vergleich der gesundheitlichen Lage der Populationen „drinnen“ und „draußen“ bereitet wiederum Schwierigkeiten, diesmal allerdings nicht nur deshalb, weil die ärztlicherseits vorhandenen Erkenntnisse über die Verhältnisse „drinnen“ nur unzureichend erfasst und aufbereitet werden (so befindet sich in Niedersachsen ein EDV-gestütztes Dokumentationssystem erst im Aufbau), sondern auch deshalb, weil es an verlässlichen Vergleichszahlen über die Prävalenz und Inzidenz bestimmter Befunde „draußen“ fehlt. Nach den Eindrücken aus der Praxis scheint ein erheblicher Anteil der Gefangenen schon bei Eintritt in die JVA behandlungsbedürftig zu sein. Das niedersächsische Justizministerium schätzt den Anteil der schon bei Eintritt behandlungsbedürftigen Gefangenen auf 20 bis über 50 %,34 Rheinland-Pfalz meldet anstaltbezogene Anteile zwischen 5 bis 10 % in Trier und 60 % in Koblenz und Rohrbach, Berlin gibt in seinem Antwortschreiben einen Schätzwert von 80 % an. Die bereits erwähnte Untersuchung in der JVA Oldenburg, die diese Frage sowohl dem medizinischen Dienst als auch den Gefangenen selbst vorlegte, gelangte zu einem Anteil von 44 % behandlungsbedürftiger Gefangener.35 Auf der anderen Seite führte der Mikrozensus von 2003, der auch Fragen zur Gesundheit beinhaltete, zu dem Ergebnis, dass sich von einem repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung nur 11,2 % der Befragten als „krank oder unfallverletzt“ (10,4 % krank, 0,7 % unfallverletzt) bezeichnen.36 Dieser deutlich geringere Wert für die Bevölkerung „draußen“ darf wiederum nicht überinterpretiert werden, da sowohl die Validität der abgefragten items als auch die Reliabilität der jeweiligen Befragung ungewiss sind. Die Größe der Abweichung lässt aber dennoch bei aller Vorsicht die Aussage zu, dass der Anteil der Behandlungsbedürftigen intramural größer ist als extramural; der Gesundheitszustand der Gefangenen dürfte jedenfalls bei Eintritt in die Anstalt aufs Ganze gesehen schlechter sein als der eines Querschnitts der Bevölkerung „draußen“. 34 35 36
LT-Drucks. (Nds.) 15/1192, Frage 1. Tielking/Becker/Stöver (oben Fn. 24), S. 93. http://www.gbe-bund.de.
Ärztliche Versorgung im Strafvollzug: Äquivalenzprinzip und Ressourcenknappheit
49
Auf die Frage, welche Krankheitsbilder bei der Aufnahmeuntersuchung besonders häufig auftreten, nennt die Berliner Senatsverwaltung (ähnlich ist die Auflistung aus Rheinland-Pfalz) Alkohol- und Drogenentzugssymptome, tiefe Abszesse, Gefäß- und Herzkomplikationen des Spritzdrogenmissbrauchs, Bluthochdruck, Herzleiden, dermatologische Erkrankungen, chronische Hepatitiden, HIV, Tuberkulose, insulinpflichtigen Diabetes mellitus, vernachlässigte traumatologische Erkrankungen (als Folge von Unfällen) sowie psychiatrische Erkrankungen, wobei auf schizophrene Psychosen, schwere Persönlichkeitsstörungen und depressive Anpassungsstörungen mit Selbstverletzungen und Suizidalität hingewiesen wird. Damit sind indes nur typische Krankheitsbilder gekennzeichnet; noch nichts gesagt ist damit über das quantitative Ausmaß der betreffenden Erkrankungen und die Belastungen, die mit ihrer intramuralen Versorgung einhergehen. Versucht man eine quantitative Einstufung, so scheint im Vollzug der Suchtmittelabhängigkeit die größte Bedeutung zuzukommen. Nach einer Einschätzung des baden-württembergischen Justizministeriums hat etwa ein Drittel der Gefangenen Probleme mit illegalen Drogen, was freilich nicht in allen Fällen mit Drogenabhängigkeit gleichzusetzen ist.37 Bestätigt wird dies durch die in der JVA Oldenburg durchgeführte Untersuchung, die den Anteil der suchtkranken Gefangenen mit 27 % veranschlagt, wobei die meisten dieser Gefangenen von harten Drogen abhängig seien.38 Das niedersächsische Justizministerium geht von einem anstaltsgebundenen Anteil zwischen 20 und 50 % suchtmittelabhängiger Gefangener aus, wobei es sich nach seiner Einschätzung fast durchgängig um politoxikomane Patienten handeln soll.39 Über die Prävalenz von Suchtmittelabhängigkeit in der Gesamtbevölkerung liegen keine verlässlichen Daten vor, doch dürfte hier von einem deutlich niedrigeren Anteil, bei illegalen Drogen von einem Anteil deutlich unter 1 %,40 auszugehen sein. Psychiatrische Erkrankungen scheinen im Strafvollzug die zweite quantitativ bedeutsame Krankheitsgruppe zu bilden. Nach einer vor kurzem veröffentlichten niedersächsischen Untersuchung liegt der Anteil der psychisch auffälligen Gefangenen zwar nur bei 2,6 % der Stichtagsbelegung; hier wurde jedoch mit einem sehr engen Begriff von „Auffälligkeit“ gearbeitet (Gefangene mit einer Straflänge von mindestens 1 Jahr mit Bedarf an einer längerfristigen stationären psychiatrischen Behandlung im Vollzug).41 Eine Berliner Erhebung an Untersuchungsgefangenen führte denn auch zu deutlich höheren Anteilen: Eine Auswertung der Gesundheitsakten von 108 U-Gefangenen in der JVA Moabit erbrachte, dass rund 40 % der Gefangenen psychisch auffällig waren, ein standardisiertes Interview deute37 38 39 40 41
LT-Drucks. (B.W.) 13/3624, Frage 17. Tielking/Becker/Stöver (oben Fn. 24), S. 94. LT-Drucks. (Nds.) 15/1192, Frage 15. www.dhs.de/daten_zahlen_drogen.html. Nds. Projektgruppe Forschung im Justizvollzug, Psychiatrisch auffällige Gefangene im Strafvollzug 2003; vgl. auch Bennefeld-Kersten, BewHi 2005, 30 ff.
50
Bernd-Dieter Meier
te sogar auf eine noch höhere Prävalenz psychischer Störungen hin, wobei namentlich depressive Störungen dominierten.42 Auch hier gilt, dass über die Prävalenz psychischer Auffälligkeiten in der Gesamtbevölkerung keine eindeutigen Daten vorliegen, dass jedoch auch hier von einem deutlich geringeren Anteil auszugehen ist, der bei schizophrenen Psychosen deutlich unter 1 % 43 und bei depressiven Erkrankungen etwa bei 3 %44 liegen dürfte. Die Schwierigkeiten, mit denen die intramurale Medizin konfrontiert ist, sind damit nur angedeutet. Erkennbar dürfte jedoch werden, dass die gesundheitlichen Probleme der Gefangenen, aber auch die aus der Haftsituation resultierenden psychosozialen Begleit- und Folgeprobleme die innerhalb der Anstalten tätigen Ärzte nach allen vorliegenden Befunden vor größere Herausforderungen stellen als die Ärzte „draußen“. Dabei gehen die eigentlichen Herausforderungen noch nicht einmal so sehr von der quantitativen Mehrbelastung durch eine behandlungsbedürftigere Klientel aus, sondern auch und gerade von Einzelfällen, die personelle ebenso wie finanzielle Ressourcen binden. Aufschlussreich ist insoweit ein Hinweis der Berliner Senatsverwaltung, wonach unter ärztlichen und unter Kostengesichtspunkten die folgenden Krankheitsbilder besonders bedeutsam seien: coronare Herzerkrankungen mit Interventionsbedürftigkeit, HIV-Erkrankungen, Bluthochdruck, Stoffwechselerkrankungen, chronische Hepatitis und Psychosen. Vor einer zu vorschnellen Gleichsetzung des medizinischen Versorgungsstandards „drinnen“ und „draußen“ muss deshalb gewarnt werden: Die beiden Parameter der Bedienstetenzahl und der Höhe der Aufwendungen deuten zwar auf gleichwertige Verhältnisse hin, doch wenn man den unterschiedlichen Gesundheitszustand „drinnen“ und „draußen“ in Rechnung stellt, kann die Äquivalenz auch schnell brüchig werden: Bei ungleichen Ausgangslagen sind gleiche Parameter eher ein Signal für Ungleichheit als für Gleichheit.
IV. Fazit Sowohl der Blick auf die rechtlichen Grundlagen der intramuralen Medizin als auch der Blick auf die wichtigsten Parameter für die Qualität der ärztlichen Versorgung lassen nach alledem erkennen, dass die Gesundheitsfürsorge im Strafvollzug zur Versorgung in der GKV heute im wesentlichen gleichwertig, äquivalent ist. Auch wenn die vom Gesetzgeber normierten Leistungsansprüche der Gefangenen von den weiterreichenden Ansprüchen der gesetzlich Versicherten Abstriche machen und der gesundheitliche Status der Gefangenen die Ärzte „drinnen“ vor größere Herausforderungen stellt als die Ärzte „draußen“, ist das intra- und extramurale Versorgungsniveau doch vergleichbar. Trotz knapper Ressourcen 42 43 44
Missoni/Utting/Konrad, ZfStrVo 2003, 325. www.gbe-bund.de. www.gbe-bund.de.
Ärztliche Versorgung im Strafvollzug: Äquivalenzprinzip und Ressourcenknappheit
51
gelingt es den Justizverwaltungen bis heute, die intramurale Medizin auf einem hohen Stand zu halten und damit auch den europäischen Maßgaben zur Gleichwertigkeit von intra- und extramuraler Medizin gerecht zu werden. 45 Das Äquivalenzprinzip bleibt indes eine stete Mahnung, den besonderen Verhältnissen im Strafvollzug auch weiterhin Rechnung zu tragen und auch künftig für eine angemessene, äquivalente Ausstattung der intramuralen Medizin zu sorgen.
45
Vgl. Entschließung zu den Haftbedingungen in der Europäischen Union v. 17.12.1998, ABl. C 98/299, Nr. 11; Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats v. 8.4.1998, R (98) 7, Nr. 10 f.; weitere Nachw. bei Boetticher/Stöver, in: AK StVollzG (Fn. 1), vor § 56 Rn. 5.
52
Bernd-Dieter Meier
Tabelle 1. Ärztinnen und Ärzte im Justizvollzug46 Bundesland
Jahresdurchschnittsbelegung 2003
Versorgungsrelation
BadenWürttemb.
26,00
8 604
1 : 331
Bayern
45,00
11 964
1 : 266
Berlin
33,50
5 318
1 : 159
Brandenburg
11,00
2 308
1 : 210
1,00
733
1 : 733
Hamburg
15,24
3 123
1 : 205
Hessen
21,00
5 883
1 : 280
MecklenburgVorp.
7,00
1 634
1 : 233
Niedersachsen
32,00
6 951
1 : 217
NordrheinWestf.
63,00
17 727
1 : 281
RheinlandPfalz
9,00
3 873
1 : 430
Saarland
1,00
931
1 : 931
Sachsen
25,00
4 253
1 : 170
SachsenAnhalt
13,00
2 822
1 : 217
Bremen
46
Stellenzahl 2004
Quelle: LT-Drucks. Baden-Württemberg 13/3624, S. 32 (Anlage 4).
Ärztliche Versorgung im Strafvollzug: Äquivalenzprinzip und Ressourcenknappheit
53
SchleswigHolstein
3,00
1 577
1 : 526
Thüringen
0,00
2 051
-
305,74
79 752
1 : 261
insgesamt
Tabelle 2. Ärztinnen und Ärzte im niedersächsischen Justizvollzug47 Justizvollzugseinrichtung
Beschäftigung (HA = hauptamtl.; NA = nebenamtl.)
Belegung 3/2004
Versorgungsrelation
Braunschweig
8
NA: St./W.
51
327
1 : 256
Bückeburg
1
NA: St./W.
8
82
1 : 410
Celle
1
HA: 0,5
113
1 : 226
Hameln
2
HA: 1,0; NA: 17 St./W.
630
1 : 442
Hannover
5
HA: 5,0
1 800
1 : 360
Hildesheim
1
NA: k.A.
75
3
HA: 1,0; NA: 25 St./W.
10
HA: 7,0; NA: 37 St./W.
Lingen JVKH)
JVKH
47
Anzahl der Ärzte
(ohne
Quelle: LT-Drucks. Niedersachsen 15/1192, S. 9 ff.
646
1 : 398
54
Bernd-Dieter Meier
Lingen-Damaschke
1
NA: St./W.
16
366
1 : 915
Meppen
4
HA: 1,5; NA: 18 St./W.
623
1 : 319
Oldenburg
4
HA: 2,0; NA: 6 St./W.
554
1 : 258
Salinenmoor
1
HA: 1,0
233
1 : 233
Uelzen
6
HA: 1,0; NA: 24 St./W.
455
1 : 284
Vechta
3
HA: 1,0; NA: 16 St./W.
457
1 : 326
Vechta/Frauen
1
HA: 1,0
249
1: 249
Wolfenbüttel
2
HA: 2,0; NA: 4 St./W.
530
1 : 252
Bad Gandersheim
2
NA: k.A.
insgesamt48
48
52
HA: 24,0; NA: 222 St./W.
Ohne Hildesheim und Bad Gandersheim.
33 7 065
1 : 239
Ärztliche Versorgung im Strafvollzug: Äquivalenzprinzip und Ressourcenknappheit
55
Tabelle 3. Ärztinnen und Ärzte im Justizvollzug in Bremen, Hamburg, RheinlandPfalz und Thüringen
49 50
Bundesland
Anzahl der Ärzte
Beschäftigung (HA = hauptamtl.; NA = nebenamtl.)
Belegung 31.3.2003
Versorgungsrelation
Berlin
41,5
HA: 29,5; NA: 36 St./W.49
5 300
1 : 174
Hamburg
44
HA: 13,0; NA: 184,0 St./W.
3 000
1 : 170
RheinlandPfalz
13
HA: 8,0 NA: > 13 St./W.50
3 996
1 : 480
Thüringen
7
HA: 3,0 NA: 30
2 080
1 : 555
Durchschnittlich 3 St./W.; ohne Zahnärzte. Schätzwert; für 4 Ärzte bestimmt sich der Umfang nach den jeweils anfallenden Aufgaben; hier wurde mit einem Mindestwert von 2 St./W. je Arzt gerechnet.
Statement Klaus J. Fritsch
Es ist sicher nicht zu bestreiten, dass das Äquivalenzprinzip für die ärztliche Versorgung in den Justizvollzugsanstalten wertvoll und maßgeblich ist: Ein Mensch in Haft darf im Grundsatz keine schlechtere medizinische Versorgung als in Freiheit erhalten, aus der Haft darf ihm durch Minderversorgung kein Schaden entstehen, auch wenn er situationsbedingt Einschränkungen hinzunehmen hat: Äquivalenz ist nicht Kongruenz. Zur „freien“ Medizin als Maßstab ist anzumerken, dass nicht alle Entwicklungen, die sich dort abzeichnen, bedingungslos gutgeheißen und übernommen werden sollten. Es gibt zahlreiche widersprüchliche Beobachtungen, die einerseits feststellen, dass die moderne (High-tech-) Medizin unbestreitbare Erfolge hat, andererseits den medizinisch-industriellen Komplex als undurchschaubar beschreiben in seinen Abhängigkeiten und gegenseitigen Fördergebilden, die nicht unbedingt immer den kranken Menschen zugute kommen und die Kosten in die Höhe treiben. Ob die reichhaltige Arzneimittelliste und die ausgeprägte Großgerätedichte letztendlich der Lebensqualität und Steigerung der Lebenserwartung dienen, ist nicht sicher. Über Arzneimittelsicherheit prallen „Expertenmeinungen“ aufeinander, die auch der gut orientierte Arzt in der Praxis nicht entscheiden kann. Die von Professor Meier erwähnten Standards, die Maßstab für die ärztliche Versorgung sind, sind nicht immer über jeden Zweifel erhaben. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass es bisher nicht gelungen ist, eine Positivliste mit sicher wirksamen und in ihrem Nebenwirkungsprofil bekannten Arzneimitteln zu erstellen. Ein JVA-Privileg: In den Justizvollzugsanstalten haben wir Positivlisten erstellt, es gilt, diese zu verteidigen und zu vertreten. Wir können uns in der Verordnung von Arzneimitteln auf die uns bekannten und hinreichend erprobten beschränken. Hier sieht sich der Anstaltsarzt zuweilen eloquenten Gegnern gegenüber, die die Verordnung bestimmter Arzneien oder die Durchführung bestimmter technischer Diagnoseverfahren unter Hinweis auf das Äquivalenzprinzip erzwingen wollen. Ressourcenknappheit führt natürlich zu Einsparüberlegungen, und Einsparüberlegungen führen zu der Fragestellung, wer auf was zukünftig verzichten muss und insbesondere zu der Frage, wer denn diese entscheidende Frage entscheidet. Vollzugsärzte sind sicher in der Lage, selbstkritisch nur notwendige diagnostische Maßnahmen und therapeutische Interventionen zu verordnen und können im Einzelfall auch entscheiden, ob eine Maßnahme dringlich oder verschiebbar ist. Sie
58
Klaus J. Fritsch
können Vermeidbares vermeiden und Notwendiges dringlich umsetzen. Es gibt jedoch Grenzbereiche, in denen vor dem Hintergrund der Ressourcenknappheit die ärztliche Entscheidung aus politischer Sicht in Frage gestellt wird. In einer Einstufung der Verantwortlichkeit könnte man sich folgende drei Beispiele vorstellen: 1. Die Verordnung einer neuen Beinprothese ist sicher keine lebensentscheidende Fragestellung, der Arzt wird sich mit Verwaltungsentscheidungen abfinden können. 2. Im Bereich der Zahnprothetik stellt sich die Frage schon anders dar, denn die Versorgung mit einer Prothese ist sicher keine überflüssige und nur kosmetische Maßnahme. Die Konsequenz aus den weitverbreiteten Regelungen, dass wer kein Geld hat auch keine Zahnprothese bekommt, kann im Grunde ärztlich nicht toleriert werden, allein die Regelung durch ein Gesetz oder eine Verwaltungsvorschrift entlässt den Arzt allenfalls aus der juristischen Verantwortung. Doch ärztlicher Auftrag kann hier durchaus darin bestehen, daran zu erinnern, dass es im Rahmen des Vollzugsauftrages sicher von Bedeutung ist, dass Menschen deutlich bessere Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt haben, wenn sie mit ordentlichem Zahnstatus auftreten. 3. In Freiheit gestatten sich Politiker bereits die Frage, ob bei knappen Ressourcen alte Menschen mit begrenzter Lebenserwartung noch Hüftgelenkprothesen bekommen sollen. Wer sich auf der vollzugspolitischen und der Verwaltungsebene dieser Frage nähern will, wird die Verantwortung für die Folgen der Entscheidung übernehmen und diese Entscheidung auch den Betroffenen vermitteln müssen. Doch in diesem Bereich haben die Justizverwaltungen bisher ihrer Verantwortung gemäß im Zweifel für den inhaftierten Patienten entschieden und auch aufwendige Behandlungsmaßnahmen unterstützt, wenn sie denn vom Anstaltsarzt für dringend erforderlich erachtet werden. Zuweilen entwickelt sich die Fürsorge sogar in die gegenteilige Richtung, wenn zur Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe erhebliche Kosten für die ärztliche Versorgung in Kauf genommen werden, die den Strafbetrag deutlich überschreiten. Ressourcenknappheit zwingt den Arzt zum bewussten und wirtschaftlichen Umgang mit den Mitteln mit der Folge, dass das eigentlich ärztliche Basiswissen wieder vermehrt betont werden kann. Das bedeutet, dass eine eingehende fachkundige neurologische Untersuchung die Indikation zur Durchführung einer Computertomografie deutlich differenzieren kann und muss, dass eine eingehende Auskultation die Diagnose Lungenentzündung begründen kann, dass nicht sofort zur „Absicherung“ noch eine Röntgenaufnahme gemacht werden muss, und die eingehende Besprechung von Problemen, mit denen ein Patient belastet ist, kann die Verordnung von Medikamenten überflüssig machen.
Statement
59
Es ist festzuhalten, dass die ärztliche Versorgung im Strafvollzug bisher durchaus den üblichen Standards folgt und dass erheblicher Aufwand zur Sicherstellung des Gesetzesauftrages getrieben wird. Von Einschränkungen, die die freie Bevölkerung bereits hinzunehmen hat, sind Inhaftierte bisher wegen des umfassenden Versorgungsauftrages des Gesetzes nur in sehr geringem Umfang betroffen und weitgehend verschont geblieben. Überlegungen, ob und in welcher Weise Kosten im Gesundheitswesen eingespart werden können, werden von den Anstaltsärzten durchaus kooperativ erörtert und mitgetragen. Entwicklungen zur Minderung des Leistungsumfangs der Vollzugsmedizin auf das Niveau der alleinigen Erhaltung der Haftfähigkeit sind sicher solange ausgeschlossen, solange das Äquivalenzprinzip gilt.
Einwilligung und Aufklärung in der Strafvollzugsmedizin Axel Boetticher
I. Einführung „Der Patient darf vom Arzt Aufklärung wie Orientierung erwarten, Information wie Rat und Hilfe“. Diese Formulierung von Laufs1 verdient volle Zustimmung. Jede Hilfestellung des Arztes findet allerdings ihre Grenze in der Tatsache, dass in entscheidenden Lebenskrisen der Mensch letztlich auf sich selbst zurückgeworfen ist. In einem solchen Moment ist „der Patient zur Selbstverantwortung aufgerufen, ihm steht die letzte Entscheidung zu“2. Diese Maßstäbe zur ärztlichen Aufklärung, zum grundsätzlichen Vorrang des Selbstbestimmungsrechts des Patienten im Verhältnis zum ärztlichen Heileingriff gelten auch für die Arbeit des Anstaltsarztes gegenüber den eingeschlossenen Patienten im Strafvollzug. Auf die Einhaltung dieser unverzichtbaren ethischen Prinzipien hat der Anstaltsarzt umso mehr in Zeiten zu achten, in denen es ordnungspolitisch motivierte Tendenzen gibt, über die abschließend in § 101 StVollzG geregelte Zwangsbehandlung hinaus „NullToleranz-Strategien“, „Zwangsuntersuchungen“ und „Aufklärung mit Nachdruck“ zu postulieren. Diese Strafvollzugspolitik nimmt auf das auf Vertrauen aufgebaute Arzt-Patienten-Verhältnis wenig Rücksicht, sie erschwert vielmehr die Arbeit des Anstaltsarztes und instrumentalisiert ihn. Dem sollte mit einer Stärkung der Stellung und der Eigenverantwortung der Strafvollzugsmedizin – seien die Anstaltsärzte verbeamtet oder Vertragsärzte – sowohl gegenüber den Anstaltsleitern als auch gegenüber den Justizministerien begegnet werden3.
1 2 3
Laufs, MedR 1986, 163, 168. Voll, Die Einwilligung im Arztrecht, Dissertation, Heidelberg [1995], S. 58. Dazu im einzelnen Hillenkamp in diesem Band.
62
Axel Boetticher
II. Aufklärung 1.
Grundsätze für die Aufklärung im Strafvollzug
§ 56 StVollzG schreibt die Verpflichtung der Justizverwaltungen fest, durch die Gewährung der Gesundheitsfürsorge das dem Strafvollzug gesetzte Resozialisierungsziel des § 2 Abs. 1 StVollzG zu erreichen. Dies wird mit SchülerSpringorum am besten durch die Erfüllung des Angleichungsgrundsatzes (auch Äquivalenzprinzip) des § 3 Abs. 1 StVollzG dadurch erreicht, dass eine möglichst geringe Diskrepanz zwischen den allgemeinen Lebensverhältnissen und der Vollzugswirklichkeit besteht4. Die Selbstverantwortung des Patienten ist für den Strafvollzug in der Mitwirkungspflicht des Gefangenen nach § 56 Abs. 2 StVollzG normiert5. a) Keine größeren Schwierigkeiten bereiten die Maßstäbe, die der Anstaltsarzt hinsichtlich der Aufklärung über die von ihm angebotenen alltäglichen ambulanten ärztlichen Leistungen einschließlich der Hinzuziehung von Fachärzten oder der Einweisung in ein Krankenhaus zur Durchführung von operativen Eingriffen zu beachten hat. Für die intramurale Aufklärung gelten unter Beachtung des Angleichungsgrundsatzes die Regeln der „Eingriffsaufklärung“ 6, die der für das Arzthaftpflichtrecht zuständige VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs in Fortsetzung seiner ständigen Rechtsprechung zuletzt im Urteil vom 25. März 2003 – VI ZR 131/02 – aufgestellt hat7: „Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats 4 5 6
7
Festschrift für Bockelmann, 1979, S. 879. Boetticher/Stöver in Feest (Hrsg.) AK-StVollzG 4. Aufl. § 56 Rdn. 2. Neumann, Strafrechtliche Risiken des Anstaltsarztes, Dissertation, Heidelberg [2004], S. 54 ff.: Die Aufklärungstypen lassen sich allgemein nach der Funktion der Informationsgewährung differenzieren. a) Diagnoseaufklärung: Der Begriff der Diagnoseaufklärung beschreibt die Mitteilung des medizinischen Befundes gegenüber dem Patienten. Die Diagnoseaufklärung ist zu unterscheiden von der Aufklärung über die Risiken eines Diagnoseeingriffs, für die besonders strenge Anforderungen gelten, sowie von der prädiagnostischen Aufklärung über die weitreichenden Konsequenzen bestimmter Untersuchungsverfahren, etwa der Genomanalyse. b) Verlaufsaufklärung: Der Begriff der Verlaufsaufklärung wird teilweise in einem engen Sinn verstanden, in dem darunter die Erläuterung von Art, Wesen, Umfang und Durchführung eines beabsichtigten Eingriffs subsumiert wird. Eine in dieser Weise definierte Verlaufsaufklärung zielt auf ein Inkenntnissetzen über den Verlauf einer bestimmten Behandlungsmaßnahme. c) Risikoaufklärung: Bei der Risikoaufklärung stellt der Arzt die Gefahren einer Behandlungsmethode dar. Dazu zählen mögliche dauernde oder vorübergehende Nebenfolgen der Therapie, die sich unter Umständen auch bei einem de lege artis durchgeführten Eingriff nicht mit Gewissheit ausschließen lassen, ferner die Möglichkeit eines Fehlschlages, also eine Erfolglosigkeit der Behandlung. Die Risikoaufklärung wird der Selbstbestimmungsaufklärung zugerechnet und auch als deren Hauptfeld bezeichnet. NJW 2003, 2012 = GesR 2003, 264.
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bedarf es zum Zwecke der Aufklärung grundsätzlich des vertrauensvollen Gesprächs zwischen Arzt und Patienten. Das schließt die ergänzende Verwendung von Merkblättern nicht aus, in denen die notwendigen Informationen zu dem Eingriff einschließlich seiner Risiken schriftlich festgehalten sind. Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats muss der Patient vor dem beabsichtigten Eingriff so rechtzeitig aufgeklärt werden, dass er durch hinreichende Abwägung der für und gegen den Eingriff sprechenden Gründe seine Entscheidungsfreiheit und damit sein Selbstbestimmungsrecht in angemessener Weise wahren kann“. b) Schlechter steht es um die Einhaltung der Maßstäbe bei der „therapeutischen Aufklärung“. In diesem Bereich ist der Anstaltsarzt entweder auf sich allein gestellt, oder er ist fest in das politisch vorgegebene Strafvollzugskonzept des Bundeslandes eingebunden. Bei der in den Gefängnissen vorhandenen schwierigen Klientel kommt die Durchsetzung vieler an sich gebotener therapeutischer Maßnahmen sehr schnell an vollzugliche Grenzen. Besser konnte Karl Jaspers – der dies sicher generell gemeint hat – die Situation der Gefangenen im Strafvollzug nicht beschreiben: „Im Menschen ist trotz seines Hilfsbedürfnisses eine Abneigung nicht nur gegen die Psychotherapie, sondern gegen jede ärztliche Behandlung. Es ist in ihm etwas, das sich selber helfen möchte. Die Widerstände in ihm sind Widerstände, deren er allein Herr werden möchte. Daher konnte Nietzsche sagen: Wer einem Kranken seine Ratschläge gibt, erwirbt sich ein Gefühl von Überlegenheit über ihn, sei es, dass sie angenommen oder dass sie verworfen werden. Deshalb hassen reizbare und stolze Kranke die Ratgeber noch mehr als ihre Krankheit“8. i) Die „therapeutische Aufklärung“ unterscheidet sich von der „Eingriffsaufklärung“ schon dadurch, dass es zum Pflichtenkreis des Anstaltsarztes gehört, auch Dritte – das sind die Mitgefangenen und die Bediensteten – über die Risiken bestimmter im Vollzug auftretender Krankheiten und deren Behandlung aufzuklären. Der für die staatliche Amtshaftung zuständige III. Zivilsenat des Bundesgerichthofes hat in seinem Urteil vom 7. Juli 19949 – III ZR 52/93 – zur Durchführung einer staatlichen Schutzimpfung ausgeführt, es gehöre zur Amtspflicht auch eine Belehrung über Risiken, die Kontaktpersonen (hier: des mit Lebendviren geimpften Säuglings) erwachsen, sowie über die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen, die zur Vermeidung einer Ansteckung getroffen werden können. Versäumnisse, die dem Arzt bei der therapeutischen Beratung des Patienten Dritten gegenüber unterlaufen, können somit im Einzelfall eine Schadensersatzpflicht des Staates auslösen. ii) Bezogen auf den Regelvollzug verbergen sich hinter der Antinomie zwischen dem an sich ärztlich Gebotenen, auf die der Anstaltsarzt im Rahmen seiner „therapeutischen Aufklärung“ hinzuweisen hätte, und dem aus Gründen des Vollzugsall8 9
Jaspers, Der Arzt im technischen Zeitalter, 1986. BGHZ 126, 386.
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tags tatsächlich Machbaren die meisten Probleme der intramuralen Medizin. Das beginnt bei der (viel zu geringen) Zahl der Anstaltsärzte: Im Jahr 2004 stehen im (reichen) Baden-Württemberg für 8604 Gefangene 26 (festangestellte) Ärzte zur Verfügung, so dass auf 1 Arzt = 331 Gefangene kommen. Es setzt sich fort beim Fehlen von Fachärzten mit psycho-pathologischen Kenntnissen und zeigt sich bei den Grenzen ärztlichen Handelns, wenn der Arzt in Vollzugsentscheidungen und in das gerade herrschende politische Vollzugskonzept des Landes eingebunden wird. Gravierend sind die Probleme bei der an sich therapeutisch gebotenen Inanspruchnahme von Angeboten, die außerhalb der Mauern zum Standard gehören, aber entweder aus politisch-administrativen oder aus Kostengründen den Gefangenen vorenthalten bleiben. Dr. Sigel vom Justizministerium Baden-Württemberg hat auf der Tagung „Gesundheitsfürsorge im Gefängnis“ im November 1996 in der Evangelischen Akademie Bad Boll zur Zusammensetzung der Gefangenenpopulation ausgeführt, es hielten sich noch nie zuvor im Strafvollzug so viele psychisch und körperlich angeschlagene, kranke, betreuungs- und behandlungsbedürftige Menschen auf. Diese Erschwernisse und Veränderungen kumulierten ganz besonders im Bereich der vollzuglichen Gesundheitsfürsorge. Dies trifft auch heute zu. Zwar gibt es keine genaue Zahlen, aber es ist davon auszugehen, dass von den rund 9.000 Gefangenen in Baden-Württemberg etwa ein Drittel, also rund 3.000 drogenabhängig sind. Ergänzend ist hinzuweisen auf die nicht unerhebliche Zahl persönlichkeitsgestörter Gewalt- und Sexualstraftäter im Regelvollzug Diese Gefangenen befinden sich überwiegend aufgrund einer zeitigen Freiheitsstrafe nur für einen überschaubaren Zeitraum in der Obhut des Strafvollzuges.. iii) Bei vielen im Vollzug auftretenden Krankheits- und Störungsbildern liegt es auf der Hand, dass die therapeutisch zu behandelnden Probleme „verfestigt und überdauernd“ sind und die Zeit des Aufenthalts im Strafvollzug nur ein kurzer Ausschnitt oder eine Episode aus dem gesamten Lebenslauf ist. Es ist auch eine Binsenweisheit, dass die die Straftaten begleitenden Störungsbilder nicht allein durch den Verlust an persönlicher Freiheit und den bloßen Aufenthalt im Strafvollzug beseitigt werden. Dies gilt bekanntermaßen sowohl bei Gewalt- und Sexualstraftätern als auch bei den drogenabhängigen Straftätern. Aus medizinischtherapeutischer Sicht müssten gerade bei diesen Tätern die therapeutische Aufklärung und die daraus folgenden therapeutischen Maßnahmen so gestaltet und ausgerichtet sein, dass die Maßnahmen nicht nur die Zeit des Aufenthalts im Strafvollzug im Blick haben, sondern insbesondere auf die Zeit nach der Entlassung zielen. Da sich diese simple Erkenntnis im Strafvollzug im Gegensatz zum Maßregelvollzug nicht durchgesetzt hat, fehlt es an einer ausreichenden übergreifenden Vollzugsmedizin und einer vollständigen „therapeutischen Aufklärung“ über die notwendigen Anschlussmaßnahmen. Der Strafvollzug ist generell so von der sozialen Welt abgeschlossen, dass es eine durchlässige, mit der gemeindlichen Krankenversorgung verknüpfte medizinische Versorgung kaum gibt.
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iv) Um eine effektive, d.h. mit den Angeboten von „Draußen“ verbundene medizinische Versorgung wenigstens im Einzelfall zu gewährleisten, sind beim Anstaltsarzt gerade für die therapeutische Aufklärung neben seinen diagnostischen Kenntnissen Fähigkeiten gefragt wie „Achtsamkeit“ und „Verständnis“ für die außerhalb der Mauern angebotenen Präventionsmodelle und ambulanten therapeutischen Angebote. Dies gilt insbesondere, wenn die ärztlichen Maßstäbe in einem besonderen Spannungsverhältnis mit der propagierten „Null-Toleranz-Strategie“ im Umgang mit Gewalt- und Sexualstraftätern und mit Drogenabhängigen stehen. Dies gilt umso mehr, weil diese Strategie einhergeht mit einer weitgehenden Abschottung des Regelvollzugs nach außen, mit der Reduzierung von Urlauben und Vollzugslockerungen sowie der Zurückführung vorzeitiger Entlassungen gerade dieser Gefangenengruppen, die erkennbar auch nach ihrer Entlassung intensiver medizinischer und therapeutischer Hilfe bedürfen. Sind die Gefangenen erst aus dem Justizvollzug entlassen, kümmert sich der Justizvollzug nicht um die Entlassenen oder die Betroffenen; sie werden nach dem „Schwarze-Peter-Spiel“ an andere Institutionen abgegeben, ohne dass für Kontinuität oder Nachhaltigkeit gesorgt ist. „Runde Tische“ zu Problemen der Nachsorge gibt es nur vereinzelt und sind der privaten Initiative einzelner Anstaltsleiter, Ärzte oder Bewährungshelfer überlassen.
2.
Therapeutische Aufklärung bei Dissexualität
a) Die therapeutischen Möglichkeiten zur Behandlung von Sexualstraftätern im Regelvollzug sind bisher dürftig, obwohl sich an Hand der Stichtagserhebung der Kriminologischen Zentralstelle (zukünftig: KrimZ) zum Stichtag 31. März 2004 darstellen läßt, dass sich ein nicht unerheblicher Teil dieser Tätergruppe im Regelvollzug befindet. Danach gibt es bei 4.277 verurteilten Sexualstraftätern in Deutschland gegenwärtig nur 1.742 Plätze in der Sozialtherapie (geschlossener Vollzug 1.595 Plätze, belegt mit 1.458 Personen, offener Vollzug 147, belegt mit 113 Personen, davon 870 Sexualstraftäter = 55,4 %). Abzüglich der – in der Regel geringeren Zahl – nach § 63 StGB untergebrachten Sexualstraftäter verbleibt eine große Zahl dieser Tätergruppe für den Regelvollzug. Diese Täter mögen zwar im rechtlichen Sinne (§§ 20, 21 StGB) für ihre Taten voll verantwortlich sein, viele von ihnen haben aber Störungsbilder aus dem Bereich der Persönlichkeitsstörungen, die nicht nur in der Zeit des Aufenthalts im Regelvollzug der intensiven Behandlung bedürfen. Die Situation der im Regelvollzug untergebrachten Gewaltund Sexualstraftäter hat sich mit der am 29. Juli 2004 eingeführten nachträglichen Sicherungsverwahrung10 noch verschlechtert, als die unter Umständen auch verweigerte Mitarbeit in der Therapie sowie die während der Haft zutage getretene Gefährlichkeit des Verurteilten im Einzelfall zu einer unter Umständen lebenslangen präventiv-polizeilichen Unterbringung führen können. Diese, die therapeuti10
Gesetz vom 23. Juli 2004, BGBl. I S. 1838.
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schen Bemühungen hemmenden Umstände, hat der Anstaltsarzt nunmehr in seine therapeutische Aufklärung mit einzubeziehen und den Gefangenen über die rechtlichen Folgen der Verweigerung therapeutischer Angebote aufzuklären. b) Dabei verlangt die Behandlung sexueller Störungen im Vollzug vom Anstaltsarzt ein besonders hohes Maß an kritischer (und selbstkritischer) Auseinandersetzung mit der menschlichen Geschlechtlichkeit und den Möglichkeiten erfolgversprechender therapeutischer Interventionen. Auch gibt es bei dieser Tätergruppe Besonderheiten (z.B. die Übertragungs- Gegenübertragungsproblematik), die schnell dazu führen können, dass anfangs gutwillige und engagierte Anstaltsärzte und Therapeuten nach ersten Enttäuschungen und Frustrationen nicht mehr bereit sind, diese Patienten in Therapie zu übernehmen. Vielen Sexualstraftätern ist eigen, dass sie ihr Delikt und ihre Rolle verleugnen oder bagatellisieren, von einem Fehlurteil sprechen und die Verantwortung auf ihren Anwalt schieben, der sie zum Geständnis und zum Deal gedrängt habe. Für die therapeutische Aufklärung für diese Tätergruppe ist deshalb die Kenntnis der gesamten Bandbreite der möglichen Interventionen erforderlich. Erster Schwerpunkt muss die Behebung sexueller Funktionsstörungen sein, denn etwa ein Drittel aller Sexualstraftäter hat sexuelle Funktionsstörungen 11. Bei Tätern, die ihre Straftaten in einer adoleszenten Reifungskrise begangen haben, müssen sexualpädagogische Angebote im Vordergrund stehen. Es gehört nicht nur zu den allgemeinen medizinischen Grundregeln, dass eine Krankheit oder Störung umso bessere Heilungschancen hat, je früher die Behandlung einsetzt. Gerade bei jungen Sexualstraftätern werden die vielfach vorhandenen Risikofaktoren im Jugendstrafverfahren übersehen und die therapeutischen Möglichkeiten nicht ausreichend genutzt12. Zur Erfüllung der somatischen Therapieoptionen muß sich die therapeutische Aufklärung auch auf die Behandlung mit Antiandrogenen, mit Androcour (Cyproteronacetat) oder auch mit LHRH-Analoga erstrecken. Die Behandlung mit Antiandrogenen hat die chirurgische Kastration weitgehend verdrängt13. Bei intelligenzgeminderten Tätern kann durch sozialstützende Maßnahmen und einem zeitlich begrenzten Einsatz von Antiandrogenen einer drohenden Desintegration vorgebeugt werden. Psychotherapeutische oder verhaltenstherapeutische Verfahren (Stichwort Täterbehandlung) als konfliktszentrierte (problemaufdeckende oder problemlösende) Maßnahmen sollten insbesondere dissozialen Tätern angeboten oder vermittelt werden. Diese Beschreibung des Problemfeldes müsste eigentlich Anstoß für eine intramurale Therapie mit Sexualstraftätern auch im Regelvollzug sein. Dabei kann auf das therapeutische Angebot in der JVA Kiel verwiesen werden, in der es eine Zusammenarbeit zwischen der Anstalt einschließlich des An11 12 13
Im einzelnen Beier/Bosinski/Hartmann/Loewit, Sexualmedizin, S. 387 ff. Ausführlich Elz, Legalbewährung und kriminelle Karrieren von Sexualstraftätern, KrimZ, KUP Schriftenreihe Bd. 33 und 34. Wille/Beier, Nachuntersuchungen von kastrierten Sexualstraftätern, Sexuologie 1997, S. 1 ff.
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staltsarztes mit dem Lehrstuhl für Sexualmedizin der Universität Kiel und seinem Leiter Prof. Bosinski gibt14. Für die therapeutische Aufklärung über Indikation, Verlaufsplanung und Risiken steht ein unter den Sexualmedizinern abgestimmter Aufklärungsbogen zur Verfügung15.
3.
Therapeutische Aufklärung und Infektionsprophylaxe
a) Problematisch ist auch die therapeutische Aufklärung über eine Infektionsprophylaxe für drogenabhängige Gefangene. Hier ist der Anstaltsarzt besonders in die jeweils im Land vertretene Drogenpolitik eingebunden. Die Zeit eines gemeinsamen Vorgehens nach den zu § 56 StVollzG ergangenen bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften ist längst vorbei. Jedes Land setzt seine Drogenpolitik mit verbindlichen Justizverwaltungsvorschriften, Verfügungen und Erlassen durch, die sich aus ordnungspolitischen Gründen inzwischen weit von den Standards entfernt haben, die „draußen“ von den Drogenberatungsstellen und der Deutschen AidsHilfe e.V. angeboten und die von der Bundesregierung gefördert und unterstützt werden. i) Bayern sieht mit seinen BayVV zu § 56 StVollzG selbstbewußt „ein Beispiel einer geschlossenen Regelung des Problemkomplexes“16, mit denen es seine „Null-Toleranz-Strategie“ im Umgang mit Drogenabhängigen im Vollzug durchsetzt und für andere Länder durchaus Vorbild sein will. Die jüngst erschienene Kommentierung von Arloth/Lückemann beruft sich auf den Resozialisierungsauftrag des § 2 StVollzG und den Gesundheitsschutz, nach dem es verboten sei, dem Gefangenen durch die Bereitstellung von Utensilien zum Drogenkonsum und damit zum Drogenmissbrauch zu signalisieren, dass die Vollzugsbehörde ihr Ziel nicht ernst nehme, den Gefangenen zu einem Leben ohne Straftaten zu befähigen17. Dass der Drogenabhängige „draußen“ medizinisch als krank angesehen und auch als Kranker nach medizinischen Regeln behandelt und betreut wird, ist für den Strafvollzug nicht mehr der maßgebliche Maßstab. So überrascht nicht, dass es in der Kommentierung kaum Hinweise auf eine Dauersubstitution von Gefangenen im Vollzug und auf therapeutische Angebote gibt. ii) Nordrhein-Westfalen verzichtet zwar auf die „Null-Toleranz-Strategie“, betont aber in Ausführung des „Landesprogramms gegen Sucht, hier: Betreuung drogenabhängiger Gefangener in Justizvollzugsanstalten und Zusammenarbeit mit außervollzuglichen Institutionen“, das Ziel der Drogenfreiheit im Strafvollzug. Es wird darauf abgestellt, dass das Leben in einer Justizvollzugsanstalt geprägt sei von 14 15 16 17
Bosinski/Ponseti/Sakewitz, Therapie von Sexualstraftätern im Regelvollzug, Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Grenzen, Sexuologie 2002, S. 39 ff. Beier/Bosinski/Hartmann/Loewit aaO, S. 505. Arloth/Lückemann aaO, § 56 Rdn. 4; Text im Anhang 5. Arloth/Lückemann aaO, § 56 Rdn. 4.
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stabilen Lebensbedingungen, namentlich Wohnen, Hygiene, Gesundheitsfürsorge, Ernährung, Arbeit und sozialen Bindungen. Deshalb bedürfe es keiner Dauersubstitution mit Opiaten im Strafvollzug, weil Drogenabhängige im geschützten Rahmen andere Formen zur Erreichung des unveränderten Ziels eines Lebens in Drogenfreiheit erproben könnten. Die Dauersubstitution stelle unter Berufung auf die höchstrichterliche Rechtsprechung lediglich die ultima ratio dar. Die Dauersubstitution mit Opiaten (Methadon oder Subutex) ist an mehrere Bedingungen geknüpft: sichergestellter Beikonsumverzicht und Teilnahme an regelmäßigen psychosozialen Gesprächen in Abwägung der gesamten Lebensumstände eines Inhaftierten; Aufnahme eines stabil Substituierten in Untersuchungshaft; Haftzeit nicht über ein Jahr, in besonders gelagertem Einzelfall, der zahlenmäßig die absolute Indikationsausnahme bezogen auf die Anstaltsärzteschaft darstellen soll 18. Damit wird dem „draußen“ von den Beratungsstellen mit Unterstützung staatlicher Stellen für richtig gehaltenen niedrigschwelligen Angebot einer Dauersubstitution eine Absage erteilt. iii) Tatsächlich setzen die Strafvollstreckungsgerichte überwiegend auf die Drogenfreiheit im Strafvollzug. Danach stelle die Substitution eines Strafgefangenen keine rein ärztliche, sondern eine Maßnahme des Vollzuges dar, die sich insbesondere an den §§ 2 und 3 StVollzG zu orientieren habe. Die Dauersubstitution eines Gefangenen widerspreche in aller Regel den in den § 2 und § 3 StVollzG formulierten Zielen19. b) Die externen Drogenberatungsstellen und die Deutsche Aids-Hilfe e. V. halten der Maximalforderung nach Drogenfreiheit im Strafvollzug ein anderes Bild von der Wirklichkeit im Vollzug entgegen. Nach realistischen Schätzungen sind etwa ein Drittel aller Gefangenen drogenabhängig (in Baden-Württemberg etwa 3.000 Gefangene, davon sind nur etwa 150 in einem Substitutionsprogramm 20). Einem großen Teil dieser Gefangenen gelingt es, auch innerhalb der Mauern an Drogen heranzukommen und mit selbst gefertigten und verschmutzten Bestecken Drogen zu konsumieren und sich durch die Weitergabe der Bestecke zu infizieren. Der seit Mitte der 80er Jahre angesichts der HIV/AIDS-Herausforderung in Freiheit vollzogene Paradigmenwechsel mit der Ergänzung des Ziels der Abstinenz zugunsten einer Differenzierung des Suchtkrankenhilfesystems mit einer pragmatischen Ausrichtung auf Schadensminderung und niedrigschwellig organisierten 18 19
20
Sog. „Drogenerlaß“ vom 3. November 1998, JMBl. NW S. 297, Justizportal NRW, http:/lv.justiz-db.nrw.de und Verfügung vom 29. März 2004 (4518 (II) – E-2.10 S. 4. HansOLG Hamburg, Beschl. vom 13. September 2001 – 3 Vollz(Ws) 75/01 –, StV 2002, 265 mit ablehnender Anmerkung von Ullmann, einem Arzt für Allgemeinmedizin, StV 2003, 293ff. Einschätzung von Prof. Busch JM BW in Dokumentation einer Fachtagung der Deutschen Aids-Hilfe e.V. vom 20. Mai 2003 „Infektionsprophylaxe als Gesundheitsvorsorge im Strafvollzug,“ S. 10.
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Angeboten im Rahmen weiterführender Gesundheitsförderung hat sich im Gefängnis nicht durchgesetzt. Harm-Reduction-Angebote (z.B. Spritzenvergabe und Substitutionsprogramme) werden außerhalb der Gefängnisse als unverzichtbare und effektive Bausteine einer lebensweltnahen Drogenhilfe und HIV/AIDSPrävention angesehen und haben Eingang gefunden in die nationalen Drogenhilfestrategien (z.B. der Bundesdrogenbeauftragten). Das Äquivalenzprinzip, d.h. die Ausrichtung der Gesundheitsfürsorge an den Standards und Leistungen für die gesetzlich Krankenversicherten – verankert im Angleichungsgrundsatz in § 3 StVollzG und vielen internationalen Empfehlungen und Vereinbarungen – ist nicht umgesetzt worden. Die Strategie der Drogenhilfen setzt auf Einsicht und Aufklärung sowie auf freiwillige Testangebote, denn je eher Tests gemacht werden, desto eher und erfolgreicher können Behandlungen eingeleitet werden. Rosenbrock21 spricht von der Überlegenheit einer „gesellschaftlichen Lernstrategie“ gegenüber einer individuellen Suchstrategie. Dies bedeutet den Übergang „von der individualisierten, direkten Überwachung zu infrastrukturellen, kontinuierlichen und indirekten Kontrollmechanismen, vom Ansatz des ‚control and containment’ zur ‚inclusion and cooperation’“, weil letztlich nur eine auf Einsicht bauende Strategie vertrauensfördernd ist. Diese Strategie hat in Freiheit dazu geführt, dass in Deutschland in den letzten 20 Jahren seit Auftreten von HIV/AIDS das Problem eingegrenzt werden konnte und HIV/AIDS heute eine Krankheit ist, über die man kommunizieren kann und die in der medizinischen Versorgung fast wie eine chronische Krankheit wie andere auch behandelt wird. Eine individuelle Suchstrategie hingegen fördert Versteckspiel und Heimlichkeit, denn Zwangsbehandlung wird immer nur dort durchgeführt, wo Nachteile zu erwarten sind. Tatsächlich weist die Gesundheitsfürsorge im Justizvollzug bezogen auf die hohe Anzahl der auch im Vollzug konsumierenden Drogengebraucher erhebliche Versorgungs- und Angleichungsdefizite auf. Außerhalb des Strafvollzuges bewährte und zum Standard gewordene Behandlungs- und Schutzmaßnahmen werden im Vollzug nicht angewandt. Die Widerstände gegen eine Angleichung in den Versorgungsleistungen für die große Gruppe der drogenabhängigen Gefangenen dokumentieren vollzugliche Legitimationsprobleme und eine weitgehende Tabuisierung der Themenbereiche „Drogenabhängigkeit“ „Sexualität“ und „Infektionskrankheiten“. Die Standards, die international („International Council of Prison medical Service“ von 1996, „Edinburgher Erklärung“ aus dem Jahr 2000, „Dubliner Erklärung“ vom 24. Februar 2004 zu HIV/AIDS in Gefängnissen in Europa und Zentralasien, Vorschlag für eine neue Rahmenvereinbarung ist in Vorbereitung –“A Framework for Promoting Health in Prison through HIV Prevention, Care, Treatment and Support” –) und national von der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, vom Robert-Koch-
21
Rosenbrock, Innovationen statt Katastrophe. Die Normalisierung von Aids in Westeuropa. In: WZB-Mitteilungen, 2003, S. 33-36.
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Institut und der Deutschen Aids-Hilfe e.V. vertreten werden 22, müssen in der intramuralen Gesundheitsfürsorge des Strafvollzugs weiterhin um ihre Anerkennung kämpfen. Aufklärungsmaterialien wie HIV-Positiv in Haft oder die umfangreiche Loseblattsammlung „Risikominimierung im Strafvollzug“ erlangen bisher wohl nur vor dem Bundesverfassungsgericht (Zweite Kammer des Zweiten Senats, Beschl. vom 15. Dezember 2004 – 2 BvR 2219/01) die notwendige Anerkennung. i) Während somit die Konzepte der Drogenhilfe davon ausgehen, dass bei allen Drogenkonsumenten die Gefahr besteht, dass sie mit HIV oder einem der Hepatitis Viren infiziert sind und deshalb jeder inhaftierte Drogenabhängige im Vollzug beraten und betreut werden muss, geht die „Null-Toleranz-Strategie“ aufgrund eigener – leider nicht veröffentlichter, damit hinsichtlich der Untersuchungsmethoden nicht nachprüfbarer – Studien davon aus, eine Beratung jedes Gefangenen sei deshalb nicht geboten, weil es in der Haft nur eine geringe Zahl von Neuinfektionen mit HIV gebe und weitere Testungen in der Haft den Aufwand bei immer stärker begrenzten Mitteln nicht zu rechtfertigen seien 23. Diese Strategie schafft nur eine Scheinsicherheit über die wahren Verhältnisse im Vollzug, zumal das Robert-Koch-Institut (künftig: RKI) zusätzlich kritisiert, dass sich die Dokumentation der Ergebnisse lediglich auf HIV-Infektionen beziehe, die zahlenmäßig sicher zurückgegangen seien. Dafür seien aber die Hepatitis-Infektionen gerade bei intravenös spritzenden Gefangenen quantitativ erheblich höher einzuschätzen, deren Verbreitung mit Hilfe der unreinen, selbstgefertigten und von mehreren Gefangenen benutzten Spritzutensilien (needle sharing) besondere Gefahren mit sich brächten24. Im Bayerischen Strafvollzug wird hierzu die These vertreten, „daß die Hepatitis C im Vollzug zwar weit verbreitet ist, daß die Infektion jedoch fast immer schon außerhalb des Vollzugs erworben wurde“25. ii) Die aus ordnungspolitischen Gründen vertretene „Scheinsicherheit“ verhindert auch, dass während der Zeit des Aufenthaltes im Strafvollzug – ohne Rücksicht auf die Verbüßungsdauer – Reihenimpfungen zum Schutz gegen Hepatitis B und (die allerdings sehr teure) Impfung gegen Hepatitis C angeboten werden: Gerade haben Render (Landesjustizvollzugsamt NRW) und Lehmann (Anstaltsarzt in Hameln) u. a. ausgeführt26: „Ein weiterer Aspekt für die mangelnde Impfbereitschaft ist darin zu sehen, dass die Leistung vom System Gefängnis selbst propagiert, angeboten und durchgeführt wird. Die auf das System gerichteten negativen Emotionen führen zu einer Projektion auch auf die Maßnahme der Impfung und 22
23 24 25 26
Siehe ARCHIDO-Biobliographie: AIDS/HIV im Strafvollzug, Stand 2/2003 unter http:/www.archido.de; Leicht/Stöver, Innovative Strategien der Hepatitis-C-Prävention, Hep-Net News Nr. 5/2004. Hinweis von Prof. Busch JM BW aaO, S. 10; Arloth/Lückemann aaO, § 56 Rdn. 4. Stöver/Weilandt, RKI-InfFo 1997, http://www.rki.de/infekt/infepifo. Arloth/Lückemann aaO, § 56 Rdn. 4 unten. ZfStrVo 2004, 336.
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reduzieren die Bereitschaft zur Teilnahme. An dieser Stelle setzt auch eine vom deutschen Grünen Kreuz in Verbindung mit weiteren Organisationen für das Jahr 2004 geplante Kampagne zur Erhöhung des Hepatitis-B-Impfschutzes in Gefängnissen an. Eine nachdrückliche Ausweitung der Impfung scheitert teilweise auch daran, dass die Gefängnisse selbst Kostenträger der Maßnahme sind und somit z. T. kein primäres Interesse an der Vermehrung der verabreichten Impfdosen haben (dies spielt am ehesten bei budgetierten Anstalten eine Rolle), während die Kosten für die Erkrankungsfolgen bei den Bediensteten aus den Länderhaushalten (Beihilfe) zu tragen sind.“ iii) Das ordnungspolitische Bekenntnis zur Drogenfreiheit im Strafvollzug hat auch zu einer regelrechten „Verdammung“ der Projekte zur Spritzenvergabe in den Vollzugsanstalten geführt, ohne dass die Gegeneinwände rational diskutiert worden wären27. Die Kommentierung der scheinbar eindeutigen Ergebnisse einer Evaluation durch das KFN Niedersachsen können hier nicht im einzelnen bewertet werden28. Es fällt nur auf, dass die Modellprojekte nicht sofort nach der Evaluierung eingestellt worden sind, sondern zumindest in Niedersachsen noch fünf Jahre nach Veröffentlichung der Studie weiterliefen. Dies lässt vermuten, dass nicht zuletzt drogenpolitische Gründe für die Einstellung der Projekte gesorgt haben, nachdem es dort einen Regierungswechsel gab. Vielleicht muß es noch einmal unter Berücksichtigung der Erfahrungen einen neuen Diskurs geben. Dafür eignet sich vielleicht als Plattform ein Programm, das nicht so sehr auf den Spritzentausch fokussiert ist. Der Anstaltsarzt Dr. Keppler aus Vechta hat anlässlich der Fachtagung der AIDS-Hilfe am 20. Mai 2003 in Stuttgart ausgeführt 29: „Es ist nicht damit getan, Spritzen zu verteilen. Die Behandlung von Drogenabhängigkeit muss auf mehreren Schienen laufen: 1. abstinenzorientierte Verfahren, 2. Substitution, 3. Blocktherapien und 4. schadensmindernde Verfahren, z.B. Hepatitis B-Impfung, eine vernünftige medizinische Betreuung und auch die Abgabe von Spritzen und Kondomen.“ iv) Schließlich muss auch auf die Folgen hingewiesen werden, die sich aus der allein für den Strafvollzug für möglich gehaltenen Drogenfreiheit und der Behandlung des Problems nach der „Null-Toleranz-Strategie“ ergeben. Die Vorstellung, die Drogenfreiheit im Strafvollzug helfe den betroffenen Verurteilten, weil sie mit ihrer Entlassung die Chance erhielten, auch „draußen“ drogenfrei zu leben, erweist sich in vielen Fällen als tödlicher Irrtum. Ohne Einbindung in das von den Dro27 28 29
Groß, Das Spritzenprogramm im Hamburger Strafvollzug, Begleitforschung zu einem Modellversuch, KFN-Forschungsprojekt, http://www.kfn.de/spritzentausch. Arloth/Lückemann aaO, § 56 Rdn. 4 mit Hinweis auf den Disput Hasenpusch/ Steinhilper, ZfStrVo 2003, 351 gegen Stöver/Nelles, ZfStrVo 2003, 345. Dokumentation der Deutschen Aids-Hilfe e.V. aaO, S. 67.
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genhilfen angebotene Gesamtbetreuungskonzept und ohne engmaschig organisierte Maßnahmen erweist sich die Haftentlassung selbst und die erste Zeit danach als Risikozeitraum (dies gilt auch für die Sexualstraftäter). Eine Untersuchung für die Hansestadt Hamburg für die Jahre 1990 und 199730 zeigt: von 1.213 registrierten Drogentoten verstarben 40 = 11,7 % innerhalb der ersten zehn Tage nach der Haftentlassung, davon acht am Tag der Entlassung selbst. Diese hohe Mortalitätsrate unter den Drogenabhängigen bei der Entlassung aus dem Strafvollzug und bei dem Wiedereintritt in die Gesellschaft wird kaum öffentlich diskutiert und im übrigen mit dem Begriff „Selbstverantwortung“ abgetan. c) Im Interesse einer umfassenden therapeutischen Aufklärung liegt es deshalb, dass es zu einem ständigen Dialog zwischen den Drogenberatungsstellen, der Deutschen Aids-Hilfe e.V. und den Justizverwaltungen kommt, wie er in einer aktuellen LTDrucks. 13/3817 des Landtags von Baden-Württemberg dokumentiert ist: Dort heißt es in der Antwort des Justiministeriums auf eine Kleine Anfrage der SPD-Fraktion vom 22. Dezember 200431: „Die Landesregierung schätzt die Fachkompetenz und das Engagement der AIDS-Hilfe Baden-Württemberg e. V. (Landesverband der 13 baden-württembergischen AIDS-Hilfen) bei der Risikominimierung von HIV, Hepatitis und anderen Krankheiten im Justizvollzug. In der unmittelbaren Beratung von Gefangenen weisen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der AIDS-Hilfen Erfahrung, Sachverstand und Engagement auf. Dies alles soll im Rahmen einer vertrauensvollen Zusammenarbeit (vgl. § 154 Abs. 2 StVollzG) zum Nutzen der betroffenen Gefangenen in den Vollzug eingebracht werden. Als ehrenamtliche Mitarbeiter mit bestimmten Rechten und Pflichten haben die in der AIDS-Hilfe Tätigen dazu alle Möglichkeiten. Die Zusammenarbeit wird jedoch dadurch erschwert, dass sich die AIDS-Hilfen für einen risikobewußten Drogenkonsum in Haft und für eine Spritzenvergabe in Justizvollzugsanstalten aussprechen, um die Gefahren eines möglichen Drogenkonsums in Haft zu minimieren. In politischen Initiativen, insbesondere aber auch in der Beratungstätigkeit vor Ort treten die Verantwortlichen dafür ein. Dies steht in deutlichem Gegensatz zu der in Baden-Württemberg und anderen Bundesländern vertretenen abstinenzorientierten Auffassung (zur Spritzenvergabe im Justizvollzug vgl. Landtagsdrucksache 12/928). Es ist schwer, bei den AIDS-Hilfen Verständnis für die 30
31
Heinemann/Kappos/Püschel, Haftentlassung als Risikozeitraum für die Mortalität drogenabhängiger Strafgefangener, Institut für Rechtsmedizin, Schwerpunkte, Suchttherapie 2002, 162 – 167. Landtag von Baden-Württemberg, 13. Wahlperiode, Drucks. 13/3817 vom 30. November 2004.
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Ablehnung der Spritzenvergabe im Vollzug zu erlangen. Gleichwohl fand am 9. Dezember 2004 auf Initiative des Justizministeriums ein bereits längerfristig geplantes Gespräch mit Vertretern der AIDS-Hilfe e. V. statt, bei dem Probleme und künftige Formen der Zusammenarbeit erörtert wurden. [...] Bei dem oben erwähnten Gespräch im Justizministerium wurde erörtert, in den Justizvollzugsanstalten bzw. an der Justizvollzugsschule Praktiker und Praktikerinnen durch Vertreter der AIDS-Hilfen in der HIV-Prävention zu schulen. Grundlage sollen die Arbeitsmaterialien ´Risikominimierung im Strafvollzug´32 sein.“
III. Einwilligung Die Einwilligung ist die bewusste Entscheidung des Patienten, ärztliche Eingriffe in seine rechtlich geschützte Interessensphäre hinzunehmen, so dass unter bestimmten Bedingungen die Rechtswidrigkeit entfällt 33. Sie besteht in der einseitigen, mangelfreien Zustimmung des einwilligungsbefugten und -fähigen Patienten in die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit, welche unabhängig vom Willen des Patienten geschützt wird. Das ärztliche Bemühen um Heilung des Patienten findet seine Grenzen im freien Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seinen Körper. Dieser im Arzt-Patienten-Verhältnis so entscheidende Begriff beinhaltet das Recht des Patienten, aufgrund eines durch Aufklärung bewirkten Wissens über seinen Gesundheitszustand eine autonome Willensentscheidung in positiver oder negativer Hinsicht im Hinblick auf notwendige ärztliche Maßnahmen treffen zu können. Wesentliche Elemente des patientenbezogenen Selbstbestimmungsrechts bilden somit, gleichsam als symbiotische Verbindung, die klare Information über die Krankheit und die Entscheidungsfreiheit des Betroffenen als Zeichen für die Achtung der personalen Würde des Menschen. Den Patienten gegen seinen Willen in Unwissenheit zu halten, heißt, ihn um sein Selbstbestimmungsrecht zu betrügen. In Abwandlung der Worte von Karl Jaspers: „Anspruch auf Wahrheit hat nur der Kranke, der fähig ist, die Wahrheit zu ertragen und mit ihr vernünftig umzugehen“, muss es ohne Einschränkung formuliert heißen: Anspruch auf Wahrheit hat jeder Kranke, der nicht freiwillig auf sie verzichtet. Denn ob ein Patient in der Lage ist, mit der Wahrheit „vernünftig“ umzugehen, lässt sich vom Arzt aufgrund der heutigen Pflegesituation in den Krankenhäusern mit dem daraus resultierenden Mangel an Zeit und persönlicher Zuwendung nur schwer beurteilen.
32 33
Deutsche AIDS-Hilfe e.V., Diefenbachstraße 33, 10967 Berlin, 2. Aufl. Dezember 2004, Bestellnummer 100006; www.aidshilfe.de. Voll aaO, S. 36.
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1.
Axel Boetticher
Einwilligungsfähigkeit
Einwilligungsfähig ist, wer in der Lage ist, eine vernünftige, seine Interessen wahrnehmende Entscheidung zu treffen. Vernünftig ist die Einwilligung, wenn sie den subjektiven Wertmaßstäben des Rechtsgutsträgers (= Patienten) entspricht und auf den Erwerb eines Vorteils, die Vermeidung eines Nachteils oder die Preisgabe eines dem Inhaber unwichtigen Rechtsguts zielt, auf einer zutreffenden Würdigung der bewertungsrelevanten, objektiven Tatsachen und Kausalverläufen beruht und im Falle eines Konflikts zwischen mehreren Rechtsgütern nach der subjektiven Bewertung des Patienten zur Konfliktlösung erforderlich ist 34. Aus diesen Anforderungen an eine vernünftige Einwilligungsentscheidung ergeben sich die Voraussetzungen für die Einwilligungsfähigkeit. Der Patient muss fähig sein, eine vernünftige persönliche Wertung zu treffen. Bei psychisch Kranken mit defekter Autonomie und unreifen Minderjährigen sei dies aber nicht möglich. Ferner müsse der Patient die intellektuelle Fähigkeit besitzen, Tatsachen und Kausalverläufe zu verstehen, die ihm vom Arzt, bezogen auf die medizinische Diagnose und den Eingriff vermittelt werden. Schließlich müsse der Patient auch in der Lage sein, sich seiner Einsicht und subjektiven Beurteilung entsprechend zu steuern, d.h. selbst bestimmen zu können. Der Vermittlungsprozess zwischen Erkenntnis, Bewertung und Steuerung könne jedoch durch Krankheit oder Minderjährigkeit gestört sein. a) Amelung hat schon 1983 grundlegend herausgearbeitet, dass die vollzugsbedingte Einwilligungsfähigkeit angesichts des staatlichen Zwangs im Strafvollzug generell von der Eingriffsstärke her besonders anfällig ist. Eingesperrte sind leichter zu „verführen“ als freie Personen. Zur Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit sind neben den „normalen“ Folgen der Einsperrung die speziellen haftpsychologischen Krisen wie der „Haftschock“ am Beginn der Untersuchungshaft, der „Haftkoller“ und die zahlreichen Auslöser für Selbstschädigungen35 zu beachten. Die haftpsychologisch bedingte dauerhafte Krisensituation und die Abhängigkeit vom Anstaltspersonal und in medizinischen Fragen vom Anstaltsarzt führen dazu, dass der Gefangene zu einer realistischen Betrachtung der Dinge kaum fähig ist. Grundsätzlich besteht zwischen dem Anstaltsarzt und den Gefangenen ein Machtgefälle; Hoffnungen und Befürchtungen rufen Situationen hervor, die Gefangene möglicherweise zu Einwilligungen bewegen, welche sie in Freiheit nicht geben würden. Ihre Anfälligkeit gegenüber ärztlichen Untersuchungen und Heileingriffen zeichnet sich dadurch aus, dass im Vollzug typischerweise von einer motivierenden Wirkung des rechtmäßigen Zwangs ausgegangen werden kann: Der Gefangene will in Freiheit (Urlaub, Ausgang, Lockerung, Entlassung) gelangen, d.h. 34 35
Amelung, Über die Einwilligungsfähigkeit, ZStW 104 (1992), S. 525, 550; Voll aaO, S. 64. Amelung, Die Einwilligung des Unfreien, ZStW 95 (1983), S. 1 ff.
Einwilligung und Aufklärung in der Strafvollzugsmedizin
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der Freiheitswunsch spielt für seine Entscheidungen auch gegenüber dem Anstaltsarzt naturgemäß eine erhebliche Rolle. Daneben gibt es Fälle, in denen er seine anstaltsinterne Lage verbessern will (sexueller Missbraucher, Pädophiler), oder er will in ein freies Krankenhaus verlegt werden (Psychosomatiker, Selbstschädiger). Er will die psychischen Folgen der Haft minimieren (Erstverbüßer/Wirtschaftskrimineller) oder er befindet sich in einer spezifischen psychischen Krise in der Haft. Dies will er notfalls erreichen durch das Einlassen auf die Behandlung mit Antiandrogenen oder LHRH-Analoga, im Extremfall sogar durch die Einwilligung zur Kastration gemäß § 3 Abs. 2 KastrG. Als Beispiel für eine seinerzeit und gerade wieder aktuell gewordene Problematik führt Amelung die Einwilligung eines sicherungsverwahrten Sexualstraftäters an, der in eine stereotaktische Hirnoperation zur Dämpfung seines Sexualtriebes einwilligt, um die Voraussetzungen einer günstigen Entlassungsprognose nach § 67d Abs. 2 StGB zu schaffen. Ist diese Maßnahme aus individuellen Gründen kontraindiziert, so sei davon auszugehen, dass ein guter Teil der Einwilligungen Gefangener im Rechtsinne unfreiwillig erfolgt sei36. b) Der Vollzugsalltag – dies erkennt auch Amelung an – zeichnet sich dadurch aus, dass vom staatlichen Zwang in Erfüllung des Behandlungsauftrags nach § 2 StVollzG typischerweise auch eine den Gefangenen motivierende Wirkung ausgehen kann. Der Eingesperrte wird veranlaßt, nach Wegen zu suchen, dem Zwang der Inhaftierung in Zukunft dauernd oder zumindest zeitweise zu entgehen. Die eingriffsmildernde Wirkung von angeordneten staatlichen Maßnahmen kann dann als Einwilligungsgrund ausreichend sein, wenn sie dem Eingesperrten dazu dient, sein Los zu mildern. Amelung kommt zu Recht zu einer Gleichbehandlung von freiwilligen Einwilligungen mit solchen unter rechtmäßigem Zwang zustande gekommenen Einwilligungen. Den Anstaltsarzt trifft in diesen Fällen jedoch eine erhöhte Mitverantwortung dafür, dass keine sinnlosen Maßnahmen zugelassen werden, die den öffentlichen Zweck der Freiheitsentziehung verfehlen und damit nicht das Los des Gefangenen mildern. Er muss daher im Rahmen der therapeutischen Aufklärung aufgrund seiner ethischen Verpflichtung und seiner stellvertretenden staatlichen Verantwortung die ihm vom Gefangenen gegebene Einwilligung darauf überprüfen, ob Zweifel an der Freiwilligkeit und an dem angestrebten Zweck der ärztlichen Heilbehandlung bestehen, etwa ob hinter der Einwilligung die Androhung oder Verhängung verdeckter Sanktionen wie Besuchssperre oder Drohung mit Zellennachbarn oder einem Rollkommando, Einwilligung zu medikamentöser Behandlung, Verschweigen von Krankheit gegen das Versprechen günstiger Beurteilung für Lockerungen oder Entlassungen stehen.
36
Amelung, ZStW 95(1983) aaO, S. 9 und 11.
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2.
Axel Boetticher
Zwangstherapie oder Zwangstests ohne Einwilligung?
a) Die Zulässigkeit von Zwangsmaßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge ist abschließend in § 101 StVollzG geregelt. Die Vorschrift stellt den Versuch dar, zwischen den Positionen des absoluten Rechts des Gefangenen auf Selbstbestimmung über Leib oder Leben und der Anerkennung der sozialstaatlichen Fürsorgepflicht zur Erhaltung des Lebens und der Gesundheit des Gefangenen zu vermitteln37. Im Sinne dieser abschließenden Regelung gibt es gegen den Willen des Gefangenen keine psychotherapeutische „Zwangsbehandlung“ im Strafvollzug oder in der sozialtherapeutischen Anstalt. Zwar hat der Gesetzgeber im Gesetz zur Bekämpfung von Sexualstraftaten und anderen schweren Straftaten vom 26. Januar 199838 ausdrücklich von den Justizverwaltungen verlangt, im Rahmen der sich aus § 58 StVollzG ergebenden Handlungspflichten die Behandlung einer festgestellten behandlungsbedürftigen Persönlichkeitsstörung in einer sozialtherapeutischen Anstalt oder in einer sozialtherapeutischen Abteilung des Vollzuges sicherzustellen. Nach § 9 StVollzG ist ein Gefangener aus dieser Tätergruppe in eine solche therapeutische Einrichtung oder Abteilung zu verlegen; diese Verlegung läuft jedoch ins Leere, wenn der Gefangene seine Einwilligung in die Behandlungsmaßnahme nicht gibt. Andererseits muss sich die Justizbehörde um eine anderweitige Behandlung innerhalb des Strafvollzuges oder unter Beiziehung von Kräften außerhalb des Vollzuges bemühen, wenn in den Einrichtungen keine Plätze zur Verfügung stehen. Dies kann durch eine – zu einem möglichst frühen Zeitpunkt der Vollstreckung abzuschließende – klare und unmissverständliche Vereinbarung über die notwendige Therapieform, einen Therapieplatz und die Kostenübernahme erfolgen. An dieser Vereinbarung müssten der ärztliche Leiter der sozialtherapeutischen Abteilungen, der Anstaltsarzt, der psychologische Dienst und der Gefangene beteiligt werden39. Eine vergleichbare Weisung wie in § 56c Abs. 3 Nr. 1 StGB, nach der im Fall einer Bewährungsstrafe sogar auf eine Einwilligung des Verurteilten verzichtet wird, gibt es für den Strafvollzug nicht. Danach kann in diesem Fall einer Eingriffsmilderung des Verzichts auf die Vollstreckung einer an sich verwirkten Freiheitsstrafe der Verurteilte auch ohne seine Einwilligung angewiesen werden, dass er sich einer Heilbehandlung oder einer Entziehungskur zu unterziehen hat, die nicht mit einem körperlichen Eingriff verbunden ist. Ist eine zwangsweise durchsetzbare Therapie mit dem System des Strafvollzugsgesetzes somit nicht vereinbar, könnte allenfalls – entsprechend dem Beispiel der Gefangenenentlohnung nach § 43 Abs. 9 StVollzG – darüber nachzudenken sein, ob die Therapiebereitschaft des Verurteilten dadurch zu fördern wäre, dass man
37 38 39
Calliess/Müller-Dietz, StVollzG 10. Aufl., § 101 Rdn. 2 und 3. BGBl. I. S. 106. Boetticher/Stöver aaO, § 58 Rdn. 23 und 26.
Einwilligung und Aufklärung in der Strafvollzugsmedizin
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ihm in Aussicht stellt, die erfolgreiche Therapiezeit auf den Entlassungszeitpunkt anzurechnen. b) Die zunehmende Ausbreitung der viralen Infektionskrankheit HIV/Aids und der Hepatiden A, B und C im Strafvollzug hat sowohl unter den Vollzugsbediensteten als auch unter den Gefangenen Angst um die eigene Gesundheit geweckt. Immer wieder wurde die Frage nach der Legitimität von zwangsweisen Bluttests bei solchen Gefangenen gestellt, die ihre Einwilligung hierzu verweigern. Gab es zunächst Stimmen dafür, dass allein das Ansteckungspotential des HIV-Virus ausreichend sei, um Untersuchungen im Wege von Zwangsmaßnahmen auf der Grundlage des § 101 Abs. 1 StVollzG durchzuführen, besteht heute Einigkeit darüber, dass diese Vorschrift keine Rechtsgrundlage für die Durchführung von Zwangs-Reihenuntersuchungen an allen Gefangenen darstellt, da es an der erforderlichen konkreten Leibes- oder Lebensgefahr fehlt und das Risiko einer AidsInfektion zum allgemeinen Lebensrisiko gehört. Auch bei einem konkreten Verdacht auf eine HIV-Infektion fällt es schwer, zwangsweise Aids-Tests mit § 101 Abs. 1 StVollzG zu rechtfertigen. Für die Annahme einer medizinischen Indikation genügt es nach der herrschenden Meinung nicht, dass ein Gefangener in eine der sog. Risikogruppen (z.B. Homosexuelle, Fixer, Tätowierer, Prostituierte und Intimpartner solcher Personen) fällt. Es muss vielmehr ein konkreter Anlass gegeben sein, der eine Gesundheitsgefahr im Sinne des § 101 Abs. 1 Satz 1 StVollzG für Dritte oder den Gefangenen selbst begründet. Doch selbst wenn ein solcher Anlass vorliegt, wird man die Durchführung von Zwangstests regelmäßig als unverhältnismäßig einstufen müssen. Denn um schwerwiegende Gefahren von Gefangenen selbst abzuwenden, ist der Test nicht geeignet, solange es keine besseren Therapiemöglichkeiten gibt und das Testergebnis nicht verlässlicher ist. Zum Schutze Dritter ist ein Zwangstest nicht erforderlich, da es mildere Mittel gibt, um eine Ansteckung mit der nur sehr beschränkt übertragbaren Krankheit vorzubeugen (z.B. intensive Aufklärung, Kondome oder sterile Nadeln). Bedenkt man, welche gravierenden Auswirkungen ein positives Ergebnis auf das Leben und die Gesundheit eines Gefangenen haben kann, der sich damit konfrontiert sieht, erscheint auch die Angemessenheit eines Zwangstests fragwürdig40. c) Es bestand bisher Einigkeit darüber, dass die Anstaltsärzte die notwendigen Blutuntersuchungen im Vollzug zur Ermittlung von HIV und Hepatitis nur mit Einwilligung des Gefangenen durchführen. Sie haben nach allen vorliegenden Berichten dafür zu einem hohen Prozentsatz die Zustimmung der Gefangenen erhalten41. Nunmehr scheint Bayern im Rahmen der „Null-Toleranz-Strategie“ davon abrücken zu wollen, wenn es in der Kommentierung von Arloth/Lückemann zu § 56 StVollzG heißt, der Anstaltsarzt könne die Zugangsunter40 41
Neumann aaO, S. 175 m. w. Nachw. Calliess/Müller-Dietz aaO, § 56 Rdn. 10.
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Axel Boetticher
suchung nach § 5 Abs. 3 StVollzG in Anwendung der neuen Vorschriften der §§ 36 Abs. 4 Satz 7 und Abs. 5 IfSG auch ohne Einwilligung des Gefangenen zwangsweise durchsetzen. Vorsichtig – wohl mit Rücksicht auf die Anstaltsärzte – wird aber auch geraten, es sollte nach einer Güterabwägung von einer zwangsweisen Durchsetzung der Blutentnahme abgesehen werden, um das Vertrauensverhältnis zwischen Anstaltsarzt und Gefangenen nicht von Anfang an zu vereiteln 42. Diese Kommentierung steht nicht im Einklang mit dem gesetzgeberischen Anlass für die Verabschiedung des Infektionsschutzgesetzes vom 20. Juli 2000 43, ist nicht mit dem Wortlaut der Vorschrift vereinbar und findet auch keine Stütze in den Gesetzesmaterialien. Schließlich findet diese neue bayerische Linie auch in der Kommentierung des § 36 IfSG keinen Niederschlag. Zweck der Neuordnung des § 36 IfSG sollte sein, den Schutz der Bevölkerung vor ansteckenden Krankheiten zu erhöhen, indem das Instrumentarium zur Erkennung und Überwachung übertragbarer Krankheiten neu strukturiert werden sollte. Konkreter Anlass war die Befürchtung, Spätaussiedler mit Verdacht auf die ansteckungsfähige Lungentuberkulose (Tbc) seien ohne ausreichenden Gesundheitsschutz in ihren Herkunftsländern in die Gemeinschaftsunterkünfte aufgenommen worden. Zur besseren Überwachung und Einhaltung der Infektionshygiene wurde in Ergänzung des Regelungsinhalts des bisherigen § 48a Abs. 1 BSeuchG der Kreis der zu überwachenden Einrichtungen um solche erweitert, in denen eine erhöhte Gefahr der Krankheitsübertragung gegeben ist44. Die Anstalten, darunter auch die Justizvollzugsanstalten, werden nun – gegen den Widerstand einiger Länder – verpflichtet, Hygienepläne für innerbetriebliche Verfahrensweisen zur Infektionshygiene aufzustellen. Deren Einhaltung unterliegt der Aufsicht des Gesundheitsamtes, die Anstaltsleitung und der Anstaltsarzt sind zu beteiligen. Nach § 36 Abs. 4 Satz 7 IfSG sind Personen, die in eine Justizvollzugsanstalt aufgenommen werden, verpflichtet, „eine ärztliche Untersuchung auf übertragbare Krankheiten einschließlich einer Röntgenaufnahme der Lunge zu dulden“. Hätte der Gesetzgeber darunter auch Blutentnahmen und Abstriche von Haut und Schleimhäuten fassen wollen, hätte er § 36 Abs. 4 Satz 7 IfSG genauso gefaßt wie § 26 Abs. 2 IfSG, der (allein) dem Gesundheitsamt nach Kenntnisnahme eines konkreten Verdachts über das Vorliegen übertragbarer Krankheiten das Recht gibt, die in § 25 Abs. 1 IfSG genannten Personen vorzuladen. „Sie können verpflichtet werden, Untersuchungen und Entnahmen von Untersuchungsmaterial an sich vornehmen zu lassen, insbesondere die erforderlichen äußeren Untersuchungen, Röntgenuntersuchungen, Tuberkulintestungen, Blutentnahmen und Abstriche von Haut und Schleimhäuten durch die Beauftragten des Gesundheitsamtes zu dulden sowie das erforderliche 42
43 44
Arloth/Lückemann, StVollzG, § 56 Rdn. 3; jetzt auch wohl vertreten von Calliess/Müller-Dietz aaO, § 56 Rdn. 10; ebenso Laubenthal in diesem Band, der zukünftig in Schwind/Böhm kommentieren wird. BGBl. I S. 1045. Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften (SeuchRNeuG) vom 15.10.1999 (BRDrucks. 566/99).
Einwilligung und Aufklärung in der Strafvollzugsmedizin
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Untersuchungsmaterial bereitzustellen. Darüber hinaus gehende invasive Eingriffe, die eine Betäubung erfordern, dürfen nur mit Einwilligung des Betroffenen vorgenommen werden“. § 36 Abs. 4 Satz 7 IfSG sieht die allein dem Gesundheitsamt zustehenden Eingriffmöglichkeiten gerade nicht vor. Zur Begründung heißt es wörtlich: „Abs. 4 entspricht inhaltlich dem § 48a Abs.2 BSeuchG und erweitert den Kreis der Verpflichteten auf die Bewohner von Obdachlosen-, Asyl-, Flüchtlings- und Spätaussiedlergemeinschaften. Senioren sowie Obdachlose, Flüchtlinge, Asylbewerber und Spätaussiedler haben gegenüber dem Bevölkerungsdurchschnitt eine signifikant höhere Tuberkulose-Prävalenz. Untersuchungen zeigen, dass Husten und andere Symptome einer ansteckungsfähigen Lungentuberkulose durchschnittlich später als in anderen Gruppen wahrgenommen werden und eine spätere Konsultation von Ärzten stattfindet“45. Das IfSG gibt den Justizvollzuganstalten somit keine Rechtsgrundlage, im Rahmen der Eingangsuntersuchung nach § 5 Abs. 3 StVollzG regelmäßig auch eine notfalls zwangsweise durchsetzbare Blutentnahme anzuordnen46.
45 46
BRDrucks. 566/99 S. 177, 178; Protokoll der 428. Sitzung des Gesundheitsausschusses vom 24. Mai 2000 S. 6 ff. Bales/Baumann/Schnitzler, Infektionsschutzgesetz, 2. Aufl. § 36 Rdn. 16 mit Hinweis auf Eisenberg, JuS 1991, 753 ff.
Statement Knut Amelung
Meine Damen und Herren!
I. Ein Anlass, das Thema der Einwilligung des Verletzten auf einer Tagung über die Medizin hinter Gefängnismauern zu behandeln, sind Zweifel an der Freiwilligkeit einer Einwilligung in diesem Milieu. Um sich der Frage zu nähern, muss vorrangig geklärt werden, was man unter Freiwilligkeit der Einwilligung versteht. Doch ist der Begriff der Freiwilligkeit nicht gerade ein Lieblingsgegenstand der deutschen Rechtswissenschaft. Er wird zwar häufig gebraucht, aber typischerweise setzt man ihn dabei in Gänsefüßchen, um zu demonstrieren, dass man ein kritischer Geist ist, der die Probleme dieses Begriffs sieht, aber leider nicht die Gelegenheit wahrnehmen kann, sie zu lösen1. Im Folgenden soll versucht werden, einige Schritte über diesen Stand hinaus zu kommen.
II. Die Begriffe „Freiwilligkeit“, „Freiheit“ und „Autonomie“ – oft synonym gebraucht – sind in westlichen Gesellschaften positiv besetzt. Dies bedingt, dass man nicht selten „Freiheit“ fordert, ohne genau zu sagen, wovon man frei sein will. Die Dogmatik der Einwilligung gibt dafür ein Beispiel, ist es doch üblich, sich darauf zu beschränken, „Autonomie“ der Entscheidung zu fordern, ohne dies zu konkretisieren.2 Vollkommene Freiheit eines Menschen von allen Wirkfaktoren kann man 1
2
Vgl. jetzt aber die tief dringende Dissertation von Gutmann Freiwilligkeit als Rechtsbegriff (2001). Paradigmatisch Otto Grundkurs Strafrecht. Allgemeiner Teil (7. Aufl. 2004) S. 127. Vgl. aber auch die Kennzeichnung der Einwilligung als Akt der „Selbstbestimmung“ bei Gropp Strafrecht. Allgemeiner Teil (2. Auflage 2001) S. 180; Köhler Strafrecht. Allgemeiner Teil (4. Aufl. 2002) S. 227 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner StGB (26. Aufl. 2001) Rn. 33 vor § 32; Wessels/Beulke Strafrecht. Allgemeiner Teil (26. Auflage 2001) S. 128. Konkretisierungsversuche aber bei Roxin Noll GS (1984) S. 275 ff. (dazu krit. Amelung, Irrtum und Täuschung als Grundlage von Willensmängeln bei
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Knut Amelung
sich jedoch schwer vorstellen; denn dann wäre er ein Wesen, das noch nicht einmal gezwungen wäre, zu essen und zu trinken. Gibt es keine absolute Freiheit des Menschen von aller „zwingenden“ Kausalität, so kann sie nur relativ, d. h. als Freiheit von einem bestimmten Ausschnitt aller denkbaren Wirkfaktoren beschrieben werden. Dies erkennt auch die analytische Ethik an, die betont, dass zur vollständigen Beschreibung einer konkreten Freiheit die Benennung des Faktors erforderlich ist, dessen freiheitsbehindernde Wirkung ausgeschaltet sein soll3. In lockerer Anlehnung an den analytischen Ansatz kann man sagen, dass ein Freiheitspostulat nur dann konkrete Gestalt gewinnt, wenn es drei Bedingungen erfüllt: die Beschreibung einer bestimmten Handlungsweise, die frei sein soll, die Benennung eines Faktors, der diese Handlungsweise zu beeinflussen geeignet ist, und die Forderung, dass dieser Faktor in concreto seine Wirksamkeit nicht entfaltet. Die Handlungsweise, um die es dabei geht, beschreibt die „Freiheit wozu“ und der Faktor, der nicht wirksam sein darf, wenn Freiheit bestehen soll, beschreibt die „Freiheit wovon“. Wie schon erwähnt, gehört es zum Freiheitspathos der westlichen Kulturen, dass sie die Freiheit „wozu“ meist deutlicher bezeichnen, als die Freiheit "wovon". Das gilt gerade auch für die Einwilligung. Die gewohnheitsrechtliche Überlieferung dieses gesetzlich weitgehend ungeregelten Rechtsinstituts begnügt sich mit der Beschreibung der Handlungsweise „Einwilligung“ und dem Postulat, dass sie frei wahrgenommen werden muss, wenn sie rechtliche Anerkennung finden soll.4 „Wovon“ die Handlung frei sein muss, wird in der Überlieferung nicht ausformuliert. Deshalb muss der Faktor, der unwirksam bleiben muss, wenn Freiheit bestehen soll, mit den Mitteln der teleologischen Denkweise erschlossen werden. Das hat, wenn auch mit problematischem Ergebnis, zuerst Roxin vorgeführt, als er den Begriff der Freiwilligkeit beim Rücktritt vom Versuch analysierte. 5 Dieser Ansatz geht davon aus, dass der Freiheitsbegriff nicht überall die gleiche Bedeutung hat, sondern diese von dem Kontext abhängt, in dem der Begriff steht. Dass dies so ist, kann man vor aller teleologischen Betrachtung an einem Vergleich der für die Wirksamkeit einer Einwilligung geforderten Freiheit mit der (Willens-) Freiheit demonstrieren, die Voraussetzung für das Schuldurteil ist. 6 Wer zur Abwendung
3
4 5
6
der Einwilligung des Verletzten (1998) S. 28 ff.); Rönnau Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht (2001) S. 205 ff. (dazu krit. Amelung ZStW 115 (2003) S. 710 ff.). Alexy Theorie der Grundrechte (1986) S. 196 ff. im Anschluss an Mc Callum Philosophical Review 76 (1967) S. 314 ff. Nachweise oben Fn. 2. Roxin Heinitz-FS (1972) S. 251 ff. (255 ff.); krit. BGHSt 35/184; Herzberg JuS 2005/1 ff. (7). Vgl. dazu schon Amelung/Eymann JuS 2001, S. 937 ff. (939).
Statement
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einer tödlichen Gefahr eine Straftat begeht, wird gem. § 35 StGB entschuldigt, weil er unter Zwang handelt, dem zu widerstehen wir dem Täter nicht zumuten wollen. Wer sich wegen einer tödlichen Gefahr durch eine Krebserkrankung die Bauchhöhle zum Zweck einer Operation öffnen lässt, von dem sagen wir das dagegen nicht, sondern akzeptieren die Entscheidung letztlich als „freiwillig“ oder doch als „autonom“, obgleich auch sie unter dem Druck von Todesgefahr getroffen wurde. Anderenfalls müssten wir den Arzt wegen Körperverletzung verurteilen. Es ist nicht schwierig, den skizzierten Unterschied teleologisch zu erklären. Bei der Schuld dient der Freiheitsbegriff dazu, den Bereich abzustecken, in dem dem Normbrecher ein Vorwurf gemacht werden kann, weil er hätte anders handeln können. Da wir alle davon ausgehen, dass wir Normbrüche vermeiden können, ist der Ausschluss der Freiwilligkeit ein Ausnahmefall, der eng zu fassen ist, damit wir weiterhin den Anspruch erheben können, menschliches Verhalten lasse sich durch Normen steuern. In den engen, durch § 35 StGB gezogenen Grenzen muss dann aber jeder Zwang als freiheitsvernichtend behandelt werden, gleichgültig, ob er von anderen Menschen oder von Naturkräften ausgeht. Bei der Einwilligung hat das Postulat der Freiwilligkeit dagegen die Bedeutung, sicherzustellen, dass der Einwilligende nach seinem und nur nach seinem Wertgefüge darüber entscheiden kann, ob er strafrechtlich sanktionierte Verbotsnormen außer Kraft setzen soll, um anderen die Möglichkeit zu geben, ihn unter Beeinträchtigung dieser Güter bei der Erreichung subjektiv höheren Nutzens zu unterstützen. Das ist die abstrakte und etwas komplizierte Formulierung der Situation des Krebskranken, der mit seiner Einwilligung das Körperverletzungsverbot des § 223 StGB außer Kraft setzt, um dem Arzt die Möglichkeit zu verschaffen, durch Beeinträchtigung des Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit das Rechtsgut des Lebens, das dem Einwilligenden mehr wert ist, zu retten. Die Einwilligung hat hier die in der arbeitsteiligen Gesellschaft wichtige Funktion, dem Einwilligenden die Möglichkeit zu geben, die Wirkkraft von Verbotsnormen zu beseitigen, die – in bester Absicht – andere daran hindern, ihn bei der Erreichung seiner Ziele zu unterstützen. Das ist die praktische Funktion der Einwilligung.7 Hält man sich den instrumentellen Charakter der Einwilligung vor Augen, so wird erkennbar, dass Zwänge, die aus der Natur stammen, hier anders behandelt werden müssen als bei der Bestimmung der Schuld. Ein beträchtlicher Teil menschlicher Aktivitäten, bei denen ein Bedürfnis nach Unterstützung besteht, gilt gerade der Auseinandersetzung mit diesem Faktor. Würde man Zwänge, die aus der Natur 7
Ähnlich schon Geilen Einwilligung und ärztliche Aufklärungspflicht (1963) S. 90; vgl. ferner Amelung Willensmängel (Fn. 2) S. 41; Rönnau (Fn. 2) S. 202; SternbergLieben Die objektiven Schranken der Einwilligung (1997) S. 20 ff.
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Knut Amelung
stammen, wie etwa Krankheiten, als Hinderer wirksamer Einwilligungen betrachten, so wäre der Einsatz dieses Instruments in dem wichtigsten Fall, in dem der Mensch es braucht, rechtlich unmöglich. Zwangswirkungen, die aus der Natur stammen, müssen deshalb bei der Bestimmung der Begriffe der Freiwilligkeit einer Einwilligung außer Betracht bleiben. Als Freiheit bedrohende Faktoren kommen mithin bei der Einwilligung nur soziale Zwänge in Betracht, und der Begriff der Freiwilligkeit einer Einwilligung ist dem anzupassen. Ein Krebskranker mag zwar zu seinem Arbeitgeber sagen, er sei „gezwungen“, in eine Krebsoperation einzuwilligen. Doch ist das eine umgangssprachliche Redeweise, der die Rechtswissenschaft nicht nachgeben darf, solange sie an dem Freiwilligkeitspostulat bei der Einwilligung festhalten will. Vor die Alternative gestellt, dass die Kennzeichnung der Einwilligung als erzwungene deren Unwirksamkeit zur Folge hätte, würden wohl die meisten unserer Mitbürger auch in diesem Fall noch von einer freiwilligen Entscheidung sprechen. Dagegen würden auch sie mit Sicherheit von einer unfreiwilligen Entscheidung reden, wenn ihnen mitgeteilt würde, die Einwilligung eines Kranken in eine Operation sei von den Verwandten dadurch erzwungen worden, dass sie ihm gedroht hätten, ihn anderenfalls mit den gleichen Schmerzen zu quälen, wie die Metastasen eines Darmkrebses sie erzeugen. Freiwilligkeit der Einwilligung im Rechtssinne ist also Freiheit von sozialem Zwang, während Freiheit von Naturprozessen, die den Handlungsspielraum einengen, hier nicht gefordert ist.8 Nicht jeder soziale Zwang führt freilich sogleich zur Unwirksamkeit einer Einwilligung. Die herrschende Lehre hält ihn erst dann für wirksamkeitsrelevant, wenn er die Schwelle zur Nötigung überschreitet.9 Dem soll nicht grundsätzlich widersprochen werden. Doch lässt der Rückgriff auf § 240 StGB in seiner gegenwärtigen, moralisierenden Fassung nicht das Prinzip erkennen, nach dem zwischen relevanten und irrelevanten sozialen Zwängen zu unterscheiden ist. Die Forderung des § 240 Abs. 1 StGB, eine Nötigungsstrafe nur dann eintreten zu lassen, wenn mit einem empfindlichen Übel gedroht wird, erweckt den Eindruck, es komme auf die Intensität des Zwanges an. Das ist aber nicht der Fall. 10 Es gibt schwere Bedrohungen, die an der Freiwilligkeit im Rechtssinne nichts ändern. Man denke etwa daran, dass eine Frau mit der Scheidung droht, wenn ihr Mann sich nicht einem Eingriff zur Heilung seiner Geschlechtskrankheit unterzieht. Die Zweck-MittelRelation einer solchen Drohung ist nicht verwerflich und kein Arzt, der die sozialen Hintergründe der Entscheidung seines Patienten kennt, wird einen indizierten Eingriff aus diesem Grunde ablehnen. Maßgeblich ist nicht die Intensität, sondern 8 9
10
Vgl. dazu auch Amelung/Eymann (Fn. 6) S. 939. Hirsch LK (11. Aufl. 2003) Rn. 120 vor § 32; Jescheck/Weigend Strafrecht. Allgemeiner Teil (5. Aufl. 1996) S. 383; Kühl Strafrecht. Allgemeiner Teil (4. Aufl. 2002) § 9 Rn. 36; Otto Geerds-FS (1995) S. 614; Rönnau (Fn. 2) S. 437; Roxin Strafrecht. Allgemeiner Teil (Bd. 1, 3. Aufl. 1997) § 13 Rn. 81; Schönke/Schröder/Lenckner StGB (26. Aufl. 2001) Rn. 48 vor § 32 m. w. N. Dazu näher Amelung GA 1999, S. 182 ff. (191 ff.).
Statement
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die rechtliche Zulässigkeit des Zwangs,11 denn rechtlich erlaubten Zwang muss jedes Mitglied der Rechtsgemeinschaft ertragen. Anders als nach der gegenwärtigen Fassung des § 240 Abs. 2 StGB ist allerdings davon auszugehen, dass Zwang dann rechtswidrig ist, wenn er unerlaubterweise ein Rechtsgut des Genötigten bedroht.12 Denn die Freiheit, die der Nötigungstatbestand schützt, beruht darauf, dass man sich um den Schutz seiner Rechtsgüter gegen seine Mitmenschen grundsätzlich nicht zu kümmern braucht, weil schon die rechtlichen Verbotsnormen den Schutz dieser Rechtsgüter gewährleisten.13
III. Wo eine Einwilligung in eine hoheitliche Maßnahme wie etwa eine Durchsuchung erteilt wird, kommt ein anderer Gesichtspunkt für die Unterscheidung zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Einwilligungen ins Spiel. Er ergibt sich daraus, dass Grundrechtsbeeinträchtigungen dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegen, d. h. dass sie grundsätzlich nur zulässig sind, wenn dafür eine gesetzliche Ermächtigung besteht. Darüber hinaus ist eine Beeinträchtigung nur erlaubt, wenn der Grundrechtsträger sie gestattet. Früher ist auch dies bezweifelt worden. 14 Doch geht man heute überwiegend davon aus, dass Einwilligungen verfügungsberechtigter Personen die staatlichen Handlungsmöglichkeiten in jedem Fall erweitern, selbst wenn das Gesetz dies nicht ausdrücklich anordnet.15 Das ergibt sich schon aus dem geschichtlichen Zusammenhang des Vorbehalts des Gesetzes mit der Pflicht des Monarchen im Ständestaat, für Belastungen seiner Untertanen die Zustimmung der Stände einzuholen, die als Zusammenfassung einzelner Zustimmungen der Belasteten verstanden wurde.16 Sichergestellt muss lediglich sein, dass Einwilligungen nicht mit Mitteln erzwungen werden, die bereits die Qualität eines Eingriffs begründen, denn dann handelt es sich bei der Berufung auf die „Einwilligung“ des betroffenen Bürgers nur um eine verdeckte Ausweitung staatlicher Eingriffsmöglichkeiten ohne Beachtung des Gesetzesvorbehalts. Aus diesem Grunde kann die ausgedehnte Diskussion über die Frage, wann ein Staatsakt Ein-
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Gutmann (Fn. 2) S. 203. Amelung (Fn. 10) S. 191. Dazu näher Amelung (Fn. 10) S. 191; zustimmend Gutmann (Fn. 1) S. 203. Schenke JuS 1977, S. 281 (285); Wagner Amtsverbrechen (1975) S. 350, 365; Willigmann DVBL (1963) S. 229 (232); weitere Nachweise bei Amelung Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes (1981) S. 64 Fn. 196. Für die Literatur vgl. z. B. Bleckmann JZ 1988/57 (61); Pietzcker Der Staat 17 (1978) S. 527 (534); SK-Rudolphi/Stein 6. Aufl. Stand 2003, Rn. 16 ff. vor § 331; Stern Staatsrecht III 2 (1994) S. 920 ff.; für die Rechtsprechung vgl. die Nachweise bei Amelung (Fn. 14) S. 64 Fn. 197. Genauer zum Ganzen Amelung (Fn. 14) S. 63 ff.
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griffsqualität hat, für die Abgrenzung freiwilliger und unfreiwilliger Einwilligungen fruchtbar gemacht werden.17 Auf Einzelheiten kann ich hier nicht eingehen. Der Grundsatz, dass rechtmäßiger Zwang die Wirksamkeit einer Einwilligung nicht hindert, hat im öffentlichen Recht Weiterungen, die vor allem im Bereich staatlicher Verwahrungsverhältnisse eine Rolle spielen. Im Unterschied zum Bürger besitzt der Staat eine Vielzahl von Ermächtigungen zu Maßnahmen, die lang dauernden und tief gehenden Zwang auf die Gewaltunterworfenen ausüben. Diese Zwangsausübung hat allerdings dem Übermaßverbot Rechnung zu tragen. Bei den in diesem Zusammenhang anzustellenden Abwägungen ist nicht selten unsicher, welche von zwei geeigneten Maßnahmen den Gewaltunterworfenen schwerer trifft: Belastet die Kastration den Sexualtäter schwerer als eine lang dauernde Einsperrung in Sicherheitsverwahrung? Trifft der Vollzug einer mehrmonatigen Freiheitsstrafe wegen Exhibitionismus den Täter stärker als eine langwierige Heilbehandlung? In solchen Fällen überlässt der Gesetzgeber nicht selten den Betroffenen die Wahl, weil höchstpersönliche Rechtsgüter betroffen sind und der Betroffene unter den in Betracht kommenden Alternativen am besten entscheiden kann, was ihn hart und was ihn weniger hart trifft. Aus diesem Kalkül entsteht ein Rechtsinstitut, in dem sich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mit Elementen der Einwilligung verbindet: Wir haben Einwilligungen, die wirksam sind, obgleich sie nur halbfreiwillig erteilt werden. Um ihre doppelte Wurzel im Verhältnismäßigkeitsprinzip und im Freiwilligkeitspostulat der Einwilligungsdogmatik deutlich zu machen, bezeichnet man sie am besten als „eingriffsmildernde Einwilligung“.18 An solche Einwilligungen sind bestimmte Anforderungen zu stellen:19 Einmal bedarf der Eingriff, der gemildert werden soll, natürlich einer gesetzlichen Grundlage. Dagegen braucht man für die Möglichkeit, aufgrund einer Einwilligung in eine andere Grundrechtsbeeinträchtigung einzuwilligen, eine solche gesetzliche Grundlage nicht notwendigerweise. Grundsätzlich ist aber aus dem Vorrang des Gesetzes zu schließen, dass nur dann in eine Ersatzmaßnahme eingewilligt werden kann, wenn diese das gleiche Ziel erreicht wie der Ausgangseingriff.20 Nur dort, wo der Gesetzgeber ausdrücklich Variationen in der Zwecksetzung zulässt, kann vom Postulat der Zielerreichung abgesehen werden. 21 In jedem Fall muss ein legitimationsfähiger Zweckzusammenhang zwischen dem gesetzlich vorgesehenen Eingriff und der durch Einwilligung zugelassenen Ersatzmaßnahme bestehen.
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Amelung (Fn. 14) S. 83 ff.; zustimmend Stern (Fn. 14) S. 914. Genauer dazu Amelung (Fn. 14) S. 105 ff.; vgl. auch Rönnau (Fn. 2) S. 159 ff.; Roxin Strafrecht AT 1 § 13 Rn. 26 ff. Zum Folgenden ausführlich Amelung (Fn. 14) S. 105 ff.; ders. ZStW 95 (1983) S. 1 ff. (13 ff.). Amelung (Fn. 14) S. 110 ff. Amelung (Fn. 14) S. 111 ff.
Statement
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IV. Ich fasse die Ergebnisse meines Überblicks zusammen: Die Freiheit, die das Erfordernis der Freiwilligkeit einer Einwilligung gewährleisten will, ist keine absolute, sondern nur eine relative Freiheit. Sie bedeutet Freiheit von sozialen Zwängen, wohingegen Zwangswirkungen, die aus der Natur stammen, unberücksichtigt bleiben. Soziale Zwänge schließen die Freiwilligkeit aber nur aus, wenn sie rechtswidrig sind. Das ist im Bürger-Bürger-Verhältnis anhand des Tatbestands der Nötigung zu entscheiden, der freilich zum gegenwärtigen Zeitpunkt so formuliert ist, dass er das Wesentliche, die Bedrohung eines rechtlich geschützten Gutes, als Ausgangspunkt vernachlässigt. Im hoheitlichen Staat-Bürger-Verhältnis liefert die Lehre vom Grundrechtseingriff und vom Vorbehalt des Gesetzes Kriterien zur näheren Bestimmung des Freiwilligkeitsbegriffs. Eine Einwilligung wird in diesem Bereich unfreiwillig, wenn der soziale Druck auf den Einwilligenden die Qualität eines Grundrechtseingriffs im Sinne des Vorbehalts des Gesetzes erreicht, denn in einem solchen Fall verlangt dieser Vorbehalt eine Ermächtigung durch den Gesetzgeber, die die Einwilligung nicht ersetzen kann. Außerdem sind im Staat-Bürger-Verhältnis halbfreiwillige Einwilligungen in Grundrechtsgutsbeeinträchtigungen wirksam, die aus der subjektiven Sicht des Betroffenen ein geringeres Übel als der ursprünglich geplante Eingriff darstellen. Man kann hier von „eingriffsmildernden“ Einwilligungen sprechen, die rechtlich anerkannt werden, obgleich sie zweifellos durch sozialen Zwang erwirkt wurden.
V. Wie wirkt sich das Gesagte auf die Beurteilung von Einwilligungen in den Mauern von Gefängnissen und ähnlichen Verwahranstalten aus? Das kann hier nur angedeutet werden. Am wichtigsten erscheint aus meiner Sicht, dass Einwilligungen Gefangener, die gegeben werden, um wieder in Freiheit zu kommen, nicht von vornherein unwirksam sind.22 Dass ein solcher Zwang existiert, braucht man nicht zu leugnen, wie der BGH das bei der Kastration tat.23 Die Ausführungen zum Institut der eingriffsmildernden Einwilligung zeigen, dass es erzwungene Einwilligungen gibt, die als wirksam zu betrachten sind. Freilich muss ein legitimationsfähiger Zweckzusammenhang zwischen dem gesetzlich vorgesehenen Eingriff und der vom Gefangenen zugelassenen Ersatzmaßnahme bestehen. Die Kastration eines sexuellen Gewalttäters mag eine solche Maßnahme sein, wenn man mit den Urhebern des Kastrationsgesetzes davon aus22 23
Näher Amelung ZStW 95 (1983) S. 1 ff. (13 ff.). BGHSt 4/113 (118); 19/201; krit. Amelung (Fn. 14) S. 113.
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geht, dass sie die Rückfallgefahr entscheidend senkt; denn Spezialprävention ist auch ein Ziel der Einsperrung und auf die Erfüllung weiterer Strafziele kann der Gesetzgeber verzichten.24 Nicht zulässig erscheint es dagegen, die Freilassung von der Teilnahme an medizinischen Versuchen abhängig zu machen; denn das liefe auf einen Schuldausgleich durch eine potentielle Körperstrafe hinaus, die seit langem in unserem Kulturkreis als menschenunwürdig gilt. Weniger ausgeprägt sind die Folgen dessen, was ich allgemein zur Freiwilligkeit der Einwilligung gesagt habe. Besondere Gefahren für die Entscheidungsfreiheit ergeben sich hier in erster Linie daraus, dass ein Gefangener gänzlich vom Belieben des Personals abhängig ist.25 Dies gibt dem Personal Einflussmöglichkeiten in die Hand, denen ein einzelner Gefangener nur schwer widerstreben kann. Einflüsse, die durch informelle Normen geprägt sind, und die Gefangenenkultur mit ihren zum Teil sehr rigiden Durchsetzungsmaßnahmen treten hinzu. Erzwingt das Personal eine Einwilligung mit Druck von der Qualität eines Grundrechtseingriffs bzw. ein Mitgefangener mit der Bedrohung eines Rechtsguts, so ist die Einwilligung unwirksam. Dabei ist zu bedenken, dass in der abgeschlossenen Welt der Verwahranstalt Grundrechtseingriffe nicht nur in der Form des Eindringens in die Rechtssphäre eines andern vorkommen, sondern oft die weniger auffallende Gestalt der Versagung eines Anspruchs annehmen – man denke an die Beeinträchtigung des Grundrechts aus Art. 5 GG durch Versagung des Zugangs zu einem Fernsehapparat. Glücklicherweise gibt es wohl nicht viele Anlässe für das Personal, seine Macht über den einzelnen Gefangenen gerade zur Erzwingung von Einwilligungen zu nutzen, und dies weist schon auf das wichtigste Remedium gegen die aus der Abhängigkeit von Gefangenen resultierenden Gefahren. Es ist dies eine Art von anstaltsinterner Gewaltenteilung, wie z.B. die personelle Trennung von verwahrenden, medizinischen und sanktionierenden Diensten. Sie sorgt dafür, dass der Gefangene nicht umfassend von einer einzigen Person abhängig ist und schränkt die Möglichkeiten des Personals ein, Ärger in der einen Sozialbeziehung auf eine andere zu übertragen, wenn sich dort eine Sanktionierungsmöglichkeit eröffnet. Beseitigen kann sie diese Möglichkeit freilich nicht.
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Näher Amelung (Fn. 14) S. 111 ff. Näher Amelung (Fn. 22) S. 17 ff.
Das Arztgeheimnis im Strafvollzug Brigitte Tag
I. Einleitung „Welches Klima in der Vollzugsanstalt herrscht, zeigt sich am deutlichsten daran, wie sich die Bediensteten und die Insassen zueinander verhalten. [...] Hierüber entscheidet aber in erster Linie nicht das subjektive Belieben, nicht der mehr oder minder gute Wille der Beteiligten, sondern der institutionelle Rahmen, in dem der Vollzug sich abspielt“.1 Diese von Günter Stratenwerth so trefflich formulierte Feststellung leitet uns hin zu einer von den Vollzugsbediensteten immer wieder zu beantwortenden Frage. Sie lautet: „Schweigen oder offenbaren?“2 Die Antwort hierauf hängt wie so häufig von vielen Umständen ab. Zuweilen ist sie schnell gefunden, oft wirft sie Zweifel auf. Sicher ist jedoch, dass sie spezielle Bedeutung erlangt, wenn sie eine Person zum Sprechen auffordert, die kraft Berufes zur Verschwiegenheit verpflichtet oder berechtigt ist. Diese Situation stellt sich für den Anstaltsarzt und die Anstaltsärztin in besonderer Schärfe: Zwar sind sie im Rahmen der allgemeinen Gesundheitsfürsorge primär dem Patienten verpflichtet. Ihre Tätigkeit dient aber gerade auch allgemeinen Vollzugsaufgaben. Das Überschneiden der Pflichtenkreise, die einerseits aus vollzugsorientierter Amtsträgertätigkeit und andererseits aus der allgemeinen Gesundheitsfürsorge erwachsen, führt dazu, dass der Anstaltsarzt bzw. die Ärztin als eine Art Informationspool über zahlreiche persönliche Daten von und über seinen bzw. ihren inhaftierten Patientenkreis verfügt. Viele, aber nicht alle Informationen sind dem gesundheitsrelevanten Bereich zuzuordnen, einige betreffen ausschließlich den Gefangenen, andere auch das Zusammenleben und die Sicherheit im Vollzug. Gewisse Informationen müssen der Vollzugsleitung mitgeteilt werden, andere nicht. Im Unterschied zum extra muros praktizierenden Arzt ist der im Vollzugsdreieck zwischen Anstaltsleitung, Vollzugsdienst und gefangenem Patient stehende Anstaltsarzt der Schwierigkeit ausgesetzt, die richtige Wahl zwischen den wei1
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Stratenwerth/Bernoulli, Der schweizerischen Strafvollzug. Ergebnis einer empirischen Untersuchung, 1983, S. 145. So der gleichlautende Titel der Caritas-Tagung am 16./17.9.2004 in Zürich.
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terzugebenden und den Informationen zu treffen, die allein das Arzt-PatientenVerhältnis anrühren.
II. Grundlagen anstaltsärztlicher Schweigepflicht Trotz oder gerade wegen dieser janusköpfigen Stellung gilt das Modell der ärztlichen Schweigepflicht grundsätzlich auch im Strafvollzug. Und das mit gutem Grund. Denn die Verschwiegenheit des Arztes prägt seit unvordenklicher Zeit das Arzt-Patienten-Verhältnis. Sie ist Bestandteil des ärztlichen Berufsethos 3 und historisch gewachsene,4 rechtlich verankerte Verhaltenspflicht. Auf europäischer Ebene mahnt die Empfehlung des Ministerkomitees betreffend ethische und organisatorische Aspekte der Gesundheitsfürsorge in Gefängnissen, das „[...] Arztgeheimnis soll garantiert sein und in gleich striktem Maße beachtet werden, wie dies in der allgemeinen Bevölkerung gehandhabt wird“. 5 Im nationalen Recht ist die unbefugte Verletzung der ärztlichen Verschwiegenheit mit Strafe bedroht. § 203 StGB entfaltet – gestärkt durch § 182 Abs. 2 StVollzG 6 – Wirkung auch7 im Strafvollzug. Ergänzend zu den datenschutzrechtlichen Bestimmungen stellt das Gesetz klar, dass personenbezogene Daten, die anlässlich einer ärztlichen Untersuchung erhoben werden, in der Anstalt nicht allgemein 3
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Im Ayur-Veda des Châraka, einem der ältesten medizinischen Sanskritwerke etwa 800 vor Christus, heißt es: „Die Vorgänge aus dem Haus dürfen nicht ausgeplaudert, auch darf von dem einem Kranken etwa drohenden frühen Ende nichts mitgeteilt werden, so es dem Kranken oder sonst jemand Nachteil bringen kann.“ Näher Placzek, Das Berufsgeheimnis des Arztes, 1893, S. 36. Der griechische Ärzteeid des Hippokrates im 5. Jahrhundert vor Christus lautet: „Was immer ich sehe und höre bei der Behandlung oder außerhalb der Behandlung im Leben der Menschen, so werde ich von dem, was niemals nach außen ausgeplaudert werden soll, schweigen, indem ich alles derartige als solches betrachte, das nicht gesprochen werden darf.“ Übersetzung nach Deichgräber, Der Hippokratische Eid, 1983. Zur strafrechtlichen Bedeutung der ärztlichen Schweigepflicht während der Constitutio Criminalis Carolina und den Partikulargesetzgebungen vgl. Rosshirt, Lehrbuch des Criminalrechts, 1839, § 183; während der Geltung des ALR vgl. Placzek, Das Berufsgeheimnis des Arztes, S. 2 f. § 13, Empfehlung Nr. R(98)7, angenommen am 8.4.1998. Vgl. auch CPT/Inf/E (2002)1 Rev. 2003, Nr. 36 ff. 50: „Das Arztgeheimnis sollte im Gefängnis in gleicher Weise beachtet werden wie außerhalb. Die Führung der Patientenakten sollte in der Verantwortung des Arztes liegen.“ http://www.cpt.coe.int/lang/deu/deu-standardss.pdf. Eine Zusammenfassung der Empfehlungen des Europarates zum Freiheitsentzug von 1962-2003 findet sich in dem Buch „Freiheitsentzug“, hrsg. von dem Bundesministerium der Justiz, Berlin, dem Bundesministerium für Justiz, Wien und dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement, Bern, 2004. Zur Gesetzgebungsgeschichte vgl. Bast, Die Schweigepflicht der Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter im Strafvollzug, 2003, S. 19 ff. Schwind/Böhm/Schmid, Strafvollzugsgesetz, 3. Aufl. 1999, § 182 Rn. 7.
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kenntlich gemacht werden dürfen. Sind sie zudem geheim und dem Anstaltsarzt von einem Gefangenen anvertraut oder sonst mitgeteilt worden, unterliegen sie nicht nur im Verhältnis zu unbeteiligten Außenstehenden, sondern auch gegenüber der Anstaltsleitung und den übergeordneten Behörden grundsätzlich der Schweigepflicht, § 182 Abs. 2 S. 1 StVollzG.8 Das Strafvollzugsgesetz bekräftigt, dass das Unterfangen, den Anstaltsleiter als berufsmäßigen Erfüllungsgehilfen des Anstaltsarztes in den Kreis derjenigen einzureihen, die berechtigt sind, ärztliche Geheimnisse zu erfahren,9 ebenso unzulässig ist wie das Vorhaben, die Geheimnisweitergabe durch den Anstaltsarzt allein dienstrechtlichen Vorgaben zu unterstellen.10 Mit dieser grundsätzlichen Feststellung ist freilich nicht gesagt, dass dem Inhaftierten in dem Binnensystem, wie es der Strafvollzug darstellt, absoluter Geheimnisschutz geboten wird und werden soll. Zwar erscheint die Ansicht, es sei für die im Strafvollzug Tätigen entwürdigend, wenn sie nicht über Krankheitsbilder und die daraus resultierenden Eigenarten und Gefahren von Eingewiesenen informiert werden,11 zu holzschnittartig. Gleichwohl kann ein professionelles vernetztes Arbeiten innerhalb der Vollzugsinstitutionen nicht gänzlich auf einen Informationsaustausch auch gesundheitsrelevanter Daten verzichten. Doch wie weit darf sich der um das Arztgeheimnis in der Vollzugsmedizin gezogene Schutzwall zurückziehen? Die Antwort hierauf nimmt ihren Ausgang beim Inhalt der ärztlichen Schweigepflicht.
III. Inhalt der Schweigepflicht Sei es innerhalb oder außerhalb der Gefängnismauern – nichts geht dem Menschen so sehr unter die Haut wie die Anwesenheit von Krankheit oder eine sonstige Störung seines körperlichen Wohlbefindens. Nicht nur, aber speziell in diesen Fällen benötigt der Laie Hilfe durch medizinisches Fachpersonal und ärztliche Spezialisten. Die ärztliche Untersuchung, die Analyse von Körpersubstanzen und das offene Arzt-Patienten-Gespräch bilden die Grundlage zur Erkennung poten8 9
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Walter, Strafvollzug, 2. Aufl. 1999, Rn. 510. Middelhauve, Med. Klinik 1977, 776 (für den Bereich öffentlicher Gesundheitseinrichtungen) und Kleinewefers/Wilts, NJW 1964, 430. Wydra, in: Queloz/Riklin/Senn/de Sinner (Hrsg.), Medizin und Freiheitsentzug, 2002, S. 107, 109. Der regelmäßig im öffentlichen Dienstverhältnis tätige Anstaltsarzt ist damit sowohl als Berufs- wie als Amtsperson schweigepflichtig, Schönke/Schröder/ Lenckner, StGB, 26. Aufl. 2001, § 203 Rn. 43 m.w.N.; Lackner/Kühl, StGB, 25. Aufl. 2004, § 203 Rn. 20 m.w.N. Luginbühl, Direktor des Maßnahmenzentrums St. Johannsen, Präsident der Schweizerischen Anstaltsleiter Konferenz, Rechte und Pflichten der Mitarbeitenden im Strafverfahren und im Vollzug, Caritas-Tagung vom 16./17.9.2004 in Zürich zum Thema „Schweigen oder Offenbaren?“
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tieller Erkrankungen und deren Ursachen. Nicht allein die angestrebte Compliance12 und die ärztliche Fürsorge, sondern auch der rechtlich erforderliche informed consent eröffnet dem Arzt tiefe Einblicke in das Leben des Patienten und dessen persönliches Nahefeld. Die hierbei gewonnenen und durch neue Techniken vernetzten Informationen führen zu einem hohen Maße an Durchleuchtung und Verletzlichkeit. Zwar ist der „gläserne Patient“ keine Erfindung des Vollzugsrechts. Dieses Bild erlangt aber unter den Vorgaben intramuraler Medizin besondere Aussagekraft. So ist der Schritt von erkennungsdienstlicher DNA-Analyse 13 zur vollständigen genetischen Untersuchung und Erfassung der genetischen Struktur nicht allzu groß. Aber auch der dicht gedrängte Alltag im Krankenrevier 14 birgt zahlreiche Gefahren für die ärztliche Diskretion. Sei es, dass psychiatrische Gutachten unverschlüsselt per Fax oder Mail versendet werden,15 Gefangene namentlich über die Lautsprecheranlage der Anstalt zum Aufsuchen der Arzträume aufgefordert werden oder Kranken- und allgemeine Vollzugsakten der „besseren Übersichtlichkeit halber“ in einer Gesamtkartei zusammengeführt sind. In all diesen Situationen ist die straf- und strafvollzugsrechtlich abgesicherte Pflicht zur Verschwiegenheit auf den Prüfstand gestellt. Sie untersagt dem Anstaltsarzt, personenbezogene Daten, die ihm in seiner beruflichen Eigenschaft als fremdes Geheimnis anvertraut oder sonst bekannt geworden sind, unbefugt zu offenbaren.
IV. Schutzgüter In wessen Interesse das anstaltsärztliche Geheimnis geschützt ist, ist nicht abschließend geklärt, für den Schutzumfang und die Grenzen der Schweigepflicht aber von großer Bedeutung. Der Streit beginnt mit dem Stellenwert des Individualinteresses des Gefangenen, erfasst aber auch das Allgemein- bzw. Anstaltsinteresse an der Verschwiegenheit der Ärzte und streift zudem das Eigeninteresse des Arztes bzw. das des ärztlichen Berufsstandes.
1.
Recht auf informationelle Selbstbestimmung
Mit der zum 01.12.1998 in Kraft getretenen Reform des Strafvollzugsgesetzes hat sich der Gesetzgeber gegen den absoluten Vorrang vollzugsbedingter Überwachung vor dem aus den Grundrechten fließenden Achtungsanspruch der Inhaftier12
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Marx, GA 1983, 160, 166; Siegrist, in: Jung/Schreiber (Hrsg.), Arzt und Patient zwischen Therapie und Recht, S. 54, 65 m.w.N (allg.). BKA Pressemitteilung vom 31.12.2004: DNA-Analyse als Standarduntersuchung erkennungsdienstlicher Ermittlungen. Innerhalb von zwei bis drei Stunden muss der Arzt bis zu 60 Patienten anhören, untersuchen, behandeln, vgl. Schwind/Böhm/Romkopf/Riekenbrauck, § 56 Rn. 23. Luginbühl, Caritas-Tagung vom 16./17.9.2004 in Zürich zum Thema „Schweigen oder Offenbaren?“
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ten ausgesprochen. § 182 StVollzG verankerte die aus der Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention16 abgeleitete informationelle Selbstbestimmung17 auch im Strafvollzug.18 Zurecht – denn nach rechtsethischem Verständnis der Grundrechte gehen die Freiheits- und Abwehrrechte staatlichen Interessen voraus. Dies gilt grundsätzlich auch für die Menschen, die zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe in den Vollzug verbracht werden19 und in einem System leben, in dem sie Bewachung, Beobachtung und Kontrolle ausgesetzt sind. Selbst wenn die Privat- und Intimsphäre der Gefangenen, ihre Krankheiten, Ängste und Hoffnungen auf einen vorbestimmten Lebensbereich verengt werden, haben sie dennoch oder gerade deswegen ein besonders starkes Interesse daran, die ihnen verbliebene „Rest-Intimsphäre“ vor erzwungener Indiskretion zu schützen. 20 Um das zu leisten, muss in der engen Zelle und im Krankenrevier Raum geschaffen werden für Vertrauen oder vertrauensähnliche Beziehungen. Dieses Konzept stellt gerade in der Vollzugsmedizin keine leichte Aufgabe dar, weil mangels freier Arztwahl21 der Patient gezwungen ist, den vorhandenen Anstaltsarzt als Partner und Helfer in Gesundheitsfragen in Anspruch zu nehmen.22 Vor diesem Hintergrund ergibt es sich beinahe zwangsläufig, den Schutz der informationellen Selbstbestimmung als Rechtsgut der anstaltsärztlichen Schweigepflicht auszumachen.23
2.
Allgemeine Gesundheitsfürsorge
Dies bedeutet nicht, aus dem Fundament der intramuralen ärztlichen Schweigepflicht das öffentliche Interesse an der anstaltsärztlichen Diskretion 24 auszuklammern.25 Als Strukturelement dient sie gerade auch der Verwirklichung allgemeiner Vollzugsziele. Zwar ist es für den Inhaftierten vielfach ein unabweisbares (Über-) 16 17 18
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Art. 8 EMRK. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, vgl. BVerfGE 65, 1, 43. BVerfGE 78, 77, 84; BVerfG NJW 1991, 2411; Laubenthal, Strafvollzug, 3. Aufl. 2002, Rn. 638. Zu den Menschenrechten im Strafvollzug vgl. Müller-Dietz, in: Heike Jung/Heinz Müller-Dietz (Hrsg.) Schriftenreihe der Deutschen Bewährungshilfe e.V., 1994, S. 43 ff. Roos, Reden ist Silber, Schweigen ist Gold? Caritas-Tagung 16./17.9.2004, Schweigen oder Offenbaren, Zürich. Boetticher/Stöver, AK-StVollzG, 4. Aufl. 2000, § 56 Rn. 6; Calliess/Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz, 10. Aufl. 2005, § 56 Rn. 1, § 58 Rn. 58; Laubenthal, Strafvollzug, Rn. 636; OLG Nürnberg NStZ 1999, 480; krit. Bemmann, StV 2001, 60 f. Zu den zahlreichen Unterschieden der Gesundheitsfürsorge der Gefangenen im freien Beschäftigungsverhältnis und der „normalen Gefangenen“ vgl. Kirschke, Medizinische Versorgung im Strafvollzug, 2003. So auch Portius, ZaeFQ 2000 (94), 273. Eb. Schmidt, Brennende Fragen des ärztlichen Berufsgeheimnisses, 1951, S. 17: „ein Sozialwert über-individuellen Charakters“. A.A. Bast, Schweigepflicht, S. 60.
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Lebensbedürfnis, ärztliche Hilfe anzunehmen oder zu erdulden. Bei Zwangsmaßnahmen im Rahmen von § 101 StVollzG kann der Zugriff auf den Gefangenen sogar als „total“ definiert werden.26 Ungeachtet dessen sprechen viktimologische Gesichtspunkte nicht gegen den institutionellen Rechtsgutsaspekt. 27 Denn trotz Schwachstellen bzw. Unsensibilitäten im Umgang mit persönlichen bzw. intimen Daten von Gefangenen ist die erzwungene Geheimnisoffenbarung im Strafvollzug nicht die Regel. Überdies streiten vollzugsbedingte Fürsorgeaspekte für den Gemeinschaftsbezug des Geheimnisschutzes. Denn ist der inhaftierte Patient unsicher, ob seine geheimsten Belange ausgeforscht und ungefiltert weitergegeben werden, fallen seine persönlichen Entscheidungen für die allgemeine Sicherheit im Vollzug nicht günstig aus. Die Praxis zeigt, dass Ausweichstrategien provoziert werden, die gerade in den kritischen Fällen eine möglichst effektive Behandlung und Verhaltensprävention verhindern – mit allen negativen Konsequenzen für den Kranken und das Vollzugsumfeld. Viel zitiertes und nach wie vor aktuelles Beispiel sind sozialpsychologisch hochsensible Infektionserkrankungen wie HIV.28 Der von großen Ängsten und Unsicherheit begleitete Umgang mit dieser Krankheit führt dazu, dass mittelbar oder unmittelbar erzwungene Blutentnahmen und -untersuchungen stattfinden, oft im Rahmen der Eingangsuntersuchung.29 In Freiheit wird aus der Freiwilligkeit der Inanspruchnahme ärztlicher Beratung über den Gesundheitszustand gefolgert, dass der Patient ein Recht auf Unkenntnis auch im Hinblick auf eine mögliche HIVInfektion in Anspruch nehmen kann. Im Rahmen der allgemeinen Vorsorgeuntersuchung gilt das Patienteninteresse im Regelfall den Krankheiten, die seiner Lebensführung oder seiner Altersstufe gemäß sind. Eine Berechtigung oder Verpflichtung des Arztes, ungefragt einen HIV-Test durchzuführen, ist damit grundsätzlich nicht verbunden.30 Hiervon zu trennen ist die Verpflichtung des Arztes, den Patienten bei Vorliegen der entsprechenden Symptome auf den Verdacht einer HIV-Erkrankung hinzuweisen. Da die mögliche Indikation die Einwilligung des Patienten in den HIV-Test aber nicht zu ersetzen vermag, darf der Arzt den Test von sich aus nicht durchführen – auch nicht, um sich oder sonstige Dritte zu
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Näher Heim (Hrsg.), Zwangsernährung und Zwangsbehandlung von Gefangenen, 6. Symposium der Kaiserin-Friedrich-Stiftung für Juristen und Ärzte, 1983. Zu § 203 StGB Schünemann, ZStW 90 (1978), 11, 53 ff. Kritisch Hillenkamp, Vorsatztat und Opferverhalten, 1981, S. 67 ff. Busch/Heckmann/Marks, HIV/AIDS und Straffälligkeit. Eine Herausforderung für Strafrechtspflege und Straffälligenhilfe. Forum, Bonn 1991; Kreuzer, ZStW 100 (1988), 803 ff.; Enquete-Kommission des Bundestages, BT-Drs. 11/72000; weitere zahlreiche Nachweise bei Bötticher/Stöver, AK-StVollzG, vor 56 Rn. 36 ff. Stiehler, Gesundheitsbl. 1999, 577, 580 f. Der Gefangene unterliegt bei der Eingangsuntersuchung einer Duldungspflicht, vgl. Geppert, Die ärztliche Schweigepflicht im Strafvollzug, S. 35. Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und lex artis, 2000, S. 378 ff.
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schützen.31 Demgegenüber wird für den Justizvollzug die Zulässigkeit der zwangsweisen Durchführung von HIV-Testungen verstärkt reklamiert.32 Hierfür soll seit der Einführung des Infektionsschutzgesetzes § 36 Abs. 4 S. 5 IfSchG als Rechtsgrundlage dienen. Danach sind Personen, die in eine Justizvollzugsanstalt aufgenommen werden, verpflichtet, eine ärztliche Untersuchung auf übertragbare Krankheiten einschließlich einer Röntgenaufnahme der Lunge zu dulden. Überprüft man die Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift, so ist in den Drucksachen nachzulesen, dass die neue Regelung § 48a Abs. 2 BSeuchG ersetzen soll. Konsequent stand während den Gesetzesarbeiten schwerpunktmäßig die Bekämpfung von Lungentuberkulose im Mittelpunkt der Erörterungen, 33 was sich u.a. darin zeigt, dass die durch § 36 Abs. 4 IfSchG prognostizierten Kosten allein auf die Röntgenuntersuchungen bezogen wurden.34 Zur HIV-Untersuchung schweigen die Materialien. Der Versuch, zwischen § 36 Abs. 4 IfSchG und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung einen Wertungsgleichklang herbeizuführen, kann freilich die Besonderheiten der HIV-Infektion35 nicht unberücksichtigt lassen. Die Umstände, unter denen HIV im Justizvollzug übertragen werden kann, sind im Unterschied zu anderen Infektionskrankheiten klar definiert. HIV wird übertragen durch sexuellen Kontakt mit einem infizierten Partner oder dem gemeinsamen Gebrauch von Spritzen- und Tätowierutensilien. Selten sind Infektionen nach Nadelstichverletzungen oder bei Kontakt von infiziertem Blut mit offenen Wunden oder Schleimhaut. Die Folgen der Offenbarung der HIV-Infektion sind ebenso bekannt: es geht um resozialisierungsfeindliche Stigmatisierung, Isolation und soziale Diskriminierung.36 Bezieht man zudem die nicht nur in der Vollzugswelt immer noch mangelhaften Kenntnisse der Übertragungswege und fehlenden Schutzmöglichkeiten mit ein, wird das weite Gelände betreten, das von Angst vor Indiskretion und Ablehnung geprägt ist.37 Unter dem Dach der teleologischen Auslegung sprechen daher gute Gründe für eine restriktive Interpretation von § 36 Abs. 4 IfSchG bezüglich der Durchführung von HIV-Blutuntersuchungen im Rahmen der Eingangsuntersuchung. Denn im Regelfall ist eine HIV-Reihenuntersuchung weder der Situation im Vollzug noch den derzeitigen Vollzugszielen oder aus dem Gedanken der Fürsorge heraus angemessen. Erfährt der Anstaltsarzt im Rahmen der allgemeinen Gesundheitsversorgung von der HIV-Infektion des Inhaftierten, so nimmt diese Information regelmäßig an der gerade auch dem Allgemeininteresse dienenden38 verlässlichen anstaltsärztlichen Diskretion teil.
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Uhlenbruck, MedR 1996, 206 f. Arloth/Lückemann, § 56 Rn. 3; Calliess/Müller-Dietz, § 56 Rn. 10. BR-Drs. 566/99, S. 178; BT-Drs. 14/2530, S. 78. Vgl. BT-Drs. 14/2530, S. 42. Ausführlich Schwind/Böhm/Romkopf/Riekenbrauck, § 56 Rn. 9 m.w.N. Portius, ZaeFQ 2000 (94), 273; Walter, Strafvollzug, Rn. 510. Geppert, in: Szwarc (Hrsg.), Aids und Strafrecht, 1996, S. 235 ff. Zum Schutz des Allgemeininteresses vgl. Preusker/Rosemeier, ZfStrVo 1998, 324; Weicher, AK-StVollzG, § 182 Rn. 226; allg. zu § 203 Abs. 1 StGB: Lackner/Kühl, §
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Berufsständische Interessen
Neben Allgemein- und Individualinteresse erfahren berufsständische Interessen dagegen nur reflexartigen Schutz.39 Zwar gehören die Ärzte ebenso wie Rechtsanwälte oder Geistliche40 Berufsständen an, denen als Mittler zwischen Freiheit und Vollzug typischerweise vertrauliche Informationen zur Kenntnis gebracht werden und die daher besonders auf den Schutz der Vertraulichkeit angewiesen sind. 41 Zudem hat auch der Anstaltsarzt im Regelfall keine Möglichkeit, der nicht immer einfachen, von Patientenseite häufig mit mannigfaltigen Vorstellungen überfrachteten, gelegentlich für medizinfremde Zwecke instrumentalisierten Arzt-PatientenBeziehung auszuweichen.42 Dennoch ist es nicht Aufgabe der strafvollzugsrechtlich abgestützten Schweigepflicht, berufsständische Interessen43 um ihrer selbst willen zu sichern.44
V. Geschützte Informationen 1.
Geheimnis
Dieser Streifzug durch die geschützten Rechtsgüter tangiert weiterhin den Kreis der geschützten Informationen. Erfasst werden die dem Arzt in seiner beruflichen Eigenschaft bekannt gewordenen45 Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person, § 3 Abs. 1 BDSG. Die fremden Daten sind geheim, wenn sie nur einem begrenzten Personenkreis bekannt sowie von einem berechtigten Geheimhaltungsinteresse getragen sind46 und nach dem erkennbaren Willen des Geheimnisgeschützten geheim gehalten werden sollen. Dass neben Tatsachen auch Wertungen mit Tatsachenkern ein
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203 Rn. 1. A.A. Jung, Gedächtnisschrift Constantinesco, 1983, S. 355, 360 (institutioneller Schutz als generalpräventiver Reflex). Ebermayer, Der Arzt im Recht, 1939, S. 43; Zakrzewski, Abgrenzung der ärztlichen Schweigepflicht gegenüber der Offenbarungspflicht bei Sozialversicherungsträgern und anderen Berechtigten im Bereich der Sozialgesetzgebung, 1968, S. 53. Kopp, Heilige Kuh oder alter Zopf – das Seelsorgegeheimnis in der Diskussion, Caritas-Tagung vom 16./17. 09. 2004 in Zürich zum Thema „Schweigen oder Offenbaren?“ BVerfGE 38, 312, 323. Instruktiv Rex, ZaeFQ 2000 (94), 258 ff. § 9 der Musterberufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte (Stand 2004), http://www.bundesaerztekammer.de/30/Berufsordnung/Mbopdf.pdf MusterBO. Lenckner, in: Göppinger (Hrsg.), Arzt und Recht, 1966, S. 159, 199. Der Sache nach ebenso Eb. Schmidt, Arzt im Strafrecht, S. 57, 59. Vgl. § 203 „... das ihm als Arzt ....“. Bockelmann, Strafrecht des Arztes, 1969, S. 36. Für einen subjektiven Geheimnisbegriff Jung, Gedächtnisschrift Constantinesco, S. 355, 360.
Das Arztgeheimnis im Strafvollzug
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Geheimnis darstellen können, so z.B. die negative Verhaltensbewertung aufgrund von Erfahrungssätzen, die zum Versagen von Vollzugslockerungen führen, ergibt sich aus den vergleichbaren Interessenlagen.47
2.
Anvertraut und sonst bekannt geworden
Die sich speziell für den Strafvollzug aufdrängende Frage, ob das Schweigen auf Umstände beschränkt ist, die der Arzt im Rahmen einer vertrauensgestützten Sonderbeziehung erfährt, ist zu verneinen.48 Neben dem Anvertrautsein erweitert das Gesetz den Schutz auf die sonst bekannt gewordenen Tatsachen. Darauf, ob der Gefangene dem Arzt vertraut oder aufgrund des erzwungenen Kontakts im Vollzug und der mangelnden freien Arztwahl gar misstraut, 49 kommt es nicht an.50 Alle Umstände, die mit der ärztlichen Inanspruchnahme in innerem Zusammenhang stehen, unterfallen dem Geheimnisschutz. Das Schweigegebot ist insoweit unteilbar. Um es nicht seiner Wirksamkeit zu berauben, ist über den Wortlaut von § 182 Abs. 2 StVollzG hinaus auch Hilfspersonen des Anstaltsarztes grundsätzlich das Schweigerecht zuzugestehen.
VI. Zulässige Geheimnisoffenbarung 1.
Entpflichtung durch den Inhaftierten
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung beschränkt sich nicht allein darauf, die unbefugte Datenweitergabe abzuwehren, sondern verleiht dem Betroffenen zugleich die Macht, über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten eigenverantwortlich zu bestimmen und damit auch in die Offenbarung einzuwilligen. Für die wirksame Einwilligung folgt daraus, dass sie die Rechtsgutsverletzung als solche entfallen lässt, ihr mithin tatbestandsausschließende
47
48
49 50
Weichert, AK-StVollzG, § 182 Rn. 16; a.A. Preusker/Rosemeier, ZfStrVo 1998, 326; Wulf, R&P 1998, 189, 191. LK-Schünemann, StGB 11. Aufl., § 203 Rn. 38; Ostendorff, JR 1981, 444, 446; Tröndle/Fischer, StGB, 52. Aufl. 2003, § 203 Rn. 9; a.A. Schönke/Schröder/ Lenckner, § 203 Rn. 15; Schreiner, Drittgeheimnisse und Schweigepflicht, 1974, S. 47 ff.; Strucke, Berufliche Schweigepflicht bei Drittgeheimnissen als Vertrauensschutz, 1981, S. 33 ff., 47 ff. Offen gelassen BGH NStZ 1985, 372 f. Näher Marx, GA 1983, 160 ff. m.w.N., Fn. 37. Arloth, MedR 1986, 295, 296; Geppert, Die ärztliche Schweigepflicht im Strafvollzug, 1983, S. 15; Marx, GA 1983, 160 ff., 167 ff.; Zieger, StV 1981, 559, 562 f.; OLG Karlsruhe NStZ 1993, 405 m.w.N.
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Wirkung zukommt.51 Dass die ärztliche Schweigepflicht auch den Vollzugszielen dient, steht dem nicht entgegen – zumal das öffentliche Interesse keinen Schutz des Betroffenen vor sich selbst verlangt.52 Die facettenreichen Details der wirksamen Einwilligung im Strafvollzug können hier nicht vertieft werden.53 Zusammenfassend ist jedoch festzuhalten: Ihre Wirksamkeitsvoraussetzungen entsprechen grundsätzlich denen, die an die Einwilligung außerhalb der Gefängnismauern gestellt werden. Im Hinblick auf die drückenden Bedingungen einer totalen Institution bedürfen die Aufklärung über die mit der Entbindung einhergehenden Auswirkungen54 und die Freiwilligkeit der Entpflichtungserklärung gesteigerter Aufmerksamkeit.55 Die mit der Inhaftierung häufig verbundene Werteverschiebung, in der der Wunsch nach Lebensqualität und Freiheit andere Werte in den Hintergrund treten lässt, weckt jedoch im Regelfall eher Zweifel an der autonomen Entscheidung des Gefangenen, als dass sie diese zerstreut. Dies gilt insbesondere dann, wenn dem Gefangenen vorformulierte Behandlungsverträge zur Unterschrift vorgelegt werden, in welchen er den Arzt gegenüber der Vollzugsleitung generell von der Schweigepflicht entbindet.
2.
Offenbarungspflicht und -befugnis
Die Offenbarung durch den Anstaltsarzt ist gerechtfertigt, wenn die Erfüllung von Rechtspflichten die Auskunft gebietet. Neben den allgemeinen Rechtfertigungsgründen56 und den gesetzlich normierten Anzeigepflichten57 erlaubt das Gesetz dem Arzt, das Patientengeheimnis unter den Vorgaben des § 182 Abs. 2 StVollzG zu brechen. Das Mitteilungsspektrum ist jedoch nicht unbegrenzt, sondern wird durch die im Spannungsverhältnis stehenden höchstrangigen Rechtsgüter beschränkt. Satz 2 verpflichtet zur Offenbarung, soweit dies für die Aufgabenerfüllung der Vollzugsbehörde oder zur Abwendung erheblicher Gefahren für Leib oder Leben des Gefangenen oder Dritter erforderlich ist. Betrifft die Offenbarung Geheimnisse, die dem Anstaltsarzt bei der allgemeinen Gesundheitsfürsorge bekannt gewor51
52 53 54 55
56 57
So auch Goll, Offenbarungsbefugnisse im Rahmen von § 203 Abs. 2 StGB, 1980, S. 36 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner, § 203 Rn. 21; OLG Köln NJW 1962, 686 mit Anm. Bindokat. Für die rechtfertigende Einwilligung vgl. Lackner/Kühl, vor § 201 Rn. 2; diff. Tröndle/Fischer, § 203 Rn. 27. Vgl. Lenckner, in: Göppinger (Hrsg.), Arzt und Recht, S. 159, 177 f. Vgl. hierzu die Beiträge von Boetticher und Amelung, beide in diesem Buch. Preusker/Rosemeier, ZfStrVO 1998, 323, 326 f. Adt, ZfStrVO 1998, 328, 331 ff.; Amelung, ZStW 95 (1983), 1, 4 ff.; Marx, GA 1983, 160, 177 ff.; Thorwart, R&P 1999, 13. Walter, Strafvollzug, Rn. 511. So z.B. nach dem Geschlechtskrankheitengesetz, Infektionsschutzgesetz, Feuerbestattungsgesetz etc. Bezügl. § 138 StGB ist beim Arzt § 139 Abs. 2 StGB zu beachten.
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den sind, so ersetzt Satz 3 die Offenbarungspflicht durch eine Befugnis. Diese reicht nur so weit, als die Preisgabe zur Aufgabenerfüllung der Vollzugsbehörde unerlässlich bzw. zur Gefahrenabwehr erforderlich ist. In beiden Fällen ist der Gefangene vor der Erhebung der ggf. weiterzugebenden Daten zu unterrichten, § 182 Abs. 2 S. 4 StVollzG. Diese Regelungen umschreiben die Voraussetzungen der vollzugsinternen Geheimnisoffenbarung in Anlehnung an den bisherigen Normenzusammenhang58 sowie der hieraus in Rechtsprechung59 und Literatur entwickelten Grundsätze.60 Satz 3 ist eine Befugnis- bzw. Erlaubnisnorm, die zur Indiskretion berechtigt. Im Unterschied zu Satz 2 ist sie aber keine Gebotsnorm, die zu diesem Verhalten verpflichtet. Der Berechtigte ist in der Wahl seiner Handlung frei.
3.
Voraussetzungen der Offenbarungspflicht
a)
Unerlässlich zur Aufgabenerfüllung der Vollzugsbehörde
Der Rechtfertigung des Arztes entspricht eine Duldungspflicht des Betroffenen. Mit der Positivierung dieser Norm hat der Gesetzgeber abstrakt das Rangverhältnis der mit der ärztlichen Schweigepflicht kollidierenden Rechtsgüter geregelt. Gerät die Schweigepflicht mit den in §§ 2 und 81 StVollzG normierten Vollzugszielen und -aufgaben in ein direktes, unauflösliches Spannungsverhältnis, ist die ärztliche Indiskretion nicht rechtswidrig, wenn sie unerlässlich ist, um den Straftäter zu resozialisieren oder die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen. 61 Das Merkmal der Unerlässlichkeit greift die Formulierung der Generalklausel des § 4 Abs. 2 S. 2 StVollzG62 auf. Die Rechtseinschränkung muss dem Ultima-ratioGedanken standhalten.63 Dies ist nach den vom Bundesverfassungsgericht zu grundrechtseinschränkenden Maßnahmen im Strafvollzug entwickelten Grundsätzen der Fall, wenn das Informationsinteresse der Vollzugsbehörde im Hinblick auf ihre Gesamtverantwortung, § 156 Abs. 2 StVollzG, so bedeutsam ist, dass ohne die Offenbarung der Vollzugszweck unmöglich oder ernsthaft gefährdet bzw. vereitelt würde.64 Trotz dieser Einschränkungen wird der Arzt vor schwierige 58 59 60 61 62
63
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Vgl. §§ 6, 7, 10, 11, 13, 15, 35 und 154 StVollzG. Z.B. OLG Karlsruhe NStZ 1993, 405 f. Vgl. BVerfG NStZ 2000, 55; Preusker/Rosemeier, ZfStrVO 1998, 323. BT-Drs. 15/778 S. 7; Caritas-Tagung 16./17.9.2004 § 4 Abs. 2 StVollzG: „Der Gefangene unterliegt den in diesem Gesetz vorgesehenen Beschränkungen seiner Freiheit. Soweit das Gesetz eine besondere Regelung nicht enthält, dürfen ihm nur Beschränkungen auferlegt werden, die zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder zur Abwendung einer schwerwiegenden Störung der Ordnung der Anstalt unerlässlich sind“. Zu § 4 Abs. 2 S. 2 vgl. OLG Dresden NStZ 1995, 151; ähnl. OLG Koblenz ZfStrVO 1991, 120. Zur Auslegung des Begriffs der Unerlässlichkeit vgl. BVerfGE 40, 284 im Anschluss an BVerfG 33, 1, 13.
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Abwägungsprobleme gestellt. Einerseits kann er einer uneingeschränkten Selbstbestimmung des Gefangenen nicht Rechnung tragen, andererseits darf die Beachtung der Strafvollzugsgrundsätze nicht in undifferenzierte Fremdbestimmung abgleiten. Um einiges Anschauungsmaterial zu geben: Erkennt der Arzt im Gespräch mit dem Patienten, dass nur durch eine sichere Verwahrung, sorgfältige Aufsicht oder strenge Prüfung vollzugsöffnender Maßnahmen eine Gefährdung der Allgemeinheit verhindert werden kann, darf er die Schweigepflicht brechen und die Vollzugsleitung informieren. Wenn hingegen die in den Vollzug gut eingegliederte Gefangene dem Arzt einen Liebesbrief an ihren Freund aushändigt mit der Bitte, ihn an der Zensur vorbei zur Post zu geben, ist die Offenbarung dieser abschlägig beschiedenen Bitte zur Wahrung der Vollzugsinteressen grundsätzlich nicht unerlässlich.65 b) Gefahren für Leib und Leben des Gefangen oder Dritte Wenden wir uns der weiteren gesetzlich benannten Spannungslage zwischen Schweigepflicht und Schutz von Leib und Leben des Gefangen oder Dritte zu. Der Anwendungsbereich ist auf eine Gefahr für die geschützten Rechtsgüter und damit auf einen Zustand beschränkt, in dem der Eintritt der nicht nur bagatellhaften 66 Störung wahrscheinlich ist. Gegenwärtigkeit im Sinne einer sicheren oder höchstwahrscheinlichen Schädigung ist nicht vorausgesetzt. Aus dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit ergibt sich, dass eine aus ex-ante Sicht nutzlose Preisgabe des Geheimnisses nicht gerechtfertigt ist. Bei mehreren Handlungsmöglichkeiten hat der Arzt die zu wählen, die den Schutz des gefährdeten Rechtsgutes am besten gewährleistet. Unter diesen Prämissen wird man von einer zulässigen Offenbarung ausgehen können, wenn z.B. ein Gefangener mit gefährlicher ansteckender Krankheit die Mitwirkung an einer Therapie verweigert oder sich aus den dem Arzt in seiner ärztlichen Eigenschaft bekannt gewordenen Umständen Anzeichen für eine bevorstehende erneute schwere Gewaltstraftat ergeben. c)
Offenbarungspflicht, Satz 2
Werden nicht dem Arzt, sondern dem Anstaltspsychologen67 oder Sozialarbeiter Geheimnisse anvertraut, oder erlangt der Arzt bei allgemeinen vollzugsbedingten Handlungen vertrauliche Informationen, so z.B. bei der ärztlichen Eingangsuntersuchung oder bei der Feststellung der Arbeitsfähigkeit des Strafgefangenen, so gilt die Gebotsnorm des Satzes 2. Der in das Geheimnis Eingeweihte ist gesetzlich
65
66 67
Zum Gespräch mit dem Gefangenen als milderes Mittel vgl. BayObLG R&P 1995, 41. Schöch, ZStrVo 1999, 260 geht von einer erheblichen Gefahr aus. Zur Situation psychisch Kranker im Justizvollzug vgl. Konrad, ZaeFQ 2000 (94), 288 ff.
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und disziplinarrechtlich68 zur Indiskretion verpflichtet, wenn die Preisgabe für die Aufgabenerfüllung des Vollzuges oder zur Abwehr von erheblichen Gefahren von Leib oder Leben des Gefangenen oder Dritter erforderlich ist. Denn es ist geradezu sinnwidrig, sollten die gewonnenen Erkenntnisse der Anstaltsleitung vorenthalten werden, wenn die zugrunde liegende Untersuchung angeordnet wurde, um Informationen im Interesse der Gesundheit des Gefangenen und eines geordneten Strafvollzugs zu erhalten.69 Die sich in diesem Kontext ergebenden Verwirrungen sind groß. 70 Zum einen geht es um die vordergründig plausible, bei näherer Betrachtung durchaus heikle Abgrenzung von allgemeiner Gesundheitsfürsorge und sonstigen Vollzugsaufgaben. Zum anderen wirft die systemwidrige generelle Offenbarungspflicht des psychologischen Psychotherapeuten bzw. Anstaltspsychologen mehr Fragen auf, als dass Probleme gelöst werden können. Über die Gründe dieser verfassungsrechtlich bedenklichen Regelung71 sowie die unternommenen Restriktionsbemühungen72 könnte nun viel philosophiert werden. Möglicherweise trägt der im deutschen Recht – insbesondere im Strafrecht – nur rudimentär ausformulierte Schutz der geistigen und seelischen Gesundheit dazu bei, dem Datenaustausch über die psychische Verfassung des Delinquenten keine großen Hürden entgegenzustellen. Wie dem auch sei: Die Anstaltspsychologen befinden sich seit dem Erlass dieser elastischen und extensiven Regelung in einer nahezu ausweglosen Lage. Eine Basis und praxisorientierte Anleitung für den Umgang mit dieser Problematik fehlen. Die Krise wird nicht dadurch entschärft, dass bereits jetzt die psychiatrischen und psychologischen Dienste in grobem Missverhältnis zu dem Bedarf an Behandlungen stehen.73 Abzusehen ist, dass die Berichtspflicht in letzter Konsequenz dazu führt, den Patienten psychologisch so zu betreuen, dass ihm – heilsame, ergebnisoffene, aber auch destruktive – Konfliktsituationen erspart bleiben und aufgrund guter Führung vorzeitige Entlassung oder zumindest Vollzugslockerungen wahrscheinlich sind. Ob durch solch stützende, primär an der Anstaltsdisziplin ausgerichtete Therapien74 Resozialisierung und allgemeine Sicherheit gefördert werden, ist ungewiss. Als Alternative bliebe die Beauftragung externer Psychologen. Denn für sie wird nur eine Offenbarungsbefugnis, nicht aber eine ent-
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73 74
Zum Verstoß gegen die Offenbarungspflicht als disziplinarrechtlich zu ahndendes Dienstvergehen vgl. BT-Drs. 13/11016, 27. OLG Karlsruhe NStZ 1993, 496 f. Portius, ZaeFQ 2000 (94), 273. Adt, ZfStrVO 2000, 128; DANA 1/1999, 35 ff. Bast, Schweigepflicht, S. 128 ff.; Laubenthal, Strafvollzug, Rn. 923 schlägt vor, im Rahmen der Erforderlichkeit eine Güterabwägung durchzuführen. Kallert, ZfStrVo 1996, 146 ff.; Missoni/Rex, ZfStrVo 1997, 335 ff. Instruktiv Schuh, in: Biener (Hrsg.), Die Gesundheitsproblematik im Strafvollzug, 1998, S. 9 ff.
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sprechende -pflicht begründet, § 182 Abs. 4 StVollzG.75 Die Entscheidung über die Beauftragung trifft allerdings die Anstaltsleitung – denn sie trägt zugleich die Verantwortung für den gesamten Vollzug, § 156 Abs. 2 StVollzG.
VII. Das Zeugnisverweigerungsrecht des Anstaltsarztes Ein weiteres Problemfeld ergibt sich für den Anstaltsarzt aufgrund des Spannungsfeldes zwischen straf- und strafvollstreckungsrechtlichem Schweigegebot und dem strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrecht. Unter diesem Blickwinkel ist zu klären, ob den als Zeugen einvernommenen Anstaltsarzt eine Aussagepflicht trifft. Ausgangspunkt der Überlegungen ist der Umstand, dass die Strafprozessordnung nur einigen wenigen der materiell-rechtlich zur Geheimhaltung verpflichteten Berufsgruppen ein Zeugnisverweigerungsrecht einräumt. Zudem dürfen Personen des öffentlichen Dienstes – und damit auch beamtete Anstaltsärzte im Strafvollzug – als Zeugen im Strafverfahren nur nach Maßgabe von § 54 StPO vernommen werden. Die erforderliche Genehmigung des Dienstvorgesetzten entscheidet über die Möglichkeit des Gerichts, die Wahrheit zu erforschen. 76 Diese Vorschriften verdeutlichen, dass der materiellen Schweigepflicht nicht bereits um ihrer selbst willen im Strafprozess Bedeutung zukommt. Durchbrechen die §§ 53, 54 StPO den Zeugniszwang, so tritt das öffentliche Interesse an der Wahrheitserforschung und Sanktionierung von Straftaten hinter den materiellen Schutz privater bzw. öffentlich-rechtlicher Geheimhaltungsinteressen zurück. 77 Auch das Strafverfahren kennt somit keine Verpflichtung, die Wahrheit um jeden Preis zu erforschen.78 Zu den privilegierten Berufen, denen das Gesetz eine Handlungsalternative bei der Kollision materieller Schweigepflichten und verfahrensrechtlicher Aussagepflichten eröffnet, zählt der des (Anstalts-)Arztes. Indem ihm § 53 StPO ein Zeugnisverweigerungsrecht nicht nur über Geheimnisse, sondern über alles, was ihm in seiner beruflichen Eigenschaft anvertraut oder sonst bekannt geworden ist, zubilligt, wird eine Brücke zwischen dem materiellen Strafrecht und dem Strafverfahrensrecht geschlagen. Das Zeugnisverweigerungsrecht besteht auch, wenn der Anstaltsarzt Informationen aufgrund gesetzlicher Duldungspflicht des Inhaftierten zwangsweise erlangte.79 In all diesen Fällen liegt die Betonung jedoch auf „Zeugnisverweigerungsrecht“. Dem Arzt obliegt grundsätz75
76 77
78 79
Laubenthal, Strafvollzug, Rn. 924; Rösch, in: Herrfahrdt (Hrsg.), Behandlung von Sexualstraftätern, 2000, S. 150 ff.; Weichert, AK-StVollzG, § 182 Rn. 49; wohl a.A. Kaiser/Schöch, Strafvollzug, 5. Aufl. 2002, S. 342; Schöch, ZfStrVo 1999, 261. Näher Bruns, Die Schweigepflicht der sozialen Dienste der Justiz, 1996, S. 174 ff. So bereits Frey, in: Festschrift Pfenniger, 1956, S. 43; Eb. Schmidt, in: Ponsold (Hrsg.), Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, 1967, S. 31 BGHSt 14, 358, 365. OLG Karlsruhe NStZ 1993, 405 m.w.N.; Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl. 2004, § 53 Rn. 19; zum Arzt als Sacherständigen vgl. BGH StV 2002, 655 mit krit. Bespr. Bock.
Das Arztgeheimnis im Strafvollzug
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lich keine prozessuale Schweigepflicht.80 Stattdessen ist ihm eine Abwägungskompetenz zwischen prozessualer Aussagepflicht und materieller Geheimhaltungspflicht übertragen. Etwas anderes gilt nur bei Vorliegen einer Entpflichtungserklärung des Betroffenen, § 53 Abs. 2 S. 1 StPO. In diesem Fall ist das Spannungsverhältnis zwischen Geheimnisschutz und Wahrheitsermittlung aufgelöst, die materiell-rechtliche durch Einwilligung geschaffene Handlungserlaubnis erstarkt im Strafverfahren zur Aussagepflicht des Arztes, der Grundsatz der Wahrheitsermittlung gelangt vollständig zum Durchbruch. Die Situation der gerechtfertigten Offenbarung verdient freilich eine andere Bewertung. Mit dem Zurücktreten des Geheimnisschutzes lässt sich das aber nicht allein begründen. Aus ihm ergibt sich nur, dass das typisierte Unrecht der Geheimnisoffenbarung aufgrund von Gegenrechten entfällt. Eine prozessuale Aussagepflicht würde voraussetzen, dass das Eingreifen von Rechtfertigungsgründen nach denselben Maßstäben beurteilt würde, wie das der Einwilligung. Eine solche Regel existiert zu Recht gerade nicht. Denn im Unterschied zur Entpflichtung wird bei der Notwehrhilfe, dem Notstand oder auch der rechtfertigenden Pflichtenkollision der Schutz des Geheimnisses durch höherrangige Interessen verdrängt. Die zutreffende Abwägung widerstreitender Interessen und damit die mögliche Rechtfertigung der Geheimnisoffenbarung wirft aber Fragen auf, deren Beantwortung nicht nur Juristen, sondern gerade auch dem zur Entscheidung berufenen Arzt als juristischen Laien Schwierigkeiten bereiten kann.81 Gleichwohl hat ihm das Gesetz mit gutem Grund die Abwägungskompetenz auferlegt. Anderenfalls müsste das Gericht ermitteln, ob das, was der ärztliche Zeuge zur Sache weiß, materiellrechtlich geschützt ist. Folglich würde der Arzt mittelbar gezwungen, dem Gericht die geschützten Daten mitzuteilen. Um dies zu vermeiden, normiert das Strafverfahrensrecht keinen Aussagezwang. Wahrt der Anstaltsarzt die Diskretion, so ist diese Entscheidung selbst im Falle der Fehlgewichtung der involvierten Interessen nicht justiziabel. Im Falle einer Aussage trägt er jedoch die Last der richtigen Gewichtung der widerstreitenden Interessen. Entspricht seine Wertung den Vorgaben des materiellen Straf- und Strafvollzugsrechts, so muss dies auf das Prozessrecht durchschlagen. Tritt der Geheimnisschutz zurück, besteht kein Grund, die Wahrheit im Strafverfahren zurückzuhalten. Den Interessen des Geheimnisträgers ist dadurch Genüge getan, dass sie mit richtigem Gewicht in die Abwägung eingestellt wurden.82 Ist der Anstaltsarzt jedoch nicht zur Mitteilung befugt, bestehen nach der Rechtspraxis83 keine durchschlagenden Bedenken, diese Aussage als zulässiges Beweis80 81 82 83
Eb. Schmidt, Brennende Fragen des ärztlichen Berufsgeheimnisses, S. 33. BGHSt 9, 62. BGHSt 9, 61; Lackner/Kühl, § 203 Rn. 30. RGSt 66, 275; 71, 21; BGHSt 9, 59, 61; 15, 200 ff.; 18, 146 ff.; BGH bei Holtz, MDR 1980, 815; BGH StPO § 53 Schweigepflicht 1 Verletzung; Dahs, in: LR-StPO, § 53 Rn. 10 f.; Meyer-Goßner, § 53 Rn. 6; Otto, Festschrift Kleinknecht, 1985, S. 319, 339;
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mittel zu verwerten. § 53 Abs. 3 des AE Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmefreiheit,84 der bei dieser Sachlage sowohl ein Vernehmungsverbot als auch ein Verwertungsverbot vorsah, wurde vom Deutschen Juristentag im Jahre 1998 abgelehnt.85 Diese Position überzeugt nicht. Im Rahmen des vorliegenden Beitrages ist es zwar nicht möglich, die dogmatischen Grundlagen der Lehre von den Beweisverboten detailliert zu diskutieren.86 Gleichwohl sollen einige durchgreifende Bedenken gegen die Berücksichtigung der unter Verstoß gegen das Straf- und Strafvollstreckungsrecht erlangten Aussage dargelegt werden. Der gemeinsame Gedanke der Lehre von den Beweisverwertungsverboten ist darauf zurückzuführen, dass in einem rechtsstaatlichen Verfahren der strafprozessuale Untersuchungsgrundsatz und die Pflicht zur umfassenden Beweiswürdigung nicht „um jeden Preis“ zur Anwendung kommen. Lässt das Gericht die unbefugte Geheimnisoffenbarung als Aussage im Strafverfahren zu, so greift nicht nur der Zeuge, sondern auch der Staat in das Informationsbeherrschungsrecht des Verletzten ein. Dieses Vorgehen stellt eine gravierende Beeinträchtigung der grundsätzlich auch im Vollzug geltenden Grundrechte dar. Das Zeugnisverweigerungsrecht eröffnet weder dem Anstaltsarzt noch dem Gericht einen rechtsfreien Raum. Es gewährt vielmehr eine Freiheit mit innerer Bindung an das geltende Recht, das den Arzt bei Vorliegen der materiellen Schweigepflicht nicht nur zur Zeugnisverweigerung berechtigt, sondern auch verpflichtet. Die rechtsethische Funktion staatlicher Strafverfolgungstätigkeit87 wird durch das hieraus resultierende Vernehmungsverbot bekräftigt. Ein Strafverfahren, in dem das Gericht durch Normbruch gewonnene Beweismittel akzeptiert, kann nicht normstabilisierend wirken. Wenngleich nicht jedes Vernehmungsverbot zu einem Verwertungsverbot führt, überzeugt es nicht, den Informationsbeherrschungsanspruch des Patienten und das überindividuelle Interesse am Funktionieren des Strafvollzugs mit Hilfe einer Doppelfunktionalität materieller und prozessualer Bewertung88 zu umgehen. Anderenfalls würde der materielle Rechtsgüterschutz, den das Straf- und Strafvollzugsrecht bezweckt und das Strafverfahrensrecht unterstreicht, staatlicherseits durch
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Pelchen, KK-StPO, § 53 Rn. 7; Petry, Beweisverbote im Strafprozess, 1971, S. 185; Pfeiffer, StPO, 2. Aufl. 1999, § 53 Rn. 2. Aus dem Jahre 1996, näher Wolter, in: Ehrengabe für Anne-Eva Brauneck, 1999, S. 501 ff. Beschlüsse, 62. DJT 1998, S. 10. Kritisch Wolter, in: Ehrengabe für Anne-Eva Brauneck, S. 501, 508. Dazu Strömer, Dogmatische Grundlagen der Verwertungsverbote, 1992. Fezer, JuS 1978, 472; Haffke, GA 1973, 65; Lenckner, NJW 1965, 321. Daher sei die unter Verstoß gegen § 203 StGB getätigte Aussage des ärztlichen Zeugen prozessordnungsgemäß, vgl. Ackermann, in: Festschrift zum Hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, 1860-1960, S. 479, 499; Niese, Doppelfunktionelle Prozesshandlungen, 1950, S. 147 f.
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nicht justizförmige Sachverhaltsaufklärung in Frage gestellt. 89 Besteht damit richtigerweise ein Verwertungsverbot, muss das makelbehaftete Beweismittel dann außer Betracht bleiben, wenn es den Geheimnisgeschützten belastet.
VIII. Ende Damit komme ich zum Schluss. Die Auseinandersetzung um das anstaltsärztliche Berufsgeheimnis hat sich durch die gesetzliche Neuformulierung etwas beruhigt. Der Mindeststandard ist festgelegt und dient als Bollwerk gegen Erosionen. Was bleibt ist das Ringen um die wohl ausgeloteten Grenzen des Geheimnisschutzes und die Verwertung rechtswidrig erlangter anstaltsärztlicher Zeugenaussagen im Strafprozess. Es wäre ein Widerspruch in sich, wollte man zur Stärkung des Vollzugsziels und der Wahrheitsermittlung tragende Grundsätze der Resozialisierung und der Rechtsstaatlichkeit aufgeben. Denn das Zurückgewinnen von Vertrauen, die Stabilisierung von Werten und Normen, die Bereitschaft, für sich und andere Verantwortung zu tragen – dies alles setzt voraus, als Mensch geachtet zu werden. Die gezielte Überwachung im Strafvollzug und das Einschränken der ärztlichen Schweigepflicht werden dadurch nicht ausgeschlossen. In Frage steht aber, ob die mit diesen Restriktionen verfolgten Belange von derartigem Gewicht sein dürfen, dass sie auch mit unantastbaren Grundrechten ins Verhältnis gesetzt werden können und sollen.
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Gegen die Doppelfunktionalität vgl. u.a. Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozess, 1977, S. 129; Haffke, GA 1973, 71 ff.; Kühne, JZ 1981, 651 ff.; Lenckner, NJW 1965, 325 ff.; Muschallik, Die Befreiung von der ärztlichen Schweigepflicht und vom Zeugnisverweigerungsrecht, 1984, S. 114 ff.; Welp, in: Festschrift Bemmann, S. 626, 639.
Statement Rüdiger Wulf
I. Hintergründe und Abgründe des Themas Wenn Fachleute über Grundlagen ihres Fachs sprechen, geht es manchmal um etwas ganz anderes: um Macht, um Prestige, um berufsständische Interessen, um persönliche Freiheit und ähnliches. Das gilt für jeden Berufsstand. Diese Hintergründe muss man kennen, wenn Richter richterliche Unabhängigkeit verteidigen, wenn Staatsanwälte Weisungsfreiheit fordern, wenn sich Pädagogen auf pädagogische Freiheit berufen, wenn Hochschullehrer mit Freiheit von Forschung und Lehre argumentieren, wenn Politiker auf Gewissensfreiheit pochen, wenn Manager oder Unternehmer auf ihre Verantwortung hinweisen, oder – mitten im vorliegenden Thema – wenn es bei Geistlichen, Ärzten, Psychologen, Sozialarbeitern oder Journalisten um Schweigepflichten geht. Das erklärt, warum Diskussionen über Schweigepflichten sehr leicht die sachliche Ebene verlassen und emotional werden. Aus der Diskussion über die innerbehördlichen Schweige- und Offenbarungspflichten psychotherapeutischer Fachkräfte im Justiz- und Maßregelvollzug könnten dramatische und tragische Beispiele genannt werden. Manchen ist eine unbedingte Schweigepflicht eine Herzensangelegenheit, für die erbittert gestritten wird. Hierfür wurden Kündigungen und Entlassungen in Kauf genommen. Andere können Offenbarungspflichten innerlich nicht akzeptieren und reklamieren im Stillen eine unbedingte Schweigepflicht – eine gefährliche Gratwanderung, falls eine Vollzugslockerung fehlschlägt und der Täter die Kenntnis des Therapeuten offenbart. Umso wichtiger ist ein fachlicher und nicht interessengeleiteter Diskurs.
II. Begrifflichkeit Das beginnt bereits bei den Begriffen. „Arztgeheimnis“, das klingt geheimnisvoll und nach einem Tabuthema. Oft wird zu Unrecht vom Schweigerecht gesprochen, als ob nach Belieben entschieden werden könnte, ob geschwiegen wird oder nicht. Zuweilen bleibt offen, worüber eigentlich gesprochen wird, denn es gibt sehr eng beieinander liegende Begriffe:
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Rüdiger Wulf
Die berufsständische Verschwiegenheit, die Psychoanalytikern wichtige Abstinenzregel, aus der manche bewusst oder unbewusst eine Schweigepflicht herleiten, die Zeugnisverweigerungsrechte für Berufsgeheimnisträger im Strafprozess, die beamtenrechtliche Amtsverschwiegenheit von Ärzten im öffentlichen Dienst, etwa nach dem Beamtenrecht oder in den Dienst- und Sicherheitsvorschriften für den Strafvollzug, die innerbehördlichen Schweige- und Offenbarungspflichten oder die strafrechtlich geschützte Schweigepflicht aus dem Verbot der Verletzung von Privatgeheimnissen.
Es mischen sich strafrechtliche, beamtenrechtliche, vollzugsrechtliche, berufsethische, datenschutzrechtliche und fachliche Gesichtspunkte. Das trägt zur Begriffsverwirrung bei.
III. Rechtsnatur des Arzt-Patienten-Verhältnisses im Strafvollzug Umso wichtiger ist es, sich auf die Grundlagen zu besinnen und die Weichen am Anfang aller Überlegungen richtig zu stellen. Daher muss man nach dem tieferen Grund für die im Grundsatz unbestrittene ärztliche Schweigepflicht fragen. Dem herkömmlichen Arzt-Patienten-Verhältnis liegt ein Behandlungsvertrag zugrunde. In Kurzform: Anamnese, Befunde, Diagnose, Indikation, Therapie gegen Geld. Das sind die Hauptpflichten. Eine wichtige Nebenpflicht des Arztes ist die Schweigepflicht. Diese Schweigepflicht entfällt – Ausnahmen spielen hier keine Rolle – nur dann, wenn der Patient kraft einer autonomen Entscheidung den Arzt von der Schweigepflicht entbindet. Ganz anders im Justiz- und Maßregelvollzug. Da ist von einem Behandlungsvertrag weit und breit nichts zu sehen. Der Patient befindet sich höchst unfreiwillig in der Institution und möchte in aller Regel gar nicht vom Anstaltsarzt behandelt werden, sondern viel lieber vom Arzt seiner Wahl. Auf welcher Rechtsgrundlage erfolgt die Behandlung dann? Die Gesundheitsfürsorge im Justizvollzug ist gesetzlich in den §§ 56 ff. StVollzG geregelt. Hier hat man es somit mit einem gesetzlichen, öffentlich-rechtlichen Behandlungsverhältnis und nicht mit einem Behandlungsvertrag zu tun.
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IV. Die gesetzliche Schweigepflicht des Arztes im Strafvollzug Dem entspricht, dass der Anstaltsarzt keine vertragliche, sondern eine gesetzliche Schweigepflicht hat: § 182 Abs. 2 Satz 1 StVollzG. Dasselbe gilt übrigens nach § 182 Abs. 4 StVollzG, sofern Ärzte außerhalb des Vollzuges mit der Untersuchung oder Behandlung eines Gefangenen beauftragt werden. Diese wichtige Vorschrift verhindert unter anderem, dass die behandelnden Ärzte unterschiedlichen Schweigepflichten unterliegen. Das könnte ansonsten eine Zwei-KlassenMedizin bedeuten. Diese Schweigepflicht ist nicht weniger wert als die vertragliche Schweigepflicht. Sie wurzelt in der Würde des Menschen, die zu schützen verfassungsrechtliche Aufgabe des Staates ist. Der Arzt entscheidet darüber aufgrund der gesetzlichen Rechtslage, mit einem Beurteilungsspielraum und nach pflichtgemäßem Ermessen. Wenn daher die ansonsten beeindruckenden schweizerischen SAMW-Richtlinien zur ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten Personen in 10.1. fordern, die ärztliche Schweigepflicht müsse nach den gleichen rechtlichen Vorschriften gewahrt werden, welche für Personen in Freiheit gelten, so ist das zumindest missverständlich. Richtig ist, dass die Schweigepflicht im Ergebnis gleichwertig sein muss.
V. Offenbarungspflicht im Rahmen der allgemeinen Gesundheitsfürsorge Die grundsätzliche gesetzliche Schweigepflicht des Anstaltsarztes korrespondiert mit gesetzlichen Offenbarungspflichten. Man kann immer wieder beobachten, dass im Justiz- und Maßregelvollzug zu Unrecht mit der Entbindung von der Schweigepflicht operiert wird, weil man zu Unrecht von vertragsähnlichen Grundlagen ausgeht. Richtigerweise entscheidet der Arzt daher unabhängig vom Willen des Gefangenen, ob er schweigt oder offenbart. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen der Gefangene eine Offenbarung ablehnt, etwa weil er unverantwortlich mit einer HIV-Infektion umgeht. Die Schweigepflicht und die Offenbarungspflichten stehen dabei im RegelAusnahme-Verhältnis. Dabei macht das Strafvollzugsgesetz durchaus angemessen einen Unterschied zwischen der allgemeinen Gesundheitsfürsorge und anderen Bereichen, insbesondere der Rückfall verhindernden Sozial- und Psychotherapie. Wird dem Arzt ein Geheimnis des Patienten im Rahmen der allgemeinen Gesundheitsfürsorge bekannt, so ist er nur dann zur Offenbarung befugt, soweit dies für die Aufgabenerfüllung der Vollzugsbehörde unerlässlich oder zur Abwehr von
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erheblichen Gefahren für Leib oder Leben des Gefangenen oder Dritter erforderlich ist. Mit Recht hat das Gesetz daher hohe Voraussetzungen an die Offenbarung gestellt. Soweit der Kernbereich der Gesundheitsfürsorge. Hier gibt es keinerlei praktische Probleme. Aus zwanzig Jahren Tätigkeit im Justizvollzug – und dies bei Sensibilität für das Thema – könnte nur ein einziger, dazu noch völlig atypischer Fall mitgeteilt werden, in dem ein Anstaltsleiter das Arztgeheimnis seines Anstaltsarztes tangiert hat. Es ist auch kein Fall aus Literatur oder Rechtsprechung bekannt, in dem es Probleme gegeben hätte. Insoweit ist das Thema dogmatisch schwierig, aber praktisch nicht sehr bedeutsam. Dass das Arztgeheimnis im Justizvollzug ernst genommen wird, kann man übrigens auch an der Führung der Gesundheitsakten ablesen. Sie werden unter der Verantwortung des Anstaltsarztes vom Sanitätspersonal geführt. Kein Anstaltsleiter und kein sonstiger Bediensteter kommt an sie heran. Das setzt sich in der Aufsicht über die Ärzte im Justizvollzug fort. Wenn sich ein Gefangener über die Gesundheitsfürsorge beschwert und die Gesundheitsakten zur Überprüfung benötigt werden, so werden sie in einem verschlossenen Umschlag dem Medizinalreferenten bzw. der Medizinalreferentin im Justizministerium übersandt und nur von ihm bzw. ihr gelesen.
VI. Die Entscheidungsbefugnis des Arztes über Schweigen oder Offenbaren Die Entscheidung, ob zu schweigen oder zu offenbaren ist, hat der Gesetzgeber übrigens dem Arzt anvertraut. Dies ist gerechtfertigt, weil nur er den Sachverhalt kennt. Das heißt: Der Anstaltsleiter muss nicht fragen, oft weiß er ja nicht, ob und was er fragen sollte. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber den Fachkräften zu Recht Vertrauen geschenkt. Es ist kein Fall bekannt, in dem ein Arzt zu Unrecht geschwiegen oder zu Unrecht offenbart hat. Wichtig ist, dass der Anstaltsleiter das Gefühl hat, er wird informiert, wenn es notwendig ist. Wenn er dieses Gefühl hat, wird er dem Anstaltsarzt den nötigen Freiraum vor allem für die Sozial- oder Psychotherapie lassen, denn dass dabei ein Vertrauensverhältnis zwischen Klient und Therapeut notwendig ist, liegt auf der Hand. Im Zweifel sollte sich der Anstaltsarzt eher für das Offenbaren als für das Schweigen entscheiden. Der Dienstherr und die Strafverfolgungsbehörde werden ein im Ergebnis unrichtiges Offenbaren eher tolerieren als Schweigen, das zu neuen Straftaten des Gefangenen führt, weil neue Straftaten den Gefangenen einer weiteren Bestrafung aussetzen und im Therapieprozess zurückwerfen, von den Opferschäden einmal abgesehen. Ein verantwortungsvoller Therapeut wird seinen Klienten daher nicht in eine fehlschlagende Vollzugslockerung abdriften lassen, zumal der Klient nach der Straftat versucht ist, die Mitwisserschaft des Therapeuten zu offenbaren, um die Schuld von sich zu weisen: „Ich hatte es meinem Therapeuten doch gesagt“.
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VII. Offenbarungspflicht bei rückfallverhindernder Sozial-/Psychotherapie 1.
Rechtslage
Bei der rückfallverhindernden Sozial- oder Psychotherapie von Anstaltsärzten, externen Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie oder Psychologischen Psychotherapeuten liegen die Dinge komplizierter als in der somatischen Medizin. In diesem Rahmen erfährt der Betreffende zuweilen Geheimnisse, die für die Beurteilung der Flucht- und Missbrauchsgefahr oder andere vollzugsplanrelevante Fragen bedeutsam sind, etwa ernst zu nehmende Ankündigungen von Straftaten zum Nachteil eines Dritten innerhalb oder außerhalb des Vollzuges, bedrohliche Gewalt- oder Sexualphantasien oder Mitteilungen über Drogenkonsum und Drogenhandel. Hier bewegt sich der Arzt nicht mehr im Rahmen der allgemeinen Gesundheitsfürsorge. Hier gilt die gesteigerte Offenbarungspflicht gegenüber dem Anstaltsleiter aus § 182 Abs. 2 StVollzG, soweit dies zur Aufgabenerfüllung der Vollzugsbehörde erforderlich ist. Zu offenbaren ist alles, was nach der einprägsamen Formel von Schöch zu einer Aufhebung oder Änderung des Vollzugsplans führen würde. Mit § 182 Abs. 2 StVollzG hat der Gesetzgeber im Ergebnis trotz anders lautender Stimmen eine ausgewogene Regelung gefunden, die einerseits Therapie ermöglicht und andererseits den Sicherheitsinteressen gerecht wird. Die Frage der innerbehördlichen Schweige- und Offenbarungspflichten ist übrigens nach Inkrafttreten des § 182 StVollzG im Jahr 1998 heftig und kontrovers diskutiert worden. Zwischenzeitlich haben sich die Wogen geglättet. An den Verfasser ist in den letzten sechs Jahren kein Fall herangetragen worden, in dem die gesetzliche Regelung therapeutische Prozesse gestört hätte. Außerdem fällt auf, dass im Maßregelvollzug diese Diskussion zwar geführt wird, man dort aber – ohne eine gesetzliche Regelung – entsprechend verfährt. Vielleicht hat man dort schon richtigerweise erkannt, dass eine Rückfall verhindernde Sozial- oder Psychotherapie eine Querschnittsaufgabe und ohne Einbeziehung des Therapeuten nicht möglich ist. An der heftigen Diskussion im Strafvollzug haben sich übrigens fast nur Psychologen und kaum Ärzte beteiligt. Vielleicht liegt dies darin begründet, dass die Sozial- und Psychotherapie überwiegend in psychologischer Hand liegt. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Ärzten ein notwendiger Informationsaustausch aus fachlichen Gründen eher einleuchtet. Bei einer Operation muss der Anästhesist dem Chirurgen ja auch die erforderlichen Informationen zukommen lassen, und dieser muss dem Stationsarzt den Fall dokumentieren.
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Vollzugliche Einordnung der rückfallverhindernden Therapie
Das Thema „Arztgeheimnis im Strafvollzug“ führt also über die somatische Medizin hinaus in den Bereich der Sozial- und Psychotherapie. Weil hier die aktuellen Fragen liegen, sollen diese Aspekte im Folgenden vertieft werden. Zunächst stellt sich die Frage, wie eine Rückfall verhindernde Sozial- und Psychotherapie vollzugsrechtlich einzuordnen ist. In erster Linie ist zu prüfen, ob man es dabei nicht doch mit Gesundheitsfürsorge nach den §§ 56 ff. StVollzG zu tun hat. Dies wäre der Fall, wenn es um die Diagnose und Behandlung von psychischen Störungen mit Krankheitswert ginge (vgl. etwa die Formulierung von § 1 Abs. 3 Psychotherapeutengesetz). Hierfür könnte sprechen, dass in den Strafvollzug nicht wenige Gefangene kommen, die Persönlichkeitsstörungen aufweisen (vgl. dazu etwa Foerster u.a. 2004). Dabei nimmt die dissoziale Persönlichkeitsstörung einen herausragenden Stellenwert ein (vgl. F.60.2 und F.91.1 ICD10). Fraglich ist, ob diese Persönlichkeitsstörungen Krankheitswert haben. Im Maßregelvollzug mag man diese Frage eher als im Justizvollzug bejahen. Meist hat man es mit Grenzfällen und mit Fällen unterhalb von Krankheitswert zu tun. Bei dieser Gelegenheit taucht eine weitere kritische Frage auf, nämlich nach der Geltung des Psychotherapeutengesetzes im Strafvollzug mit der möglichen Folge, dass nur Fachärzte und Psychologische Psychotherapeuten eine rückfallverhindernde Sozial- oder Psychotherapie durchführen dürfen. Diese Auffassung lässt sich über die §§ 56, 61 StVollzG begründen. Danach hat ein Strafgefangener Anspruch auf Gesundheitsfürsorge wie ein in einer gesetzlichen Krankenkasse versicherter Bürger. Eine andere – von den Landesjustizverwaltungen überwiegend vertretene – Auffassung geht dahin, dass das Psychotherapeutengesetz im Strafvollzug unmittelbar nicht gilt. Für eine Geltung im Justizvollzug fehlt im Gesetz und in der Begründung jeder Hinweis. Bei Schaffung des Psychotherapeutengesetzes im Jahr 1998 war dem Gesetzgeber das seit 1977 geltende Strafvollzugsgesetz selbstverständlich bekannt. Hätte er eine Ausweitung auf den Justizvollzug gewollt, so hätte er dies entsprechend regeln können und regeln müssen. Dies ist aber nicht erfolgt. Außerdem gilt das Psychotherapeutengesetz – hier kehrt man zur oben skizzierten Problematik zurück – nur für psychische Störungen mit Krankheitswert. Dessen ungeachtet wird man es für wünschenswert halten, wenn Anstaltspsychologen künftig die Approbation haben, weil damit eine besondere Fachkunde nachgewiesen wird. Approbationen, die nach den geltenden Übergangsregelungen erteilt wurden, wird man dagegen kritisch hinterfragen dürfen, weil diese recht großzügig erteilt wurden. Eine Antwort auf die vollzugsrechtliche Einordnung der rückfallverhindernden Sozial- und Psychotherapie steht noch aus. Hier wird die Auffassung vertreten,
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dass sie der Gesundheitsfürsorge nicht zuzuordnen ist, sondern eine eigenständige vollzugsgestaltende Maßnahme darstellt. Dem entspricht, dass der Gesetzgeber bei der gewählten Vollzugslösung die Sozialtherapie nicht im Rahmen der §§ 56 ff. StVollzG geregelt hat, sondern in eigenen Vorschriften (Voraussetzungen in § 9 StVollzG, Gestaltung der Sozialtherapie in den §§ 123 ff. StVollzG). Diese Auffassung wertet die rückfallverhindernde Sozial- und Psychotherapie nicht ab. Die Differenzierung soll dazu führen, dass für sie eigene und passende Qualitätsstandards entwickelt werden. Die unkritische Übernahme von Regelungen aus der Gesundheitsfürsorge würde die Weiterentwicklung organisatorisch, personell und methodisch eher behindern als fördern. Der Grundsatz „Keine Regel ohne Ausnahme“ gilt freilich auch hier. Selbstverständlich sind Fälle denkbar und praktisch bedeutsam, in denen bei Gefangenen eindeutig psychische Störungen mit Krankheitswert vorliegen und nach den Regeln der Gesundheitsfürsorge zu behandeln sind. Etwa bei einem Gefangenen, der im Strafvollzug an einer Depression erkrankt oder bei dem eine Wahnkrankheit auftritt, die nicht zur Gefahr von Straftaten führt. Hier erfolgt die Therapie nach den §§ 56 ff. StVollzG mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen. Dies bedeutet für die Frage der Schweige- und Offenbarungspflicht, dass der Anstaltsarzt nur zu offenbaren hat, wenn dies für die Aufgabenerfüllung der Vollzugsbehörde unerlässlich wäre. Dies wäre in den beschriebenen Beispielen regelmäßig zu verneinen. An einer Offenbarung hätte der Anstaltsleiter in diesen Fällen auch gar kein Interesse.
3.
Grundlagen der rückfallverhindernden Sozial-/Psychotherapie
Die vollzugsrechtliche Einordnung, aber auch andere wichtige Fragen führen direkt zu den Grundlagen einer auf Rückfallverhinderung abzielenden Sozial- und Psychotherapie. Die folgenden Ausführungen gelten übereinstimmend für die Arbeit im geschlossenen Justizvollzug, im Maßregelvollzug und für die ambulante Sozial- und Psychotherapie. Es besteht Anlass, diese Grundlagen zu klären, weil sie in der wissenschaftlichen und praktischen Diskussion nicht immer gesehen werden und vielfach Anlass für Missverständnisse sind. Man kommt weiter, wenn man die Zusammenhänge von Anamnese, Diagnose, Therapie und Prognose bei der Rückfallverhinderung klärt. Auf der ersten Stufe steht die Begehung einer Straftat für den Täter und die Verurteilung des Betreffenden durch das Gericht. Bereits auf dieser Stufe kann es zu einer negativen Prognose kommen, etwa wenn freiheitsentziehende Maßregeln der Besserung und Sicherung angeordnet werden (Unterbringung in einem Psychiatri-
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schen Krankenhaus, einer Entziehungsanstalt oder in der Sicherungsverwahrung). Eine negative Legalprognose kann sich aber auch erst im Rahmen des Vollzuges ergeben, wenn die Behandlungsuntersuchung und Vollzugsplanung eine Missbrauchsgefahr ergibt und daher offener Vollzug, Vollzugslockerungen und Urlaub aus der Haft versagt werden. Regelmäßig wird dann auf der nächsten Stufe gefragt, ob diese negative Prognose durch Interventionen verbessert werden kann. Zu den intensivsten und wirkungsvollsten Interventionen bei rückfallgefährdeten Strafgefangenen gehört zweifelsohne die Sozial- und Psychotherapie, die dann in den Vollzugsplan aufgenommen wird. Es folgt dann – wenn ein Therapieplatz zur Verfügung steht und der Gefangene motiviert ist – die Sozial- oder Psychotherapie. Mittlerweile haben sich folgende Module als Erfolg versprechend herausgestellt (vgl. Justizministerium BadenWürttemberg 1996): -
Die Sozialtherapeutische Anstalt Die Sozialtherapeutische Abteilung im Regelvollzug Die anstaltsinterne Einzelpsychotherapie Rückfallpräventionsprogramme für Gruppen von Gefangenen Die ambulante externe Einzelpsychotherapie, insbesondere im Übergang vom Vollzug zur Bewährung.
Auf der nächsten Stufe erfolgt dann die entsprechende Therapie mit positivem Ergebnis, mit Stillstand oder mit Abbruch durch die Einrichtung oder durch den Gefangenen. Therapiebegleitend bzw. -nachfolgend wird dann wieder das Rückfallrisiko eingeschätzt. Bei positiv verlaufender Therapie kann das ursprüngliche Rückfallrisiko derart gemindert sein, dass zunächst offener Vollzug, Vollzugslockerungen und Hafturlaub gewährt wird und später eine bedingte Entlassung verantwortet werden kann. Dieser Prozess gelingt – hier kommt man zum Thema Schweige- und Offenbarungspflicht zurück – selbstverständlich nur dann, wenn der Erfolg einer rückfallverhindernden Sozial- und Psychotherapie in einem geordneten Verfahren und einer datenschutzrechtlich unbedenklichen Weise in die Prognose einfließt.
4.
Vollzugliche Konsequenzen
Nach der hier vertretenen Auffassung gelingt das am besten, wenn der Therapeut die für die Gestaltung des Vollzugsplanes notwendigen Informationen von sich
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aus und unmittelbar in die Vollzugsplankonferenz einbringt. Er kennt den Klienten am besten. So kann man Missverständnissen am besten begegnen. Dies entspricht auch dem Gesetz. Dabei muss der Therapeut keinesfalls alle Einzelheiten offenbaren. Wenn es etwa um eine Gewalt- oder Sexualfantasie geht, reicht es völlig aus, dass der Therapeut mitteilt, er habe aus der Therapie derzeit noch begründete Bedenken gegen eine positive Lockerungsprognose. Damit hat der Therapeut das Erforderliche offenbart (vgl. § 182 Abs. 2 Satz 2 StVollzG). Kein Anstaltsleiter wird entgegen diesem Votum Lockerungen gewähren. Ein besonnener, therapiefreundlicher Anstaltsleiter wird dem Therapeuten nicht auferlegen, mehr zu offenbaren. Nun geht es nicht nur darum, rechtlich korrekt zu verfahren und den gesetzlichen Schweige- und Offenbarungspflichten zu entsprechen. Sozial- und psychotherapeutische Fachkräfte wollen und sollen therapeutisch fundiert und vor allem erfolgreich arbeiten. Ist dies mit der Offenbarungspflicht vereinbar? Der Schlüssel dazu liegt wiederum in einem angemessenen Arbeitsbündnis zwischen Therapeut und Klienten. Zu fordern ist eine schriftliche Einverständniserklärung des Gefangenen in die Therapie, verbunden mit einer Aufklärung über das Störungsbild, die Therapierisiken und den Therapieverlauf. Diese psychotherapeutischen Standards haben sich leider noch nicht durchgesetzt. Wichtig ist vor allem der Hinweis in der Einverständniserklärung, dass sich die psychotherapeutische Fachkraft gegenüber dem Anstaltsleiter offenbaren muss, soweit dies für die Aufgabenerfüllung der Vollzugsbehörde erforderlich ist (vgl. § 182 Abs. 2 Satz 2 StVollzG). Zu einem ehrlichen Arbeitsbündnis gehört außerdem, dass eine positive Stellungnahme dem Gefangenen nützt und ihn Lockerungsversagen oder Bewährungsbrüche zurückwerfen würden. Ob eine tragfähige therapeutische Beziehung entsteht – das oft verwendete Wort „Vertrauensverhältnis“ erscheint schief – dürfte im übrigen weniger von äußeren Rahmenbedingungen abhängen als vielmehr von der Persönlichkeit des Therapeuten, seiner Ausstrahlung, seinem Können und der Aufrichtigkeit im Umgang mit dem Klienten. Nicht direkt aber doch mittelbar verbunden mit dem Thema Schweige- und Offenbarungspflicht ist die Pflicht zur Dokumentation. Dabei ist man im Justizvollzug noch relativ am Anfang. Einerseits wird viel aufgezeichnet, was nicht geschrieben werden müsste, andererseits fehlen immer wieder wichtige Informationen. Auch hier hilft die Rückbesinnung auf das Ziel. Dokumentiert werden muss, was für die Behandlungsuntersuchung und Vollzugsplanung relevant ist. Dokumentiert werden sollte nicht in den Gesundheitsakten und nicht in Handakten (vollzugsrechtlich ein „Nullum“), sondern in den Gefangenenpersonalakten, dort gegebenenfalls in einem Sonderband, der nur den zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zugänglich ist. Andere wollen den Konflikt damit lösen, dass Therapie und Begutachtung voneinander getrennt werden. Dagegen ist nichts einzuwenden, weil gute Kriminalprog-
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nosen aus der Nähe und aus der Distanz sowie mit einem Mehraugenprinzip getroffen werden. Dabei kann man es aber drehen und wenden wie man will: Ohne die Kenntnis des Therapieverlaufs geht es in den strittigen Fällen nicht. Und dabei reichen Formaldaten nicht (Therapiedauer, Frequenz). Die notwendige Kenntnis kann der anstaltsinterne oder externe Sachverständige nur erhalten, wenn er unmittelbar und eingehend mit dem Therapeuten spricht, eine umfassende Stellungnahme erhält oder der Therapieverlauf lückenlos dokumentiert ist. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die Schweige- und Offenbarungspflichten in den letzten Jahren unmittelbare Auswirkungen auf die Methoden der Sozial- und Psychotherapie im Justizvollzug hatten. In dem gesetzlichen Rahmen lassen sich nicht alle Psychotherapieformen gleichermaßen verwirklichen. Das gilt vor allem für Verfahren, die an eine Abstinenzregel gebunden sind. Beier/Hinrichs ist zuzustimmen: „Elitäre psychotherapeutische Ansätze haben es in sozialtherapeutischen Anstalten und Abteilungen sehr schwer. Angesicht einer gebotenen integrativen Vorgehensweise ist die ´puristische´ Sicht der Verschwiegenheitskautelen nur schwer zu verwirklichen.“ Kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze haben es da leichter und haben sich bei der Therapie dissozialer Klienten außerdem global als überlegen erwiesen. So hat die Diskussion um die Schweige- und Offenbarungspflichten psychotherapeutischer Fachkräfte wesentlich dazu beigetragen, dass sich das Profil der Sozialtherapeutischen Anstalt Baden-Württemberg in den letzten Jahren wesentlich gewandelt hat: Von der Psychoanalytischen zur Sozialtherapeutischen Anstalt.
VIII. Der wahre Feind des Arztgeheimnisses Die Schweigepflicht des Anstaltsarztes ist damit alles in allem ein dogmatisch schwieriges, praktisch lösbares und vollzugspolitisch zentrales Thema. Man bekommt es vor allem dann in den Griff, wenn Juristen und Ärzte sich zuhören, sich gegenseitig respektieren und den Willen zur Zusammenarbeit haben. Ein ständiger Dialog und die Rückbesinnung auf die ärztlichen und rechtlichen Grundlagen sind dabei beste Voraussetzungen für das Gelingen. Ist das Arztgeheimnis also überhaupt nicht bedroht? Doch. Ein erfahrener Klinikchef sagte einmal treffend: „Der wahre Feind des Arztgeheimnisses ist nicht die Neugier des Dienstherrn, sondern sind Klatsch und Tratsch auf Fluren und in Kaffeeküchen“. Das gilt besonders im Justiz- und Maßregelvollzug, wo die Wände Ohren haben sollen.
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Literatur Beier/Hinrichs: Die Sankelmarker Thesen zur Psychotherapie mit Straffälligen; MschrKrim 1996, S. 25 ff. Böllinger, L.: Offenbarungspflicht der Therapeuten im Strafvollzug; MschrKrim 2000, S. 11-22. Geppert, K.: Die ärztliche Schweigepflicht im Strafvollzug; 1983. Justizministerium Baden-Württemberg: Gesamtkonzeption zur Therapie von Sexualstraftätern im baden-württembergischen Justizvollzug. Unveröffentlichter Plan; Stuttgart 1996 (mit Fortschreibungen). Kaiser, G.; Schöch, H.: Strafvollzug; 5. Auflage 2002, S. 340 ff. Müller-Dietz, H.: Der Psychologe im Strafvollzug; in: Kühne, H.-H. (Hrsg.): Berufsrecht für Psychologen; 1987, S. 330-389. Schäfer, G.; W. Schubert; M. Bartels; K. Foerster: Psychiatrische Konsiliartätigkeit in der Justizvollzugsanstalt Rottenburg; Psychiatrische Praxis 2004, S. 410. Schöch, H.: Zur Offenbarungspflicht der Therapeuten gemäß § 182 II StVollzG; Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe 1999, S. 259-266. Volckart, B.; R. Grünebaum: Maßregelvollzug. 6. Auflage; 2003, S. 183 ff. Wulf, R.: Innerbehördliche Offenbarungs- und Schweigepflichten psychotherapeutischer Fachkräfte im Justizvollzug; Recht & Psychiatrie 1998, S. 185-192.
2. Tagungsabschnitt: Einzelfragen der Gesundheitsfürsorge im Strafvollzug
Geschlossener Vollzug und freies Beschäftigungsverhältnis – Zwei-Klassen-Medizin? Bettina Kirschke
I. Einleitung Herrscht im deutschen Strafvollzug eine Zwei-Klassen-Medizin? Seit der Einführung des freien Beschäftigungsverhältnisses als weiterer Form der Gefangenenarbeit im Jahre 1977 herrscht im Strafvollzug eine Zweiteilung der medizinischen Versorgung der Gefangenen. Während die „normalen“ – d.h. nicht in einem freien Beschäftigungsverhältnis stehenden – Gefangenen1 grundsätzlich der Gesundheitsfürsorge des Justizvollzuges unterstehen und der Standard der medizinischen Versorgung sich nach den §§ 56 ff StVollzG richtet, sind die im freien Beschäftigungsverhältnis stehenden Gefangenen2 unabhängig vom Justizvollzug krankenversichert, so dass ihnen zumindest der medizinische Versorgungsstandard des SGB V zukommt. Durch diese Aufteilung haben wir zwei unterschiedliche Träger der medizinischen Versorgung. Heißt das aber, dass wir auch unterschiedliche Versorgungsstandards haben? Und wenn ja, sind diese Unterschiede gerechtfertigt? Anknüpfungspunkt für die unterschiedliche Ausgestaltung der medizinischen Versorgung ist die Art der Arbeit, der die Gefangenen nachgehen. Die Ausgliederung der Freigänger aus der Gesundheitsfürsorge des Justizvollzugs beruht auf den Besonderheiten der Arbeitsform „freies Beschäftigungsverhältnis“, das in § 39 Abs. 1 StVollzG geregelt ist. Gem. § 39 Abs. 1 S. 1 StVollzG muss die Gestattung des freien Beschäftigungsverhältnisses im Rahmen des Vollzugsplanes insbesondere dem Ziel dienen, Fähigkeiten für die Erwerbstätigkeit nach der Entlassung zu vermitteln, zu erhalten oder zu fördern. Zudem dürfen überwiegende Gründe des Vollzuges nicht entgegenstehen. Neben diesen Voraussetzungen aus § 39 Abs. 1 S. 1 StVollzG müssen für die Gestattung eines freien Beschäftigungsverhältnisses gem. § 39 Abs. 1 Satz 2 StVollzG auch die Voraussetzungen des § 11 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 StVollzG – d.h. Außenbeschäftigung oder Freigang – 1 2
Im Folgenden kurz „Gefangene“ genannt. Im Folgenden kurz „Freigänger“ genannt.
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vorliegen3. Liegen all diese Voraussetzungen vor, hat der Gefangene zwar keinen Anspruch auf Gestattung eines freien Beschäftigungsverhältnisses, angesichts des Resozialisierungsgebots ist die Behörde bei Vorliegen der Voraussetzungen im Regelfall jedoch gebunden, eine Gestattung zu erteilen; eine Abweichung ist nur in atypischen Fällen erlaubt. Wird dem Gefangenen ein freies Beschäftigungsverhältnis4 gestattet, kann er eigenverantwortlich mit einem vollzugsexternen Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag abschließen und außerhalb der Vollzugsanstalt der entsprechenden Arbeit nachgehen. Er besitzt alle Arbeitnehmerrechte und pflichten und wird branchenüblich bezahlt. In der Regel wohnt der Freigänger von den übrigen Gefangenen getrennt5 in einem sog. Freigängerhaus, das er morgens verlassen darf, um außerhalb der Vollzugsanstalt seiner Arbeit nachzugehen. Erst abends nach der Arbeit muss er wieder in das Freigängerhaus zurückkehren. Für geeignete Gefangene bietet das freie Beschäftigungsverhältnis ideale Bedingungen, um allmählich das Leben in Freiheit unter zunehmend erhöhten Anforderungen an Selbstkontrolle und Selbstverantwortlichkeit einzuüben und so die Entlassung vorzubereiten. Durch die hohen Anforderungen, die die Arbeit in einem freien Beschäftigungsverhältnis an die Betroffenen in puncto charakterliche Stärke stellt, stellen die Freigänger eine positive Auslese 6 aus der Masse der Gefangenen dar, der die Öffnung nach außen in die Normalität möglichst weit ermöglicht werden soll. Diese auf der charakterlichen Stärke beruhende weite Öffnung nach außen führt möglicherweise dazu, dass unterschiedliche Behandlungen von Freigängern und Gefangenen gerechtfertigt sind. Maßstab dafür, ob mögliche Unterschiede zwischen Freigängern und Gefangenen gerechtfertigt sind, muss immer sein, dass die Sanktion „Freiheitsstrafe“ nur die Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit7 und resozialisierungsfördernde Einschränkungen beinhaltet. Das Leben im Vollzug soll gem. § 3 Abs. 1 StVollzG den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit als möglich angeglichen werden. Enthält das Gesetz keine besondere Regelung, dürfen Gefangenen nur Beschränkungen auferlegt werden, die zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder zur Abwehr einer schwerwiegenden Störung der Ordnung der Anstalt unerlässlich sind. Dementsprechend ist in § 61 StVollzG auch geregelt, dass für Art und Um3
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Aus diesem Zusammenhang zwischen freiem Beschäftigungsverhältnis und Außenbeschäftigung/Freigang folgt, dass Gefangene, die gem. Nr. 7 Abs. 2 der VV für derartige Lockerungen ungeeignet sind, auch ein freies Beschäftigungsverhältnis regelmäßig nicht gestattet bekommen werden. Zu den Voraussetzungen und Besonderheiten des freien Beschäftigungsverhältnisses vgl. die ausführliche Darstellung bei Kirschke, Medizinische Versorgung im Strafvollzug, 2003, S. 44 ff; vgl. auch Lückemann in: Arloth/Lückemann, StVollzGKommentar, 2004, § 39 Rdn. 1-7. Vgl. Nr. 2 Abs. 1 der VV zu § 39 StVollzG. Die soziale Integration der Freigänger nach ihrer Entlassung ist daher groß, vgl. Dünkel, Materialien zum Strafvollzug, 1991, S. 106; die Rückfallquoten sind gering, vgl. Jung in: ZfStrVo 1977, 86, 88. Geppert, Freiheit und Zwang im Strafvollzug, 1976, S. 5.
Geschlossener Vollzug und freies Beschäftigungsverhältnis
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fang der medizinischen Leistungen die entsprechenden Vorschriften des Sozialgesetzbuches gelten. Bevor ich der Frage nachgehe, ob unterschiedliche Versorgungsstandards bestehen und ob diese gerechtfertigt sind oder nicht, will ich im Folgenden zunächst noch zwei andere Aspekte beleuchten: Zum einen die verschiedenen Konstellationen im Strafvollzug, die eine unterschiedliche medizinische Versorgung bedingen, zum anderen die konkrete Durchführung der medizinischen Versorgung. Zum ersten Punkt: Gem. § 56 Abs. 1 S. 1 StVollzG ist für die körperliche und geistige Gesundheit der Gefangenen zu sorgen. Grundsätzlich verantwortlich für die medizinische Versorgung der Gefangenen ist somit der Justizvollzug, d.h. Träger der medizinischen Versorgung im Strafvollzug sind die Justizverwaltungen8. Die Gesundheitsfürsorge im Vollzug nach § 56 Abs. 1 S. 1 StVollzG gilt grundsätzlich für jeden Gefangenen gleichermaßen, unabhängig davon, ob er Anstaltsarbeit ausübt oder nicht. Auch Arbeitslose, die es im Vollzug aufgrund der dort herrschenden Arbeitsknappheit9 gibt, und sogar Arbeitsunwillige haben einen Anspruch gegen die Justizverwaltung auf umfassende Gesundheitsfürsorge. Aus der Anstaltsarbeit ergibt sich für die Gefangenen keine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung gem. § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V. Danach sind nur Arbeiter, Angestellte und in der Berufsausbildung Beschäftigte, die gegen Entgelt beschäftigt sind, versicherungspflichtig. Da die Anstaltsarbeit aber mangels Freiwilligkeit keine „Beschäftigung“ im Sinne des Versicherungsrechts darstellt, ist sie kein geeigneter Anknüpfungspunkt für eine Versicherungspflicht in der Krankenversicherung. Arbeitende Gefangene sind daher von der Versicherungspflicht in § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V nicht erfasst. Auch Gefangene, die vor der Inhaftierung aufgrund einer „Beschäftigung“ gesetzlich krankenversichert waren, verlieren mit der Aufnahme in den Strafvollzug regelmäßig ihren Versichertenstatus, da die Anstaltsarbeit keine Fortführung der versicherungspflichtigen Beschäftigung ist. Dieser Verlust des Krankenversicherungsschutzes des Gefangenen kann sich auch negativ auf die medizinische Absicherung der Angehörigen auswirken. Ist der Inhaftierte das einzige Stammmitglied der Familie und verliert er durch die Aufnahme in den Vollzug seinen Versichertenstatus, verlieren die Angehörigen ebenfalls ihren Versicherungsschutz, da die Familienversicherung gem. § 10 SGB V akzessorisch zur Stammmitgliedschaft ist. Können die Angehörigen keinen neuen Anknüpfungspunkt für eine Familienversicherung schaffen, ist die
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Rex in: ZaeFQ 2000 (94), 258, 260. Britz in: ZfStrVo 1999, 195, 199.
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Familie in einem solchen Fall regelmäßig auf die Unterstützung durch die Sozialhilfe angewiesen10. Im Einzelfall ist es allerdings auch möglich, dass eine vor der Inhaftierung bestehende Krankenversicherungsmitgliedschaft des Inhaftierten nicht mit der Aufnahme in den Strafvollzug endet. Der Versichertenstatus kann dann fortbestehen, wenn der Gefangene familienmitversichert, als Rentner weiterhin pflichtversichert oder aufgrund freiwilliger Versicherungsleistungen freiwillig versichert ist. Ist der Inhaftierte über ein in Freiheit befindliches Familienstammmitglied gem. § 10 SGB V mitversichert, besteht dieser Versicherungsschutz an sich auch nach der Inhaftierung fort, da die Familienmitversicherung nicht an der Arbeitnehmereigenschaft des einzelnen Familienmitglieds, sondern allein an der Stammmitgliedschaft anknüpft. Diese bleibt von der Inhaftierung unberührt, so dass sie weiter als Anknüpfungspunkt der Familienversicherung dienen kann. Des Weiteren sind gem. § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V Personen, die die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung erfüllen, diese Rente beantragt haben und eine bestimmte Zeit pflichtversichertes Mitglied waren, weiterhin versicherungspflichtig. Die Beitragshöhe ist gem. § 247 Abs. 1 S. 1 SGB V der allgemeine Beitragssatz der Krankenkassen, wobei die Beiträge gem. § 249a SGB V hälftig auf den Rentner und die Rentenversicherung entfallen. Gem. § 255 Abs. 1 SGB V sind die Beiträge, die die Versicherungspflichtigen aus ihrer Rente zu zahlen haben, von den Trägern der Rentenversicherung bei der Zahlung der Rente einzubehalten und zusammen mit den von den Trägern der Rentenversicherung zu tragenden Beiträgen an die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte für die Krankenkassen zu zahlen. Als Rentner ist ein Gefangener daher auch im Vollzug weiterhin krankenversichert. Daneben kann ein Gefangener auch dann krankenversichert sein, wenn er sich gem. § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V freiwillig versichert. Der Sinn solch einer freiwilligen Versicherung während der Inhaftierung ist aber nicht primär das Erreichen des Versicherungsschutzes des Gefangenen, sondern das Beibehalten eines Anknüpfungspunktes für die Familienmitgliedschaft der in Freiheit verbliebenen Angehörigen. Die freiwillige Versicherung des Gefangenen kann dann sachgemäß sein, wenn die Angehörigen nicht pflichtversichert sind und auch nicht die Voraussetzungen einer eigenen freiwilligen Versicherung gem. § 9 Abs. 1 Nr. 2 SGB V erfüllen, so dass sie ohne seine Stammmitgliedschaft ihren Versicherungsschutz verlieren würden. In der Praxis scheitert die Möglichkeit der freiwilligen Versicherung – selbst wenn die Voraussetzungen des § 9 SGB V an sich vorliegen – in der Regel aber an der Zahlung der Beiträge. Während die Beiträge der Pflichtversicherten gem. § 249 Abs. 1 SGB V von den Versicherten und den Arbeitgebern je zur Hälfte getragen werden, müssen die freiwillig Versicherten gem. § 250 Abs. 2 SGB V die Beiträge selber tragen, wozu sie als Gefangene meist nicht in der Lage sind. Liegt im Einzelfall bei einem 10
Götte, Die Mitbetroffenheit der Kinder und Ehepartner von Strafgefangenen, 2000, S. 119; Rotthaus in: FS für Rebmann, 1989, S. 401, 412.
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Gefangenen eine im Vollzug fortdauernde Versicherungsmitgliedschaft vor, greift die Regelung des § 16 Abs. 1 Nr. 4 SGB V, wonach der Anspruch auf Versicherungsleistungen ruht, solange gegen den Versicherten eine Freiheitsstrafe vollzogen wird, soweit der Gefangene als Gefangener Anspruch auf Gesundheitsfürsorge nach dem StVollzG hat oder sonstige Gesundheitsfürsorge erhält. Das „Ruhen“ eines Anspruchs bedeutet, dass der Leistungsanspruch dem Grunde nach unberührt bleibt, dass er aber von der Kasse nicht zu erfüllen ist 11. Sinn der Ruhensanordnung in § 16 Abs. 1 Nr. 4 SGB V ist es, Doppelleistungen zu verhindern. Im Fall, dass ein Versicherter von Staats wegen in seiner Freiheit beschränkt und in einer Anstalt untergebracht ist, und dort im Krankheitsfall versorgt wird, sah der Gesetzgeber keinen Anlass, diese Versicherten weiterhin auch mit Kassenleistungen zu versorgen. Dabei verlieren die Versicherten ihre Ansprüche auf Kassenleistungen aber nicht, sondern diese treten hinter die primäre Anstaltsversorgung zurück12. Ein entscheidendes Merkmal des Ruhens gem. § 16 SGB V ist, dass der Anspruch während des Ruhens als erfüllt anzusehen ist. Das führt dazu, dass die Zeit des Ruhens auf die Leistungsdauer angerechnet wird, was insbesondere beim Krankengeld bedeutsam werden kann13. Persönlich trifft das Ruhen nur den Versicherten, bei dem die Voraussetzungen dafür tatsächlich vorliegen. Da Angehörige des Versicherten unter den Voraussetzungen des § 10 SGB V selbst versichert sind, ruht ihr Anspruch auf Leistungen nur, wenn sie selbst einen entsprechenden Tatbestand erfüllen. Ruhen die Leistungsansprüche des Stammversicherten, berührt dies die Ansprüche seiner familienversicherten Angehörigen nicht14. Bei einem Freigänger ist die Ruhenskonstellation eine andere: bei ihm ist in § 62a StVollzG geregelt, dass sein Anspruch auf Leistungen nach den §§ 57 bis 59 StVollzG ruht, solange er auf Grund eines freien Beschäftigungsverhältnisses krankenversichert ist. Der Freigänger muss sich als Arbeitnehmer wie jeder andere gegen Arbeitsentgelt Beschäftigte gem. § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V in der gesetzlichen Krankenversicherung versichern. Konkreter Leistungsträger der medizinischen Versorgung der Freigänger ist die jeweilige Krankenkasse. Neben den in einem freien Beschäftigungsverhältnis stehenden Freigängern gibt es auch die Gruppe der arbeitslosen Freigänger. Hat ein Gefangener bereits ein freies Beschäftigungsverhältnis ausgeübt, dieses beendet, und sucht gerade ein neues 11
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Käsling in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Stand: 2002, § 16 SGB V, Rdn. 31; Heinze, Die neue Krankenversicherung Bd.1, Stand: 2000, § 16 SGB V, Nr. 2. Heinze, Die neue Krankenversicherung Bd. 1,Stand: 2000, § 16 SGB V, Nr. 6a. Mrozynski in: Wannagat/Eichenhofer, Sozialgesetzbuch – Kommentar zum Recht des Sozialgesetzbuchs, 2002, § 16 SGB V, Rdn. 5. Peters in: Niesel, Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Stand: 2002, § 16 SGB V, Rdn. 5; Käsling in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Stand: 2002, § 16 SGB V, Rdn. 4.
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Beschäftigungsverhältnis, ist er nach den normalen sozialversicherungsrechtlichen Regelungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 SGB V i.V.m. § 251 Abs. 4a SGB V für eine bestimmte Zeit weiter krankenversichert. Alternativ zur gesetzlichen Krankenversicherung ist im Einzelfall auch eine private Krankenversicherung eines Freigängers möglich, was allerdings die absolute Ausnahme darstellt 15.
II. Durchführung der Gesundheitsfürsorge Wie aber wird die Gesundheitsfürsorge der Gefangenen und Freigänger konkret durchgeführt? Die Vollzugsbehörde hat gem. § 158 Abs. 1 StVollzG die ärztliche Versorgung der Gefangenen durch hauptamtliche Ärzte sicherzustellen; nur aus besonderen Gründen kann die Versorgung nebenamtlichen oder vertraglich verpflichteten Ärzten übertragen werden. Sinn dieser Regelung ist es, zu gewährleisten, dass sowohl für die regelmäßig anfallenden Aufgaben als auch in dringenden Fällen schnell ein Arzt hinzugezogen werden kann16. Zudem soll durch die hauptamtliche Tätigkeit des Anstaltsarztes der besondere Behandlungsauftrag aus § 2 StVollzG erfüllt werden. Der Gefangene hat in der Regel nur Anspruch auf medizinische Versorgung durch den Anstaltsarzt. Bei objektiver Erforderlichkeit der Hinzuziehung eines anderen Arztes oder Facharztes hat der Gefangene gem. Nr. 2 Abs. 2 der VV zu § 58 StVollzG aber einen Anspruch auf solch eine Hinzuziehung. Ausnahmsweise kann der Gefangene auch auf eigene Kosten gem. Nr. 3 der VV zu § 58 StVollzG einen externen Arzt aufsuchen, wenn der Anstaltsleiter ihm dies gestattet. Der Anstaltsarzt ist der Vollzugshierarchie eingegliedert, der Anstaltsleiter ist ihm gegenüber als Dienstvorgesetzter weisungsbefugt. Hinsichtlich medizinischer Fragen ist der Anstaltsarzt jedoch autonom, seine Autorität leitet sich aus seinem Beruf und nicht aus der Position in der Personalhierarchie ab17. Bei der Frage, ob eine zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit erforderliche Maßnahme zu treffen oder zu veranlassen ist, hat der Anstaltsarzt im Rahmen seiner fachlich-medizinischen Tätigkeit einen Ermessensspielraum, der sich einer Kontrolle von außen weitgehend entzieht 18. Für die Kosten der Gesundheitsfürsorge eines Gefangenen durch den Anstaltsarzt kommt gem. § 56 Abs. 1 S. 1 StVollzG die Justizverwaltung auf19. Bei objektiver
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Bei Nachfragen in verschiedenen Vollzugsanstalten zeigte sich, dass eine private Krankenversicherung überaus selten vorkommt. Boetticher/Stöver in: Feest, AK-StVollzG, 2000, vor § 56 Rdn. 2. Boetticher/Stöver in: Feest, AK-StVollzG, 2000, vor § 56 Rdn. 20. Calliess/Müller-Dietz, Kommentar zum StVollzG, 2004, § 56 Rdn. 3; OLG Frankfurt, NJW 1978, 2351. Boetticher/Stöver in: Feest, AK-StVollzG, 2000, vor § 56 Rdn. 6.
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Erforderlichkeit der Hinzuziehung eines externen Facharztes werden auch diese Kosten vom Vollzug übernommen20. Beim Freigänger sieht die konkrete Durchführung der medizinischen Versorgung anders aus: Er erhält seine medizinische Versorgung von Vertragsärzten seiner Krankenkasse, die er in deren Praxen aufsucht. Da der Freigänger aus der medizinischen Versorgung des Strafvollzugs ausgegliedert ist, muss der Anstaltsarzt einen um Behandlung bittenden Freigänger grundsätzlich abweisen und ihm empfehlen, im Wege des Ausgangs einen externen Arzt aufzusuchen; nur in akuten Notfällen und bei Lebensgefahr kann eine Behandlung durch den Anstaltsarzt erfolgen21. Der vom Freigänger gewählte und diesen behandelnde Vertragsarzt wird für die Behandlung zwar – gem. § 85 Abs. 4 S. 1 SGB V über den Verteilungsweg der kassenärztlichen Vereinigung22 – indirekt von der Krankenkasse bezahlt, ist im medizinischen Bereich aber unabhängig in seiner Entscheidungsbefugnis, soweit er sich im Rahmen der Leistungen bewegt, die die Versicherung im Rahmen der Kassenbehandlung zu erbringen hat. Die Therapiefreiheit des Arztes ist durch das System der Leistungserbringung – insbesondere durch die grundlegenden Vorschriften des Vertragsarztrechts der §§ 72 ff SGB V – ausgestaltet 23. Wie bei jedem anderen Versicherten agiert der Arzt auch bei der Behandlung eines Freigängers völlig unabhängig und unbeeinflusst. Die Justizbehörde ist in keinerlei Hinsicht weisungsbefugt. Die Kosten für die Versicherungsleistungen werden gem. § 260 Abs. 1 Nr. 1 SGB V durch die Verwendung von Betriebsmitteln der Krankenkasse getragen. Diese Betriebsmittel werden gem. § 220 Abs. 1 S. 1 SGB V durch Beiträge und sonstige Einnahmen aufgebracht. Gem. § 76 Abs. 1 S. 1 SGB V darf sich der Versicherte nur an zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassene Ärzte wenden und muss gem. § 76 Abs. 2 SGB V die Mehrkosten tragen, wenn er einen NichtVertragsarzt in Anspruch nimmt. Er muss die Mehrkosten allerdings nur dann tragen, wenn er sich „ohne zwingenden Grund“ an einen solchen Arzt gewandt hat. Von einem zwingenden Grund wird aber z.B. bei einer Notfallbehandlung im Gefängnis auszugehen sein, so dass der Gefangene selber nicht für die Mehrkosten wird aufkommen müssen, sondern die Krankenversicherung diese zu tragen hat. Grundlage für den in solchen Fällen bestehenden Regressanspruch ist § 105 Abs. 1 SGB X, wonach der zuständige oder zuständig gewesene Leistungsträger erstattungspflichtig ist, wenn ein unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat. Wurde die medizinische Behandlung des Freigängers durch den An20 21 22 23
Konsequenz aus Nr. 2 Abs. 2 der VV zu § 58 StVollzG. Romkopf/Rieckenbrauck in: Schwind/Böhm, StVollzG-Kommentar, 1999, § 62 a. Schulin/Igl, Sozialrecht, 1999, Rdn. 331. Schneider in: Schulin, Hdb. des Sozialversicherungsrechts Bd. 1, 1994, § 22 Rdn. 34.
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staltsarzt vorgenommen, stellt dies eine Leistung durch den unzuständigen Leistungsträger „Justizvollzug“ dar, die diesem vom zuständigen Leistungsträger „Krankenversicherung“ zu erstatten ist. Nun zur Frage, ob wir unterschiedliche medizinische Versorgungsstandards haben und ob diese möglicherweise vollzugsbedingt gerechtfertigt sind. Wie bereits eingangs erwähnt, richtet sich die dem Gefangenen zustehende medizinische Behandlung nach dem StVollzG, die des Freigängers nach dem SGB V. Anhand der Beispiele „freie Arztwahl“, „Krankenhausbehandlung“, „Arzneimittelleistungen“ und „Hilfsmittel“ will ich im Folgenden versuchen, Unterschiede aufzuzeigen.
1.
Zur freien Arztwahl
Der Freigänger kann gem. § 76 Abs. 1 SGB V unter den zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Ärzten frei wählen, d.h. er kann selbst entscheiden, welchem Arzt er sein Vertrauen schenken und von wem er sich behandeln lassen will. Diese freie Arztwahl steht dem Versicherten allerdings nur innerhalb des Kassenarztsystems zu, so dass er andere als zugelassene Ärzte nur im Notfall in Anspruch nehmen darf. Der Gefangene dagegen kann sich gem. §§ 158 Abs. 1, 56 ff StVollzG ausschließlich an den Anstaltsarzt wenden. Dabei ist es von Seiten der Vollzugsanstalt unzulässig, einen Gefangenen erst nach mehrmaligen Anträgen wegen gesundheitlicher Beschwerden einem Arzt vorzuführen24. Zwar besteht gem. Nr. 2 Abs. 2 der VV zu § 58 StVollzG die Möglichkeit, zur medizinischen Behandlung einen Facharzt hinzuzuziehen, doch hat der Gefangene weder einen Anspruch auf Vorstellung bei einem bestimmten, von ihm gewünschten Facharzt noch auf Durchführung einer bestimmten Behandlung25. Es steht vielmehr allein im ärztlichen Ermessen des Anstaltsarztes, ob ein bzw. welcher Facharzt zur Diagnose und Behandlung heranzuziehen ist26. Im Fall, dass in der Vollzugsanstalt keine angemessene Behandlung geleistet werden kann, kann sich das Ermessen jedoch auf Null reduzieren 27, so dass lediglich die Überweisung an einen Facharzt, im Extremfall sogar an den einzig kompetenten Facharzt auf diesem Gebiet, rechtmäßig ist. Ansonsten besteht gem. Nr. 3 der VV zu § 58 StVollzG nur in Ausnahmefällen die Möglichkeit, dass der Anstaltsleiter nach Anhören des Anstaltsarztes dem Gefangenen gestattet, auf eigene Kosten einen externen Arzt hinzuzuziehen. Dabei soll die Erlaubnis jedoch 24 25
26 27
LG Berlin StV 1989, 164. Romkopf/Rieckenbrauck in: Schwind/Böhm, 1999, StVollzG-Kommentar, § 58 Rdn. 10. LG Krefeld NStZ 1986, 191, 192. OLG Hamm NStZ 1981, 240; Dargel in: ZfStrVo 1983, 333, 334.
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nur erteilt werden, wenn der Gefangene den in Aussicht genommenen Arzt und den Anstaltsarzt untereinander von der ärztlichen Schweigepflicht entbindet. Zudem ist bei der Wahl des Zeitpunktes und der Bestimmung der Häufigkeit ärztlicher Bemühungen auf die besonderen räumlichen, personellen und organisatorischen Verhältnisse in der Anstalt Rücksicht zu nehmen. Da diese Bedingungen weit gefasst sind und der Gefangene keinen Rechtsanspruch auf Hinzuziehung eines externen Arztes hat, liegt die Gestattung sehr stark im Ermessen des Anstaltsleiters. Im Regelfall wird der Gefangene somit vom Anstaltsarzt behandelt, so dass das Arzt-Patienten-Verhältnis meist nicht freiwillig eingegangen wird, sondern öffentlich-rechtlicher28 Art ist und institutionell durch die Inhaftierung zustande kommt29. Die Freiwilligkeit ist aber häufig die Grundlage für ein von Vertrauen geprägtes Arzt-Patienten-Verhältnis und damit für eine effektive Heilbehandlung. Aufgrund dieses offensichtlichen Nachteils der Beschränkung auf den Anstaltsarzt hat der Gesetzgeber bei den Beratungen über das StVollzG die freie Arztwahl für Gefangene ausgiebig diskutiert. Schon die Strafvollzugskommission von 1971 hatte aber Bedenken geäußert, Gefangenen grundsätzlich zu gestatten, auf eigene Kosten einen Arzt ihrer Wahl in Anspruch zu nehmen. Solch eine Regelung sei zu weitgehend, bringe die Gefahr des Missbrauchs mit sich und werfe erhebliche Transportprobleme auf, wenn der hinzugezogene Arzt den Gefangenen nicht in der Vollzugsanstalt aufsuchen könne oder wolle und der Gefangene zu dem Arzt ausgeführt werden müsse30. In diesem Sinne wird auch in der Literatur31 auf die Gefahr hingewiesen, dass manche Gefangene die Behandlung durch einen Arzt ihrer Wahl aus unsachlichen Gründen beantragen, weil sie in der Ausführung z.B. eine Abwechslung oder eine Chance für eine Entweichung sehen. Auch im Bericht des Bundestags-Sonderausschusses zur Strafrechtsreform heißt es32, dass es Gefangenen, denen ein externer Arzt lieber sei als der Anstaltsarzt, gewöhnlich nicht um eine bessere Gesundheitsfürsorge gehe. Vielmehr wollten sie erreichen, was sie vom Anstaltsarzt meistens nicht erreichen könnten, nämlich die Bescheinigung der Haftunfähigkeit oder der Arbeitsunfähigkeit, häufig die Verordnung einer besonderen Kost, oft auch die Verschreibung bestimmter Medikamente, mit denen in der Anstalt leicht Missbrauch getrieben werden könne. Der externe Arzt, der mit den Besonderheiten im Strafvollzug regelmäßig nicht vertraut sei, werde aber viel eher als der Anstaltsarzt bereit sein, dem Wunsch des Gefangenen zu entsprechen, auch in der Erwägung, dass der Gefangene sonst eben bei einem anderen 28 29 30 31
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Lückemann in: Arloth/Lückemann, StVollzG-Kommentar, 2004, § 56 Rdn. 1. Rex in: ZaeFQ (2000) 94, 258, 261. Tagungsberichte der Strafvollzugskommission, XI. Band, 1971, S. 141. Z.B. Rotthaus in: FS für Rebmann, 1989, S. 413. Rotthaus spricht allerdings von UHaft-Gefangenen; die Argumente können aber sinngemäß auf Strafhaftgefangene übertragen werden. Bericht des Bundestagssonderausschusses für die Strafrechtsreform, BT-Drucks. 7/3998, 25, 26.
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Arzt seiner Wahl mit seinem Begehren Erfolg haben werde. Letztendlich hat der Gesetzgeber die Missbrauchsgefahr der freien Arztwahl für so gravierend gehalten, dass er auf sie – zulasten des Angleichungsgrundsatzes – verzichtet hat. Dieser Verzicht ist auch sachgerecht, da die vorgebrachten Missbrauchsgefahren nicht zu leugnen sind und daher eine generelle freie Arztwahl für alle Gefangenen auf unüberwindbare praktische Probleme stoßen würde. Der Freigänger – bei dem die freie Arztwahl nicht ausgeschlossen ist – stellt einen Sonderfall dar. Bei ihm entstehen der Vollzugsanstalt weder Kosten- noch Sicherheitsprobleme, wenn er einen extramuralen Arzt aufsucht. Er kann den externen Arzt unproblematisch im Rahmen des Freigangs aufsuchen, der ihm aufgrund seiner charakterlichen Stärke und fehlenden Missbrauchsgefahr als Öffnung zur Außenwelt gestattet ist. Sonstige vollzugsbedingte Gründe, die einen Ausschluss der freien Arztwahl rechtfertigen würden, liegen nicht vor. Es zeigt sich also eine deutliche Besserstellung der Freigänger gegenüber den sonstigen Gefangenen auf dem Gebiet der freien Arztwahl. Dies ist aber aufgrund der Sonderstellung des Freigängers verhältnismäßig und rechtmäßig. Sachgerecht wäre es allerdings, die Möglichkeit, einen externen Arzt aufzusuchen, zumindest auf die Gefangenen auszuweiten, bei denen keine Sicherheitsbedenken bzgl. des „Ausgangs“ gem. § 11 Abs. 1 Nr. 2 StVollzG bestehen und die daher im Rahmen des Ausgangs eigenständig einen Arzt aufsuchen könnten. Besonders wichtig wären Ausnahmen vom Ausschluss der freien Arztwahl auch bei Behandlungen psychisch Kranker, da diese allein auf dem Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient beruhen.
2.
Zur Krankenbehandlung
Auch auf dem Gebiet der Krankenbehandlung finden sich deutliche Unterschiede zwischen Freigängern und Gefangenen. Zwar enthalten sowohl das SGB V in § 27 als auch das StVollzG in § 58 einen Anspruch auf Krankenbehandlung, dieser ist aber unterschiedlich ausgestaltet. So z.B. bei der Krankenhausbehandlung: Freigänger haben gem. § 39 Abs. 1 S. 2 SBG V Anspruch auf vollstationäre Behandlung in einem zugelassenen Krankenhaus, wenn die Aufnahme nach Prüfung durch das Krankenhaus erforderlich ist. Dabei wird der Versicherte in der Regel durch ärztliche Einweisung in ein Krankenhaus verlegt33. Liegt eine Erforderlichkeit der Krankenhausbehandlung vor, steht einer Aufnahme nichts mehr entgegen. Der Freigänger kann eigenständig und ohne zusätzliche Belastung der Vollzugsanstalt das Krankenhaus aufsuchen. Die Krankenhausbehandlung wird von den Krankenkassen gem. § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 SGB V als Versicherungsleistung 33
Das ergibt sich mittelbar aus § 39 Abs. 2 SGB V.
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erbracht, d.h. die Kosten werden vom Versicherungsträger – von geringen Zuzahlungen gem. § 39 Abs. 4 S. 1 SGB V abgesehen – gedeckt. Anders beim Gefangenen: Dieser hat zwar gem. § 65 Abs. 2 StVollzG auch einen Anspruch auf Verlegung in ein externes Krankenhaus. Dies aber nur im Fall, dass die Krankheit in einer Vollzugsanstalt oder einem Anstaltskrankenhaus nicht erkannt oder behandelt werden kann oder es nicht möglich ist, den Gefangenen rechtzeitig in ein Anstaltskrankenhaus zu verlegen. Der Regelfall ist somit, dass der Gefangene – solange dies möglich ist – im Vollzug medizinisch versorgt wird: verfügt der Vollzug über die erforderlichen Einrichtungen, sind in erster Linie diese selbst und nicht Einrichtungen außerhalb des Vollzuges in Anspruch zu nehmen34. Allerdings wird es mit der zunehmenden Spezialisierung im Gesundheitswesen immer unrealistischer, dass der Vollzug die Versorgung im klinischen Bereich so auszubauen vermag, dass allen medizinischen Erfordernissen und Bedürfnissen hinreichend Rechnung getragen werden kann; besonders bei der Behandlung von Problemgruppen wie Drogenabhängigen und AIDS-Kranken und im Bereich der Großgerätediagnostik35 scheint dies nicht möglich36, so dass die Inanspruchnahme externer Krankenhäuser unerlässlich ist. Über die Notwendigkeit einer Verlegung entscheidet der Anstaltsarzt nach den ihn verpflichtenden Regeln der ärztlichen Kunst, wobei ihm ein Ermessensspielraum bleibt, der sich einer Kontrolle von außen weitgehend entzieht 37. Die Entscheidung muss jedoch auf sachgerechten medizinischen Erwägungen beruhen und nachvollziehbar sein38. Die eigentliche Verlegungsentscheidung trifft dann aber der Anstaltsleiter. Er nimmt dabei die medizinische Entscheidung des Anstaltsarztes als Grundlage, bezieht in seine Entscheidung aber noch zusätzlich Sicherheitsbedenken mit ein39. Es kommt aber auch vor, dass ein Krankenhaus die Aufnahme verweigert, da den übrigen Patienten die Gestalt des Bewachers des Gefangenen nicht zuzumuten sei, oder aber – wenn keine Bewachung vorgesehen ist –, da man den unbewachten Kriminellen den übrigen Patienten nicht zumuten könne 40. Ist ein Krankenhaus gefunden, das den Gefangenen aufnehmen kann und will, stellt sich noch das Transportproblem. Da in Justizvollzugsanstalten oft Mangel an Personal und Fahrzeugen besteht, kann eine Überführung eines Gefangenen in ein externes Krankenhaus die Anstalt vor erhebliche Probleme stellen. Die Anstaltsärzte sind zwar ihrer ärztlichen Standesethik entsprechend verpflichtet, jeden einzelnen Pati-
34
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BT-Drucks. 7/918, S. 73; Calliess/Müller-Dietz, StVollzG-Kommentar, 2004, § 65 Rdn. 1. Rex in: ZaeFQ (2000) 94, 258, 260. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG-Kommentar, 2004, § 65 Rdn. 1. KG StV 1988, 539. Calliess/Müller-Dietz, 2004, StVollzG-Kommentar, § 65 Rdn. 1. Calliess/Müller-Dietz, 2004, StVollzG-Kommentar, § 65 Rdn. 1. Nieszery in: ZaeFQ (2000) 94, 302, 304.
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enten gewissenhaft und bestmöglich zu behandeln41 und damit – wenn erforderlich – auch verlegen zu lassen. Doch können auch sie sich häufig den aus Personalmangel resultierenden Problemen nicht entziehen, so dass sie immer wieder an die Grenze des Übernahmeverschuldens geraten42. Wird ein Gefangener aus solchen praktischen Gründen nicht verlegt, fehlt es dafür an der vollzugsbedingten Rechtfertigung. Im Fall, dass ein Freigänger oder ein Gefangner in einem externen Krankenhaus behandelt wird, hat dies für beide gleichermaßen keine automatische Unterbrechung der Haftzeit zur Folge. Die Betroffenen bleiben im Rechtssinne Strafgefangene, so dass die Dauer des Krankenhausaufenthaltes auf die Strafzeit angerechnet wird43. Sowohl beim Freigänger als auch beim Gefangenen ist es aber im Einzelfall möglich, die Strafhaft gem. § 455 Abs. 4 StPO für die Dauer des Krankenhausaufenthaltes zu unterbrechen, um unsachgerechte Ergebnisse zu verhindern. Solch eine Unterbrechung hat zur Folge, dass der Betroffene die im Krankenhaus verbrachte Zeit nachholen muss. Bei der Anordnung der Unterbrechung soll die Vollstreckungsbehörde gem. § 45 Abs. 2 StVollstrO das ihr zustehende Ermessen dahin ausüben, dass der Gefangene nicht einen unverhältnismäßig großen Teil der Strafzeit außerhalb der Vollzugsanstalt zubringt. In der vollstreckungsrechtlichen Literatur wird dafür plädiert, dass der Gefangene jedenfalls nicht mehr als die Hälfte seiner Strafe in einem externen Krankenhaus verbringen soll, ohne dass die Strafe gem. § 455 StPO unterbrochen wird44. Beim Gefangenen wird die Möglichkeit der Haftunterbrechung aber durch die Regelung des § 455 Abs. 4 S. 2 StPO verkompliziert. Danach ist eine Strafunterbrechung dann gänzlich ausgeschlossen, wenn überwiegende Gründe, namentlich das öffentliche Interesse, entgegenstehen. Dies ist dann der Fall, wenn der Verurteilte trotz oder gerade wegen seiner Erkrankung so gefährlich ist, dass es im Interesse der Allgemeinheit geboten erscheint, den Strafvollzug fortzusetzen und ihn in einem Anstaltskrankenhaus zu behandeln oder unter Aufrechterhaltung des Strafvollzugs in ein anderes Krankenhaus zu verlegen45. Das Entgegenstehen überwiegender Gründe untersagt also lediglich die Strafunterbrechung nach § 455 StPO, die Möglichkeit einer Verlegung in ein vollzugsfremdes Krankenhaus nach § 65 Abs. 2 StVollzG bleibt jedoch unberührt. Ein besonders gefährlicher Gefangener kann somit in einem externen Krankenhaus behandelt werden, während des Klinikaufenthaltes müssen jedoch entsprechende Sicherheits- und Über41 42
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OLG Düsseldorf MedR 1986, 197, 199; Kern in: NJW 1996, 1561. Rex in: ZaeFQ (2000) 94, 258, 260; zum Übernahmeverschulden: Kern NJW 1996, 1561, 1562. Wolf in: Pohlmann/Jabel/Wolf, Strafvollstreckungsordnung-Kommentar, 1996, § 45 Rdn. 1. Grünebraum in: ZaeFQ (2000) 94, 292, 294; Wolf in: Pohlmann/Jabel/Wolf, Strafvollstreckungsordnung-Kommentar, 1996, § 45 Rdn. 10. Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, 2003, § 455 Rdn. 12.
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wachungsmaßnahmen vorgenommen werden, um eine Gefährdung der Öffentlichkeit auszuschließen46. Diese Regelung führt aber zu einer absurden Situation: Bei einem weniger gefährlichen Schwerkranken kann der Aufenthalt in der externen Klinik zu einer Strafunterbrechung gem. § 455 Abs. 4 StPO führen, so dass der Gefangene diese Zeit der Unterbrechung nachbüßen muss. Der besonders gefährliche Schwerkranke dagegen wird – ausreichend gesichert – ohne Strafunterbrechung in einem externen Krankenhaus behandelt, so dass der Klinikaufenthalt vollständig auf die Haftzeit angerechnet wird. Durch das Zusammenspiel von § 455 Abs. 4 S. 2 StPO und § 65 Abs. 2 StVollzG wird der gefährliche Verurteilte daher gegenüber dem ungefährlichen privilegiert47. Eine Gesetzesänderung wäre erforderlich, um diese dem Gerechtigkeitsempfinden widersprechende Rechtslage zu beseitigen.
3.
Zu den Unterschieden bei den Arzneimittelleistungen
Für den Umfang der Arzneimittelleistungen gelten allgemein die vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen gem. § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 SGB V beschlossenen Richtlinien über die Verordnung von Arzneimitteln (Arzneimittelrichtlinien)48. Für Freigänger ergibt sich aber gem. § 31 Abs. 1 SGB V die Besonderheit, dass sie von der Verschreibung der in § 34 Abs. 1 SGB V genannten Arzneimittel – so z.B. Erkältungs- und Abführmittel – ausgeschlossen sind. Da das StVollzG solch einen Ausschluss nicht enthält, ist der Gefangene insoweit also privilegiert, als er im Vollzug medikamentös vollständig auf Staatskosten versorgt wird. Diese Bevorzugung ist allerdings sachgerecht, da sie auf Besonderheiten des Vollzuges beruht: aufgrund seiner isolierten Stellung in der Anstalt und der fehlenden Möglichkeit einer lukrativen Arbeit hat der normale Gefangene in der Regel nicht die Möglichkeit, selbständig und aus eigener Tasche die ausgeschlossenen Arzneimittel zu erwerben49. Auch kann durch die frühzeitige und kostenfreie Ausgabe der Medikamente verhindert werden, dass sich z.B. Infektionskrankheiten in der gesamten Anstalt ausbreiten. Die finanzielle Privilegierung der Gefangenen beinhaltet aber zugleich eine Benachteiligung insofern, als sie sich keinerlei Medikamente selber besorgen können. Gem. Nr. 4 Abs. 3 der VV zu § 58 StVollzG dürfen im Vollzug nur durch die Anstalt beschaffte Arzneimittel verwendet werden. Diese Regelung ist jedoch vollzugsbedingt gerechtfertigt, da im Vollzug die Gefahr übermäßig groß ist, dass Gefangene Medikamente horten, um Selbstschädigungen 46 47 48
49
Grünebaum in: ZaeFQ (2000) 94, 292, 295. Grünebaum in: ZaeFQ (2000) 94, 292, 295. Richtlinien vom 6. 10. 1960 (BAnz Nr. 251 vom 29. 12. 1960) zuletzt geändert durch Beschluss vom 3.8.1998 (BAnz Nr. 182 vom 29.9.1998), abgedruckt bei Sabel, SGB V, Stand: 2002, § 31 SGB V – 043 ff. Die Anwendbarkeit der Richtlinien im Vollzug ergibt sich aus § 61 StVollzG. Savigny, Die Gesundheitsfürsorge im Strafvollzug, 1992, S. 250; Romkopf/Riekenbrauck in: Schwind/Böhm, StVollzG-Kommentar, 1999, § 61 Rdn. 6.
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oder Suizid zu begehen, oder aber diese als Tauschmittel für andere begehrte Dinge wie Tabak oder Nahrungsmittel zu verwenden50. Bei anstaltsärztlich verordneten Medikamenten kann die Vollzugsbehörde die Einnahme insoweit kontrollieren, als sie weiß, welche Medikamente ausgegeben wurden und gem. Nr. 4 Abs. 1 S. 4 der VV zu § 58 StVollzG bei Missbrauchsgefahr darauf achten kann, dass der Gefangene das Arzneimittel tatsächlich einnimmt. Missbrauch kann nur effektiv verhindert werden, indem die Vollzugsbehörde die Ausgabe von Medikamenten gleich welcher Art vollständig kontrolliert.
4.
Zu den Hilfsmittelleistungen
Im Unterschied zu den Arzneimittelleistungen sind die Unterschiede bei den Hilfsmitteln nicht vollzugsbedingt gerechtfertigt. Der Anspruch der Gefangenen auf Hilfsmittel steht nach § 59 S. 1 StVollzG genau wie beim Versicherten nach § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V unter der Bedingung, dass die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen sind. Auch besagt § 61 StVollzG, dass für den Umfang der Versorgung mit Hilfsmitteln die entsprechenden Vorschriften des Sozialgesetzbuches und die auf Grund dieser Vorschriften getroffenen Regelungen51 gelten. Das StVollzG verlangt aber in § 59 Abs. 1 S. 1, dass die Leistungen mit Rücksicht auf die Kürze des Freiheitsentzugs nicht ungerechtfertigt sind. Durch diese Regelung soll verhindert werden, dass der Vollzug mit erheblichen Mehrkosten durch teure orthopädische und andere Hilfsmittel belastet wird, die aufgrund der Kürze der Haftstrafe sachlich nicht gerechtfertigt scheinen52. In aller Regel wird die Vollzugsbehörde aber zumindest Gefangene ab sechs Monaten Dauer mit den erforderlichen Hilfsmitteln ausstatten müssen; aber auch bei kürzerem Freiheitsentzug kann eine Maßnahme sachlich geboten sein, wenn ein Aufschub bis zur Zeit nach der Entlassung unzumutbar ist53, d.h. wenn beispielsweise eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes droht oder die Gefahr besteht, dass der Erfolg der Krankenbehandlung verzögert wird54. Aufgrund der ärztlichen Standesethik, wonach ein Arzt immer die beste ihm mögliche Behandlung vorzunehmen hat55, kann die Frage, ob die erforderliche Maßnahme sinnvollerweise von einem externen Kostenträger gezahlt werden sollte, aber nicht 50 51
52 53
54 55
Husen in: Hdb. der Rechtsmedizin Bd. III, 1977, S. 585. U.a. die „Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von Hilfsmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung“ (sog. HilfsmittelRichtlinien), zuletzt geändert durch Beschluss vom 6.2.2001 (BAnz Nr. 102 vom 2.6.2001), abgedruckt in: Sabel, SGB V, § 32 SGB V – 007 ff. BT-Drucks. 3998/7, S. 27. Vgl. Nr. 18 Abs. 1 der Allgemeinen Verordnung des Justizministers vom 11.12.1997 bzgl. Art und Umfang der Leistungen der Krankenbehandlung Gefangener (4550 – IV/329, abgedruckt in: Die Justiz 1998, 585 ff); Calliess/Müller-Dietz, Kommentar zum StVollzG, 2004, § 59 Rdn. 3. Boetticher/Stöver in: Feest, AK-StVollzG, 2000, § 59 Rdn. 3. OLG Düsseldorf MedR 1986, 197, 199; Kern in: NJW 1996, 1561.
Geschlossener Vollzug und freies Beschäftigungsverhältnis
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Kriterium dafür sein, ob diese Maßnahme möglicherweise mehrere Monate aufgeschoben wird. Zu beachten ist auch, dass sich kurze Freiheitsstrafen vor allem bei dissozial Verwahrlosten und Suchtkranken finden, die meist nicht krankenversichert sind. Durch das Aufschieben der erforderlichen Versorgung mit Hilfsmitteln wird daher lediglich erreicht, dass der Betroffene nach der Haft von den Sozialämtern und damit ebenfalls von der öffentlichen Hand versorgt werden muss 56. Einem Gefangenen aufgrund der Kürze seiner Haftzeit ein Hilfsmittel zu verweigern, ist daher nicht vollzugsbedingt gerechtfertigt.
III. Aspekte der Sozialversicherung Soweit die Ausführungen zur medizinischen Versorgung. Da sich die Stellung der Freigänger von der der übrigen Gefangenen aber nicht nur im krankenversicherungsrechtlichen Bereich unterscheidet, möchte ich im Folgenden noch auf einige andere Aspekte der Sozialversicherung eingehen: Während die Freigänger genau wie alle anderen Arbeitnehmer einen umfassenden versicherungsrechtlichen Schutz genießen, d.h. in die Kranken-, Renten-, Pflege-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung integriert sind, sind die Gefangenen – auch wenn sie Anstaltsarbeit erbringen – nur unfall- und arbeitslosenversichert57. Die praktischen Folgen des fehlenden Versicherungsschutzes können für die Gefangenen aber nicht nur auf dem Gebiet der Krankenversicherung gravierend sein, sondern z.B. auch auf dem Gebiet der Rentenversicherung: Der Eintritt und die Höhe der Versicherungsleistung hängt gem. §§ 54 i.V.m. 50, 63 SGB VI von „rentenrechtlichen Zeiten“ ab, worunter gem. § 54 Abs. 1 SGB VI Beitragszeiten, beitragsfreie Zeiten und Berücksichtigungszeiten fallen. Haftzeiten der normalen Gefangenen sind aber regelmäßig keine Beitragszeiten58, auch werden sie nicht als Berücksichtigungs-, An- und Zurechnungszeit gem. §§ 57 ff SGB VI angesehen 59, so dass sie versicherungsrechtlich wertlos sind. Die Mindestversicherungszeit, die erforderlich ist, um eine Anwartschaft auf Zahlung derjenigen Renten zu erwerben, die als Basissicherung der gesetzlichen Rentenversicherung verstanden werden, d.h. vor allem von Regelaltersrenten und Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, beläuft sich auf fünf Jahre60. Zahlt ein Versicherter weniger als fünf Jahre Beiträge – und liegt kein Ausnahmefall einer vorzeitigen Wartezeiter56
57
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59 60
Romkopf/Riekenbrauck in: Schwind/Böhm, StVollzG-Kommentar, 1999, § 59 Rdn. 6. Zu gescheiterten Reformversuchen vgl. die Darstellung bei Feest, AK-StVollzG, 2000, vor § 190 Rdn. 1. BSG NJW 1989, 190 ff; Götte, Die Mitbetroffenheit von Kindern und Ehepartnern von Strafgefangenen, 2000, S. 124. BSG NJW 1989, 190, 191. Kreikehohm/v.Koch in: Schulin, Hdb. des Sozialversicherungsrechts Bd. III, 1999, § 29 Rdn. 16.
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füllung nach § 53 SGB VI vor – besteht für ihn noch kein Anspruch auf Gewährung einer Rente. Für diese Fälle, in denen aus den Beiträgen eine Rentenleistung nicht erbracht werden kann, sieht das SGB VI in § 210 die Erstattung der gezahlten Beiträge vor, so dass die vom Versicherten erbrachten Versicherungsbeiträge für diesen nicht verloren sind. Dennoch ist es für ihn regelmäßig ungünstiger, die Summe seiner Beiträge auf einmal zurückerstattet zu bekommen, als im Rahmen des Solidarsystems „Rentenversicherung“ eine dauerhafte Alterssicherung zu erlangen, die in der Summe der Rentenzahlungen die Summe seiner Beiträge weit übersteigen kann. Fehlt einem Gefangenen gerade die Zeit der Inhaftierung, um fünf Versicherungsjahre zu erlangen, kann die versicherungslose Haftzeit zwar nicht zum Verlust der eingezahlten Beiträge führen, für das Bestehen bzw. Nichtbestehen eines Rentenanspruchs aber entscheidend sein. Bei älteren Gefangenen wird solch eine Situation im Einzelfall durch § 14 BSHG verhindert, wonach der Sozialhilfeträger als Hilfe zum Lebensunterhalt die Kosten übernehmen kann, die erforderlich sind, um die Voraussetzungen eines Anspruchs auf eine angemessene Alterssicherung zu erfüllen. Vor allem aber für die Höhe der Leistungen ist die Dauer der Beitragszahlungen maßgeblich, da gem. § 63 Abs. 1 SGB VI die Summe der während des Versicherungslebens eingezahlten Beiträge die Rentenhöhe bestimmt. Liegt kein Ausnahmefall der freiwilligen Versicherung oder schon bestehender Rentenansprüche vor, sind die Haftzeiten als versicherungslose Zeiten für die Höhe der Rente daher immer von Bedeutung. Gravierende Nachteile können sich für Gefangene aber vor allem auch aus der Regelung des § 43 SGB VI ergeben, wonach ein Anspruch auf Erwerbsminderungsrente neben der allgemeinen Wartezeit erfordert, dass der Versicherte in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit gezahlt hat. Da der Gefangene während seiner Haftzeit regelmäßig keine Pflichtbeiträge bezahlt, kann ihn die Haftzeit um seinen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente bringen. Dauert die Haftzeit länger als zwei Jahre und tritt die Erwerbsminderung kurz nach der Haftentlassung ein, hat der Gefangene seinen Anspruch verloren, ohne dass er aus eigener Kraft etwas dagegen hätte tun können. Aufgrund dieser den Gefangenen deutlich benachteiligenden Sondersituation im Strafvollzug erscheint es unverhältnismäßig, die Sonderregelung des § 43 SGB VI uneingeschränkt auf Gefangene anzuwenden. Neben diesen rentenversicherungsrechtlichen Nachteilen ist der Gefangene auch bei der Pflegeversicherung benachteiligt: Aufgrund der gem. § 20 Abs. 1 S. 1 SGB XI bestehenden Akzessorietät der gesetzlichen Pflegeversicherung zur gesetzlichen Krankenversicherung ist der Großteil der Gefangenen während des Vollzugs nicht krankenversichert auch nicht pflegeversichert. Die ihm dadurch entgangenen versicherungsrechtlichen Zeiten können im Einzelfall für das Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen nach § 33 Abs. 2 SGB XI maßgeblich sein. Da die Pflegeversicherung in § 25 Abs. 1 SGB XI eine Familienversicherung beinhal-
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tet, können die versicherungslosen Zeiten des Inhaftierten zudem auch auf dessen Angehörige durchschlagen. Da die Pflegeversicherung in der Regel aber erst im Alter ihre Wirkung zeigt, sind gerade Kinder eines Inhaftierten nicht derart konkret von dem Verlust des Versicherungsschutzes betroffen, wie dies bei der Krankenversicherung der Fall ist. Sie haben noch die Möglichkeit, durch eigene langjährige Erwerbstätigkeit ausreichend Wartezeiten für die Pflegeversicherung anzusammeln und so ihren Versicherungsschutz zu sichern. Anders kann es sich dagegen z.B. bei der Ehefrau des Inhaftierten verhalten, der durch die versicherungslose Zeit entscheidende Wartejahre verloren gehen können, die sie möglicherweise nicht mehr ausgleichen kann. Kann die fehlende Integration der arbeitenden Gefangenen in wichtige Zweige des Sozialversicherungssystems angesichts des Resozialisierungsgebots aber überhaupt rechtmäßig sein? Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist die fehlende Integration der Gefangenen in das allgemeine Sozialversicherungssystem zwar mit der Verfassung vereinbar, da es in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers liege, ob er Gefangenen sozialversichersicherungsrechtliche Vorteile zukommen lasse oder nicht61. In seiner Entscheidung von 1998 hat das Bundesverfassungsgericht aber vorgeschlagen, den Gefangenen als nicht-monetären Teil ihrer Arbeitsentlohnung eine sozialversicherungsrechtliche Anwartschaft zu gewähren. Leider hat der Gesetzgeber diesen Vorschlag nicht aufgegriffen, sondern sich statt dessen für eine Entgeltneuregelung entschieden, die keinerlei Vorteile bzgl. der sozialversicherungsrechtlichen Absicherung der Gefangenen bringt, sondern auf nicht-monetärem Gebiet Freistellungstage von der Arbeit bzw. vorzeitige Entlassung, auf monetärem Gebiet nur eine Erhöhung von 5 auf 9 % der Bezugsgröße beinhaltet62. Die in der Neuregelung enthaltene nur geringe Erhöhung der monetären Entlohnung bedeutet, dass dem Gefangenen weiterhin die finanziellen Mittel fehlen, um seinen sozialen Verpflichtungen nachzukommen und sozialversicherungsrechtliche Sicherungen für sich und seine Angehörigen zu erhalten. Nicht zu bestreiten ist zwar, dass Anstaltsarbeit unabhängig von möglichen Leistungssteigerungen der Gefangenen aufgrund der hohen Bewachungskosten ein Zuschussbetrieb für die Vollzugsbehörde ist, der nur aufgrund der resozialisierungsfördernden Wirkung, die der Anstaltsarbeit zukommen soll, aufrechterhalten wird. Dennoch wäre generell eine kostenintensivere Entlohnung, die sozialversicherungsrechtliche Anwartschaften ermöglicht oder beinhaltet, durchaus wünschenswert. Könnten so Haftfolgelasten für den Gefangenen und seine Familie verhindert werden, wäre das auch im Interesse des Staates, da dadurch möglicherweise weiterer sozialer Abstieg und dauerhafte Abhängigkeit von Sozialhilfe vermieden werden könnten. In den §§ 191 bis 193 i.V.m. § 198 Abs. 3 StVollzG ist eine sozialversicherungsrechtliche Integration der Gefangenen vorgesehen. Für 61 62
BVerfG NJW 1998, 3337, 3338. Vgl. dazu die ausführliche Darstellung bei Kirschke, Medizinische Versorgung im Strafvollzug, 2003, S. 207 ff.
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die Umsetzung bedarf es jedoch noch eines besonderen Bundesgesetzes. Da in § 198 StVollzG kein Umsetzungszeitraum vorgesehen ist, ist – angesichts knapper öffentlicher Kassen – in absehbarer Zukunft auch nicht mit einer Umsetzung der Vorgaben zu rechnen.
IV. Fazit Insgesamt hat der Freigänger sowohl rechtlich als auch praktisch eine bessere Stellung auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge inne als der normale Gefangene. Die dem Freigänger durch seine Leistungsansprüche gegen die Krankenkasse zustehende gute medizinische Versorgung ist auch sehr zu begrüßen: es ist die einzig sachgerechte Lösung, Freigängern – denen aufgrund ihrer weit fortgeschrittenen charakterlichen Festigkeit eine möglichst weitgehende Eingliederung in die Freiheit ermöglicht werden soll, und bei denen keine Sicherheitsbedenken bestehen, eigenständig einen externen Arzt aufzusuchen – die Gleichstellung mit ihren Arbeitskollegen auch auf medizinischem Bereich zu ermöglichen. Doch rechtfertigt dies nicht generell eine Schlechterstellung der sonstigen Gefangenen, da diesen entsprechend dem Angleichungsgrundsatz eine Versorgung nach externen Standards zukommen soll, soweit keine vollzugsbedingten Gründe entgegenstehen. Entsprechend den vorangehenden Ausführungen ist daher in Bezug auf die Versorgung mit Hilfsmitteln, die Krankenhausbehandlung und die Möglichkeit, ausgangsgeeignete und psychisch kranke Gefangene einen Arzt ihrer Wahl aufsuchen zu lassen, eine Anpassung der Vollzugsgesundheitsfürsorge an die Versicherungsstandards erforderlich. Aus dem Verfassungsgebot der Rechts- und Sozialstaatlichkeit in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG folgt die Verpflichtung des Staates, die Interessen des Gefangenen zu wahren und die hierfür notwendigen gesetzlichen Regelungen zu erlassen63. Um dieser Verpflichtung gerecht zu werden, sollte der Gesetzgeber, wie in den § 191 i.V.m. § 198 Abs. 3 StVollzG schon vorgesehen, so bald wie möglich die Gefangenen in das normale Gesundheitssystem – sei es auch als Teil des Arbeitsentgelts – integrieren oder zumindest den Standard im StVollzG angleichen, und so die nicht gerechtfertigten Schlechterstellungen der normalen Gefangenen beseitigen. Insgesamt wäre ein umfassender Sozialversicherungsschutz aller Gefangener – und damit zusammenhängend auch der Angehörigen – eine äußerst sinnvolle Investition. Auf diese Weise könnte für eine bessere soziale Absicherung der Gefangenen nach ihrer Entlassung gesorgt und gleichzeitig einem sozialen Abstieg der dazugehörenden Angehörigen schon während der Zeit der Inhaftierung vorgebeugt werden. Eine baldige Umsetzung der Vorgaben in den §§ 191 i.V.m. § 198 Abs. 3 StVollzG erscheint daher unter dem Aspekt „Vorbeugen ist besser als Heilen“ unerlässlich. 63
BVerfGE 98, 169, 180.
Statement Görg Haverkate
I. Der Anlayse von Frau Kirschke zur sozialversicherungsrechtlichen Situation der Häftlinge stimme ich in allen prinzipiellen Fragen zu.
II. Die Gedankenverbindung Strafvollzug und Sozialversicherung ist nicht willkürlich gewählt, sondern vom Gesetzgeber selbst programmatisch entwickelt. Vom Ziel des § 2 StVollzG führt eine unmittelbare Spur zur Sozialversicherung. Der Gesetzgeber hat diese Spur gelegt: er hat ein Arbeitsentgelt angekündigt, das es ermöglichen sollte, zum Lebensunterhalt seiner Angehörigen beizutragen, einen Tatschaden wieder gut zu machen, Ersparnisse für die Zeit nach der Haft zurückzulegen. Zu einem solchen Arbeitsentgelt ist es aber nicht gekommen. Die Höhe des Entgelts sollte sich (jedenfalls auch) an einer sozialversicherungsrechtlichen Bezugsgröße orientieren. Angekündigt war vom Gesetzgeber die Einbeziehung der Strafgefangenen in die gesetzliche Krankenversicherung und in die gesetzliche Rentenversicherung – wenn auch erst nach einer besonderen gesetzlichen Regelung; diese Regelung ist ausgeblieben. Da die Arbeitsentgelte so blieben, wie sie waren, und die Sozialversicherung für alle Häftlinge nicht zu Stande kamen, mussten die Ungleichheiten zwischen den normalen Häftlingen und den als Arbeitnehmer beschäftigten (und damit sozialversicherten) Freigängern zum verfassungsrechtlichen Thema werden.
III. Die Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 1.7.1998 setzt an bei einer verfassungsrechtlichen Verbindlichkeit des Resozialisierungsgedankens – bei einem verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgebot; sie stellt fest, dass die Umsetzung dieses Gebots ein „Torso“ geblieben sei – und belässt es dabei. Konsequenzen werden nicht gezogen: das Grundgesetz verpflichte den Gesetzgeber, ein wirksames Konzept der Resozialisierung zu entwickeln; dabei habe er einen
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Görg Haverkate
weiten Gestaltungsraum. Arbeit im Strafvollzug als Pflichtarbeit sei nur dann ein wirksames Resozialisierungsmittel, wenn die geleistete Arbeit angemessene Anerkennung finde; diese Anerkennung müsse nicht notwendig finanzieller Art sein, wenn die Pflichtarbeit aber nur oder hauptsächlich finanziell entgolten werde, könne dies zur verfassungsrechtlich gebotenen Resozialisierung nur beitragen, „wenn dem Gefangenen durch die Höhe des ihm zukommenden Entgelts in einem Mindestmaß bewusst gemacht werden kann, dass Erwerbsarbeit zur Herstellung der Lebensgrundlage sinnvoll ist“. Das ist ein reichlich verquälter Text. Das Urteil belässt es beim Status quo – aber mit schlechtem Gewissen. Freigestellt blieb es dem Gesetzgeber auch, ob er die Gefangenen in die Sozialversicherung einbeziehen wollte. Zwar könne der Gesetzgeber die Verrichtung von Pflichtarbeit auch in der Weise anerkennen, dass er die Gefangenen in den Schutz der sozialen Sicherungssysteme einbeziehe. Es stehe aber grundsätzlich in seiner Gestaltungsmacht, Art und Umfang sozialer Sicherungssysteme und den Kreis der hierdurch berechtigten Personen nach sachgerechten Kriterien zu bestimmen. Der Gesetzgeber sei nicht gehalten, jede in Betracht kommende Beschäftigung am Schutz der Sozialversicherung teilnehmen zu lassen.
IV. Die Einbeziehung aller Häftlinge in die Sozialversicherung aus Resozialisierungsgründen ist wohl auf absehbare Zeit nicht vom Gesetzgeber zu erwarten. Wir scheinen heute wohl weiter denn je von den Ansätzen entfernt zu sein, die im Strafvollzugsgesetz von 1976 zum Ausdruck gekommen sind. Es ist nicht meines Faches zu beurteilen, ob und inwieweit – wenn es denn zu einer grundsätzlichen Einbeziehung käme – eine völlige Gleichstellung von arbeitenden Häftlingen und den sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmern tunlich und praktikabel wäre. Freie Arztwahl der Versicherten und Strafvollzug – hier gibt es unübersehbare Spannungen. Ist jeder niedergelassene Arzt in der Lage, die Besonderheiten des Strafvollzugs angemessen zu berücksichtigen? Ich glaube, es besteht Einigkeit, dass anstaltliche Rechtsverhältnisse hier ihre Besonderheiten haben.
V. Das Bundesverfassungsgericht hat seine Prüfung am verfassungsrechtlichen Resozialisierungsgedanken festgemacht, auf die Gleichheitsfrage ist es nur nebenbei und ohne große Problematisierungen eingegangen. Ich sehe ein Verdienst von Frau Kirschke darin, dass sie diese Gleichheitsprüfung nachgeholt hat und insbesondere die Gleichheit zwischen normalen Gefangenen und Freigängern behandelt. Freigänger sind von der Sozialversicherung erfasst, die übrigen Häftlinge sind in der Obhut der staatlichen Heilfürsorge; Frau Kirschke sieht keinen sachli-
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chen Grund für diese differenzierende Behandlung der beiden Gruppen, vor allem keinen Grund, der dem Angleichungsgebot des § 3 Abs. 1 StVollzG stand halten würde: „Das Leben im Vollzug soll den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden.“ Nun ist das ganze Sozialrecht sozusagen eine Textur von Gleichheitsfragen. Die eine Gruppe ist einbezogen in die Sozialversicherung, warum nicht auch die andere Gruppe? Die Einen bekommen den sozialen Schutz der Sozialversicherung – warum nicht auch die Anderen? Insofern ist es völlig in Ordnung, wenn die Frage gestellt wird: die Freigänger sind in der Sozialversicherung – warum nicht auch die anderen Strafgefangenen? Gibt es hier einen sachlichen Grund? Einen sachlichen Grund für die Differenzierung finden wir nicht, wenn wir auf den vollzugsrechtlichen Angleichungsauftrag schauen. Anders ist es, wenn wir nach sozialrechtlichen Kriterien fragen. In der Sozialversicherung sind grundsätzlich die abhängig Beschäftigten versichert, die anderen Gruppen nicht. Das Entscheidende ist das Arbeitsverhältnis. Die Zentralfigur unserer Sozialversicherung ist der Arbeitnehmer. Damit ist über die Schutzbedürftigkeit anderer Gruppen nichts gesagt, aber der Gleichheitssatz gibt keine Handhabe, ihre Einbeziehung in die gesetzliche Sozialversicherung zu erzwingen. Denken sie nur etwa an diejenigen Jugendlichen, die keinen Arbeitsplatz finden. Die Arbeitslosigkeit der Jugendlichen bis 25 Jahre ist doppelt so hoch wie bei den Älteren. Sie bekommen nicht einmal die Eintrittskarte in die „normale“ soziale Sicherung, in die Sozialversicherung. Und doch ist man sich einig: es gibt keinen Anspruch auf Einbeziehung in die Sozialversicherung – mag eine solche Einbeziehung auch in höchstem Maße wünschenswert sein. So ist das Resümee: die Sozialversicherung aller Häftlinge ist rechtspolitisch durchaus wünschenswert, verfassungsrichtig geboten ist sie aus Gleichheitsgründen hingegen nicht. Wenn Bewegung in diese Sache kommen mag, dann wahrscheinlich nicht vom Strafvollzugsrecht her, sondern vom Sozialrecht. Es findet im Augenblick eine heftige Strukturdebatte über die künftige Gestalt der Sozialversicherung statt. Einführung von Grundsicherungselementen; Umstellung auf ein Prämienmodell; Einbeziehung anderer Einkommensarten und damit eine tendenzielle Lockerung des Zusammenhangs von Sozialversicherung und abhängiger Beschäftigung; Einbeziehung von Gruppen, die bislang nicht von der Sozialversicherung erfasst worden sind, von Beamten, von Selbstständigen, aber auch von Sozialhilfeempfängern – im Umkreis dieser Überlegungen mag es zu Lösungen kommen, die auch die soziale Sicherung aller Häftlinge verändern könnte. Aber das ist ein weites Feld.
Psychisch Kranke im Strafvollzug Klaus Foerster
I. Einleitung Aufgrund internationaler Studien steht fest, dass die Prävalenz psychischer Störungen im Justizvollzug im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung deutlich erhöht ist (Andersen 2004, Andersen et al. 2000, Bland et al. 1990, Brinded et al. 2000, Brook et al. 1996, Dvoskin und Steadman 1989, Fotiadou et al. 2004, Gunn et al. 1991, Teplin 1990). Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass dies in Deutschland anders sein könnte. Allerdings gibt es in Deutschland bislang keine methodisch fundierten und umfassenden Studien zur Prävalenz psychischer Störungen im Justizvollzug (Konrad 2003). Bisher liegen Studien an kleineren Populationen vor, die weder für die Bundesrepublik Deutschland noch für ein einzelnes Bundesland repräsentativ sind. Daher existieren derzeit in Deutschland keine aktuellen Daten, die eine sinnvolle Versorgungsplanung für psychisch Kranke im Strafvollzug ermöglichen würden. Somit kann auch die Frage nicht beantwortet werden, ob es zu einer Zunahme psychischer Störungen bei Inhaftierten gekommen ist. Die in Deutschland, ähnlich wie in Österreich zu hörenden Klagen mancher Psychiater, dass unangenehme und schwierige Patienten der Psychiatrie via Kriminalisierung in den Justizvollzug „abgeschoben“ werden, beziehen sich auf Einzelfälle und sind nicht zu verallgemeinern. Das Diagnosespektrum reicht von Belastungs- und Anpassungsstörungen als Reaktion auf die psychosoziale Situation im Vorfeld einer Verhaftung und auf die Inhaftierung selbst bis zu gravierenden überdauernden psychischen Störungen, die bereits vor der Tat und vor der Haft bestanden. Die Prävalenzzahlen in den internationalen Studien liegen zwischen 5 % und 37 %. Für eine adäquate und sinnvolle Betreuung einer derart hohen Zahl psychisch gestörter, teilweise psychisch schwer kranker Menschen ist eine Justizvollzugsanstalt nicht gerüstet. Dies gilt sowohl für die Unterbringung wie für die Versorgung wie für die Beaufsichtigung und Betreuung unter personellen und materiellen Aspekten (Hoffmann 2000). Dies gilt selbst für die wenigen psychiatrischen Abteilungen innerhalb des Justizvollzuges, die in Deutschland existieren, nämlich in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin und Sachsen. Grundsätzlich ist im Vergleich dieser Einrichtungen mit den allgemeinpsychiatrischen Einrichtungen festzuhalten, dass die Allgemeinpsychiatrie über eine bessere personelle Ausstattung, einen höheren Ausbildungsstand des
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Personals und ein adäquateres Therapieangebot verfügt (Konrad und Missoni 2001). Die Betreuung psychisch kranker Häftlinge ist eine Aufgabe sowohl für die Justizvollzugsanstalten wie für die Psychiatrie innerhalb des Vollzuges, die offenbar mit den bislang und derzeit zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht adäquat lösbar ist (Frottier et al. 2000). Diese Feststellung ist auch deshalb brisant, da weltweit die Zahl inhaftierter Menschen und damit auch die Zahl psychisch kranker oder auffälliger Häftlinge zunimmt (Andersen 2004). Aus der Sicht des Justizvollzuges wird z.B. für Nordrhein-Westfalen von einer geradezu dramatischen Unterversorgung gesprochen (Witzel et al. 2004). Aus diesen Überlegungen ergeben sich für die Situation in Deutschland zwei Fragen: Liegt die Prävalenz psychischer Störungen im Justizvollzug in Deutschland in der Größenordnung der internationalen Ergebnisse und ist innerhalb des Vollzuges eine sinnvolle Behandlung und Betreuung dieser Patienten möglich? Die Beantwortung beider Fragen, selbst in Ansätzen, ist jedoch nur möglich, wenn sowohl seitens des Justizvollzuges wie seitens der Psychiatrie Interesse hieran besteht. Da es sich um ein klassisches interdisziplinäres Problem handelt, ist es natürlich leicht, die Verantwortlichkeiten zu verschieben. Bei einem Blick in die nicht allzu ferne Vergangenheit zeigt sich, dass die Situation vor über 20 Jahren in sehr ähnlicher Weise geschildert wurde, ohne dass sich bis heute eine grundlegende Änderung ergeben hätte (Binswanger 1979). Aus psychiatrischer Sicht ist sachlich am ehesten die forensische Psychiatrie zuständig. Bekanntlich sind die Ressourcen der forensischen Psychiatrie sowohl im Maßregelvollzug wie im Bereich der Begutachtung jedoch so schlecht, dass die Übernahme zusätzlicher Aufgaben für den Justizvollzug nur bei einer entsprechenden strukturellen Verbesserung möglich wäre. Die allgemeine klinische Psychiatrie hat am Problem psychisch kranker Häftlinge keinerlei Interesse. Diese Patienten werden primär als „Kriminelle“ gesehen und nicht auch als psychisch kranke Menschen, für die auch die Psychiatrie zuständig ist. Die Aversion mancher maßgeblicher Fachvertreter geht im Moment so weit, dass bereits der forensischen Psychiatrie das Recht abgesprochen wird, noch zur Psychiatrie zu gehören. Es ist leider immer noch nicht zur Kenntnis genommen worden, dass die Betreuung psychisch kranker Straftäter, sei es im Maßregelvollzug oder im Justizvollzug, auch eine Form angewandter Sozialpsychiatrie ist. Auch auf Seiten des Justizvollzuges ist – von engagierten Einzelkämpfern abgesehen – das Interesse an diesen Fragen kaum größer als in der Psychiatrie. Dabei sollte in Anbetracht der Zunahme der Strafgefangenen in Deutschland und der internationalen Feststellungen über die hohe Prävalenz psychischer Störungen genügend Anlass gegeben sein, sowohl Kenntnisse über die Prävalenz in Deutschland zu gewinnen als auch die bestehenden Versorgungsstrukturen zu verbessern. Bislang ist es jedoch so, dass es in der Regel darum geht, akute Zuspitzungen, aktuelle Verhaltensstörungen und eventuelle suizidale Krisen bei psychisch kran-
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ken Strafgefangenen abzufangen (Hoffmann 2000). Eine aktuelle Studie aus Nordrhein-Westfalen (Witzel et al. 2004) gelangte zu dem Ergebnis, dass es innerhalb des Justizvollzuges derzeit nur um absolut notwendige Notfallbehandlungen akuter psychischer Dekompensation von Häftlingen gehen könne, während die häufig ebenso bestehenden chronifizierten psychischen Störungen weder ausreichend erfasst noch behandelt werden können. Psychisch kranke Häftlinge werden nicht selten als „schwierige Gefangene“ wahrgenommen, was sie häufig tatsächlich auch sind. Auffälligkeiten zeigen sich im Justizvollzug meistens auf der Verhaltensebene, beispielsweise manifest aggressives Verhalten, Selbstbeschädigung bis hin zu suizidalem Verhalten und Suizidversuchen, Intoxikationen, häufige Arbeitsverweigerungen oder Rückzug. Diese Verhaltensauffälligkeiten sind sicherlich nicht in jedem Fall Ausdruck einer psychischen Störung, jedoch sollte in jedem Fall dieser Auffälligkeiten differentialdiagnostisch an eine psychische Störung gedacht werden, d.h. es sollte die Möglichkeit bestehen, dass diese Häftlinge von einem Psychiater gesehen werden. Davon ist der Alltag in den Justizvollzugsanstalten jedoch weit entfernt. Kann es bei der Beschreibung des Ist-Zustandes derzeit nur um eine Auflistung von Defiziten gehen, stellt sich für die Zukunft doch die Frage, ob die Zeit reif ist für Bemühungen um eine Verbesserung. Es ist nämlich zu bedenken, ob Justizvollzugsanstalten für manche psychisch kranke Menschen zur „letzten psychiatrischen Anstalt“ werden könnten, wie dies für Österreich sehr pointiert formuliert wurde (Frottier et al. 2002). Die Erfahrungen in den USA, die mit der Auflösung von psychiatrischen Großkrankenhäusern ohne ausreichende ambulante Nachsorge gemacht wurden, sprechen eindeutig dafür, dass sich chronisch psychisch Kranke im Strafvollzug sammeln können. Auch für Deutschland ist dies keine unrealistische Annahme.
II. Häufigkeit psychischer Störungen im Strafvollzug Die beste und aktuellste internationale Übersicht wurde von Fazel und Danesh (2002) vorgelegt. Die Autoren führten eine systematische Meta-Analyse von 62 Studien durch. Bei diesen Studien berücksichtigten sie Untersuchungen, in denen Erhebungen an unausgewählten Gefängnispopulationen durchgeführt wurden. Die Diagnosegruppen waren psychotische Störungen, schwere depressive Störungen und Persönlichkeitsstörungen. Abhängigkeitserkrankungen wurden leider nicht erfasst. Der Zeitraum der Studie war 1996 bis 2001. Es wurde über 22.790 Gefangene in Strafhaft und in Untersuchungshaft berichtet. Die Studien kamen aus folgenden zwölf westlichen Ländern: Australien, Dänemark, Finnland, Großbritannien, Irland, Kanada, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Schweden, Spanien, USA. Auch in dieser Meta-Analyse zeigt sich das geringe Interesse am Pro-
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blem in Deutschland, Österreich und in der Schweiz, aus denen keine Arbeiten Berücksichtigung fanden. Kurz zusammengefasst ergaben sich folgende Ergebnisse: Unter den männlichen Gefangenen waren 3.7 % an einer psychotischen Störung erkrankt, 10 % hatten eine schwere depressive Störung und bei 65 % wurde eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Bei den weiblichen Gefangenen hatten 4 % eine psychotische Erkrankung, 12 % eine gravierende depressive Störung und bei 42 % lag eine Persönlichkeitsstörung vor. Die Autoren ziehen aus ihrer Untersuchung folgende Schlussfolgerungen: -
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Die früheren Feststellungen einer erhöhten Prävalenz psychischer Störungen im Justizvollzug im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung werden eindeutig bestätigt. Hieraus folgt, dass die Behandlung psychischer Störungen im Justizvollzug eine erhebliche Belastung darstellt. Besonders problematisch ist die Situation psychisch Kranker in den USA, wo sie sich in großer Zahl nicht in psychiatrischen Krankenhäusern, sondern in Haftanstalten befinden. Es sind doppelt so viele psychisch Kranke in Gefängnissen untergebracht wie in psychiatrischen Kliniken (Fazel und Danesh 2002, Kupers 2000). Im Jahre 2001 wies das Justizministerium der USA darauf hin, dass sich in amerikanischen Haftanstalten 280.000 Insassen mit schweren psychischen Störungen befinden (Witzel et al. 2004). Da sich die Zahlen der Meta-Analyse ausschließlich auf Studien aus westlichen Ländern beziehen, können hieraus keine allgemeinen Schlussfolgerungen bezüglich der Situation in anderen Ländern gezogen werden.
Eine aktuelle dänische Studie (Andersen 2004) bestätigt die internationalen Zahlen mit der Ergänzung, dass die Opioidabhängigkeit ein besonderes Problem darstellt. Zusammenfassend stellt der Autor fest, dass sich eine zunehmende Zahl psychisch kranker Häftlinge in Gefängnissen befinde, die weder ausreichend diagnostiziert noch adäquat behandelt werden. Ähnliche Zahlen berichten Fotiodou et al. (2004) aufgrund der Untersuchung in einem griechischen Gefängnis. Diese Ergebnisse lassen sich nicht unmittelbar mit den publizierten deutschen Zahlen vergleichen, da die Rahmenbedingungen und der methodische Ansatz unterschiedlich sind. Dennoch ist es erstaunlich, dass Konrad (2004a) über deutlich höhere Zahlen für psychotische und depressive Störungen im deutschen Justizvollzug berichtet, nämlich 43 % bei den männlichen Gefangenen. Sehr gering ist im Vergleich dazu die Zahl der Persönlichkeitsstörungen mit 15 %, wobei dies den Ergebnissen von Andersen (2004) entspricht. In Anbetracht der bei Gefangenen häufig vorliegenden dissozialen Persönlichkeitsstörung würde man hier höhe-
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re Zahlen erwarten, ganz abgesehen davon, dass auch bei anderen psychischen Störungen, vor allem bei Abhängigkeitserkrankungen, häufig eine Komorbidität mit Persönlichkeitsstörungen vorliegt. Im Gegensatz hierzu fanden Frädrich und Pfäfflin (2000) für Persönlichkeitsstörungen eine im Vergleich zu den Zahlen von Konrad (2004a) deutlich höhere Häufigkeit, nämlich 50 %, was nahezu der MetaAnalyse von Fazel und Danesh (2002) entspricht. In einer eigenen Studie (Schäfer et al. 2004) fanden wir bezüglich der Persönlichkeitsstörungen eine Häufigkeit von 12 % als Hauptdiagnose und 20 % als Nebendiagnose, d.h. als Komorbidität. Die Zahl der psychotischen Störungen lag in unserer Studie mit 31 % deutlich höher als in der internationalen Studie und nähert sich fast den von Konrad (2004a) berichteten Zahlen. Speziell für die Persönlichkeitsstörungen ist zu bedenken, dass es einen breiten Überschneidungsbereich zwischen Justizvollzug und Maßregelvollzug gibt; manchmal mutet es geradezu zufällig an, ob ein Proband mit einer gravierenden Persönlichkeitsstörung im Justizvollzug oder im Maßregelvollzug ist. Es ist auch zu berücksichtigen, dass es möglicherweise je nach Gefangenenstatus – Strafhaft, Ersatzfreiheitsstrafe, Untersuchungshaft – unterschiedliche Prävalenzen psychischer Störungen geben kann (Konrad 2004b). Die in der Meta-Analyse von Fazel und Danesh (2002) nicht erfassten Abhängigkeitserkrankungen sind unter den psychischen Störungen in Strafhaft in den meisten europäischen Ländern und in den USA am häufigsten. Danach folgen die schizophrenen und affektiven Psychosen, während in der ambulanten psychiatrischen Versorgung innerhalb des Justizvollzuges die Anpassungsstörungen dominieren (Konrad 2004b). Aufgrund dieser Ergebnisse ergibt sich aus meiner Sicht zwanglos die Forderung nach der Erhebung von zuverlässigen epidemiologischen Daten zur Klärung der Frage nach der Prävalenz psychischer Störungen im Justizvollzug. Es wird wohl kaum möglich sein, entsprechende Daten für die gesamte Bundesrepublik Deutschland zu gewinnen. Es sollte jedoch angestrebt werden, diese Daten für ein Bundesland oder zumindest für einen Bereich eines Bundeslandes zu gewinnen. Da eine Felduntersuchung sicher an mangelnden Ressourcen scheitern wird, wäre die Durchführung eines Modellprojektes möglich. Hierbei sollten Gefangene, die in irgendeiner Weise, vorzugsweise auf der Verhaltensebene, auffällig sind, durch den allgemeinen Vollzugsdienst erfasst werden. Diese Gruppe sollte dann gezielt psychiatrisch untersucht werden. Dabei ist der persönlichen Untersuchung der Vorzug zu geben vor dem Einsatz von Selbstbeurteilungsbögen (Blocher et al. 2001). Eine solche Erhebung ist kein Selbstzweck, sondern sie hat unmittelbare Relevanz für die Struktur der Versorgung psychisch Kranker im Justizvollzug. Die Durchführung einer solchen Untersuchung habe ich für Baden-Württemberg wiederholt vorgeschlagen, bin dabei allerdings bislang nicht auf Resonanz der Verantwortlichen gestoßen.
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Klaus Foerster
Vermutlich ist die Resonanz auch deshalb ausgeblieben, da sowohl die Durchführung einer solchen Modelluntersuchung wie auch die Verbesserung der Versorgungsstrukturen Kosten verursachen würde. Ein Rückzug auf tatsächlich oder vermeintlich fehlende finanzielle Ressourcen ist jedoch nicht möglich, denn gemäß § 58 StVollzG haben Gefangene Anspruch auf Krankenbehandlung und dies gilt selbstverständlich auch für die Behandlung psychischer Störungen. Um diese adäquat behandeln zu können, müssen sie jedoch zunächst einmal erkannt und identifiziert werden. Damit sind in erster Linie die Verantwortlichen des Justizvollzuges gefordert.
III. Therapeutische Möglichkeiten Hier ist zu differenzieren zwischen stationärer Behandlung und ambulanter Therapie und zwischen unterschiedlichen therapeutischen Möglichkeiten. In der deutschsprachigen Literatur existiert bislang kein allgemein akzeptiertes Konzept für eine stationäre psychiatrische Versorgung im Justizvollzug (Konrad 2004a, b). Demgemäß ist die stationäre psychiatrische Versorgung von Gefangenen regional sehr unterschiedlich. Innerhalb von Justizvollzugsanstalten existieren psychiatrische Abteilungen – wie bereits erwähnt – in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin und Sachsen (Konrad 2003). Aus Nordrhein-Westfalen wurde über sehr positive Erfahrungen im Rahmen eines Modellprojektes in der JVA Werl berichtet (Witzel und Gubka 2002). Die aktuell publizierten Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe belegen eine durchschnittliche ambulante psychiatrische Behandlungsbedürftigkeit von 9.2 % der Gesamtzahl der im Jahresdurchschnitt untergebrachten Häftlinge (Witzel et al. 2004). Bezüglich des Bedarfes kommen die Autoren zum Ergebnis, dass etwa 17.500 ambulante psychiatrische Behandlungen pro Jahr erforderlich wären. Jährlich werden in Nordrhein-Westfalen jedoch weniger als 5.000 ambulante psychiatrische Behandlungen vorgenommen. Hieraus ziehen die Autoren den Schluss, dass offensichtlich mehr als 12.000 eigentlich notwendige ambulante psychiatrische Behandlungen „eingespart“ werden. Es sei daher gerechtfertigt, von einer dramatischen Unterversorgung zu sprechen, wobei die Versorgung von psychisch kranken Häftlingen nicht nur ein medizinischpsychiatrisches, sondern in erster Linie ein politisch-strukturelles Problem sei. Eine stationäre Versorgungseinheit sollte neben der Behandlung sämtlicher akuter psychopathologischer Auffälligkeiten auch die Möglichkeit haben, chronisch erkrankte, meist schizophrene, Patienten längerfristig zu behandeln. Die therapeutische Weiterentwicklung der Psychiatrie hat dazu geführt, dass auch innerhalb des Vollzuges schizophrene Patienten prinzipiell behandelt werden können. Obwohl gemäß § 455 StPO, der von einem Verfall in „Geisteskrankheit“ spricht, eigentlich alle akuten psychotischen Störungen zur Haftunfähigkeit führen müssten, ergibt sich dies nur noch dann, wenn keine angemessene Behandlung mit
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psychopharmakologischen Maßnahmen möglich ist. Dies könnte nur dann der Fall sein, wenn der Patient einer Behandlung nicht zustimmt, die Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung gemäß § 101 StVollzG nicht vorliegen und eine Betreuung mit dem Aufgabenkreis der Gesundheitsfürsorge nicht besteht (Konrad 2004a). Diese Voraussetzungen liegen wohl nur selten vor, sodass auch die Betreuung chronisch psychisch kranker Häftlinge Aufgabe einer stationären Versorgungseinheit innerhalb des Justizvollzugs ist. In der von Fazel und Danesh (2002) vorgelegten Meta-Analyse wurden Abhängigkeitserkrankungen nicht berücksichtigt. Drogenabhängige im Justizvollzug stellen jedoch ein massives Problem dar (Andersen 2004), zumal sich der weitaus überwiegende Anteil drogenabhängiger Straftäter im Regelvollzug und nicht im Maßregelvollzug befindet (Seifert und Leygraf 1999). In Deutschland war im Jahre 1999 13.7 % der gesamten Strafvollzugspopulation wegen Betäubungsmitteldelikten verurteilt (Preusker 2002). Obwohl nahezu 50 % der drogenabhängigen Straftäter zu Beginn der Haft als therapiemotiviert angesehen werden, sind die Wartelisten für die vollzugsinternen Therapieplätze erstaunlicherweise nicht lang. Offenbar werden die vollzugsinternen, geschlossenen Therapieeinrichtungen nicht ausreichend angenommen (Dolde 2002). Neben den stationär behandlungsbedürftigen Patienten gibt es im Justizvollzug, wie in der Allgemeinbevölkerung auch, eine große Zahl von Probanden, die keiner stationären Behandlung bedürfen. Diese sollten im ambulanten Rahmen mit einem adäquaten psychiatrisch-psychotherapeutischen Leistungsspektrum versorgt werden, wobei Kontinuität und ausreichende zeitliche Verfügbarkeit gewährleistet sein müssen (Konrad 2004a). Wichtig ist dabei die Erkenntnis, dass auch im Justizvollzug ambulante Therapien sinnvoll und erfolgreich möglich sind. Dahle et al. (2003) fanden in einer Berliner Studie, dass Straftäter, die in der psychotherapeutischen Beratungs- und Behandlungsstelle der JVA Tegel über mindestens 20 Stunden behandelt worden waren, durchschnittlich 4 Jahre nach der Haftentlassung eine deutlich geringere Rückfallbelastung als eine unbehandelte Vergleichsgruppe hatte, dies vor allem im Hinblick auf gravierende Gewalttaten. Damit trägt die Psychotherapie zur genuinen Aufgabe des Strafvollzuges bei, zukünftige Straftaten zu verhindern. Wie die stationäre Versorgung auch, ist die ambulante Betreuung in Deutschland regional ganz unterschiedlich geregelt, etwa über Kooperation mit einer in der Nähe der Justizvollzugsanstalt gelegenen Maßregelvollzugseinrichtung (Missoni und Konrad 1998) oder einer psychiatrischen Klinik (Hoffmann 2000). Das Kooperationsmodell JVA/Psychiatrische Klinik haben wir im Rahmen einer eigenen kleinen Explorationsstudie untersucht. Dabei ging es uns um die Frage, ob es möglich ist, im Rahmen des Regelvollzuges eine sinnvolle psychiatrische Konsiliartätigkeit auszuüben und ob es durch den psychiatrischen Konsildienst gelin-
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Klaus Foerster
gen kann, psychisch kranke Häftlinge rascher zu identifizieren und sie einer sinnvollen Behandlung zuzuführen (Schäfer et al. 2004).
IV. Kooperation JVA Rottenburg/Sektion Forensische Psychiatrie und Psychotherapie der Psychiatrischen Universitätsklinik Tübingen Die JVA Rottenburg hat ca. 700 Plätze. Dort werden bislang kurze bis mittellange Strafen vollstreckt, in der Regel nicht länger als 4 bis 5 Jahre. Eine Änderung steht ab 2005 an. Die medizinische Versorgung erfolgt durch das Krankenrevier, das personell mit 1.5 Arztstellen und 8 Pflegerstellen besetzt ist. Es besteht eine stationäre Überwachungseinheit mit 6 Betten. Der psychologische Dienst hat drei Stellen, wobei diese Mitarbeiter häufig wechseln. Es besteht ein besonders gesicherter Haftraum für suizidale Patienten. Patienten, die im Rahmen der JVA Rottenburg nicht adäquat behandelt werden können, können in das Justizvollzugskrankenhaus Baden-Württemberg verlegt werden, das neben einer internistischen und chirurgischen Abteilung über eine psychiatrische Abteilung mit Suchtabteilung verfügt. Die Zuweisung zum konsiliarisch tätigen Psychiater (2 bis 3 Stunden pro Woche) erfolgte dann, wenn ein Gefangener im Krankenrevier oder auf der Abteilung in irgend einer Weise als „auffällig“ empfunden wurde. Aus dem Justizvollzugskrankenhaus rückverlegte Patienten wurden generell untersucht. Weitere Wege der Zuweisung an den Psychiater waren die Bitte seitens des psychologischen Dienstes oder der Wunsch des Gefangenen. Jeder Kontakt wurde vom Konsilpsychiater in einem handschriftlichen Bericht dokumentiert, der in der Gesundheitsakte abgelegt wurde. Es ergaben sich folgende Ergebnisse:
1.
Soziale Daten und Haftdaten
Im Beobachtungszeitraum von einem Jahr wurden 77 Gefangene untersucht und behandelt, bei denen es zu 171 Kontakten kam. 60 Akten konnten ausgewertet werden, da die übrigen Gesundheitsakten zum Zeitpunkt der Auswertung in der JVA Rottenburg nicht mehr verfügbar waren. Der Altersdurchschnitt der Probanden betrug 33 Jahre und lag damit geringfügig über dem von Konrad (2004a) mitgeteilten Altersschwerpunkt zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr für Patienten im Justizvollzug.
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151
41 Häftlinge waren Deutsche, 19 Häftlinge kamen aus folgenden Nationen: Serbien, Kosovo, Bosnien, Türkei, Algerien, Italien, Griechenland, Nigeria, Pakistan. Zeitpunkt der Vorstellung: Innerhalb der ersten Woche nach Aufnahme kamen fünf Gefangene, innerhalb des ersten Monates waren es 17 Gefangene, innerhalb des ersten halben Jahres 23 und später als ein halbes Jahr 15 Gefangene.
2.
Diagnosen
Die nach ICD-10 gestellten Diagnosen verteilten sich wie folgt: Bei 21 Gefangenen lag eine Störung durch psychotrope Substanzen vor, d.h. Drogen- und/oder Alkoholabhängigkeit. Das psychopathologische Leitsymptom der suchtkranken Probanden war in der Regel ein depressives Syndrom, ohne dass die Kriterien einer depressiven Episode nach ICD-10 ausreichend erfüllt waren. Vom Schweregrad her ließ sich die Symptomatik am ehesten als Dysthymie klassifizieren. Bei 19 Gefangenen lag eine schizophrene Psychose vor. Damit hatte knapp ein Drittel der Stichprobe eine schizophrene Erkrankung. Dies ist ebenso bemerkenswert wie die Tatsache, dass diese Patienten häufiger eine Suchterkrankung als zweite Diagnose hatten als Gefangene mit anderen Erstdiagnosen. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei dieser Subgruppe um primär psychotisch erkrankte Patienten mit einer zusätzlichen Störung durch psychotrope Substanzen handelt. Möglicherweise war die Suchterkrankung primär auffällig und die psychotische Erkrankung wurde übersehen. Vielleicht gehören diese Gefangenen auch zu einer aus dem Maßregelvollzug bekannten Hochrisikogruppe schizophrener Probanden, bei denen bereits im Kindes- und Jugendalter Substanzmissbrauch bestand. Weitere Merkmale für diese Gruppe sind: Erziehungsversagen der Eltern, frühe Verhaltensauffälligkeiten zu Hause, in der Schule und in der Öffentlichkeit, frühe Diagnose einer Verhaltensstörung, Erstdelinquenz vor Kontakt mit der Psychiatrie sowie Züge einer antisozialen Persönlichkeitsstörung. Schizophrene Erkrankungen können auch einmal dissimuliert werden, wie das folgende Beispiel zeigt: Ein akut schizophren erkrankter Gefangener berichtete, dass ihm von seinem Verteidiger empfohlen worden sei, während der gesamten Hauptverhandlung zu schweigen, um nicht durch psychotisch determinierte Beschimpfungen des Richters einen möglicherweise ungünstigen Verlauf der Hauptverhandlung zu bewirken.
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Klaus Foerster
Affektive Psychosen i.S. einer Major depression haben wir nicht beobachtet. Wie die Ergebnisse von Fazel und Danesh (2002) belegen, gibt es im Strafvollzug aber auch depressive Gefangene. Diese Probanden gelten wohl nicht als auffällig, ziehen sich zurück und werden wegen des depressiven Rückzugs möglicherweise nicht besonders wahrgenommen. Bei den übrigen Gefangenen lagen neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen sowie Persönlichkeitsstörungen vor, wobei es sich hier entsprechend der geringen Zahl um einzelne Fälle handelt. Acht Probanden hatten Suizidgedanken oder zeigten suizidale Handlungen, ein konkreter Suizidversuch kam nicht vor.
3.
Therapie und Verlauf
Das therapeutische Vorgehen bezog sich in Anbetracht der häufig akuten Symptomatik und der kurzen Behandlungszeiträume vorwiegend auf Pharmakotherapie. Bei 41 Gefangenen wurden Psychopharmaka angesetzt oder es wurde die vom Justizvollzugskrankenhaus vorgeschlagene Behandlung fortgesetzt. Sechs Patienten lehnten die vorgeschlagene Medikation strikt ab, wobei fünf dieser Patienten an einer schizophrenen Psychose erkrankt waren. Zum Verlauf können nur rudimentäre Angaben gemacht werden: In 16 Fällen kam es zu einer Zustandsbesserung auf der Symptomebene, in 17 Fällen war keine Veränderung zu beobachten. In den restlichen 27 Fällen war der Verlauf leider nicht zu beurteilen, da die Gefangenen auf Folgekontakte verzichteten, verlegt wurden oder entlassen waren. Derzeit wird in der Außenstelle Tübingen der JVA Rottenburg eine Nachfolgestudie mit der Frage durchgeführt, ob eine entsprechende konsiliarische psychiatrische Mitbetreuung auch im Rahmen der Untersuchungshaft sinnvoll ist.
4.
Folgerungen
Soweit aufgrund der kurzen Beobachtungszeit und der geringen Fallzahl Folgerungen überhaupt gezogen werden können, sind aus unserer Sicht folgende Überlegungen gerechtfertigt: Es besteht im Regelvollzug offenbar ein Bedarf nach psychiatrischer Mitbetreuung, wobei diese im Rahmen einer Justizvollzugsanstalt durch konsiliarische Tätigkeit sinnvoll durchgeführt werden kann. Gravierende psychische Erkrankungen können dadurch schneller erkannt und einer adäquaten Behandlung zugeführt
Psychisch Kranke im Strafvollzug
153
werden. Neben der rascheren Diagnosestellung ist offenbar auch eine sinnvolle Behandlung möglich und durchführbar, wie dies auch von Witzel et al. (2004) gezeigt wurde. Wie die Ergebnisse der Berliner Studie (Dahle et al. 2003) belegen, kann auch eine ambulante Psychotherapie im Rahmen des Regelvollzuges sinnvoll und mit guten Ergebnissen durchgeführt werden. Kritisch zu fragen ist, ob sich die klinische Psychiatrie ihrer Verantwortung für diese Patienten überhaupt bewusst ist. In Anbetracht des bislang fehlenden Interesses und des ebenso fehlenden Engagements muss diese Frage verneint werden, wobei es sich hier um eine Erfahrung handelt, die für den forensischen Psychiater leider nicht neu ist. Menschen mit psychischen Störungen und Straftaten sind in der allgemeinen klinischen Psychiatrie ebenso ungern gesehen wie in der allgemeinen Bevölkerung.
V. Folgerungen Aus den vorgetragenen Überlegungen lassen sich vier Folgerungen ableiten: -
-
-
-
Es besteht dringender Bedarf an der Kenntnis epidemiologischer Daten bezüglich der Häufigkeit psychischer Störungen und der Diagnoseverteilung im Justizvollzug für die Bundesrepublik Deutschland. Innerhalb des Regelvollzuges sind sowohl stationäre wie ambulante, sowohl psychiatrische wie psychotherapeutische Behandlungen möglich und sinnvoll. Neben der Symptomverbesserung dienen psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlungen bzw. Mitbehandlungen auch der Suizidprophylaxe, zumal zu bedenken ist, dass die Suizidrate im Justizvollzug gegenüber der Allgemeinbevölkerung deutlich erhöht ist (Frottier et al. 2002, Konrad 2002). Zu wünschen ist die obligate Etablierung einer regelmäßig verfügbaren und angemessenen ambulanten psychiatrisch-psychotherapeutischen MitBetreuung in allen Justizvollzugsanstalten, entweder durch justizeigene Fachärzte oder durch regelmäßige psychiatrische Konsildienste mit Klärung der Kooperationsmöglichkeiten (psychiatrische Klinik/ Maßregelvollzugsklinik/ ambulante Dienste). Verbesserung der Kenntnisse der im Justizvollzug tätigen Ärzte und Pfleger sowie des allgemeinen Vollzugsdienstes hinsichtlich des Erkennens und der Therapiemöglichkeiten psychischer Störungen.
Aufgrund der vorgetragenen Ergebnisse kann es nicht um die Frage gehen, ob eine psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung bzw. Mitbehandlung im Regelvollzug erforderlich ist, sondern ausschließlich darum, wie eine solche Behandlung strukturiert und organisiert werden muss. Gefangene dürfen im Hinblick auf die medizinische Behandlung nicht schlechter gestellt werden als die Allgemeinbevölkerung. Justiz und Psychiatrie sind aufgefordert, sich ihrer Verantwortung
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Klaus Foerster
nicht zu entziehen, damit psychisch Kranke im Strafvollzug nicht länger eine vergessene Gruppe bleiben.
Psychisch Kranke im Strafvollzug
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156
Klaus Foerster
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Statement Hans Eugen Bisson
I. Einleitung Die Darlegungen und mehr als berechtigten Forderungen Herrn Professor Foersters möchte ich veranschaulichen durch einige epidemiologische Daten des ersten Halbjahres 2004 aus der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Neurologie am Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg, dem zentralen Krankenhaus Baden-Württembergs für die stationäre Diagnostik und Behandlung, und mit einigen wenigen, kurzgefaßten Aspekten praktischer Relevanz und Überlegungen zum diskursiven Horizont jenseits von Paragraphen und wissenschaftlicher Dogmatik verbinden.
II. Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Neurologie am Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg Zwei Stationen dienen der umfassenden Diagnostik, Akut- und Intensivbehandlung akuter Erkrankungen aus dem gesamten allgemeinpsychiatrischen Spektrum und der Suchtkrankheiten. In einer dieser Stationen besteht eine kleine neurologische Betteneinheit. Eine Station versorgt schwerpunktmäßig Patienten mit länger dauernden psychotischen Erkrankungen mit der therapeutischen Zielsetzung der Bewältigung der akuten Krankheitsphase, der Entwicklung eines Krankheitskonzepts mit kognitiv verhaltenstherapeutischen Ansätzen, Psychoedukation und sozialem Kompetenztraining, Ergotherapie sowie Bewegungstherapie. In einer Suchtstation mit einjähriger Entwöhnungstherapie und Deliktverarbeitung kognitiv verhaltenstherapeutischer Orientierung mit Gruppen- und Einzeltherapie, Indikationsgruppen sowie Ergo-, Arbeits-, Sport- und Bewegungstherapie werden Patienten mit substanzgebundenen Abhängigkeitsstörungen und Persönlichkeitsstörungen behandelt.
160
Hans-Eugen Bisson
Alle Stationen arbeiten mit externer Supervision in einem multiprofessionellen Team von Ärzten, Psychologen, Krankenpflegern, Sozialarbeitern, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten und einem Bewegungstherapeuten.
III. Ausgewählte epidemiologische Daten und zur Versorgungssituation psychisch Kranker im JVKH Bei denkbar schlechter Strukturqualität (Architektur, Personalmangel weit unter PsychPV u.a.m.) wird eine ständige Optimierung der Prozeßqualität angestrebt. Die Ergebnisqualität ist häufig von vollzugsimmanenten Faktoren beeinflußt, unbefriedigend für Behandler wie Patienten. Die meisten Patienten des JVHK kommen aus der JVA Stuttgart, der großen Untersuchungshaftanstalt des Landes (vgl. Abb. 1). Der hohe Anteil an U-Häftlingen unterstreicht auch die Pathogenität der U-Haft. Zu wenig wird in der Praxis die psychotraumatologische Bedeutung der Haft und der Tat für den Täter reflektiert. Mehr dazu später.
Herkunfts-JVA der Pat. JVKH 01.01.-30.06.04
16 15 14 13 12 11
Prozent
10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 im he fs ho sc bi er ub Ta uth re ay im B he ils g ra C ber on Le nz le ob K ch a rr Lö l eh K e pi l ra üh B lthe a zi m en So ei eng i zh or t-T Pf h u ds z al W ta n s on K n e ng r f Si do rn n be O ng e a m lw e i El nh de en ei H ing h ec H eil tw g . ot R bur hw n Sc ffe n _ O e ng lli Vi lm e n U ng bi Tü tt ta eim as nh R d se ün ch m Sa u -G la sch is K äbi hw l Sc s a ch ru B urg g b ur ei Fr nsb e e av R ruh ls rg ar K lbe de ei im H he ls n de A ron lb m ll ei H hei -Ha h n an sc M äbi hw im Sc she m rg ei H nb u te ot rt R a tg ut
St
Abb. 1
Statement
161
Unsere Patienten besitzen unterschiedliche Staatsangehörigkeiten (vgl. Abb. 2). Dies weist auf die Bedeutung transkultureller Aspekte in der psychiatrischen Diagnostik und die Problematik der Psychiatrie der Migration hin.
Staatsangehörigkeit der Pat. JVKH 01.01.-30.06.04
70 65 60 55 50
Prozent
45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 Portugal
USA
Spanien
übriges Afrika
Gambia
Serbien
Armenien
Kosovo
Tadschikistan
Afghanistan
Litauen
Österreich
Ghana
Niederlande
Israel
Thailand
Bosnien-Herzog.
Großbrittanien
Marokko
Kongo
China/Tibet
Mazedonien
Indien-Sikkim-Goa
Aserbaidschan
Kamerun
Vietnam
Kasachstan
Tschechien
Iran
Liberia
Ägypten
Libanon
unklar
Russ.Förderation
Rumänien
staatenlos
Kroatien
Tunesien
Nigeria
Sierra Leone
Albanien
Frankreich
Irak
Serbien-Monten.
Restjugoslawien
Georgien
Polen
Griechenland
Algerien
Deutschland
Italien
Türkei
Abb. 2
Die Altersverteilung unserer Patienten über die drei medizinischen Abteilungen des JVKH (Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Neurologie, Innere Medizin, Chirurgie) ist in Abb. 3 dargestellt. Wir beobachten in den letzten zwei Jahren eine Zunahme altersbedingter Erkrankungen sowohl in der Psychiatrie wie der Inneren Medizin, eine Aufgabe, auf die der Justizvollzug sich vorbereiten muß. Die in Abb. 4 dargestellte Geschlechterverteilung unserer Patienten entspricht in etwa der des Regelvollzugs.
162
Hans-Eugen Bisson
Alter der Pat. JVKH 01.01.-30.06.04
5,0%
4,5%
4,0%
Prozent
3,5%
3,0%
2,5%
2,0%
1,5%
1,0%
0,5%
0,0% 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 68 69 73 76 77 78 81 90
Alter in Jahren
Abb. 3
Geschlecht der Pat. JVKH 01.01.-30.06.04
100%
90%
80%
Prozent
70%
60%
50%
95,2%
40%
30%
20%
10%
4,8%
0%
Männer
Abb. 4
Geschlecht
Frauen
Statement
163
1. Behandlungsdiagnose, ICD-10 3 Stellen
Prozent
Psychiatrie/Neurologie, 01.01.04 - 30.06.04
31 30 29 28 27 26 25 24 23 22 21 20 19 18 17 16 15 14 13 12 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0
29,5
F43
15,2
15,2
F19
F20
3,3
3
2,6
2,6
2
2
2
F22
F25
F61
G40
F11
F32
F60
10 häufigsten Diagnosen
Abb. 5 Abb. 5 zeigt die Behandlungsdiagnosen (ohne Comorbiditätsdiagnosen) in der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Neurologie: Hier sehen Sie ergänzend auch das von Herrn Professor Foerster Referierte, die quantitative Bedeutung der Anpassungsstörungen, Abhängigkeitsproblematik und der schizophrenen Psychosen. Psychiatrische und internistische Comorbidität ist häufig. Deutlich wird auch die Bedeutung der anhaltenden wahnhaften Störungen F 22 (über 3%), der paranoiden Persönlichkeitsstörungen F 60.0 und kombinierten Persönlichkeitsstörungen F 61. Die Diagnostik spezifischer Persönlichkeitsstörungen ist belastet durch Sprachprobleme und ungenügende Zeit für eine exakte Persönlichkeitsdiagnostik, mit der häufigen Folge des Verzichts der Diagnosestellung.
164
Hans-Eugen Bisson
1. Behandlungsdiagnose, ICD-10 5 Stellen Psychiatrie/Neurologie, 01.01.04 - 30.06.04
21% 20% 19% 18% 17% 16% 15% 14%
Prozent
13% 12% 11% 10% 9% 7,95%
8% 7% 6% 5% 4% 3% 2% 1%
1,66% 0,33%
0,33%
F19.0
F19.04
0,66%
0,99% 0,33%
0,33%
0,33%
F19.22
F19.25
F19.3
0,66%
0,33%
0,33%
0,33%
0,33%
0,33%
F19.40
F19.51
F19.52
F19.55
F19.7
0% F19.1
F19.21
F19.30
F19.4
F19.75
F19-Diagnosen
Abb. 6 Die Häufigkeit der Entzugssyndrome – bei den stationären Aufnahmen liegen in der Regel schwerste Entzugssymptome vor; die leichten und mittelschweren werden im Regelvollzug behandelt – und die Häufigkeit der verzögert auftretenden psychotischen Störungen werden veranschaulicht. 40 % aller Patienten im JVKH sind an Suchtmittel assoziierten Krankheiten erkrankt. 40 % der in der Abteilung für Innere Medizin Behandelten sind Alkoholkranke. Wie sich aus der nachfolgenden Abb. 7 zeigt, sind die Anpassungsstörungen mit Angst, Depression, Sorgen, Anspannung und Ärger F 43.23 die häufigsten, gefolgt von den akuten Belastungs-/Krisenreaktionen F 43.0. Die Diagnosegruppe F 43 wird häufig in Zusammenhang mit der Z-Achse, Z 65.1 – Probleme mit der Haftstrafe oder Inhaftierung – gestellt, was ich hier nicht darstellen kann. Die Diagnose einer Anpassungsstörung wird nicht selten bei einer zweiten Behandlungsepisode revidiert hin zu psychotischen Störungen oder depressiven Episoden.
Statement
165
1. Behandlungsdiagnose, ICD-10 5 Stellen Psychiatrie/Neurologie, 01.01.04 - 30.06.04
26% 25% 24% 23% 22%
20,53%
21% 20% 19% 18% 17%
Prozent
16% 15% 14% 13% 12% 11% 10% 9% 8% 7% 6% 5% 4%
3,97%
3% 2%
1,66%
1,32%
1% 0%
F43.0
0,33%
0,33%
F43.1
F43.2
0,66%
F43.20
0,66%
F43.22
F43.23
F43.24
F43.25
F43-Diagnosen
Abb. 7
1. Behandlungsdiagnose, ICD-10 5 Stellen Psychiatrie/Neurologie, 01.01.04 - 30.06.04
21% 20% 19% 18% 17% 16% 15% 14%
Prozent
13% 12% 11% 10% 9% 8% 7% 6% 5% 4%
3,64%
3%
2,65%
2,32%
1,99%
2% 1%
0,66%
0,33%
0,99% 0,33%
0,33%
F20.02
F20.03
0,33%
0,33%
0,33%
0,33%
0,33%
0,33%
F20.14
F20.2
F20.3
F20.5
F20.6
0% F20.
F20.0
F20.00
F20.01
F20.04
F20.05
F20.09
F20.1
F20-Diagnosen
Abb. 8 Die Häufigkeit schizophrener Erkrankungen und die Verteilung der schizophrenen Subtypen mit einem Überwiegen der paranoiden Form unterstreichen auch noch
166
Hans-Eugen Bisson
einmal das von Herrn Professor Foerster Vorgetragene. Häufige Comorbiditäten hierbei sind Substanzabhängigkeit und Dissozialität (vgl. Abb. 8)
1.
Die Problematik der Ersatzfreiheitsstrafen
Hinter der steigenden Anzahl vollstreckter Ersatzfreiheitsstrafen (Dolde 1999) steht in der Regel ein psychiatrisches Problem, meist Störungen durch Alkohol, Drogen und Psychosekranke. Der Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe und Kurzzeitstrafe bei diesem Personenkreis wirft häufig erhebliche Versorgungsprobleme nach der Haftentlassung auf. Ersatzfreiheitsstrafen wären meines Erachtens auch unter einem kostenevaluativen Aspekt zu betrachten.
2.
Die Problematik der Versorgung schizophren Erkrankter
Diese sind in den Gefängnissen nicht adäquat psychiatrisch versorgt. Zu schaffen wären z.B. neben intensiverer Betreuung durch fachlich ausgebildete Kräfte tagesklinikartige Möglichkeiten in z.B. einer ausgewählten Anstalt, und natürlich ist eine Ausstattung der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Neurologie zu fordern, die strukturell und personell voll umfänglich den Notwendigkeiten einer klinischen Behandlung Rechnung trägt. Es ist eine ethische Verpflichtung, eine unzureichende Behandlung und Stigmatisierung zu beenden (Okasha 2004). Nach meiner Beobachtung führen die Veränderungen in den extramuralen Versorgungsstrukturen immer häufiger zum Abgleiten psychisch Kranker („Geistesgestörter“) in Delinquenz mit der Folge der Inhaftierung, die dann im Strafvollzug vernachlässigt werden. Ein weiteres Problem stellt die hohe Comorbidität von Suchterkrankung und Dissozialität dar, die häufig die Delinquenz erst bedingen. Im Hinblick auf die Versorgung vor allem der schizophren Erkrankten ist eine Durchlässigkeit zwischen Strafvollzug und Maßregelvollzug wünschenswert, d.h. die Abkehr von der Festlegung auf die eine oder andere Form des Freiheitsentzugs im Erkenntnisverfahren. Wie könnte die psychiatrische Versorgung im Regel-Justizvollzug aussehen? Ich habe Zweifel, ob das derzeitige konsiliarpsychiatrische Versorgungsmodell ein ausreichendes ist. Das Züricher PPD-Modell (Psychiatrisch-Psychologisches Dienst-Modell) ist zwar nicht auf die medizinische Versorgung aller Anstalten übertragbar, bietet aber Ansätze, auf die hier einzugehen nicht Platz und Zeit ist: In diesem Modell sind psychiatrisch-diagnostische und therapeutische Kompetenz, einschließlich Rückfallprävention, vereint mit Prognosebeurteilung und es beinhaltet Forschung und Wissenschaft. Eine Alternative der medizinischen Versor-
Statement
167
gung sehe ich in der Herauslösung der Verantwortung der medizinischen Versorgung aus der Vollzugsstruktur.
3.
Der diskursive Horizont
Der Horizont des Gefängnisses als der „letzten psychiatrischen Anstalt“ (Frottier et al., zitiert nach Foerster) führt zurück in die Zeit vor Pinel. Ahmet Okasha, Präsident der World Psychiatric Association in „Mental patients in prisons: punishment versus treatment“ (2004): „Das Problem ist so ernst, daß ein Gefängnis in Los Angeles tatsächlich die größte psychiatrische Institution des Landes geworden ist“. Neben dem Maßregelvollzug ist der Strafvollzug, die sichere Unterbringung von Verurteilten, eine totale Institution mit zahlreichen pathogenen und pathologischen Faktoren. Solange der Strafvollzug die Institution und ihre Praxis nicht reflektiert, seine Strukturen nicht untersucht, sehe ich keine Aussicht auf Veränderungen in der psychiatrischen Versorgung, keine Aussicht dafür, daß die Konsultation eines Psychiaters für den Häftling ein Refugium, Hafen des Friedens und der Freiheit ist (Gaston Josse, 2001), was sie auch sein kann, auch wenn psychische Störungen häufig instrumentalisiert werden. Am Anfang des Freiheitsentzugs steht eine besondere Form der Anomie, der Desozialisation und Depravation, die der Gesunde wie psychisch Kranke, Gestörte und Vulnerable bewältigen muß, und hierfür braucht er Hilfe. Pathogene Faktoren im Justizvollzug sind u. a. die Fragmentierung in Selbstbild und Interaktion, das Vermeiden von Dialog und Förderung der Regression. Der Psychiater im Milieu einer Haftanstalt muß sich seinerseits davor hüten, daß er bewußt oder unbewußt ein Beratungsinstrument des Strafbedürfnisses, ein Technokrat des Strafvollzugs wird. Der Strafvollzug muß den Raum des Psychiaters so zulassen, daß er ein Raum der Behandlung bleibt und der Psychiater nicht Gefahr läuft, dem Selbstschutzbedürfnis der Justiz zu dienen. Die Verbesserung der psychiatrischen Versorgung von Häftlingen beinhaltet die Frage, ob es möglich ist, den Alltag des Strafvollzugs humaner zu gestalten. Humaner Strafvollzug beinhaltet mehr als festgelegte Raumgrößen. „Psychiatry is the most self-doubting speciality in medicine“ (Littlewood 1991). Auch wenn Littlewood dies in einem ganz anderen Kontext formulierte, so könnte dies als eine Grundhaltung für den im Justizvollzug tätigen Psychiater nahegelegt werden.
168
Hans-Eugen Bisson
Literatur Dolde, Gabriele: Vollzug von Ersatzfreiheitsstrafen, ein wesentlicher Anteil im Kurzstrafenvollzug, Zeitschrift für Strafvollzug, 6/99, 330-335. Josse, Gaston: Schizes. In Les prisons: une exeption qui dure. Drôle d’Epoque, Nr. 8, 2001, Nancy. Konrad, Norbert: Prävalenz psychischer Störungen bei Verbüßen einer Ersatzfreiheitsstrafe. Recht u. Psychiatrie, 22. Jg. Heft 3, 2004. Littlewood, Roland: From desease to illness and back again. Lancet 1991, 337, 1013-5. Okasha, Ahmed: Mental patients in prisons: punishment versus treatment. World Psychiatry Vol 3, Nr. 1, Feb. 2004. Urbaniok, Frank: Was sind das für Menschen – was können wir für sie tun. Zythoppe Verlag, Bern 2003. Vasseur, Véronique: Médicin-chef à la prison de la Santé. Le cherche midi éditeur, 2000.
Gefängnismedizin im Frauenvollzug Karlheinz Keppler
I. Vorbemerkung Für die Gesundheit aller Inhaftierten und die medizinische Versorgung in der Institution Justizvollzug ist allein der Anstaltsarzt zuständig und verantwortlich. Ihm gegenüber ist der Anstaltsleiter fachlich nicht weisungsbefugt. Regelungen zur Gesundheitsfürsorge enthält das Strafvollzugsgesetz. Die in den einzelnen Ländern geltenden Vorschriften sind entweder in einer „Dienstordnung Gesundheit" (DOG) oder in einem vergleichbaren Regelwerk oder in Einzelerlassen zusammengestellt. Darüber hinaus hat sich die Anstaltsmedizin grundsätzlich an den Vorgaben der gesetzlichen Krankenversicherung zu orientieren. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) formulierte das Äquivalenzprinzip, wonach die medizinische Versorgung intra- und extramural (innerhalb und außerhalb der Gefängnisse des jeweiligen Lebensraumes) miteinander vergleichbar sein muß. Der Strafvollzug darf lediglich die Freiheit entziehen, aber nicht durch eine unzureichende medizinische Versorgung zusätzlich bestrafen. Das Bild der Anstaltsmedizin in der Öffentlichkeit ist dennoch schlecht. Es ist geprägt durch den historischen Anstaltsarzt, der in vollzugliche Zwangsmaßnahmen – einschließlich Hinrichtungen, Experimenten an Menschen (im Nationalsozialismus) usw. – eingebunden war und allenfalls eine Minimal-Medizin gewährleistete. Da die inhaftierte Patientin keine freie Arztwahl hat, wird der Anstaltsarzt zum „Zwangsansprechpartner". Anstaltsmedizin ist somit Monopolmedizin und trägt als solche besondere Verantwortung für die Qualität der medizinischen Versorgung. Trotz seiner Monopolstellung kann der Anstaltsarzt nicht alle erforderlichen medizinischen Leistungen allein erbringen, obgleich er sich bemühen muß, ein möglichst großes Spektrum selbst abzudecken. Zu Leistungen, die darüber hinausgehen, muß er deshalb den Zugang ermöglichen, indem er an externe Ärzte überweist. Anstaltsmedizin arbeitet immer in einem ambivalenten Spannungsfeld zwischen ärztlicher, also patientenorientierter Aufgabe auf der einen Seite und justiziellen, vollzuglichen Vorgaben/Zwängen auf der anderen Seite, zwischen dem in Diagno-
170
Karlheinz Keppler
se und Therapie geforderten Vertrauen in die Patientinnen-Arzt-Beziehung und auf der anderen Seite dem Fakt des Zwangsansprechpartners. Drei mögliche Verhaltensweisen angesichts dieses ambivalenten Spannungsfeldes bestehen für den Anstaltsarzt: 1.
Eine Anstaltsmedizin, die Entscheidungen trifft, die primär medizinisch geleitet, also patientinnenorientiert und sekundär an Vollzugsbelangen orientiert sind.
2.
Eine Anstaltsmedizin, die Entscheidungen trifft, die sich primär an Vollzugsbelangen orientieren und sekundär medizinisch geleitet, also patientinnenorientiert sind.
3.
Eine Anstaltsmedizin, die in ihren Entscheidungen versucht, ausgleichend und kompromißbereit beiden Aspekten gerecht zu werden.
II. Gesetzliche Grundlagen Im „Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung mit ergänzenden Bestimmungen", kurz: Strafvollzugsgesetz (StVollzG), wird im 7. Titel des 2. Abschnittes die Gesundheitsfürsorge für inhaftierte Menschen geregelt. Hier wird in den §§ 56 - 66 eine genaue Regelung der ärztlichen und zahnärztlichen Behandlung zusammengestellt. Zu den einzelnen Paragraphen sind bundeseinheitliche Verwaltungsvorschriften (VV) erlassen worden, die für die Vollzugsbehörde bindend sind, die Paragraphen des Gesetzes näher erläutern und die praktische Handhabung festschreiben. Darüber hinaus gibt es für den Anstaltsarzt zusätzliche Mitwirkungspflichten und Verantwortlichkeiten: § 5: Mitwirkung bei der Aufnahmeuntersuchung § 21: Überwachung der Anstaltsverpflegung § 41: Feststellung des Umfanges der Arbeitsfähigkeit § 76: Mutterschaftsvorsorge und Schwangerschaftsbetreuung im Frauenvollzug § 92: Besondere Sicherheitsmaßnahmen seitens des Vollzuges § 101: Zwangsmaßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge
Gefängnismedizin im Frauenvollzug
171
§ 107: Kontrolle bei Vollzug des Arrestes
1.
Der § 56 StVollzG
Präambelartig regelt § 56 StVollzG die generelle Verpflichtung der Vollzugsbehörde, für die geistige und körperliche Gesundheit des Gefangenen zu sorgen. Er regelt aber auch die korrespondierende Verpflichtung des Häftlings, seinen Beitrag zur Gesundheit zu leisten und die notwendigen Maßnahmen zum Gesundheitsschutz und zur Hygiene zu unterstützen. Um der Fürsorgeverpflichtung des Gesetzes seitens der Vollzugsbehörde Rechnung zu tragen, richtet diese eine medizinische Versorgung ein und unterhält diese. Die ärztliche Versorgung wird in der Regel durch hauptamtliche Anstaltsärzte sichergestellt, in deren Zuständigkeit und Verantwortlichkeit die gesundheitliche Betreuung der Gefangenen liegt. Die Maßnahmen der Gesundheitsfürsorge umfassen im wesentlichen die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Dies hat zur Folge, daß der Anstaltsarzt die Maßnahmen zu treffen oder zu veranlassen hat, die zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit erforderlich sind. Er hat dabei im Rahmen seiner (fachlichen) Tätigkeit einen Ermessensspielraum, der sich einer Kontrolle von außen weitgehend entzieht. Dies gilt für den Anstaltsleiter, der zwar für den gesamten Vollzug zuständig ist, nicht aber für die Medizin, in gleichem Maße wie auch für die Gefangene oder deren (rechtlichen) Vertreter. Als Folge daraus sind ärztliche Anordnungen vom Justizvollzugspersonal grundsätzlich auch dann zu befolgen, wenn sie Schwierigkeiten oder Mehrbelastungen zur Folge haben. Aufgrund der besonderen Situation (keine freie Arztwahl) bestehen zwischen Arzt und Patientin im Gefängnis keine privatrechtlichen Vertragsbeziehungen, sondern es handelt sich um ein öffentlich-rechtliches Verhältnis. Insofern stehen der inhaftierten Patientin die gleichen Informationsrechte zu wie der freien Patientin: 1. Im Sinne der allgemeinen ärztlichen Aufklärungspflicht besteht ein Anspruch auf Unterrichtung über den Gesundheitszustand und über indizierte oder alternative Diagnostik bzw. Therapie. 2. Es besteht ein Recht auf Einsicht in die Aufzeichnungen in den Gesundheitsakten, soweit es sich um naturwissenschaftlich objektivierbare Befunde und sonstige Tatsachen handelt. Dies trifft z. B. auf EKG-Befunde, Laborwerte, Röntgenbefunde, histologische Befunde zu. Darüber hinaus muß das Interesse der Gefangenen an der Einsichtnahme von Bedeutung sein. D. h., es reicht in der Regel nicht aus, wenn lediglich orientierend geprüft werden soll, ob vielleicht eine nicht der medizinischen Kunst entsprechende Behandlung durchgeführt worden sein könnte. 3. Das Einsichtsrecht erstreckt sich nicht auf die persönlichen Aufzeichnungen des Anstaltsarztes oder anderer, ggf. vorbehandelnder Anstaltsärzte.
172
Karlheinz Keppler
4. Grundsätzlich muß auch in diesem Zusammenhang differenziert werden zwischen Gesundheitsakten und Personalakten. Die Gesundheitsakten werden vom Anstaltsarzt geführt und auch aufbewahrt. Der Anstaltsarzt, nicht der Anstaltsleiter, ist verfügungsberechtigt über die Gesundheitsakten. Neben den Verpflichtungen der Vollzugsbehörde zur Sicherstellung der ärztlichen Versorgung besteht die Verpflichtung der Gefangenen, die notwendigen Maßnahmen des Gesundheitsschutzes und der Hygiene zu unterstützen. Hintergrund ist das enge Zusammenleben vieler Menschen auf engem Raum mit möglichen gesundheitlichen Risiken und Gefährdungen für die Mitinhaftierten. Das neue Infektionsschutzgesetz trägt dieser Situation in besonderem Maße Rechnung. Es regelt insbesondere die Eigenverantwortlichkeit der Einrichtungen zur Feststellung infektionsrelevanter Sachverhalte und zur Reaktion darauf (Hygienepläne). Von daher kann die Anstaltsleitung Hausordnungen oder ein ähnliches Regelwerk erlassen, und dieses nimmt die Gefangene auch in die Pflicht. Die Anwendung von Zwang, auch die Androhung von Disziplinarmaßnahmen zur Durchsetzung von ärztlichen Anordnungen, ist unzulässig und wäre auch therapeutisch kontraproduktiv. Lehnt die Patientin eine vom Anstaltsarzt vorgeschlagene therapeutische oder diagnostische Maßnahme ab, so hat der Anstaltsarzt dieses zu dokumentieren. Auf jeden Fall muß er sich auch danach weiter um die Patientin bemühen und das unter diesen Umständen Mögliche tun.
2. Die §§ 57 bis 62 und 62a StVollzG Diese Paragraphen regeln den Leistungsumfang der medizinischen Versorgung in Haft. Sie sind, zum Teil sogar im Wortlaut, orientiert an den Vorgaben der gesetzlichen Krankenversicherung im Sozialgesetzbuch V. Mit ihnen soll eine Angleichung der intra- und extramuralen Qualität der Medizin erreicht werden. Durch den Verweis in § 61 StVollzG (Art und Umfang der Leistungen) auf die Vorschriften des Sozialgesetzbuches treffen alle vom Kassenpatienten beklagten Einschränkungen auch auf die Versorgung im Gefängnis zu: Die Behandlung muß grundsätzlich ausreichend und zweckmäßig sein, sie darf aus Gründen der Wirtschaftlichkeit das Notwendige nicht übersteigen. Richtlinie hierbei ist der schulmedizinische Wissensstand und der kassenärztliche Versorgungsumfang. Andererseits sind bisher trotz dieses Verweises auf das SGB nicht alle Belastungen und Verpflichtungen des Kassenpatienten (z.B. Praxisgebühr, Zuzahlung bei Medikamenten, Zuzahlung bei Hilfsmitteln) auch äquivalent auf die inhaftierten Patientinnen übertragen worden, die insofern besser gestellt werden. Auch in § 58 StVollzG (Krankenbehandlung, vgl. § 27 SGB V) wird aus den, dem § 27 des Sozialgesetzbuch V entnommenen Formulierungen ersichtlich, daß der
Gefängnismedizin im Frauenvollzug
173
Anspruch der Gefangenen in äquivalentem Umfang besteht wie bei einem versicherten Arbeitnehmer in Freiheit. Äquivalent deshalb, weil zum Beispiel die im SGB genannten Leistungen der Haushaltshilfe in § 58 StVollzG natürlich keine Erwähnung finden. Ob und wann andere (Fach-)Ärzte hinzuzuziehen sind, liegt im Ermessen des Anstaltsarztes, wobei sich dieses nach allgemeinen ärztlichen Maßstäben zu richten hat. Entsprechend diesen Standards kann sich der bloße Anspruch auf eine sachgemäße Ermessensentscheidung je nach Sachlage zu einem Recht auf Untersuchung und Behandlung durch einen Facharzt verändern. Allerdings machen die VV zu § 58 StVollzG noch einmal deutlich, daß kein Anspruch auf freie Arztwahl besteht, auch dann nicht, wenn die Patientin die Kosten selber zu tragen bereit ist. Auch in § 60 StVollzG (Krankenbehandlung im Urlaub) wird noch einmal deutlich, daß selbst im Urlaub oder Ausgang die freie Arztwahl nicht besteht. Da in aller Regel Gefangene vor Urlaubsantritt über diese Vorgaben informiert werden, macht ein Aufsuchen eines fremden Arztes, wenn eine Justizvollzugsanstalt hätte erreicht werden können, die Patientin kostenpflichtig. Auch das Einsetzen einer Patientenkarte von einer Krankenkasse ist nicht möglich. Eine Verpflichtung für den Justizvollzug, eine medizinische Betreuung vorzuhalten, bezieht sich nur auf die Situation in der Anstalt. Da die Haft durch Urlaub oder Ausgang nicht unterbrochen wird, ist daher der Häftling verpflichtet, bei Erkrankung die eigene, zumindest aber die nächstgelegene Justizvollzugsanstalt zur ambulanten medizinischen Behandlung aufzusuchen. Ausnahmen hiervon sind sicher ein schwere akute Erkrankungen, die in einer JVA ohnehin nicht hätte behandelt werden können. In § 59 StVollzG (Versorgung mit Hilfsmitteln, vgl. § 33 SGB V) findet sich ein Versorgungsumfang für Inhaftierte, der die im neuen SGB V formulierten Leistungen für gesetzlich Versicherte überschreitet. Zum Beispiel werden für inhaftierte Patientinnen die Kosten des Brillengestells getragen, für gesetzlich Versicherte ist die Zahlung des Brillengestells nicht mehr möglich. Allerdings werden die dort genannten Leistungen für den Vollzug insofern eingeschränkt, als die Länge des Freiheitsentzuges ein Kriterium für die Leistungspflicht darstellt. Eine zeitliche Begrenzung nennt das Gesetz nicht. Gemeint im Sinne des Leistungsausschlusses sind sicherlich sehr kurze Freiheitsstrafen, z. B. Ersatzfreiheitsstrafen von wenigen Tagen oder Wochen. Es scheint unstrittig, daß diese an den Belangen des Vollzuges orientierte Einschränkung bei allen Patientinnen mit Strafen von mehr als sechs Monaten nicht greift. Aber auch bei Patientinnen mit kürzeren Freiheitsstrafen kann ein Aufschieben der Versorgung mit Hilfsmitteln bis in die Zeit nach der Haftentlassung unzumutbar sein. In § 57 StVollzG (Gesundheitsuntersuchungen, medizinische Vorsorgeleistungen) manifestiert sich der Anspruch der inhaftierten Patientin auf präventive Medizin im Sinne von Maßnahmen zur Krankheitsfrüherkennung. § 57 StVollzG trägt
174
Karlheinz Keppler
somit zur weiteren Angleichung von Gefangenem und freiem Versicherungsnehmer bei. In Absatz 1 wird der Anspruch auf die Gesundheitsuntersuchung (den sog. Check up 35) festgeschrieben. Bei dieser Untersuchung werden Anamnese (d. h. Befragung der Patientin nach vorbestehenden Erkrankungen und persönlichen Risikofaktoren), eine körperliche Untersuchung und Blut-/Urinuntersuchungen durchgeführt. Sinn der Gesundheitsuntersuchung ist die frühe Feststellung von Bluthochdruck, Fettstoffwechselerkrankungen, koronarer Herzkrankheit, Nierenerkrankungen etc. In Absatz 2 ist die klassische Krebsvorsorgeuntersuchung verankert. In Absatz 3 werden, in Analogie zur gesetzlichen Krankenversicherung, die Bedingungen der beiden Präventionsuntersuchungen festgeschrieben: Behandelbarkeit und Diagnostizierbarkeit. In Absatz 4 wird der Anspruch auf die klassischen Kindervorsorgeuntersuchungen in vollem Umfang festgeschrieben. In Absatz 5 ist die halbjährliche Zahnarzt-Vorsorge für Jugendliche fixiert, wobei die inhaftierte Patientin hier besser gestellt ist als die nicht inhaftierte: Im SGB V endet das Anspruchsalter bei 18, im Gefängnis erst bei 20 Jahren. Abschließend wichtig sind in diesem Zusammenhang zum einen die in der VV festgeschriebene Informationspflicht der Anstalt und zum anderen der Zugang zu den Untersuchungen über eine Antragstellung der Patientin. Die nach § 62 StVollzG erfolgende Festsetzung des von der Patientin zu tragenden Kostenanteils für Zahnersatz und Zahnkronen ist, wie bei den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung, eine Ermessensentscheidung. Diese beinhaltet, daß sich die Patientinnen angemessen und zumutbar an den Kosten beteiligen, bedeutet aber auch, daß bei mittellosen Patientinnen ggf. die Gesamtkosten vom Vollzug zu tragen sind. In § 62a StVollzG (Ruhen der Ansprüche) werden die Ansprüche der sog. Freigängerinnen geregelt. Freigängerinnen sind Inhaftierte, die in einem freien externen Arbeitsverhältnis stehen und in diesem Zusammenhang beitragspflichtig für die gesetzliche Krankenversicherung werden. Diese Patientinnen haben die Möglichkeit, sich im kassenärztlichen System einen Arzt zu suchen und zu konsultieren.
3. Die §§ 63 bis 66 StVollzG In diesen Paragraphen finden sich Regelungen, die über die reine medizinische Versorgung hinausgehen. Dies gilt zunächst für § 63 StVollzG (Ärztliche Behandlung zur sozialen Eingliederung). Die hiernach in Frage kommenden Erkrankungen sind neben entstellenden Narben und Tätowierungen auch körperliche Mißbildungen und Sprachstörungen etc. Obwohl die körperlichen Mängel im Vordergrund zu stehen scheinen, greift § 63 StVollzG aber auch bei psychischen, einschließlich sexuellen Einschränkungen, die ggf. psychotherapeutisch beeinflußbar sind.
Gefängnismedizin im Frauenvollzug
175
Interessant ist, daß der Gesetzgeber den Anspruch der Gefangenen auf Aufenthalt im Freien (§ 64 StVollzG) unter das Kapitel Gesundheitsfürsorge gestellt hat. Diese Vorschrift enthält eine Mindestgarantie, die grundsätzlich nicht eingeschränkt werden darf. Sie ist Teil der Gesundheitsfürsorge, da der Nutzen regelmäßiger Bewegung im Freien medizinisch belegt ist. In § 64 StVollzG ist ein Anspruch, aber keine Verpflichtung der Gefangenen festgelegt. Eingeschränkt wird das Recht auf den Aufenthalt im Freien durch die Witterung (z. B. Schlechtwetterperiode), wobei der tägliche Aufenthalt im Freien nicht für längere Zeit entfallen darf. Vor allem vor dem Hintergrund zunehmender Spezialisierung in der Medizin, ist der Justizvollzug nicht in der Lage, die medizinischen Ressourcen der einzelnen Anstalten dergestalt auszubauen, daß alle medizinische Behandlung und Diagnostik leistbar ist. Dies gilt insbesondere in Bezug auf bestimmte Patientengruppen (geriatrische Pat., drogenabhängige Pat., behinderte Pat., Hepatitis-Pat., AIDSPat.). So besteht nach § 65 StVollzG (Verlegung) die Möglichkeit, erkrankte Patientinnen entweder in eine zur Versorgung besser geeignete Justizvollzugsanstalt oder in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzuges zu verlegen. Soll die erkrankte Patientin in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzuges verlegt werden, sind mehrere Dinge zu berücksichtigen. Das Gesetz unterscheidet zwischen der medizinischen Notwendigkeit einer Verlegung (darüber befindet der Anstaltsarzt) und der eigentlichen Verlegungsentscheidung selbst (diese trifft der Anstaltsleiter). Insofern hat die Entscheidung des Anstaltsarztes über die medizinische Notwendigkeit vorbereitenden Charakter im Hinblick auf die eigentliche Verlegungsentscheidung des Anstaltsleiters. Allerdings ist das Ermessen des Anstaltsleiters und der Gerichte bei einer durch den Anstaltsarzt festgestellten, begründeten Verlegungsnotwendigkeit auf nahezu Null reduziert. So darf die Abwägung auf keinen Fall dazu führen, daß zwingende gesundheitliche Belange hinter Vollzugsinteressen zurücktreten müssen. Die Kenntnis dieser Differenzierung zwischen anstaltsärztlicher Feststellung der Verlegungsnotwendigkeit und der Verlegungsentscheidung durch den Anstaltsleiter ist insofern von praktischer Bedeutung, als der Anspruch auf eine Verlegung (Verpflichtungsantrag) an den Anstaltsleiter und nicht an den Anstaltsarzt gerichtet werden muß. Für die praktische Arbeit wichtig ist auch die Kenntnis, daß die Unterbringung in einem externen Krankenhaus keine automatische Unterbrechung der Strafvollstreckung zur Folge hat. D. h., die Dauer des Krankenhausaufenthaltes wird auf die Strafe angerechnet. Von daher ist in jedem Einzelfall sorgfältig zu prüfen, ob seitens der Gefangenen eine Enthaftung für die Dauer des Krankenhausaufenthaltes sinnvoll ist. Nach der Enthaftung muß die Zeit des Krankenhausaufenthaltes als Haftzeit im Anschluß an den Krankenhausaufenthalt verbüßt werden, während ohne Enthaftung die Zeit im Krankenhaus als verbüßte Haftzeit gerechnet wird. Das Gesetz sieht Strafunterbrechung allerdings nur in sehr schwerwiegenden Fällen vor. Die Erkrankung an AIDS beispielsweise rechtfertigt aus sich keine Haftunterbrechung. Generell sollen aber vollzugsinterne
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Karlheinz Keppler
Behandlungsmöglichkeiten zunächst ausgeschöpft werden, bevor externe Ressourcen in Anspruch genommen werden. Neben der Verpflichtung, den Tod einer Gefangenen (auch der Tod in einem Krankenhaus außerhalb des Vollzuges, soweit die Strafe nicht unterbrochen war) der Aufsichtsbehörde anzuzeigen, besteht selbstredend für die Anstalt die Pflicht, die zuständige Staatsanwaltschaft einzuschalten, falls Anhaltspunkte für einen nicht natürlichen Tod bestehen (§ 66 StVollzG). In jedem Fall erscheinen Todesfälle im Vollzug aus verschiedensten Gründen besonders aufklärungsbedürftig, so daß in aller Regel seitens der Anstalt Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft eingeschaltet werden und die Anstaltsleitung auf einer Obduktion bestehen sollte.
4. Mitwirkungspflichten des Anstaltsarztes Über die reine medizinische Versorgung hinaus liegen noch zusätzliche Verantwortlichkeiten und Mitwirkungspflichten beim Anstaltsarzt. So ist in § 5 StVollzG (Aufnahmeverfahren) geregelt, daß eine Aufnahmeuntersuchung alsbald nach der Inhaftierung durch einen Arzt, nicht durch Assistenzpersonal, zu erfolgen hat. Wichtig ist hier v. a. die Klärung der Punkte der Vollzugstauglichkeit, Behandlungsbedürftigkeit, Gefährdung anderer, Arbeitsfähigkeit, Sportfähigkeit, Notwendigkeit einer Unterbringung mit anderen zusammen. Neben der Feststellung der gesundheitlichen Gesamtsituation hilft die Aufnahmeuntersuchung auch, eine Absicherung des Vollzuges gegen spätere Schadensersatzklagen wegen Haftfolgeschäden zu leisten. Nach § 21 StVollzG (Anstaltsverpflegung) wird die Gefangene grundsätzlich in vollem Umfang von der Anstalt verpflegt. Gleichwohl schließt die Vorschrift die Selbstverpflegung der Gefangenen nicht aus. Wesentlich für die Ermessensentscheidung der Anstalt ist, daß keine zusätzlichen Kosten entstehen und die Selbstverpflegung nicht mit der Anstaltssituation kollidiert. Weil die Gefangene aber in aller Regel auf die Anstaltskost angewiesen sein wird, ist die Anstalt verpflichtet, eine vollwertige Ernährung zu gewährleisten, die den Erkenntnissen der modernen Ernährungslehre entspricht. Von daher werden Nährwert, Zusammensetzung, Zubereitung und Ausgabe der Speisen anstaltsärztlich überwacht. Wirtschaftsinspektor, Anstaltsleiter und Anstaltsarzt sind in der Pflicht, täglich Kostproben der warmen Kost und gelegentlich Kostproben der kalten Kost zu nehmen. Näheres regeln in den einzelnen Bundesländern sog. Verpflegungsordnungen. Alle Gefangenen erhalten gleiche Kost. Der Anstaltsarzt kann aus medizinischen Gründen eine andere Ernährung anordnen. Religionsbedingte Essenswünsche (z. B. schweinefleischfreie Kost bei Moslems) und vegetarische Kost sind keine medizinisch erforderlichen Essensformen und daher über den Vollzug zu beantragen.
Gefängnismedizin im Frauenvollzug
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Nach § 41 Abs. 1 StVollzG ist die Gefangene verpflichtet, eine ihr zugewiesene, ihren körperlichen Fähigkeiten angemessene Arbeit, arbeitstherapeutische oder sonstige Beschäftigung auszuüben, zu deren Verrichtung sie auf Grund ihres körperlichen Zustandes in der Lage ist. Sie kann jährlich bis zu drei Monaten zu Hilfstätigkeiten in der Anstalt verpflichtet werden, mit ihrer Zustimmung auch darüber hinaus. Dies gilt jedoch nicht für werdende und stillende Mütter, soweit gesetzliche Beschäftigungsverbote zum Schutze erwerbstätiger Mütter bestehen. Bereits in der Aufnahmeuntersuchung äußert sich der Anstaltsarzt zur Arbeitsfähigkeit bzw. Einsetzbarkeit der Gefangenen. Von daher hängt die Einsetzbarkeit und die geforderte Rücksichtnahme auf die körperlichen Fähigkeiten bei der Arbeitszuweisung wesentlich vom Votum des Anstaltsarztes und von der Ausgestaltung der vorhandenen Arbeitsplätze ab. Bei einer Erkrankung während der Haft kann durch das Aufsuchen des Anstaltsarztes in der Sprechstunde eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erlangt werden, die von der zugewiesenen Arbeit (für die Dauer der Krankschreibung) befreit. Im § 76 StVollzG sind analog der gesetzlichen Regelungen in Freiheit die Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft festgeschrieben. Der Umfang orientiert sich vollständig an den Mutterschaftsrichtlinien der gesetzlichen Krankenversicherung. Wichtig ist die Feststellung, daß die Entbindung grundsätzlich außerhalb der Justizvollzugsanstalt erfolgen soll. Sollte in Ausnahmesituationen die Entbindung innerhalb einer Justizvollzugseinrichtung erfolgen, so darf auf keinen Fall aus der Angabe des Geburtsortes des Kindes ersichtlich sein, daß die Entbindung in einer Justizvollzugseinrichtung erfolgt ist. Die in § 92 StVollzG geregelte Einbindung des Anstaltsarztes in vollzugliche Sicherungs- und Zwangsmaßnahmen ist einerseits für den Arzt unangenehm, gibt ihm aber andererseits die Möglichkeit, die mit einer entsprechenden Zwangsmaßnahme belegten, gefangenen Patientinnen zu schützen. Darüber hinaus dient die Einbindung des Arztes auch der Verantwortungsentlastung der Vollzugsbehörde. Die Mitwirkung des Anstaltsarztes ist von daher wichtig, da die angesprochenen besonderen Sicherungsmaßnahmen in aller Regel nur bei Gefangenen angewendet werden sollen, bei denen auf Grund ihres seelischen Zustandes vor allem die Gefahr von Gewalt gegen Personen oder Sachen oder die Gefahr des Selbstmordes oder der Selbstverletzung bestehen. Der Entzug des täglichen Aufenthaltes im Freien meint hier zuerst den Aufenthalt zusammen mit anderen Gefangenen. Hier muß der Anstaltsarzt gehört werden. § 101 StVollzG (Zwangsmaßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge) ist eine der problematischsten Regelungen des StVollzG für den Anstaltsarzt. Seinerzeit im Hinblick auf hungerstreikende RAF-Mitglieder ins Gesetz gekommen, regelt er die Zulässigkeit medizinischer Zwangsmaßnahmen. Da bei offensiver Auslegung des § 101 StVollzG das Recht der Patientin auf Selbstbestimmung
178
Karlheinz Keppler
ihres Lebens verfallen würde zugunsten der staatlichen Fürsorgeverpflichtung, hat der Gesetzgeber klargestellt, daß die Vollzugsbehörde zwar berechtigt, aber nicht mehr verpflichtet ist, Zwangsmaßnahmen durchzuführen. Die durch § 107 StVollzG erfolgende Einbindung des Arztes in den Vollzug des Arrestes soll gewährleisten, daß durch den Vollzug des Arrestes keine gesundheitlichen Schäden entstehen. Ergibt sich nach ärztlicher Einschätzung eine Gesundheitsgefahr, so hat der Vollzug des Arrestes zu unterbleiben.
III. Die medizinische Versorgung einer Justizvollzugsanstalt 1. Das medizinsche Personal Das Personal des ärztlichen Dienstes einer Justizvollzugseinrichtung besteht aus hauptamtlichen oder nebenamtlichen Anstaltsärzten, Sanitätsbediensteten und medizinischen Hilfskräften. Während das Gesetz auf der einen Seite vom hauptamtlichen Anstaltsarzt ausgeht, fällt es aber auf der anderen Seite dem Justizvollzug zunehmend schwer, Ärzte für den Dienst in Justizvollzugseinrichtungen zu gewinnen. Diese Tatsache und ein zu geringer Arbeitsanfall gerade in kleinen Einrichtungen haben dazu geführt, daß nebenamtliche Ärzte auf der Basis vertraglicher Verpflichtungen tätig sind. Oft handelt es sich hierbei um in eigener Praxis niedergelassene oder im Ruhestand befindliche Ärzte. Sanitätsbedienstete sind Krankenschwestern/-pfleger oder KrankenpflegehelferInnen im Sinne des Krankenpflegegesetzes. In diesem Gesetz sind eine 3jährige Ausbildung für Krankenschwestern/-pfleger und eine 1jährige Ausbildung für KrankenpflegehelferInnen festgelegt. Bisher war die Regel, daß diese Krankenpflegekräfte insofern Kräfte des allgemeinen Vollzugsdienstes waren, als sie die entsprechende Vollzugsausbildung durchlaufen mußten. Mittlerweile besteht vielfach die Möglichkeit, auch Krankenpflegekräfte ohne Vollzugsausbildung als Angestellte im Krankenpflegedienst einer Justizvollzugseinrichtung zu beschäftigen. Allerdings fällt es dem Justizvollzug auch bei der Gruppe der pflegerisch Tätigen schwer, qualifiziertes Personal für den Dienst in den Justizvollzugsanstalten zu gewinnen. Um dennoch die medizinische Versorgung sicherzustellen, können ausnahmsweise im Sanitätsdienst auch Kräfte des allgemeinen Vollzugsdienstes eingesetzt werden, die eine andere Ausbildung in der Krankenpflege erfahren haben. Gemeint sind hier: Sanitäter der Bundeswehr, Zivildienstleistende aus Krankenhäusern und Altenpflege, Sprechstundenhilfen o. ä. Sanitätsbedienstete unterstehen der Fachaufsicht des Anstaltsarztes, sie unterliegen als Berufshelfer des Arztes in vollem Umfang der ärztlichen Schweigepflicht und unterstützen den Arzt bei der gesundheitlichen Betreuung der inhaftierten
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Patientinnen. Sanitätsbedienstete sind befugt, Gefangene selbst zu versorgen, wenn ärztliche Hilfe offensichtlich nicht erforderlich ist. Sie geben vom Arzt verordnete Medikamente aus, führen das Buchwerk und wirken bei der medizinischen Dokumentation mit. Sie bereiten die Sprechstunde vor, assistieren dem Arzt dabei und führen entsprechend seiner Anordnung und Anleitung die zur Diagnostik und Therapie erforderlichen Verrichtungen an den Patientinnen durch. Sie können im Rahmen der geltenden Vorschriften zu Laborarbeiten, Röntgentätigkeiten und zur Bedienung sonstiger medizinisch-technischer Apparate (z. B. EKG, Bestrahlung) eingesetzt werden. Sie wechseln Verbände und leisten bei Notfällen erste Hilfe. Ihnen obliegt die Beaufsichtigung der Patientinnen in den Behandlungsräumen sowie die Pflege der in der Krankenabteilung untergebrachten Patientinnen. Sie sind verantwortlich für Sauberkeit, Ordnung und Sicherheit in der Behandlungs- und Krankenabteilung (bzw. im Anstaltskrankenhaus). Sie überwachen die mit Hilfstätigkeiten beschäftigten Gefangenen und stellen sicher, daß diese nur zu Reinigungszwecken herangezogen werden und keinen Zugang zu Medikamenten, Instrumenten und ärztlichen Unterlagen haben. Sanitätsbedienstete sind verantwortlich für die Reinigung und Pflege des ärztlichen Instrumentariums. Der Leiter des Sanitätsdienstes ist dem Arzt für den ordnungsgemäßen Dienstablauf im Bereich der Medizin verantwortlich. Neben den Sanitätsbediensteten gehören medizinische Hilfskräfte zum anstaltsärztlichen Assistenzpersonal. Medizinische Hilfskräfte üben besondere fachliche Tätigkeiten im Sanitätsbereich aus. Zu ihnen gehören z. B. Diätassistenten, Medizinisch-technische Assistenten, Masseure, medizinische Bademeister und Sprechstundenhilfen. Zu den medizinischen Hilfskräften können auch Mitarbeiter der Fachdienste und Bedienstete des allgemeinen Vollzugsdienstes gehören, sofern sie für bestimmte Tätigkeiten im Sanitätsbereich eingesetzt sind (z. B. Bediensteter des allgemeinen Vollzugsdienstes eingesetzt nach entsprechender Ausbildung als Suchtkrankenhelfer im Bereich der Medizin, Suchtberater eingesetzt im Bereich Betreuung von Methadon-Substituierten). Auch medizinische Hilfskräfte unterstehen der Fachaufsicht des Anstaltsarztes und unterliegen als sog. Berufshelfer des Arztes in vollem Umfang der ärztlichen Schweigepflicht.
2.
Die Struktur der medizinischen Versorgung
Die Struktur der medizinischen Versorgung in den Justizvollzugsanstalten ist vierstufig: Die erste Stufe ist die ambulante medizinische Versorgung. Zu diesem Zweck werden regelmäßig Sprechstunden durch den Anstaltsarzt abgehalten. Der Zugang in die Sprechstunde steht allen Gefangenen frei. Im Rahmen dieser ambulanten Sprechstunde werden ärztliche Diagnostik und Therapie durchgeführt wie in den Praxen niedergelassener Ärzte.
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Die zweite Stufe ist die stationäre medizinische Versorgung in der Krankenabteilung einer Justizvollzugsanstalt. Wenn Patientinnen schwerer erkrankt sind, einer besonderen Pflege bedürfen oder wegen ihrer Erkrankung (z. B. bei infektiöser Hepatitis A oder Tuberkulose) isoliert werden müssen, so besteht die Möglichkeit, sie in der Krankenabteilung unterzubringen. Die dritte Stufe ist die stationäre Unterbringung in einem Anstaltskrankenhaus (in anderen Bundesländern auch unter der Bezeichnung Justizvollzugskrankenhaus oder Zentralkrankenhaus geläufig). Immer wenn die Anstalt in ihren eigenen Möglichkeiten mit der medizinischen Betreuung, Versorgung oder Diagnostik überfordert ist, kommt eine Verlegung in ein Anstaltskrankenhaus in Frage. Das Leistungsspektrum der Anstaltskrankenhäuser der einzelnen Bundesländer ist unterschiedlich. Es existieren Anstaltskrankenhäuser mit ausgesprochen breitem Leistungsspektrum und hohem Leistungsanspruch (z. B. Teilnahme an den auch in Freiheit üblichen Qualitätssicherungsmaßnahmen), die insofern vergleichbar mit einem Krankenhaus der Grund- und Regelversorgung sind, neben Häusern mit eher schmalem Angebot. Die vierte Stufe ist der Rückgriff auf die Ressourcen der extramuralen Kassenmedizin. Dieser beginnt im ambulanten Bereich mit der Zuziehung von Fachärzten, mit der Überweisung an spezialisierte Ambulanzen (z. B. HIV-Ambulanzen). Darüber hinaus besteht die Möglichkeit der Verlegung in eine externe Klinik einschließlich von Verlegungen in eine Universitätsklinik. Generell ist im Sozialgesetzbuch V die Rückgriffsmöglichkeit auf das kassenärztliche Versorgungssystem außerhalb der regulären Arbeitszeiten der Anstaltsärzte und -zahnärzte festgeschrieben. Dort heißt es in § 75 Abschnitt (4): „Die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen haben auch die ärztliche Behandlung von Gefangenen in Justizvollzugsanstalten in Notfällen außerhalb der Dienstzeiten der Anstaltsärzte und Anstaltszahnärzte sicherzustellen, ...". Danach sind die Kassenärzte, insbesondere die Ärzte des kassenärztlichen Notdienstes, zur Behandlung inhaftierter Patientinnen verpflichtet.
3. Die psychiatrische Versorgung Obwohl Psychiatrie im Vollzug eine eigene Subdisziplin darstellen könnte, ist diese weder wissenschaftlich aufgearbeitet noch widmen die einschlägigen Lehrbücher diesem Bereich ein eigenes Unterkapitel. Lediglich im Zusammenhang mit dem Mißbrauch der Psychiatrie in totalitären Systemen macht diese Schlagzeilen und initiiert eine breitere, auch wissenschaftliche Diskussion. Für die aktuelle Psychiatrie in den deutschen Justizvollzugsanstalten gilt, daß auch hier die medizinische Betreuung sich an den Vorgaben der gesetzlichen Kranken-
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versicherung orientieren muß. Für jede Gefangene, die im Vollzug erkrankt oder bei der eine bereits bestehende psychische Erkrankung im Vollzug festgestellt wird, ist in gleicher Weise Diagnostik und Therapie sicher zu stellen wie bei Patientinnen außerhalb. Erste Station im Rahmen psychiatrischer Diagnostik und Therapie ist in aller Regel der Anstaltsarzt. Dieser kann in eigener Kompetenz mit Diagnostik und Therapie beginnen oder (wenn er selbst kein Psychiater ist) auf das fachärztliche System unterschiedlich zugreifen. Es besteht die Möglichkeit der Vorstellung der Patientin beim vollzugsexternen niedergelassenen Psychiater. Darüber hinaus gibt es vielfach auch bei der Justiz beschäftigte Psychiater, die entweder ambulant tätig sind oder aber psychiatrische Krankenabteilungen/-stationen betreuen. Generell besteht in allen Bundesländern die Möglichkeit, Patientinnen in die Landeskrankenhäuser bzw. Bezirkskrankenhäuser außerhalb des Vollzuges einzuweisen (als erkrankter Häftling i. S. des § 65 StVollzG). Genaue und umfassende Statistiken über die Psychiatrie im Justizvollzug Deutschlands existieren nicht. Dennoch gibt es Hinweise darauf, daß psychiatrisch erkrankte und behandlungsbedürftige Patientinnen im Justizvollzug einen wesentlichen Faktor darstellen. Ursache hierfür sind die große Gruppe der suchtkranken Patientinnen unter Einschluß der von illegalen Drogen Abhängigen sowie die Gefängnis- bzw. Haftsituation. Besonders ins Gewicht fallen hier der Freiheitsentzug und damit die Trennung vom bisherigen sozialen Umfeld, die Aggressionen und Bedrohungen seitens der Mithäftlinge und das machtlose Ausgeliefertsein im Rahmen der Strukturen des offiziellen Justizvollzuges. Auch aus den Delikten erhellt schon oft eine bereits inhärente psychische Störung (Beschaffungsdelikte im Rahmen einer Heroinabhängigkeit, Konflikttötungsdelikte etc.). Darüber hinaus kommt es an vielen Punkten während der Haft zwangsläufig zu Erinnerungen an die Tat und zur inneren Auseinandersetzung damit. Grundsätzlich können alle psychiatrischen Erkrankungen auch unter den Bedingungen des Vollzuges auftreten. Besondere Häufungen finden sich im Bereich der abhängigen Krankheitsbilder, der psychosomatischen Störungen, der Depressionen und Psychosen, der Haftreaktionen im Sinne von nicht normalen Erlebnisreaktionen unter Haftbedingungen und der Sexualstörungen. Die Empirie der Anstaltsärzte zeigt, daß Patientinnen mit psychiatrischen Erkrankungen in den letzten Jahre enorme Zuwachsraten haben. Obwohl pro Jahr immer ca. 200.000 Inhaftierte in über 200 Justizvollzugseinrichtungen mit ca. 80.000 Haftplätzen psychiatrisch versorgt werden müssen, existieren nur in einigen der alten Bundesländer eigene justizvollzugliche psychiatrische Krankenabteilungen bzw. -stationen. Bei all ihren Problemen würde sich zu deren Lösung für die Gefängnispsychiatrie eine enge Vernetzung und Zusammenarbeit mit externen Psychiatrieeinrichtungen anbieten. Berlin hat auf diesem Gebiet
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einen entscheidenden Schritt getan. Zwischen dem Justizsenator und der Freien Universität Berlin ist Mitte 1994 eine Kooperation vereinbart worden. So wurde ein habilitierter Mitarbeiter der Universität zum Leiter der Psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses der Berliner Vollzugsanstalten ernannt. Ziel der Vereinbarung ist die Zusammenarbeit in Forschung, Lehre und ärztlicher Weiterbildung. Vor diesem Hintergrund können sowohl Wissenschaft als auch Justiz bei diesem Modell profitieren. Beide Seiten können voneinander lernen, die Wahrscheinlichkeit eines Mißbrauches der Psychiatrie durch Angehörige der Justiz wird geringer und der universitären Psychiatrie erschließt sich ein neues, interessantes Arbeitsfeld.
IV. Die ärztliche Schweigepflicht Die Grundzüge von ärztlicher Schweigepflicht und ärztlichem Schweigerecht sind an mehreren Stellen geregelt bzw. lassen sich aus Verschiedenem herleiten. Im Eid des Hippokrates wird unter anderem zur Schweigepflicht gesagt: Was immer ich sehe und höre, bei der Behandlung oder außerhalb der Behandlung, im Leben des Menschen, so werde ich von dem, was niemals nach draußen ausgeplaudert werden soll, schweigen, indem ich alles Derartige als solches betrachte, das nicht ausgesprochen werden darf. Auf der Grundlage des hippokratischen Eides hat der Weltärztebund in seiner 2. Generalversammlung 1948 in Genf die ethischen Grundsätze des ärztlichen Wirkens neu formuliert. Dieses „Genfer Gelöbnis" ist präambelartig der ärztlichen Berufsordnung vorangestellt. Dort heißt es neben anderem zur Schweigepflicht: Ich werde alle mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod des Patienten hinaus wahren. Auch die modernen ärztlichen Berufsordnungen selber beinhalten die Schweigeverpflichtung (vgl. z.B. § 2 der Berufsordnung der Ärztekammer Niedersachsen). Und in § 203 des Strafgesetzbuches (StGB) wird die unbefugte Schweigepflichtsverletzung des Arztes und anderer Personengruppen unter Strafe gestellt. Durch das Zeugnisverweigerungsrecht des Arztes wird das Schweigerecht des Arztes noch einmal betont. Schweigepflicht und -recht bestehen in gleicher Weise für die Berufshelfer des Arztes, z. B. Sprechstundenhilfen, Krankenschwestern, medizinische Assistenzberufe, Sanitätsbedienstete im Justizvollzug.
1. Ärztliche Schweigepflicht und ärztliches Schweigerecht im Justizvollzug Im allgemeinen Kontext des Arztes und seiner Tätigkeit sind Schweigerecht und -pflicht unbestritten. Schwierigkeiten und Konflikte gibt es aber immer dann,
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wenn Dritte mit eigenen Interessen beteiligt sind. Dies ist der Fall bei den Berufsgruppen der Krankenhausärzte, der Vertrauensärzte bzw. der Ärzte der Medizinischen Dienste der Krankenkassen, der Werks- bzw. Betriebsärzte, der beim Militär tätigen Ärzte, der Amtsärzte und der als Sachverständige tätigen Ärzte. Beim Anstaltsarzt sind die Interessen Dritter die Interessen des Vollzuges und der Strafverfolgungsorgane. Je nach Interessenlage variiert dabei die jeweils vertretene Meinung zwischen zwei Extrempunkten: Den einen Pol bildet die Meinung, dem Grunde nach gebe es für Ärzte im Justizvollzug überhaupt keine Schweigepflicht. Den anderen Pol bildet die Auffassung, daß nach der unerträglichen Rolle und Einbindung vieler Anstaltsärzte in die Konzentrationslager- und EuthanasieGreuel der Nazi-Zeit, heute der Schweigepflicht im Vollzug, als Zeichen einer primär patientenorientierten Gefängnismedizin, ein ganz besonders hoher Stellenwert zuzumessen ist, mit Schweigepflicht im Vollzug also bedeutend sorgfältiger umgegangen werden muß als außerhalb der Mauern. Dazwischen steht die Meinung, daß der Anstaltsarzt in besonderen Fällen und Situationen befugt, aber nicht verpflichtet sei, die Schweigepflicht zu durchbrechen. Ein darüber hinausgehender Standpunkt leitet daraus allerdings ab, daß, wenn die Schweigepflichtsdurchbrechung befugt, also nicht mehr strafbar ist, daraus für den beamteten Anstaltsarzt eine Art Verpflichtung zur Schweigepflichtsdurchbrechung z. B. gegenüber dem Anstaltsleiter abzuleiten sei. Allerdings heben diese Meinungen darauf ab, daß der Anstaltsleiter die Gesamtverantwortung für den Vollzug trage. Dieser Anspruch ist aber vom Gesetzgeber bewußt nicht ins neue Strafvollzugsgesetz übernommen worden. Hier ist geregelt, daß der Anstaltsleiter die Verantwortung in der Außendarstellung der Anstalt sowie in den Vollzugsbereichen trägt, die nicht in der Verantwortung anderer Mitarbeiter liegen. Die Medizin mit der Alleinverantwortlichkeit des Anstaltsarztes ist sicher ein klassisches Beispiel für einen Bereich, der aus dem Verantwortungsbereich des Anstaltsleiters ausgeklammert ist. Die Grenzen der ärztlichen Schweigepflicht beschreibt beispielsweise der eingangs schon erwähnte § 2 Abs. 4 der Berufsordnung der Ärztekammer Niedersachsen. Hier heißt es: Der Arzt ist zur Offenbarung befugt, aber nicht verpflichtet, soweit er von der Schweigepflicht entbunden worden ist oder soweit die Offenbarung zum Schutze eines höherwertigen Rechtsgutes erforderlich ist. Letzteres gilt auch für Aussagen in gerichtlichen Verfahren. Weitere Grenzen der ärztlichen Schweigepflicht liegen zum einen bei den im Infektionsschutzgesetz (IfSG) festgeschriebenen meldepflichtigen Erkrankungen (gegenüber dem Gesundheitsamt, nicht gegenüber der Anstalt) und bei der Kenntnis von schweren Verbrechen vor. Hier ist der Arzt zur Durchbrechung der Schweigepflicht verpflichtet.
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Zur Offenbarung befugt, aber nicht verpflichtet, ist der Arzt bei der Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht durch die Patientin. Auch die Wahrung berechtigter eigener Interessen wird als Grund zur Durchbrechung der Schweigepflicht gemeinhin anerkannt. Klassisches Beispiel für eigene Interessen aus der Medizin außerhalb der Mauern ist der Arzt, der offene Rechnungen eintreiben will. Klassisches Beispiel hierfür aus dem Bereich der Vollzugsmedizin ist die Beschwerde über den Anstaltsarzt bei einer anderen Stelle. Hier wird der Anstaltsarzt Auskünfte in seiner sich verteidigenden Stellungnahme abgeben können, auch ohne Schweigepflichtsentbindung der Patientin. Zusammenfassend unterliegt der Anstaltsarzt zumindest in gleichem Maß wie jeder andere Arzt auch der ärztlichen Schweigepflicht. Insbesondere gegenüber seinem Dienstherrn und der Anstaltsleitung kann er sich auf sein Schweigerecht berufen. Für die Begründung der Schweigeverpflichtung ist es unerheblich, ob die Patientinnen-Arzt-Beziehung freiwillig zustandegekommen ist oder ob zwischen Patientin und Arzt ein Vertrauensverhältnis besteht. Allerdings hat es der Gesetzgeber in § 182 des 4. Strafvollzugsänderungsgesetz (StVollzGÄndG) 1998 im neu gefassten Fünften Titel: Datenschutz für nötig erachtet, die Schweigepflicht der im Vollzug tätigen Berufsgruppen aus § 203 StGB (Ärzte, Zahnärzte, Psychologen, Suchtberater, Sozialarbeiter) zu konkretisieren. Hier schränkt er die Schweigepflicht für die genannten Berufsgruppen zum Teil erheblich ein, wenn es „für die Aufgabenerfüllung der Vollzugsbehörde unerläßlich oder zur Abwehr von erheblichen Gefahren für Leib oder Leben des Gefangenen oder Dritter erforderlich ist" (§ 182 Abs. 2 StVollzG). Ärzte und Zahnärzte sowie deren Berufshelfer sind in diesen Fällen befugt, ihre Schweigepflicht zu durchbrechen, die Mitglieder der anderen genannten Berufsgruppen sind sogar dazu verpflichtet. Wobei der Begriff der Aufgabenerfüllung der Vollzugsbehörde natürlich ein problematisch-unklarer Terminus ist. Da das StVollzG eine Gesundheitsfürsorge fordert und sicher auch erwartet, daß diese effektiv ist, kann durch eine bestehende und ernst genommene Schweigeverpflichtung des Anstaltsarztes vielleicht eine vertrauensvolle, tragfähige und damit gesundheitlich effektivere Patientinnen-Arzt-Beziehung geschaffen werden.
2.
Einsichtsrecht in die Gesundheitsakten
Die Frage des Einsichtsrechtes stellt sich lediglich in Richtung auf die Gefangene oder auf von dieser Beauftragte (z. B. Rechtsanwalt, Hausarzt). Anstaltsleitungen, Dienstherrn, Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichten und Sachverständigen steht grundsätzlich kein Einsichtsrecht in die Gesundheitsakten zu. Aus diesem Grunde werden Personalakten (von der Vollzugsbehörde) und Gesundheitsakten (vom
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Anstaltsarzt) getrennt geführt. Auch als Gutachter tätigen Kollegen kann die Gesundheitsakte nur mit Einwilligung der Patientin zur Verfügung gestellt werden.
3. Gutachterliche Tätigkeit Generell ist es problematisch, einen behandelnden Arzt zum Gutachter zu bestellen. Aus diesem Grunde besteht für den jeweils behandelnden Arzt ein Recht, die Gutachtenerstattung abzulehnen. Der Gutachter muß nach Übernahme des Gutachtenauftrages und vor Beginn der Beschäftigung mit der Patientin diese darauf hinweisen, daß die im Zusammenhang mit dem Gutachten gemachten ärztlichen Erkenntnisse nicht der Schweigepflicht unterliegen, sondern dem Auftraggeber des Gutachtens zur Verfügung gestellt, eventuell sogar im Rahmen einer öffentlichen Gerichtsverhandlung öffentlich gemacht werden. Der behandelnde Arzt, der einen Gutachtenauftrag übernimmt, gerät eigentlich in einen unlösbaren inneren Konflikt: Sämtliche Erkenntnisse, die er als behandelnder Arzt gewonnen hat, unterliegen weiterhin der Schweigepflicht, er muß sie als Gutachter gleichsam vergessen. In der täglichen Realität ist eine solche Trennung kaum möglich, die Vermischung von der Schweigepflicht unterliegenden Kenntnissen aus der Behandlertätigkeit und den nicht der Schweigepflicht unterliegenden aus der gutachterlichen Tätigkeit scheint unvermeidbar.
V. Besonderheiten des Frauenvollzuges Obwohl die Vorgaben des Gesetzes für alle Gefangene in gleichem Maße zutreffen, treten im Frauenvollzug durchaus Besonderheiten auf. Diese Besonderheiten in den Blick zu nehmen, ist insofern interessant, als außerhalb der Gefängnisse in der Gesellschaft „gender-mainstream“, also das Wahrnehmen von gesellschaftlichen Bedingungen und Zusammenhängen unter geschlechtsspezifischen Aspekten zunehmend gefordert und umgesetzt wird. Allerdings existiert keine aktuelle Forschung, die die Medizin im Frauenvollzug gezielt beforscht. Haben wir Medizin im Frauenvollzug im Blick, so sind wir weitgehend auf Empirie angewiesen.
1.
Das Problem der kleinen Zahlen – alles unter einem Dach
Inhaftierte Frauen machen ca. 4 – 5 % aller Inhaftierten in Deutschland aus. Kriminalität scheint also Männersache zu sein. Macht man sich auf die Suche nach der Ursache, so wird man kaum zu Ergebnissen kommen. Sind Frauen schlauer und werden also seltener erwischt, werden Frauen via Mitleidsfaktor später und milder verurteilt? Naheliegend scheint die Übertragung einer Erkenntnis aus der Suchtforschung. Diese Erkenntnis besagt, daß Mädchen/Frauen deutlich niedrigere Prävalenzen für illegalen Drogenkonsum aufweisen als Jungen/Männer, und
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wird damit erklärt, daß Mädchen/Frauen eine stärkere Bindung an gesellschaftliche Normen aufweisen und sie damit stärker vor illegalen Handlungen zurückschrecken. Die kleinen Zahlen im Frauenvollzug führen dazu, daß die Differenzierung, die im Männervollzug üblich ist, im Frauenvollzug nicht gewährleistet werden kann. So finden sich im Frauenvollzug Inhaftierte aller Altersgruppen. In der JVA für Frauen Vechta ist derzeit die jüngste Inhaftierte 14 Jahre und die älteste 78. In der JVA für Frauen in Vechta, der zentralen Hafteinrichtung für Frauen im Lande Niedersachsen, finden sich außerdem alle Strafarten unter einem Dach: Strafen von wenigen Tagen Ersatzfreiheitsstrafe bis zur lebenslangen Freiheitsstrafe, Untersuchungshaft ebenso wie Strafhaft, Jugendliche ebenso wie Erwachsene, offener und geschlossener Vollzug, Unterbringung zusammen mit den Kindern in offenen und in geschlossenen Mutter-Kind-Einrichtungen. Eine Spezialität des Frauenvollzuges in Vechta ist zudem noch, daß hier vor dem Hintergrund einer Verwaltungsvereinbarung der Jugendvollzug für die Länder Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein vollzogen wird.
2.
Medizinfelder im Frauenvollzug
a)
Sucht und Drogen
Besonders herausgestellt werden muß im Frauenvollzug der hohe Anteil an drogenkonsumierenden inhaftierten Frauen. Während der Anteil an intravenös drogenkonsumierenden Inhaftierten im Männervollzug mit ca. einem Drittel angegeben wird, liegt der Anteil der intravenös drogenkonsumierenden Frauen in Haft bei über 50 Prozent. Frauen mit anderem, nicht intravenösem Drogenkonsum (Alkoholabhängigkeit, Cannabiskonsum etc.) sind hier nicht eingerechnet. Von daher ist das Arbeitsfeld Sucht und Drogen klar. Jede Krankenabteilung einer Frauenhaftanstalt muss insofern (auch) Schwerpunktpraxis für Drogenkranke sein und sollte zumindest die heute anerkannten Behandlungsmöglichkeiten von Suchterkrankungen vorhalten. b) Gynäkologische Betreuung und Schwangerschaftsbetreuung Naheliegend ist, daß bei inhaftierten Frauen alle gynäkologischen Erkrankungen auftreten können, die auch außerhalb vorkommen. Da eine Schwangerschaft kein Grund ist, der die Strafvollstreckung hindert, sind schwangere Frauen im Frauenvollzug keine Seltenheit. In der JVA für Frauen in Vechta geht der Anteil schwangerer Frauen bis in eine Größenordnung von acht Prozent. Allerdings beschränkt sich die Betreuung auf die reine Schwangerschaftsvorsorge. Entbindungen innerhalb von Justizvollzugseinrichtungen sind vom Gesetzgeber nicht gewollt. Auch dürfen standesamtliche Unterlagen, die das Kind betreffen, keinerlei Hinweise enthalten, die Rückschlüsse auf die Inhaftierung der Mutter zum Entbindungszeitpunkt zulassen.
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c)
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Allgemeinmedizin
Natürlich zeigt sich das gesamte Spektrum der Allgemeinmedizin auch in der Frauenhaftanstalt: Husten, Schnupfen, Heiserkeit, Fuß umgeknickt, Finger geschnitten, Rückenschmerzen, Akne, usw. d) Sonstige Erkrankungen Über die Arbeitsfelder Sucht und Drogen, Gynäkologie und Allgemeinmedizin hinaus gibt es eine Reihe von Erkrankungen, die zumindest häufiger sind, als in Freiheit. Auffällig ist ein hoher Anteil an psychiatrischen Erkrankungen: Psychosen, Depressionen, Borderline-Störungen, Anorexia und Bulimia nervosa, um nur einige zu nennen. Im Zusammenhang mit der oft zu findenden Drogenabhängigkeit treten häufig die damit zusammenhängenden Infektionskrankheiten Hepatitis A, B, C und HIV auf. Auch psychosomatische Erkrankungen gelten als häufig.
3.
Frauenmedizin ist teurer
Wenn es um die Gesundheit geht, gibt es große Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Sowohl die gesundheitlichen Probleme wie auch die Art und Weise der Bewältigung sind oft sehr verschieden. So gibt es typische Frauenkrankheiten und typische Männerkrankheiten. Frauen nehmen generell häufiger ärztliche Hilfe in Anspruch als Männer. Das gilt sowohl für Arztkonsultationen in der Praxis als auch für stationäre Aufenthalte. In der Arztpraxis klagen Frauen oft über allgemeine Befindlichkeitsstörungen, ein Phänomen, das häufig mit psychischen Belastungen in Verbindung gebracht wird. Die Folge davon ist ein erhöhter Konsum von Schmerzmitteln und Psychopharmaka, der sich mit zunehmendem Alter verstärkt. In den Wechseljahren steigen die gesundheitlichen Probleme noch einmal an. Die privaten Krankenversicherer untersuchen einmal jährlich die Altersabhängigkeit des Krankheitskostenwagnisses. Danach beanspruchen privat versicherte Frauen über 60 Jahre im Durchschnitt weniger ärztliche Behandlungen, Arzneimittel und sonstige Leistungen als Männer diesen Alters. Frauen ab 50 verbringen zudem weniger Tage im Krankenhaus als gleichaltrige Männer. Aber jüngere Frauen haben – unabhängig vom Kostenrisiko durch Geburten – ein höheres Krankheitskostenwagnis als Männer gleichen Alters. Ihr Arzneimittelverbrauch ist zudem im Alter von 25 – 30 fast doppelt so hoch wie bei gleichaltrigen Männern. Der Medizinalreferent des Landes Niedersachsen geht per se davon aus, daß im Frauenvollzug bezogen auf den einzelnen Hafttag, die Medikamentenkosten um 20 Prozent höher liegen als im Männervollzug. Auch die privaten Krankenversicherer verkaufen aus den genannten Gründen Krankenversicherungs-Policen für Frauen teurer als für Männer.
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4.
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Frauen brauchen mehr Zeit
In eine ähnliche Richtung zielt auch die Feststellung, daß Frauen nicht nur häufiger den Arzt aufsuchen, mehr Medikamente konsumieren usw., sondern daß sie auch mehr Zeit in Anspruch nehmen. Vielfach suchen sie mit diffusen Befindlichkeitsstörungen die Sprechstunde auf und erwarten vom Arzt, daß er sich die nötige Zeit nimmt, alle anstehenden (auch nicht medizinischen) Probleme zu besprechen. Gelegentlich wird noch nicht einmal die Erstellung einer konkreten Diagnose erwartet oder gar gefordert. Dynamisches Zuhören alleine stellt die Patientin rundum zufrieden.
5.
Mutter-Kind-Einrichtungen
Eine weitere Besonderheit sind die sog. Mutter-Kind-Einrichtungen. Meines Wissens existieren in Deutschland keine vergleichbaren Einrichtungen im Sinne von Vater-Kind-Einrichtungen. Mutter-Kind-Einrichtungen basieren auf der Überlegung, daß die Trennung von Mutter und Kind in bestimmten Situationen für das Kind eine große Härte und Belastung für darstellt. Um diese Belastung zu mindern, besteht in einigen Bundesländern die Möglichkeit, Mütter zusammen mit ihren Kindern zu inhaftieren. Eine Lösung, die häufig unter vielen schlechten Optionen bei mütterlicher Inhaftierung das kleinste Übel darstellt. Zudem sind die Konzepte der Mutter-Kind-Einrichtungen in aller Regel so, daß die Kinder bei der Unterbringung dort so wenig Schaden wie möglich nehmen. Da die Kosten für die Kinder von den zuständigen Jugendämtern und nicht vom Justizfiskus getragen werden, läuft auch die medizinische Versorgung nicht über die Anstaltsärzte. Insofern mögen die gemachten Anmerkungen an dieser Stelle genügen.
6.
Belastende Auswirkungen auf Kinder
Inhaftierte Frauen entwickeln gerade zu Zeiten der Inhaftierung ein extramural nicht vorhandenes Gesundheitsbewußtsein. Nach vielen Jahren der Arztkarenz werden erstmals nach der Inhaftierung der Anstaltsarzt oder der Zahnarzt in den Sprechstunden in Anspruch genommen. Krebsvorsorgeuntersuchungen werden abgefordert. Bereits fortgeschritten schwangere Frauen kommen in Haft erstmals in der Schwangerschaft zur Mutterschaftsvorsorge. Abszesse heilen ab, das Körpergewicht steigt. Wichtig ist, in der medizinischen Arbeit diese Zeit im Sinne von präventiven Botschaften zu nutzen, sind doch (schwangere) Frauen in der Lage, gravierende Erkrankungen auf ihre Kinder zu übertragen und ihren Kindern gravierende Gesundheitsschäden zu verschaffen. Als einige wenige Beispiele seien genannt: das häufige Rauchen vor und nach der Entbindung, der Konsum von legalen und/oder illegalen Drogen, die Übertragung von schweren Infektionskrankheiten von der Mutter auf das Kind (HBV, HCV, HIV). So ist es kein Wun-
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der, daß ein Argument die entscheidenden Weichen für die Einführung der HBVImpfung von Inhaftierten im niedersächsischen Frauenvollzug stellte: im Mutterleib oder bei der Entbindung von der Mutter mit Hepatitis B infizierte Kinder haben eine extrem schlechte Prognose. Viele von ihnen werden nicht wesentlich älter als zehn Jahre.
7.
Ressourcenknappheit in der Frauenmedizin
Als Reflex der kleinen Zahlen im Frauenvollzug war zumindest in Niedersachsen lange Zeit eine starke Ressourcenknappheit im Bereich stationärer Krankenhausbetten zu verspüren. Bis vor kurzem verfügte das Justizvollzugskrankenhaus überhaupt nicht über Frauenbetten. Mittlerweile ist eine Frauenstation mit fünf Betten geschaffen worden. Gleiches gilt für Betten auf der psychiatrischen Krankenabteilung. Da diese nur über wenige Einzelzimmer verfügt, die in aller Regel durch erkrankte Männer bereits belegt sind, ist eine Unterbringung in einem Mehrbettzimmer oftmals mit Problemen behaftet, da je nach Unterbringungssituation für eine einzelne Frau ein Mehrbettzimmer freigemacht werden müßte. Darüber hinaus ist die Unterbringung von psychiatrisch erkrankten Frauen nur auf einer gemischt-geschlechtlichen Station möglich, eine Situation, die nicht immer zur Gesundung psychiatrisch erkrankter Frauen beiträgt.
8.
Simulation, Aggravation, Placebo
Gemeinhin wird unterstellt, gerade im Justizvollzug gebe es eine besonders hohe Rate an Simulanten. Die gefängnismedizinische Erfahrung zeigt, daß der echte Simulant selten ist. Zumindest aber ist er nicht häufiger als der Patient extramural bei einem Begehren nach dem berühmten „gelben Zettel“. Mit Simulation ist hier das Erfinden und Vorspielen von tatsächlich nicht vorhandenen Symptomen gemeint. Was häufiger ist, ist die Aggravation. Damit ist das verstärkte Wahrnehmen von tatsächlich vorhandenen, oft objektiv leichten Symptomen gemeint, die möglicherweise gar keinen Krankheitswert besitzen. Dieses Phänomen kennt jeder Chirurg in jedem Krankenhaus dieser Welt aus seiner Nachtdiensttätigkeit. Es meint den Patienten, der nachts um drei Uhr ins Krankenhaus kommt und davon berichtet, daß er seit mehreren Tagen komische Bauchschmerzen habe, die ihn heute nacht aber besonders beunruhigt hätten. Natürlich muß dieser Patient unter einem erheblichen Leidensdruck stehen, um sich nachts ins Krankenhaus zu begeben. Auch nicht ausgeschlossen ist, daß sich tatsächlich seine Beschwerden über mehrere Tage so entwickelt haben, daß sie nunmehr „krankenhauspflichtig“ geworden sind. Viel häufiger aber ist das Phänomen, daß Bauchschmerzen nachts, wenn man im Dunkeln einsam und verlassen in seinem Bette liegt, eben sehr viel bedrohli-
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cher und damit beunruhigender wahrgenommen werden als am Tag, wenn man zudem vielleicht auch noch Ablenkung hat. Gleiches geschieht bei sog. funktionellen Beschwerden. Funktionelle Beschwerden sind objektiv vorhandene Beschwerden, die aber keinen Krankheitswert haben. Natürlich fallen dem Gynäkologen dabei zunächst Beispiele aus dem eigenen Tätigkeitsfeld ein. So kann der Milcheinschuß nach einer Entbindung ausgesprochen schmerzhaft sein. Einige Frauen nehmen ihren Eisprung als sehr schmerzhaften Bauchfellreiz wahr. Beides zum Teil starke Schmerzereignisse ohne jeden Krankheitswert. Wenn Sie diesen Beispielen nicht gut folgen können, ein Beispiel aus dem Leben, das wohl jeder nachvollziehen kann: der Muskelkater. Nach ungewohnter sportlicher Betätigung ein Ereignis, das mit großen Schmerzen und Bewegungseinschränkungen verbunden sein kann, ohne tatsächlich Krankheitswert zu besitzen. Natürlich ist es nachvollziehbar, daß bestehende, möglicherweise harmlose Beschwerden unter den subjektiv belastend wahrgenommenen Bedingungen der Haft bedrohlich und gefährlich erscheinen. In diesem Sinne ist Aggravation in der Gefängnismedizin sicher häufig. Zum Einsatz von Placebos kann man sicher unterschiedlicher Meinung sein. Ich persönlich habe sie weder extramural während meiner Zeit im Krankenhaus eingesetzt noch setze ich sie im Gefängnis ein.
9.
Schweigepflicht, Kommunikation unter Frauen
Über die Schweigepflicht im Vollzug haben Sie ja bereits im Rahmen dieser Tagung gehört. Sicher gilt die ärztliche Schweigepflicht im Vollzug. Gleichwohl ist auch hier die Situation im Frauenvollzug anders als im Männervollzug. Frauen sind grundsätzlich kommunikativer, reden oftmals ohne echte Zweckorientierung über Gott und die Welt. Viel mehr als Männer sind sie bereit, auch über ihre Schwächen (und Krankheit in diesem Zusammenhang ist eine Schwäche) zu kommunizieren und sich auszutauschen. Als Folge davon sind im Frauenvollzug viel mehr individuelle (auch gesundheitliche) Fakten allgemein bekannt als im Männervollzug. Darüber hinaus sind die Frauenanstalten in der Regel kleiner und damit überschaubarer. Auch das sorgt dafür, daß von den allermeisten das Allermeiste allgemein bekannt wird, ohne daß die Medizin gegen ihre Schweigepflicht verstoßen hätte.
10. Frauenvollzug als Experimentierfeld Natürlich sind Sicherheitsaspekte auch im Frauenvollzug relevant. Gleichwohl spielt Sicherheit im allgemeinen eine ungleich unwichtigere Rolle als im Männervollzug. Das hat zur Folge, daß sich der Frauenvollzug eher dazu eignet, vollzugliches Neuland zu betreten und neue Dinge über Pilotprojekte auszuprobieren.
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In Niedersachsen waren das auf medizinischem Gebiet vergleichsweise brisante Projekte wie die Methadonsubstitution und die Vergabe von sterilen Einmalspritzen an drogenkonsumierende Gefangene.
VI. Forderungen an eine zukünftige Anstaltsmedizin Eine zukünftige Anstaltsmedizin kann, gleich ob im Frauen- oder im Männervollzug, noch an vielen Punkten verbessert werden. Drei Vorgaben würden entscheidend dazu beitragen, diese Verbesserungen zu realisieren: Das Herstellen von Öffentlichkeit hätte eine größere Durchlässigkeit zwischen extra- und intramuraler Medizin zur Folge und würde der Qualitätsverbesserung dienen. Denkbar wären für die Zukunft medizinische Versorgungsmodelle, bei denen intra- und extramurale Medizin verzahnt werden. So wären öffentliche Krankenhäuser denkbar, in denen gesicherte Stationen für inhaftierte Patienten existieren. Oder medizinische Ambulanzen in (zunächst einmal) großen Justizvollzugsanstalten, die von externen Fachärzten aufgesucht werden. D. h., der externe Arzt käme auch im ambulanten Bereich zum Patienten, nicht der Patient muß zum externen Arzt vorgeführt werden. Das alles ist nur realisierbar, wenn gegenseitige Berührungsängste abgebaut werden. Gegenseitige Offenheit im Sinne von Herstellen von Öffentlichkeit ist dafür aber Voraussetzung. Durch das Herstellen von Öffentlichkeit würden auch die Phantasien der Bevölkerung über das Innere von Justizvollzugsanstalten gesichertem Wissen darüber weichen. Nur so läßt sich die Öffentlichkeit dafür sensibilisieren, daß nicht Justizbüttel Kriminelle wegschließen, sondern daß in Gefängnissen von hochqualifizierten Mitarbeitern Menschen betreut werden, die von der Gesellschaft als Versager apostrophiert, weitgehend jedoch von der Gesellschaft selbst produziert werden. Bereits bei der Entstehung des Strafvollzugsgesetzes in den 70er Jahren war ursprünglich geplant, die medizinische Versorgung der Inhaftierten in die gesetzliche Krankenversicherung zu integrieren. Vielleicht sind ein Wiederaufgreifen und eine Umsetzung dieser Idee geeignete Schritte auf dem Weg zu einer Angleichung. Anstaltsmedizin arbeitet immer in dem eingangs erwähnten Spannungsfeld. Dieses Spannungsfeld orientiert sich auf der einen Seite am Patienten, unterliegt auf der anderen Seite aber auch vollzuglichen Zwängen. Anstaltsmedizin sollte sich klar für das Primat der Medizin entscheiden. Primär sollte der Anstaltsarzt patientenorientierte Entscheidungen treffen. Eine weitere wesentliche Verbesserung der Medizin im Vollzug ist durch die Einbindung in qualitätssichernde Maßnahmen zu erreichen. Die Standards für solche qualitätssichernde Maßnahmen sind zum Teil auf europäischer Ebene bereits vorformuliert. Auf nationaler Ebene sind sie bereits in die kassenärztliche Medizin eingeflossen. Die Anstaltsmedizin sollte sich offensiv solchen qualitätssi-
192
Karlheinz Keppler
chernden Maßnahmen zuwenden und stellen. Ein mögliches Instrument stellen die im Kassenarztsystem bereits etablierten ärztlichen Qualitätszirkel dar. Hier werden Standards in eigener Verantwortlichkeit der jeweils betroffenen Arztgruppen von diesen Ärzten für die eigene Arbeit entwickelt. Eine ärztlich selbst organisierte, praxisorientierte Form der Qualitätssicherung bietet sich insofern an, als von oben, also fremdbestimmte Standards meist wenig basisorientiert sind und daher von den Praktikern oft nicht akzeptiert werden können.
Gefängnismedizin im Frauenvollzug
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Literatur Böhm A, Schwind H-D (Hrsg.) (1999) Strafvollzugsgesetz. Berlin, New York, W. de Gruyter. 3. Aufl., Samml. Guttentag. Calliess R-P, Müller-Dietz H (2002) Strafvollzugsgesetz. München, Beck. 9. Aufl. Feest J (Hrsg.) (2000) Kommentar zum Strafvollzugsgesetz (AK-StVollzG) Neuwied, Kriftel, Luchterhand. 4. neu bearb. Auflage. Kaiser G, Kerner H-J, Schöch H (1991) Strafvollzug. Heidelberg, C. F. Müller. 4. Aufl. UTB. Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen (Hrsg.) (1997) Arztrecht in Niedersachsen: Teil II, Kassenärztliche Vereinigung. Sponholtz-Druck, Hemmingen. Missoni L (1996) Über die Situation der Psychiatrie in den Justizvollzugsanstalten in Deutschland. ZfStrVo 3: 143-146.
Sucht- und Infektionsgefahren im Strafvollzug Klaus Laubenthal
I. Einführung Suchterkrankungen bereiten bereits in Freiheit befindlichen Personen erhebliche Schwierigkeiten. Diese können vielfältiger Art sein. Betroffen sind die Beziehungen zum persönlichen Umfeld ebenso wie der Leistungsbereich. Damit einhergehend mögen finanzielle Engpässe auftreten. Diese können – in Verbindung mit einer generellen Veränderung der allgemeinen Lebensverhältnisse – einen sozialen Abstieg nach sich ziehen, der wiederum ein Abgleiten in die Kriminalität begünstigt. Ich nenne nur das Stichwort Beschaffungskriminalität. Werden suchtkranke Personen straffällig, haben deren ungünstige Lebensbedingungen häufig die Verhängung stationärer Sanktionen zur Folge. Es lässt sich vielfach keine für eine Strafaussetzung zur Bewährung erforderliche günstige Legalprognose i.S.d. § 56 Abs. 1 StGB stellen; Geldstrafen können nicht bezahlt werden, was die Verbüßung von Ersatzfreiheitsstrafen gemäß § 43 StGB nach sich zieht. Die besonderen Lebensumstände suchtkranker Menschen machen diese zugleich besonders anfällig für – auch gefährliche und todbringende – Infektionskrankheiten. Man denke nur an die mit der Beschaffungsprostitution verbundene gesteigerte HIV-Exposition durch ungeschützten Geschlechtsverkehr. Zudem ist davon auszugehen, dass ein beeinträchtigter körperlicher Allgemeinzustand, verbunden mit unregelmäßiger Lebensführung und unter Umständen schlechtem Wohn- und sonstigem Lebensumfeld, die Anfälligkeit für Infektionskrankheiten allgemein erhöht. Treten abhängige oder infektiöse Personen zum Strafvollzug in eine Justizvollzugsanstalt ein, verschärfen sich die Probleme unter den besonderen Bedingungen der totalen Institution1 noch. Drogenabhängige bilden eine spezielle Untergruppe der sich entwickelnden Gefangenensubkultur(en). Zwar liegt dem Behandlungskonzept unseres Strafvollzugsgesetzes das Idealbild der Justizvollzugsanstalt als problemlösende Gemeinschaft zugrunde.2 Dennoch stellt der Umgang mit süchti1
2
Vgl. Goffman, Asyle, 4. Aufl. 1981, S. 17; Laubenthal, Strafvollzug, 3. Aufl. 2003, S. 91 f. Dazu Laubenthal (Fn. 1), S. 74 ff.
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Klaus Laubenthal
gen und infektiösen Gefangenen die Anstalten und ihr Personal vor schwierige Aufgaben. Vonnöten erscheint nicht nur eine Behandlung des zu Tage getretenen Krankheitsbildes. Diese bildet zumindest bei Süchtigen regelmäßig die Voraussetzung dafür, dass mit sonstigen Angeboten des Vollzugs in (re-)sozialisierender Weise auf den Gefangenen eingewirkt und so das Vollzugsziel des § 2 S. 1 StVollzG erfüllt werden kann. Darüber hinaus bedarf es weiterer Anstrengungen, um der Ausbildung des anstaltsinternen Drogenhandels als spezieller subkultureller Ausprägung entgegenzuwirken und Mitgefangene sowie Bedienstete vor einer möglichen Ansteckung mit Infektionskrankheiten zu schützen.
II. Suchtproblematiken 1.
Nikotin
Nur geringe Bedeutung für die hier zu behandelnde Thematik kommt der bei vermutlich nicht wenigen Inhaftierten ausgeprägten Nikotinabhängigkeit zu. Ein Risikopotential im Hinblick auf das Vorliegen von Infektionsgefahren besteht nicht. Den mit dem Passivrauchen verbundenen Gesundheitsgefahren lässt sich im Rahmen des Möglichen durch die Belegung von Gemeinschaftshafträumen nur durch Raucher bzw. Nichtraucher entgegensteuern. Bei Gemeinschaftsveranstaltungen gilt der Erlass eines Rauchverbots zum Schutz der Nichtraucher als statthaft.3 Im Übrigen ist Rauchen in den Anstalten generell erlaubt, wobei Schwierigkeiten für einzelne Gefangene am ehesten daraus resultieren, dass sie nicht über die erforderlichen Mittel zum Einkauf (vgl. § 22 Abs. 1 S. 1 StVollzG) von Tabak verfügen. Es fördert möglicherweise subkulturelle Abhängigkeiten, wenn Inhaftierte sich das Genussmittel von besser gestellten Mitgefangenen besorgen müssen.
2.
Alkohol
Der Anteil der von Alkohol abhängigen kranken Gefangenen wird auf 20 bis 25 % geschätzt.4 Angesichts der mit übermäßigem Konsum vielfach einhergehenden Steigerung der Aggressivität unterliegt der Umgang mit Alkohol ungleich stärkeren Reglementierungen als derjenige mit Tabakwaren. Gemäß § 22 Abs. 2 S. 1 StVollzG dürfen Gegenstände, welche die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt 3
4
So OLG Nürnberg, ZfStrVo 1988, S. 191; OLG Hamm, NJW 1983, S. 583; Calliess/ Müller-Dietz, StVollzG, 10. Aufl. 2005, § 56 Rdn. 2, § 69 Rdn. 1; Schwind/ BöhmSchwind, StVollzG, 3. Aufl. 1999, § 69 Rdn. 5. So Konrad in: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren e. V./Gaßmann (Hrsg.), Suchtprobleme hinter Mauern: Drogen, Sucht und Therapie in Straf- und Maßregelvollzug, 2002, S. 101, 103 f.; vgl. auch Breuer-Kreuzer, ZfStrVo 1997, S. 93.
Sucht- und Infektionsgefahren im Strafvollzug
197
gefährden, vom Einkauf ausgeschlossen werden. Wegen der damit verbundenen Gefahren für eine Beeinträchtigung des geordneten Zusammenlebens in der Anstalt fallen hierunter auch alkoholische Getränke. 5 Dementsprechend verbietet VV Nr. 1 Abs. 3 zu § 22 StVollzG grundsätzlich deren Einkauf. Man erachtet es sogar als zulässig, hinsichtlich anderer Lebensmittel wie etwa Zucker Mengenbeschränkungen festzulegen, um auf diese Weise zu verhindern, dass die Gefangenen selbst Alkohol ansetzen.6 Weiter gehend ist im Hinblick auf die Sicherheitsinteressen der Anstalt dem Einkaufsverbot für Alkoholika eine generelle Entscheidung gegen Besitz sowie Konsum dieser berauschenden Mittel zu entnehmen. 7 Aus Klarstellungsgründen empfiehlt sich eine entsprechende Regelung in der gemäß § 161 Abs. 1 StVollzG zu erlassenden Hausordnung. Insoweit bedarf es eines Rückgriffs auf die Generalklausel des § 4 Abs. 2 S. 2 StVollzG nicht. 8 Zwar wird dieser Position in jüngerer Zeit entgegengehalten, sie lasse sich mit dem Auftrag des § 3 Abs. 1 StVollzG, demzufolge das Leben im Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen in Freiheit so weit wie möglich angeglichen werden soll, nicht in Einklang bringen.9 Hierbei handelt es sich allerdings um den Ausdruck einer Denkweise, die letztlich den mit Zwang verbundenen Vollzug stationärer Sanktionen zurückzudrängen versucht und dem Erfordernis, geregelte Verhältnisse in den Anstalten aufrechtzuerhalten, nicht gerecht wird. Alkoholkonsum bringt zwar eine gesteigerte Gefahr für die Verbreitung von Infektionskrankheiten nicht mit sich. Er wirkt sich aber schon in Freiheit häufig als kriminovalenter Faktor aus und vermag gerade unter den Bedingungen des Lebens in den Vollzugseinrichtungen die Begehung von Aggressionsdelikten zu begünstigen.
3.
Illegale Drogen
Unter illegalen Drogen sollen all diejenigen Substanzen und Zubereitungen verstanden werden, deren Besitz nach dem BtMG unerlaubt bleibt. So wie in Freiheit die Versorgung mit derartigen Stoffen auf keine nennenswerten faktischen Schwierigkeiten stößt, gilt dies auch in Justizvollzugsanstalten. Der Anteil der 5
6
7 8 9
Vgl. OLG Hamm, NStZ 1995, S. 55; Arloth in: Arloth-Lückemann, StVollzG, 2004, § 22 Rdn. 4; Calliess/Müller-Dietz (Fn. 3), § 22 Rdn. 4; Schwind/Böhm-Böhm (Fn. 3), § 22 Rdn. 5; Schöch in: Kaiser/Schöch, Strafvollzug, 5. Aufl. 2002, S. 288; Laubenthal (Fn. 1), S. 305; a.A. Kellermann in: Feest (Hrsg.), AK-StVollzG, 4. Aufl. 2000, § 22 Rdn. 6. Bejahend OLG Zweibrücken, NStZ 1986, S. 94 m. abl. Anm. Böhm; Arloth in: Arloth/Lückemann (Fn. 5), § 22 Rdn. 4; zurückhaltender Calliess/Müller-Dietz (Fn. 3), § 22 Rdn. 4. Dafür Laubenthal (Fn. 1), S. 305. A. A. Lückemann in: Arloth/Lückemann (Fn. 5), § 82 Rdn. 3. In diesem Sinn Köhne, ZRP 2002, S. 168 f.; Bedenken gegen das ausnahmslose Verbot selbst mäßigen Alkoholkonsums angesichts dessen extramuraler Sozialadäquanz auch bei Kellermann in: Feest (Fn. 5), § 22 Rdn. 6; siehe auch Lückemann in: Arloth/Lückemann (Fn. 5), § 82 Rdn. 3.
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Klaus Laubenthal
Drogenabhängigen an den Gefangenen ist hoch: Schätzungen bezüglich des Konsums harter Drogen wie Heroin, Kokain, Crack usw. variieren zwischen 10 und 40 %, wobei die meisten Angaben bei 30 % liegen.10 Der Anteil derjenigen, die schon Cannabis konsumiert haben, dürfte noch höher anzusetzen sein. 11 Obwohl Kriterien und Verfahren der Feststellung entsprechend belasteter Gefangener Kritik verdienen (zum Teil basiert die Zuordnung nur auf den Feststellungen des Strafurteils),12 gilt als sicher: Der Vollzugsalltag wird in hohem Maße von der Suchtproblematik geprägt. Drogen sind allerdings knapper und minderwertiger als außerhalb der Anstaltsmauern. Da die Droge der Wahl bisweilen nicht zur Verfügung steht, kommt es auch zur Einnahme von Substanzen mit mehreren Wirkgruppen nebeneinander.13 Die Finanzierung der Sucht kann vom geringen Arbeitsverdienst oder Taschengeld nicht erfolgen. Dies begünstigt die Ausbildung subkultureller Abhängigkeiten, indem von den Suchtkranken Wucherdarlehen aufgenommen oder Dienstleistungen gegenüber Mitinhaftierten erbracht werden müssen. Letztere können insbesondere im Einschmuggeln von Drogen in die Anstalt oder in deren intramuraler Distribution bestehen.14 Die Entwicklung subkultureller Strukturen wird auch dadurch indirekt gefördert, dass in den meisten Anstalten für drogenabhängige Gefangene keine besonderen Abteilungen vorgesehen sind. 15 Schließlich kommt es in weitaus höherem Maße als extramural zum gemeinsamen Gebrauch von Utensilien – wie Spritzen – bis zu deren gänzlichem Verschleiß, wobei der HIV-Status der Beteiligten unbekannt bleibt und auch nicht erfragt wird.16 Darüber hinaus fördert die gemeinschaftliche Benutzung von Injektionsspritzen nicht nur die Übertragung von HIV, sondern auch die Bildung von Sprit-
10
11
12
13 14
15 16
Vgl. Boetticher/Stöver in: Feest (Fn. 5), vor § 56 Rdn. 26; Gross, Wissenschaftliche Begleitung und Beurteilung des Spritzentauschprogramms im Rahmen eines Modellversuchs der Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, 1998, S. 3; Stiehler, Gesundheitsförderung im Gefängnis – eine strukturreflexive Analyse am Beispiel der AIDS-Prävention im sächsischen Justizvollzug, Diss. phil. Dresden 1999, S. 20; zurückhaltender aber Kern, ZfStrVo 1997, S. 90, 91. Zahlen für Europa finden sich bei Stöver, Drug and HIV/AIDS Services in European Prisons, 2002, S. 24 f. Zur Problematik ferner Knapp, AIDS im Strafvollzug, Diss. iur. Bonn 1996, S. 266 ff.; Tillack/Hari, ZfStrVo 2000, S. 353 f. Siehe Böllinger in: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren e. V./Gaßmann (Fn. 4), S. 65, 69. Zum Ganzen Kreuzer in: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren e. V./Gaßmann (Fn. 4), S. 35, 42; Schäfer/Schoppe in: Kreuzer (Hrsg.), Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts, 1998, S. 1401, 1403. Dazu Böllinger (Fn. 11), S. 69; Boetticher/Stöver in: Feest (Fn. 5), vor § 56 Rdn. 28. Hierzu Freie und Hansestadt Hamburg, Abschlussbericht der Kommission zur Entwicklung eines umsetzungsorientierten Drogenkonzeptes für den Hamburger Strafvollzug, 1995, zit. nach Stiehler (Fn. 10), S. 21. Vgl. Schäfer/Schoppe (Fn. 12), S. 1406. So Gross (Fn. 10), S. 3 f.
Sucht- und Infektionsgefahren im Strafvollzug
199
zenabszessen sowie die Verbreitung von Infektionen mit den Hepatitiden A, B und C.17
III. Infektionsgefahren Hinsichtlich der Belastung der Gefangenen mit ansteckenden Krankheiten liegen verschiedene Studien vor.
1.
HIV und andere geschlechtlich übertragbare Infektionskrankheiten
Mitte der 1990er Jahre wurde die Zahl der HIV-infizierten Inhaftierten bei den Männern mit zwischen 0,12 % und 2,8 % angegeben, bei den Frauen mit zwischen 0,48 % und 8 %. Eine Studie aus dem Hamburger Justizvollzug zeigte für die Jahre 1993 bis 1995 eine recht gleich bleibende Verbreitung des Virus bei zwischen 1,1 % und 1,6 % der Gefangenen, wobei allerdings ein Anstieg bei den Konsumenten harter Drogen zu verzeichnen war.18 Solche Angaben erscheinen auf den ersten Blick weniger dramatisch, als zu befürchten wäre. Weitere Untersuchungen fügen sich in dieses Bild ein. Zahlen aus Sachsen für die Jahre 1992 bis 1996 belegen, dass zu dieser Zeit weit unter einem Prozent der Inhaftierten mit HIV infiziert waren. Eine steigende Tendenz bei den Inhaftiertenraten ließ sich danach nicht konstatieren.19 Insoweit mag allerdings die noch geringere Verbreitung harter Drogen in den neuen Bundesländern während der ersten Jahre nach der Wende eine Rolle spielen. Im hessischen Vollzug ging der Anteil HIV-positiv Getesteter von 1989 bis 2000 von 2,3 % auf 1,7 % zurück,20 in den badenwürttembergischen Anstalten von 1991 bis 1996 von 1,64 % auf 0,98 %.21 Nach einer unveröffentlichten Erhebung aus dem bayerischen Justizvollzug waren im Jahr 1997 0,47 % der Gefangenen HIV-positiv. Bei 35.000 Nachuntersuchungen zum Entlassungszeitpunkt konnte zwischen 1985 und dem 31.3.1998 nur eine Neuinfektion während der Haft festgestellt werden.22 Dem stehen allerdings andere Studien gegenüber, denen zufolge Hafterfahrung bei intravenös Drogen Konsumierenden einen beachtlichen Risikofaktor bildet.23 Zahlen zum 31.12.1995 deuten schließlich ebenfalls auf eine Infektionsquote von meist unter einem Prozent der 17 18 19
20 21 22
23
Vgl. Gross (Fn. 10), S. 4. Zum Ganzen Boetticher/Stöver in: Feest (Fn. 5), vor § 56 Rdn. 38. Näher Stiehler (Fn. 10), S. 64 ff. (zum 31.12.1994: 9 von 2817 Gefangenen, für 1995: 6 von 3334, 1996: 8 von 3614). Kreuzer (Fn. 12), S. 58. Siehe Gbordzoe, ZfStrVo 1997, S. 87. So Bayer. Staatsministerium der Justiz, Drogenmissbrauch im bayerischen Strafvollzug, 2. Aufl. 1999, S. 36 f. Näher Boetticher/Stöver in: Feest (Fn. 5), vor § 56 Rdn. 39 m.w.N.; Heudtlass/Stöver, ZfStrVo 1998, S. 155, 157; Stöver (Fn. 10), S. 41.
200
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männlichen Gefangenen hin, wobei bei den weiblichen Inhaftierten der Anteil höher lag (1,14 % in Nordrhein-Westfalen, 3,47 % in Niedersachsen). 24 Insoweit spielt eine Rolle, dass insgesamt viel weniger Frauen als Männer eine Freiheitsstrafe zu verbüßen haben, wodurch einzelne Fälle sogleich größeres Gewicht erlangen. Zu berücksichtigen bleibt allerdings, dass nicht in sämtlichen Bundesländern in gleichem Ausmaß auf HIV-Infektionen hin getestet wurde und wird. 25
2.
Hepatitis
Eine Studie des Bayer. Staatsministeriums der Justiz aus dem Jahr 1999 geht auf der Basis von über 4.000 Untersuchungen in vier Anstalten von ca. 12 bis 20 % Hepatitis-C-Antikörperträgern unter den Gefangenen aus. Dabei wurde die Prävalenzrate der Gruppe der drogenabhängigen Insassen mit 61 bis 75 % ausgewiesen, ausländische Gefangene dominierten zwar bei Hepatitis B, nicht jedoch bei Hepatitis C. Allerdings deuten die Ergebnisse darauf hin, dass sich Hepatitis C unter jungen Spätaussiedlern aus der früheren Sowjetunion endemisch ausbreitet. Etwa drei Viertel der Antikörperträger waren sicher infektiös. Nachdem bereits die Eingangsuntersuchungen hohe Infektionsraten ergeben hatten, nimmt man an, dass die Infektion regelmäßig nicht erst im Vollzug erworben wurde.26 Eine Untersuchung aus dem baden-württembergischen Vollzug gelangt zu vergleichbaren Ergebnissen.27 Es ist davon auszugehen, dass unter den Konsumenten harter Drogen in den Institutionen der Anteil der Infizierten denjenigen an der Normalbevölkerung in ganz signifikanter Weise übersteigt.28
3.
Tuberkulose
Jüngeren Datums sind die mit der Rückkehr der Tuberkulose verbundenen Gefährdungen der Gesundheit in den Vollzugsanstalten. Diese Krankheit breitet sich aus Osteuropa wieder nach Westen aus. Vergegenwärtigt man sich, dass Spätaussiedler aus der seinerzeitigen Sowjetunion immer größeren Anteil an der Vollzugspopulation erlangen,29 gewinnt man eine Erklärung dafür, warum diese Krankheit gerade den Justizvollzug vor zusätzliche Herausforderungen stellt, 24 25 26
27
28 29
Vgl. BT-Drs. 13/9329, S. 27. Dazu Boetticher/Stöver in: Feest (Fn. 5), vor § 56 Rdn. 39. Bayer. Staatsministerium der Justiz, Hepatitis im Strafvollzug, Stand November 2000, Teil I. Siehe Boetticher/Stöver in: Feest (Fn. 5), vor § 56 Rdn. 50; Gbordzoe (Fn. 21), S. 87 f. Vgl. weiter Heudtlass/Stöver (Fn. 23); Stöver (Fn. 10), S. 43. Zum Problem etwa Dietlein, ZfStrVo 2002, S. 151 ff.; Dolde, ZfStrVo 2002, S. 146 ff.; Grübl/Walter, BewHi 1999, S. 360 ff.; Rieder-Kaiser, Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung, 2004, S. 102 ff.
Sucht- und Infektionsgefahren im Strafvollzug
201
selbst wenn für Deutschland hierzu noch keine detaillierten Studien publiziert sind. Zum anderen werden aber auch aus Südeuropa dramatische Zahlen berichtet: 50 % der in Spanien Inhaftierten sollen positiv getestet sein. 30 Brisanz bringt die Kombination mit HIV mit sich, da sich in diesem Fall die Wahrscheinlichkeit eines Krankheitsausbruchs erhöht.31
IV. Präventionsmaßnahmen 1.
Allgemeines – Testverfahren, Beratung der Betroffenen und Information Dritter
a)
Testverfahren
Zunächst ist im Rahmen der Prävention daran zu denken, einen verlässlichen Überblick über die Belastung der Gefangenen mit infektiösen Erkrankungen zu gewinnen. Abgesehen von der fehlenden Nachweisbarkeit während der Inkubationszeit stehen Testverfahren zur Verfügung, mit deren Hilfe die oben erwähnten Infektionen nachgewiesen werden können – seien es Bluttests in Bezug auf HIV und Hepatitis oder die Röntgenuntersuchung zur Feststellung von Tuberkulose. Die Kenntnis der Infizierung mit Krankheitserregern bei einzelnen Gefangenen ermöglicht es, die zum Gesundheitsschutz der Mitinhaftierten wie der Bediensteten erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. So mag nicht nur eine Einzelunterbringung positiv Getesteter in Betracht kommen, sondern auch der Ausschluss von Arbeitsfeldern, die eine gesteigerte Verletzungsgefahr mit sich bringen (im Falle HIV-Infizierter) oder (etwa bei Tuberkulösen) mit der Essenszubereitung oder -ausgabe in Zusammenhang stehen.32 Auch die Versagung von Vollzugslockerungen kann in Erwägung gezogen werden, sofern die Gefahr besteht, dass einem infizierten Gefangenen das erforderliche Verantwortungsbewusstsein für seine Erkrankung fehlt. Eine freiwillige Untersuchung der Gefangenen auf HIV-Antikörper und sonstige Krankheitserreger im Blut ist zwar uneingeschränkt statthaft. Allerdings bleibt die Freiwilligkeit derartiger Untersuchungsmaßnahmen zweifelhaft, wenn im Weigerungsfalle mit vollzugsinternen Nachteilen wie der Behandlung als HIV-positiv gerechnet werden muss.33 § 36 Abs. 4 S. 7 IfSG statuiert zusätzlich gegenüber Personen, die in eine Justizvollzugsanstalt aufgenommen werden, die Pflicht zur 30 31 32
33
Siehe Stöver (Fn. 10), S. 45. Vgl. Stöver (Fn. 10), S. 45. LG Berlin bei Matzke, NStZ 2003, S. 593 trägt keine Bedenken, HIV-infizierte Gefangene mit der Essensausgabe zu betrauen. So Boetticher/Stöver in: Feest (Fn. 5), vor § 56 Rdn. 40; anders Lückemann in: Arloth/Lückemann (Fn. 5), § 56 Rdn. 3.
202
Klaus Laubenthal
Duldung ärztlicher Untersuchungen auf übertragbare Krankheiten einschließlich einer Röntgenaufnahme der Lunge. Ob hierunter auch Blutuntersuchungen fallen, erscheint nicht unzweifelhaft. Obwohl die Frage in der neueren Literatur bejaht wird,34 gilt es doch zu bedenken, dass die nicht mit einem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit verbundene Röntgenuntersuchung im Gesetz ausdrückliche Erwähnung findet, die das Rechtsgut berührende Blutentnahme aber nicht. Berücksichtigt man allerdings, dass durch § 36 Abs. 5 IfSG das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG eine Einschränkung erfährt und Blutentnahmen per se weniger gefährlich sein dürften als die mit einer Strahlenbelastung verbundene Röntgenuntersuchung, wird man jedoch von einer Zulässigkeit derartiger Tests auf der Basis des das StVollzG ergänzenden Infektionsschutzgesetzes auszugehen haben. Die vor Erlass des IfSG im Jahr 2000 geführte Diskussion, ob die allgemeinen Vorgaben des StVollzG zur Gesundheitsfürsorge eine taugliche Rechtsgrundlage für Blutentnahmen und -untersuchungen abgeben, ist deshalb als überholt zu bewerten. So vertrat etwa die Bayerische Staatsregierung die Ansicht, bei Gefangenen, die Risikogruppen angehörten („Homosexuelle, Bisexuelle, Fixer, Tätowierer, Prostituierte, Bluter, Intimpartner von Angehörigen anderer Risikogruppen oder von Infizierten“), sei eine zwangsweise Blutentnahme auf der Basis von § 101 StVollzG zulässig.35 Der Sinn eines solchen Vorgehens blieb allerdings schon deshalb fraglich, weil die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe nicht in allen Fällen klar ersichtlich ist und es für die Erzwingbarkeit von Antworten auf entsprechende Fragen wiederum an einer Rechtsgrundlage fehlte. Wird gegen die Durchführung von HIV-Tests vorgebracht, bei negativ Getesteten könnten diese eine Scheinsicherheit nach sich ziehen,36 so überzeugt dieser Einwand nicht. Der beschriebenen Gefahr lässt sich durch die Vermittlung von Informationen über die Infektionsgefahren und die Lücken der Testverfahren entgegenwirken. Auch der Drogenberatung während der Haft kommt insoweit eine wichtige Funktion zu.37 Gleiches gilt für die Verbesserung des Informationsstandes der Bediensteten über Sucht und Infektionsgefahren.38
34
35
36 37
38
Von Calliess/Müller-Dietz (Fn. 3), § 56 Rdn. 10; Lückemann in: Arloth/Lückemann (Fn. 5), § 56 Rdn. 3. Bayer. Staatsregierung, Gesundheitsfürsorge in den Justizvollzugsanstalten, hier: Maßnahmen wegen AIDS, Rundschreiben vom 3. April 1987, S. 2 (zitiert nach Stiehler [Fn. 10], S. 32); krit. Schöch in: Kaiser/Schöch (Fn. 5), S. 356. In diesem Sinne Boetticher/Stöver in: Feest (Fn. 5), vor § 56 Rdn. 47. Zu interner und externer Drogenberatung im Einzelnen Dreger und KunkelKleinsorge in: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren e. V./Gaßmann (Fn. 4), S. 167 ff., 175 ff.; ferner Küfner/Beloch/Scharfenberg/Türk, Evaluation von externen Beratungsangeboten für suchtgefährdete und suchtkranke Gefangene, 2000; zur Alkoholberatung weiter Breuer-Kreuzer (Fn. 4), S. 95. Dazu Heudtlass/Stöver (Fn. 23), S. 158 ff.; speziell zur Fortbildung bezüglich HIV vgl. Börner/Brinkmann/Cürten u.a., ZfStrVo 1995, S. 327 ff.
Sucht- und Infektionsgefahren im Strafvollzug
203
Hinsichtlich der Feststellungsmöglichkeiten über den Konsum illegaler Drogen gilt nach der Rechtsprechung Folgendes: Die Abgabe einer Urinprobe zum Zwecke der Vornahme chemischer Analysen darf gefordert werden. Im Weigerungsfall liegt ein schuldhafter Verstoß gegen die sich aus §§ 56 Abs. 2 i.V.m. 82 Abs. 2 S. 1 StVollzG ergebenden Pflichten vor, so dass zu Disziplinarmaßnahmen gegriffen werden kann.39 Es finden sich allerdings Befürchtungen, dass Tests sowohl durch subkulturelle Verhaltensweisen unterlaufen werden als auch ein Umsteigen der Gefangenen auf schwieriger nachweisbare, dafür aber gefährlichere harte Drogen zur Folge haben.40 Bei positiven Urinproben dürfen Vollzugslockerungen wegen Missbrauchsgefahr versagt werden.41 b) Betreuung der Infizierten Nicht vernachlässigt werden sollte das Erfordernis einer adäquaten ärztlichen Betreuung der erkrankten Gefangenen selbst. Speziell bei HIV-infizierten Personen erscheint auch eine ausreichende psychosoziale Versorgung unerlässlich.42 Das gilt umso mehr, als unter den Bedingungen des Vollzugs die Gefahr kontraproduktiver oder selbstzerstörerischer Verarbeitung eines positiven Testergebnisses kaum geringer erscheint als in Freiheit.43 Nur mit hinreichender fachlich qualifizierter Begleitung der Betroffenen lässt sich riskanten Verhaltensweisen am sinnvollsten entgegenwirken, in deren Rahmen eine Infektion anderer Personen zumindest bedingt vorsätzlich in Kauf genommen wird. HIV-Infizierten sind trotz der nicht unerheblichen Kosten ferner die nach den Regeln der ärztlichen Kunst angebrachten antiretroviralen Mittel zu verschreiben. Die allgemein zur Stärkung der körperlichen Abwehrkräfte empfohlenen Verhaltensweisen wie körperliche Bewegung an der frischen Luft und gesunde Ernährung können allerdings in Haft nur in begrenztem Umfang ausgeübt werden.44
39
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42
43 44
So OLG Koblenz, NStZ 1989, S. 550 ff.; ZfStrVo 1995, S. 249; LG Hamburg, ZfStrVo 1997, S. 108 m. abl. Anm. Ritter; LG Augsburg, ZfStrVo 1998, S. 113 f.; Bühring, ZfStrVo 1994, S. 271, 272 f.; Schöch in: Kaiser/Schöch (Fn. 5), S. 195; Schwind/Böhm-Kühling/Ullenbruch (Fn. 3), § 82 Rdn. 4; Walter, Strafvollzug, 2. Aufl. 1999, S. 293; zurückhaltend Böllinger (Fn. 11), S. 71; Küster, Drogentests in Haftanstalten, 2001, S. 273. Dazu Kreuzer (Fn. 12), S. 53 f.; zum Einschmuggeln von „sauberem“ Fremdurin Böllinger (Fn. 11), S. 70. So OLG Saarbrücken, ZfStrVo 2001, S. 246 ff.; Arloth in: Arloth/Lückemann (Fn. 5), § 11 Rdn. 11; Bühring (Fn. 39), S. 272; Skirl, ZfStrVo 1995, S. 93, 95. Dafür Calliess/Müller-Dietz (Fn. 3), § 56 Rdn. 15; siehe weiter Schäfer/Buchta, ZfStrVo 1995, S. 323, 326. Eindringlich Boetticher/Stöver in: Feest (Fn. 5), vor § 56 Rdn. 44 f. Vgl. Boetticher/Stöver in: Feest (Fn. 5), vor § 56 Rdn. 46.
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c)
Klaus Laubenthal
Information Dritter über die Infektion und Beratung der Infizierten
Weitere Probleme treten im Hinblick auf eine Durchbrechung der auch für die im Vollzug tätigen Ärzte geltenden Schweigepflicht45 auf, wenn positive Untersuchungsergebnisse dem Anstaltsleiter bzw. denjenigen Bediensteten, die mit einem infizierten Gefangenen Kontakt haben, mitgeteilt werden. Erst recht gilt dies, sofern die Bekanntmachung einer Infektiösität an Mitgefangene im Raum steht. 46 Verstöße gegen die Pflicht zur Verschwiegenheit werden nach § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB sanktioniert. Allerdings können Mitteilungen durchaus befugt im Sinne der Strafvorschrift und damit nicht rechtswidrig erfolgen. Sogar das Eingreifen einer Mitteilungspflicht wird als möglich angesehen.47 Diese Grundsätze konkretisiert die bereichsspezifische Datenschutzregelung des § 182 Abs. 2 StVollzG. Satz 1 der Bestimmung erkennt die innerbehördliche Existenz u.a. der ärztlichen Schweigepflicht hinsichtlich personenbezogener Daten auch gegenüber der Vollzugsbehörde an. Satz 2 statuiert eine Offenbarungspflicht gegenüber dem Anstaltsleiter, soweit dies zur Erfüllung der Vollzugsaufgaben oder zur Abwehr erheblicher Leibes- oder Lebensgefahren auch für Dritte, d.h. nicht den betroffenen Gefangenen, erforderlich ist. Die Bestimmung betrifft nicht die Aufgaben der Vollzugsärzte nach §§ 56 bis 66 StVollzG. Insoweit gilt eine Sonderregelung, die der Tatsache in gesteigertem Maß Rechnung trägt, dass der Grundsatz der freien Arztwahl aufgehoben ist:48 Im Rahmen der allgemeinen Gesundheitsfürsorge bekannt gewordene Geheimnisse darf (also nicht: muss) der Arzt offenbaren, soweit dies zur Abwehr der skizzierten Individualgefahren erforderlich oder für die Erfüllung der behördlichen Vollzugsaufgabe unerlässlich (also nicht bloß: erforderlich) bleibt (§ 182 Abs. 2 S. 3 StVollzG). Sonstige Offenbarungsbefugnisse, etwa aufgrund der allgemeinen Rechtfertigungsgründe, bestehen daneben weiter (§ 182 Abs. 2 S. 4 StVollzG). Für extramural tätige und mit der Behandlung von Gefangenen befasste Ärzte gelten nach § 182 Abs. 4 StVollzG die Offenbarungsbefugnisse entsprechend, wobei diese neben dem Anstaltsleiter auch den Anstaltsarzt informieren dürfen, während man nach dem Wortlaut der Vorschrift von einer Offenbarungspflicht nicht auszugehen hat.49 Hinsichtlich der Infektiösität von Gefangenen gilt im Ergebnis Folgendes: Bei HIV wird eine Offenbarungsbefugnis gegenüber dem Anstaltsleiter im Hinblick auf die Relevanz der Information für die Vollzugsgestaltung (Arbeit, Unterbringung) anerkannt, während eine Pflicht zur Mitteilung im Hinblick auf die kaum vorhandene Übertragbarkeit des Virus
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Zu deren Geltung speziell bezüglich der Kenntnis einer HIV-Infektion s. Calliess/ Müller-Dietz (Fn. 3), § 56 Rdn. 2; Walter (Fn. 39), S. 443. Eine solche hält Weichert in: Feest (Fn. 5), § 182 Rdn. 48 für grundsätzlich unverhältnismäßig; a.A. Neumann, Strafrechtliche Risiken des Anstaltsarztes, 2004, S. 66. So Walter (Fn. 39), S. 443. Vgl. Calliess/Müller-Dietz (Fn. 3), § 182 Rdn. 5; Laubenthal (Fn. 1), S. 445; Schöch in: Kaiser/Schöch (Fn. 5), S. 340. Vgl. Laubenthal (Fn. 1), S. 448 m.N.; a.A. Arloth, GA 2003, S. 693, 697; CalliessMüller-Dietz (Fn. 3), § 182 Rdn. 12; Schöch in: Kaiser/Schöch (Fn. 5), S. 342.
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bei normalen Alltagskontakten prinzipiell nicht besteht.50 Etwas anderes gilt nur dann, sofern gleichwohl eine konkrete Ansteckungsgefahr (etwa bei besonders aggressiven Gefangenen) vorliegt.51 Nur insoweit kommt auch die Anordnung besonderer vollzuglicher Einschränkungen betreffend Freizeitgestaltung, Gewährung von Lockerungen, Arbeit und Ausbildung in Betracht.52 In derartigen Fällen gestattet es § 182 Abs. 3 S. 1 StVollzG, dass die Informationen vom Anstaltsleiter auch denjenigen Vollzugsbediensteten zur Kenntnis gebracht werden, die mit dem betreffenden Gefangenen zu tun haben.53 Stellt der Anstaltsarzt das Vorliegen einer sonstigen gefährlichen und leicht übertragbaren, evtl. meldepflichtigen Infektionskrankheit (Hepatitis B, Tuberkulose) fest, bleibt es seine Pflicht, für die Gesundheit der Gefangenen und der Bediensteten Sorge zu tragen. Deshalb ist er – auch aufgrund seiner Einbindung in die vollzuglichen Handlungsabläufe – nicht nur zur Offenbarung berechtigt, sondern sogar verpflichtet. 54 Um die Einsichtsfähigkeit der Gefangenen in die speziell mit einer HIV-Infektion verbundenen Folgen und Verhaltensmaßregeln zu steigern, erscheint die Bereitstellung einschlägiger Beratungsangebote unerlässlich.55 In Betracht kommt hier neben der Übernahme dieser Aufgaben durch die Angehörigen des medizinischen und des Sozialdienstes der Anstalten auch die Tätigkeit externer Berater, etwa seitens der Mitarbeiter der Gesundheitsämter. 56 Negativ wirkt sich insoweit die Sprachbarriere der immer größer werdenden und sehr heterogenen Gruppe ausländischer Gefangener57 aus.58 Hier verspricht lediglich die Bereitstellung schriftlichen Informationsmaterials in der jeweiligen Landessprache Abhilfe. 59 Besondere Bedeutung erlangt die Verbesserung der Information über Hepatitis-Infektionsgefahren, da insoweit der Kenntnisstand wesentlich geringer ist als derjenige über HIV-Ansteckungsmöglichkeiten.60
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Dazu Laubenthal (Fn. 1), S. 446; Schöch in: Kaiser/Schöch (Fn. 5), S. 320, 343; Schwind/Böhm-Schmid (Fn. 3), § 182 Rdn. 12; anders BayVV Nr. 2 Abs. 7 zu § 5 StVollzG; Arloth in: Arloth/Lückemann (Fn. 5), § 182 Rdn. 6; enger Neumann (Fn. 46), S. 136. Vgl. Calliess/Müller-Dietz (Fn. 3), § 56 Rdn. 14; Hefendehl, ZfStrVo 1996, S. 136, 138 ff. Siehe Schwind/Böhm-Romkopf/Riekenbrauck (Fn. 3), § 56 Rdn. 9. Dazu Calliess/Müller-Dietz (Fn. 3), § 182 Rdn. 11; Schwind/Böhm-Schmid (Fn. 3), § 182 Rdn. 19; Weichert in: Feest (Fn. 5), § 182 Rdn. 45. Vgl. Laubenthal (Fn. 1), S. 446; Neumann (Fn. 46), S. 64; Schöch in: Kaiser/Schöch (Fn. 5), S. 343; Schwind/Böhm-Schmid (Fn. 3), § 182 Rdn. 12. So auch Calliess/Müller-Dietz (Fn. 3), § 56 Rdn. 11. Speziell zur Situation in Sachsen näher Stiehler (Fn. 10), S. 71 ff. Generell zur Ausländerproblematik im Strafvollzug Laubenthal, in: FS Böhm, 1999, S. 307 ff.; ders., AWR-Bulletin 42 (51), Nr. 3/2004, S. 33 ff. Vgl. Stiehler (Fn. 10), S. 75. Dazu Stiehler (Fn. 10), S. 234. So Gross (Fn. 10), S. 70.
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2.
Spezielle Präventionsmaßnahmen
a)
Kondomausgabe
Soweit den Gefangenen keine Möglichkeit des Besuchs mit Intimkontakten offen steht, können Kondome nur zur Durchführung von Sexualkontakten mit anderen Inhaftierten des gleichen Geschlechts dienen. Zwar handelt es sich hierbei um ein geeignetes Hilfsmittel zur Vermeidung einer Übertragung von Krankheiten, insbesondere von AIDS.61 Gleichwohl besteht auf der Basis des StVollzG kein Rechtsanspruch auf (kostenfreie) Ausgabe, wobei zur Begründung seitens der Judikatur darauf verwiesen wird, anderenfalls würden von Amts wegen unerwünschte Abhängigkeiten auf der Basis gleichgeschlechtlicher Kontakte gefördert. 62 Indessen scheinen mit dieser Argumentation die faktischen Gegebenheiten zugunsten des im optimalen Falle Wünschbaren hintangestellt zu werden. Allerdings mögen Hemmungen der Gefangenen bestehen, Kondome für notgedrungen gleichgeschlechtliche Sexualkontakte in Anspruch zu nehmen, um nicht in den Ruf zu kommen, homosexuell zu sein. Eine Ausgabe aus Automaten oder über Vertrauenspersonen wie Sozialarbeiter63 erscheint als Abhilfe denkbar. Unüberwachte Langzeitbesuche mit der Möglichkeit zu Intimkontakten erweisen sich gleichwohl als vorzugswürdige Alternative und zugleich als Mittel gegen Nothomosexualität.64 Sie stellen jedoch an die Vollzugspraxis im Hinblick auf bauliche Erfordernisse und Personalaufwand kaum zu bewältigende Anforderungen. b) Spritzentauschprogramme Ein weiterer Ausweg aus der Misere wird in der Ausgabe von sterilen Einwegspritzen im Strafvollzug gesehen, um auf diese Weise den Tausch der Spritzen durch die Gefangenen untereinander zu unterbinden und hiermit verbundene Infektionsgefahren einzudämmen. Während in der Literatur unter dem Blickwinkel der Verminderung von Gesundheitsrisiken der unkomplizierte Spritzentausch befürwortet wird,65 erkennt die Judikatur einen Rechtsanspruch hierauf nicht an.66
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Befürwortend auch Kreuzer (Fn. 12), S. 58; Lückemann in: Arloth/Lückemann (Fn. 5), § 56 Rdn. 4; nur für die Gestattung der Selbstversorgung Calliess/MüllerDietz (Fn. 3), § 56 Rdn. 12. So OLG Koblenz, NStZ 1997, S. 360; Lückemann in: Arloth/Lückemann (Fn. 5), § 56 Rdn. 4; krit. zur Begründung des OLG Koblenz Schwind/Böhm-Romkopf/Riekenbrauck (Fn. 3), § 56 Rdn. 9 a.E. Für Letzteres Stiehler (Fn. 10), S. 236. So Stiehler (Fn. 10), S. 236; siehe auch Laubenthal (Fn. 1), S. 250 f. Etwa Boetticher/Stöver in: Feest (Fn. 5), vor § 56 Rdn. 56; Calliess/Müller-Dietz (Fn. 3), § 56 Rdn. 13; Knapp (Fn. 10), S. 358 ff.; Neumann (Fn. 46), S. 243 f.; Stöver/Nelles, ZfStrVo 2003, S. 345, 347; Walter (Fn. 39), S. 441; nur für eine Einzelvergabe durch die Angehörigen der medizinischen Dienste zum Gebrauch unter Aufsicht Kreuzer (Fn. 12), S. 60; ähnlich Körner, BtMG, AMG, 5. Aufl. 2001, § 29 BtMG Rdn. 1432; zurückhaltend auch Böhm, Strafvollzug, 3. Aufl. 2003, S. 128, 130;
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Nach den Ergebnissen eines Modellprojekts in der Schweiz war dort ein Rückgang sowohl der Spritzenabszesse wie der Hepatitis-Neuinfektionen festzustellen, während Befürchtungen, der Konsum könne zunehmen oder Spritzen würden vermehrt als Waffe eingesetzt, sich nicht bestätigt haben. 67 Selbst wenn auch in Deutschland die Abgabe von Einwegspritzen an Suchtkranke betäubungsmittelstrafrechtlich nicht mehr auf Hindernisse stößt (vgl. § 29 Abs. 1 S. 2 BtMG), so bleibt doch die Problematik bestehen, dass der Konsum harter Drogen nicht nur (u.U. gravierende) gesundheitliche Schäden nach sich zu ziehen vermag, sondern die Situation in den Haftanstalten durch die mindere Qualität der dort kursierenden Rauschmittel noch verschärft wird. Die wissenschaftliche Begleitforschung zu einem in Hamburg durchgeführten Modellversuch68 zeigt sich im Vergleich zu den in der Schweiz gefundenen Resultaten weit skeptischer: Die Inhaftierten seien aufgrund der verminderten Infektionsrisiken bei zugleich höheren Kosten des Rauchens oder Sniefens zum intravenösen Gebrauch harter Drogen geradezu animiert worden. Das Programm habe zudem Rückfälligkeit produziert und eine große Zahl von Spritzen sei nicht den Vorgaben entsprechend aufbewahrt worden, wodurch sich die Verletzungsgefahren für die bei Durchsuchungen unvermutet auf Spritzen stoßenden Mitarbeiter nicht vermindert hätten. 69 Befürchtungen der Vollzugsbediensteten, Spritzen würden wegen ihrer leichteren Verfügbarkeit eher als Waffe zweckentfremdet, scheinen sich aber nicht bestätigt zu haben. 70 Im Hinblick auf diese sowohl die Anstaltssicherheit bedrohenden als auch die Menschen im Vollzug belastenden Feststellungen kam es letztlich zu einer Einstellung der Spritzenvergabe in den hamburgischen und niedersächsischen Vollzugsanstalten.71 Dabei dürfte jedoch auch die Änderung der jeweiligen politischen Machtverhältnisse dort eine Rolle gespielt haben.72 Es erscheint aber als zu weitgehend, wenn Spritzentauschprogramme lediglich als Signal gewertet werden, die Anstalt gebe den Kampf gegen das Einsickern von
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Schäfer/Schoppe (Fn. 12), S. 1417 f.; ablehnend Sigel, ZfStrVo 1993, S. 218 f.; Weber, BtMG, 2. Aufl. 2003, Einl. Rdn. 143 f. So LG Berlin, BlStVK 3/1997, S. 6; LG Augsburg, ZfStrVo 2001, S. 364. Vgl. Gross (Fn. 10), S. 6; Stiehler (Fn. 10), S. 39; Stöver, ZfStrVo 1996, S. 352 f.; siehe auch Keppler/Schaper, Lang/Stark, Lettau/Sawallisch/Schulten/Tieding in: Jacob/Keppler/Stöver (Hrsg.), LebHaft: Gesundheitsförderung für Drogen Gebrauchende im Strafvollzug, Teil 2, 2001, S. 31 ff., 35 ff., 52 ff.; Kreuzer in: FS Böhm, 1999, S. 379 ff:, Schirrmacher, ZRP 1997, S. 242 ff.; zu weiteren ausländischen Modellprojekten siehe Stöver (Fn. 10), S. 127 ff.; Stöver/Nelles (Fn. 65), S. 346. Ausführlich zu Geschichte und Durchführung des Modellprojekts Gross (Fn. 10), S. 7 ff. Zusammenfassend Gross (Fn. 10), S. 66 f., 123 f.; vgl. auch Hasenpusch/Steinhilper, ZfStrVo 2003, S. 351; anders aber Jacob/Stöver, ZfStrVo 1999, S. 156, 159 ff. für entsprechende Modellvorhaben in Niedersachsen. Vgl. Gross (Fn. 10), S. 45 f. Vgl. Mitteilung in ZfStrVo 2002, S. 172 sowie Hasenpusch/Steinhilper (Fn. 69). Deutlich Stöver/Nelles (Fn. 65), S. 348.
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Heroin verloren und verstoße zugleich gegen den Resozialisierungsauftrag des § 2 S. 1 StVollzG, weil sie ihren Auftrag, die Gefangenen zu einem straffreien Leben zu befähigen, selbst ignoriere.73 Es besteht generell Uneinigkeit über den Königsweg zur Bekämpfung des Gebrauchs harter Drogen. Hat der Gesetzgeber sich entschieden, um der Verhinderung gesundheitsgefährdender Weiterungen willen trotz der Beibehaltung des prinzipiellen Umgangsverbots mit Heroin die Bereitstellung von Einwegspritzen straffrei zu stellen, so lassen sich entsprechende Maßnahmen weder intra- noch extramural als Zeichen interpretieren, auf ein straffreies Leben werde kein Wert gelegt. Verlagert man die Akzente einseitig auf das Abstinenzziel, vernachlässigt man zudem, dass es sich bei Drogenmissbrauch um eine Krankheit handelt, die sich offensichtlich nicht in jeder Lebenssituation heilen lässt.74 Befürchtungen, denen zufolge die Infektionsrisiken durch indirekten Spritzentausch oder im Drogenrausch vertauschte Injektionsutensilien in der Folge von Spritzentauschprogrammen zunehmen würden,75 sind – soweit ersichtlich – empirisch noch nicht belegt. Auch vermag man auf der Basis der bisher vorgenommenen Untersuchungen nicht festzustellen, die Bereitschaft zur Teilnahme an einer Drogentherapie oder einem Substitutionsprogramm würde durch Spritzentauschprojekte beeinflusst.76 Gleichwohl lässt sich nicht leugnen, dass das Unterfangen des Spritzentauschs den Konflikt zwischen rechtlichem Sollen und tatsächlichen Verhältnissen besonders deutlich macht77 und einen Ausdruck der Hilflosigkeit darstellt. Diesbezüglich verhält es sich in der Institution einerseits aber nicht anders als außerhalb jener. Andererseits stellt der Besitz von illegalen Drogen nicht nur eine Straftat, sondern als Verstoß gegen § 82 Abs. 1 S. 2 StVollzG auch eine mit den vollzuglich vorgesehenen Disziplinarmaßnahmen zu ahndende Verhaltensweise dar, und es werden regelmäßige Kontrollen der Gefangenen, Hafträume und Besucher auf Drogen durchgeführt.78 c)
Kontrollierte Abgabe von Opiaten
Einen weiteren Lösungsansatz könnte die kontrollierte Abgabe von Drogen bieten. Während man in der Schweiz diesen Weg intramural ebenfalls bereits beschritten hat,79 bleibt nach dem bundesdeutschen Betäubungsmittelrecht die Überlassung von Heroin an süchtige Gefangene nicht statthaft. In Betracht kommt lediglich eine Substitution mit L-Polamidon, Codein, Methadon oder ähnlichen Mitteln. 80 73 74 75 76 77 78 79 80
In diesem Sinne aber Lückemann in: Arloth/Lückemann (Fn. 5), § 56 Rdn. 4. Vgl. Boetticher/Stöver in: Feest (Fn. 5), vor § 56 Rdn. 31. So Lückemann in: Arloth/Lückemann (Fn. 5), § 54 Rdn. 4. Siehe Gross (Fn. 10), S. 59. Vgl. auch Walter (Fn. 39), S. 442. Siehe auch Kreuzer (Fn. 12), S. 50; Laubenthal (Fn. 1), S. 276. Dazu Stiehler (Fn. 10), S. 40; Stöver, ZfStrVo 1996, S. 352, 353. Detailliert Buchta/Schäfer in: ZfStrVo 1996, S. 21 ff.; Degner/Poser in: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren e. V./Gaßmann (Fn. 4), S. 185, 189 ff.; Keppler in: Jakob/Keppler/Stöver (Hrsg.), Drogengebrauch und Infektionsgeschehen (HIV/AIDS und Hepatitis) im Strafvollzug, 1997, S. 73 ff.; Schultze, Zwischen Hoff-
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Immerhin belegen zahlreiche Studien für eine Substitution in Freiheit die positive Wirkung dieses Vorgehens, nicht nur im Hinblick auf eine soziale und gesundheitliche Stabilisierung der Probanden, sondern u.a. weiter im Hinblick auf die Verminderung von Infektionsrisiken.81 Es erscheint jedoch nicht unzweifelhaft, ob unter den Bedingungen des Justizvollzugs und insbesondere der dort vorhandenen ärztlichen Versorgung solche Programme realistischerweise überhaupt in adäquater Form durchgeführt werden können.82 Auch lässt § 13 Abs. 1 S. 2 BtMG eine Substitutionsbehandlung nur subsidiär zu anderen Therapieformen zu.83 Die Praxis stellt sich trotz bundeseinheitlicher Rechtsgrundlagen von Land zu Land und sogar von Einrichtung zu Einrichtung sehr unterschiedlich dar, wobei sich wiederum Unterschiede je nach ideologischer Grundausrichtung zeigen. 84 In Betracht kommt eine Substitutionsbehandlung insbesondere zu folgenden Zwecken: Bekämpfung akuter Entzugserscheinungen, Fortführung einer vor Haftantritt begonnenen Behandlung sowie Beginn der Therapie vor Haftentlassung zur Verbesserung der Resozialisierungschancen.85 Die Zahl der bundesweit betroffenen Patienten wird auf etwa 600 geschätzt; genaue Untersuchungen existieren nicht.86 Für die zurückhaltende Praxis dürften neben der fachlichen Ablehnung durch manche Ärzte wiederum finanzielle Aspekte nicht ohne Belang sein. Zudem steht die Praxis in zu rigider Weise auf dem Standpunkt, die Substitutionsbehandlung widerspreche dem aus § 2 StVollzG hergeleiteten Vollzugsziel, in Freiheit ein in jeder Hinsicht drogenfreies Leben führen zu können.87 d) Unterbringung Drogenabhängiger in Therapieeinrichtungen Die Vorschriften des BtMG (§§ 35 f.) gestatten es, therapiewillige Straftäter schon geraume Zeit vor Ende der Haftdauer auch in vollzugsexterne Einrichtungen zu verlegen. Insoweit bedarf es allerdings neben einem Platz in einer geeigneten Institution auch der Kostenübernahme durch die Sozialversicherung sowie des Einverständnisses der Staatsanwaltschaft. Dies erfordert in der Praxis überobliga-
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nung und Hoffnungslosigkeit. 10 Jahre Substitution im Bremer Strafvollzug, 2001, S. 9 ff.; Stöver (Fn. 10), S. 88 ff. Nachweise bei Ullmann, StV 2003, S. 293 f. Krit. zur Praxis der Substitutionsbehandlung im Vollzug Boetticher/Stöver in: Feest (Fn. 5), vor § 56 Rdn. 35. Zu den Konsequenzen Sönnecken, MedR 2004, S. 246 ff. Überblick bei Keppler/Knorr/Stöver, ZfStrVo 2004, S. 202 ff.; vgl. auch Burgheim, ZfStrVo 1994, S. 74, 78 ff. Vgl. Keppler/Knorr/Stöver (Fn. 84), S. 202. Vgl. Keppler/Knorr/Stöver (Fn. 84), S. 202. Zahlen für Hessen in den Jahren 1992 bis 1996 finden sich bei Schäfer/Schoppe (Fn. 12), S. 1419. So HansOLG Hamburg, ZfStrVo 2002, S. 312 f. m. abl. Anm. Kubink, StV 2002, S. 265 ff. und Ullmann, StV 2003, S. 293 ff.; Arloth in: Arloth/Lückemann (Fn. 5), § 3 Rdn. 7; wie hier Neumann (Fn. 46), S. 231 ff.
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torisches Engagement seitens der mit der vollzuglichen Drogenberatung Betrauten.88 e)
Aufhebung des Tätowierverbots
In den Vollzugsanstalten besteht regelmäßig – etwa durch Festsetzung in der Hausordnung – ein Tätowierverbot. Das beruht nicht nur auf Gründen des Gesundheitsschutzes, indem man die gemeinschaftliche Nutzung von Tätowiernadeln verhindern will. Vielmehr soll hiermit auch der Ausbildung subkultureller Strukturen entgegengewirkt werden. Würde man die Praxis des Tätowierens unter bestimmten Voraussetzungen legalisieren – etwa durch die Zulassung von Besuchen der Mitarbeiter externer Tätowierstudios89 –, könnte zwar für die Einhaltung hygienischer Standards besser Sorge getragen werden. Es entfiele jedoch die mit dem subkulturellen Tun verbundene Ventilfunktion,90 so dass eine solche Maßnahme in der Praxis keine ihrem Sinn entsprechende Wirkung entfalten würde. f)
Impfungen
Hepatitis-B-Immunisierung ist aus medizinischer Sicht möglich. Entsprechende routinemäßige Impfungen einschließlich der medizinisch indizierten Auffrischung des Schutzes sowohl bei den Inhaftierten wie auch den Bediensteten sind sinnvoll.91 Sie bleiben allerdings mit nicht unerheblichen Kosten verbunden, scheinen in der Praxis jedoch auf mangelnde Bereitschaft der Betroffenen zu stoßen. 92
V. Sonstige Behandlungsmaßnahmen Erfüllt das ärztliche Personal der Vollzugsanstalten seine diagnostischen und therapeutischen Aufgaben, so dient dies zumindest mittelbar ebenfalls der zukünftigen Prävention durch Suchtkrankheiten bedingter Verhaltensweisen und Gefährdungen. Zu achten ist auf die Behandlung körperlicher Entzugserscheinungen ebenso wie auf die Verhinderung von Ersatzmittelmissbrauch sowie Selbstschädigungshandlungen bis hin zum Suizid.93 Eine Langzeittherapie für Drogenabhängige wird nur in wenigen spezialisierten Institutionen versucht, 94 weil sie an die 88 89
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Zum Ganzen Böhm (Fn. 65), S. 128. Dafür Stiehler (Fn. 10), S. 235; anders Lückemann in: Arloth/Lückemann (Fn. 5), § 56 Rdn. 4. Siehe Stiehler (Fn. 10), S. 114 f. So auch Boetticher/Stöver in: Feest (Fn. 5), vor § 56 Rdn. 58; Lehmann/Render, ZfStrVo 2004, S. 336, 339; Lückemann in: Arloth/Lückemann (Fn. 5), § 56 Rdn. 4; Stiehler (Fn. 10), S. 236. Näher Lehmann/Render (Fn. 91), S. 338. Vgl. Schwind/Böhm-Romkopf/Riekenbrauck (Fn. 3), § 56 Rdn. 8. Beispiele bei Dolde in: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren e. V./Gaßmann (Fn. 4), S. 131, 138 ff.
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Grenzen des im Vollzug zu Leistenden stößt.95 Das ärztliche und psychiatrische Fachpersonal ist regelmäßig bereits mit anderen Aufgaben ausgelastet. Hier zeigt sich wiederum, dass die Überbelegung der Vollzugseinrichtungen in Verbindung mit den sich eher verknappenden Mitteln der öffentlichen Hand nicht nur allgemein einen erfolgreichen Behandlungsvollzug, sondern gerade auch die Therapierung suchtmittelkranker Gefangener in Frage stellt.
VI. Schlussbemerkung Der Missbrauch von Suchtmitteln tritt in unseren Vollzugsanstalten ebenso wie extramural auf. Die intramurale Situation erweist sich insofern als verschärft, als die Insassen im Sinne einer negativen Auslese eine überdurchschnittlich belastete Population darstellen. Drogenfreiheit in den Institutionen bleibt eine Fiktion, selbst wenn besonders repressive Null-Toleranz-Konzepte verfolgt werden. Verzahnt ist die Problematik mit derjenigen der Übertragung von Infektionskrankheiten, insbesondere beim intravenösen Gebrauch harter Drogen. Gravierende Infektionsgefahren betreffen in erster Linie Hepatitis C und in Zukunft vermehrt Tuberkulose und nur in geringerem Umfang HIV. Anzustreben bleiben: -
Die Schaffung drogenfreier Räume für diejenigen, die vom Suchtmittelgebrauch loskommen bzw. diesen nicht beginnen wollen,96 die Unterstützung für Drogenabhängige durch Beratungsangebote und Behandlungsmaßnahmen, eine Infektionsprophylaxe, selbst wenn diese mit dem Ziel drogenfreier Institutionen kollidiert, schließlich eine adäquate medizinische Betreuung für diejenigen Gefangenen, bei denen eine Infektionskrankheit ausgebrochen ist bzw. dieses zu besorgen bleibt.
Die Probleme sind weithin erkannt.97 Über Abhilfemöglichkeiten konnte bislang kein Konsens erzielt werden.
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Dazu Schwind/Böhm-Romkopf/Riekenbrauck (Fn. 3), § 56 Rdn. 8; ferner Walter (Fn. 39), S. 284; zum sozialen Training als Behandlungsmethode näher Stolk/Lehnen/ Metternich, ZfStrVo 2004, S. 74 ff. Die Einschätzung der medizinischen Versorgung durch Gefangene gibt Knapp (Fn. 10), S. 157 ff. wieder. Zu einem entsprechenden österreichischen Projekt siehe Berlach-Pobitzer/Schmied/ Spirig, Neue Kriminalpolitik 2004, S. 84 ff. Dass dies auch auf internationaler Ebene gilt, zeigt etwa auch die Verabschiedung der „Dublin Declaration on HIV/AIDS in Prisons in Europe and Central Asia“ vom 23. Februar 2004, im Internet unter http://www.epha.org/a/1044.
Statement Gisela Dahl
In Deutschland befinden sich ca. 80.000 Menschen in Haft. Sehr viele Menschen durchlaufen zusätzlich jährlich den Vollzug. Überall, wo Menschen dicht zusammenleben, sind Infektionsgefahren deutlich höher. Allerdings gibt es in den Gefängnissen keine Krankheiten, die nicht auch außerhalb anzutreffen sind. Die Gesundheitsrisiken im Gefängnis sind international bekannt und innerhalb der gesundheitswissenschaftlichen Diskussionen nicht umstritten. Bereits im Jahr 2001 wurde das Trimbos Institut Utrecht (Niederlande) im Rahmen eines EU-Projektes zur Erstellung eines Handbuchs „Risikominimierung im Strafvollzug bei Drogengebrauch“ beauftragt. Intravenöser Drogenkonsum, ungeschützte Sexualkontakte, Tätowieren und Piercen mit nicht sterilen Instrumenten, mangelndes Wissen über HIV und Hepatitis sind Faktoren, die Infektionsmöglichkeiten übertragbarer Krankheiten wie HIV, Aids, Geschlechtskrankheiten (STD) oder Tuberkulose fördern. Hier gilt auch zu bedenken, dass diese Erkrankungen auch unter der „Allgemeinbevölkerung“ verbreitet werden können, bei Freigang oder wenn nach der Entlassung Drogengebrauchende in die Gesellschaft zurückkehren und mit ihnen alle Infektionen, die sie sich während der Haftzeit zugezogen haben. Gemäß den Schätzungen der WHO und nach Informationen der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht wird man davon ausgehen können, dass in Europa 15 bis 50 Prozent der etwa 350.000 Gefangenen entweder gegenwärtig Drogen gebrauchen oder dies früher getan haben. Jährlich durchlaufen danach etwa 200.000 bis 600.000 Drogengebraucher das Gefängnissystem. Viele der Sicherheitsmaßnahmen im Gefängnis sind auf die Kontrolle des Drogengebrauchs oder Drogenhandels ausgerichtet. Inhaftierte Drogenkonsumenten leiden oft unter schweren Gesundheitsproblemen, die sie bei der Inhaftierung mitbringen. Die medizinischen Abteilungen müssen mit diesen drogenbedingten Problemen umgehen, ohne die Ursache dieser Probleme beheben zu können. Die Kosten der medizinischen Versorgung der Gefangenen nehmen durch die Zunahme dieser Erkrankungen entsprechend zu!
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Gisela Dahl
Drogengebrauch im Gefängnis hat verschiedene „soziale“ Aufgaben. Einige Konsumenten beschreiben die konstanten Bemühungen Drogen zu beschaffen, als Strategie, um Langeweile zu bekämpfen und die Inhaftierung zu ertragen, also um den Härten des Gefängnislebens kleine persönliche Erfolge entgegen zu setzen oder um Krisen zu überwinden, wie z. B. schlechte Nachrichten, Verurteilung, Gewalt und Bestrafung oder einfach auch die Lebensangst. Die im Gefängnis am häufigsten konsumierte Droge ist Cannabis, das vom Gefangenen zur Entspannung eingesetzt wird. Studien haben gezeigt, dass 45 bis 78 Prozent der Gefangenen, die in Haft Drogen nahmen, Cannabis konsumierten. Abgesehen von Nikotin scheint Alkohol nach Cannabis die zweithäufigste konsumierte Droge zu sein. In großen Haftanstalten und in Kurzzeitgefängnissen scheint der Anteil der Drogengebraucher höher zu sein, in Frauengefängnissen höher als in Männergefängnissen. In Justizvollzugsanstalten in der Nähe von Großstädten finden sich mehr Konsumenten als auf dem Land. In Untersuchungsgefängnissen scheint der Konsum offenbar auf Grund fehlender organisierter Vertriebsstrukturen weniger weit verbreitet. Dort, wo ein verminderter Drogengebrauch in Gefängnissen berichtet wird, dürfte dies weniger mit der Motivation der Benutzer zusammenhängen, ihren Konsum aufzugeben, als vielmehr Folge des erschwerten Zugangs, des Mangels an Ressourcen oder der Furcht vor Entdeckung sein. Ob diese Faktoren letztendlich eine nachhaltige Motivation schaffen, mit dem Konsum endgültig aufzuhören, ist unklar. Rückfälle in bereits vor der Inhaftierung bestehende Konsummuster sind bekannt und sehr gefährlich. Viele Drogengebraucher scheinen sowieso um das 40. Lebensjahr herum „aus der Sucht herauszuwachsen“, was dann oft falsche Erfolgszahlen produziert. Drug-Sharing und Needle-Sharing sind unter den Gefangenen, die intravenös konsumieren, mit allen daraus folgenden Infektionsgefahren weit verbreitet. Gleichzeitig sind Qualität, Reinheit und Konzentration der Substanzen schwerer einzuschätzen als draußen. Die Verfügbarkeit der Drogen unterliegt starken Schwankungen, was zu einem starken Wechsel zwischen Konsum- und Entzugsphasen führt. Der Konsum mehrerer billiger Drogen ist weit verbreitet, um Phasen zu überbrücken, in denen teurere Drogen nicht finanziert werden können. Die begrenzten Möglichkeiten im Gefängnis erfordern Kreativität und ungewöhnliche Maßnahmen in einer „Besser-als-nichts-Strategie“. So wissen wir, dass beim gemeinsamen Spritzengebrauch HIV-positive Gefangene als letzte spritzen dürfen, gebrauchte Spritzen werden durch mehrmaliges Aufziehen von kaltem Wasser „gereinigt“. Partner beim Needle-Sharing werden nach Beurteilung der Farbe der Skleren (Gelbfärbung) ausgewählt!
Statement
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All dies fördert natürlich die Verbreitung viraler und anderer Infektionen und könnte durch gezielte Aufklärung deutlich verbessert werden. Die meisten Drogengebraucher verheimlichen ihren Konsum, um keine bereits erworbenen Privilegien (Ausgang, Urlaub, Besuch) zu verlieren oder um nicht verschärften Kontrollen ausgesetzt zu sein, auch der Besucher. Ebenso wollen sie der Diskriminierung durch ihre nicht Drogen gebrauchenden Mitgefangenen, die Angst vor der Übertragung von Infektionskrankheiten haben, entgehen. Gleichgeschlechtlicher Sex ist im Gefängnis nichts Ungewöhnliches, hier berichten Studien von einer Häufigkeit von 15 bis 75 Prozent bei Männern. Ungeschützter Analverkehr und Vergewaltigungen erhöhen die Infektionsgefahr, weil es hier besonders leicht zu blutenden Verletzungen kommen kann. Ebenso ist es unter Gefangenen öfters üblich, Blutsbrüderschaft zu schließen. Bei den dabei praktizierten Ritualen gibt es ein hohes Risiko für Hepatitis und HIV. Tätowieren und Piercen sind in Haftanstalten sehr beliebt und bergen ebenfalls ein hohes Infektionsrisiko durch unsterile Nadeln und deren Benutzung durch mehrere Personen nacheinander. Gerade das Verbot des Tätowierens macht es für den Gefangenen reizvoll. Die für alle sichtbaren Tatoos sollen sagen: „Ich bin immer noch so frei, gegen Verbote zu verstoßen!“, also ein gewisser Sieg über die Macht des Gefängnisses. Gerade das Tätowieren scheint die Hepatitis C enorm stark ansteigen zu lassen. Drogen und Infektionsgefahren sind also ein wichtiges Thema im Strafvollzug, welches multifaktoriell anzugehen sein sollte. Verbote und Kontrollen werden zur Prävention sicherlich nicht ausreichen. In einem System, in dem der Mensch zu einem großen Teil verwaltet wird und alles wenigstens teilweise abgenommen bekommt (was sicher auch eine Entlastung darstellt), sollte er aber doch zur Eigenverantwortung für den eigenen Körper und seine Gesundheit angeleitet und befähigt werden. Dies ist zunächst nur durch eine gründliche Aufklärung über gesundheitliche Zusammenhänge möglich. Wissen macht stark! Gefahren müssen verständlich erklärt werden, Folgen deutlich und transparent aufgezeigt werden, ohne allerdings durch Angst nur Reaktionen zu erzwingen. Gesundheit in Eigenverantwortung ist eine tragfähige Basis zur Konstruktion eines „neuen Lebens“!
Zwangsbehandlung im Strafvollzug Christian Laue
I. Einleitung Zwangsbehandlung ist die ärztliche oder nur medizinische Heilbehandlung ohne oder gegen den Willen des Betroffenen.1 Darunter fallen sowohl klassische Heilbehandlungen zur Wiederherstellung der geschädigten Gesundheit, aber auch diagnostische und präventive invasive Maßnahmen wie Krankheitstests oder Schutzimpfungen. Ohne den Willen des Gefangenen handelt es sich im Wesentlichen um heimliche Maßnahmen, etwa die Verabreichung von Medikamenten oder die Durchführung eines HIV-Tests ohne Wissen des Gefangenen, aber auch um Operationserweiterungen, wie im bekannten Myom-Fall des BGH aus dem Jahre 1957.2 Gegen den erklärten Willen des Insassen werden Maßnahmen mit unmittelbarem Zwang durchgeführt, wie sie der Diskussion um die Zwangsernährung hungerstreikender Gefangener in den 70er und 80er Jahren zugrunde lagen. Außerhalb von geschlossenen Einrichtungen sind solche Maßnahmen regelmäßig nicht zulässig. Der BGH hat bereits im Jahre 1957 festgestellt: „Das in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des GG gewährleistete Recht auf körperliche Unversehrtheit fordert auch Berücksichtigung bei einem Menschen, der es ablehnt, seine körperliche Unversehrtheit selbst dann preiszugeben, wenn er dadurch von einem lebensgefährlichen Leiden befreit wird. Niemand darf sich zum Richter in der Frage aufwerfen, unter welchen Umständen ein anderer vernünftigerweise bereit sein sollte, seine körperliche Unversehrtheit zu opfern, um dadurch wieder gesund zu werden. Diese Richtlinie ist auch für den Arzt verbindlich. Zwar ist es sein vornehmstes Recht und seine wesentlichste Pflicht, den kranken Menschen nach Möglichkeit von seinem Leiden zu heilen. Dieses Recht und diese Pflicht finden aber 1
2
Heide, Medizinische Zwangsbehandlung. Rechtsgrundlagen und verfassungsrechtliche Grenzen der Heilbehandlung gegen den Willen des Betroffenen, Berlin 2001, S. 22. Siehe auch Riklin, Zwangsmaßnahmen im Bereich der Gesundheitsfürsorge (Verweigerung der Behandlung, Hungerstreik), in: Queloz / Riklin / Senn / de Sinner (Hrsg.): Medizin und Freiheitsentzug. Bern 2002, S. 46 ff. BGHSt 11, 111.
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in dem grundsätzlichen freien Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seinen Körper ihre Grenze. Es wäre ein rechtswidriger Eingriff in die Freiheit und Würde der menschlichen Persönlichkeit, wenn ein Arzt – und sei es auch aus medizinisch berechtigten Gründen – eigenmächtig und selbstherrlich eine folgenschwere Operation bei einem Kranken, dessen Meinung rechtzeitig eingeholt werden kann, ohne dessen vorherige Billigung vornähme. Denn ein selbst lebensgefährlich Kranker kann triftige und sowohl menschlich wie sittlich achtenswerte Gründe haben, eine Operation abzulehnen, auch wenn er durch sie und nur durch sie von seinem Leiden befreit werden könnte.“3 Die Heilbehandlung ohne oder gegen den Willen des Betroffenen berührt also verschiedene Grundrechte, genannt wurden das Recht der freien Selbstbestimmung über den Körper, die Freiheit und Würde der menschlichen Persönlichkeit. Diese Rechte sind nach Meinung des BGH durch die zwangsweise Heilbehandlung verletzt. Dies gilt aber wohl nur außerhalb geschlossener Einrichtungen. Denn beim Vollzug der Freiheitsstrafe sind zwangsweise Heilbehandlungen nach § 101 StVollzG unter bestimmten Voraussetzungen zulässig. Die praktische Relevanz dieser Vorschrift im Vollzugsalltag ist wohl gering. Zwangsbehandlungen kommen – soweit ich die Justizvollzugspraxis einsehen kann – kaum vor.4 § 101 StVollzG eröffnet aber zumindest die rechtliche Möglichkeit von Zwangsbehandlungen und beeinflusst möglicherweise allein dadurch das Vollzugs- und Patientenverhältnis zwischen Anstaltsleitung und –ärzten auf der einen und Insassen auf der anderen Seite. Es erscheint daher interessant zu untersuchen, ob und wie diese Vorschrift unter dem Blickwinkel der nach dem GG geltenden Grundrechte des Gefangenen legitim ist.
II. Betroffene Grundrechte Der grundrechtliche Bezug der medizinischen Zwangsbehandlung ist in und außerhalb der Geltung des StVollzG evident. Mehrere Grundrechte können durch zwangsweise Maßnahmen zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit eines Menschen beeinträchtigt werden. Im Folgenden sollen diese Grundrechte
3 4
BGHSt 11, 111, 113 f. Bei dieser Meinungsbildung bin ich insbesondere auf persönliche Nachfragen bei Anstaltsärzten beschränkt. Einschlägige Rechtsprechung liegt, abgesehen von der Sonderfrage der Zwangsernährung, kaum vor. Siehe auch Müller, in: Schwind / Böhm (Hrsg.), Strafvollzugsgesetz, 3. Aufl., Berlin 1999, § 101 Rn. 3, 8, 27 f. Die praktische Relevanz der Zwangsbehandlung im Vollzugsalltag betont dagegen Böhm, JuS 1975, S. 287.
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kurz vorgestellt und im Weiteren untersucht werden, ob die Regelung des § 101 StVollzG den Vorgaben dieser Grundrechte gerecht wird.
1.
Grundrecht auf Menschenwürde
Art. 1 Abs. 1 GG verbürgt – darin besteht heute weitgehend Einigkeit – ein echtes Grundrecht.5 Aufgrund der Normierung als (1.) umfassende, und das heißt: nicht auf einen bestimmten Lebensbereich beschränkte, und (2.) unantastbare Generalklausel, ist die Bestimmung des konkreten Schutzbereiches schwierig.6 Sie wird üblicherweise von der Verletzung her vorgenommen.7 So hat sich in der Rechtsprechung die sog. Objektformel etabliert, nach der die Würde des Menschen verletzt ist, wenn dieser „zum bloßen Objekt staatlichen Handelns“ gemacht bzw. seine Subjektqualität prinzipiell in Frage gestellt wird. 8 Dabei spielen historische Erfahrungen, insbesondere mit dem nationalsozialistischen Unrechtsregime, eine dominante Rolle. So werden bestimmte Grundbedingungen der Wahrung menschlicher Würde benannt, darunter – und auch in unserem Zusammenhang einschlägig –: -
die Achtung der Körperlichkeit der Menschen als Wahrung ihrer autonom verantworteten Individualität sowie die Wahrung menschlicher Identität und Integrität.9
Diese Grundbedingungen betreffen die medizinische Zwangsbehandlung Dies ist bei der Achtung der Körperlichkeit selbstverständlich. Bei der Wahrung der menschlichen Identität sind nur solche Maßnahmen betroffen, die einen Einfluss haben können auf die Autonomie der Persönlichkeitsbildung und -präsentation.
2.
Körperliche Unversehrtheit
Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ist in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgt. Damit wird die Integrität des Körpers als vorgegebene Daseinsform des 5
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8 9
Pieroth / Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II. 20. Aufl., Heidelberg 2004, Rn. 350; Sachs, Verfassungsrecht II. Grundrechte. 2. Aufl., Berlin, Heidelberg 2003, B 1 Rn. 3; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Band III/1, Allgemeine Lehren der Grundrechte. München 1998, § 58 II 5; a.A. Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar. Bd. 1. 2. Aufl., Tübingen 2004, Art. 1 I Rn. 127 ff. Höfling, JuS 1995, S. 858 ff. Siehe dazu Graf Vitzthum, JZ 1985, S. 202 ff.; Müller-Dietz, Menschenwürde und Strafvollzug. Berlin 1994, S. 18 ff. BVerfGE 30, 1. Siehe Podlech, in: Alternativkommentar-GG. Bd. 1. 2. Aufl., Neuwied 1989, Art. 1 Abs. 1 Rn. 17 ff., in Anknüpfung an Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde. Frankfurt a.M. 1968, S. 56 ff.
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Menschen gewährleistet. Der grundrechtliche Schutzbereich ist beeinträchtigt, wenn unmittelbar oder mittelbar auf die Substanz des Körpers eingewirkt oder seine Beschaffenheit verändert wird.10 Da es sich dabei um das Recht auf körperliche Integrität, nicht um ein Recht auf Gesundheit handelt, können auch Heileingriffe zur Wiederherstellung der Gesundheit und zu deren Vorbereitung einen Eingriff in das Grundrecht darstellen.11 Geschützt ist also der Körper in seinem aktuellen Ist-Zustand, nicht der Körper in einem wie auch immer definierten SollZustand. Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit steht unter einfachem Gesetzesvorbehalt.
3.
Das Recht auf Leben
In unmittelbarer Nachbarschaft zum Recht auf körperliche Unversehrtheit steht das Recht auf Leben. Sein Bezug zur zwangsweisen Heilbehandlung ist nicht offensichtlich. Er ergibt sich aus zwei Überlegungen: Einerseits ist nach einer Mindermeinung12 mit diesem Grundrecht eine negative Freiheit verbunden, die neben dem Recht auf Selbsttötung aus Art. 2 Abs. 1 GG auch das Recht herausliest, dass nicht gegen den Patientenwillen lebensverlängernde Behandlungen aufgenommen oder fortgesetzt werden dürfen. Andererseits ist ein Eingriff in den Schutzbereich schon da möglich, wo durch staatliche Maßnahmen das Leben konkret gefährdet wird oder die konkrete Möglichkeit besteht, dass das Leben nicht unerheblich verkürzt wird. Auch dies ist bei einer zwangsweisen Heilbehandlung möglich.
4.
Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG
Nach Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG dürfen festgehaltene Personen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden. Überwiegend wird in dieser Vorschrift eine sog. Schranken-Schranke in Bezug auf den einfachen Gesetzesvorbehalt des Rechtes auf körperliche Unversehrtheit13 oder eine Konkretisierung des Gebots der Wahrung der Menschenwürde14 gesehen. Ihr kommt also kein eigener Grundrechtsge10
11
12 13 14
Lorenz, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. In: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Band VI: Freiheitsrechte, Heidelberg 1989, § 128, Rn. 16 f. Schultze-Fielitz, in: Dreier (Fn. 5), Art. 2 II Rn. 38; Heide (Fn. 1), S. 178; Kunig, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar. Bd. 1. 5. Aufl., München 2000 Art. 2 Rn. 62. Pieroth / Schlink (Fn. 5), Rn. 392. Pieroth / Schlink (Fn. 5), Rn. 399. Grabitz, Freiheit der Person. In: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Band VI: Freiheitsrechte, Heidelberg 1989, § 130, Rn. 23.
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halt zu, sondern sie stellt nur klar, dass der Gesetzesvorbehalt des Art. 2 GG jedenfalls keine körperliche Misshandlung festgehaltener Personen zulassen darf. 15
5.
Das Recht auf Selbstbestimmung
Nach der Meinung der Rechtsprechung verletzt eine Heilbehandlung ohne ausreichende Einwilligung neben dem Recht auf körperliche Unversehrtheit auch das Selbstbestimmungsrecht des Patienten.16 Als grundgesetzliche Verankerung dieses Selbstbestimmungsrechts wird vom BVerfG Art. 2 Abs. 1 GG genannt.17 Aus diesem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit entspringe, so das BVerfG, auch ein Recht, eine Heilbehandlung abzulehnen.18 Ein allgemeines, aus der allgemeinen Handlungsfreiheit abgeleitetes Grundrecht auf Selbstbestimmung ist aber gar nicht nötig. Es ergibt sich bereits aus dem Recht auf körperliche Unversehrtheit als Abwehrrecht.19 Denn, wie bereits erwähnt, gewährt Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG – wie vom BVerfG formuliert – vor allem „Freiheitsschutz im Bereich der leiblich-seelischen Integrität, nicht aber beschränkt es sich auf speziellen Gesundheitsschutz. Auch der Kranke hat das volle Selbstbestimmungsrecht über seine leiblich-seelische Integrität.“ 20 Die Selbstbestimmung, d.h. das Recht auch des Kranken, einen Gesundheit fördernden Eingriff in seine körperliche Integrität abzulehnen, bezeichnet die „Ausschließlichkeit eigener Verfügung“21 in diesem Bereich. Sie ist somit ureigenster Gehalt des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit als Abwehrrecht.22 Somit stehen bei der Heilbehandlung ohne Einwilligung des Betroffenen zwei Grundrechte im Zentrum des Interesses: das Recht auf Menschenwürde und das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Das Recht auf Menschenwürde ist unantastbar, steht also unter keinem Gesetzesvorbehalt. Ein Eingriff in das Grundrecht ist 15
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Ein eigener Grundrechtsgehalt kommt Art 104 Abs. 1 Satz 2 GG in Bezug auf seelische Misshandlungen zu. Diese werden von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht erfasst, sofern sie keine körperlich-somatischen Auswirkungen haben, siehe di Fabio, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz. Kommentar. Stand: Februar 2004, Art. 2 Abs. 2 Rn. 54. Siehe BGHSt 11, 11, 114; BGH, NStZ 1996, 34. So auch Horn/Wolters, in: Systematischer Kommentar StGB, Stand: August 2003, § 223 Rn. 33; dagg. ein Teil der Lit., siehe dazu Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und Lex artis. Berlin, Heidelberg 2000, S. 20 ff. BVerfGE 52, 131, 170. So auch Ostendorf, GA 1984, S. 314. BVerfG 32, 98, 110. Siehe Stern (Fn. 5), § 66 II 2 e). BVerfGE 52, 131; 52, 171, 175 – Minderheitenvotum der Richter Hirsch, Niebler und Steinberger. Stern (Fn. 5), § 66 II 2 e). Heide (Fn. 1), S. 191 ff., sieht darin eine negative Seite des Freiheitsrechts auf körperliche Unversehrtheit.
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somit in jedem Fall auch eine Verletzung. Allerdings ist die Beurteilung der Frage, wann ein Eingriff in die Menschenwürde vorliegt, abhängig von dem durch das staatliche Handeln verfolgten Zweck. Nur mit dessen Kenntnis kann beurteilt werden, ob der Mensch im Einzelfall zu einem bloßen Objekt degradiert oder seine autonom verantwortete Individualität missachtet wird. Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit steht dagegen unter einfachem Gesetzesvorbehalt. Aber auch dann ist nicht jeder gesetzlich geregelte Eingriff gerechtfertigt, sondern unterliegt der Schranke der Verhältnismäßigkeit. Auch hier kommt es darauf an, ob der Staat mit seiner Regelung eines Grundrechtseingriffs einen legitimen Zweck verfolgt und ob dieser Zweck nicht mit weniger eingriffsintensiven Maßnahmen erreicht werden könnte. In jedem Fall spielt somit der Zweck der gesetzlich geregelten zwangsweisen Heilbehandlung eine entscheidende Rolle. Nur unter Berücksichtigung der gesetzgeberischen Motivation kann somit die Legitimität der Vorschrift des § 101 StVollzG beurteilt werden. Im Folgenden sollen daher die Motive für eine gesetzliche Regelung der Zwangsbehandlung im Strafvollzug näher betrachtet werden, die in der deutschen, durchaus auch historischen, rechtspolitischen Diskussion zu einer entsprechenden Regelung eine Rolle spielten, und jeweils untersucht werden, ob ein solches Motiv die jetzige Regelung tragen und rechtfertigen kann.
III. Motive für medizinische Zwangsbehandlungen 1.
Ermöglichung der (weiteren) Strafe
Ziel der – auch zwangsweisen – Gesunderhaltung des Gefangenen war bereits in der Exekutionshaft des Römischen Rechts die Ermöglichung der Hinrichtung.23 Auch in der Weimarer Republik war die Zwangsernährung des Gefangenen legitimiert, wenn dieser sich durch den Hungertod der Strafe entziehen wollte. Der Staat habe einen Anspruch auf Vollstreckung der Strafe und könne jede Umgehung dieses Anspruchs zu verhindern suchen.24 Dieser Gedanke wurde in der Zeit des Nationalsozialismus noch verschärft, indem auch „schuldlos“ Erkrankte einer
23
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Geißl, Zwangsmaßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge im Strafvollzug und im Vollzug der Untersuchungshaft. Diss. München 1980, S. 8. Ehrenforth, Die Rechtstellung des Gefangenen. Rechtswissenschaftliche Studien Heft 37, Berlin 1927, S. 60 f. Vgl. auch Schöch, in: Kaiser/Schöch, Strafvollzug. 5. Aufl., Heidelberg 2003, § 8 Rn. 17 im Zusammenhang mit der vollzugsrechtlichen Pflicht zur Zwangsbehandlung und Zwangsernährung: „Letztlich geht es hier auch um die für den Staat unverzichtbare Möglichkeit, die Strafe gegen den Willen des Verurteilten zu vollstrecken.“
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Zwangsbehandlung unterworfen werden sollten, um den staatlichen Strafvollstreckungsanspruch durchzusetzen.25
2.
Erhaltung der Wehr- oder Arbeitskraft
In Nr. 195 der Strafvollzugsordnung von 1940 war eine weitreichende Befugnis zu Zwangsuntersuchung, Zwangsbehandlung und Zwangsernährung festgelegt. Nach der Ideologie der Nationalsozialisten erschien der Mensch nicht in erster Linie als Individuum, sondern als Teil der „Volksgemeinschaft“, der er durch zur Verfügung Stellen seiner Arbeits- und Wehrfähigkeit zu dienen hatte. Dies galt auch für den zu zeitiger Freiheitsstrafe Verurteilten, der in seiner Strafhaft nicht nur durch Abschreckung und Besserung, sondern auch durch Gesunderhaltung für seine nach der Freilassung zu erfüllenden Pflichten erhalten werden sollte. 26 Ebenfalls totalitärem Denken entspricht eine zwangsweise medizinische Versorgung des Gefangenen mit dem Ziel, seine Arbeitsfähigkeit während des Strafvollzugs auszunutzen.
3.
Medizinische Experimente
Die Heranziehung von Strafgefangenen zur Erprobung von Medikamenten bzw. neuen Therapieformen oder zur Zwangsspende von Blut, Knochenmark oder paarigen Organen wird schon nur in den wenigsten Fällen eine echte medizinische Heilbehandlung sein, bei der die Besserung des Gesundheitszustandes des Betroffenen im Vordergrund steht. Auch sie widerspricht aber jedenfalls dem Grundrecht auf Menschenwürde. Diese drei Motive für eine zwangsweise Heilbehandlung während des Strafvollzugs spielen – mögen sie auch in der deutschen Strafvollzugsgeschichte vorgekommen sein – heute jedenfalls keine Rolle mehr. Sie entlarven den handelnden Staat als totalitär und sind unter der Geltung des Grundgesetzes nicht denkbar. Sie 25
26
Siehe Antoni, Operationspflicht und Operationszwang. Diss. Köln 1937, S. 36: „...auch eine schuldlos eintretende Erkrankung des Gefangenen, die ihn haftunfähig macht, stellt eine solche (Strafzwecks-)Vereitelung dar. Der Staat kann alle seinen Strafvollstreckungsanspruch vereitelnde oder hemmende Hindernisse aus dem Weg räumen.“ Antoni (Fn. 25), S. 38: „Wenn der Staat den Verbrecher mit einer zeitweisen Freiheitsentziehung bestraft, so bringt er damit zum Ausdruck, daß er den Verbrecher noch für wert und fähig hält, nach Verbüßung der Freiheitsstrafe (...) in der Volksgemeinschaft zu leben, anderenfalls er ihn in Form der Todesstrafe oder lebenslänglichen Freiheitsstrafe „geächtet“ und damit für immer aus der Volksgemeinschaft ausgestoßen haben würde. (...) Auch die Arbeits- oder Wehrfähigkeit, vor allen Dingen ein etwaig wertvolles Erbgut des Gefangenen (...) kann für den Staat, die Volksgemeinschaft von großem Interesse sein...“
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verstoßen offensichtlich allesamt gegen das Grundrecht auf Menschenwürde, indem sie die Person nach der bekannten Formel des BVerfG zum bloßen Objekt staatlichen Handelns machen.27 Dies ist bei der Heranziehung von Strafgefangenen zu medizinischen Humanexperimenten evident und unbestritten. 28 Mit kaum einem anderen Umgang wird der Mensch durch die Reduzierung auf lebenden Experimentierstoff so herabgewürdigt, weil er bloß noch unpersönlich wie ein Gegenstand behandelt wird.29 Aber auch die zwangsweise Aufrechterhaltung der Arbeitsoder Wehrkraft ist ein geradezu klassischer Verstoß gegen das Grundrecht auf Menschenwürde, denn der Gefangene wird dadurch zumindest zeitweise versklavt. Nicht ganz so einfach ist die Ablehnung der zuerst genannten Motivation einer Zwangsbehandlung: die Ermöglichung des durch Strafurteil erkannten Strafübels. Wer sich durch Krankheit oder Verletzung diesem entziehen will und wer daran gehindert wird, allein deswegen, weil das Erleiden des Übels durch den Strafgefangenen noch einen Zweck hat, dessen Menschenwürde wird missachtet. Denn er dient als Objekt der Vergeltung oder der Abschreckung.30
4.
Politische Gründe
Die politische Dimension der Zwangsbehandlung wurde bei der Diskussion um die Zwangsernährung bei Hungerstreiks deutlich. Die tödlich endende Nahrungsverweigerung von sich selbst als „politisch“ definierenden Gefangenen kann – das haben die Stellungnahmen nach dem Tod von Holger Meins gezeigt – durchaus schwer wiegende politische Konsequenzen haben.31 Aber auch außerhalb dieser speziellen Konstellation kann der Tod von Gefangenen die Anstaltsleitung und politische Instanzen in Erklärungsnotstand bringen. Es kann der Verdacht unterlassener Fürsorge oder von Misshandlungen aufkommen, die auch in einem rechtsstaatlichen Strafvollzug vorkommen und das gesamte System in Misskredit bringen können.32 Die Zulässigkeit oder gar Notwendigkeit einer Zwangsernährung hungerstreikender Gefangener wurde in den 70er und 80er Jahren anlässlich mehrerer gemein27 28 29 30 31
32
BVerfGE 9, 167, 171; 87, 209, 228. Siehe Podlech, in: AK-GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 48. Heide (Fn. 1), S. 187. Siehe auch Geißl (Fn. 23), S. 337 ff.; Ostendorf, GA 1984, S. 320 f. Siehe dazu Tröndle, Zwangsernährung und Rechtsstaat. In: Gössel, K.H. / Kauffmann, H. (Hrsg.): Strafverfahren im Rechtsstaat. Festschrift f. Th. Kleinknecht zum 70. Geburtstag. München 1985, S. 419 Fn. 39; Wagner, Selbstmord und Selbstmordverhinderung. Karlsruhe 1975, S. 7 ff.; Weis, ZRP 1975, S. 85 ff. Siehe nur den Skandal um die Hamburger „Glocke“ aus den 60er Jahren, siehe dazu Valentin, ZfStrVo 1968, S. 5.
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samer Hungerstreikaktionen von Inhaftierten aus der linken Terroristenszene sehr kontrovers diskutiert. Diese Diskussionen wirkten sich auch bei den Beratungen zum Strafvollzugsgesetz im Sonderausschuss für die Strafrechtsreform aus. Die Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion vertraten zu Anfang die Ansicht, die Zwangsernährung sei ein Fall der ärztlichen Behandlung und dürfe gegen den Willen eines Gefangenen, „dessen Geistestätigkeit intakt sei“, nicht vorgenommen werden.33 Unter den Mitgliedern der SPD-Fraktion wurden stattdessen neben der öffentlich-rechtlichen Fürsorgepflicht und verfassungsrechtlichen Grundsätzen auch politische Aspekte der Zwangsernährung zum Beleg ihrer Zulässigkeit vorgebracht. Es sei zu fragen, so der Abg. Penner, ob der Staat es zulassen dürfe, „daß Häftlinge das Gesetz des Handelns im Strafverfahren dadurch in die Hand nähmen, daß sie sich in einen Zustand versetzten, der in Verhandlungsunfähigkeit und Vollzugsuntauglichkeit einmünde.“34 Außerdem „müsse doch auf jeden Fall verhindert werden, daß sich die Justizvollzugsanstalten zu ‚Sterbekliniken’ entwickelten. Die Darstellung solcher außergewöhnlicher Vorgänge in der Öffentlichkeit müßte für den Strafvollzug Anlaß zu den schlimmsten Befürchtungen geben.“35 Nachdem die CDU-regierten Länder Baden-Württemberg und RheinlandPfalz ähnliche Standpunkte wie die Mehrheitsfraktion im Bundestag eingenommen hatten, ließ die CDU/CSU-Fraktion ihren Widerstand fallen und es kam zu dem bekannten Kompromiss des heutigen § 101 StVollzG. Wie die oben angeführten Zitate zeigen, wird die Zwangsbehandlung also auch mit – zumindest im weiteren Sinne – rechtspolitischen Motiven begründet. Sie lassen sich bezeichnen als Schutz staatlicher Autorität vor Desavouierung des Strafverfahrens und Diskreditierung des Strafvollzugs36 bzw. als Schutz vor einer negativen Öffentlichkeitsmeinung. Der Gefangene hat einerseits die Möglichkeit, sich durch Krankheit oder gar Tod dem Verfahren zu entziehen und es so leer laufen zu lassen. Dieser Aspekt ist eng verwandt mit der oben bereits behandelten Ermöglichung der Strafe durch Zwangsbehandlung. Die Desavouierung des Strafverfahrens bzw. -vollzugs ist in der StPO in den §§ 231 f., 455 geregelt. Auch bei diesen Regelungen ist eine Zwangsbehandlung nicht vorgesehen. Es erscheint unangemessen, über die Regelung des § 455 IV StPO hinaus beim verurteilten Gefangenen, der sich durch selbst verschuldete Krankheit dem Strafvollzug entziehen will, eine Zwangsbehandlung durchzuführen mit dem Argument, die Krankheit desavouiere den Strafvollzug. Der Strafvollzug als Institution leidet nicht unter selbst herbeigeführten Krankheiten von Inhaftierten. Bei der Entscheidung, eine Zwangsmaßnahme zur Behandlung eines kranken oder zur Ernährung eines hungerstreikenden Gefangenen anzuordnen, spielt die öffent33
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Siehe Abg. Eyrich, in: Sonderausschuss für die Strafrechtsreform, 7. Wahlperiode, Protokoll der 53. Sitzung am 16.4.1975, S. 2071. Abg. Dr. Penner, a.a.O., S. 2074. Abg. Dr. Penner, a.a.O. S. 2120. Siehe Riklin (Fn. 1), S. 62; Schöch (Fn. 24), § 8 Rn. 15.
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liche Meinung naturgemäß eine noch größere Rolle. Der Tod von Holger Meins hat die damalige Öffentlichkeit sehr bewegt und „dem Staat“ den Vorwurf eingebracht, er habe diesen Tod zu verantworten.37 Die Zwangsernährung beim Hungerstreik stellt ein Sonderproblem dar. Zwar ist der Hungerstreik als bewusst eingesetztes Mittel, die Anstaltsleitung oder öffentliche Verwaltung zu Zugeständnissen zu zwingen, in Einzelfällen ein wirksames Mittel, die Öffentlichkeit für die Situation eines Gefangenen zu mobilisieren und daher politisch durchaus effizient. Allerdings ist die medizinisch einzig wirksame Prozedur der Zwangsernährung so drastisch, dass ihre Zulässigkeit allein durch das notwendige Wie vorentschieden ist. Zur Verdeutlichung sei der Vorgang der Zwangsernährung in den Worten des Ärztlichen Vorstands der Bundesarbeitsgemeinschaft der Ärzte und Psychologen in der Straffälligenhilfe, Dr. Kutz, bei der öffentlichen Anhörung des Rechtssausschusses zur Beratung der Änderung des § 101 StVollzG am 14.12.1984 wiedergegeben: „Der Betroffene wird in sitzender Stellung von sechs Personen ruhiggestellt. Zwei Personen sitzen auf seinen Füßen und umklammern seine Beine. Rechts und links von ihm werden Auflageflächen (Tische) installiert, auf die die Arme des Betroffenen gelegt werden und von zwei weiteren Personen (in der Regel durch Draufsetzen) fixiert werden. Eine Person steht hinter dem Betroffenen und versucht (durch Griff in die Haare) den Kopf zu fixieren, eine zweite hinter ihm stehende Person versucht den Mund des Betroffenen zu öffnen und den Unterkiefer in dieser Stellung zu halten. Die eigentliche Nahrungszufuhr wird durch medizinisches Personal durchgeführt (ein Arzt und ein oder zwei Hilfspersonen). Die Einführung eines Gummischlauchs in den Magen und die anschließende Deponierung von hochkalorischem flüssigem Nahrungsbrei durch diesen Schlauch in den Magen gelingt in der Regel nur unvollkommen (der Betroffene schreit, spuckt, würgt und führt, soweit noch möglich, Abwehrbewegungen aus). Dieser Vorgang ist mit erheblichen Gefahren und Schädigungen des Körpers des Betroffenen verbunden und seine Wirksamkeit wird teilweise durch nachträgliches Erbre37
Siehe den Vollzugsmediziner Husen, ZRP 1975, S. 290: „Um die Vollzugsbehörden, um den Staat zu erpressen, setzen die Gefangenen Gesundheit und Leben als politische Waffe ein. (...) Wenn sich der Staat den erpresserischen Forderungen der Gefangenen nicht beugt, dann, so heißt es, spielt er leichtfertig mit dem Leben der Gefangenen; wenn der Gefangene an den Folgen seines unsinnigen Hungerstreiks sterben sollte, dann hat ihn der Staat gemordet; wenn der Gefangene, um ihn vor diesem Schicksal zu schützen, künstlich oder gar zwangsweise ernährt wird, dann ist dies eine grausame Folterung. Stirbt der Gefangene gar trotz dieser Maßnahmen, dann hat ihn der Knast erst recht ermordet, und der Vollzugsarzt hat den Tod des Gefangenen auf seinem Gewissen.“
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chen qualitativ und quantitativ wieder reduziert. Um auf diese Weise eine ausreichende Nahrungsmittelzufuhr sicherzustellen, muß diese Maßnahme mindestens zweimal täglich durchgeführt werden, unter Umständen über Wochen und Monate.“38 Eine andere, schonendere Art der Ernährung von Hungerstreikenden ist aus medizinischer Sicht nicht möglich.39 Diese somit notwendigerweise „mit Brachialgewalt durchgeführte“40 drastische Prozedur, die als „im Grunde erschütternder Vorgang“41, als „Tortur“42 bzw. „martialisch“43 bezeichnet wurde und die vom Gefangenen als „tagtägliche erniedrigende Vergewaltigung“ erlebt werde,44 widerspricht nicht nur der ärztlichen Ethik45 und ist im Sinne des § 101 I 1 2. HS StVollzG für alle Beteiligten unzumutbar.46 Es ist aufgrund dieser gezielten wiederholten Gewaltanwendung auch die Verletzung der Menschenwürde des Gefangenen offensichtlich.47 Dies gilt um so mehr, je deutlicher bei einer Zwangsernährung eines zur freien Willensbestimmung fähigen Gefangenen politische Motive im Vordergrund stehen: etwa das Bemühen, einer Diskreditierung des Strafvollzugs zu entgegnen oder in der Öffentlichkeit das Bild zu vermitteln, der Staat lasse sich nicht erpressen und der tägliche Ablauf in einer Strafvollzugsanstalt lasse sich nicht stören. Wird die Selbstbestimmungsfreiheit des Gefangenen für solche Ziele geopfert, ist er tatsächlich nicht mehr als ein Objekt staatlichen Handelns und wird 38
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40 41 42 43 44 45
46 47
Deutscher Bundestag, 10. Wahlperiode, 6. Ausschuss, Prot. Nr. 40, Anlage, S. 2 f. Siehe auch die Schilderungen bei Bemmann, Zur Fragwürdigkeit der Zwangsernährung. In: Kohlmann (Hrsg.), Festschrift f. U. Klug zum 70. Geburtstag. Band II. Köln 1983, S. 565; Husen, ZRP 1977, S. 290; Tröndle (Fn. 31), S. 417 f. So die Ausführungen der bei der öffentlichen Anhörung (Fn. 38) befragten Ärzte. Siehe vor allem Dr. Becker, a.a.O., S. 5 f., der die intravenöse Nahrungszufuhr schildert, die aber ebenfalls „ein fast absolutes Beseitigen des Widerstandes und dauerhaftes Unmöglichmachen eines wesentlichen körperlichen Widerstandes für die ganze Dauer der Zwangsernährung“ voraussetzt. Siehe auch Bemmann (Fn. 38), S. 565 f.; Geppert, Freiheit und Zwang im Strafvollzug. Recht und Staat 1976, S. 43. Geppert, JURA 1982, S. 181. Tröndle (Fn. 31), S. 418. Bemmann (Fn. 38), S. 564; Geppert (Fn. 39), S. 43. Schöch (Fn. 24), § 8 Rn. 15. So Bemmann (Fn. 38), S. 569. So die einhellige Meinung der befragten Mediziner bei der Anhörung des Rechtsausschusses zur Beratung des § 101 StVollzG. Siehe Deutscher Bundestag (Fn. 38), S. 11, 16, 65 f., 71. Siehe auch Husen, ZRP 1997, S. 290. Husen, ZRP 1977, S. 290. Tröndle (Fn. 31), S. 418. So auch Starck, in: Mangoldt / Klein / Starck, Das Bonner Grundgesetz. Kommentar. Bd. 1. 4. Aufl. München 1999, Art. 1 Abs. 1 Rn. 61; siehe auch Michale, Recht und Pflicht zur Zwangsernährung bei Nahrungsverweigerern in Justizvollzugsanstalten. Frankfurt a.M. 1983, S. 130 f. sowie Ulsenheimer, Zwangsbehandlung und Strafvollzug. In: Laufs / Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts. 3. Aufl. München 2002, § 153, Rn. 35, der ein Recht zur Zwangsernährung gegen den voll verantwortlichen Willen des Gefangenen in Abwägung mit der Pflicht des Staates zum Lebensschutz ablehnt und für die sog. „englische Lösung“ plädiert.
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misshandelt im Sinne des Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG, der ja als Konkretisierung des Menschenwürdegebots gilt.48 Die Verpflichtung des Staates beschränkt sich darauf, die Urteilsfähigkeit des Gefangenen durch Ärzte überprüfen zu lassen, ihn über die Folgen der Nahrungsverweigerung aufzuklären und Hilfe auf seinen Wunsch bereitzustellen.49 Auch bei einem schonenderen Vorgehen ist die Zwangsbehandlung eines Gefangenen mit dem primären Ziel, politische Irritationen oder einen Skandal in der Öffentlichkeit zu vermeiden, eine Verletzung der Menschenwürde des Betroffenen. Denn er wird instrumentalisiert; seine Pflege dient nicht ihm, sondern den Pflegenden. Sein entgegenstehender Wille wird ignoriert, um politische Ziele der Entscheidungsträger zu verfolgen. Damit wird der zwangsbehandelte Gefangene seiner Subjektqualität beraubt.
5.
Notwendigkeit der Behandlung zur Resozialisierung
Das gesetzliche Vollzugsziel der Freiheitsstrafe ist die Vermittlung der Fähigkeit, künftig ein Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten zu führen (§ 2 StVollzG). Der Alternativentwurf eines Strafvollzugsgesetzes aus dem Jahre 1973 sieht in seinem § 139 Abs. 2 Nr. 2 eine ärztliche Behandlung ohne Einwilligung des Insassen als zulässig an, wenn „eine Krankheit vorliegt, mit der die Straftat in Zusammenhang steht und ohne deren Heilung eine Resozialisierung nicht erfolgen kann“. Es gehe dabei, so die Begründung, um die Beseitigung kriminogener Faktoren. Für die Zulässigkeit ärztlicher Zwangsmaßnahmen sei eine Gefahr für Leben oder Gesundheit nicht erforderlich. Erfasst seien Krankheiten im medizinischen Sinne.50 Eine solche Vorschrift findet sich weder im geltenden Recht noch in Entwürfen dazu oder in früheren deutschen Rechtsvorschriften. Sie ist auf Zustimmung, 51 aber auch auf Kritik52 gestoßen. Die Kritiker betonen die Unvereinbarkeit einer zwangsweisen Behandlung kriminogener organischer Ursachen mit dem Ziel eines freiheitlich-rechtsstaatlichen Strafvollzugs, die Eigenverantwortlichkeit des Gefangenen bei der Lösung seiner Probleme zu fördern.53 Auch der AE-StVollzG betont in seinem § 4 Abs. 1 die Selbstverantwortung des Gefangenen. Eine zwangsweise Behandlung zur Beseitigung kriminogener Ursachen ist damit kaum vereinbar. 48 49 50
51 52 53
Grabitz (Fn. 14), Rn. 23. Ulsenheimer (Fn. 47), Rn. 35. Arbeitskreis deutscher und schweizerischer Strafrechtslehrer, Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes, Tübingen 1973, S. 203. Geppert (Fn. 39), S. 23 ff. Siehe Müller-Dietz, JZ 1974, S. 360. Siehe Müller-Dietz, JZ 1974, S. 492.
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Darüber hinaus weiß die Kriminologie noch zu wenig über die biologischen Ursachen von Kriminalität. Es scheint Zusammenhänge von Kriminalität und Drogensucht oder auch Neurosen zu geben. Diese beiden Behandlungsgründe hat der AE in seiner Begründung aber schon selbst ausgenommen, indem betont wird, dass eine unfreiwillige Behandlung in diesen Fällen eher Schaden als Nutzen stiften werde.54 Weitere Zusammenhänge zwischen biologisch-organischen Zuständen und abweichendem Verhalten – etwa auf dem Gebiet der Psychophysiologie, der Neuroendokrinologie oder in letzter Zeit der Neurobiologie – werden von den Biowissenschaften zwar untersucht, die Ergebnisse sind aber noch uneinheitlich und die deutschsprachige Kriminologie steht in ihrer Rezeption erst am Anfang. 55 Der Gewinn einer solchen Vorschrift wäre also bisher gering. Aber auch dort, wo sichere Zusammenhänge bestehen, überwiegen die Bedenken. Es mag indiziert sein, eine psycho- oder sozialtherapeutische Behandlung mit Hilfe von Medikamenten zu unterstützen. Dagegen ist so lange nichts einzuwenden, so lange solche Unterstützungsmaßnahmen mit Einwilligung des Gefangenen vorgenommen werden. Eine zwangsweise oder heimliche Verabreichung von Psychopharmaka oder Hormonpräparaten – und darum handelt es sich im Wesentlichen – gerät nicht nur mit den Vorgaben des AE in Konflikt, der in § 2 Abs. 2 über das Vollzugsziel hinausgehende Veränderungen der Persönlichkeit verboten hat. Dies wird aber regelmäßig der Fall sein. Ein solches Vorgehen ist auch nicht mit dem Grundrecht auf Menschenwürde vereinbar.56 Zwar ist beim Grundrecht der Menschenwürde angesichts der einerseits einzigartigen normativen Offenheit und andererseits strikten Unantastbarkeit (Art. 1 I GG) und Bestandsgarantie (Art. 79 III GG) ein unkritischer Gebrauch, ein Umsetzen „in kleine Münze“ unangebracht.57 Allgemein werden aber mehrere Problemdimensionen darunter erfasst, so auch die staatliche Verpflichtung zur Wahrung der personalen Identität.58 Zwar ist die Resozialisierung von der Achtung der Menschenwürde umfasst, diese fordert jene, wie das BVerfG im „Lebach“-Urteil festgestellt hat.59 Insbesondere das „Verbot der Brechung der menschlichen Identität“ erklärt aber alle Strafvollzugsmaßnahmen zu Verstößen gegen die Menschenwürde, bei denen die Persönlichkeit eines Menschen gegen dessen Willen verändert wird, auch wenn aus dieser Persönlichkeit abweichendes sozialschädliches Verhalten resultiert.60
54 55 56 57 58 59 60
AE-StVollzG (Fn. 50), S. 203. Siehe dazu Hohlfeld, Moderne Kriminalbiologie, Frankfurt a.M. 2002. Zur heimlichen Medikamentenvergabe siehe Heide (Fn. 1), S. 187 f. Siehe dazu Müller-Dietz (Fn. 7), S. 6 f. m.w.N. Höfling, JuS 1995, S. 861. BVerfGE 35, 202, 235 f. Podlech, in: AK-GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 37.
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6.
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Schutz Dritter: Ansteckende Krankheiten
Dass zwangsweise Heilbehandlung möglich sein muss bei Gefangenen, die eine ansteckende Krankheit haben, erscheint zunächst selbstverständlich. Zur Begründung wurde meist ein Größenschluss angestellt: Wenn unter „Freien“ eine drittschützende Zwangsbehandlung möglich ist, so nach § 17 GeschlKrG eine echte Heilbehandlung oder nach § 10 Abs. 3 BSeuchG zumindest körperlich invasive diagnostische Maßnahmen, dann muss Gleiches auch für Strafgefangene gelten.61 Der Gesetzgeber hat aber mit dem Infektionsschutzgesetz 2000 beide Vorschriften ersatzlos gestrichen und in dessen § 28, der die Schutzmaßnahmen gegen Infektionskrankheiten regelt, in Abs. 1 Satz 3 klar bestimmt: „Eine Heilbehandlung darf nicht angeordnet werden.“ Ist die Regelung des § 101 StVollzG, in der die medizinische Untersuchung und Behandlung eines Gefangenen auch bei Gefahr für die Gesundheit anderer Personen für zulässig erklärt wird, mit den grundrechtlichen Anforderungen vereinbar? Daran dürfte kein Zweifel bestehen. Überwiegend wird ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dann für rechtmäßig angesehen, wenn er der Abwehr von Gefahren für Leben oder Gesundheit Dritter dient.62 Die Verhältnismäßigkeit wird zu wahren gesucht, indem verlangt wird, dass die „Abwehr von besonders ansteckenden Krankheiten (...), die Leben und Gesundheit anderer Menschen schwer bedrohen“,63 verlangt wird. Dies erscheint grundsätzlich richtig. Systematisch ist auf die beim anderen Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 GG bestehende Überzeugung hinzuweisen: dass nämlich das Recht auf Leben nur dann eingeschränkt werden darf, wenn dadurch das Leben anderer Menschen bewahrt werden kann. Gleiches gilt für das Schwestergrundrecht auf körperliche Unversehrtheit: Wenn durch den Eingriff in die körperliche Unversehrtheit die Gesundheit anderer Menschen bewahrt werden kann, ist der Eingriff zulässig.64 Dies ist die Konsequenz aus der dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit erwachsenden Schutzfunktion, d.h. der Schutzpflicht des Staates vor Grundrechtseingriffen durch Dritte. Diese beim ersten Abtreibungsurteil des BVerfG65 maßgeblich entwickelte Lehre betrifft auch die hier interessierenden Konstellationen. Die Personen, in unserem Zusammenhang Mitgefangene oder Anstaltspersonal, die mit dem Träger einer ansteckenden Krankheit in Kontakt treten, haben einen grundrechtlichen Anspruch auf Schutz ihrer Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Dieser Schutz Dritter rechtfertigt grundsätzlich Grundrechtseingriffe beim Krankheitsträger. 61 62 63
64 65
Siehe etwa Geppert (Fn. 39), S. 22. Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit. Köln 1981, S. 123 ff. So di Fabio, in: Maunz / Dürig, Art. 2 Abs. 2 Rn. 66. Ähnlich Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Art. 2 Abs. 2 Rn. 205. Seewald (Fn. 62), S. 124. BVerfGE 39, 1.
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Den richtigen Beurteilungsmaßstab für die Zulässigkeit des Eingriffs im Einzelfall bietet das Übermaßverbot, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der stets zu beachten ist. Der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Gefangenen muss daher geeignet sein, es muss unter gleich geeigneten Mitteln das am wenigsten eingriffsintensive gewählt werden und schließlich muss das Mittel angemessen, an dem zu erreichenden Ziel gemessen legitim sein. Daraus ergibt sich bereits, dass es eine sog. „feste Grenze“ für Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit nicht geben kann. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist ein dynamisches Beurteilungsinstrument, das nicht darüber entscheidet, welche verfolgten Zwecke legitim sind oder nicht.66 Es ist nicht absolut darauf abzustellen, dass die von dem Gefangenen ausgehenden Ansteckungsgefahren besonders schwer sind in dem Sinne, dass den Dritten die Infektion mit einer tödlichen oder zumindest schwer gesundheitsschädigenden Krankheit droht. Auch die Ansteckung mit einer vergleichsweise ungefährlichen Krankheit ist eine Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit Dritter, die einen Eingriff in das Grundrecht des Krankheitsträgers dann angebracht erscheinen lässt, wenn die Heilbehandlung geeignet, notwendig und angemessen ist. Allerdings wird die Verhältnismäßigkeitsprüfung dann schwerer wiegende Eingriffe in die Sphäre des Krankheitsträgers zulassen, wenn die von diesem ausgehenden Gefahren schwer wiegen oder eine große Zahl von Ansteckungen zu befürchten ist.67 Dies ist jeweils im Einzelfall zu entscheiden. Da die zwangsweise Heilbehandlung einen Eingriff in ein hochwertiges Grundrecht darstellt, ist sie nur dann angemessen, wenn keine anderen Grundrechtseingriffe bei gleicher Eignung weniger intensiv ausfallen. So stellt die Isolierung des Gefangenen als Beschränkung der Freiheit – einem in der Grundrechtshierarchie geringeren Gut – möglicherweise einen weniger intensiven Eingriff dar. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass eine wenige Tage andauernde Verabreichung eines Antibiotikums eine geringere Belastung darstellen wird als eine wochenlange Isolierung. Darüber hinaus ist die Eignung für die dauerhafte Abwehr der Ansteckungsgefahr bei der Isolierung im Vergleich zur endgültigen Heilung in vielen Fällen wohl geringer. Die rigorose Ablehnung einer Zwangsbehandlung durch das IfSG beruht auf einer solchen Abwägung. Man ging davon aus, dass die nach diesem Gesetz zulässige Absonderung des Krankheitsträgers bereits ausreicht, um die Infektionsgefahr einzudämmen und dass eine darüber hinausgehende Heilbehandlung keinen wesentlichen weiteren Schutz bieten würde, so dass ihre zwangsweise Durchführung – und damit ein Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit – nicht angemessen erscheint. Ob diese pauschale Abwägung für die spezielle Situation in einer Strafvollzugsanstalt in gleichem Maße gilt, ist angesichts der Enge und der besonderen Bedingungen des Zusammenlebens durchaus zweifelhaft, so dass die 66 67
Heide (Fn. 1), S. 205; a.A. Seewald (Fn. 62), S. 125. di Fabio, in: Maunz / Dürig, Art. 2 Abs. 2, Rn. 71.
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Regelung des § 101 StVollzG und die darin festgeschriebene Zulässigkeit einer Zwangsbehandlung zum Schutze der Gesundheit Dritter nicht von vornherein als unangemessen erscheint.68, 69
7.
Anstaltssicherheit
Die angemessene Reaktion auf pathologisch-aggressives Verhalten, salopp formuliert: „Haftkoller“, wurde spätestens nach dem „Hamburger Glocke“-Fall in den 60er Jahren kontrovers diskutiert. Gewalttätigkeiten Gefangener haben drei Gefährdungsdimensionen. Sie können Dritte, also Mitgefangene oder Anstaltspersonal, gefährden, sie können zu Verletzungen des aggressiven Insassen selbst führen und sie können schließlich den Tagesablauf in der Anstalt beeinträchtigen. Als Gegenmaßnahmen kommen physische Sicherungsmaßnahmen wie Fesselung oder Einsperrung in Frage, aber auch medikamentöse Einwirkung, geschehe sie durch Zwang, etwa in Form von Injektion von Beruhigungsmitteln oder durch heimliche Medikamentenverabreichung. Zum Schutz Dritter gilt das oben Gesagte: Grundsätzlich ist ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit rechtlich möglich, wenn nicht mildere Mittel genügen. Dazu gehört regelmäßig die Einsperrung in besondere Beruhigungsräume. Die Schutzfunktion des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit gebietet Schutz der gefährdeten Dritten, allerdings nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und verlangt daher eine Entscheidung im Einzelfall.70 Zum Schutz des aggressiven Gefangenen selbst gibt § 101 StVollzG dann ein zwangsweises Behandlungsrecht, wenn Lebensgefahr oder die Gefahr schwerer Gesundheitsbeschädigungen besteht. Ob diese Regelung angemessen ist, soll später behandelt werden.
68 69
70
Siehe Geißl (Fn. 23), S. 321 ff. § 36 Abs. 4 Satz 7 IfSG erweitert die durch § 101 StVollzG eröffneten Möglichkeiten durch die Anordnung einer „ärztlichen Untersuchung auf übertragbare Krankheiten einschließlich einer Röntgenaufnahme der Lunge“ bei allen „Personen, die in eine Justizvollzugsanstalt aufgenommen werden.“ Diese Vorschrift, die dem Schutz vor Lungentuberkulose dient, ist nach dem hier vertretenen Standpunkt verfassungsrechtlich vertretbar. Die rechtliche Möglichkeit einer verdachtsunabhängigen Untersuchung auf andere Krankheiten außer Tuberkulose, insbesondere HIV, ist durch diese Vorschrift nicht eröffnet, denn § 39 Abs. 4 IfSG behandelt in seinen Sätzen 1 bis 6 nur Lungentuberkulose, so dass der Begriff „ansteckende Krankheiten“ in Satz 7 darauf zu reduzieren ist. Dabei kann sich durchaus eine Präferenz für eine medikamentöse Behandlung ergeben, insbesondere im Vergleich zur Fesselung und wenn das Verhalten des Gefangenen auf einem pathologischen Zustand beruht, siehe dazu Schüler-Springorum, Strafvollzug im Übergang. Göttingen 1969, S. 116 ff.
Zwangsbehandlung im Strafvollzug
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Soweit die reine Aufrechterhaltung der Ordnung in der Justizvollzugsanstalt betroffen ist, die Sicherung der täglichen Arbeits- und Vollzugabläufe, ist eine zwangsweise Behandlung aggressiver Gefangener nicht zulässig. Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit sind nur dann zu rechtfertigen, wenn sie der Abwehr von Gesundheitsschäden dienen, reine Ordnungsgesichtspunkte reichen nicht aus.71 In diesem Zusammenhang sind die regelmäßig milderen physischen Sicherungsmaßnahmen vorzuziehen, Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit sind unverhältnismäßig.72 Das Gesetz hat das mit der abschließenden Aufzählung der besonderen, rein physischen Sicherungsmaßnahmen in § 88 II StVollzG umgesetzt.
8.
Schutz des Kranken selbst
Schließlich kann das Motiv für eine zwangsweise Heilbehandlung das Wohlergehen des Gefangenen sein. Solch fürsorgliches Vorgehen der Anstaltsleitung und -ärzte wäre wohl nicht verwerflich, geschähe es nicht gegen den Willen und die Interessen des Patienten. Eine aufgedrängte Heilbehandlung stellt außerhalb der Strafanstalt nach der Meinung der Rechtsprechung in jedem Fall eine Körperverletzung dar, egal wie erfolgreich die Behandlung war. Der durchaus wohl meinende Arzt wird zum Straftäter, weil er den Willen des Patienten, sein Selbstbestimmungsrecht über seine körperliche Integrität, nicht gewahrt hat. Dies gilt auch dann, wenn die Verweigerungshaltung des Patienten aus objektiver Sicht nicht nachvollziehbar und völlig unvernünftig erscheint. Der eingangs zitierte Auszug aus den Entscheidungsgründen beim Myom-Fall des BGH aus dem Jahre 1957 hat die Selbstbestimmung des Patienten über seinen Körper und die Freiheit und Würde der menschlichen Persönlichkeit als verletzte Grundrechte bei der Heilbehandlung ohne den Willen des Patienten genannt. Man mag über den rechtswidrigen Eingriff in die Würde des Menschen streiten, denn durch den Versuch, das Leben eines kranken Menschen zu retten, wird dieser nicht zu einem bloßen Objekt staatlichen Handelns degradiert oder seiner Subjektqualität beraubt.73 Es bleibt aber der schwer wiegende und ausnahmslos vorliegende rechtswidrige Eingriff in die Selbstbestimmung über die körperliche Unversehrtheit des Patienten, der einen entgegenstehenden Willen geäußert hat.
71 72
73
Siehe Geppert (Fn. 39), S. 31. Vgl. auch Heide (Fn. 1), S. 207 f., nach dem sich „kein generelles Verbot medikamentöser Ruhigstellung rechtlich begründen lässt“, der dabei aber auch gesundheitliche Gefahren für Pflegepersonal und Mitinsassen in die Abwägung einfließen lässt. Höfling, JuS 2000, S. 111, 114.
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In der Justizvollzugsanstalt gestattet § 101 StVollzG dagegen eine zwangsweise Heilbehandlung, wenn für den Gefangenen Lebensgefahr oder schwerwiegende Gefahr für die Gesundheit bestehen. Eine Verpflichtung zur Heilbehandlung liegt nur vor, wenn der Patient nicht zur freien Willensbestimmung fähig ist; ist er dazu fähig, besteht lediglich das Recht zur Behandlung. Eine Behandlung gegen den Willen des Gefangenen ist also nicht – wie außerhalb der Anstalt – in jedem Fall rechtswidrig. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG unterliegt einem einfachen Gesetzesvorbehalt. Dieser erlaubt aber nicht jede gesetzliche Eingriffslegitimierung, sondern nur eine verhältnismäßige. Der Zweck des Eingriffs darf nicht außer Verhältnis zur Grundrechtsbeeinträchtigung stehen. Der Zweck ist jetzt das Wohl des Patienten. Dieses reicht außerhalb der Anstalt nicht zur Eingriffsrechtfertigung aus. Wodurch unterscheidet sich die rechtliche Situation in einer Strafanstalt von der in Freiheit? Man könnte annehmen, dass die besondere Fürsorgepflicht der Anstaltsleitung für die Gefangenen den Eingriff rechtfertigt. Diese Fürsorgepflicht ist in § 56 I StVollzG festgelegt, sie ergibt sich auch aus dem Gegensteuerungsgrundsatz des § 3 II StVollzG und verfassungsrechtlich aus dem Sozialstaatsprinzip. 74 Zum Teil wird die Begründung einer nur dem Betroffenen dienenden Zwangsbehandlung auf die Fürsorgepflicht gestützt.75 Es wurde in der Literatur allerdings schon mehrfach dargelegt, dass die Verpflichtung zur Fürsorge Grundrechtseingriffe nicht rechtfertigen kann. Eine Fürsorgepflicht kann nur Leistungsansprüche begründen, nicht aber Duldungsverpflichtungen. Sie dient als Ausgleich dafür, dass der Gefangene in Unfreiheit seine Angelegenheiten nicht in dem Maße besorgen kann wie in Freiheit.76 Die Fürsorgepflicht geht daher nicht weiter als die Selbstfürsorge gehen würde, wenn sie dem Gefangenen möglich wäre.77 Sie soll Unterstützung bieten, nicht Rechte einschränken. Dies gilt uneingeschränkt für den zur freien Willensbestimmung fähigen Gefangenen. Anderenfalls geriete der Gefangene vom Joch des besonderen Gewaltverhältnisses in die Fesseln staatlicher Fürsorge. § 101 StVollzG ist somit – soweit ein Handeln nur im Interesse des Patienten gerechtfertigt werden soll – eine Vorschrift, die das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des Gefangenen gegen dessen ausdrücklichen Willen schützt. Die74 75
76
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Heide (Fn. 1), S. 217 ff. So vor allem der AE-StVollzG (Fn. 50), zu § 139, S. 203; ähnlich auch v. Münch, Grundrechtsschutz gegen sich selbst. in: Stodter / Thieme (Hrsg.), Hamburg, Deutschland, Europa. Festschrift für H. P. Ipsen. Tübingen 1977, S. 123. Siehe auch Calliess/Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz. 10. Aufl., München 2005, § 101 Rn. 3 a.E. Geißl (Fn. 23), S. 312 ff.; Geppert (Fn. 39), S. 15; Müller-Dietz, Strafvollzugsrecht. 2. Aufl., Berlin 1978, S. 207; siehe auch Heide (Fn. 1), S. 218 ff. Bemmann (Fn. 38), S. 568.
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ser „Schutz des Menschen vor sich selbst“78 ist ein Thema, das in der verfassungsrechtlichen Diskussion der letzten Jahre für viel Aufmerksamkeit gesorgt hat. Die Rechtsprechung musste sich in vielfältiger Weise damit auseinandersetzen, so etwa bei der Frage der Helm- oder Gurtpflicht für Kraftfahrer oder bei der Menschenunwürdigkeit sog. Peep-Shows.79 Die Frage, die sich dabei stellt, lautet: Darf der Staat Grundrechtsschutzgüter gegen den Willen des Inhabers schützen? Dies wird überwiegend bejaht für den Fall, dass der Grundrechtsinhaber zur Selbstbestimmung – etwa aufgrund psychischer Krankheit – nicht in der Lage ist. Das BVerfG führt dazu aus: „Zwar steht es unter der Herrschaft des GG in der Regel jedermann frei, Hilfe zurückzuweisen, sofern dadurch nicht Rechtsgüter anderer oder der Allgemeinheit in Mitleidenschaft gezogen werden. (...) Bei psychischer Erkrankung wird die Fähigkeit zur Selbstbestimmung häufig erheblich beeinträchtigt sein. In solchen Fällen ist dem Staat fürsorgerisches Eingreifen auch dort erlaubt, wo beim Gesunden Halt geboten ist.“80 Dieser Standpunkt, also die Zulässigkeit zwangsweiser medizinischer Heilbehandlungen bei Personen, die zur Selbstbestimmung nicht fähig sind, wird in der Literatur weitgehend geteilt.81 Zur Begründung kann vorgebracht werden, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit als Freiheitsrecht zu seiner Inanspruchnahme die Freiheit zur Selbstbestimmung voraussetzt. Wo diese Freiheit fehlt, etwa in einem Maße, das bei einer Fremdschädigung die strafrechtliche Verantwortlichkeit im Sinne des § 20 StGB ausschlösse, ist das Verhalten des Betroffenen „nicht als Ausdruck von Selbstbestimmung staatlicherseits unbedingt anzuerkennen.“ 82 Wer unfrei ist, eigenverantwortlich über die Nutzung seiner grundrechtlich geschützten Interessen zu entscheiden, dem wird durch staatliche Bevormundung keine Freiheit genommen.83 Im Gegenteil gebietet es nun die Fürsorgepflicht, den Gefangenen, der nicht zur freien Willenbestimmung fähig ist, vor Schädigungen zu schützen.84 78
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82 83 84
Siehe dazu die Dissertation von Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, München 1992, und der gleich betitelte Aufsatz von Schwabe, JZ 1998, S. 68, zu diesem Thema. Siehe BVerfGE 59, 275 (Helmpflicht), BVerfG, NJW 1987, 180 (Gurtpflicht); BVerwGE 64, 274 (Peep-Show). BVerfGE 58, 208, 225. Siehe etwa Geißl (Fn. 23), S. 323; Schwabe, JZ 1998, S. 67; vgl. auch Heide (Fn. 1), S. 220 ff. Hillgruber (Fn. 78), S. 121. Schwabe, JZ 1998, S. 70. Siehe auch schon v. Münch (Fn. 75), S. 124 f. Siehe BVerfGE 58, 208, 224 ff., Riklin (Fn. 1), S. 60. Heide (Fn. 1), S. 224 ff., beschränkt die Zulässigkeit einer Zwangsbehandlung bei einem zur freien Willenbe-
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Die Unfähigkeit zur Willensbestimmung ergibt sich aber nicht bereits durch die psychische Ausnahmesituation der Haft an sich: die Freiheitsstrafe allein beraubt den Gefangenen nicht seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung. 85 Dies macht bereits das Gesetz unmissverständlich deutlich, das ja zwischen Gefangenen mit der Fähigkeit zur freien Willensbestimmung und Gefangenen ohne diese Fähigkeit unterscheidet.86 Auf der anderen Seite wird überwiegend vertreten, dass eine zwangsweise Behandlung gegen den Willen eines zur Willensbestimmung Fähigen nicht zulässig ist. Der reine Schutz des Menschen vor sich selbst durch Grundrechtseingriffe ist ohne damit gleichzeitig verfolgte Gemeinwohlinteressen nicht legitim. 87 Die Absicht, lediglich die Rechtsgüter desjenigen zu schützen, dem gegenüber Beschränkungen ergehen, verschafft keine Eingriffslegitimation. 88 Eine solche ergibt sich auch nicht aus der Schutzfunktion der Grundrechte, weil diese nur in einem Dreierverhältnis Staat-Störer-Opfer tatbestandlich gilt. 89 Anderenfalls würde aus der einer Person grundrechtlich verbürgten Freiheit die Berechtigung, die Freiheit derselben Person zu reglementieren. Stets müssen also Rechte Dritter oder Gemeinwohlinteressen dazu verpflichten, Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit des Gefangenen vorzunehmen. Diese grundrechtlich relevanten Belange können etwa die Interessen von Familienangehörigen sein. So wird argumentiert, dass der Schutz vor Drogen und Alkohol auch dadurch legitimiert ist, weil die Gefahren durch diese Substanzen nicht nur den Konsumenten selbst, sondern auch sein näheres Umfeld, insbesondere Ehepartner
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stimmung Unfähigen lediglich auf den Ausgleich dieses Defizits. Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Art. 1 Abs. 1 Rn. 61 führt die Verpflichtung zum Schutz des Lebens eines zur Selbstbestimmung nicht Fähigen während des Freiheitsentzugs auf die Menschenwürdegarantie zurück. S. dazu Geppert (Fn. 39), S. 20 f.; Geißl, (Fn. 23), S. 323 ff. Müller, in: Schwind / Böhm, StVollzG, § 101 Rn. 19. Auf der anderen Seite ist die psychische Ausnahmesituation Gefangener stets zu beachten: Es lässt sich auch nicht aus der Schuldfähigkeit im Zeitpunkt der Tat, die zur Verurteilung geführt hat, automatisch auf die Fähigkeit zur freien Willenbestimmung im Strafvollzug schließen, siehe Schüler-Springorum (Fn. 70), S. 115. Pauschalierungen sind also fehl am Platz und es verbleibt die Notwendigkeit einer Beurteilung im Einzelfall. Allgemein dazu Hillgruber (Fn. 78), S. 147 f.; Schwabe, JZ 1998, S. 69 f.; zur Zwangsbehandlung siehe Heide (Fn. 1), S. 210 ff. Schwabe, JZ 1998, S. 69 f. Siehe auch BVerfGE 59, 175, 179; v. Münch, in: v. Münch / Kunig, GG, Vorb. Art 1-19, Rn. 63. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht. In: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Band V: Allgemeine Grundrechtslehren, Heidelberg 1992, § 111, Rn. 114; Hillgruber (Fn. 78), S. 142 ff.
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und Kinder treffen.90 Man könnte nun annehmen, dass allgemein die Gesundheit einer Person im Interesse ihrer Angehörigen liege und so Zwangsbehandlungen rechtfertigen. Doch ist dieses Argument gerade im Strafvollzug von geringer Überzeugungskraft, denn die Trennung von der Familie ist für die Freiheitsstrafe gerade charakteristisch. Wenn aber schon die Interessen der „nahe stehenden Personen“ keine Behandlung gegen den Willen des Kranken rechtfertigen, können es etwaige Interessen ferner stehender Personen erst recht nicht. Belange Dritter können also eine Zwangsbehandlung nicht legitimieren. Somit verbleiben noch Gemeinwohlinteressen und dabei auch mögliche finanzielle Auswirkungen von Krankheit. Das BVerfG hat sich in seiner Entscheidung zur Helmpflicht gerade auf die Folgekosten berufen, die der Allgemeinheit bei schweren Kopfverletzungen entstehen.91 Generell betrachtet ist diese Argumentation zur Begründung von Freiheitseingriffen nicht unproblematisch, denn so wird der Erhalt des zum Wohle der Bürger eingerichteten Sozialstaats zum Grund für weit reichende Freiheitsbeschränkungen, die diesen Bürgern auferlegt werden. 92 Ein anderes mögliches Gemeinwohlinteresse ist die Sicherheit der Bevölkerung. Dabei ist nicht aus dem Auge zu verlieren, dass die hier sog. „politischen Gründe“ – wie oben gezeigt – eine Zwangsbehandlung nicht legitimieren können. Gerade im Strafvollzug können aus einer Behandlungsverweigerung aber darüber hinaus Folgekosten und schwer zu entscheidende Abwägungssituationen entstehen. So berichtet Böhm, dass manche Gefangene eine medizinische Behandlung verweigern in der Hoffnung, aus einem Vollzugskrankenhaus in ein freies Krankenhaus verlegt zu werden.93 Dort sei die Bewachung aber schwierig und teuer. Die Anstaltsleitung sei vor die Wahl gestellt, der Verlegung zuzustimmen, eine Zwangsbehandlung im Vollzugskrankenhaus durchzuführen oder aber „den Gefangenen in der Anstalt unbehandelt zugrunde gehen zu lassen.“94 Diese Situation ist schwierig. Sie rechtfertigt aber nicht den Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Es ist grundsätzlich unbeachtlich, aus welchen Motiven heraus eine Behandlungsverweigerung ausgesprochen wird. Vorrangig bleibt die Wahrung der Selbstbestimmung über das Grundrecht, die durch Beratung und Aufklärung des Patienten zu gewährleisten ist. Außerhalb der Anstalt ist anerkannt, dass auch völlig sinnlose und nicht nachvollziehbare Behandlungsverweigerungen zu 90
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Siehe Schwabe, JZ 1998, S. 71. Vgl. zur Rechtfertigung der Verhinderung von Selbsttötungen aufgrund Interessen von Familienangehörigen Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung. Köln 1992, S. 121 ff. BVerfGE 59, 275, 279. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten. Berlin 1992, S. 229; siehe auch Doehring, Die Gesunderhaltung des Menschen im Spannungsverhältnis zwischen Staatsfürsorge und Individualentscheidung. In: Fürst / Herzog / Umbach (Hrsg.), Festschrift für W. Zeidler. Bd. 2. Berlin 1987, S. 1557. Böhm, JuS 1975, S. 287. Böhm, a.a.O.
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Christian Laue
respektieren sind.95 Es ist kein Grund ersichtlich, warum dies während des Strafvollzuges anders sein sollte.96 Es ist die (schwierige) Aufgabe von Ärzten und Anstaltsleitung, den Patienten aufzuklären und so zu helfen, seine Grundrechte sinnvoll zu wahren. Einer Nötigung zur Verlegung in ein freies Krankenhaus außerhalb des Vollzugs ist nicht nachzugeben; die Verlegung bestimmt sich allein nach § 65 II StVollzG. Somit bleibt es bei dem Befund, dass Zwangsbehandlungen, die nur zum Schutze von Personen vorgenommen werden, die zur freien Selbstbestimmung fähig sind, nicht legitimierbar sind. Lediglich wenn diese Fähigkeit nicht mehr gegeben ist, können zwangsweise medizinische Behandlungen vorgenommen werden.
IV. Fazit Auch das StVollzG unterscheidet in seinem § 101 zwischen Gefangenen mit der Fähigkeit zur freien Willensbestimmung und solchen ohne diese Fähigkeit. Wenn der Gefangene zur Willensbestimmung fähig ist, kann in den Fällen der Gefahr für das Leben oder schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit des Gefangenen eine zwangsweise Heilbehandlung vorgenommen werden; ist der Gefangene zur Willensbestimmung dagegen nicht mehr fähig, muss eine solche Behandlung vorgenommen werden. Bei Fähigkeit zur Willenbestimmung besteht also lediglich das Recht zur Zwangsbehandlung, bei fehlender Fähigkeit hingegen die Pflicht zur Behandlung. Die vorliegende Untersuchung hat ein anderes Ergebnis: Die Unterscheidung des StVollzG nach der Fähigkeit oder Unfähigkeit zur Willensbestimmung ist grundsätzlich richtig. Allerdings entscheidet sich darüber nicht, ob lediglich ein Recht zur Behandlung oder schon eine Verpflichtung dazu besteht, sondern diese Unterscheidung ist wichtig für die Zulässigkeit der Behandlung. Wenn der Gefangene noch zur Willensbestimmung fähig ist, ist eine Zwangsbehandlung nur zulässig zum Schutze der Gesundheit Dritter. Ist er nicht mehr zur Willensbestimmung fähig, kann eine Zwangsbehandlung im Strafvollzug auch alleine mit dem Schutz des Gefangenen legitimiert werden.97
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Siehe oben über Fn. 3. Siehe auch den Fall BVerfGE 32, 98. Siehe Geppert (Fn. 39), S. 19 ff. So auch Brühl, Alternativkommentar-StVollzG. Kommentar zum Strafvollzugsgesetz. 2. Aufl., Neuwied 1982, § 101 Rn. 6 f.; Geißl (Fn. 23), S. 350.
Statement Frank Arloth
I. Allgemeines Der Sonderfall des unmittelbaren Zwangs durch ärztliche Zwangsmaßnahmen ist in § 101 StVollzG speziell und abschließend geregelt1. Die Vorschrift steht im Kontext insbesondere zu § 56 StVollzG, der unter Abs. 1 die Verpflichtung der Anstalt zur Gesundheitsfürsorge unter ausdrücklichem Hinweis auf § 101 StVollzG und in Abs. 2 eine korrespondierende Unterstützungspflicht des Gefangenen enthält – ferner zu § 5 Abs. 3 StVollzG (Aufnahmeuntersuchung) sowie außerhalb des StVollzG insbesondere zum Infektionsschutzgesetz 2. Hier ist bedeutsam die Pflicht zur Duldung ärztlicher Untersuchung auf übertragbare Krankheiten bei der Zugangsuntersuchung nach § 36 Abs. 4 Satz 7 IfSG. Ärztliche Zwangsmaßnahmen tangieren Grundrechte (insbes. die Menschenwürde, körperliche Unversehrtheit, Entscheidungsfreiheit und religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen, Art. 1, 2, 4 GG). Jedoch schließt m. E. die Beachtung der Grundrechte des Gefangenen keineswegs ärztliche Maßnahmen zur Rettung des Lebens des Gefangenen oder zur Abwendung ihm drohender schwerer Gesundheitsgefahren auch gegen den wirksam geäußerten Willen des Gefangenen aus 3: Denn der Strafvollzug mit seinem Resozialisierungsgrundsatz und den ihm entsprechenden Duldungspflichten des Gefangenen beruht ebenfalls auf verfassungsrechtlichen Aufträgen. Somit werden das Recht und die Pflicht zur Zwangsbehandlung legitimiert durch die Fürsorgepflicht der Anstalt (§ 56 StVollzG), die Sicherungsaufgabe der Suizidverhinderung (§ 88 Abs. 1 StVollzG), weitergehend nach zutreffender Ansicht in der Literatur – entgegen der Meinung von Laue4 – aber auch durch den Auftrag zum Schutz staatlicher Autorität und des Strafvollzuges vor Diskreditierung und Erpressung sowie durch die allgemeine (strafrechtli-
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Arloth/Lückemann, StVollzG, 1. Aufl. 2004, § 101 Rdn. 1 m.w.N. IfSG, v. 20. 7. 2000, BGBl I 1045, zuletzt geändert durch Art. 11 § 3 G v. 6. 8. 2002, BGBl I 3082. Arloth/Lückemann, o. Fußn. 1, § 101 Rdn. 1; a. A. Brühl, in: AK-StVollzG, 4. Aufl. 2000, § 101 Rdn. 2, 10. Siehe Laue in diesem Band.
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che und ethische) Pflicht zur Hilfeleistung und das ärztliche Gebot der Lebenserhaltung5. Im Gegensatz zum Umfang der zur Vorschrift veröffentlichten älteren Literatur 6 ist heute die Zwangsbehandlung und Zwangsernährung nach § 101 StVollzG nahezu ohne praktische Bedeutung7: Zum einen wird wohl in allen Fällen einer behandlungsbedürftigen Erkrankung bei Lebensgefahr oder schwerwiegender Gesundheitsgefahr die Verlegung in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzuges nach § 65 Abs. 2 StVollzG erfolgen. Zwar bleiben auch bei einer Verlegung in ein Krankenhaus der Gefangenenstatus und damit die Verantwortung der Vollzugsbehörde bestehen, also auch grundsätzlich die Anwendbarkeit des § 101 StVollzG 8; jedoch wird in aller Regel kein Anlass bestehen, die nach den Regeln ärztlicher Kunst und Ethik getroffene Behandlungsentscheidung der Krankenhausärzte durch eine vollzugsrechtliche Entscheidung zu korrigieren9, zumal die für ärztliches Handeln ergangene Rechtsprechung der Regelung des § 101 Abs. 1 Satz 2 StVollzG entspricht10. Zum anderen kann beim in der Praxis immer wieder auftretenden individuellen Hungerstreik in der Regel durch ärztliche, ggf. internistische sowie psychologische oder psychiatrische Hilfe und Betreuung der Gefangene vor Eintritt der Notwendigkeit einer Zwangsernährung zum Abbruch seines Vorhabens bewegt werden; jedenfalls ist als gegenüber der Zwangsernährung mildere Maßnahme der Wasserentzug bei gleichzeitigem Angebot eines nährstoffhaltigen Getränks zulässig11. Kritik an der Vorschrift wird neben dem Umstand der Entbehrlichkeit vor allem daran geübt, dass der Standort im StVollzG verfehlt sei (weil Adressat der Arzt sei und daher die Vorschrift zur Gesundheitsfürsorge gehöre), der Aufbau sich unübersichtlich darstelle (weil die Unterscheidung zwischen Befugnis und Pflicht
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Kaiser/Schöch, Strafvollzug, 5. Aufl. 2002, § 8 Rdn. 17; Laubenthal, Strafvollzug, 3. Aufl. 2003, Rdn. 724. Nachweise bei Müller, in: Schwind/Böhm, StVollzG, 3. Aufl. 1999, § 101 Schrifttumsübersicht; s. auch Brühl, o. Fußn. 3, § 101 Rdn. 1. Arloth/Lückemann, o. Fußn. 1, § 101 Rdn. 3; Müller, o. Fußn. 5, § 101 Rdn. 2, 8, 28. Müller, o. Fußn. 5, § 101 Rdn. 22. Müller, o. Fußn. 5, § 101 Rdn. 8. Vgl. ausführlich m. zahlr. Nachw. Schönke/Schröder-Eser, StGB, 26. Aufl. 2001, Vorbem. zu §§ 211 ff. Rdn. 33 ff., insbes. Rdn. 42, 46, § 223 Rdn. 27 ff., insbes. Rdn. 31, 38. Arloth/Lückemann, o. Fußn. 1, § Rdn. 3; Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, 9. Aufl. 2002, § 101 Rdn. 7; LG Nürnberg-Fürth, ZfStrVo SH 1978, 36; a. A. Brühl, o. Fußn. 3, § 101 Rdn. 20 f: Hungerstreik soll durch Art. 5 GG und bei gemeinschaftlicher Ausübung durch Art. 8 GG grundrechtlich geschützt sein, die Vollzugsbehörde soll zunächst Nachgiebigkeit gegenüber den Forderungen des Gefangenen prüfen.
Statement
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unklar sei), die Zumutbarkeit ein praxisuntaugliches Kriterium sei sowie eine klare Kompetenzregelung letztlich fehle12.
II. Zu Einzelfragen 1. § 101 Abs. 1 Satz 1 StVollzG regelt in Verbindung mit Abs. 2, 3 und §§ 94 ff. StVollzG die Befugnis zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen. Der Begriff der medizinischen Untersuchung umfasst alle in der medizinischen Praxis üblichen diagnostischen Maßnahmen einschließlich des Einsatzes diagnostischer Hilfsmittel 13 und erforderlicher körperlicher Eingriffe, also auch Untersuchungen von Blut- und Gewebeproben und Rektoskopie aus medizinischen Gründen14, Röntgen-15, Ultraschall- und Kernspintomographieuntersuchungen, EKG, EEG, Urin- und Stuhluntersuchungen16. Der Begriff der Behandlung umfasst alle sich nach den Regeln der ärztlichen Kunst richtenden Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des Lebens und zur Wiederherstellung der Gesundheit des Gefangenen (z. B. die Zwangsmedikation17); die (Zwangs-) Ernährung als Unterfall der (Zwangs-) Behandlung ist vom Gesetzgeber bewusst gleichwertig in eine Reihe mit den übrigen medizinischen Maßnahmen gestellt und wohl auch wegen der zur Zeit der Gesetzgebung besonderen praktischen Bedeutung der (kollektiven) Hungerstreiks eigens genannt 18. Die Zwangsbehandlung nach § 101 StVollzG ist ein Unterfall des unmittelbaren Zwangs nach § 94 StVollzG; es gelten also auch die Begriffsbestimmungen des § 95 StVollzG. Zwangsweise im Sinne des § 101 StVollzG erfolgt also eine Maßnahme, die mit den Mitteln des § 95 StVollzG gegen den ausdrücklich erklärten oder konkludent durch Gegenwehr geäußerten Willen des Gefangenen durchgeführt wird 19. Daraus folgt wohl abweichend von den Motiven des Gesetzgebers 20, dass die Behandlung eines bewusstlosen Gefangenen nicht unter § 101 StVollzG fällt, sondern nur unter die allgemeine Regelung des § 56 StVollzG, weil Zwang nicht erforderlich 12 13 14 15 16
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Müller, o. Fußn. 5, § 101 Rdn. 3-8. Calliess/Müller-Dietz, o. Fußn. 10, § 101 Rdn. 6; Müller, o. Fußn. 5, § 101 Rdn. 25. OLG Stuttgart, NStZ 1992, 378 B = ZfStrVo 1991, 308. OLG Celle, ZfStrVo 1979, 187; OLG Düsseldorf, NStZ 1984, 381. Zur Anordnung von Urinproben zur Bekämpfung des Rauschgiftmissbrauchs auf der Grundlage des § 56 II s. Arloth/Lückemann, o. Fußn. 1, § 56 Rdn. 9 m. w. N.; zweifelnd Brühl, o. Fußn. 3, § 101 Rdn. 29. OLG Hamm, RuP 2002, 188. SA, BT-Ds 7/3998, 37; Müller, o. Fußn. 5, § 101 Rdn. 26 f. Calliess/Müller-Dietz, o. Fußn. 10, § 101, Rdn. 3. SA, BT-Ds 7/3998, 38.
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Frank Arloth
ist21. Psychischer Druck, etwa mittelbarer Zwang durch Drohung mit Disziplinarmaßnahmen, ist angesichts der Stellung der Vorschrift im Gesetz keine Zwangsmaßnahme i. S. d. § 101 StVollzG; also ist eine durch Drohung mit Disziplinarmaßnahmen durchgesetzte Abgabe einer Urinprobe zur Feststellung von Rauschgiftmissbrauch keine zwangsweise Untersuchung nach § 101 Abs. 2 StVollzG, sondern eine Maßnahme zum Gesundheitsschutz nach § 56 Abs. 2 StVollzG22. Um Zwangsmaßnahmen als ultima ratio möglichst vermeiden und jedenfalls ihre Berechtigung nachweisen zu können, sieht VV Abs. 1 und 2 zu § 101 StVollzG detaillierte Belehrungs- und Dokumentationspflichten vor. Voraussetzung für mit körperlichem Eingriff verbundene Maßnahmen (Umkehrschluss aus § 101 Abs. 2 StVollzG) ist Lebensgefahr oder schwerwiegende Gefahr für die Gesundheit des Gefangenen oder jede Gefahr für die Gesundheit anderer Personen. Lebensgefahr besteht bei konkret unmittelbar drohendem Tod auf Grund des körperlichen oder seelischen Zustandes des Gefangenen; eine schwerwiegende Gefahr für die Gesundheit des Gefangenen liegt vor, wenn wichtige Funktionen des Körpers ganz oder teilweise von einer dauerhaften oder zumindest lang andauernden Schädigung bedroht sind23. Eine Gefahr für die Gesundheit anderer Personen liegt z. B. bei Ansteckungsgefahr oder bei Ungezieferbefall vor, wobei jedoch Bagatellgefahren nicht gemeint sind24. Da von der Feststellung ansteckender Krankheiten vollzugliche Maßnahmen zugunsten der Mitgefangenen und der Bediensteten abhängen, ist für die Untersuchungsbefugnis des § 101 Abs. 1 Satz 1 StVollzG eine abstrakte Gefahr ausreichend. Dies gilt insbesondere für die Blutprobe bei der Zugangsuntersuchung zur Feststellung ansteckender Erkrankungen wie HIV und Hepatitis25. Die Abstufung mit der niedrigeren Eingriffsschwelle bei Gefahren für andere Personen beruht darauf, dass hier das Selbstbestimmungsrecht des Gefangenen als Abwägungsfaktor gegenüber dem gefährdeten Rechtsgut nicht dieselbe Rolle wie bei der Selbstgefährdung spielt26. Die Streitfrage hat mit Inkraftreten des § 36 IV 7, V IfSG an Bedeutung 21
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Arloth/Lückemann, o. Fußn. 1, § 101 Rdn. 4; Calliess/Müller-Dietz, o. Fußn. 10, § 101 Rdn. 3; Müller, o. Fußn. 5, § 101 Rdn. 18; a. A. – ohne hier auf die Frage der Zwangsanwendung einzugehen – Brühl, o. Fußn. 3, § 101 Rdn. 13. S. dazu Arloth/Lückemann, o. Fußn. 1, § 101 Rdn. 1 und § 56 Rdn. 9; Calliess/Müller-Dietz, o. Fußn. 10, § 101 Rdn. 4; Müller, o. Fußn. 5, § 101 Rdn. 11; unklar Brühl, o. Fußn. 3, § 101 Rdn. 29; im Ansatz wie hier Rdn. 4; unsicher auch OLG Koblenz, NStZ 1989, 550 = ZfStrVo 1990, 51, das einerseits von mittelbarem Zwang spricht, andererseits die Anordnung der Urinprobenabgabe alternativ zu § 101 auch auf § 56 Abs. 2 stützt. Vgl. Calliess/Müller-Dietz, o. Fußn. 10, § 101 Rdn. 7. Calliess/Müller-Dietz, a. a. O. S. dazu Arloth/Lückemann, § 5 Rdn. 4, § 56 Rdn. 3 f.; die bezüglich HIV a. A. Brühl, o. Fußn. 3, § 101 Rdn. 25 ff. berücksichtigt noch nicht die seit 1. 1. 2001 geltende Neuregelung in § 36 IV 7, V IfSG; aus demselben Grund überholt ist OLG Koblenz, NStZ 1990, 426 B = ZfStrVo 1989, 182. Müller, o. Fußn. 5, § 101 Rdn. 10; Brühl, o. Fußn. 3, § 101 Rdn. 11.
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verloren, da nach dieser Vorschrift der Gefangene eine ärztliche Untersuchung auf übertragbare Krankheiten bei der Zugangsuntersuchung zu dulden hat. Wortlaut und Zweck der Vorschrift sind insoweit eindeutig; auch die Systematik des Gesetzes, das nach § 36 V IfSG ausdrücklich das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit einschränkt, spricht für diese Auslegung. § 101 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 StVollzG normiert als weitere Zulässigkeitsvoraussetzung zunächst die Zumutbarkeit für alle Beteiligten. Das sind neben dem Gefangenen die behandelnden Ärzte und das medizinische Hilfspersonal, aber auch die Beamten des allgemeinen Vollzugsdienstes; für Beamte gilt neben § 97 StVollzG das Dienstrecht, für Ärzte sind hier auch standesrechtliche Überlegungen beachtlich, und auch Gewissens- und Glaubensgründe können bestimmte Behandlungen unzumutbar machen27. Weiter verbietet Halbsatz 2 als besondere Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zwangsweise Risikoeingriffe, die eine entsprechend schwere Lebens- oder Gesundheitsgefahr mit sich bringen wie diejenige, die sie beheben sollen28, also z. B. Liquorentnahmen aus dem Rückenmark oder besonders riskante Operationen. Nach dem Gesetzeswortlaut des § 101 Abs. 1 Satz 2 StVollzG tritt aber die Hilfeleistungspflicht erst ein, wenn eine freie Willenbestimmung des Gefangenen nicht mehr vorliegt . Damit regelt die Vorschrift im Unterschied zur Befugnisnorm des Satzes 1 die Eingriffsverpflichtung der Vollzugsbehörde zu den Maßnahmen nach Satz 1. Die Vorschrift wurde geändert durch Art. 1 StVollzGÄndG v. 27. 2. 198529: Der ursprüngliche Halbsatz 2 des Abs. 1 Satz 2 „es sei denn, es besteht akute Lebensgefahr“ wurde gestrichen; die Verpflichtung der Vollzugsbehörden zu Zwangsmaßnahmen wurde also entscheidend eingeschränkt. Hintergrund der damaligen Änderung waren ernst zu nehmende Hungerstreikaktionen der RAF-Gefangenen, bei denen die Gefangenen gegen ihren noch ausdrücklich erklärten Willen und gegen ihren Widerstand zwangsernährt wurden. Nach massiver Kritik auch aus der Ärzteschaft30 hat der Gesetzgeber insoweit die Hürde für die Pflicht zur Hilfeleistung noch weiter herabgesetzt. Nach der Gesetzesänderung von 1985 spielt die Bestimmung praktisch keine Rolle mehr. Voraussetzung ist, dass die Behandlungsverweigerung des Gefangenen nicht als Ergebnis einer freien Willensbestimmung angesehen werden kann31. Da die Behandlung eines bewusstlosen Gefangenen nach h. M. nicht unter § 101 StVollzG fällt, bleiben als Fälle der Eingriffsverpflichtung gravierende psychische Krankheiten 32 und z. B. beim
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SA, BT-Ds 7/3998, 37; Calliess/Müller-Dietz, o. Fußn. 10, § 101 Rdn. 10; Müller, o. Fußn. 5, § 101 Rdn. 12 f. SA, BT-Ds 7/3998, 37. BGBl I 461. Vgl. Müller, o. Fußn. 5, § 101 Rdn. 1. SA, BT-Ds 7/3998, 38. Müller, o. Fußn. 5, § 101 Rdn. 17.
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Hungerstreik das Zwischenstadium kurz vor Eintritt der Bewusstlosigkeit 33; der Gesetzgeber erwähnt darüber hinaus „Fälle eines so genannten Gruppenzwangs oder gar Gruppenterrors innerhalb der Anstalten“34. Von der Vorschrift wird daher fast ausschließlich heute im Bereich der psychischen Erkrankungen Gebrauch gemacht in Anstalten, die über eine psychiatrische Abteilung verfügen.
2. § 101 Abs. 2 StVollzG ist neben Abs. 1 eine eigenständige Befugnisnorm für zwangsweise medizinische Untersuchungen ohne körperlichen Eingriff, also z. B. Röntgen-35, Ultraschall- und Kernspintomographieuntersuchungen, EKG, EEG, Wiegen (wichtig bei Hungerstreik). Eingriffsvoraussetzung nach Absatz 2 ist (nur) die Zweckdienlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Maßnahme für den Gesundheitsschutz (des Gefangenen, der Mitgefangenen und Dritter) und die (allgemeine) Hygiene36. Die Vorschrift ermöglicht damit die zwangsweise Durchsetzung der Aufnahmeuntersuchung nach § 5 Abs. 3 StVollzG und der Maßnahmen nach § 56 Abs. 2 StVollzG.
3. § 101 Abs. 3 StVollzG enthält – außer für Notfälle der ersten Hilfe bei Lebensgefahr – einen Leitungs- und Anordnungsvorbehalt: Alle Zwangsmaßnahmen nach den Absätzen 1 und 2 dürfen nur durch einen Arzt, also nicht notwendig durch den Anstaltsarzt, angeordnet und geleitet werden. Der Gesetzgeber wollte ausdrücklich klarstellen, dass medizinische Untersuchung und Behandlung sowie Ernährung als ärztliche Maßnahmen zwangsweise nur auf Anordnung und unter Leitung eines Arztes durchgeführt werden dürfen37. Umstritten ist das Verhältnis dieser Regelung zur allgemeinen Verantwortung und Leitungsbefugnis des Anstaltsleiters nach § 156 II 2 StVollzG und zu den Regeln zum Handeln auf Anordnung nach § 97 StVollzG38. Der Stellung des § 101 StVollzG als Regelung des unmittelbaren Zwangs der Vollzugsbehörde, dem § 101 Abs. 3 StVollzG und dem § 156 II StVollzG gleichermaßen wird nur eine Lösung gerecht: Medizinische Zwangsmaßnahmen nach § 101 StVollzG dürfen nur in Übereinstimmung von Anstaltslei-
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Calliess/Müller-Dietz, o. Fußn. 10, § 101 Rdn. 3. SA, BT-Ds 7/3998, 38. OLG Celle, ZfStrVo 1979, 187; OLG Düsseldorf, NStZ 1984, 381; a. A. Brühl, o. Fußn. 3, § 101 Rdn. 16. Müller, o. Fußn. 5, § 101 Rdn. 31. RegE, BT-Ds 7/918, 81. Dazu Calliess/Müller-Dietz, o. Fußn. 10, § 101 Rdn. 11; Müller, o. Fußn. 5, § 101 Rdn. 32 f.; Brühl, o. Fußn. 3, § 101 Rdn. 17.
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tung und Arzt erfolgen39. Das heißt: Die Anstaltsleitung kann nach § 156 II StVollzG dem Anstaltsarzt Zwangsmaßnahmen nach § 101 StVollzG verbieten und trägt dann hierfür die Verantwortung. Umgekehrt ist Absatz 3 insofern eine Spezialvorschrift zu § 97 StVollzG, als der Anstaltsarzt nicht verpflichtet ist, Entscheidungen des Anstaltsleiters zur Anwendung ärztlicher Zwangsmaßnahmen ohne weiteres umzusetzen. Er darf auf Grund ärztlicher Erwägungen, die den Regeln der ärztlichen Kunst und Ethik sowie den Bestimmungen des StGB entsprechen, die Anordnung und Leitung der Zwangsmaßnahmen verweigern; andererseits steht es in diesen Fällen dem Anstaltsleiter frei, einen anderen mitwirkungsbereiten Arzt zu beauftragen.
III. Fazit Die Bestimmung hat in der heutigen Zeit ihre praktische Bedeutung weitestgehend verloren; sie bleibt für die Praxis notwendig und dort anwendbar für Fälle, in denen ein Gefangener einer akut psychiatrischen Behandlung in einer JVA unterzogen werden muss. Und sie eröffnet der Anstalt die Möglichkeit, dem Gefangenen unmittelbaren Zwang anzudrohen. Eine daraufhin erklärte Einwilligung bleibt aber dennoch freiwillig.
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Arloth/Lückemann, o. Fußn. 1, Rdn. 7.
Strafrechtliche Risiken des Anstaltsarztes Ralph Ingelfinger
I. Einführung Ärztliches Handeln stellt eine gefahrgeneigte Tätigkeit dar. Einerseits bergen ärztliche Eingriffe bisweilen fraglos Risiken für die Patienten. Andererseits ist aber auch in den letzten Jahrzehnten für den Arzt selbst seine Berufsausübung gefährlich geworden. Der renommierte Arztstrafrechtler Klaus Ulsenheimer spricht in diesem Zusammenhang von einer „paradoxen Situation“, die er folgendermaßen beschreibt: „Der Minimierung des medizinischen Risikos für den Patienten steht eine Maximierung des juristisch-forensischen Risikos für den Arzt gegenüber.“1 Da der praktizierende Mediziner es bei seiner Tätigkeit mit den wertvollsten Gütern des Individuums, dem Leben und der Gesundheit, zu tun hat, die beide durch das Recht umfassend abgesichert sind, setzt er sich im Falle fehlerhaften Verhaltens zivil- und strafrechtlichen Haftungsrisiken aus. Freilich spielt das Strafrecht in der Rechtswirklichkeit im Vergleich zum zivilen Arzthaftungsrecht eine nur untergeordnete Rolle.2 Das jeder ärztlichen Tätigkeit immanente strafrechtliche Risiko trifft im Grundsatz auch den Anstaltsarzt. Jedoch hat der Arzt im Strafvollzug unter besonderen Bedingungen seine medizinischen Aufgaben zu erfüllen. Diese besonderen Bedingungen können auch besondere strafrechtliche Risiken nach sich ziehen. Mit einigen von ihnen befasst sich dieser Beitrag. Dabei wird der Blick auf die praktisch relevanten Strafbarkeitsgefahren fokussiert, die aus fahrlässigem Fehlverhalten resultieren.
II. Strafrechtliche Risiken im Überblick Versucht man die besondere Situation des Anstaltsarztes unter systematischen Gesichtspunkten zu erfassen, so kann man drei Quellen nennen, aus denen signifikante Unterschiede gegenüber der Lage seiner extramuralen Kollegen resultieren: erstens die äußeren Bedingungen der vollzugsärztlichen Tätigkeit, vor allem die sachliche und personelle Ausstattung, zweitens die besondere Situation der Patienten und drittens die besondere funktionale Stellung des Anstaltsarztes als Helfer 1 2
Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 3. Aufl. 2003, Rn 1. Siehe Lilie, ZRP 2002, 154 ff.
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Ralph Ingelfinger
des gefangenen Patienten einerseits und Organ der Vollzugsbehörde andererseits. Alle drei Bereiche können strafrechtliche Risiken bergen. Die äußeren Bedingungen der vollzugsärztlichen Tätigkeiten zeichnen sich häufig durch eine nur eingeschränkte personelle und apparative Ausstattung aus. Das birgt möglicherweise die Gefahr von Behandlungsfehlern mit strafrechtlicher Relevanz. Auch aus der besonderen Situation der Patienten können sich Strafbarkeitsgefahren ergeben. Inhaftierte gehören für den Arzt in unterschiedlicher Hinsicht zu einer schwierigen Klientel. Unter ihnen befinden sich in weit höherem Maße als in der übrigen Bevölkerung Patienten mit ansteckenden Krankheiten wie Aids, verschiedenen Formen von Hepatitis3 oder Tuberkulose4. Auch ist aufgrund der besonderen Vollzugssituation das Suizidrisiko bei Gefangenen signifikant höher als bei in Freiheit lebenden Personen.5 Dem Anstaltsarzt obliegt hier die Durchführung von Schutzmaßnahmen zur Infektionsprophylaxe6 und Suizidverhütung. Vermeidbare Fehler hierbei können zu einer strafrechtlichen Haftung wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt oder fahrlässiger Tötung führen. Letzteres kommt bei erkannter oder erkennbarer Selbsttötungsneigung des Patienten in den häufigen Fällen fehlender Freiverantwortlichkeit in Betracht. 7 Darüber hinaus sind viele Gefangene drogenabhängig.8 Die Behandlung dieser Abhängigkeit, etwa durch eine Suchtmittelsubstitution bei Heroinkranken, birgt ebenfalls gewisse strafrechtliche Risiken, so z. B. wenn der Arzt die Vorgaben der Betäubungsmittelvorschriften nicht einhält oder die Therapie unsachgemäß durchführt.9 Bei der Behandlung von Drogenabhängigen bestehen nach der Rechtsprechung erhöhte Sorgfaltspflichten.10 Auch Alkoholkranke sind schwierige Patienten, deren angemessene Behandlung im Gefängnis nach Auskunft von Vollzugsmedizinern11 an Grenzen stößt. Im Fall von folgenreichen Komplikationen, die durch Einsatz moderner, im Vollzug nicht verfügbarer Technik vermieden worden wären, setzt sich der Anstaltsarzt dann dem Risiko eines strafrechtlichen Vorwurfs aus. 3 4 5 6
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Siehe Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, 4. Aufl. 2004, vor § 56 Rn 51. Siehe hierzu Rex, ZaeFQ 2000, 258, 262 f. Siehe z. B. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, 10. Aufl. 2005, § 56 Rn 6. Siehe dazu Kirsten Neumann, Strafrechtliche Risiken des Anstaltsarztes: eine praxisorientierte Untersuchung strafrechtlich relevanter Bereiche der ärztlichen Betätigung im Strafvollzug, 2004, 58 ff. Siehe dazu näher Neumann (Fn 6), 182 ff. Siehe dazu z. B. Laubenthal, Strafvollzug, 3. Aufl. 2003, Rn 579. Siehe dazu Fiala, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Medizinstrafrecht, 2. Aufl., 2001, 121 ff.; Neumann (Fn 6), 231 ff. OLG Frankfurt NJW 1991, 763; ebenso Ulsenheimer, in: Laufs/Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl. 2002, § 147 Rn 23. Siehe dazu Nieszery, ZaeFQ 2000, 302 ff.
Strafrechtliche Risiken des Anstaltsarztes
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Im Weiteren birgt auch die funktionale Stellung des Anstaltsarztes möglicherweise besondere Strafbarkeitsrisiken. Der Vollzugsmediziner ist nämlich nicht nur mit der Heilbehandlung der gefangenen Patienten befasst, sondern nimmt auch eine Vielzahl spezifischer Aufgaben für die Vollzugsbehörde wahr. So gehören z. B. die Überwachung eines Arrestes nach § 107 StVollzG oder die Einleitung einer Zwangsbehandlung gemäß § 101 StVollzG in seinen Zuständigkeitsbereich. Daneben hat er nach § 92 StVollzG Gefangene aufzusuchen, die in einem besonders gesicherten Haftraum untergebracht sind. Unzureichende Überwachungen ziehen im Fall des Eintritts eines schädlichen Erfolgs – gesundheitliche Verschlechterung oder Tod des Inhaftierten – eine strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen Körperverletzung im Amt oder fahrlässiger Tötung nach sich. Wirkt der Anstaltsarzt bei Entscheidungen über Vollzugslockerungen – z. B. im Rahmen von sog. Lockerungskonferenzen – in maßgeblicher Weise mit, was nach Auskunft von Anstaltsärzten allerdings in der Praxis in der Regel nicht der Fall ist, besteht auch hier ein gewisses Strafbarkeitsrisiko, wenn es zu einem Fehlschlag kommt und der freigelassene Gefangene z. B. eine Körperverletzung oder Tötung begeht. Eine Haftung kommt hier vor allem dann in Betracht, wenn – wie der Bundesgerichtshof in einem Fall aus dem Maßregelvollzug entschieden hat – „auf relevant unvollständiger Tatsachengrundlage oder unter unrichtiger Bewertung der festgestellten Tatsachengrundlage die Missbrauchsgefahr verneint worden“ ist. 12 Ein weiterer besonders problemträchtiger Bereich, der mit der doppelfunktionalen Stellung des Anstaltsarztes aufs Engste verknüpft ist, bildet die ärztliche Schweigepflicht. Auch hier bestehen Strafbarkeitsrisiken, die den schmalen Grat sichtbar machen, auf dem sich der Gefängnismediziner bei seiner Tätigkeit bisweilen bewegt. Auf der einen Seite ist er wie jeder Arzt zum Schweigen über medizinische Daten seiner Patienten verpflichtet. Auf der anderen Seite kann sich aber aus seinen Aufgaben gegenüber der Vollzugsbehörde und den anderen Gefangenen mitunter sogar das Gebot ergeben, die Anstaltsleitung zu unterrichten, z. B. über mögliche Ansteckungsgefahren, die gerade wegen der überproportionalen Zugehörigkeit der Gefangenen zu derartigen Problemgruppen auftreten können. Hier sieht sich der Anstaltsarzt dem Risiko ausgesetzt, sich im Fall der Informationsweitergabe wegen Verletzung von Privatgeheimnissen nach § 203 StGB, im Fall von deren Unterlassung und einer dadurch verursachten Ansteckung eines anderen Gefangenen hingegen wegen Körperverletzung im Amt strafbar zu machen. Im Rahmen dieses Beitrags können nicht alle der skizzierten Strafbarkeitsgefahren näher dargestellt werden.13 Im Folgenden soll das Strafbarkeitsrisiko im Kontext 12
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BGH JZ 2004, 975, 976 m. Anm. Saliger; vgl. zu den Strafbarkeitsrisiken des Anstaltspersonals bei Vollzugslockerungen Kaiser/Schöch, Strafvollzug, 5. Aufl. 2002, § 7 Rn 60 ff. Zum Ganzen ausführlich Neumann (Fn 6).
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der medizinischen Behandlung ins Zentrum der Betrachtung gestellt werden. Hierzu gehören zuvörderst die Behandlungsfehlerrisiken und daneben auch die Gefahr von Aufklärungsmängeln. Diese Fokussierung erscheint berechtigt, weil Äußerungen im Schrifttum ebenso wie persönliche Gespräche den Eindruck vermittelt haben, dass dieser Bereich die Anstaltsärzte in besonderem Maße bewegt.
III. Behandlungsfehlerrisiko und Strafvollzug 1.
Ausgangssituation
Die Rahmenbedingungen der ärztlichen Tätigkeit im Strafvollzug sind regelmäßig durch einen problematischen Patientenkreis und durch eine eingeschränkte personelle und apparative Ausstattung gekennzeichnet. Der Gang zum Anstaltsarzt ist nicht immer aus rein gesundheitlichen Gründen motiviert. Der Gefangene kann etwa eine Befreiung von der Arbeitspflicht erstreben oder eine andere Ernährung wünschen. Die Symptome sind dann möglicherweise nur vorgeschoben und der Anstaltsarzt, der bei seiner Untersuchung nichts feststellen kann, muss entscheiden, ob er noch andere Diagnosemethoden anwenden oder extramural veranlassen will, um sicherzugehen. Häufig fehlt es im Vollzug an medizinischen Geräten, die dem letzten Stand der Technik entsprechen. Dieser Zustand wird von Anstaltsärzten zum Teil in drastischer Weise beschrieben. So ist von einer „Sperrmüllpraxis“ 14 ebenso die Rede wie von Arbeitsbedingungen, „als wären die letzten hundert Jahre der medizinischen Kunst vorbeigegangen“.15 Auch wenn solche Äußerungen übertrieben sind, wird man ein gegenüber dem extramuralen Arzt vorhandenes Ausstattungsdefizit des Gefängnismediziners kaum leugnen können. Angesichts leerer Haushaltskassen ist auch nicht zu erwarten, dass dieser Zustand sich in naher Zukunft spürbar verbessern wird. Eine mögliche Abhilfe durch Ausweichen auf externe Ärzte oder Kliniken ist mit zeitlichem und personellem Aufwand für Bewachungs- und Fahrdienste verbunden. Von Gefängnisärzten erfährt man, dass von der Anstaltsleitung deshalb nicht selten ein unausgesprochener Druck ausgehe, die Inanspruchnahme extramuraler medizinischer Dienste möglichst gering zu halten.16 Hier stellt sich die Frage, welchen strafrechtlichen Risiken der Anstaltsarzt ausgesetzt ist, wenn er aufgrund einer unzureichenden technischen Ausstattung Diagnose- oder Behand-
14
15 16
Zettel, in: Schwind/Blau (Hrsg.), Strafvollzug in der Praxis: eine Einführung in die Probleme und Realitäten des Strafvollzuges und der Entlassenenhilfe, 2. Aufl. 1988, 194. Nieszery, ZaeFQ 2000, 302, 303. Rex, ZaeFQ 2000, 258, 260.
Strafrechtliche Risiken des Anstaltsarztes
251
lungsfehler begeht, die zu Gesundheitsbeeinträchtigungen oder sogar zum Tode von Patienten führen. Vollzugsmediziner empfinden das eigene Behandlungsfehlerrisiko offenbar als groß. Die Anstaltsärztin Barbara Nieszery sagte im Jahre 1999 auf einem Symposion zu medizinischen Problemen im Strafvollzug: „Kunstfehler sind in der ärztlichen Praxis möglich, aber bei sorgfältiger Arbeit überaus vermeidbar. In der Vollzugsmedizin sind sie eigentlich vorprogrammiert“.17 Nahe liegender Grund für die verbreitete Angst der Anstaltsärzte vor Haftungsrisiken ist aber nicht nur die schwierige Situation im Vollzug, sondern wohl auch der Umstand, dass der Anstaltsarzt von Juristen umgeben ist und aus diesem Grund den Eindruck bekommt, dass seine Tätigkeit besonders kritisch betrachtet wird.18 Ein persönliches Gespräch mit Anstaltsärzten hat dies bestätigt. Die Befürchtung, wegen unzureichender Behandlung belangt zu werden, habe – so die Auskunft der Ärzte – schon verbreitet in die defensive Medizin geführt, so dass mehr gemacht werde, als medizinisch notwendig sei. Im Folgenden soll skizziert werden, welche Anforderungen das Recht an das Handeln des Anstaltsarztes stellt und welche strafrechtlichen Konsequenzen ein Fehlverhalten haben kann. Hierbei ist zunächst ein Blick auf die strafrechtlichen Haftungsgrundlagen zu richten.
2.
Die strafrechtlichen Haftungsgrundlagen bei fehlerhafter vollzugsärztlicher Behandlung
Für den Anstaltsarzt gelten im Grundsatz die allgemeinen strafrechtlichen Regelungen, allerdings mit einer Besonderheit: Da er als Beamter, Angestellter oder als bestellter Vertragsarzt im Rahmen öffentlicher Aufgaben tätig wird, ist er Amtsträger nach § 11 I Nr. 2 des Strafgesetzbuchs 19, so dass er sich wegen Amtsdelikten strafbar machen kann. Dazu zählt im hier interessierenden Kontext die Körperverletzung im Amt nach § 340 StGB. Da der Anstaltsarzt bei Untersuchungen und Behandlungen von Inhaftierten die Vollzugsaufgabe der Gesundheitsfürsorge nach §§ 56 ff. StVollzG erfüllt, weisen hierbei vorkommende Behandlungsfehler
17 18
19
Nieszery, ZaeFQ 2000, 302, 304. Siehe z. B. Riekenbrauck, ZaeFQ 2000, 277: „Ich bin ... von Juristen umgeben. Das macht gemeinhin Ärzten Angst.“ Eser, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 26. Aufl. 2001, § 11 Rn 31; Gribbohm, in: LK, Strafgesetzbuch, 11. Aufl. 1992 ff., § 11 Rn 62 mit Fn 122; Lenckner, ZStW 106 (1994), 502, 523; Neumann (Fn 6), 40 f.; überholt ist die Entscheidung RGSt 33, 29.
252
Ralph Ingelfinger
einen sachlichen Zusammenhang mit seiner Dienstverrichtung auf20 und sind „während der Ausübung seines Dienstes“ begangen.21 § 340 StGB droht in seiner vorsätzlichen Variante für den Normalfall eine gegenüber den allgemeinen Regeln erhöhte Mindeststrafe von drei Monaten sowie eine Höchststrafe von fünf Jahren Haft an. Geldstrafe ist nicht vorgesehen. Für den praktisch wichtigsten Bereich der fahrlässigen Körperverletzung im Amt nach §§ 340 I, III i. V. m. § 229 StGB gilt allerdings der gleiche Strafrahmen wie nach allgemeinem Strafrecht,22 der Geldstrafe und Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren vorsieht. Jedoch kann die Amtsträgereigenschaft bei der Strafzumessung erschwerend berücksichtigt werden.23 Auch ist für die Strafverfolgung in Abweichung zum allgemeinen Recht kein Strafantrag erforderlich. 24 Führt eine fehlerhafte Behandlung zum Tode des Patienten, muss sich der Anstaltsarzt nach der allgemeinen Bestimmung des § 222 StGB wegen fahrlässiger Tötung verantworten und sieht sich einer Strafandrohung von Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe ausgesetzt. Voraussetzung für eine strafrechtliche Haftung wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt oder fahrlässiger Tötung ist neben der Verursachung eines entsprechenden tatbestandlichen Erfolges vor allem das Begehen einer objektiven Sorgfaltspflichtverletzung. Sie kann durch aktives Tun oder durch pflichtwidriges Unterlassen des regelmäßig als Garanten für Leib und Leben der Gefangenen verantwortlichen Anstaltsarztes begangen werden. Deshalb droht auch bei unterbliebener, unzureichender oder verspäteter Einleitung von Untersuchungs- oder Behandlungsmaßnahmen eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung oder Tötung.
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24
Siehe zu dieser, von der h. M. verlangten Voraussetzung Cramer, in: Schönke/Schröder (Fn 19), § 340 Rn 3; Hirsch, in: LK (Fn 19), § 340 Rn 5; Horn/Wolters, in: SK, Strafgesetzbuch, Stand März 2002, § 340 Rn 15; Kuhlen, in: NK, Strafgesetzbuch, Stand 2001, § 340 Rn 8. Die Stellung des Anstaltsarztes ist nicht vergleichbar mit der eines beamteten Krankenhausarztes, bei dessen Heilbehandlung die h. M. die Anwendbarkeit des § 340 StGB verneint, siehe OLG Karlsruhe NJW 1983, 352; Kuhlen, in: NK (Fn 20), § 340 Rn 8; Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, 25. Aufl. 2004, § 340 Rn 2; Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, 52. Aufl. 2004, § 340 Rn 7. Während sich der Patient im öffentlichen Krankenhaus freiwillig befindet, ist der Gefangene gezwungen, sich an den Anstaltsarzt zu wenden, der ihm als Bediensteter der Vollzugsbehörde und damit in der Rolle des Amtsträgers gegenübertritt. KG NJW 2000, 1352; Hirsch, in: LK (Fn 19), § 340 Rn 21; Lackner/Kühl (Fn 21), § 340 Rn 6; Tröndle/Fischer (Fn 21), § 340 Rn 7. Cramer, in: Schönke/Schröder (Fn 19), § 340 Rn 4a; Horn/Wolters, in: SK (Fn 20), § 340 Rn 15. Hirsch, in: LK (Fn 19), § 340 Rn 28; Tröndle/Fischer (Fn 21), § 340 Rn 7.
Strafrechtliche Risiken des Anstaltsarztes
253
Inwieweit spielen bei der Bewertung eines Verhaltens als Behandlungsfehler die besonderen Vollzugsbedingungen eine Rolle?
3.
Behandlungsfehler und Vollzugsbedingungen
Ein strafrechtlich relevanter Behandlungsfehler – verbreitet auch Kunstfehler genannt25 – liegt vor, wenn der Arzt bei seiner Tätigkeit die erforderliche Sorgfalt nicht beachtet. Dies ist dann der Fall, wenn sein Handeln hinter dem Verhalten zurückbleibt, das aus objektiver Sicht geboten ist. Maßstab hierfür bildet „das Leitbild des besonnenen und umsichtigen Angehörigen des betreffenden Verkehrskreises“.26 Im ärztlichen Bereich stellt die Rechtsprechung dabei auf den medizinischen Standard ab.27 Danach ist die notwendige Sorgfalt eingehalten, wenn das getan wird, was von einem umsichtigen, pflichtbewussten Arzt in der konkreten Situation erwartet wird.28 Geschuldet ist danach zwar weder das medizinisch mögliche Optimum noch ein formelles Facharztzeugnis des tätig werdenden Mediziners, aber eine Behandlung, die den Fertigkeiten eines Arztes des betroffenen Fachbereichs entspricht.29 Was folgt hieraus für den Strafvollzug? Gibt es einen besonderen vollzugsärztlichen Standard als strafrechtlichen Haftungsmaßstab? Die Frage ist eindeutig zu verneinen. Die allgemeinen Grundsätze müssen vielmehr ohne Abstriche auch im Strafvollzug gelten. Dies gebietet der hohe Rang der in Frage stehenden Güter ebenso wie der Fürsorgegrundsatz und das in § 3 I StVollzG verankerte Äquivalenzprinzip.30 Allerdings bedeutet die Forderung nach Einhaltung des allgemein gültigen Standards nicht, dass die konkreten Gegebenheiten im Vollzug gänzlich unberücksichtigt bleiben müssten. Es ist vielmehr in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannt, dass die jeweiligen Anforderungen an dem konkreten Tätigkeitsbereich des Arztes zu orientieren sind. 31 Der medizinische Standard ist daher keine statische Größe32, sondern variiert gerade auch im Hinblick auf die dem Mediziner zur Verfügung stehende Ausstattung, also z. B., wie der Bundesgerichtshof im Zusammenhang mit der Ausstattung von Krankenhäusern ausdrücklich klargestellt hat, je nachdem, ob es sich um „eine größere 25 26
27
28 29 30 31
32
Zur Kritik an diesem Begriff siehe Ulsenheimer (Fn 1), Rn 39. Ulsenheimer (Fn 1), Rn 18; siehe z. B. auch Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn 19), § 15 Rn 135. BGH NJW 1992, 1560; NJW 1993, 2989; zum Begriff des Standards siehe Velten, Der medizinische Standard im Arzthaftungsprozeß, 2000, 36 ff. Ulsenheimer (Fn 1), Rn 18. Ulsenheimer (Fn 1), Rn 20. Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG (Fn 3), vor § 56 Rn 3. Siehe dazu Sternberg-Lieben, in: FS für Ulrich Weber, 2004, 69, 86 ff.; Barbara Voß, Kostendruck und Ressourcenknappheit im Arzthaftungsrecht, 1999, 164 ff. Siehe Franzki, MedR 1994, 171, 174.
254
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Universitätsklinik“ oder ein „Krankenhaus der Allgemeinversorgung“ handelt. 33 In diesem Rahmen ist es daher im Grundsatz nicht ausgeschlossen, dass die Ausstattung des Vollzugsmediziners im Einzelfall einen gewissen Einfluss auf den zu gewährleistenden Sorgfaltsmaßstab haben kann. Dies wird ihn freilich jedoch in nur sehr engen Grenzen entlasten können, und zwar vor allem aus zwei Gründen: Zum einen ist in jedem Fall ein Mindeststandard einzuhalten, hinter den nicht zurückgegangen werden darf,34 und zum anderen müssen nach der Rechtsprechung mäßige Behandlungsbedingungen vor Ort durch geeignete organisatorische Maßnahmen kompensiert werden. Hierzu zählt die Überweisung an einen besser ausgestatteten Arzt oder eine besser bestückte Klinik. So hat der Bundesgerichtshof für den extramuralen Bereich entschieden, dass in Fällen, in denen „keine ausreichenden Bedingungen für eine dem zu erwartenden Standard entsprechende Behandlung“ vorliegen, „in ein anderes Krankenhaus überwiesen werden“ müsse, „das nach seiner personellen und apparativen Ausstattung diesen Standard“ aufweist.35 Dies anzunehmen liege nahe, wenn sich die Behandlung „in der unteren Bandbreite“ des medizinischen Standards bewege.36 Für den Strafvollzug ist damit vor allem die Kompensation etwaiger eingeschränkter Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten durch die Inanspruchnahme externer Ärzte angesprochen.
4.
Kompensation eingeschränkter Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten im Vollzug durch Inanspruchnahme externer Ärzte
Die Pflicht, im Fall nur mäßiger Behandlungsmöglichkeiten vor Ort anderweitige ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, verdient im Strafvollzug schon deshalb in besonderem Maße Beachtung, weil der Gefangene sich den Arzt und dessen Ausstattung anders als der freie Patient gerade nicht aussuchen kann. Dies muss sich angesichts des Äquivalenzprinzips dahin auswirken, dass der Anstaltsarzt in Situationen, in denen er bei einer Untersuchung oder Behandlung in der Anstalt deutlich unter dem Durchschnitt des medizinischen Standards tätig werden müsste, anderweitige, auch externe ärztliche Dienste anzufordern hat. In der Verwaltungsvorschrift Nr. 2 I zu § 58 StVollzG ist hierzu bestimmt, dass der Anstaltsarzt einen „anderen Arzt oder Facharzt“ hinzuzieht, wenn er es „nach Art oder Schwere des Falles für erforderlich hält“. Das dem Vollzugsmediziner in dieser Bestimmung im Grundsatz eingeräumte Ermessen reduziert sich im Fall nicht ausreichender Diagnose- oder Therapiemöglichkeiten auf Null.37 Der Gefangene kann dann einen 33 34
35 36 37
BGH NJW 1988, 763, 765. Siehe z. B. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 5. Aufl. 2003, Rn 166; SternbergLieben, in: FS für Ulrich Weber (Fn 31), 88. BGH NJW 1989, 2321, 2322. BGH NJW 1989, 2321, 2322. Ebenso Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG (Fn 3), § 56 Rn 13; Calliess/Müller-Dietz (Fn 5), § 58 Rn 3.
Strafrechtliche Risiken des Anstaltsarztes
255
Rechtsanspruch auf Ausführung zum Zweck externer ärztlicher Behandlung haben.38 Unterlässt es der Anstaltsarzt, einen außerhalb des Vollzugs praktizierenden Kollegen hinzuzuziehen und behandelt selbst, kann er sich dann nicht mit dem Hinweis auf die nur unzureichende Ausstattung im Vollzug exkulpieren, vielmehr liegt ein Fall sogenannten Übernahmeverschuldens vor. 39 Auch die Tatsache, dass die Anstaltsleitung möglicherweise darauf drängt, möglichst intramural zu behandeln, kann den Vollzugsmediziner strafrechtlich nicht entlasten. Denn unbeschadet der Verantwortlichkeit des Anstaltsleiters für den gesamten Vollzug, trägt der Anstaltsarzt für Entscheidungen im medizinischen Bereich die alleinige Verantwortung.40 Daher muss jedem im Gefängnis tätigen Mediziner geraten werden, bei Unsicherheiten darüber, ob in der konkreten gefahrträchtigen Behandlungssituation im Gefängnis ein ausreichender Standard eingehalten werden kann, „auf Nummer sicher“ zu gehen und die Inanspruchnahme von Diensten außerhalb seiner Anstalt zu veranlassen. Hierzu gehört z. B. auch die Verlegung in ein Vollzugskrankenhaus oder eine besser geeignete Vollzugsanstalt nach § 65 StVollzG.41
IV. Strafrechtliche Risiken des Anstaltsarztes bei der Aufklärung vor Heileingriffen Zu den Strafbarkeitsrisiken im Zusammenhang mit der anstaltsärztlichen Heilfürsorge gehört neben dem bisher dargestellten Behandlungsfehlerrisiko auch die Gefahr von Aufklärungsfehlern.42 Der Vollzugsmediziner ist im Grundsatz ebenso wie der extramurale Arzt vor jedem medizinischen Eingriff verpflichtet, den Patienten über Diagnose, Verlauf der Behandlung und Risiken aufzuklären (sog. Selbstbestimmungsaufklärung). Hinzu kommt die Pflicht zur therapeutischen Beratung.43 Eine unzureichende Aufklärung kann zur Unwirksamkeit der Einwilligung führen. Da nach der Rechtsprechung jeder ärztliche Eingriff in den Körper des Patienten, auch wenn er lege artis und zu Heilzwecken vorgenommen wird, tatbestandlich eine Körperverletzung darstellt,44 die durch die wirksame Einwilligung des Patienten gerechtfertigt wird, kann das dazu führen, dass sich der Arzt auch bei ordnungsgemäßem Eingriff wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Kör38 39 40
41
42 43
44
OLG Hamm NStZ 1981, 240. Siehe dazu BGH NJW 1989, 2321, 2322; Ulsenheimer (Fn 1), Rn 22 ff. OLG Frankfurt NJW 1978, 2351, 2352; Feest, in: AK-StVollzG (Fn 3), § 156 Rn 2; siehe § 4 VwV- BaWü, Die Justiz 2003, 73. Zum Verfahren siehe Arloth/Lückemann, Strafvollzugsgesetz, 2004, § 65 Rn 3; Calliess/Müller-Dietz (Fn 5), § 65 Rn 2; § 43 VwV-BaWü (Fn 40). Siehe dazu ausführlich Neumann (Fn 6), 53 ff. Siehe hierzu Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und Lex artis, 2000, 272 ff. Seit RGSt 25, 375 st. Rspr.; vgl. die Nachw. bei Eser, in: Schönke/Schröder (Fn 19), § 223 Rn 29.
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perverletzung strafbar macht. Geht der Mediziner dabei subjektiv von Umständen aus, nach denen eine ausreichende (Selbstbestimmungs-) Aufklärung vorläge, befindet er sich in einem Irrtum über eine tatsächliche Voraussetzung des Rechtfertigungsgrundes „Einwilligung“, der nach h. M. analog § 16 I S. 1 StGB zum Ausschluss des Vorsatzes führt.45 Es bleibt dann jedoch im Fall des sorgfaltswidrigen Verkennens der unzureichenden Aufklärung immer noch die Möglichkeit einer Bestrafung des Anstaltsarztes wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt. Zwar führt eine Verletzung der Aufklärungspflicht nicht zwangsläufig zu einer strafrechtlichen Haftung, sondern nur dann, wenn der Patient bei zutreffender Aufklärung die Maßnahme abgelehnt hätte (fehlende hypothetische Einwilligung).46 Auch ist es für eine strafrechtliche Einstandspflicht erforderlich, dass sich ein Risiko verwirklicht, über das nicht aufgeklärt worden ist (Schutzzweckzusammenhang).47 Gleichwohl ist es zur Vermeidung von Strafbarkeitsrisiken für den Anstaltsarzt sehr wichtig, sorgfältig aufzuklären und dies entsprechend zu dokumentieren. Im Vollzug kann jedoch auch die Aufklärung Probleme bereiten. Dazu sollen zwei Beispiele betrachtet werden: die Aufklärungsproblematik bei ausländischen Gefangenen mit schlechten Deutschkenntnissen und das Problem der Aufklärungspflicht bei alternativen extramuralen Therapiemöglichkeiten.
1.
Aufklärung bei ausländischen Gefangenen mit schlechten Deutschkenntnissen
Die Aufklärung über eine Behandlung gestaltet sich bei ausländischen Gefangenen schwierig, wenn diese der deutschen Sprache in nur geringem Umfang mächtig sind. Der Arzt ist bei Zweifeln über die Kommunikationsfähigkeit hier zunächst verpflichtet, immer wieder nachzufragen und zu versuchen, sich verständlich zu machen.48 Die zivilrechtliche Rechtsprechung hat für den extramuralen Bereich entschieden, dass eine sprachlich kundige Person hinzuzuziehen ist, „wenn nicht ohne weiteres sicher ist, dass der Patient die deutsche Sprache so gut beherrscht, dass er die Erläuterung des Arztes verstehen kann“. 49 Hierbei können im Strafvollzug – wie in der Praxis verbreitet üblich 50 – mit Zustimmung des Patienten Mitgefangene hinzugezogen werden, die als Übersetzer fungieren. Eine andere Möglichkeit besteht darin, mit übersetzten Texten und mit professionellen
45
46 47 48
49 50
Siehe z. B. BGH NStZ 1996, 34, 35 und die Anm. Ulsenheimers, NStZ 1996, 132, 133. BGH JZ 2004, 799 mit zst. Anm. Rönnau; BGH NStZ 1996, 34, 35. Siehe dazu Ulsenheimer (Fn 1), Rn 129 ff. Siehe für den freien Patienten Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts (Fn 10), § 66 Rn 5. OLG Düsseldorf VersR 1990, 852; siehe auch OLG München VersR 1993, 1488. Siehe die Antwort auf eine kleine Anfrage an den Niedersächsischen Landtag zur Gesundheitsversorgung in den Strafvollzugsanstalten, Drs. 15/1192.
Strafrechtliche Risiken des Anstaltsarztes
257
Dolmetschern zu arbeiten.51 Dabei ist jedoch darauf zu achten, dass nicht nur ein Formular übergeben, sondern durch eine Stufenaufklärung sichergestellt wird, dass die individuelle Situation Berücksichtigung findet.52
2.
Aufklärung im Fall alternativer extramuraler Therapiemöglichkeiten
Ein anderes Aufklärungsproblem entsteht dann, wenn im Vollzug zwar eine dem Standard entsprechende Therapie durchgeführt werden kann, es aber noch andere medizinisch indizierte Möglichkeiten zur Behandlung der Krankheit gibt, die im Gefängnis jedoch nicht angewandt werden können. Hier hat der Gefangene nach einer in der Rechtsprechung gebrauchten Formulierung „keinen Rechtsanspruch auf eine bestimmte, von ihm gewünschte Behandlung, sondern nur das Recht auf eine im Rahmen sachgerechter Erwägungen liegende Heilfürsorge“.53 Solange der Anstaltsarzt sich also im Rahmen des medizinischen Standards hält, kann ihm in Bezug auf die Wahl der konkreten Behandlungsart nach dem allgemeinen Grundsatz der Therapiefreiheit kein Vorwurf gemacht werden, auch wenn andere Behandlungsmethoden möglicherweise risikoärmer gewesen wären. Jedoch stellt sich die Frage, ob der Anstaltsarzt über vorhandene alternative Behandlungsmethoden aufklären muss, auch wenn sie im Strafvollzug nicht durchführbar sind. Im extramuralen Bereich wird von der (zivilrechtlichen) Judikatur eine Aufklärungspflicht über Alternativtherapien immer dann angenommen, wenn diese risikoärmer sind oder größere Erfolgschancen bieten. Als maßgeblicher Grund hierfür wird angeführt, dass der Patient insofern eine „echte Wahlmöglichkeit“ habe54 und sein Selbstbestimmungsrecht eine Aufklärung gebiete. 55 Da allerdings der kranke Gefangene eine solche Wahlmöglichkeit im Regelfall gerade nicht hat, liegt die Annahme nicht fern, dass eine solche Aufklärung auch nicht notwendig sei. Dagegen spricht jedoch, dass dem Gefangenen dadurch Beschwerde- und Rechtsschutzmöglichkeiten abgeschnitten werden. Man wird also auch hier keine Ausnahme von der Aufklärungspflicht machen können. Allerdings führt ein Aufklärungsfehler über Behandlungsalternativen nach Äußerungen des Bundesgerichtshofs regelmäßig nicht zur Strafbarkeit. Das Gericht meint, es komme Straflosigkeit dann in Betracht, wenn „sich der Aufklärungsmangel lediglich aus dem unterlassenen Hinweis auf Behandlungsalternativen ergibt, der Patient eine
51 52
53 54 55
Neumann (Fn 6), 69. Siehe dazu Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts (Fn 10), § 66 Rn 5; BGH NJW 1994, 793. OLG Frankfurt NJW 1978, 2351, 2352; OLG Hamm NStZ 1981, 240. Siehe z. B. BGH NJW 1988, 763, 764. Siehe Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, 331 f.; Tag (Fn 43), 239 ff. mit umfangreichen Nachw. zur Rspr.
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Grundaufklärung über die Art sowie den Schweregrad des Eingriffs erhalten hat und auch über die schwerstmögliche Beeinträchtigung informiert ist ...“. 56
V. Vorschläge und Appelle Zum Abschluss des notwendig kursorisch gehaltenen Überblicks möchte ich einige Vorschläge und Appelle formulieren, die dazu beitragen können, die strafrechtlichen Risiken des Anstaltsarztes bei seiner schwierigen und anspruchsvollen Tätigkeit zu reduzieren. Als allgemeine Maßnahme wäre schon mit Blick auf die vielfältigen besonderen Aufgaben des Anstaltsarztes die Einrichtung eines Ausbildungsgangs zum „Facharzt für Vollzugsmedizin“ empfehlenswert.57 An die Justizverwaltungen ist – auch in Zeiten knapper Mittel – der Wunsch zu richten, den vielerorts beklagten Sach- und Personalbestand in der Vollzugsmedizin aufzustocken. An die Anstaltsleiter ist zu appellieren, auf die Vollzugsärzte keinen Druck dahin auszuüben, die Inanspruchnahme externer medizinischer Dienste möglichst gering zu halten. Umgekehrt ist dem Anstaltsarzt anzuraten, einem solchen Druck standzuhalten und sich um des Patienten und auch seiner eigenen Sicherheit willen auf keine „Verlegenheitslösung“ einzulassen, die nicht dem medizinischen Standard entspricht. Es sollte zwischen dem Anstaltsarzt und dem Anstaltsleiter eine einvernehmliche Lösung im besten Patienteninteresse gefunden werden. Wenn es um so wichtige Güter wie Leben und Gesundheit geht, muss das Primat der Medizin gelten.
56 57
BGH NStZ 1996, 34, 35. Zu den wohl geringen Realisierungschancen siehe den Diskussionsbericht bei Hammerstein, ZaeFQ 2000, 271 f.
Statement Joachim Walter
I. Umfrage Bei den nachfolgenden Ausführungen geht es im Wesentlichen um das Ergebnis einer kurzen Umfrage bei baden-württembergischen Anstaltsärztinnen und Anstaltsärzten1, die ich zu obigem Thema im Dezember 2004 mittels eines Fragebogens2 postalisch durchgeführt habe. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, waren die in den Außenstellen der Vollzugsanstalten beschäftigten nebenamtlichen Anstaltsärzte nicht in die Umfrage einbezogen3.
II. Ergebnisse Insgesamt haben sich 36 Anstaltsärzte aus 17 der 19, also fast allen badenwürttembergischen Justizvollzugsanstalten, an der Umfrage beteiligt. Dabei handelt es sich einschließlich zahlreicher Ärzte des Vollzugskrankenhauses Hohenasperg um 21 hauptamtliche und 15 nebenamtliche Anstaltsärzte. Im Strafvollzug beschäftigt waren die Ärzte im Durchschnitt etwas mehr als 11 Jahre. Dieser an sich schon hohe Mittelwert zeichnet insofern ein etwas schiefes Bild, als er durch 6 Ärzte, die erst ein Jahr lang im Vollzug tätig sind, stark nach unten gedrückt wird. Von diesen „jungen“ Anstaltsärzten abgesehen, ist die Mehrzahl der Ärzte schon viele Jahre lang, nicht wenige sogar bereits jahrzehntelang, im Strafvollzug tätig. Differenziert man weiter, so ergibt sich für die hauptamtlichen Anstaltsärzte eine durchschnittliche Dienstzeit von 10,5 Jahren, für die nebenamtlichen eine solche von 12,7 Jahren.
1
2 3
Aus Gründen sprachlicher Vereinfachung wird im Folgenden nur die männliche Form der Gattungsbegriffe benützt. Abgedruckt im Anhang. Die Außenstellen sind zum Teil sehr klein, so dass sich dort die Tätigkeit des – meist nebenamtlichen – Anstaltsarztes nur auf wenige (z.B. 2) Stunden pro Woche beschränkt. Ein Vergleich mit der Tätigkeit der Anstaltsärzte in den Hauptanstalten unter dem Gesichtspunkt der strafrechtlichen Risiken erschien mir daher problematisch.
260
Joachim Walter
Tabelle 1. Teilnehmende Dienstverhältnis Anstaltsärzte N = 36 hauptamtlich nebenamtlich seit (Jahren)
Ja
Nein
36
16
18
21
15
durchschn. 11,2 Jahre
Anzeige erhalten N = 34
Auf die Frage, ob sie im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit als Anstaltsarzt bei der Staatsanwaltschaft oder Polizei jemals angezeigt worden seien, haben insgesamt 16 (47 %) der Anstaltsärzte mit ja, überraschenderweise aber 18 (53 %) mit nein geantwortet. Allerdings war festzustellen, dass von denjenigen, die schon einmal eine Strafanzeige erhalten haben, alle länger als 5 Jahre in einer Justizvollzugsanstalt tätig sind. Andererseits befinden sich unter den 18 Anstaltsärzten, die noch nie eine Anzeige erhalten haben, zwar 8, die weniger als 5 Jahre Dienst aufweisen, aber auch immerhin 5 Ärzte mit mehr als 10 Jahren Dienstzeit; der Dienstälteste von ihnen versieht sein Amt sogar schon seit 31 Jahren. Differenziert man hier nach haupt- und nebenamtlichen Ärzten, so berichten von 20 hauptamtlichen 11 (55 %), dass sie schon einmal angezeigt wurden, von 14 nebenamtlichen jedoch nur 5 (35,7 %).4 Die Anzahl der in der gesamten Dienstzeit erhaltenen Anzeigen liegt in der Regel im einstelligen Bereich, erreicht allerdings bei einigen länger dienenden Anstaltsärzten auch eine zweistellige Höhe. Genauere Zahlen konnten hier nicht erhoben und ein Mittelwert nicht berechnet werden, weil mehrere Teilnehmer statt konkreter Zahlen nur ungefähre Angaben wie „ca. 50“ gemacht haben. Um den sog. „Telescoping-Effekt“5 zu reduzieren, wurde auch erfragt, ob und wenn ja wie häufig innerhalb eines überschaubaren Zeitraumes, nämlich der letzten 12 Monate, eine Strafanzeige im Zusammenhang mit der Tätigkeit als Anstaltsarzt erstattet worden ist. Von den erwähnten 16 Ärzten, die überhaupt schon einmal angezeigt worden sind, berichteten nur noch 9 von einer Anzeige in den letzten 12 Monaten. Was die Anzahl der in diesem Jahreszeitraum erstatteten Anzeigen angeht, waren es im Durchschnitt 1,8, im Maximum 3 Anzeigen. 4
5
Je ein hauptamtlicher und ein nebenamtlicher Arzt hat die Frage unbeantwortet gelassen. Ein Teil länger zurückliegender einprägsamer Ereignisse wird in der Erinnerung in die kürzere Vergangenheit verschoben.
Statement
261
Weiter war von Interesse, auf welche Weise die Anstaltsärzte von den gegen sie erstatteten Anzeigen Kenntnis erhalten haben. Wie die nachfolgende Tabelle zeigt, war es in der Mehrzahl der Fälle eine angeforderte dienstliche Stellungnahme oder ein Hinweis der Anstaltsleitung, durch den die Ärzte von der Anzeige erfuhren. Allerdings hat in einigen Fällen der Anstaltsarzt auch unmittelbar von der Polizei bzw. bei einer polizeilichen oder staatsanwaltlichen Vernehmung erstmals davon gehört, dass er angezeigt wurde. Tabelle 2. Von Strafanzeige Kenntnis erhalten durch N= 15 (Mehrfachnennungen) Polizei
Anstaltslei- polizeiliche staatsanwalt- Mitteilung andere Anfordeliche Ver- der StA Vernehrung einer tung nehmung mung dienstlichen Stellungnahme
4
9
4
3
1
3
1
Die in den Anzeigen erhobenen strafrechtlichen Vorwürfe lauteten (in der Reihenfolge der Häufigkeit der Nennungen) auf -
unterlassene Hilfeleistung, Körperverletzung bzw. Falschbehandlung, fahrlässige Tötung, Mord sowie Nötigung bzw. Freiheitsberaubung.
Erstattet wurden die Anzeigen meistens durch Gefangene, in einigen Fällen aber auch durch Angehörige eines Gefangenen, seinen Anwalt und in einem Fall sogar durch die Anstaltsleitung.
262
Joachim Walter
Tabelle 3. Anzeige erstattet durch N = 15 (Mehrfachnennungen) Gefangene
15
Angehörige Anstaltsleitung Anwalt eines Geeines Gefangenen fangenen
2
2
1
Polizei
Ermittlungen durch StA
andere
1
2
1
Auf die Frage, ob sie im Laufe ihrer Dienstzeit und im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit als Anstaltsarzt jemals mit einer Strafanzeige bedroht worden seien, antworteten von 31 Ärzten 21, also mehr als zwei Drittel, mit ja, immerhin 10 jedoch mit nein. Bei denjenigen, die noch nie mit einer Strafanzeige bedroht worden sind, handelt es sich entweder um Ärzte, die erst seit kurzem im Strafvollzugsdienst sind (maximal 1 Jahr), oder aber um nebenamtliche Anstaltsärzte, unter denen freilich durchaus einige über jahre- und jahrzehntelange intramurale Erfahrung verfügen. Soweit dazu Angaben vorliegen, wurden solche Drohungen mit Strafanzeigen von Gefangenen häufig im Zusammenhang mit dem abgelehnten Wunsch nach Schmerzmitteln oder einer gewünschten Drogensubstitution gemacht. Ein (hauptamtlicher) Anstaltsarzt berichtet, dass ihm allein in den letzten 12 Monaten ca. 20 mal mit einer Strafanzeige gedroht worden sei. Ausgegangen sind die Drohungen in nahezu allen Fällen von Gefangenen, selten auch vom Rechtsanwalt eines Gefangenen. Die Frage, welchen strafrechtlichen Risiken sie sich als Anstaltsarzt in besonderem Maße ausgesetzt sehen, haben 20 Teilnehmer der Umfrage beantwortet. Überhaupt keine besonderen Risiken im Vergleich zur Situation außerhalb des Justizvollzugs sehen lediglich 2 Ärzte. 2 weitere stimmen dem mit der Einschränkung zu, dass unberechtigte Vorwürfe im Strafvollzug immerhin häufiger seien bzw. dass die häufigeren Anzeigen ausnahmslos als unzutreffend zurückgewiesen worden seien. Die große Mehrheit sieht jedoch das Risiko des Vollzugsarztes, mit einem Ermittlungs- oder Strafverfahren überzogen zu werden, als deutlich oder stark erhöht an. Als vollzugstypisch besonders erhöhte strafrechtliche Risiken werden namentlich genannt: -
unterlassene Hilfeleistung,
Statement -
-
263
Körperverletzung, begangen durch einen Behandlungsfehler, ggf. auch wegen nicht ausreichender Kompetenz im Bereich der Psychotherapie oder der Suchtmedizin, fahrlässige Tötung, namentlich wegen der möglichen Fehleinschätzung einer gegebenen Suizidgefahr.
Abschließend wurden die Anstaltsärzte um Vorschläge gebeten, die nach ihrer Ansicht eine Reduzierung der strafrechtlichen Risiken bewirken könnten. 22 der Befragten haben hierzu – in der Regel mehrere – Vorschläge unterbreitet. Diese sollen wenigstens in ihren Schwerpunkten kurz dargestellt werden: Die Anstaltsärzte wenden sich zuerst der eigenen Aufgabenstellung zu und meinen, dass sorgfältige Arbeitsweise und exakte Dokumentation von besonderer Bedeutung sind (8 Nennungen). Für wichtig halten sie auch eine ausführliche Patientenaufklärung (5). Gegenüber den Gefangenen müsse bei einer emphatischen Grundhaltung eine klare Linie deutlich werden. Man dürfe sich nicht unter Druck setzen lassen und solle in Zweifelsfällen eine konsiliarische Untersuchung durchführen. Zur Sicherung der Beweislage wird mehrfach empfohlen, Behandlungen von Gefangenen nur im Beisein eines Revierbediensteten durchzuführen. Die Verbesserung der rechtlichen, insbesondere auch straf- und dienstrechtlichen Kenntnisse der Anstaltsärzte durch entsprechende Schulungen und Tagungen, ggf. auch gemeinsam mit den Anstaltsleitern sowie mit supervisorischem Charakter, wird in 5 Antworten angemahnt. In organisatorischer Hinsicht wird die hinreichende Ausstattung der Krankenstationen mit Hilfspersonal gefordert sowie eine Verbesserung der anstaltsinternen Kommunikation, ebenso der Verbindung mit dem Vollzugskrankenhaus und den dort beschäftigten Ärzten. Mehrfach wird vorgeschlagen, den medizinischen Bereich im Justizvollzug von der übrigen Justizvollzugsanstalt organisatorisch weitgehend zu trennen. Insbesondere sollten danach die Anstaltsärzte nicht in die Hierarchie der Anstalt eingebunden und nicht dem Anstaltsleiter unterstellt sein. Für den Konfliktfall und insbesondere den Fall strafrechtlicher Verfolgung wünschen sich einige Anstaltsärzte eine Vertretung durch externe Juristen 6.
6
Dies ist in Baden-Württemberg insofern weitgehend gewährleistet, als Landesbedienstete nach den – freilich kaum bekannten und außerdem recht komplizierten – Rechtsschutz-Richtlinien (GABl. 1998, S. 673) die Kosten für die zweckentsprechende Rechtsverteidigung im Zusammenhang mit Vorwürfen, die gegen sie im Zusammenhang mit der Ausübung ihres Amtes erhoben wurden, vom Land erstattet bekommen können.
264
Joachim Walter
III. Diskussion Die Ergebnisse der vorgestellten Umfrage bei baden-württembergischen Anstaltsärzten belegen, dass nach nahezu einmütiger Ansicht der im Justizvollzug beschäftigten Ärzte die berufsbedingten strafrechtlichen Risiken erheblich erhöht sind. Dementsprechend häufig, aber vielleicht doch nicht so häufig wie erwartet, sind Anstaltsärzte in der Vergangenheit im Zusammenhang mit ihrer amtlichen Tätigkeit mit Strafanzeigen bedacht worden. Drohungen der inhaftierten Patienten mit strafrechtlicher Verfolgung sind noch viel häufiger. Dies sind von vornherein also eher unerfreuliche Arbeitsbedingungen. Die Gründe dafür sind vielfältig und können hier nur angedeutet werden. Sie dürften einerseits aus der spezifischen Lage der inhaftierten Patienten und ihrem Verhalten resultieren, andererseits mit dem besonderen Arzt-Patienten-Verhältnis zusammenhängen: Bezüglich des Verhaltens der Gefangenen kann man – in Anlehnung an die für das Verständnis der Subkultur des Gefängnisses entwickelten Theorien – unterscheiden zwischen Verhaltensweisen, die auf den Freiheitsentzug selbst zurückzuführen sind (so genannte Deprivationstheorie)7, und solchen, die von den Gefangenen bereits mitgebracht, quasi in den Vollzug importiert werden (so genannte Importtheorie bzw. Theorie der kulturellen Übertragung)8. Als das Verhalten der Gefangenen beeinflussende Faktoren kommen danach zunächst die unmittelbar mit dem Freiheitsentzug verbundenen Deprivationen und deren somatische, psychosomatische und psychosoziale Folgeerscheinungen in Betracht. Man kann eben nicht Menschen die Freiheit entziehen, sie zu diesem Zweck in Vollzugsanstalten internieren, meist auf engstem Raum und gemeinschaftlich mit anderen Straftätern unterbringen und gleichwohl erwarten, dass dies keine (negativen) Auswirkungen auf ihr Verhalten, aber auch auf ihre körperliche und psychische Gesundheit nach sich zieht. Als „Import“ von außerhalb kommen namentlich in Betracht die bei Gefangenen sehr häufig vorliegende Suchtproblematik sowie eine oft schon vor der Inhaftierung bestehende Vernachlässigung ihrer körperlichen und psychischen 7
8
Harbordt 1972, S. 11 ff; Sykes 1971, S. 70 ff; zusammenfassend und mit weiteren Nachweisen Eisenberg 1990, § 37 RN 5; Kaiser/Kerner/Schöch 1982, § 13 RN 59-92. Danach entsteht die Gefangenensubkultur quasi als endemisches Phänomen nur unter den Bedingungen der totalen Institution Strafvollzug sowie - in ihrem Umfang - in Abhängigkeit von der Härte der Haftbedingungen. Vgl. Eisenberg 1990, § 37 RN 4; Kaiser/Kerner/ Schöch aaO. Nach dieser auf Irwin & Cressey 1964, S. 142 zurückgehenden Theorie ist schon im Herkunftsmilieu der Gefangenen, also außerhalb des Strafvollzuges, eine weitgehend entsprechende Subkultur vorhanden, die dann in das Gefängnis hineingetragen wird. Die Ergebnisse der Strafvollzugsforschung in Deutschland – zuletzt Hermann & Berger 1997, S. 370 – wie auch die praktische Erfahrung sprechen dafür, die beiden Theorien zu vereinigen, also das subkulturelle Verhalten der Gefangenen als Folge sowohl vollzuglicher Deprivation als auch importierter Verhaltensweisen zu verstehen.
Statement
265
Gesundheit. Auch fehlt es vielen Gefangenen, vorsichtig ausgedrückt, an sozialen Kompetenzen. Oder, etwas pauschaler formuliert, die Gefangenen im Justizvollzug sind in vielerlei Hinsicht eine besonders problembelastete Klientel. Schon diese Umstände dürften dazu führen, dass das Verhältnis zwischen dem Anstaltsarzt und den Gefangenen als seinen Patienten erheblich stärker mit Konflikten belastet ist, als dies außerhalb der Mauern der Fall zu sein pflegt. Als Besonderheit der Institution kommt schließlich die fehlende freie Arztwahl hinzu als eine Möglichkeit, sowohl seitens des Patienten als auch des Arztes, das Verhältnis eigenaktiv zu beeinflussen oder ggf. Alternativen in Anspruch zu nehmen. Rechtlich wie auch psychologisch ist von Bedeutung, dass im Justizvollzug Arzt und Patient nicht, wie außerhalb, prinzipiell ebenbürtige Vertragspartner sind 9. Vielmehr besteht zwischen ihnen eine öffentlich-rechtliche Beziehung 10. Nicht zuletzt deshalb wird der Anstaltsarzt von den Gefangenen oft weniger als Helfer denn als Vertreter der Institution Strafvollzug und damit des strafenden Staates („Erfüllungsgehilfe der Justiz“) wahrgenommen11. Allerdings ist das Bild durchaus uneinheitlich. Keineswegs alle Anstaltsärzte werden mit Strafanzeigen überzogen oder auch nur mit solchen bedroht. Zu einem gewissen Teil scheinen sich hier die Unterschiede in den Zweckbestimmungen der Anstalten (Anstalten für Frauen bzw. Männer, Jugendstrafanstalten, Kurz- und Langstrafanstalten) widerzuspiegeln. So ist, um ein Beispiel zu geben, im Jugendstrafvollzug der Gesundheitszustand der Gefangenen im Allgemeinen alters entsprechend gut, die Verweildauer in Haft kurz12 und die Beschwerdefreudigkeit eher gering. Für den Langstrafenvollzug an Erwachsenen dürfte dagegen in allen genannten Punkten eher das Gegenteil gelten. Die gegen nebenamtliche Anstaltsärzte signifikant seltener erstatteten Strafanzeigen könnten aber auch die Vermutung einer unterschiedlichen Haltung der Gefangenen gegenüber haupt- und nebenamtlichen Anstaltsärzten nahe legen. Die ansonsten frei praktizierenden, sozusagen „von außen kommenden“ nebenamtlichen Ärzte werden möglicherweise eben deshalb weniger als Vertreter des strafenden Staates angesehen als die hauptamtlichen Anstaltsärzte. Freilich sind die letzteren bevorzugt in den großen Anstalten sowie den Langstrafanstalten eingesetzt. Schon wegen ihrer längeren zeitlichen Anwesenheit in der Anstalt und der höheren Zahl ihrer Kontakte zu Patienten ist von vornherein ein häufigeres Vorgehen der Gefangenen gegen sie mit strafrechtlichen Mitteln zu erwarten als gegen ihre neben9
10 11 12
Wenngleich – aus einer soziologischen Perspektive – auch außerhalb des Vollzuges die Arzt-Patienten-Beziehung infolge der Expertenstellung des Arztes als eine asymmetrische gesehen wird. M. Walter 1999, RN 230. Zettel 1988, S. 194. Im baden-württembergischen Jugendstrafvollzug beträgt die durchschnittliche Verweildauer derzeit ca. 11 Monate.
266
Joachim Walter
amtlich tätigen Kollegen. Kommen in einer Anstalt mehrere nebenamtliche Ärzte zum Einsatz13, ist das zudem faktisch insofern ein Schritt in Richtung freie Arztwahl, als die Gefangenen in vielen Fällen den Zeitpunkt ihrer Vormeldung zum Arzt zu steuern wissen werden. Trotz eines deutlich erhöhten strafrechtlichen Risikos in Folge der besonderen Rahmenbedingungen intramuraler medizinischer Tätigkeit dürften Verurteilungen von Anstaltsärzten gleichwohl eher selten sein. Daten darüber scheinen nicht vorzuliegen oder jedenfalls nicht veröffentlicht zu sein. Möglicherweise besteht hier jedoch eine Grauzone. Immerhin ist bekannt, dass das eine oder andere Strafverfahren gegen Anstaltsärzte dadurch abgeschlossen wurde, dass ein Strafbefehl in gemäßigter Höhe akzeptiert wurde oder eine Einstellung des Verfahrens gegen Zahlung einer Geldbuße gem. § 153 a StPO erfolgt ist. Auf eine eingehende rechtliche Überprüfung wurde in diesen Fällen seitens der betroffenen Ärzte wohl insbesondere deshalb verzichtet, um eine öffentliche Hauptverhandlung zu vermeiden. Denn eine solche ist dem Ruf eines Arztes selbst dann in hohem Maße abträglich, wenn er von den gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Vorwürfen freigesprochen wird. Und wenn das Strafverfahren nur eingestellt wird, sind die Folgen für sein berufliches Ansehen noch gravierender. Die von den Anstaltsärzten in der vorliegenden Umfrage gemachten und bereits oben referierten Vorschläge sind allesamt sehr bedenkenswert. Sie zeigen, dass sich die Ärzte ihrer prekären Situation zwischen Heilauftrag und Strafvollzug bewusst sind und dass sie in erster Linie mit eigenen Kräften versuchen, den damit verbundenen besonderen Herausforderungen zu genügen. Im Hinblick auf die zur Zeit häufig angestellten Überlegungen, ob und gegebenenfalls welche Aufgaben des Strafvollzugs privatisiert bzw. outgesourct werden könnten, scheint mir der Vorschlag, den medizinischen Bereich in der Justizvollzugsanstalt weitgehend von der übrigen Anstaltsorganisation zu trennen und aus der hierarchischen Struktur auszunehmen, besonders diskussionswürdig zu sein. Angesichts der festgestellten erhöhten strafrechtlichen Risiken könnte dies auch ein Weg zu deren Reduzierung und damit auch ein Ansatz sein, um der oft genug beklagten Gefahr der Entwicklung einer defensiven „Absicherungsmedizin“ in den Anstalten entgegen zu wirken.
13
In der JVA Adelsheim sind beispielsweise derzeit drei Allgemeinmediziner sowie ein Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie nebenamtlich beschäftigt.
Statement
267
Literatur Boetticher, A. / Stöver, H.: Vorbemerkung zu § 56 StVollzG. In: Feest, J. (Hrsg.): Kommentar zum Strafvollzugsgesetz. 4. Aufl. Neuwied, Kriftel 2000. Eisenberg, Ulrich: Kriminologie. 3. Auflage, Köln, Berlin, München 1990. Harbordt, Steffen: Die Subkultur des Gefängnisses. Stuttgart 1972. Hermann, Dieter / Berger, Sigrid: Prisonisierung im Frauenstrafvollzug. Eine explorative Längsschnittstudie zur Deprivationstheorie und kulturellen Übertragungstheorie. MschrKrim 1997, S. 370. Irwin, John / Cressey, Donald: Thieves, Convicts and the Inmate Culture. Social Problems 10 (1964) S. 142. Kaiser, Günther / Kerner, Hans-Jürgen / Schöch, Heinz: Strafvollzug. 3. Auflage Heidelberg 1982. Romkopf, U. / Riekenbrauck, W.: Kommentierung zu § 56 StVollzG. In: Schwind, H.-D., / Böhm, A. (Hrsg.): Strafvollzugsgesetz. 3. Aufl. Berlin / New York 1999. Sykes, Gresham M.: The Society of Captives. A Study of a Maximum Security Prison. Princeton 1971. Walter, M.: Strafvollzug. 2. Aufl. Stuttgart usw. 1999. Zettel, D.: Anstaltsarzt und ärztliche Versorgung. In: Schwind, H.-D. / Blau, G. (Hrsg.): Strafvollzug in der Praxis. 2. Aufl. Berlin / New York 1988, S. 193.
268
Joachim Walter
Anhang Strafrechtliche Risiken des Anstaltsarztes Fragebogen Nr. .....
1.
Dienst-/Vertragsverhältnis (Nichtzutreffendes bitte streichen): Als hauptamtliche(r)/nebenamtliche(r) Anstaltsarzt/Anstaltsärztin im Justizvollzug beschäftigt seit dem Jahre _______
2.
Sind
Sie
im
Zusammenhang
mit
Ihrer
Tätigkeit
als
Anstalts-
arzt/Anstaltsärztin, soweit bekannt, schon einmal aufgrund eines strafrechtlichen Vorwurfs (bei der Staatsanwaltschaft / Polizei) angezeigt worden? ja 2.1
nein, noch nie Falls ja (bitte ggf. Anzahl der Fälle eintragen)
mal
- wie oft insgesamt etwa? - auch innerhalb der letzten 12 Monate? - ggf. wie oft in diesem Zeitraum? 2.2
ja
nein mal
Auf welche Weise haben Sie von den Strafanzeigen erstmals erfahren? (bitte ggf. Anzahl der Fälle eintragen)
durch eine Mitteilung der Polizei durch die Anforderung einer dienstlichen Stellungnahme
Statement
269
durch eine Mitteilung der Anstaltsleitung durch eine polizeiliche Vernehmung durch eine staatsanwaltliche Vernehmung durch eine Mitteilung der Staatsanwaltschaft auf andere Weise: __________________________________ 2.3
Wie lauteten die erhobenen strafrechtlichen Vorwürfe ?
(bitte aufzählen) ___________________________________________________________ ___________________________________________________________ 2.4
Anzeigeerstatter war(en) (bitte ggf. Anzahl der Fälle eintragen):
unbekannt Gefangener Anwalt eines Gefangenen Angehöriger eines Gefangenen Anstaltsleitung Polizei Ermittlungen wurden von der Staatsanwaltschaft von Amts wegen eingeleitet andere: ___________________________________________ 3.
Sind Sie schon mit einer Strafanzeige bedroht worden?
ja
nein
270
Joachim Walter
3.1
falls ja - wie oft insgesamt etwa?
mal
- wie oft innerhalb der letzten 12 Monate?
mal
- falls ein konkretes Delikt vorgeworfen wurde, welches: ................ 3.2
wer hat gedroht (bitte ggf. Anzahl der Fälle eintragen)
Gefangener Angehörige von Gefangenen Anwalt eines Gefangenen Anstaltsleitung andere: ___________________________________________ 4.
Welchen
strafrechtlichen
Risiken
sehen
Sie
sich
als
Anstalts-
arzt/Anstaltsärztin in besonderem Maße ausgesetzt? ______________________________________________________________ ______________________________________________________________ 5.
Wodurch könnte nach Ihrer Ansicht eine Reduzierung strafrechtlicher Risiken für Anstaltsärzte erreicht werden? ______________________________________________________________ ______________________________________________________________
Vielen herzlichen Dank für Ihre Mitarbeit!
3. Tagungsabschnitt: Schlussbemerkungen
Schlussbemerkung Heinz Schöch
I. Psychisch Kranke im Strafvollzug Als eines der größten Probleme erscheint mir – auch nach den Informationen dieser Tagung – die große Zahl der psychisch kranken oder gestörten Straftäter im Justizvollzug. Die Gesundheitsfürsorge muss sich nach § 56 StVollzG ja auch auf die geistige Gesundheit der Gefangenen erstrecken, und viele Anstaltsärzte bewältigen die damit verbundenen Probleme mit erstaunlicher Souveränität. Aber für den Allgemeinmediziner oder den Internisten ergeben sich doch Grenzen der Belastbarkeit angesichts der sonstigen Aufgaben des Arztes im Strafvollzug. Nach meinen Eindrücken ist das Problem in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren größer geworden, unter anderem auch deshalb, weil wegen Überfüllung der Maßregelvollzugsanstalten schon bei der Sachverständigenbegutachtung im Erkenntnisverfahren viele Grenzfälle seltener als früher für vermindert schuldfähig oder gar schuldunfähig erklärt werden und somit für eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht in Betracht kommen. Es sind dies vor allem Gefangene mit dissozialer Persönlichkeitsstörung, die nach den Untersuchungen von Rössner/Marneros in Sachsen-Anhalt1 und von Frädrich/Pfäfflin in Ulm2 fast die Hälfte der Vollzugspopulation ausmachen. Foerster hat gestern etwas geringere Zahlen genannt, aber bei Berücksichtigung der Zweitdiagnosen ergeben sich auch nach den von ihm berichteten Ergebnissen ca. 35 %. Daneben gibt es nach den gestrigen Referaten von Foerster und Bisson noch eine beträchtliche Anzahl sonstiger psychisch auffälliger Gefangener, also solche mit anderen Persönlichkeitsstörungen oder Borderline-Störungen. Bemerkenswert ist auch die hohe Zahl von Psychotikern, darunter sogar drei bis fünf Prozent mit paranoider Schizophrenie. Teilweise handelt es sich um Fälle, die sich erst im Verlauf des Vollzugs entwickelt haben, teilweise um solche, die schon früher vorlagen, aber in der Hauptverhandlung nicht erkannt wurden oder nicht zu einer Ex- oder Dekulpation nach § 21 StGB führten. Diese kranken Menschen gehören nicht in den Strafvollzug und bereiten den Vollzugsärzten allergrößte Schwierigkeiten. 1
2
Rössner/Marneros, Angeklagte Straftäter. Das Dilemma der Begutachtung, BadenBaden 2002, S. 122. Frädrich/Pfäfflin, Zur Prävalenz von Persönlichkeitsstörungen bei Strafgefangenen, Recht und Psychiatrie, 2000, 95 ff., 96 f.
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Heinz Schöch
Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung vom 14.8.19963 die unterbliebene Anordnung der Unterbringung eines psychisch kranken Gefangenen in einem externen psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 65 Abs. 2 StVollzG für verfassungswidrig erklärt, obwohl dieser zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt war, von der er schon 30 Jahre verbüßt hatte. Die paranoid halluzinatorische psychische Symptomatik, bei der sogar die Haft als „Herd der Erkrankung“ angesehen wurde, könne im Strafvollzug nicht angemessen behandelt werden. Um gleichwohl das Recht des langzeitig Inhaftierten auf Wiedererlangung seiner Freiheit zu realisieren, müsse – ohne Rücksicht auf die hohen Kosten – eine vollzugsexterne psychiatrische Langzeittherapie erfolgen. Auf die hohen Kosten einer derartigen externen Krankenhausbehandlung gemäß § 65 Abs. 2 StVollzG wurde im Rahmen dieser Tagung bereits mehrfach hingewiesen. Deshalb muss dringend an alle Bundesländer appelliert werden, zumindest in den zentralen Vollzugskrankenhäusern psychiatrische Abteilungen einzurichten, wie dies zum Beispiel in Bayern und Nordrhein-Westfalen bereits geschehen ist. Im Hinblick auf diese wohl zunehmende Problematik sollte außerdem de lege ferenda überlegt werden, die Durchlässigkeit zwischen Strafvollzug und psychiatrischem Krankenhaus jedenfalls so weit zu lockern, dass psychotisch Erkrankte – ähnlich wie gemäß § 67a Abs. 2 StGB Sicherungsverwahrte – in ein forensischpsychiatrisches Krankenhaus mit den entsprechenden Sicherheitseinrichtungen überwiesen werden können, wenn die Resozialisierung des Täters dadurch besser gefördert werden kann. Diese Durchlässigkeit in eindeutig indizierten Fällen ist nicht zu verwechseln mit der von vielen psychiatrischen Krankenhäusern gewünschten Abgabemöglichkeit von nichttherapierbaren Maßregelvollzugspatienten an den Strafvollzug, die vom Bundesverfassungsgericht de lege lata abgelehnt worden ist.4 Auch eine „Bund-Länder-Arbeitsgruppe“ der Justizministerkonferenz hat festgestellt, dass eine derartige Überweisungsmöglichkeit unberücksichtigt lasse, dass der psychisch Kranke nach wie vor ärztlicher und therapeutischer Obhut und Pflege bedürfe.5 Zugleich würde die Möglichkeit, den Kranken aufgrund des Erkenntnisfortschritts in der Psychiatrie doch noch zu heilen, erheblich erschwert. Die Durchlässigkeit zwischen Straf- und Maßregelvollzug braucht also nicht wechselseitig zu sein.
3 4 5
BVerfG, NStZ 1996, 614. BVerfG, NJW 1995, 772. 74. Konferenz der Justizministerinnen und -minister, Bericht der Arbeitsgruppe des Strafrechtsausschusses „Rechtsfragen der Maßregelvollstreckung“, Ziffer II.4.2.5.
Schlussbemerkung
275
II. Suchtkranke im Strafvollzug Ein weiteres Problem bei der Gesundheitsfürsorge im Strafvollzug ist die große Zahl von Suchtkranken und Rauschmittelabhängigen, die im Strafvollzug nur mit Mühe abstinent gehalten und so gut wie nicht behandelt werden können. Aus diesem Grund empfiehlt es sich sehr, auch bereits innerhalb des Vollzugs suchttherapeutische Angebote zu organisieren, wie es in einigen Justizvollzugsanstalten bereits geschieht. Bei Betäubungsmittelabhängigen sollte gezielter und rechtzeitiger als teilweise üblich die Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG vorbereitet werden, sobald der Rest der zu vollstreckendenden Freiheitsstrafe weniger als zwei Jahre beträgt. Die Stagnation oder der Rückgang der einschlägigen Zahlen lässt zweifeln, ob hier alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Möglicherweise hat die Diskussion über die Spritzenvergabe und Substitutionsprogramme im Strafvollzug den Blick auf die nach wie vor lohnendere Alternative „Therapie statt Strafe“ etwas verstellt. Eine entsprechende Regelung wie § 35 BtMG sollte für Alkoholabhängige geschaffen werden. Die derzeit in einem Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums vorgesehene Änderung des § 67 StGB in der Weise, dass die Vollstreckungsreihenfolge bei gleichzeitig verhängter Freiheitsstrafe und Unterbringung durch angepassten Vorwegvollzug der Freiheitsstrafe dergestalt verändert wird, dass nach Ablauf der Unterbringung in der Regel eine Bewährungsentscheidung ermöglicht wird, ist nachhaltig zu befürworten. Auf diese Weise kann die Therapie am besten mit den unverzichtbaren Belastungserprobungen in Freiheit kombiniert werden.
III. Aufklärung über Offenbarungsbefugnisse und Offenbarungspflichten des Arztes gemäß § 182 Abs. 2 Satz 5 StVollzG Die gemäß § 182 Abs. 2 Satz 5 StVollzG gebotene Aufklärung des Gefangenen über die in § 182 Abs. 2 Satz 2 und 3 StVollzG bestehenden Offenbarungsbefugnisse und –pflichten ist zu unterscheiden von der im Rahmen dieser Tagung ebenfalls angesprochenen Aufklärung, wie sie für eine rechtfertigende Einwilligung in eine ärztliche Heilbehandlung oder Operation erforderlich ist. Bei dieser konstitutiven Aufklärung oder „Selbstbestimmungsaufklärung“6 ist die mündliche Aufklärung des Patienten durch den Arzt der entscheidende Vorgang, der nur aus Beweisgründen zusätzlich schriftlich dokumentiert wird. Demgegenüber geht es bei der Aufklärung gemäß § 182 Abs. 2 Satz 5 StVollzG nur um einen Hinweis auf gesetzlich bestehende Befugnisse und Pflichten. Diese kann auch formularmäßig 6
Ingelfinger, in diesem Band.
276
Heinz Schöch
erfolgen, was bei der Vielzahl der relevanten Kontakte des Arztes oder seiner Gehilfen mit dem Patienten auch kaum anders möglich ist. 7 Dennoch empfiehlt sich bei speziellen therapeutischen Maßnahmen aus Gründen der Behandlungsethik eine zusätzliche mündliche Belehrung. Daneben bleibt – wie auch sonst bei ärztlichen Behandlungen – die konstitutive Aufklärung als Voraussetzung einer wirksamen Einwilligung vor jedem ärztlichen Heileingriff erforderlich.
IV. Zur Verfassungskonformität der Zwangsbehandlung gemäß § 101 Abs. 1 StVollzG Im Gegensatz zu Christian Laue8 halte ich die Befugnis der Vollzugsbehörde, medizinische Zwangsmaßnahmen unter Leitung eines Arztes durchzuführen, nicht nur bei Gefahr für die Gesundheit anderer für verfassungskonform, sondern auch bei Lebensgefahr und bei schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit des Gefangenen. Das aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitete Selbstbestimmungsrecht steht unter dem Vorbehalt der sogenannten Schrankentrias gemäß Art. 2 Abs. 1 GG. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG steht unter dem Gesetzesvorbehalt gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Sowohl unter dem Aspekt der verfassungsmäßigen Ordnung als auch nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gesetzlicher Einschränkungen darf das Selbstbestimmungsrecht nur eingeschränkt werden, wenn dies zum Schutze wichtiger Rechtsgüter geboten ist. Dies ist aber bei der Suizidverhinderungspflicht gemäß § 88 Abs. 1 StVollzG ebenso der Fall wie bei medizinischen Zwangsmaßnahmen zur Abwendung einer Lebensgefahr oder schwerwiegenden Gefahr für die Gesundheit des Gefangenen. Trotz prinzipieller Anerkennung des Rechts auf Selbsttötung und Selbstschädigung ist die staatliche Gemeinschaft befugt, solche Aktionen – jedenfalls in der Öffentlichkeit oder im Bereich der vollzuglichen Fürsorgepflicht des Staates – zu verhindern. Dahinter steht das Rechtsgut der mitmenschlichen Solidarität, dessen Verletzung auch die Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung gemäß § 323c StGB legitimiert. Hinzu kommt das Interesse des Staates, sich nicht durch spektakuläre Selbsttötungen oder lebensgefährdende Hungerstreiks erpressen zu lassen. Da Todesfälle im Strafvollzug in der Öffentlichkeit sehr häufig der Vollzugsbehörde angelastet werden, darf sich diese auch gegen die damit verbundene Diskreditierung in der Öffentlichkeit zur Wehr setzen. Hierbei handelt es sich nicht nur um politische Argumente, sondern um schützenswerte Rechtsgüter. Demgegenüber ist zu berücksichtigen, dass der Gefangene in der Vollzugssituation nur in eingeschränkter Freiheit handelt, in manchen Fällen durch den Solidari7 8
Kaiser/Schöch, Strafvollzug, 5. Aufl. 2002, § 7, Rn. 231. Laue, in diesem Band.
Schlussbemerkung
277
tätsdruck Gleichgesinnter sogar am Rande der Unfreiheit. Eine partiell unfreie Entscheidung des Gefangenen verdient keinen Vorrang vor den genannten Interessen der Allgemeinheit und den Vollzugsbehörden, Selbsttötungen im Strafvollzug zu verhindern. Diesem Gedanken trägt auch die Mitwirkungspflicht des Gefangenen an der Erhaltung seiner Gesundheit gemäß § 56 Abs. 2 StVollzG Rechnung. Auch diese ist nicht verfassungswidrig.
Schlussbemerkung Adolf Laufs
Der Arzt darf den Patienten nicht ohne dessen Einwilligung behandeln, und die Einwilligung ist nur wirksam, wenn der Patient weiß, worin er einwilligt (informed consent). Die durch die beiden ersten Artikel des Grundgesetzes gewährleistete Autonomie des Patienten als eines Subjektes, nicht eines Objektes der Behandlung, gebietet dessen Aufklärung vor dem Eingriff. Die ärztliche Aufklärungspflicht hat Gestalt und Inhalt gewonnen durch die richterliche Rechtsfortbildung vornehmlich des Bundesgerichtshofs im Rahmen von Haftpflichtprozessen. Medizinische Indikation und Einwilligung des aufgeklärten Patienten bilden ein Junktim der ärztlichen Behandlung. Anders als die Eingriffsaufklärung bezweckt die Sicherheitsaufklärung das gesundheitliche Wohl des Patienten: Sie dient dem therapierichtigen Verhalten im Interesse des Heilerfolges, zum Schutz vor Unverträglichkeitsrisiken, vor Nachteilen einer Fehleinschätzung des Heilverfahrens. Die Pflicht zur Sicherheitsaufklärung gebietet dem Arzt, den nachbehandelnden Kollegen oder den Patienten selbst über erhobene Befunde oder auch Zwischenfälle zur rechtzeitigen Einleitung oder Gewährleistung des medizinisch Notwendigen zu unterrichten. Versäumnisse sind solche der Gefahrsicherung, also Behandlungsfehler. Die ärztliche Pflicht zur Eingriffsaufklärung im Dienst der Selbstbestimmung und zur therapeutischen Information oder zur Sicherheitsaufklärung im Interesse des gesundheitlichen Wohls besteht auch in der intramuralen Medizin. Mit gutem Grund erklärt die Empfehlung des Europarates Nr. R (98)7 aus dem Jahr 1998 zur Gesundheitsfürsorge in Gefängnissen: „Sofern Gefangene nicht an einer Krankheit leiden, die sie unfähig macht, die Art ihres Leidens zu erkennen, sollten sie stets berechtigt sein, dem Arzt vor jeder medizinischen Untersuchung oder vor jedem Eingriff ihr aufgeklärtes Einverständnis zu geben, unter Vorbehalt der gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen. Die Gründe für jede Untersuchung sollten den Insassen deutlich erklärt und von ihnen verstanden werden. Die Indikation für jegliche Medikation sowie auch die möglicherweise auftretenden Nebenwirkungen sollten den Insassen erklärt werden“.
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Adolf Laufs
„Erste Aufgabe des Gefängnisarztes ist es, adäquate medizinische Versorgung sowie Beratung aller Gefangenen, für die er gesundheitsdienstlich zuständig ist, zu gewährleisten“. Dazu gehört die Prävention, die als ärztliche Herausforderung stark an Gewicht gewann, nicht nur im Zusammenhang der Drogenproblematik. Gesundheitliche Fürsorge gedeiht nur auf dem Boden der Freiwilligkeit. Über diese auch theoretisch nachzudenken, bleibt eine juristische Hauptaufgabe.
Schlussbemerkung Heinz Müller-Dietz
Meine Schlussbemerkungen können und sollen die Fülle und Vielfalt der Informationen und Eindrücke, die ich aus den Beiträgen des Symposions gewonnen habe, nicht annähernd ausschöpfen. Es muss daher bei einigen wenigen Streiflichtern bleiben, in denen sich allgemeine Aspekte mit Detailfragen mischen. In diesem Sinne ist der folgende Versuch einer Zusammenfassung zu verstehen:
I. Deutlich geworden ist – namentlich aufgrund der Mitteilungen von Ärzten, die im Rahmen des medizinischen Dienstes von Justizvollzugsanstalten tätig sind –, dass die Vollzugsmedizin gleichfalls schon längst die bittere Pille einschneidender Rationalisierungs- und Sparmaßnahmen schlucken muss. Verschiedenenorts stößt die als selbstverständliche Verpflichtung empfundene Zielsetzung, eine dem heutigen Stand wissenschaftlicher Erkenntnis und praktischer Erfahrung entsprechende Diagnostik und Therapie zu gewährleisten, an die Grenze ihrer Möglichkeiten. Zu diesen Schwierigkeiten tragen freilich auch allgemeine Probleme bei, die den Straf- und Maßregelvollzug seit einiger Zeit erheblich belasten. Dazu zählen neben der Überbelegung vieler Vollzugsanstalten auch gewichtige Veränderungen der Insassenstruktur, insbesondere die Zunahme suchtabhängiger, gewaltbereiter und ausländischer Gefangener (nicht zuletzt anderer ethnischer Herkunft und aus anderen Kulturbereichen). Um so mehr Anerkennung verdient das Bestreben der Anstaltsärzte und des Krankenpflegepersonals, die sich trotz widriger Rahmenbedingungen voll und ganz in den Dienst des medizinischen Heilauftrags stellen. Es ist indessen keine Frage, dass dieses Bemühen – ungeachtet aller Haushaltsprobleme der Länder – von den Landesjustizverwaltungen durch die erforderliche personelle, apparative und räumliche Ausstattung des medizinischen Dienstes und der Krankenhäuser des Justizvollzugs unterstützt werden muss. Die bestehenden Schwierigkeiten dürfen nicht zu einer medizinischen Unterversorgung führen, wie sie von psychiatrischer Seite etwa im Hinblick auf die notwendige Behandlung psychisch Kranker konstatiert worden ist. Gerade die letztere Erfahrung verweist jedenfalls insofern auf einen Bedarf an weiteren Investitionen im Bereich der Vollzugsmedizin, als geeignete andere Einrichtungen für eine entsprechende Un-
282
Heinz Müller-Dietz
terbringung und Behandlung besonderer Gruppen von Gefangenen nicht zur Verfügung stehen.
II. Uneingeschränkte Zustimmung verdient das von verschiedener Seite ausgesprochene Votum zugunsten einer stärkeren Verzahnung von intra- und extramuraler Medizin. Eine nachhaltigere Öffnung der Vollzugsanstalten und forensischen Kliniken für externe Ärzte, namentlich Fachärzte und medizinische Dienste außerhalb des Justiz- und Maßregelvollzugs, würde dazu beitragen, den Anschluss der Vollzugsmedizin an die extramurale zu wahren und an deren Fortentwicklung teilzuhaben. Vermutlich könnten dadurch auch Spannungen zwischen allgemeinmedizinischen Anforderungen und besonderen Vollzugsinteressen abgebaut werden, die im Vollzugsablauf immer wieder auftreten.
III. Nicht minder unterstrichen werden kann und muss das gleichfalls mehrfach vorgetragene Plädoyer für eine spezielle berufliche Vorbereitung auf die ärztliche Tätigkeit innerhalb des Justiz- und Maßregelvollzugs im Rahmen der medizinischen Ausbildung. Eine solche Spezialisierung müsste sich nicht zuletzt darauf erstrecken, angehende Ärzte mit den besonderen Rahmenbedingungen und Anforderungen in Vollzugsanstalten und forensischen Einrichtungen vertraut zu machen. Ob aus einer derartigen Vermittlung einschlägiger Kenntnisse und Fähigkeiten das eigenständige Berufsbild eines Facharztes für Vollzugsmedizin erwachsen müsste, ist zwar vor allem, aber nicht nur eine Frage der medizinischen Ausbildung selbst.
IV. Die rechtliche Regelung der medizinischen Versorgung im Justizvollzug ist gegenwärtig durch das Zusammenwirken und die wechselseitige Abhängigkeit verschiedener Rechtsmaterien gekennzeichnet. Erst die Zusammenschau von Strafvollzugs-, Sozialversicherungs- und Sozialhilferecht (StVollzG, SGB V, SGB XII) ergibt ein Gesamtbild, das auch die unterschiedliche (Rechts-)Stellung der verschiedenen Gruppen von Strafgefangenen auf diesem Gebiet widerspiegelt und einen Vergleich mit der einschlägigen Rechtsposition des krankenversicherten freien Bürgers ermöglicht. Insofern bildet die medizinische Versorgung im Vollzug nur ein Beispiel für die Komplexität, wenn nicht gar Unübersichtlichkeit des heutigen Rechts, die zugleich in der normativen Ausgestaltung der Stellung des Gefangenen ihren Ausdruck findet. Das StVollzG regelt in seinen §§ 56 ff. die
Schlussbemerkung
283
medizinische Versorgung der Gefangenen, die im Justizvollzug arbeiten oder dort, ohne sich in einem freien Beschäftigungsverhältnis zu befinden, aus welchen Gründen auch immer keiner Arbeit nachgehen, keineswegs abschließend. Vielmehr verweist es auf der Grundlage des Äquivalenzprinzips (§ 61 StVollzG) und des Angleichungsgrundsatzes (§ 3 Abs. 1 StVollzG) hinsichtlich Art und Umfang der Leistungen auf die Vorschriften, die nach dem SGB V für krankenversicherte freie Bürger gelten.
V. Freilich unterliegt die Angleichung an die medizinische Versorgung in Freiheit einer ganzen Reihe vollzugsbedingter und anderer, namentlich fiskalischer Einschränkungen – die etwa dazu dienen, den Justizhaushalt zu entlasten. Vollzugsbedingt ist insbesondere der Ausschluss der freien Arztwahl im Justizvollzug (§§ 56, 158 StVollzG). Die Gesundheitsfürsorge obliegt demnach dem medizinischen Dienst der Vollzugsanstalten. Vollzugsbedingte Unterschiede zwischen der Gesundheitsfürsorge im Vollzug und der medizinischen Versorgung in Freiheit werden auch darin sichtbar, dass § 101 Abs. 1 StVollzG die Möglichkeit einer Zwangsbehandlung bei Lebensgefahr oder schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit des Gefangenen eröffnet, was bei Patienten in Freiheit schlechterdings ausgeschlossen ist. Die im Rahmen des Symposions aufgeworfene Frage, ob jene Ermächtigung in verfassungswidriger Weise die freie Selbstbestimmung des Gefangenen einschränkt, dürfte indessen wegen des Vorrangs öffentlicher Interessen, insbesondere der Verpflichtung des Staates, im Rahmen seiner Möglichkeiten die Gesundheit des Gefangenen zu gewährleisten, zu verneinen sein. Dabei fällt nicht zuletzt der Umstand ins Gewicht, dass eine solche Zwangsbehandlung nur bei Vorliegen weiterer gewichtiger Voraussetzungen (Zumutbarkeits- und Gefährdungsklausel) zulässig ist. Fiskalischen Gesichtspunkten entspringen etwa Regelungen, wonach „die Kürze des Freiheitsentzugs“ Ansprüche des Gefangenen auf medizinische Leistungen einschränken oder gar ausschließen kann. Ein solches Beispiel hält § 59 Abs. 1 StVollzG bereit, der unter dieser Voraussetzung den Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln ausschließt.
VI. Unterschiede in der medizinischen Versorgung Gefangener, die sich als Freigänger in einem freien Beschäftigungsverhältnis befinden, und anderer Insassen lassen sich nur insoweit rechtfertigen, als zwingende vollzugsbedingte Gründe einer
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Heinz Müller-Dietz
Gleichbehandlung entgegenstehen.1 Dies gilt – aus Gründen des Äquivalenzprinzips und des Angleichungsgrundsatzes – generell für die medizinische Versorgung im Justizvollzug im Verhältnis zur allgemeinen Krankenversorgung. Praktische Bedeutung erlangen diese Grundsätze namentlich hinsichtlich der Ausgestaltung der Rahmenbedingungen für eine verfassungsgemäße medizinische Versorgung in den Vollzugsanstalten und forensischen Kliniken.
VII. Die Verweisung auf die Vorschriften des SGB V, wonach die medizinische Versorgung im Justizvollzug sich nach der für die krankenversicherten freien Bürger zu richten hat (§ 61 StVollzG), wirft die Frage auf, inwieweit Änderungen auf dem Gebiet der allgemeinen Krankenversorgung auch für Gefangene im Justizvollzug gelten. Dies lässt sich beispielhaft an den Zuzahlungspflichten veranschaulichen, die nach dem GMG vom 14. November 2003 (BGBl. I, 2190) nunmehr Krankenversicherte treffen. Pars pro toto mag dafür die sog. Praxisgebühr von 10 € stehen, die nach § 61 Satz 2 SGB V je Kalendervierteljahr zu zahlen ist. Bisher ist man davon ausgegangen, dass solche Zuzahlungspflichten für Strafgefangene nicht bestehen. Neuerdings werden sie indessen unter Bezugnahme auf die Verweisungsnorm des § 61 StVollzG zumindest dem Grunde nach bejaht, wenn auch hinsichtlich der Höhe Abstriche im Hinblick auf die meist ungünstigen Einkommens- und Vermögensverhältnisse vorgenommen werden.2 Jedoch fehlt es bis dato bezeichnenderweise, soweit ersichtlich, an rechtlichen Regelungen, die etwaige Leistungspflichten der Gefangenen an die besondere Situation im Justizvollzug anpassen würden. Jenseits der Frage, ob solche Verpflichtungen de lege lata überhaupt begründet sind oder de lege ferenda angemessen wären, bliebe immerhin zu bedenken: Eine – wenn auch eher symbolische – Beteiligung Gefangener an den Kosten gesundheitlicher Versorgung könnte ihren Blick dafür schärfen helfen, dass der Angleichungsgrundsatz keineswegs nur Annehmlichkeiten und Ansprüche zu begründen vermag, sondern auch Pflichten und Leistungen.
VIII. Weitere Probleme dürften für die medizinische Versorgung im Justizvollzug dann entstehen, wenn das in der sog. Föderalismuskommission diskutierte Vorhaben verwirklicht werden sollte, in Änderung der gegenwärtigen verfassungsrechtlichen 1
2
Bettina Kirschke, Medizinische Versorgung im Strafvollzug. Eine Untersuchung und Bewertung unter besonderer Beachtung des freien Beschäftigungsverhältnisses und versicherungsrechtlicher Probleme, Hamburg 2003. Annika Blüthner, Kostenlose medizinische Versorgung im Justizvollzug oder Zuzahlungspflicht für Gefangene?, ZfStrVo 2005, H. 2.
Schlussbemerkung
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Lage (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) die Gesetzgebungszuständigkeit auf dem Gebiet des Strafvollzugs den Ländern zu übertragen. Dies hätte zur Folge, dass an die Stelle des bundesweit geltenden StVollzG sechzehn Landesgesetze den Bundesgesetzen gegenüberstünden, die das Recht der sozialen Sicherung (SGB V) und der sozialen Hilfe (SGB XII) regeln. Abgesehen von zusätzlichen, hier nicht zu erörternden Problemen, die eine solche Kompetenzverlagerung mit sich bringen würde3, würde dies jedenfalls die ohnehin schon bestehende Komplexität, wenn nicht gar Unübersichtlichkeit der in verschiedenen Gesetzen geregelten medizinischen Versorgung noch steigern. Infolge der dann eintretenden Uneinheitlichkeit der Rechtslage könnten ohnehin schon bestehende Schwierigkeiten, namentlich Engpässe, auf dem Gebiet der medizinischen Versorgung im Justizvollzug weiter zunehmen. Dies könnte zugleich die Anpassung an die europäischen Standards erschweren, die in verschiedenen internationalen Dokumenten – namentlich in den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen von 1987 – niedergelegt sind.
3
Heinz Müller-Dietz, Strafvollzugsrecht als Ländersache?, ZfStrVo 2005, 38 ff.
Schlussbemerkung Horst Schüler-Springorum
Worum es dem Veranstalter, Professor Dr. jur. Dr. h.c. Thomas Hillenkamp, ging, erschließt sich präzise aus dem Untertitel: „Gesundheitsfürsorge zwischen Heilauftrag und Strafvollzug“. Mit der Bezugnahme auf den „klassischen“ Eingriffstatbestand in das Grundrecht der körperlichen Bewegungsfreiheit (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) blieben andere Spielarten des Freiheitsentzuges – wie etwa die Untersuchungshaft oder Maßregeln nach §§ 63 ff StGB – „grundsätzlich“ außerhalb des Themas; Relevanzen des in Heidelberg Verhandelten auch für jene Haftformen bleiben freilich unberührt. Wie nicht anders zu erwarten, entfaltete sich in Referaten und Diskussionen ein ganzer (Mikro- oder Makro-?)Kosmos von vielfältig miteinander verschlungenen Problemlagen und dazugehörigen rechtlichen Regelungen. Aussagen zur „Gesundheitsfürsorge“ gehören zwar seit eh und je zum Strafvollzugsrecht, wie denn die §§ 56 bis 66 StVollzG bis heute die sedes materiae zusammenfassen. Reiz und Erkenntnisgewinn des Symposions bestanden indessen darin, jenen Kosmos „zeitgemäß“ auszuleuchten, und das will heißen unter den Vorgaben der modernen Informationsgesellschaft und ihrer Auswirkungen auf das Ethos des Arztes und die informationelle Selbstbestimmung der Gefangenen. Dabei erwies sich alsbald (neben der neuerdings wieder aktuellen Lungentuberkulose) das Thema Drogen als das vielleicht aktuellste von allen. Sich eines „drogenfreien Knastes“ zu rühmen, würde heute wohl kein Anstaltsleiter mehr wagen. Stattdessen beherrschten Fragen wie Spritzenvergabe und Spritzentausch, HIV-Prophylaxe und die Aufklärung über eine bereits diagnostizierte HIV-Infektion die Diskussion. Hier wirken u.U. moralische Grundpositionen bis in die jeweilige Strafvollzugs-Politik hinein, so z.B. anlässlich der Beendigung des „Spritzen-Projekts“ in Niedersachsen infolge des Sieges der CDU bei den jüngsten Landtagswahlen. Entsprechend facettenreich gestalten sich Position und Funktionen des Arztes im und/oder für den Strafvollzug. Sein Berufsbild und sein Selbstverständnis variieren je nachdem, ob er als vollzeitlich im Gefängnis wirkender Anstaltsarzt oder als von „draußen“ Kommender tätig ist, und um welchen physischen oder psychischen Leidens willen er beansprucht wird. Hinter Gittern praktiziert, stellen sich auch die Aufklärung durch den Arzt und das Einverständnis des Gefangenen im Sinne eines „informed consent“ als eine vollzugsspezifisch eingefärbte Kommuni-
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Horst Schüler-Springorum
kation dar. Veritable Drahtseilakte schließlich zwischen Schweigepflicht und Offenbarungspflicht finden sich im vieldiskutierten § 182 StVollzG „geregelt“. Kranksein im Vollzug (und damit ohne freie Arztwahl) ist eben etwas anderes als Kranksein draußen, und für das „Arztsein im Vollzug“ gilt das Gleiche. Erst wenn der Gefangene den Status eines regulär beschäftigten Freigängers mit allen (kranken- und versicherungsrechtlichen) Konsequenzen erklimmt, hat sich das Blatt gewendet. „Der Strafvollzug“ – auch das wurde in Heidelberg natürlich zitiert – „ist ein Spiegelbild der Gesellschaft“. Wo im Vollzug Fürsorge für die Gesundheit geleistet wird, geht es allerdings nicht darum, ein Stück „Gesellschaft“ nur abzubilden, sondern darum, ein Stück gesamtgesellschaftliche Normalität intra muros zu realisieren. Eben dies meint das Postulat einer größtmöglichen „Äquivalenz“ mit den Gegebenheiten extra muros. Wo immer dem Anspruch des Gefangenen auf Gesundheitsfürsorge „äquivalent“ Rechnung getragen wird, ist damit zugleich dem allgemeinen Angleichungsgrundsatz in § 3 Abs. 1 StVollzG Genüge getan. Insofern – und auch das hat das Symposion verdeutlichen können – birgt das Thema insgesamt ein beträchtliches „innovatives Potential“. Warum, so wurde Hillenkamp zwischendurch einmal gefragt, habe er das Thema denn überhaupt für eine solche Tagung ausgewählt? Leider erinnere ich seine Antwort nicht. Hätte ich sie geben müssen, wäre ich wohl auf die beliebte englische Reaktion auf überflüssige Warum-Fragen verfallen: „Just because!“, also: „Eben drum!“
Schlussbemerkung Hans-Dieter Schwind
Mich interessieren an der Thematik meiner Sektion (auch aus biographischen Gründen) vor allem die kriminalpolitischen Aspekte. Deshalb bin ich wohl auch eingeladen worden. Schon das Strafvollzugsgesetz selbst ist das Ergebnis von Kriminalpolitik, die sich die Reform der reformbedürftigen Praxis zum Ziel gesetzt hatte. Der Gesetzgeber konnte damals allerdings noch nicht von den gravierenden neuen Problemen ausgehen, mit denen der Strafvollzug heute zu tun hat. Beispiele dafür: -
der hohe Ausländer- bzw. (Spät-) Aussiedleranteil unter den AnstaltsInsassen,1 Drogenprobleme, die seinerzeit nahezu unbekannt waren, Infektionskrankheiten.
Alle drei Problemkreise hängen eng miteinander zusammen. Zu den Sucht- und Infektionsgefahren hat Klaus Laubenthal in unserer Sektion aus der empirischen Forschung Prozentzahlen zur Verfügung gestellt, die ich in absolute Zahlen umrechnen möchte, um deutlich zu machen, wovon wir hier sprechen. Anschließend will ich in sechs weiteren Bemerkungen Stellung zu den Ergebnissen unserer Sektion nehmen bzw. einen Ausblick versuchen.
I. Geht man von den derzeit 60.000 Strafgefangenen aus, die in den Strafvollzugsanstalten der Bundesrepublik einsitzen, ergibt sich aufgrund von empirisch gestützten Schätzungen, also keinen Blindschätzungen, gerundet das folgende Bild:
1
Dazu Schwind, H.-D.: Kriminologie. 15. Auflage, Heidelberg 2005, §§ 23-25; ferner Schwind, H.-D.: Nichtdeutsche Straftäter – eine kriminalpolitische Herausforderung, die bis zum Strafvollzug reicht. In: Festschrift für Alexander Böhm zum 70. Geburtstag. Berlin 1999, S. 323-361.
290 -
-
Hans-Dieter Schwind
12.000 (mittlere Schätzung: 20%) der Insassen sind mehr oder weniger alkoholabhängig; 15.000 (mittlere Schätzung: 25%; eigene Schätzung: 30%) konsumieren mehr oder weniger harte Drogen, also Heroin oder Kokain; Cannabis-Produkte verbrauchen mindestens 50% (eigene Schätzung: 70%) der Strafgefangenen öfter oder weniger oft; 600 Strafgefangene (mittlere Schätzung: 1%) sind HIV-infiziert.
Manchen Kritikern solcher Zahlen mögen sie zu hoch, manchen zu niedrig erscheinen. Verharmlosen sollte man die Probleme des Drogenkonsums, die den Strafvollzug erheblich belasten, aber nicht. Auch ein Anzweifeln der Zahlen mit dem Hinweis, man müsse sich selbst erst einmal mit der Methodik der zugrunde liegenden Untersuchungen befassen (was man bisher offenbar nicht getan hat), hilft nicht weiter. Der Vollzugsalltag wird jedenfalls in hohem Maße durch die Suchtproblematik mitgeprägt. Wer das leugnet, dem bleibt nur übrig sich auf Christian Morgenstern zu berufen: „Was nicht sein darf, das nicht sein kann.“ Für ernst zu nehmende Kriminalpolitiker stellt sich hingegen (erstens) die Frage, ob bzw. inwieweit der Resozialisierungsauftrag des Gesetzgebers in § 2 S. 1 StVollzG vor dem Hintergrund der Drogenprobleme überhaupt noch effektiv erfüllt werden kann. Mit der entsprechenden Lagebeurteilung ist (zweitens) die Frage verbunden, ob unser Strafvollzug aus Sicherheitsgründen mehr an Abschottung braucht. Behandlungsvollzug i.S. von „Chancenvollzug“ kann sich jedenfalls nur dann voll entfalten, wenn die Außenkontakte nicht (in erheblicher Weise) missbraucht werden können.2 Eine solche Konzeption kann auch (drittens) der Bevölkerung, ohne deren Unterstützung der moderne Strafvollzug nicht auskommen kann, besser erklärt werden. Derzeit nimmt die Akzeptanz des Resozialisierungsgedankens nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der erwähnten Problematik immer mehr ab.3
II. Infektionsgefahren beziehen sich vor allem auf die 2
3
(Aids auslösende) HIV-Infizierung, auf eine Hepatitis B- oder C-Infizierung und auf eine Tuberkulose-Erkrankung: offene (und daher behandlungsbedürftige) Tbc. Vgl. dazu Schwind, H.-D.: Orientierungspunkte der (Straf-)Vollzugspolitik. In: Festschrift für Rotthaus zum 65. Geburtstag (Strafvollzug in den neunziger Jahren), Paffenweiler 1995, S. 216-223. Vgl. dazu Schwind, H.-D.: Bevölkerungsumfragen zur Akzeptanz des Resozialisierungsgedankens. In: Festschrift für Müller-Dietz zum 70. Geburtstag. München 2001, S. 841-855.
Schlussbemerkung
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Aktuelle niedersächsische Zahlen dazu zeigen4: Unter den rund 5.800 Strafgefangenen, die in diesem Bundesland einsitzen, befanden sich (Stand 2004) 50 HIVErkrankte, 65 Hepatiden und 14 Tbc-Fälle. Sind das viel oder sind das wenig? Die Zahlen scheinen insoweit jedenfalls nicht dramatisch zu sein. Sie beziehen sich allerdings naturgemäß nur auf das Hellfeld. Die Crux ist das Dunkelfeld. Nicht wenige Gefangene verheimlichen ihre Sucht bzw. Erkrankung, um die Besuchsmöglichkeiten bzw. die Gewährung von Vollzugslockerungen nicht zu gefährden. Darauf hat vor allem Gisela Dahl in ihrem Co-Referat hingewiesen.
III. Spritzenaustauschprogramme sind umstritten. In Niedersachsen (dort liefen Modellprojekte in den JVAen Vechta und Lingen, Abt. Groß-Hesepe) ist das geschehen, weil „bis heute ein infektionsprophylaktischer Effekt nicht nachgewiesen werden konnte“5. Dementsprechend wurden beide Programme zum 1. Juni 2003 eingestellt. Aus politischen Gründen ist das begrüßt worden, weil es wenig glaubwürdig klingt, wenn der Staat seine eigenen Drogenverbote selbst unterläuft.
IV. Die Subkultur in unseren Strafanstalten, auch das sollte man nicht verdrängen, wird heute vor allem durch den Drogenhandel bestimmt, der nicht zuletzt in der Hand inhaftierter Ausländer liegt, vor allem solchen aus Osteuropa und der Türkei. Wie kommt der „Stoff“ in die Anstalten? Müssen die Kontrollen der Lockerungen und Besuche verstärkt werden oder die Zellenkontrollen? Muss dafür das Personal aufgestockt werden und ist das bezahlbar?
V. Eine der Gruppen, die in Bezug auf Sucht- und Infektionsgefahren besonders Sorgen bereitet, ist die der (jungen) (Spät-) Aussiedler aus den Gebieten der früheren Sowjetunion, die (primär) aus Kasachstan und Kirgisien stammen und bereits drogenabhängig bzw. Tbc-krank in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind. In dieser Gruppe sind vor allem Hepatitis C-Erkrankungen, wie wir von Klaus Laubenthal gehört haben, weit verbreitet, und zwar auch außerhalb des Freiheitsentzuges. Diese Beobachtungen werfen die Frage auf, weshalb solche 4
5
Aus der Antwort der niedersächsischen Landesregierung vom 9. Juli 2004 (Drucks. 15/1192) auf eine Kleine Anfrage vom 10. Mai 2004. Vgl. Hasenpusch, B./ Steinhilper, M.: Spritzenausgabe im Gefängnis. ZfStrVo 6/2003.
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Hans-Dieter Schwind
Probleme nicht bereits bei der Zuwanderung ärztlich gelöst werden konnten bzw. weshalb es möglich ist, dass es unser Staat zulässt, dass durch Migranten im größeren Umfang Krankheiten „eingeschleppt“ werden. Ist der Gesetzgeber letztlich gefragt?6
VI. Ferner wurde besprochen, ob unter § 36 Abs. 4 S. 7 des Infektionsschutz-Gesetzes (IfSG), eine Vorschrift, die die Pflicht zur Duldung ärztlicher Untersuchungen auf übertragbare Krankheiten statuiert, auch Blutuntersuchungen fallen. Es ging also darum, ob auch Blutuntersuchungen zwangsweise durchgeführt werden dürfen. Laubenthal hat das mit überzeugender Begründung bejaht. Da Mitarbeiter bzw. Herausgeber aller vier großen Strafvollzugskommentare an dieser Tagung teilnahmen, wurde deren Sicht abgefragt mit folgendem Ergebnis: Müller-Dietz7 und Arloth8 sowie Riekenbrauck9 teilten im Ergebnis die Auffassung Laubenthals, während Bötticher10 anderer Auffassung war. Salopp sportlich betrachtet: ein 3 zu 1-Ergebnis für Laubenthal: allerdings wurde von Bötticher geäußert, noch ein 4 zu 0-Ergebnis für seine Einschätzung (durch Überzeugungsarbeit) herbeiführen zu können. Für die Rechtsprechung besteht jedenfalls ein Klärungsbedarf.
VII. Die Fürsorgepflicht des Staates erfordert nicht nur eine zeitgemäße Gesundheitsfürsorge, sondern auch den Schutz der Mitarbeiter und nicht zuletzt der gesunden Mitgefangenen vor einer Ansteckung. Auch wenn die Ansteckungsgefahren gering sein sollten, was behauptet wird, muss insoweit Folgendes gelten: Die Strafe besteht nur im Freiheitsentzug und nicht in dem zusätzlichen Risiko einer eventuellen Ansteckung mit AIDS, Tbc oder Hepatitis. Inhaftierte AIDS-Kranke werden in Niedersachsen auf dem Gnadenwege meist vorzeitig in die Freiheit entlassen. Diese Praxis kann man allerdings auch kritisch betrachten. Niedersachsen arbeitet jedoch insoweit (wie andere Bundesländer das ebenso tun) mit dem Suchtberatungsdienst und der AIDS-Hilfe (Niedersachsen) zusammen.
6
7 8 9 10
Zu den bisherigen gesetzlichen Grundlagen vgl. Schwind, H.-D. aaO (Fn. 1) Rdn.19 ff zu § 25. Calliess, R.P./Müller-Dietz, H.: Strafvollzugsgesetz. 10. Auflage, München 2005. Arloth, F./Lückemann, C.: Strafvollzugsgesetz. München 2004. Schwind, H.-D./Böhm, A./Jehle, J.-M.: Strafvollzugsgesetz. 4. Auflage, Berlin 2005. AK-StVollzG: Alternativkommentar zum Strafvollzug. 4. Auflage 2000.
Schlussbemerkung
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VIII. Vom Veranstalter wurde schließlich ein „Ausblick“ verlangt. Dazu folgender Versuch einer Prognose, die aber auch falsch sein kann wie mancher Wetterbericht: Der Anteil kranker und behandlungsbedürftiger Inhaftierter wird im Rahmen der erwarteten Migration11 nach der EU-Osterweiterung steigen, weil in den Beitrittsländern Erkrankungen, wie sie hier besprochen wurden (und zwar nicht nur hinter Gittern), weit häufiger vorkommen, als das hierzulande der Fall ist. Diese werden sich zwangsläufig in den Alt-EU-Ländern (vor allem in Deutschland) 12 über erkrankte Migranten verbreiten, wie das bereits im Rahmen der Zuwanderung der Spätaussiedler aus den GUS-Staaten der Fall war. Der Strafvollzug muss Vorsorge treffen, auch wenn das Geld kostet. Behandlungsvollzug beginnt jedenfalls mit der Gesundheitsfürsorge.
11 12
Dazu Schwind aaO (Fn. 1). Das renommierte Ifo-Institut München geht von 4-5 Millionen Jobsuchern aus, die in den nächsten 15 Jahren „gen Elbe und Rhein ziehen werden“ (zit. nach DER SPIEGEL 8/2001, 116). Ganz unwahrscheinlich scheint diese Schätzung nicht zu sein; immerhin wechselten rund eine Million Menschen (primär Jobsucher) nach der Wiedervereinigung unseres Landes (seit 1990) aus den neuen Bundesländern in den Westen. 67% der wanderungsbereiten Arbeitnehmer aus den neuen EU-Beitrittsstaaten möchten nach Schätzungen der EU-Kommission (zit. nach FAZ vom 23. März 2001) nach Deutschland einreisen, weil hier schon Verwandte oder Bekannte zu Haus sind. Das wären dann (Arbeitsscheue, Penner, Prostituierte usw. gar nicht gerechnet) etwa 3 Millionen Personen. Geht man nun davon aus, dass jeder 1000. Bürger (wie hierzulande) im Strafvollzug einsitzt, würde sich die Insassenzahl in den deutschen Strafvollzugsanstalten um (mindestens) 3000 erhöhen. Es können natürlich auch weniger sein. Mehr spricht allerdings dafür, dass es mehr sind, und zwar deshalb, weil jüngere Migranten nach bisheriger Forschungserfahrung in krimineller Hinsicht auffälliger sind als die Vergleichspopulation der deutschen Mehrheitsgesellschaft (vgl. Schwind aaO Fn. 1, S. 458, 462, 467).
Schlussbemerkung Dieter Dölling
Im Folgenden möchte ich einige Erwägungen anstellen, die den gesamten Verlauf des Symposions betreffen. Es hat sich gezeigt, dass einige Probleme der Medizin im Strafvollzug Fragestellungen ähneln, die auch in anderen Bereichen der Strafrechtspflege erörtert werden. Das gilt zunächst für Fragen der Spezialisierung, Aus- und Fortbildung. Die intramurale Medizin stellt besondere Anforderungen an den Arzt im Strafvollzug, die durch die allgemeine Medizinerausbildung nicht abgedeckt werden. Ähnlich verhält es sich in der Jugendstrafrechtspflege, die spezielle Kenntnisse erfordert, die in der allgemeinen Juristenausbildung nicht vermittelt werden. In beiden Bereichen bedarf es daher einer besonderen Berufsvorbereitung. Es ist somit erforderlich, dem Arzt, der seine Tätigkeit im Strafvollzug beginnt, die benötigten besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln. Hierzu bedarf es nicht der Einführung eines neues Facharztgebiets, es sollten aber Einführungskurse veranstaltet werden, die mit den Besonderheiten der Tätigkeit des Arztes im Strafvollzug vertraut machen. Außerdem sollten regelmäßig Fortbildungskurse zu vollzugsspezifischen Themen angeboten werden. Eine weitere Parallele zu anderen Bereichen der Strafjustiz ergibt sich im Hinblick auf die Doppelstellung des Anstaltsarztes, der einerseits dem ärztlichen Heilauftrag und andererseits in bestimmtem Umfang den Vollzugsaufgaben verpflichtet ist. Doppelstellungen haben auch der Bewährungshelfer und der Jugendgerichtshelfer, die Hilfs- und Kontrollfunktionen zu erfüllen haben. Das Spannungsverhältnis zwischen diesen Pflichten ist häufig erörtert worden. Wie die Praxis zeigt, können die Bewährungs- und Jugendgerichtshelfer im Rahmen ihrer Doppelstellung sachgerechte Arbeit leisten, wenn sie die Probanden bei der Kontaktaufnahme darüber informieren, welche Aufgaben, Rechte und Pflichten die Bewährungsbzw. Jugendgerichtshilfe hat, so dass sich die Probanden hierauf einstellen können. Das Gleiche dürfte für den Arzt im Strafvollzug gelten. Im Hinblick auf die tatsächliche Situation der intramuralen Medizin bestehen große Forschungslücken. Es müsste systematisch erhoben werden, wie der Gesundheitszustand der Gefangenen zu Beginn des Vollzugs ist, wie er sich im Verlauf des Vollzugs entwickelt und welcher Status am Ende des Vollzugs besteht. Außerdem müsste untersucht werden, welche personellen und sachlichen Ressourcen der Anstaltsmedizin zur Verfügung stehen, welche Behandlungsmaßnah-
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Dieter Dölling
men ergriffen werden und inwieweit extramurale Ärzte beigezogen werden und Verlegungen in Vollzugskrankenhäuser und Krankenhäuser außerhalb des Vollzugs erfolgen. Auf diese Weise könnte eine empirische Grundlage für die Beantwortung der Frage geschaffen werden, inwieweit die Medizin im Strafvollzug den Anforderungen des Äquivalenzprinzips genügt. Erforderlich sind methodisch fundierte Untersuchungen mit repräsentativen Stichproben. Solange diese nicht vorliegen, ist bei Aussagen über die Verbreitung bestimmter Krankheitsbilder im Strafvollzug große Vorsicht geboten. Solche Aussagen setzen Daten voraus, die auf sorgfältigen Diagnosen beruhen. Befunde, die in einzelnen Anstalten erhoben worden sind, können nicht ohne weiteres auf den gesamten Strafvollzug verallgemeinert werden. Bei „Schätzungen“ ist zu fragen, auf welchen Grundlagen diese Schätzungen beruhen und inwieweit diese Grundlagen tragfähig sind. Auch bei Aussagen über „Erfolge“ von Projekten der Gesundheitsprävention oder der Behandlung von Krankheiten im Strafvollzug ist darauf zu achten, ob eine den Regeln der Evaluationsforschung genügende Begleituntersuchung vorliegt. Hierzu gehört insbesondere, dass die Begleitforschung nicht nur von den Projektbetreibern selbst durchgeführt wird. Außerdem sollte, wenn dies möglich ist, eine Kontrollgruppe gebildet werden. Es wäre somit wünschenswert, wenn der empirischen Erforschung der Medizin im Strafvollzug in Zukunft größere Aufmerksamkeit geschenkt würde.
Schlussbemerkung Rainer Rex
Äquivalenz, WHO-Standards und europäische Ministerratsempfehlungen sind nicht einklagbar und längst keine relevanten Größen mehr, durch die sich Justizverwaltungen gefordert fühlten, doch befinden diese sich zunehmend im Würgegriff fiskalischer Vorgaben. Inzwischen haben die Haushälter die Regie voll übernommen: Jährliche Kürzungen im Personal- und Sachmittelhaushalt werden von den Justizverwaltungen in die Anstalten durchgestellt. Die Konkurrenz zwischen kustodialer Mehrheit und der Minderheit des „weißen Dienstes“ der Anstalten ist bereits voll entbrannt – und die Frage, wer am längeren Hebel sitzt, ist rein rhetorisch. Dies in einer Situation, in der das subjektive Bedrohtheitsempfinden der Gesellschaft – durch die Medien geschürt – sich in Gesetze kondensiert, die auf immer längeres Wegsperren abzielen, ohne die Folgen zu berechnen. Das schafft neben dem Überschreiten aller Kapazitätsgrenzen auch eine Vermehrung kostspieliger Kranker im Vollzug. Das Primat der Sicherheit hat das der Medizin auf den Nachrang verwiesen. Als Konsequenz wird eine verengte funktionalisierende Betrachtung der Vollzugsmedizin und das Anlegen von Messlatten erkennbar, die externen andersartig strukturierten medizinischen Versorgungssystemen entlehnt sind, die besonderen Rahmenbedingungen und die Rechte der Gefangenen auf angeglichene Gesundheitsfürsorge jedoch unberücksichtigt lassen. Es ist deutlich geworden, dass Gesundheitsfürsorge im Vollzug komplizierter und auch aufwendiger ist – u.a. weil Ärzte im Vollzug lückenfüllend vollzugliche Betreuungsdefizite mitbearbeiten müssen. Die Vorstellung obwaltet, dass unter dem Druck reduzierter finanzieller Ressourcen Selbstregulationskräfte schon irgendwie zur Mobilisierung von nicht definierten Rationalisierungsreserven führen würden – ohne Einbuße an Qualität. Dazu müssten die Länder allerdings erst einmal die Kosten für die Gesundheitsfürsorge nach gleichartigen Kriterien ermitteln und diese preisgeben. Ohne dies und ohne die Einigung auf Qualitätsindikatoren und Schaffung einheitlicher Controllinginstrumente ist es unsinnig, den Ärzten die Ressourcenverantwortung übertragen zu wollen. Letztlich können wir Ärzte uns dieser Verantwortung jedoch nicht entziehen. Wir müssen uns darauf einstellen, den Beweis anzutreten, dass vorhandene
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Rainer Rex
Ressourcen verantwortungsvoll und wirtschaftlich eingesetzt werden und organisatorische Spielräume ausgeschöpft sind. Das Allheilmittel (knapper) Budgetierung scheint mir aus verschiedenen Gründen nur eingeschränkt anwendbar: -
Der Zugang von Gefangenen mit aufwendigen Krankheiten ist nicht steuerbar. Im Vollzug sind überwiegend zu kleine Einheiten vorhanden, die teure Behandlungsmaßnahmen im Gegensatz zur GKV nicht auffangen können. Die objektiven gesundheitlichen Erfordernisse können nicht budget-abhängig relativiert werden Die Personalstruktur (als Kostenfaktor) ist weithin nicht beeinflussbar.
Was ist die anstehende Aufgabe? 1.
Aufgabe der Abschottung der Länder gegeneinander. Ermittlung und Vergleich der Gesundheitskosten. Dazu gehören die tatsächlich entstehenden Personalkosten auch des in diesem Sachzusammenhang aufgewendeten Vollzugspersonals. Nur so können die kostenmäßigen Auswirkungen unterschiedlich personell und medizin-technisch ausgestatteter ärztlicher Dienste und die Verfügbarkeit oder das Fehlen von Vollzugskrankenhäusern erfasst und bewertet werden und in Steuerungsentscheidungen einfließen.
2.
Auf dieser Grundlage muss die Planung eines abgestuften vollzuglichen Versorgungssystems erfolgen, das tunlichst Ländergrenzen übergreifen sollte: -
-
-
Wie viele Vollzugskrankenhäuser werden an welchen Standorten benötigt? Wie können sie arbeitsteilig arbeiten und damit Synergieeffekte nutzbar machen? Wie müssen sie, aber auch zentral-medizinische Ambulanzen, Pflegeabteilungen und das normale Revier ausgestattet sein, um die gleichwertige Versorgung wirtschaftlich und inhaltlich zu gewährleisten und die Häufigkeit der Inanspruchnahme externer Gesundheitseinrichtungen auf das erforderliche Mindestmaß zu begrenzen? Wofür sollen regions- ggf. länderübergreifend medizinische Kompetenzzentren geschaffen werden, auf die die primärärztliche Versorgung zurückgreifen kann, um allgemeine Qualitätsstandards sicherzustellen? Wie können Vollzugsärzte auf ihre in Freiheit so komplex nicht gegebenen Aufgaben vorbereitet und der Erwerb der notwendigen Fachkunde sichergestellt werden?
Schlussbemerkung
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Das alles setzt voraus, dass auch bei den im Vollzug tätigen Ärzten Einsichten in die eigene Begrenztheit und in Risiken, die aus der groben Überschreitung der eigenen Fachgebietsgrenzen erwachsen, nicht länger verdrängt werden und weiterhin die Erkenntnis gefördert wird, dass die Bifunktionalität unausweichlich ist, aber dem Primat der Medizin der Vorrang gegenüber der Selbstzensur gebührt.
Autorenverzeichnis Prof. Dr. iur. Knut Amelung Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtstheorie, Technische Universität Dresden Ministerialrat Prof. Dr. iur. Frank Arloth Bayerisches Staatsministerium der Justiz, München Leitender Medizinaldirektor Dr. med. Hans Eugen Bisson Ärztlicher Direktor des Justizvollzugskrankenhauses Hohenasperg Dr. iur. Axel Boetticher Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Medizinalreferentin Dr. med. Gisela Dahl Justizministerium Baden-Württemberg, Stuttgart Prof. Dr. iur. Dieter Dölling Direktor des Instituts für Kriminologie, Universität Heidelberg Prof. Dr. med. Klaus Foerster Leiter der Sektion Forensische Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum der Universität Tübingen Medizinaldirektor Dr. med. Klaus J. Fritsch Justizvollzugsanstalt Bremen-Oslebshausen Prof. Dr. iur. Görg Haverkate Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Allgemeine Staatslehre, Sozialrecht, Universität Heidelberg Prof. Dr. iur. Dr. h.c. Thomas Hillenkamp Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, Universität Heidelberg; Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim Prof. Dr. iur. Dr. h.c. Peter Hommelhoff Rektor der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
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Autorenverzeichnis
PD Dr. iur. utr. Ralph Ingelfinger Universität Heidelberg Medizinaldirektor Dr. med. Karlheinz Keppler M.A. Justizvollzugsanstalt für Frauen, Vechta Dr. iur. Bettina Kirschke Rechtsassessorin, Berlin Prof. Dr. iur. Klaus Laubenthal Lehrstuhl für Kriminologie und Strafrecht, Universität Würzburg; Richter am Oberlandesgericht Bamberg Dr. iur. utr. Christian Laue Institut für Kriminologie, Universität Heidelberg Prof. Dr. iur. Dr. h.c. Adolf Laufs em. Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, Universität Heidelberg; ehemaliger Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim Prof. Dr. iur. Bernd-Dieter Meier Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie, Universität Hannover Prof. Dr. iur. Dr. h.c. Heinz Müller-Dietz em. o. Professor an der Universität des Saarlandes Dr. med. Wolfgang Riekenbrauck Ärztlicher Direktor des Justizvollzugskrankenhauses NW, Leitender Arzt der Inneren Abteilung, Fröndenberg Dr. med. Rainer Rex Ärztlicher Leiter des Gesundheitswesens im Berliner Justizvollzug, Krankenhaus der Berliner Vollzugsanstalten, Alt-Moabit, Berlin Prof. Dr. iur. Heinz Schöch Lehrstuhl für Strafrecht, Kriminologie, Jugendrecht und Strafvollzug, Universität München Prof. Dr. iur. Horst Schüler-Springorum em. Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Kriminologie, Jugendrecht und Strafvollzug, Universität München
Autorenverzeichnis
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Prof. Dr. iur. Hans-Dieter Schwind em. Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie, Strafvollzug und Kriminalpolitik, Universität Bochum; Honorarprofessor an der Juristischen Fakultät der Universität Osnabrück Prof. Dr. iur. utr. Brigitte Tag Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, Universität Zürich Prof. Dr. iur. Jochen Taupitz Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Zivilprozeßrecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, Universität Mannheim; Geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim Leitender Regierungsdirektor Dr. iur. Joachim Walter Justizvollzugsanstalt Adelsheim Ministerialrat Dr. iur. Rüdiger Wulf Justizministerium Baden-Württemberg, Stuttgart