Das neue Abenteuer 088
Gerhard Achterberg: Jeder kennt Pratton
Verlag Neues Leben, Berlin 1956
V 1.0 by Dumme Pute ...
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Das neue Abenteuer 088
Gerhard Achterberg: Jeder kennt Pratton
Verlag Neues Leben, Berlin 1956
V 1.0 by Dumme Pute
Alle Rechte vorbehalten Lizenz Nr. 303 (305/67/56) Umschlagzeichnung: Fritz Ahlers, Prieros (Mark) Gestaltung und Typographie: Kollektiv Neues Leben Druck: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V15/30
Müde und abgespannt fuhr Kendall den Wagen in die Garage. Es war ein heißer Sommertag. Drückende Gewitterschwüle lastete jetzt am Abend über Chikago. Kendall schloß die Garage ab, überquerte den düsteren Hof und war zu Hause. Er fühlte sich sehr müde. Kein Wunder, mit fünfzig Jahren zählt man nicht mehr zu den Jüngsten! Und es ist keine Kleinigkeit, einen heißen Hundstag lang in dem brausenden Verkehr inmitten des Chikagoer Steinbaukastens am Lenkrad zu sitzen. Ein Brief lag im Kasten. Kendall warf ihn achtlos auf den Tisch und ging in die Küche. "Der ewige Schreibkram mit der Gewerkschaft", brummte er. "Die ehrenamtlichen Posten sind die verantwortungsvollsten!" Dennoch war er im Grunde stolz auf das Vertrauen seiner Kollegen, die ihn zum Gewerkschafts- und Kassenbevollmächtigten ihres Stadtbezirkes gewählt hatten. Natürlich, entscheidende Umwälzungen hatte er mit seinem dauernden Kleinkrieg gegen die Lohndrückerei der Verkehrsgesellschaften nicht herbeiführen können. Aber es war doch jedesmal ein neuer Triumph, wenn bei diesem oder jenem Unternehmerbetrieb eine weitere Herabsetzung der Löhne verhindert werden konnte! Kendall erinnerte sich manch dankbaren Blicks seiner Berufskollegen. Darum hatten sie ihn immer wieder gewählt, und schon jahrelang verwaltete er gewissenhaft die Gelder der Gewerkschaftskasse. Kendall wusch sich und verzehrte sein bescheidenes Abendbrot. Danach blieb er noch eine Weile auf dem Hocker in der Küche sitzen. Dies war so üblich bei ihm war gewöhnlich seine Feierabendstunde. Da konnte man so gut über alles nachdenken. Unglaublich, was einem da alles durch den Kopf ging .
Kendall lächelte wehmütig vor sich hin. Er stammte aus Irland. Vor zwanzig Jahren war er mit himmelwärts stürmenden Plänen in die Staaten gekommen. Damals war er noch eingesponnen gewesen von den abenteuerlich-romantisch-verlogenen Erfolgsgeschichten, die einem erzählten, daß man in Amerika sehr leicht und schnell vom Tellerwäscher zum Dollarmillionär aufsteigen könne. Die Wirklichkeit sah jedoch anders aus . Kendall zum Beispiel war froh, daß er nach vielem Auf und Ab endlich als Schofför bei der Gewerkschaft bleibende Arbeit gefunden hatte. Das war die Bilanz seines zwanzigjährigen Schaffens! Und das auch nur mit Hilfe seiner Kollegen, die ihn in die Gewerkschaft des internationalen Verbandes der Trade Union Unity League [T. U. U. L. = Internationaler Arbeiter-Gewerkschaftsverband in den USA, der dem Weltgewerkschaftsbund angeschlossen ist] gewählt hatten. Gut! Mit all dem wollte Kendall zufrieden sein. Schlimm war nur, daß das Schicksal ihn mit seiner Tochter Mabel schwer prüfte. Mabel, seinem einzigen Kind, das ihm nach dem Tode seiner Frau so viel bedeutete. Mabel bereitete ihm Kummer und Sorge. Eine dumme Geschichte mit dem Mädel! Kendall wollte die unerfreulichen Gedanken darüber vertreiben. Ihm fiel ein, daß er einen Brief bekommen hatte. Er ging in die Stube und las das Schreiben:
Als Kassenbeauftragter für die Gewerkschaft der Taxischofföre haben Sie bis morgen abend 3000 - in Worten: dreitausend - Dollar bereitzuhalten. Sie werden das Geld den Insassen des um 23 Uhr vor Ihrem Hause haltenden Autos aushändigen. Weigerung oder Verständigung der
Polizei ist zwecklos.
PRATTON!
Das Schreiben war mit der Maschine getippt. Nur die Unterschrift war mit Tinte geschrieben. Doch dieser Name genügte, Kendall einen Schrecken einzujagen. Seine Hand, die den Brief hielt, zitterte merklich. "Die Schufte, diese Schufte!" stieß er in unterdrückter Erregung hervor. Sein Gaumen war trocken, die Zunge klebte im Mund. Fahrigen Schrittes eilte er in die Küche und trank hastig ein Glas Wasser. Dann las er das Schreiben abermals, starrte auf die Unterschrift. PRATTON! Stünde dieser Name nicht da, hätte man das Schreiben einfach vernichten können. Doch "Pratton" war kein bloßer Name. Pratton war ein Begriff, der Terror, Angst und Schrecken auslöste! Im umfangreichen Buch der amerikanischen Kriminalgeschichte stand Pratton auf einem besonderen Blatt. Er galt seit einem Jahr als der gefährlichste Bandenführer. Ja, nach allem, was bisher über seine Untaten bekannt war, konnte man an die unseligen Zeiten eines Al Capone und an andere berüchtigte Bandenhäuptlinge erinnert werden. Wenn man seine verbrecherische Tätigkeit in einem Distrikt befürchten mußte, forderten die öffentlichen Banken und Kassen Polizeischutz an. In einigen Zeitungen wurde Pratton sogar als "Staatsfeind Nr. l" angeprangert. Seine Laufbahn hatte in New York begonnen. Dort hatte er die Anhänger einer sogenannten "Racketer-Bande" [Bezeichnung für die in den USA in den zwanziger Jahren erstmalig aufgetretenen organisierten Verbrecherbanden] um sich geschart. Diese typisch amerikanischen Verbrecherorgani-
sationen erpressen von den Geschäftsleuten aller Wirtschaftszweige Tribute. Weigert sich das Opfer, so lernt es die Brutalität, Hinterlist und Tücke der unerbittlichen Bande kennen. Es findet sich unversehens zerschlagen und zerschunden, mit Knochenbrüchen auf dem Straßenpflaster wieder, während gleichzeitig die Ladeneinrichtung oder das Geschäft durch Rowdys demoliert wird. Das schafft Respekt, schüchtert andere Widerspenstige ein und macht sie weich und zahlungswillig. Handelt es sich um einen standhaften Mann, so wird er kurzerhand beiseite gebracht. Eine solche Schreckensherrschaft hatte sich Pratton in New York aufgebaut. Die Polizei führte gegen ihn einen erfolglosen Kampff bis Robert Ellis den Feldzug gegen den Verbrecher eröffnete. Von diesem Tag an war Prattons Verbrecherhandwerk in New York erledigt. Ellis stöberte die Gangsterbande in ihren Schlupfwinkeln auf, versprengte sie und machte reinen Tisch. Damals galt er als ein populärer Mann in den Staaten und wurde als Held gefeiert. Die Paramount-Filmgesellschaft wollte ihn sogar für eine Serie von blutrünstigen Gangsterfilmen verpflichten, denn Ellis war zweiunddreißig Jahre alt und kein häßlicher Mann. Doch Ellis schlug aus seiner Popularität kein Kapital. Er verblieb im Kriminaldienst. Nur eines ärgerte ihn: Er hatte die Bande wohl vernichtet, jedoch Pratton selbst nicht fassen können. Der war ihm damals entwischt und bemühte sich nun, in Chikago einen neuen Verbrecherring zu organisieren. Kendall kannte die Geschichte um Pratton und Ellis aus den Zeitungen. Er lachte grimmig auf, warf das Erpressungsschreiben auf den Tisch und wanderte unruhig im Zimmer auf und ab.
"Dieser Satan, jetzt will er noch die Gewerkschaften aussaugen", murmelte er erregt im Selbstgespräch. "Sogar die kümmerlichen Beitragsgroschen der Schofföre sind ihm gut genug. Wie genau der Lump über unser Kontoguthaben Bescheid weiß! Und gerade in der letzten Versammlung wurde noch beschlossen, Freddy Brown eine Unterstützung zukommen zu lassen, damit er seinen Unfall ausheilen kann und seine Familie nicht zu hungern braucht! - Aber der Gangsterboß hat sich geirrt! Nicht einen Cent kriegt der Schuft! Ich müßte sonst ein Hund sein, der seine Peitsche trägt!" Kendall dachte nicht daran, ihm anvertraute Gewerkschaftsgelder aus Angst um sein Leben zu verausgaben. Die Folgen seines Entschlusses überdachte er nicht einmal. Sollte er vielleicht die Polizei verständigen? Was hatte das für einen Sinn, da er jetzt doch sicher von Prattons Komplicen auf Schritt und Tritt beobachtet wurde! Sollte er die Gewerkschaftsleitung unterrichten? Auf einmal unterbrach Kendall seine Wanderung. Sein Blick fiel auf den Wandkalender. Er trat nahe heran. Fast wehmütig blickte er auf den mit Rotstift angekreuzten morgigen Tag. "Mabel! Morgen hat sie es geschafft", flüsternd bewegten sich seine Lippen. Gleich darauf wandte er sich der Tür zu, denn er hörte Schritte über den Hof kommen. Als es klopfte, stand er schon an der Tür. Die Möglichkeit, daß die Erpresser ihm vielleicht schon jetzt einen Besuch abstatten könnten, schüchterte ihn nicht ein. Im Gegenteil - er brannte auf eine Auseinandersetzung mit diesem Gesindel. Kendall riß die Tür auf. Eine große breitschultrige Gestalt stand am Eingang und lehnte sich lässig gegen den
Türrahmen. Der Mann hatte die rechte Hand in der Hosentasche vergraben. Mit den Lippen schob er einen Zigarettenstummel von einem Mundwinkel in den andern. Er trug einen verbeulten Hut, der ihm tief im Nacken saß und der jeden Augenblick nach hinten herunterzufallen drohte. ,,'n Abend, alte Seele", grüßte er. Unaufgefordert trat der Mann in den Flur, während er unbekümmert weitersprach: "Wollte dich mal besuchen, Kendall. Liegt doch kein Grund vor, daß man sich entfremdet." Kendall war auf das Zusammentreffen mit einem Dreigroschenrowdy aus Prattons Bande gefaßt gewesen. Nun stand Michael Morris vor ihm, dieser verhaßte Bursche, der seine Tochter in unsaubere Geschäfte verwickelt und sie ins Gefängnis gebracht hatte. Diesen Besuch hatte der Alte am wenigsten erwartet. Sein Gesicht nahm einen bedrohlichen Ausdruck an. Morris trat in die Stube, warf seinen Hut auf den Tisch und flegelte sich auf einen Stuhl, die Beine weit ausstrekkend. Morris war noch jung, kaum Mitte Zwanzig. Er sah eigentlich nicht häßlich aus. Aber da war ein abstoßender Zug um seinen Mund, der auf einen kaltblütigen Zynismus schließen ließ. Sein betont kraftmeierisches Auftreten stempelte ihn zu einem schlechterzogenen, rüpelhaften jungen Mann. Der Alte stand hochaufgerichtet vor ihm und sah ihn mit blitzenden Augen an. "Du besitzt noch die Frechheit, hierherzukommen?" stieß er hervor. Nur mit Mühe konnte er seinen Groll unterdrücken. "Laß doch endlich den alten Ärger!" wollte Morris ihn beschwichtigen. "Gerade heut' war doch die letzte Gelegenheit, uns wieder zu vertragen. Ich weiß, hab' viel an Mabel gutzumachen. Aber wenn sie morgen rauskommt,
besorg' ich ihr einen Job, bei dem sie gut verdienen wird. Schließlich waren wir ja so halbwegs verlobt!" Es schien, als habe Kendall auf eine solche Äußerung gewartet. Er war mit zwei Schritten bei Morris, packte ihn mit beiden Händen an den Schultern und drückte ihn gegen die Zimmerwand. "Morris!" schrie er ihn an. "Ich bin alt, aber noch nicht alt genug, um dir nicht alle Knochen im Leib kaputtzuschlagen, wenn du Mabel künftig nicht in Frieden lassen solltest. Sie weiß nun selber, was für ein Schuft du bist. Ihr sind die Augen geöffnet worden. Und das ist gut so. Du hättest sie sonst noch durch den übelsten Dreck der Straße geschleift! Mabel hat keine Lust, wegen deiner schmutzigen Geschäfte womöglich noch einmal ins Gefängnis zu wandern. Das ist vorbei. Glaube ja nicht, daß sie noch ein dummes Mädel ist wie früher!" Kendall schüttelte Morris ein paarmal. Dann ließ er ihn wutschnaubend los, griff den Hut vom Tisch und warf ihn dem Burschen an den Kopf. Brummend und murrend ging der hinaus wie ein Raufbold, der eine unerwartete Abfuhr erhalten hat. "Mabel wird es noch bereuen", knurrte er halb drohend auf dem Flur. "In nächster Zeit verdiene ich mehr Geld, als ihr je zusammengebracht habt!" "Dein Geld, das du verdienst, stinkt!" rief Kendall ihm hinterher. Morris schlich über den Hof an der Garage vorbei auf die Straße. Dort spuckte er aus und schob sich einen Kaugummi in den Mund. "Laß nur, du alter Knacker. Wirst wohl schon gemerkt haben, daß du mit deiner blöden Gewerkschaft auf der Berappungsliste stehst!" knurrte er im Weitergehen.
Es war ein düsterer Vormittag, als Mabel Kendall aus dem Frauengefängnis entlassen wurde. Den Himmel bedeckten schwarze Wolken. Jeden Augenblick konnte eine Regenflut hereinbrechen. Das schwarzeiserne Tor der Strafanstalt hatte sich kaum hinter der Entlassenen geschlossen, als auch schon die ersten schweren Tropfen fielen. Mabel stand allein auf der Landstraße und sah zum dunklen Himmel empor. Kein schönes Begrüßungswetter, dachte sie. Es kam ihr in den Sinn, wie oft sie während der Haftzeit diese Stunde herbeigesehnt und dabei immer die Vorstellung gehabt hatte, ihr Entlassungstag könnte nur ein herrlicher Sommersonnentag sein. Mabel war ein junges und hübsches Mädchen. Sie hatte ein schmales feines Gesicht, das zierlich, aber nicht puppenhaft wirkte. Es war jetzt ein wenig zu blaß, zu straff und angespannt. Sie war groß und schlank, mit geraden Beinen, und ihre Bewegungen ließen einen sportgewandten Körper vermuten. Auch die niedliche Stupsnase und der etwas wuschlige Lockenkopf paßten zu ihr. Besonders reizvoll waren ihre großen blitzenden Augen. Prasselnder Regen setzte ein. Mabel hätte das Unwetter im Gefängnis abwarten können. Aber nein, lieber durchweichen! Nur frei sein, wenn auch nur Minuten früher! Rüstig schritt sie der Stadt zu, während der Regen wolkenbruchartig niederrauschte. Obwohl Mabel die Nässe auf dem Körper spürte, die regentriefenden Haare ihr in die Stirn fielen und ihre durchweichten Schuhe bei jedem Schritt einen quietschenden Laut hören ließen, fühlte sie sich seit langer Zeit endlich wieder glücklich und froh. Vater wird mir nichts nachtragenf nein, das wird er nicht.
Aber wo finde ich neue Arbeit? überlegte sie. Ich kann Vater nicht allzulange auf der Tasche liegen, gerade jetzt nicht, wo ich alles selbst verschuldet habe. Aber er wird mir nicht böse sein. Er weiß ja, es war nur Dummheit, daß ich mich mit Morris eingelassen habe. Im Gehen richtete Mabel das Gesicht empor und setzte es absichtlich dem Regen aus. Sie empfand es als gerecht und wohlverdient, daß sie hier, vom rieselnden Regen durchnäßt, die pfützige Landstraße entlangpilgern mußte. Wie war das überhaupt alles gekommen? Vor knapp einem Jahr hatte sie Michael Morris kennengelernt und ihn dem Vater als einen "good friend"[guten Freund] vorgestellt. So fing es an, und mit gemeinsamen Kinobesuchen und Tanzbelustigungen ging es weiter. Vater allerdings hatte von dem Umgang mit Morris abgeraten. Er mochte ihn von Anfang an nicht leiden, weil Morris sich um keine ordentliche Arbeit bemühte. Der hatte immer "einen Job in petto", sprach stets von Geschäft und Erfolg und gab sich überhaupt wie ein gerissener Geschäftsmann und gewiegter Rechner. Außerdem hatte er nur ein Lächeln für die Arbeit der sich ehrlich abrackernden Menschen übrig. Dabei besaß er immer Geld. Das hatte ihr imponiertf denn zu Hause reichte es gerade zum Leben. Sie mußte mitverdienen, hatte eine Beschäftigung als Garderobenmädchen in einem Lokal. Dort hatte sie übrigens Morris kennengelernt. Er brachte ihr öfter kleine Pakete, harmlose Päckchen, und beauftragte sie, diese an bestimmte Gäste des Lokals auszuhändigen. Manches Trinkgeld verdiente sie sich dabei bis die Polizei diesem Rauschgifthandel auf die Spur kam. Morris war als Mittelsmann bei dieser krummen Sache tätig, in die
nun auch Mabel verstrickt wurde. Das war damals mit ihrer Verhaftung eine große Aufregung für sie gewesen und ein schwerer Schlag für ihren Vater. Bei der Verhandlung vor dem Schnellgericht stritt Morris alles ab, log sich raffiniert und skrupellos heraus. Nur zwei Besucher des Lokals wurden verurteilt, ebenso Mabel mit sechs Monaten Gefängnis. Das sei noch die mildeste Strafe in dieser Angelegenheit, wie man ihr gesagt hatte . Nun war alles das vorbei. Ein neues Leben mit besseren Vorsätzen konnte beginnen. Das Wiedersehen und die Begrüßung mit ihrem Vater verliefen so, wie Mabel es sich in Gedanken vorgestellt hatte. Zuerst standen sie sich stumm gegenüber. Dann ging sie zu ihm hin und legte ihren Arm auf seine Schulter. Der Vater nickte und brummte, sah streng, gnädig, verbittert und alles miteinander aus und hatte selbst genug mit sich zu tun, um seine durch das Wiedersehen aufgekommene rührselige Stimmung zu verbergen. Seine betont poltrige Art verscheuchte das zuerst Beklemmende und Bedrükkende der Situation. "Ich hab' dir immer gesagt, du solltest dem Lumpen Morris den Laufpaß geben. Na ja, jetzt wird's wohl reichen! Himmelherrgott, wie siehst du blaß aus! War wohl die Zeit über sehr schlimm, nicht? Habt ihr wenigstens gut zu essen gehabt? Ist ja Quatsch! Im Gefängnis - und gut zu essen! Na, setz dich erst mal!" So redete Kendall mit seiner zurückgekehrten Tochter. Er wollte streng sein, konnte es jedoch nicht übers Herz bringen. Sie saßen in der Stube und hatten sich zur Feier des Tages Kuchen gegönnt. Kendall berichtete über das Auftauchen von Morris. "Wenn dieser Strolch noch einmal das Haus betritt, schlage ich ihm die Knochen entzwei!"
polterte er. "Ach, Vater! An den denke ich nicht", sagte Mabel leise, beschämt. "Es macht mir nur Sorge, woher ich nun wieder Arbeit bekomme." "Ja, damit ist es zur Zeit schlecht bestelltf aber fürs erste kannst du mir den Haushalt machen." Mabel räumte still das Geschirr in die Küche. Für Kendall war heute ein Feiertag. Er hatte sich von der Gewerkschaft beurlauben lassen, obwohl eigentlich eine wichtige Sonderfahrt auf dem Terminkalender stand. Denn da mußte unbedingt Klarheit im Lohnbüro bei den Fleischwerken geschaffen werden, damit die Fernfahrer endlich ihre Nachtstunden bezahlt bekämen. Es könnte sonst sein, daß diese hundsgemeine Lohndrückerei auf andere Betriebe übergreifen würde. Es war sowieso für alle Schofföre schon schwer genug, sich trotz Arbeit und Verdienst über Wasser zu halten. Die Gewerkschaft half, wo sie konnte. Kendall selbst sorgte für die gerechte Verteilung von lohnenden Sonderfahrten. Er wurde deswegen auch von der anderen Transportgewerkschaft, die dem katholischen Block seines Bezirkes angehörte, oftmals angefeindet und seine gemeinnützige Handlungsweise als "kommunistisch" bezeichnet. Kendall saß allein in der Stube. Er rauchte seine Pfeife und las das Erpressungsschreiben Prattons zum wiederholten Male. Dreitausend Dollar Gewerkschaftsgelder also wollte man aus ihm herausschinden! Kendall hatte keine Gegenmaßnahmen getroffen, weder die Polizei noch die Gewerkschaftsleitung verständigt. Was sollte er die Kollegen da hineinziehen. Und die Polizei? Das war ja doch zwecklos! Heute konnte sie ihn vielleicht beschützen. Aber morgen schon würde Pratton, von Rachsucht getrie-
ben, erst recht sein brutales Gangstergesindel auf ihn hetzen! Prattons Arbeitsweise war allzu bekannt und gefürchtet. Jeden Dollar krampfte er zusammen, um die Macht seiner Unterwelt aufzubauen und Geldmittel für größere Jobs in die Hand zu bekommen. Das alles wußte Kendall, las er täglich in den Zeitungen. Und er wußte auch, daß Prattons Mittelsmänner heute keine dreitausend Dollar von ihm bekommen würden! Das konnte er niemals und unter keinen Umständen verantworten, das wäre eine Versündigung an Arbeitergroschen! Er kannte alle Schofföre seines Bezirkes und wußte, wie schwer es diesen oft fiel, die Beiträge bei dem kärglichen Verdienst zu entrichten. Und er kannte auch die stolze Befriedigung, wenn diesem oder jenem in Zeiten der Not, des Unglücks oder der Arbeitslosigkeit von der Gewerkschaft eine Unterstützung gewährt wurde. Nein - und abermals nein! Dreitausend Dollar ließen sich gerechter verteilen, als sie dem Abschaum der Menschheit aus Feigheit in die Hand zu drücken. Das war und blieb Kendalls Standpunkt! Seine Tochter weihte er nicht ein. Warum sollte er Mabel beunruhigen? Sie konnte ihm doch nicht helfen . Langsam brach die Dämmerung herein. Ein Wagen fuhr in den Hof. Der Schofför, der heute den zweiten Gewerkschaftswagen gefahren hatte, kam ins Haus und ließ vom Alten sein Fahrtenbuch mit einem Prüfungsvermerk versehen. "Hab' den Wagen in die Garage gefahrenf sie muß aber noch abgeschlossen werden", sagte der Schofför. "Schon gut, das mache ich selbst", antwortete Kendall kurz. Er war heute nicht zum Reden aufgelegt. Als sich der Schofför verabschiedet hatte, sah Kendall auf die Uhr. Es fehlte noch eine halbe Stunde bis zur
angesetzten Zeit. Wie langsam die Minuten dahinkrochen! Mabel hantierte in der Küche und klapperte mit Geschirr. "Du kannst schlafen gehen, ich muß noch aufbleiben", sagte Kendall zur offenstehenden Küchentür hin. Mabel ging auf ihr Zimmer. Der Alte schaltete das Licht aus. Er trat ans Fenster und spähte über den dunklen Hof zur erleuchteten Einfahrt hin. Unbeweglich stand er da und starrte hinaus. Insgeheim gewahrte er, wie Unruhe und Erregung ihn befielen. Ebenso langsam wie die Zeit verstrich beschlich ihn eine Art Fiebrigkeit und Nervosität. Die Dunkelheit und Stille der Nacht versuchten den Alten in seinem Entschluß einzuschüchtern, ihn wankend und furchtsam zu machen. In allen bekannten Fällen war es für die Betreffenden nicht gut ausgegangen, wenn sie sich dem Prattonterror widersetzt hatten. Es wurde auch gemunkelt, daß schon andere Verbände und Gewerkschaften der Stadt dieser Mordbrennerbande tributpflichtig sein sollten. Doch Kendall pochte auf seine Ehre, blieb hart und entschlossen. Nur diesem Gesindel gegenüber nicht feige sein und schlappmachen! Die Zimmeruhr schlug elfmal. Kendall erwachte aus seiner Starrheit. Von weit her schallte das Motorengeräusch eines Autos. An der erleuchteten Einfahrt sah Kendall einen geschlossenen Wagen vorfahren und halten. Er tappte im Dunkeln aus dem Haus und schritt, draußen absichtlich laut auftretend, über den Hof zur Einfahrt. Ein paar Schatten bewegten sich im Innern des Wagens. Als Kendall in den Lichtkreis trat, wurde ein Fenster des Autos heruntergelassen. "Komm näher, Kendall!" ertönte eine rauhe Befehlsstimme. "Hast du das Geld mitgebracht?" "Es lohnt nicht, näher zu kommen, Boys!" rief der Alte.
"Ihr kriegt von mir keinen Cent. Bestellt das eurem Boß!" Pause und Schweigen. Die Stille wurde nur von dem leise summenden Geräusch des leer laufenden Motors unterbrochen. Dann vernahm Kendall einen unterdrückten Fluch. Eine Hand mit einem Revolver fuhr durch das Wagenfenster. "Schießt doch, ihr feigen Hunde, schießt doch! Einen wehrlosen Mann abzuknallen ist keine Heldentat!" rief er laut und kreischend. Seine Stimme überschlug sich. Doch es fiel kein Schuß. Dafür ruckte der Wagen an, fuhr im Rückwärtsgang eine Kurve zur Hofeinfahrt und bremste für einen Augenblick an der offenstehenden Garagentür. Gleichzeitig wurde aus dem Wageninnern ein Gegenstand in die Garage geschleudert. Splitterndes Glas klirrte. Der Wagen setzte sich sofort wieder in Bewegung, fuhr dicht an Kendall vorbeif lenkte auf die Straße und raste mit hoher Geschwindigkeit davon. Aus dem Garageninnern ertönte plötzlich ein ohrenbetäubender Knall. Ein greller Feuerschein zuckte für Sekunden auf und erleuchtete blitzartig den Hofplatz. Eisenteile flogen durch die Luft und krachten gegen das Wellblech der Garage. Eine Explosion von der Wirkung einer krepierenden Handgranate war erfolgt. Kendall taumelte gegen die Wand. Innerhalb einer kurzen Zeit hatte sich eine neugierige Menschenmenge auf dem Hof angesammelt. Gaffend, fragend, gestikulierend stand sie herum, starrte in das Garageninnere und bestaunte die Trümmer des durch die Explosion vernichteten Gewerkschaftsautos. Fetzen des Verdecks und Teile der gesprengten Karosserie lagen bis in den Hof verstreut. Kendall stand neben den Trümmern des ihm anvertrau-
ten Gewerkschaftsautos. Seine Gesichtsfarbe wurde abwechselnd weiß und gelb. Vor lauter Wut und Aufregung sah er nahezu beängstigend aus. "Ausgerechnet der neueste, der beste Wagen, erst vor einem Monat von der Gewerkschaft angeschafft", stammelte er vor sich hin. Mabel, durch die Detonation aus dem Schlaf geschreckt, stürzte, nur notdürftig bekleidet, aus dem Haus. Fassungslos stand sie neben ihrem Vater. Sie konnte von all dem Geschehenen nichts begreifen. Ihn zu fragen wagte sie nicht. Kendall kroch jetzt in der Garage umher, umschlich den Trümmerhaufen des zerfetzten Autos. Schließlich kam er wieder heraus und wollte die neugierigen Gaffer vom Hof jagen. Mabel hörte einige Wortbrocken aus der Menge: "Sprengkörper ins Auto geschleudert! - Prattons Bande! - Erpressung!" Das alles verwirrte und ängstigte sie nur noch mehr. Ein Polizist tauchte auf. Es war nicht leicht für ihn, den Tatbestand zu ermitteln. Die unbeteiligten Gaffer taten wichtiger als Kendall. Und der gab dem Polizisten eine grobe Abfuhr. "Was hier los ist! Hahaha! Nichts Besonderes! Prattons Bande hat eine Bombe in unser Auto geschmissen, der Rest vom Wagen liegt verstreut im Hof! Kein Grund zur Aufregung - kommt alle Tage vor! Die Polizei notiert den Fall und wälzt dicke Akten. Alle Verbrechen werden gewissenhaft in Statistiken erfaßt - nur die Gangster nicht! Es ist eine Schande! Ja, eine Schande!" rief der Alte. Sein Zorn über die Ohnmächtigkeit der Polizei gegen die Prattonganster machte ihn unbeherrscht. "Nur immer ruhig, wir haben auch unseren Ärger",
lenkte der Polizist beruhigend ein und zog sein Dienstbuch hervor. "Wir können nicht wissen, daß Sie bedroht werden, wenn Sie uns keine Anzeige erstatten. Das müssen Sie doch einsehen, Mann!" "Nennen Sie mir einen Fall, in dem Sie jemand vor Prattons Halunken schützten!" donnerte Kendall wieder los. Er nahm kein Blatt vor den Mund in seinen Schmähungen gegen die Polizei, den Staat und über die Zustände im allgemeinen. Mabel beruhigte ihren Vater, so gut sie es vermochte. Endlich gab der Alte dem Polizisten doch ein paar Hinweise, machte einige Angaben. Dann ging er wie gleichgültig und unbeteiligt ins Haus zurück. Mabel blieb bis zuletzt auf dem Hof. Als auch der Polizist sich entfernt hatte, schloß sie das Garagentor. Sie wollte ins Haus eilen, zuckte jedoch plötzlich zusammen und blieb wie erstarrt stehen, als sich eine schattenhafte Gestalt von der finsteren Wand loslöste und auf sie zukam. "Mabel, ich bin's", raunte eine bekannte Stimme. Lautlos schlich Michael Morris heran und hielt sie fest. "Was willst du?" stieß sie atemlos hervor. "Wenn Vater kommt und dich hier sieht, gibt es ein Unglück. Man hat ihm heute etwas Furchtbares zugefügt!" "Gerade darum bin ich gekommen", zischelte Morris. "Ich weiß, dein Alter sollte Gewerkschaftsgelder herausrücken. Der Starrkopf hat sich geweigert. Dabei sind es doch nicht einmal seine eigenen Dollars! Das kommt jedem teuer zu stehn! Mit Prattons Leuten kann man solche Mätzchen nicht machen!" Mabel verkrampfte ihre Hand in den Kragen des lose übergeworfenen Mantels. "Verschwinde sofort! Was willst du von mir? Du bringst nur Unglück über uns! Ich will mit dir nichts mehr zu schaffen haben!"
"Ich will dir und deinem Vater helfen. Aber du mußt zu mir halten. Ich habe auch Arbeit für dich. Eine verdienstreiche Sache. Gleich morgen können wir anfangen." "Ich will nichts mit dir zu tun haben!" "Begreife doch: Dein Vater hat sich uns widersetzt! Man wird ihn umlegen! Ich aber kann euch helfen, habe Verbindung zu jenen Kreisen. Aber bitte, wenn du keinen Wert darauf legst, daß dein Vater leben bleibt ." Mabel sah, wie Morris mit dem Daumen seiner zur Faust geballten Hand eine eigenartige, kurze Abwärtsbewegung machte, die das Furchtbare seiner Drohung nachdrücklich unterstrich. Sie zitterte am ganzen Körper. Sollte das alles schreckliche Wahrheit sein, was Morris da so kaltschnäuzig redete? "Natürlich mußt du helfen!" beschwor sie ihn. "Es darf Vater nichts geschehen. Du mußt alles tun ." Voller Angst und Verzweiflung stammelte Mabel diese Worte. Morris trat nahe zu ihr heran und faßte sie mit beiden Händen um die Hüfte. Durch den dünnen Mantel spürte er ihren bebenden Körper. "Na also, warum nicht gleich so", flüsterte er, und seine Mundwinkel zuckten verächtlich. "Ich werde für deinen Alten ein gutes Wort einlegen. Wird schon in Ordnung gehen. Aber paß gut auf: Morgen um zehn Uhr treffen wir uns hier draußen an der Ecke. Wir machen ein Eisladengeschäft auf. Und rede vor allem nicht mit deinem Alten darüber. Der meckert sowieso immer dazwischen. Klar?" Mabel riß sich von Morris los und lief ins Haus. Sie zitterte, ihr Atem ging keuchend und stoßweise. Auf Zehen-
spitzen schlich sie über den Flur. Die Tür zur Stube stand einen Spalt offen, ein Lichtschein fiel heraus. Mabel sah ihren Vater am Tisch sitzen und apathisch vor sich hin starren. Sein Gesicht wirkte wie zusammengeschrumpft. Mabel wagte nicht mehr, zu ihm hineinzugehen. In ihrem Zimmer warf sie sich schluchzend auf das Bett und vergrub ihren Kopf in das Kissen.
Colonel Randolph, Polizeichef des Chikagoer Hauptkriminalamtes, schritt unruhig in seinem Arbeitszimmer umher. Die Inspektoren Kelling und Higgins, die zur täglichen Berichterstattung erschienen waren, blickten mißmutig drein. Sie machten den Eindruck von Männern, die mit ihrer Arbeit nicht zufrieden sind. Ein schlimmer Rapport heute . "So geht die Angelegenheit nicht weiter", sagte Colonel Randolph und machte eine kurze energische Handbewegung. Er war ein kleiner untersetzter Mann, ungemein beweglich und sehr redegewandt. "Also, so geht es nicht weiter. Prattons Schandtaten häufen sich mit jedem Tag. Unsere Polizeibehörde verliert die Achtung bei der Bevölkerung. Wir müssen endlich zu einem Erfolg kommen, wenn sich die Sache nicht zu einem Skandal auswachsen soll!" Die beiden Inspektoren tauschten einen scheuen Blick miteinander aus. Kelling ergriff das Wort: "Wir versuchen alles. Nichts wird unterlassen oder vergessen. Unsere Männer vom Fahndungsdienst und vom Überfallkommando sind Tag und Nacht auf den Beinenf sie bekommen kaum genügend Schlaf. Eine Razzia jagt die andere. Systematisch werden die verdächtigen Stadtteile durchstöbert. Die Bevölkerung ist zur Mitarbeit aufgerufen. Fünftausend Dollar Beloh-
nung sind für die Ergreifung Prattons ausgesetzt. Unzählige Gerüchte und Hinweise, die uns von der Bevölkerung herangetragen werden, müssen nachgeprüft werden. Wir tun alles, was in unseren Kräften steht." Colonel Randolph unterbrach seine Zimmerwanderung, blieb vor dem Schreibtisch stehen und klopfte mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte. "Aber was nützt das alles, wo bleibt das Resultat? Ein Mörder und Erpresser lebt mit seiner Bande frei inmitten unserer Millionenstadt! Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind auf der Straße kennt den Gesuchten. Überall hängt sein Steckbrief aus - eine große Belohnung lockt! Und dennoch sollte er nicht aufzuspüren und festzunehmen sein?" Während Randolph sich mit dem Taschentuch die Stirn abtupfte, wagte Inspektor Higgins einzuwenden: "Es ist tatsächlich leichter, einen unbekannten Mörder durch Kombinationen, Fingerabdrücke und überlegte Schlußfolgerungen zu überführen. Man kann hierbei die Verbrecheralben durchsuchen, die Sammlung der Fingerabdrücke zu Hilfe nehmen und sich womöglich noch mit praktizierenden Psychiatern [Facharzt für Geistes- und Gemütskrankheiten] und Graphologen [Handschriftenkundiger] in Verbindung setzen und in neunundneunzig von hundert Fällen den Täter ausfindig machen. Dies alles ist bei Pratton überflüssig." "Wir reden und kommen nicht weiter", sagte Colonel Randolph unwirsch. Er sah auf seine dickprotzige Armbanduhr. "In zehn Minuten wird Mr. Ellis hier sein. Er wurde uns vom Hauptkriminalamt New York in besonderer Mission zugeteilt. Natürlich bezieht sich diese besondere Mission einzig und allein auf den Fall Pratton. Warten wir also Mr. Ellis' Erscheinen ab. Mir wurde mitgeteilt, daß er bei all seiner Tüchtigkeit als
Kriminalist auf dem Gebiete der Gangsterbekämpfung ein sehr eigenwilliger Charakter sein soll. Dennoch wollen wir um eine gute Zusammenarbeit mit ihm bemüht sein." Randolph hatte kaum ausgesprochen, als es schon an der Tür klopfte und Ellis ins Zimmer trat. Er war ein stattlicher Mann. Braune Augen hatte er, hell und leuchtend wie Bernstein. Durch seine natürliche, ungezwungene Art wirkte er beinahe jungenhaft. Nach der Begrüßung und Vorstellung setzten sich die Männer um Randolphs Schreibtisch. Ellis ließ sich in großen Zügen über die Pläne für die Ergreifung Prattons berichten. Randolph breitete einen Chikagoer Stadtplan aus und erklärte die bisherige Arbeitsweise. Die Ausführungen konnten Ellis jedoch nur eine ungenügende Übersicht verschaffen. "Ich hoffe auf eine gute Zusammenarbeit", sagte der Polizeichef zum Schluß gewollt freundlich. "Die Stärke unseres Kriminaldienstes beruht ja auf dem Prinzip der kollegialen Zusammenarbeit." "Für uns ist das selbstverständlich", stimmte Ellis zu, den anzüglichen Ton überhörend. "Aber auch mit der Bevölkerung müßte man eine kollektive Zusammenarbeit anstreben. Die breite Masse ist angesichts all dieser verbrecherischen Auswüchse schon empört genug. Sie fragt sich: Kann oder will man nichts hiergegen unternehmen? Es ist eine Schande für uns, meine Herren Kriminalisten, eine Schande für den Staat und somit für jeden Bürger." Die Männer hörten aufmerksam zu. Hier sprach ein Mann, der keine unverbindliche Unterhaltung zu führen gewohnt war, sondern der eigene unliebsame Gedanken hatte und sie auch aussprach. Colonel Randolph atmete tief auf, gleichsam seufzend,
wie ein abgekämpfter Mensch, der es nach langer Mühe aufgegeben hat, die Welt zu ändern. "Es wird immer Verbrecher geben", meinte er. Ellis zog die Schultern hoch. "Aber müssen die Verbrechen ein solches Ausmaß annehmen? Es ist nicht nur Aufgabe der Polizei, einen kleinen Dieb, der mit knurrendem Magen einen Mundraub begeht, zu bestrafen. Wir brauchen keine Überfallkommandos und keine RadioPolizei-Patrouillen, um einen Dieb oder Heiratsschwindler zur Strecke zu bringen! Diese kostspieligen Polizeiapparate sollten mehr zur Bekämpfung des Bandenunwesens eingesetzt werden! Unsere Aufgabe sollte es eher sein, Verbrechen zu verhindern, anstatt geschehene aufzuklären!" "Ich höre schon jetzt, daß Sie Ihrem Beruf leidenschaftlich verschrieben sind, Mr. Ellis." Colonel Randolph lächelte. "Sie müssen jedoch berücksichtigen, daß in unserm Land jedem Bürger die größtmöglichen Freiheiten garantiert sind und daß diese Freiheiten auch sehr leicht von minderwertigen Subjekten ausgenutzt und mißbraucht werden." Ellis schüttelte den Kopf. "Das hat mit Freiheit nichts mehr zu tun. Woran liegt es, daß Amerika in dem Ruf steht, das Land mit der höchsten Zahl an begangenen Kriminalverbrechen zu sein? Was ich jetzt sage, könnte böswillig mißverstanden werden - doch ich spreche es freimütig aus: Auf der Jagd nach Dollars kämpft hier jeder gegen jeden. Der Stärkere triumphiert über den Schwächeren. Und das alles wird noch in Presse, Rundfunk und Film verherrlicht. Die Sensationsblätter umgeben Pratton mit dem Nimbus des Heldenhaften, bewundern ihn mehr, als daß sie ihn anprangern. Diese Gangsterverherrlichung
muß einfache Gemüter verwirren und auf falsche Bahnen lenken!" Schweigen erfüllte den Raum, ehe er weitersprach. "Es ist ja schon soweit, daß die Bevölkerung kein Vertrauen mehr zu uns hat. Ich las zum Beispiel in der Zeitung, daß gestern nacht im Michigan-Bezirk der Personenwagen einer Kraftfahrergewerkschaft durch einen Sprengkörper demoliert worden ist, weil man sich einer Erpressung Prattons widersetzte!" "Der Fall ist mir bekannt", fiel Inspektor Kelling ein. "Es ist von jenem Gewerkschaftskassierer unterlassen worden, uns über den erhaltenen Drohbrief zu informieren. Wie hätten wir da rechtzeitig eingreifen und den Anschlag verhindern sollen? Außerdem steht der Mann selbst nicht in dem besten Ruf ." "Wieso?" wollte Ellis wissen. "Der Mann - Kendall ist sein Name - hat eine leitende Funktion in seinem Berufsverband, der wiederum einer kommunistisch verdächtigen Gewerkschaft angegliedert ist", sagte Kelling mit einem bedeutsamen Augenaufschlag. Ellis sah nachdenklich vor sich hin. Es dauerte eine Weile, ehe er antwortete: "Jedenfalls ist es unsere Pflicht, alle Bürger ohne Unterschied gegen derartige Gewaltakte zu schützen. An diesem Beispiel sehen wir es: Pratton versucht nicht nur die Geschäftswelt, sondern auch die Gewerkschaften zu erpressen. Mir sind sogar ein paar Fälle bekannt, in denen namhafte Gewerkschaftsführer aus Angst um ihr Leben den Prattongangstern große Geldbeträge auslieferten." "Ich bin überzeugt, daß wir mit Ihrer Hilfe Pratton das Handwerk legen werden", schloß Randolph die Unterre-
dung. Ellis ließ sich noch am gleichen Tag in alle Abteilungen des großen Präsidiums einführen. Er machte sich mit seinen Mitarbeitern bekannt, ließ sich die Zusammenarbeit mit den einzelnen Bezirksrevieren erklären und sprach mit den Detektiven und Polizisten wie mit alten Freunden. Später besichtigte er den Archivraum mit den Verbrecheralben. Überall stöberte er herum und nahm Verbindungen auf. Dann vertiefte er sich in die Stapel von Protokollen über die nicht aufgeklärten Verbrechen der letzten Zeit. Es interessierten ihn nur jene Fälle, bei denen unzweifelhaft Pratton seine Hand im Spiel hatte. Da war auch die Angelegenheit mit dem Gewerkschafter, ein dünnes Aktenstück mit nur drei oder vier Protokollseiten. Darin stand vermerkt, daß Kendall keine Anzeige erstattet und auf polizeilichen Schutz verzichtet hatte. Das schien Ellis bedeutsam. Man durfte nichts außer acht lassen, wollte man Pratton auf die Spur kommen. Auf den riesigen Polizeiapparat allein durfte man sich nicht verlassen. Die große Polizeimaschine zitterte und stampfte im Leerlauf. So fieberhaft in den verschiedenen Abteilungen auch gearbeitet werden mochte: Im Fall Pratton war nur Stückwerk dabei herausgekommen! Hier mußten neue Wege beschritten werden, sonst war mit keinem Erfolg zu rechnen. Das konnte Ellis sich an den fünf Fingern abzählen und wußte er auch aus Erfahrung. Darum hielt er es für wichtig, den Gewerkschaftskassierer einmal persönlich aufzusuchen. Ellis befand sich im Michigan-Stadtteil, er stand vor dem Kendallschen Grundstück. Das Tor zur Hofeinfahrt war
verschlossen. Ärgerlich wollte Ellis fortgehen. Da stutzte er über die vielen Taxiwagen, die in dieser sonst einsamen Straße parkten. Wo mochten die Schofföre sein? Er klopfte noch einmal an das Wellblech zur Toreinfahrt. Da erschien Kendall. Ellis gab sich als Kriminalist zu erkennen, das machte aber keinen Eindruck auf den Alten. "Schon wieder einer von der Polizei - zur Abwechslung mal in Zivil, als Geheimer!" knurrte er, ohne Ellis auf den Hof zu lassen. "Ich komme in Ihrem Interesse, Mr. Kendall", sagte Ellis höflich. "Ich habe Achtung vor Ihnen. Sie haben sich durch Prattons Erpressung nicht beirren lassen und den Schweinehunden widerstanden. Man hat Ihnen Schutz für Ihre persönliche Sicherheit angeboten. Sie haben darauf verzichtet. Warum, Mr. Kendall?" "Ich brauche keine Hilfe von einer unfähigen Polizei. Es stinkt zum Himmel, wenn man in einer Stadt nicht einmal ohne Furcht leben kann, weil man sich gegen ein Räubergesindel auflehnt!" Ellis blickte dem Alten fest in die Augen. "Das ist auch meine Ansicht", sagte er und hielt ihm zum Gruß die Hand hin. Der musterte ihn abschätzend, doch dann schlug er in die dargereichte Rechte ein. Ellis mußte ihm wohl sympathisch seinf er sah auch nicht aus wie die üblichen Geheimpolizisten, die einem ein Loch in den Bauch fragen und so tun, als sei man selber verdächtig. Mit diesem Mann konnte man wohl ein vernünftiges Wort reden. "Ich brauche keinen Polizeischutz, denn ich fürchte Pratton und sein Gesindel nicht!" erklärte der Alte. Das hörte sich überzeugt anf da lag eine Ruhe und Sicherheit in den Worten, die nur jemand haben kann, der sich seiner
Kraft bewußt ist. Ellis horchte unwillkürlich auf. "Können Sie das so bestimmt sagen?" fragte er. "Ja, das kann ich! Wenn die Polizei machtlos ist, so muß man sich auf eigene Faust gegen das Gangsterpack schützen!" Ellis sah den Alten ungläubig an. Der öffnete nun das Tor und ließ ihn auf den Hof. "Hier, sehen Sie! Ich bin nicht allein! Alle meine Kollegen stehen mir zur Seite. Über hundert Schofföre aus meinem Bezirk. Die gehen für mich durch dick und dünn, auf die ist Verlaß!" Was Ellis auf dem Hof sah, überraschte ihn noch mehr. Da standen wahrhaftig wohl an die hundert Männer in einem Halbkreis beisammen. Alle trugen sie jenes blaue baumwollene Hemd mit offenem Kragen, das zur typischen Kleidung der Taxischofföre gehört. Die Versammlung sollte gerade beendet werden, denn einer der Männer fragte Kendall: "Noch etwas Besonderes? Wir haben es eilig, versäumen sonst Fahrgäste." "Es ist alles besprochen. Ich danke euch, daß ihr gekommen seid und mir helfen wollt", verabschiedete Kendall die Männer. Ellis' Verwunderung wurde zur Neugier. Er mußte unbedingt erfahren, was hier vor sich ging. Das hatte sicher auch für ihn Bedeutung. Hier spielten Zusammenhänge mit, die er nicht kannte. Wenn es ihm gelänge, das Vertrauen des knurrigen Alten zu gewinnen, so könnte er vielleicht Wichtiges erfahren . Als alle Schofföre gegangen waren, kam Kendall wieder zu ihm heran. Die Sympathie, die Ellis für den Alten empfand, mußte wohl auf Gegenseitigkeit beruhen, denn Kendall zeigte sich jetzt aufgeschlossen und gesprächig. "Denken Sie nicht, daß hier eine Verschwörung gegen
die Staatsgewalt ausgebrütet wird! Meine Kollegen wollen mir bloß helfen, damit ich Mabel, meine Tochter, wiederfinde. Die ist mir nämlich gestern aus dem Haus gelaufen. Und zwar nicht aus freien Stücken, sondern weil Morris, dieser Schuft und Gangster, sie bedroht und unter Druck gesetzt hat." Ellis empfand auf einmal das Bedürfnis zu rauchen. Er zog Pfeife und Tabak aus der Tasche und bot Kendall von seinem goldgelben Virginiashag an: "Bitte, rauchen Sie eine Pfeife mit mir. Sie sind ein Mann, vor dem die amerikanische Polizei den Hut abnehmen müßte!" Der Alte überhörte die Anerkennung und lächelte schief. Während er rauchte und erzählte, wurden Ellis die Zusammenhänge klar: Da war von der Tochter Mabel und einem gewissen Morris die Rede. Und alles deutete darauf hin, daß dieser Morris mit den Prattongangstern in Verbindung stand. Kendall konnte sogar beweisen, daß nur Morris die Bande von der Gewerkschaftskasse unterrichtet und er auch Mabel unter irgendwelchen Drohungen wieder auf seine Seite gezogen hatte. Mabel war seit gestern verschwunden. Kendall hatte nun eine Versammlung der Taxischofföre seines Bezirkes einberufen. Die meisten von ihnen kannten Mabel von Kind an und auch Morrisf und sie sollten nun in allen Stadtteilen nach ihnen Ausschau halten und sie suchen. "Sind Sie auch sicher, daß dieser Morris mit den Prattongangstern unter einer Decke steckt?" erkundigte sich Ellis. "Kein Zweifel! Mabel war doch früher mit ihm befreundet - und ich hab's noch obendrein halbwegs geduldet. Morris, müssen Sie wissen, ist ein Kerl zum Ausspucken! Der allein hat mir Pratton auf den Hals gehetzt!" Ellis wurde nachdenklich. Er sog intensiv an seiner Pfei-
fe und paffte den Tabaksrauch in dicken Schwaden aus. Etwas Wichtiges mußte ihm durch den Kopf gehen. Ja, einen Augenblick zögerte er sogar, bevor er sagte: "Kendall, wollen Sie und Ihre Gewerkschaft mit mir zusammenarbeiten? Das ist keine fixe Idee! Sie haben mich überhaupt erst auf diesen großartigen Gedanken gebracht! Ich meine, wenn Sie mit Ihren Schoffören zusammenarbeiten und ich als Polizeimann mit Ihnen - beim Sternenbanner! Das ist eine handfeste Sache! Ich denke, wenn nicht weiterhin Gesetzlosigkeit und Terror in unserer Stadt herrschen sollen, so muß die Bevölkerung zur tatkräftigen Mitarbeit gewonnen werden. Und ich kann mir keine besseren Mitarbeiter als Ihre Taxischofföre denken! Die durchstreifen Tag und Nacht alle Bezirke Chikagos. Die sind besser als unsere sogenannten ,Fliegenden Kolonnen', die Funkwagen der Radio-Polizei-Patrouillen, weniger auffällig im Stadtbild und hundertfach beweglicher. Es liegt klar auf der Hand, daß wir Pratton eher auf die Spur kommen, wenn wir uns zu gemeinsamer Arbeit zusammenschließen!" Nun schien Kendall nachzudenken. Er streifte Ellis von der Seite mit einem prüfenden Blickf wie ein Zwinkern mit den Augenlidern sah es aus. Dann lächelte er wie ein erfahrener Mann, der den ungestümen Optimismus eines Jungen nicht dämpfen will. Er brauchte nicht zu antworten, denn im Flur klingelte das Telefon. Kendall ging hinein und führte ein kurzes Gespräch. Was ihm soeben mitgeteilt wurde, versetzte ihn offenbar in Erregung. Er forderte Ellis auf einzutreten, seine Augen glänzten, als er sagte: "Da ruft Jimmy an - das ist unser pfiffiger Negerschofför aus dem 7. Bezirk-und gibt Bescheid, daß er Mabel
unterm Waker-Drive in einer Eiskonditorei gesehen hat. Sie steht dort mit weißer Schürze hinterm Ladentisch und verkauft Eisportionen! Wenn ich nicht genau wüßte, daß sie mit dem Morris zusammen ist, so könnte man glauben, das Mädel hat eine anständige Arbeit gefunden. Aber sobald Morris dabei ist, steckt eine hundsföttische Gaunerei dahinter. Wie gut, daß ich jetzt Telefonanschluß habe! Wurde erst gestern von der Gewerkschaft angelegt!" Ellis nickte nur. Er kam aus dem Staunen nicht heraus. Wie gut die Organisation der Schofföre klappte! Diese Nachforschung und Ermittlung über Mabel zum Beispiel hätte die Polizei nicht prompter erledigen können. Einfach fabelhaft, wie die Schofföre ihren Gewerkschaftsführer Kendall in selbstverständlicher "Hilfsbereitschaft unterstützten! "Unternehmen Sie mit Ihren Leuten nichts Voreiliges", bat Ellis den Alten. "Ich werde versuchen, mit Ihrer Tochter Verbindung aufzunehmen. Haben Sie ein Foto von ihr?" Kendall kramte aus einer Schublade eine Fotografie hervor. Ellis prägte sich das Mädchengesicht gut ein. Bevor er sich verabschiedete, ließ er Kendall noch einen kurzen Brief für Mabel schreiben. "Den werde ich ihr geben, damit das Mädel Vertrauen zu mir haben kann", meinte Ellis. "Manchmal reden die Kinder offener zu Fremden als zu den Eltern. Und verlassen Sie sich darauf, Kendall: Ab heute bürge ich dafür, daß Ihrer Tochter nichts Unrechtes mehr geschieht!" Ellis und Kendall trennten sich wie zwei alte Freunde. Anschließend begab sich Ellis zum Waker-Drive. Er schlenderte die 34. Straße hinunter, konnte aber den Eisladen nicht sogleich entdecken. Er stand schon am Ende der
Straße, als er hinter einer mit grellen Farben bemalten Fensterscheibe einen Mädchenkopf sah. Da war der Lokkenkopf, die energische Kinnpartie und auch die Stupsnase! Kein Zweifel: Mabel Kendall! Ellis betrat den Laden, Es war eine von den vielen Eisdielen, die in den Hundstagen in den Städten wie Pilze aus der Erde schießen ein kleiner, primitiv ausgestatteter Raum. Ellis hockte sich auf einen der vor dem Verkaufstisch stehenden Schemel und bestellte einmal Vanilleeis. Mabel Kendall schob ihm die Eisschale hin, kassierte das Centstück und bediente weiter. Ellis beobachtete sie. Als sie wieder in seine Nähe kam, versuchte er ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen. Das Mädchen ließ sich nicht darauf ein, wollte sich sofort entfernen. Da beugte Ellis sich ein wenig über den Verkaufstisch zu ihr hin und sagte leise: "Ich soll Ihnen Grüße von Ihrem Vater ausrichten, Miß Kendall. Er ist besorgt um Sie, weil Sie ihn verlassen haben." Furcht und Zweifel spiegelten sich in dem Gesicht Mabel Kendalls. Sie blickte unstet umher, und ihr Mund blieb ein wenig geöffnet. Sie antwortete nicht, ließ ungeschickt einen Löffel fallen und sah verängstigt zur Tür des Nebenraumes hin. Seltsam, wie sehr das Mädchen die Fassung verliert, dachte Ellis. Wie kann sie nur so scheu und verängstigt sein? "Kann ich Sie sprechen? Ich bin ein Freund Ihres Vaters", sagte Ellis und schob ihr schnell den Brief über den Tisch zu. Ihre Verwirrung wurde zur Bestürzungf es war ihr anzumerken, wie sie innerlich mit sich rang. Wieder blickte sie scheu zur halb offenstehenden Tür des Nebenraumes hin,
als fühle sie sich von dort belauscht. "Ich kenne Sie nicht, und Sie können mich nicht sprechen", flüsterte sie furchtsam, während sie sich hastig umwandte und ein paar Schritte zur Tür ging. Den heimlich aufgenommenen Brief hielt sie unter einem Serviertablett verborgen. Gleich darauf kam ein Mann aus dem Nebenraum und stellte einen Eisbottich auf den Tisch. Sein forschender Blick überflog die im Raum anwesenden Gäste. Es kam Ellis vor, als ruhe der mißtrauische Blick des Mannes länger als erforderlich auf ihm, ehe er den Laden wieder verließ. Mabel machte sich emsig hinter dem Verkaufstisch zu schaffen, obwohl kein Gast zu bedienen war. Eine Falte zog sich über ihre Stirn. Ihre kleine Oberlippe war ein wenig aufgeworfen, und man sah die weißen Zähne dahinter. Ellis löffelte sein Eis. Das merkwürdige Verhalten des verwirrten Mädchens ließ auf nichts Gutes schließen. Wie gehetzt und gequält sie aussieht, ging es ihm durch den Kopf. Aber ich darf nicht länger hierbleiben, wenn ich nicht auffallen will. Außerdem kann ich vorerst doch nichts ausrichten. Als er sein Eis verzehrt hatte - Mabel war nicht mehr in seine Nähe gekommen -, verließ er den Laden. Nachdenklich stand er nun auf der Straße. Das Nachbargebäude zum Eisladen war ein größeres Bürohausf die Räume im Erdgeschoß gehörten zu einer Bank. "PHILADELPHIA-DEPOSITENBANK - ZWEIGSTELLE CHIKAGO" las Ellis auf dem Firmenschild. Dabei kamen ihm absonderliche Gedanken. Es fiel ihm ein, daß es auch seine Aufgabe sei, Vorsichtsmaßnahmen
für den Schutz der öffentlichen Kassen und Banken zu treffen. In New York hatte Pratton mit seiner Bande am hellichten Tag einmal eine Bank geplündert.
Am Nachmittag hatte Ellis noch eine Unterredung mit Colonel Randolph und den Inspektoren Kelling und Higgins. "Wir müssen erkennen, daß unsere bisherige Arbeitsmethode gegen die Gangster wenig Erfolg verspricht", erklärte er. "Besondere Verbrecher müssen auch besonders bekämpft werden. Es wird meine nächste und dringendste Aufgabe sein, die tatkräftige Mitarbeit der Bevölkerung zu gewinnen!" " . aber . aber, mein lieber Ellis! Haben Sie die ausgeschriebenen fünftausend Dollar Belohnung vergessen?" unterbrach ihn Randolph nervös und machte eine ihm eigene fahrige Handbewegung. Ellis fuhr fort: "Nein, ich habe die ausgesetzte Belohnung nicht vergessen. Nur, ich halte nicht viel davon. Ich verstehe unter ,tatkräftiger Mitarbeit der Bevölkerung' etwas anderes. Seit heute ist mir zum Beispiel bekannt, daß Menschen in dieser Stadt sich bereits zusammengeschlossen haben, um sich selbst gegen die Gangster zur Wehr zu setzen. Es handelt sich nicht etwa um eine Anzahl beliebig zusammengewürfelter Männer, die es vielleicht bloß auf die Belohnung abgesehen haben, sondern es handelt sich um eine gewerkschaftlich organisierte Berufsgruppe von Taxischoffören in einem Chikagoer Bezirk. Es ist einleuchtend, daß uns diese Männer eine große Hilfe sein können. Unser Polizeiapparat wird dadurch erheblich verstärkt. Wir wären dann in der Lage, Kräfte für besondere Aktionen abzuzweigen. Die Aufgabe der
Taxischofföre könnte gleichzusetzen sein mit der Arbeit einer ganzen Abteilung unseres motorisierten Überwachungsdienstes. Ja - es kommt noch ein Plus hinzu, das die Taxifahrer unseren Polizisten voraushaben: Sie tauchen unauffällig im Straßenverkehr unter, sie sind mit ihren Wagen Tag und Nacht in allen Stadtteilen unterwegs. Über hundert Mann sind es bereits im Michigan-Bezirk. Wenn es gelingt, die gesamten Gewerkschaftsbezirke für den Kampf gegen Pratton zu gewinnen, so kann die Bande kein größeres Verbrechen mehr vorbereiten, ohne daß man rechtzeitig auf sie aufmerksam wird. Ich werde mir über diesen Plan noch den Kopf zerbrechen." Eisiges Schweigen war die Antwort. Kelling und Higgins tauschten nur einen vielsagenden Blick miteinander aus. Colonel Randolph fingerte unnütz an seiner sowieso gutsitzenden Krawatte. "Um welche Gewerkschaft handelt es sich?" fragte er endlich. Es lag etwas Lauerndes, Verstecktes in dieser Frage. "Es handelt sich um die Gewerkschaft der Taxischofföre im Michigan-Bezirk, ein gewisser Kendall hat die Initiative ergriffen. Der Anlaß dazu war ein Erpressungsversuch. Die Leute greifen zum Selbstschutz, weil sie sich auf uns allein nicht verlassen wollen ." Colonel Randolph brannte sich gierig eine Zigarette an, machte einen tiefen Lungenzug und blies den Rauch durch Mund und Nase. "Davon muß ich entschieden abraten", erklärte er bestimmt. "Wenngleich ich Ihre besondere Mission im Hinblick auf den Fall Pratton auch respektiere, Mr. Ellis, so müssen sich alle Ihre Maßnahmen doch mit unserer allgemeinen Dienstordnung in Einklang bringen lassen. Der Umstand jedoch, daß Sie die Zusammenarbeit mit einer als radikal bekannten Gewerkschaftsgruppe
anstreben, macht aus dieser vielleicht dienstlichen Zweckmäßigkeit eine äußerst heikle politische Aktion. Wir dürfen auf keinen Fall aus der Reihe tanzen, müssen vielmehr bestrebt sein, alles zu vermeiden, was der Demokratie unseres Landes entgegenwirkt. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, lehne ich in jedem Fall eine offizielle Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft der Taxifahrer ab!" Es dauerte eine geraume Weile, ehe Ellis das Gehörte vollends begriff. Er fand, daß Colonel Randolph mehr die Ansichten eines behäbigsatten Bürgers als die eines verantwortungsbewußten Polizeichefs vertrat. Ellis war enttäuscht. Er hatte, wenn auch nicht begeisterte Zustimmung, so doch keine offene Ablehnung seines Plans erwartet. Himmelherrgott! Es konnte dabei doch absolut keine Rolle spielen, daß diese Gewerkschaft in bestimmten Kreisen als nicht gesellschaftsfähig galt, nur weil es sich um eine Arbeiterorganisation mit eigenen sozialen Grundsätzen handelte! Unmöglich, so zu denken, wenn alles Streben darauf gerichtet sein mußte, die Stadt von den Schrecken einer Unterweltbande zu befreien! "Dann werde ich inoffiziell um die Zusammenarbeit mit den Taxischoffören bemüht sein", erklärte Ellis, sich ruckartig von seinem Platz erhebend. Er hielt es für zwecklos, seinen Mitarbeitern heute noch mehr darüber zu sagen. Als er in seinem Arbeitszimmer allein war, öffnete er das Fenster und ließ frische Luft herein. Eine geraume Weile stand er da und dachte über die Zusammenhänge nach. Verdammt! Da konnte man durch den eigenen Arbeitseifer sogar als "Roter" verdächtigt werden. Man war in letzter Zeit scharf hinter solchen Leuten her. Waren sie noch gefährlichere Staatsfeinde als Pratton und seine Bande?
Ellis lachte grimmig auf. Er kam sich wie kaltgestellt und abgesägt vorf und dazu noch von einer Gesellschaft, der er rechtschaffen und pflichteifrig zu dienen sich bemühte. Trotz allem wollte er sich nicht entmutigen lassen. Er würde die Mitarbeit der Gewerkschaft anstreben. Diesen Männern war es in Fleisch und Blut übergegangen, für ihr Recht zu kämpfen und kollektiv zu handeln! Bei ihnen fand man wahrhaftig mehr Verständnis und Solidarität als bei den Spießern der piekfeinen Sippschaft! Ellis traf einige neue Anordnungen, telefonierte mit den verschiedenen Abteilungen, einmal sogar mit Kendall. Er berichtete von dem merkwürdigen Verhalten Mabels in der Eiskonditorei. - Ob er Morris etwa gesehen habe? - Ja, das könnte der Mann aus dem Nebenraum gewesen sein, vor dem Mabel so scheu und furchtsam gewesen sei! Sie hätten diesem Lumpen gleich den Eisbottich über den Schädel hauen sollen! - ereiferte sich der Alte am Telefon. Ellis mahnte zur Besonnenheit. Keine übereilten Bravourstücke jetzt! Zwei Kriminalisten aus dem Präsidium würden den Eisladen Tag und Nacht bewachen. Das hätte er bereits angeordnet. Dann erkundigte er sich über den organisatorischen Aufbau innerhalb des Taxifahrbetriebes, über die Parkplätze, Fahrtrouten und sonstigen Haltestellen in den einzelnen Stadtteilen. Ellis überprüfte und koordinierte seinen Plan. Er verglich an Hand der Chikagoer Stadtkarte die von den einzelnen Polizeistellen überwachten Reviere mit jenen der von den Schoffören kontrollierbaren Bezirke und erkannte, daß erst mit Hilfe der Taxifahrergewerkschaft ein wirklich engmaschiges Kontrollnetz aufgebaut werden konnte. Es ging auf Mitternacht.
Mabel Kendall stand im dunklen Laden am Fenster. Sie lugte durch das kleine Loch im Vorhang auf die nächtliche Straße und lauschte auf die Geräusche von draußen. So hatte Morris es ihr befohlen. Sie wurde von Angst und Verzweiflung gepeinigt. Mein Gott, in welch unheilvolle Verstrickung war sie geraten! Wie konnte sie von dem verhaßten Morris loskommen? Aber es ging ja um die Sicherheit, um das Leben ihres Vaters! Darum allein war sie Morris wieder gefolgt und auch, weil er versprochen hatte, keine unsauberen Geschäfte mehr zu machen. Der Eisladen war ja auch ordentlich registriert und auf ihren, auf den Namen Mabel Kendall eingetragen. Morris allerdings hatte alles bezahlt: die Ladenmiete, die Einrichtung, die Lizenzgebühren. Aber was hatte sie während der wenigen Tage und Nächte alles erlebt! Das allnächtliche geheimnisvolle Treiben im Eisladen zerrte an ihren Nerven. Was hier vor sich ging, war so unheimlich wie ein Spuk. Jeden Abend wiederholte sich das gleiche Geschehen: Kurz vor Ladenschluß betraten in Abständen noch mehrere Männer das Lokal. Nachdem der letzte uneingeweihte Gast die Konditorei verlassen hatte, die Tür verschlossen und das Fenster verhängt worden war, begann die eigentliche Arbeit. Der Kokoslaüfer am Boden wurde aufgerollt und die Kellerluke freigelegt. Dann stiegen die verwegen aussehenden Männer in die Kellerräume hinab. Morris gab Anweisungenf er war der Boß. Der Keller war hell erleuchtet, die Lampen abgeblendet. Kein Lichtstrahl konnte nach oben in den Laden fallen. Und unten hantierten die Männer mit Spaten, Spitzhacken und Brecheisenf einer arbeitete mit einem elektrischen Steinbohrerf zwei der Männer trugen die mit Sandmassen und Steingeröll ge-
füllten Korbgeflechte in den anschließenden Nebenkeller. Noch ahnte Mabel die Hintergründe des nächtlichen Treibens nicht. Aber es war ihr klar, daß Morris mehr denn je dem Gangstertum angehörte. Die Eröffnung der Eiskonditorei konnte nur ein Vorwand gewesen sein, um sie unwissend einer dunklen Sache dienen zu lassen. Mabel zuckte zusammen und lauschte nach draußen. Sie glaubte das leise Geräusch von schleichenden Schritten vernommen zu haben und schob den Fenstervorhang um einen Spalt beiseite. Tatsächlich! Da draußen schlich langsam die schattenhafte Gestalt eines Mannes vorbei, und es schien, als habe er den Kopf direkt zum Fenster gewandt. Vielleicht wurde der Eisladen schon überwacht? Alles war hier unheimlich! Ebenso die Geschichte mit dem Mann, der ihr gestern einen Brief vom Vater zugeschoben hatte . "Mabel! Warum hast Du Dich wieder mit Morris eingelassen?" stand darin. "Wenn Du Deinem Vater nicht vertraust, so vielleicht dem Überbringer dieses Schreibens. Ich habe von der Gewerkschaft den Telefonanschluß 2B 2436 bekommen. Unter dieser Nummer erreichst Du immer Deinen - Vater." Mabel hockte sich auf einen Schemel. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. Ich muß einen Entschluß fassen. Wenn ich mich nicht aufraffe, versinke ich hier im Sumpf, versuchte sie sich Mut zu machen. Wenn Morris sie nur nicht ständig umschleichen und bewachen würde! Keinen Augenblick ließ er sie unbeobachtet. Sie war ja so schlimm dran wie eine Gefangene! "Was gibt's? Etwas vorgefallen?" Morris stand plötzlich hinter ihr. Wie oft in den Nächten, so hatte er sich auch jetzt wieder lautlos aus dem Keller heraufgeschlichen.
Mabel zischte ihn an: "Was erschreckst du mich immer? Du treibst es noch so weit, bis ich weglaufe!" "Wir haben schon einmal darüber gesprochen. Du kannst gehen, wirst deinen Vater dann aber kaum lebend zu Hause antreten! Wir haben eben unsere eigenen Gesetze. Und vergiß nicht: Der Laden hier ist auf deinen Namen eingetragen." Morris verschwand wieder durch die Kellerluke. "Zum Teufel! Wir kriegen den Sand und die Steine nicht verstaut", hörte sie ihn unten fluchen. "Auf jeden Fall müssen wir tiefer ausschachten, wenn wir auf den Tresorraum stoßen wollen." Mabel hatte richtig verstanden: Tresorraum! Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen. Es gab keinen Zweifel mehr darüber, was Morris und seine Komplicen vorhatten! Der Eisladen war ein bloßer Vorwand, um einen längst geplanten Bankeinbruch auszuführen! Darum also war dieser genau neben dem Bankhaus gelegene Laden gepachtet worden! Die Erkenntnis traf Mabel wie ein Schlag. Nein, sie durfte sich nicht in ein Verbrechen verstricken lassen! Der Fernsprecher schnarrte. Morris stürzte herbei und meldete sich. Dann gab er mit gedämpfter Stimme einen Bericht: "Der Stollen ist genügend abgesteift und gangbar. Ja, wir arbeiten das letzte Stück vorsichtiger. Morgen nacht können wir durchbrechen. Es bleibt dabei, Chef!" Morris legte den Hörer auf und schnalzte mit der Zunge. "Der Chef ist mit mir zufrieden", er grinste hämisch zu Mabel hin. "Bis morgen noch, mein Püppchen, dann gehört der Eisladen dir allein!" Er kicherte leise, tapste zur Kellerluke und verschwand. Mabel lauschte nach untenf sie mußte hören, was Morris
dort besprach. Beim Allmächtigen! Es fiel der Name Pratton! Kein Zweifel: Morris hatte soeben mit Pratton gesprochen! Mabel fühlte ihr Herz bis zum Hals pochen. Ich muß ruhig bleiben, ermahnte sie sich. Für morgen nacht ist also der Bankeinbruch geplant. Ich muß handeln, dann wird noch alles gut! Sie dachte an den Brief ihres Vatersf die wenigen Zeilen darin gaben ihr Mut und Hoffnung. Und hatte ihr Vater von der Gewerkschaft nicht einen Fernsprechanschluß bekommen? Unter allen Umständen mußte sie versuchen, morgen heimlich anzurufen!
Der Kriminalist, den Ellis mit der Überwachung des Eisladens beauftragt hatte, berichtete: "Der Mann sowie das Mädchen, die Eisverkäuferin, haben das Haus zu keiner Stunde verlassen. Gegen Abend betraten sechs Männer den Laden und kamen erst im Morgengrauen um 4.15 Uhr - wieder heraus. Die Ermittlungen über die Personalien dieser Männer sind noch nicht abgeschlossen. Sonst, auch bei der Bank, keine besonderen Vorkommnisse!" Ellis rieb sich nachdenklich das Kinn. Der Verdacht bestätigte sich. Im Eisladen stimmte etwas nicht. Aber noch galt es abzuwarten. Ellis war gutgelaunt. Vorerst wollte er Kendall noch einmal aufsuchen, um mit ihm Näheres über die geplante Zusammenarbeit zu besprechen. Der Alte begrüßte Ellis in freudiger Erregung und teilte ihm sogleich eine Neuigkeit mit: "Stellen Sie sich vor: Mabel hat mich vor knapp einer Stunde angerufen! Sie sagte, ich hätte von Anfang an recht gehabt: Morris sei und bliebe ein Gangster! Sie will mich heute nacht in einer ungemein wichtigen Sache nochmals anrufen - und dann
müßte ich unverzüglich handeln! Was sagen Sie dazu, Mr. Ellis!" Die Nachricht überraschte und erfreute Ellis zugleich. "Ich habe das Gefühl, daß wir heute nacht noch allerhand erleben werden", sagte er. "Manche Dinge nehmen von selbst den richtigen Verlauf. Natürlich bleibe ich unter diesen Umständen heute nacht bei Ihnen, Mr. Kendall!" In der Tat überstürzten sich in dieser Nacht die Ereignisse. Um 23.40 Uhr schrillte das Telefon bei Kendall. Ehe Ellis, der gerade auf dem ausgebeulten Matratzensofa in der Stube ein wenig ruhen wollte, aufspringen konnte, hatte der Alte den Hörer schon am Ohr. Mabel meldete sich mit vor Erregung zitternder Stimme. Leise, wie im Flüsterton gesprochen, vernahm Kendall die Worte seiner Tochter. Abgehackt und stoßweise kamen die Worte: Einbruch - Pratton hier - schnell kommen. Darauf schwieg die flüsternd vibrierende Stimme des Mädchens. Kendall riß den Hörer an das andere Ohr. Aber nur noch ein Knacken war in der Leitung zu hören. Einen Augenblick starrte der Alte Ellis mit großen Augen an. Dann wählte er die Nummer der Zentralgewerkschaft. Seine Gestalt straffte und reckte sichf diszipliniert stand er am Apparat. Niemand hätte ihm seine Erregung anmerken können. Klar und deutlich gab er seine überlegte Anweisung: "Im Eisladen unterm Waker-Drive in der 34. Straße geschieht ein Verbrechen! Pratton ist dabei! Alle Schofföre aus unserem Bezirk müssen sofort dorthin und die Straße blockieren! Ich wiederhole ." Als er den Hörer auflegte, sah er Ellis triumphierend an. "Auf meine Leute kann ich mich verlassen", rief er in unbändiger Freude. "Unsere Nachrichtenübermittlung klappt tadellos. In wenigen Augenblicken wissen schon
alle Fahrdienstbereitschaften unseres Bezirkes Bescheid. Außerdem sind alle Parkplätze durch direkten Fernsprechanschluß erreichbar. Los, Ellis, hin zum Eisladen!" feuerte er ihn an. Der kam sofort in Schwung. "Stopp!" rief Ellis, während er schon die Wählerscheibe drehte und an das Haupt-Überfallkommando die gleiche Alarmmeldung durchgab. "So, jetzt kann's losgehen! Gleiche Chancen für alle! Es wird sich zeigen, ob die Polizei oder Ihre Gewerkschaft diesen Wettkampf gewinnt!" So flink und lebendig wie in diesem Augenblick, da Kendall auf den Hof lief und den Gewerkschaftswagen anfuhr, hatte Ellis ihn noch nicht gesehen. "Wenn ich daran denke, daß Pratton im Eisladen ist .!" frohlockte Ellis. Er fuhr mit der Hand durch seinen wirren Haarschopf. Die ausgelöste Spannung hatte auch ihn ergriffen. Eine Hetzjagd durch die nächtlichen Straßen der Stadt begann. Kendall fuhr wie der Teufel. Er bot seine ganze Fahrkunst auf. Ellis, der neben ihm saß, schloß in den Kurven die Augen. Dieses tollkühne Tempo! An der Ecke zur 34. Straße hielt Kendall. Ellis sprang aus dem Wagen und lief zum Eisladen. Er stand vor dem verdunkelten Fenster. Da wurde von drinnen der Vorhang zurückgezogen. Aus der Dunkelheit des Raumes auftauchend, erschien hinter der Scheibe Mabel Kendall, die mit stummer Gebärde ein Zeichen gab, wieder in der Finsternis verschwand und wenige Augenblicke später auf die Straße herausstürzte. In fiebernder Hast schloß sie die Tür wieder und zog den Schlüssel ab. Sie atmete in großer Erregung - wie ein Keuchen hörte es sich an. Ellis wollte sie stützen. Doch da kam schon Kendall her-
bei, dem sie sich sogleich zuwandte. Was sie atemlos hervorstieß, war eine Ergänzung der telefonischen Nachricht: Ja, Pratton sei selbst im Ladenkeller und leite mit Morris den Durchbruch zum Tresorraum der Bank. Doch jetzt seien sie eingeschlossen und gefangen wie in einer Mausefalle, brauchten nur festgenommen zu werden! Aber jeden Augenblick könnten ihre Flucht und der Verrat bemerkt werden - dann sei es zu spät! Kendall schüttelte den Kopff und in der Aufwallung seines Triumphes drückte er seine Tochter an sich. Nein, es war nicht zu spät! Denn jetzt rollten bereits pausenlos die Taxi heran. Im abgeblendeten Scheinwerferlicht schoben sich die Autos aus der Ost- und Westrichtung in die Straße. Einzelne Wagen drängten nach vorn, schlängelten sich mit erstaunlicher Steuerungskunst dazwischen, jeden Meter der Asphaltstraße ausfüllend. Die Kette der anrollenden Taxi riß nicht ab. Immer neue Wagen kamen heran. In der Nähe des Eisladens schoben sich die Fahrzeuge über den Fahrdamm auf den Gehsteig. Die Straße glich einem riesigen Parkplatz, war an dieser Stelle in der gesamten Breite verstopft, verrammelt und blockiert, einem lückenlosen Absperrgürtel gleich. Kendall leitete diesen Aufmarsch seiner Kollegen wie ein siegesgewisser Feldherr. Er stand an der Einfahrt zur 34. Straße und lenkte die ankommenden Wagenreihen, schleuste sie über die holprige Bordsteinkante auf den Bürgersteig. Immer mehr stauten sich die Autokolonnen. Es war die größte und merkwürdigste Auffahrt-Demonstration der Chikagoer Taxifahrer! Und von weit her heulten die Sirenen der Wagen des Überfallkommandos und der Radio-Polizei-Patrouillen
auf, die, von Ellis alarmiert, erst jetzt ankamen und durch
die schnelleren Taxischofföre keine Vorfahrt mehr bekommen konnten. "Beim Sternenbanner! Die gesamte motorisierte Chikagoer Polizei hätte das nicht zuwege gebracht!" rief Ellis voller Begeisterung. Er klemmte sich durch die engen Zwischenräume inmitten der dicht zusammengeschobenen Fahrzeuge, um die herbeieilenden Polizisten des Überfallkommandos zu informieren. Ellis brauchte sich nicht auszuweisen. Der Führer des Kommandos erkannte ihn sofort, obwohl er durch diese haarsträubend verkehrswidrige Autoauffahrt-Massierung verwirrt und kopflos war. Er fügte sich auffallend schnell den Befehlen Ellis'. Was hier geschah, war einmalig in der amerikanischen Polizeigeschichte! Ellis gruppierte die Polizisten und ließ sie die Pistolen schußbereit halten. Er raunte dem an seiner Seite stehenden Negerschofför Jimmy, der als eifrigster Mann sich von Anfang an in die Reihe der Polizeiwagen gedrängt hatte, etwas zu. Und auf sein Handzeichen leuchteten die Autoscheinwerfer blitzartig und grell auf, kreuzten sich, fielen konzentriert auf den Ladeneingang. Die Tür war verschlossen. Ellis sah sich nach Mabel um. Sie gab ihm den Schlüssel. Ellis betrat als erster den Laden. Finsternis starrte ihm entgegen. Kein Schuß fiel bisher - ein Wunder. Die Taschenlampen der nacheilenden Polizisten durchleuchteten den Raum. Keine Menschenseele! - Fühlten sich die Gangster so sicher, oder hatten sie beim Anblick der undurchdringlichen Autoabsperrkette keinen Ausbruchsversuch mehr gewagt?
Ellis, der mit vorgehaltener Pistole voranging, stolperte auf einmal. Er war gegen die über den Fußboden vorstehende Kellerluke gestoßen. Das schien das Alarmsignal für die im Keller eingesperrten Gangster zu seinf denn plötzlich entstand unter dem Fußboden ein Tumult, ein Poltern und Krachen, vermengt mit Flüchen aus rauhen Männerkehlen. Gleich darauf peitschte eine Abwehrsalve aus Maschinenpistolen gegen die Kellerluke. Ein Knattern und Bersten von splitterndem Holz schlug herauf. Ein Polizist, der an Ellis' Seite gestanden hatte, torkelte zurück, strich sich mit der Hand über das schmerzverzerrte Gesicht, das im Nu blutüberströmt war. Der Lärm unten verstärkte sich. Ein höllisches Getümmel herrschte im Keller. Die Gangster verbarrikadierten sich! Die Lichtkegel der Taschenlampen huschten gespenstig durch den Laden. Ellis stieß mit dem Fuß den Deckel der Kellerluke beiseite. Ein großer quadratischer Lichtkegel fiel durch das Dunkel. Im selben Augenblick prasselte eine Salve von unten herauf. Ellis duckte sich sofortf doch als er sich wieder aufrichten wollte, traf ihn ein scharfkantiges von der Ladendecke abgebröckeltes Putzstück an die Schläfe. Er wankte um einen Schritt zurück. Ein Polizist trat an seine Stelle und warf eine Gasbombe in den Keller. Ein dumpfer Knall erfolgte, und gleich darauf setzte eine ungestüme Rauchentwicklung ein. Man hörte die Gangster unten brüllen, husten und keuchen. Pratton feuerte seine Komplicen an. Doch diesmal mußte jeder Widerstand aussichtslos bleiben. Wie aus einem Schornstein stiegen dicke beißende Rauchschwaden aus der Kelleröffnung nach oben - Schwefelqualm verseuchte die Luft. Man mußte die Augen schließen und zurückweichen.
"Tränengas! Wir kriegen die Bande schon ausgeräuchert!" rief ein Polizist. Noch einmal setzten die verzweifelten Gangster zu einem Ausbruchsversuch an. Plötzlich stürzten aus dem Qualm des Kellerzugangs zwei Mann mit vorgehaltener Maschinenpistole nach oben und feuerten blindlings um sich. Ellis hatte rechtzeitig das Kommando zum Hinlegen gegeben. Die Geschosse schlugen gegen die Wand und durch die Fensterscheibe in die Karosserie eines Autos. Das war der Auftakt zu einem kurzen, aber heftigen Kampf. Als am Ende die sich mit erhobenen Händen ergebenden Gangster aus dem Laden wankten und in Handschellen gelegt wurden, erkannte Ellis auch Pratton unter ihnen. Sein brutales und jetzt blutverschmiertes Gesicht, von einem grellen Autoscheinwerfer angestrahlt, hatte einen verzerrten und seltsam verbissenen Ausdruckf als er an der langen Absperreihe der Taxifahrer vorüberwankte, flakkerte sein Blick. Er wollte es nicht wahrhaben, daß seine Festnahme durch die Chikagoer Taxischofföre entschieden worden war. Ellis überwachte den Abtransport der Gangster. Da hörte er auf einmal von der Mitte des Fahrdamms her, wo die Autos am gedrängtesten standen und die Absperrung am dichtesten war, eine laute wohlbekannte Stimme: "Platz da! Lassen Sie uns durch!" Es war Colonel Randolph aus dem Präsidium, der nun mit den beiden Inspektoren Kelling und Higgins erschien. "Das ist ja das großartigste Stück in unserer Kriminalgeschichte!" kam es sprudelnd über die Lippen des Polizeichefs. Als er Ellis' ansichtig wurde, ging er sofort zu ihm hin. Seine etwas pausbackigen Wangen zitterten. Bevor er
sprach, holte er wie ein Asthmatiker tief Luft. "Sagen Sie selbst, Mr. Ellis: Wie kam dieser glänzende Erfolg zustande?" Ellis paffte aus seiner eben angerauchten Pfeife und antwortete scheinbar freundlich: "Dieser glänzende Erfolg kam dadurch zustande, weil ich mehr an die einfachen Menschen glaubte als Sie!"