Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 504 Die Mausefalle
Menschen zweiten Grades von Horst Hoffmann
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 504 Die Mausefalle
Menschen zweiten Grades von Horst Hoffmann
In den Elendsquartieren der SOL
Es geschah im Dezember des Jahres 3586, als Perry Rhodan mit seinen Gefährten die SOL verließ und zur BASIS übersiedelte, nachdem er den Solgeborenen das Generationenschiff offiziell übergeben hatte. Die neuen Herren der SOL sahen sich somit endlich in die Lage versetzt, ihre Wünsche zu realisieren. Sie trennten sich von der Menschheit, um ihre eigenen Wege zu gehen. Sie betrachteten den Weltraum als ihren eigentlichen Lebensbereich und das Schiff als ihre Heimat – und die meisten von ihnen scheuten davor zurück, das Schiff zu verlassen und einen Himmelskörper zu betreten. Seit der Zeit, da die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf große Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs gehört. Im Jahr 3791 ist es jedoch soweit – und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten entlassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert. Die Verhältnisse auf dem Schiff zwingen den Arkoniden, das Leben eines Gejagten zu führen. Dabei kommt er auch zusammen mit MENSCHEN ZWEITEN GRADES …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide bei den Menschen zweiten Grades. Arnos Ters ‐ Ein Vystide. Sedera Gampfer ‐ Chefin einer Verteilerzentrale. Elyt Avat ‐ Anführer der Gang. Dorsey Byrg und Sandy Wilson ‐ Zwei technisch begabte Mitglieder der Gang.
1. Joung Kam lehnte lässig im Eingang der Lagerhalle, eine Hand in der Hosentasche, die andere mit dem Daumen hinter den leichten Thermostrahler an seiner Hüfte gehakt. Er schüttelte den Kopf. »Manchmal frage ich mich«, sagte er, »warum wir das tun.« Einer der anderen Haematen, wie Kam meist noch junge Männer, vierschrötige Kerle in Kampfkombinationen aus einem stählernen Blauschwarz, lachte trocken. »Sie durchfüttern? Damit wenigstens die SOL‐Farmer noch Arbeit haben, Joung. Damit sie nicht noch frecher werden. Ach, was weiß ich!« Kam blickte finster drein. Seine Haltung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß er recht eigene Vorstellungen davon hatte, wie man mit den »normalen« Solanern umspringen sollte – also mit jenen, die weder zur SOLAG gehörten, noch zu den Buhrlos, Monstern, Extras oder SOL‐Farmern. Arnos Tersʹ Haltung ihnen gegenüber erschien ihm viel zu lasch. Doch Ters war sein direkter Vorgesetzter, und Kam hütete sich, ihn offen zu kritisieren. Die knapp zwanzig Haematen, unter ihnen drei junge Frauen, beobachteten von einem der Eingänge aus, wie ein Dutzend Roboter eine Ladung Gemüse von einer der Farmen in die Ver teilerstation brachten, die irgend jemand irgendwann einmal »Grouvy« getauft hatte. Die korrekte Bezeichnung lautete VS‐3‐SZ‐1. Grouvy war eine von insgesamt acht solcher Stationen in der SZ‐1. Von hier aus
wurden zwölf Solanergruppen unterschiedlicher Stärke versorgt, denen zusammen etwa 3 000 Menschen angehörten. Früher einmal beherbergte die große Halle einen Info‐Stand mit Bibliotheken und Archiven. Kaum jemand erinnerte sich noch daran. Kaum jemand interessier te sich noch für die Vergangenheit – außer den Terra‐ Idealisten und an deren Grüppchen, die auftauchten und wieder von der Bildfläche verschwanden. Nahʹ rung und Kleidung waren den einfa chen Solanern wichtiger. Oft nutz ten sie die Gelegen heit, um Transporte zu überfallen oder sich blitzschnell eine »Sonderration« zu erhaschen. Darum waren Arnos Ters und seine Haematen jedesmal zur Stelle, wenn Nachschub für Grouvy ankam, hier im 23. Deck der SZ‐1. »Nichtstuer und unnötiger Ballast«, knurrte Kam, der aus seiner Ansicht keinen Hehl machte, daß die Mitglieder der SOLAG die SOL ganz gut allein führen und bevölkern könnten. »Ich verstehe den High Sideryt nicht.« »Überlege dir, was du sagst«, flüsterte ihm sein Nebenmann zu, als Ters sich kurz zu ihnen umdrehte. Der Vystide in seinem enganliegenden, hochglänzenden, silbernen Metallfolienanzug stand in der Mitte der Halle neben einer Ahlnaten‐Frau, die jede einzelne hereingetragene Ladung peinlich genau überprüfte. »Ach was!« Kam nickte Ters zu, wie um zu sagen, daß draußen alles ruhig sei. Der Vystide bedachte ihn mit unwilligen Blicken, um sich dann wieder der Frau zuzuwenden. Kam fluchte. »Ich sage euch, eines Tages bekommen wir alle mehr Schwierigkeiten mit den Faulenzern, als uns lieb sein kann, wenn wir jetzt nicht härter durchgreifen. Eine der Gruppen, die von hier aus beliefert werden, hat sich schon einen passenden Namen zugelegt. Sie nennt sich die Gang.« »Gang?« Kam zuckte die Schultern. »So nannten sich früher einmal bewaffnete Banden auf der Erde.« Das Wort kam verächtlich über seine Lippen. »Ich weiß es von ihr.«
Er deutete mit dem Kinn auf die Ahlnatin. Sedera Gampfer war bekannt dafür, daß sie ihre Position als Chefin der Verteilerstation in mancher Beziehung schamlos ausnutzte. Nicht nur, daß sie Spaß daran hatte, die Verteilung der Waren ziemlich willkürlich vorzunehmen. Sie war in der Wahl ihrer Partner nicht zimperlich. Mit wem sie gerade zusammen war, der konnte sich einiges an Sonderrationen in die Taschen stecken, solange er sie bei Laune hielt. Es hieß, daß sie fast mit jedem Gruppenoberhaupt in diesem Bereich der SOL‐Zelle‐1 schon ein Verhältnis gehabt habe. Dabei erfuhr sie so einiges, das sie wiederum für ihre Zwecke auszunutzen verstand. Nach außen hin wirkte sie eher sanft und beherrscht, aber das täuschte. Se dera war nicht mehr die Allerjüngste, doch immer noch attraktiver als die meisten Frauen hier. Und ihre Reize wußte sie nur zu gut einzusetzen, wenn es um ihren Vorteil ging. Immerhin hatte ihr das schon einige handfeste Auseinandersetzungen mit Ters eingebracht – und einen auf Betreiben des Vystiden erhaltenen Verweis von den Magniden, ihre Arbeit sachlicher durchzuführen. Kam wäre an Tersʹ Stelle anders mit ihr umgesprungen. Der Vystide war im Gegensatz zu den anderen Offizieren fast umgänglich und verwechselte Gerechtigkeit mit Schwäche. Früher oder später mußte er einen Fehler begehen, auf den der ehrgeizige Haemate nur wartete. Kam beobachtete noch eine Zeitlang die Roboter, wie sie die Gemüsebehälter in der Halle abstellten oder direkt auf Antigravscheiben legten. Auch einige Fleischpakete von gezüchteten Tieren waren dabei, und Syntho‐Nahrung aus den Labors und Gegenstände für den täglichen Bedarf. Kam sah Kleidungsstücke, die von irgendeiner der Solanergruppen hergestellt worden waren. In jeder Gruppe, die oft regelrechte Stadtstaaten bildeten, gab es ein paar Männer und Frauen, die sich noch auf dieses und jenes Handwerk verstanden und somit der
ansonsten überall herrschenden Langeweile entgingen. Das änderte nichts an Kams Meinung über sie. Der Haemate blickte über die Köpfe seiner Kameraden hinweg auf den Korridor hinaus. Tatsächlich ließ sich kein Solaner blicken, um im passenden Moment etwas zu stehlen. Das war um so überraschender, als nicht alle Tage Transporte von solchem Umfang in Grouvy eintrafen. Kam murmelte eine Verwünschung. Insgeheim hatte er gehofft, daß etwas geschehen würde, bei dem er sich vielleicht hätte hervortun können. Auch die anderen Eingänge waren von Soldaten bewacht. Die Ferraten, die zur Entlastung der Vystiden sonst die Verteilerstation mit einigen alten Kampfrobotern kontrollierten, standen gelangweilt ah den Wänden oder halfen den Robotern, wobei sie sich oft gegenseitig im Weg standen. Acht weitere Maschinen erschienen, alle vollbepackt mit Kisten, Beuteln und Kleidungsstücken oder Decken. Kam lehnte interesselos im Eingang und hoffte, daß dieser ganze Zirkus bald vorüber sein würde und irgendwo in diesem Teil des Schiffes etwas geschah, das ihm Gelegenheit gab, seine angestauten Aggressionen loszuwerden. Es geschah – und es geschah hier. Zunächst sah es nur so aus, als wollten sich zwei der Roboter an den anderen vorbeidrängeln, um ihre Last möglichst schnell abzuliefern. Kam beobachtete sie ohne wirkliches Interesse. Dies änderte sich, als er sah, daß sie sich hinter Tersʹ und Sederas Rücken vorbeischlichen, wobei sie es geschickt verstanden, die Unachtsamkeit und das Durcheinanderlaufen der Ferraten auszunutzen. Kams Gestalt straffte sich. Er wollte seinen Nebenmann schon mit dem Ellbogen anstoßen, um ihn darauf aufmerksam zu machen. Dann zögerte er. Unauffällig sah er sich um. Niemand außer ihm schien das
seltsame Verhalten der beiden Roboter bemerkt zu haben. Aller Augen waren auf Ters und Sedera gerichtet, die sich plötzlich heftig und lautstark zu streiten begannen. Und das schien das Zeichen für die Roboter zu sein. Die beiden Maschinenwesen huschten auf eine Wand zu, in der sich nun vor ihnen blitzschnell ein Schott öffnete. Sie glitten hindurch. Es schloß sich hinter ihnen. Kam wartete darauf, daß jemand aufschrie und hinüberdeutete. Doch der Alarm blieb aus. Amüsiert oder verärgert über die weitere Verzögerung verfolgten die Männer und Frauen das Wortgefecht zwischen dem Offizier und der Ahlnaten‐Frau. Niemand hatte die Ausbrecher gesehen. Niemand vermißte sie und das, was sie aus der Halle gebracht hatten. Nun verstand Joung Kam von Kybernetik kaum etwas, von anderen Techniken und Wissenschaften nicht viel mehr. Nur eines wußte er: Roboter aßen kein Gemüse und stiegen nicht in für Menschen bestimmte Kleidungsstücke. Das aber konnte folglich nur bedeuten, daß sie für jemanden »arbeiteten« – für jemanden, der es verstanden hatte, an ihrer Programmierung zu drehen. Aber wer sollte das sein? Und wer verstand sich überhaupt noch auf so etwas, außer den Spezialisten in Reihen der SOLAG? Jemand, der das Zeug brauchen kann, das sie schleppen! dachte der Haemate. Jemand, der jetzt irgendwo in der Nähe auf seine Lieferung wartet! Das war seine ersehnte Chance. Joung Kam drückte sich durch die Gruppe der umstehenden Haematen auf den Korridor hinaus. Er ging über den Korridor, bis er außer Sichtweite der Kameraden war. Dann bog er ab. Er wußte, auf welchen Gang das Schott führte, durch das die Roboter verschwunden waren. Kam begann zu laufen. Er verschwendete keinen Gedanken daran, daß er Arnos Ters hätte Meldung machen müssen. Sollte sein Verdacht zutreffen und er den Coup der Unbekannten vereiteln können, hatte Ters bald ohnehin
nicht mehr viel zu sagen. Er, Joung Kam, aber konnte sich seine Sporen verdienen. * Ein Deck tiefer, ziemlich genau unter der Verteilerstation, lag das Gebiet der Gang, die nicht nur einigen Vystiden und Sedera Gampfer ein Begriff war. Der High Sideryt und die Magniden hatten ein wachsames Auge auf die Gruppen, die sich immer wieder neu bildeten, auflösten oder mit anderen zusammenschlossen. Allgemein konnte man sagen, daß die einzelnen Gruppen der »normalen« Solaner sich um so stärker voneinander abgrenzten, je länger die Krisen an Bord des mächtigen Schiffes andauerten und je massiver sie das Leben der Besatzung bedrohten. Die Spitze der SOLAG förderte sogar diesen Prozeß, denn natürlich wußte sie, daß sie gegen eine geeinte Besatzung nicht viel zu bestellen hätte. Zerstrittene Gruppen waren leichter zu lenken. Oft genug griff die SOLAG manipulierend in die Verhältnisse einzelner Gruppen untereinander ein, etwa wenn eine von ihnen zu stark wurde. In solchen Fällen verstand die Schiffsführung es geschickt, andere Solaner gegen diese aufzuhetzen, wobei natürlich darauf geachtet werden muß, daß keine längeranhaltenden Kämpfe an Bord tobten. Ge nau genommen war dies eine Gratwanderung, die jederzeit verhängnisvoll ausgehen konnte. Zwar waren die einfachen Solaner offiziell nicht bewaffnet, so daß die Gefahr eines regelrechten Bürgerkriegs kaum gegeben war. Sie verfügten über vergleichsweise primitive Hieb‐ und Stichwaffen. Unter der Hand jedoch wurden oft genug einzelne gestohlene Strahler gehandelt. Gruppen, die über Energiewaffen verfügten, waren anderen gegenüber natürlich im Vorteil. Doch selbst das Wissen um solche Waffen in Händen vereinzelter Männer und Frauen brauchte Chart Deccon und den Magniden noch keine
schlaflosen Nächte zu bereiten. Zum einen hatten sie die Vystiden, Ferraten und Kampfroboter, die jeden Aufstand schnell im Keim ersticken konnten, zum anderen blieb den Anführern der einzelnen Gruppen gar nichts anders übrig, als mit der SOLAG zu kooperieren, wollten sie möglichst lange in Amt und Würden bleiben. Natürlich gab es auch solche unter den Solanern, die Einheit und gemeinsames Handeln predigten. Immer wieder tauchten solche Propheten auf. Doch in der Regel waren sie schnell mundtot gemacht. Wie groß, einflußreich und stark die Solaner‐Gruppen im einzelnen waren, hing letztlich davon ab, welchen Bereich der drei SOL‐Zellen sie beherrschten und kontrollierten. Wer in der Nähe von Labors angesiedelt war, entwickelte sich anders als jene, die in ehemaligen Kabinenfluchten, Lagerhallen oder Korridoren lebten oder neben Maschinenräumen ihr Dasein fristeten. Trotz des fast schon programmatischen Namens stellte die Gang mit ihren nur 190 bis 200 Mitgliedern für die SOLAG kein Problem dar. Die Mitgliederzahl schwankte stetig, bedingt durch Geburten und Todesfälle – und der Tod war an Bord der SOL für Unvorsichtige ein schneller Besucher. Die Gruppe nannte ihr Gebiet seit einiger Zeit Centerhaven. Und wo immer sie den uralten Begriff Gang aufgeschnappt hatten – die Männer und Frauen von Centerhaven hatten noch andere, ähnliche Bezeichnungen für sich und ihr Umfeld parat. So war Elyt Avat, ihr Anführer, für sie der »Boß«. Die wenigen Buhrlos in Centerhaven hießen »Space Kids«, und die drei Extras, mit denen man Centerhaven teilte, bekamen Namen je nach ihrem Aussehen. Wer diese und andere Eigenheiten der Gang kannte, wußte auch sogleich über den jungen Mann Bescheid, dessen Namenszusatz »Manhattan« lautete. Dorsey »Manhattan« Byrg und sein fast ständiger Begleiter Sandy Wilson gehörten noch zu den jungen Burschen der Gang. Sie waren
kaum der Pubertät entwachsen, hatten die Köpfe voller verrückter Ideen und galten als unzertrennlich. Spötter sagten, daß sie selbst ihre Mädchen miteinander teilten. Heute jedoch stand weder Byrg noch Wilson der Sinn nach Frauen. Sie hatten eine andere, faszinierendere Leidenschaft. Centerhaven lag in der Nähe einer alten Reparaturwerkstatt der SZ‐ 1, und dort verbrachten die beiden Jünglinge jede freie Minute, kramten in allen möglichen verstaubten Lagerräumen herum, immer auf der Suche nach etwas, mit dem sich etwas Aufregendes anfangen ließ. Denn auch die Gang erstickte in Langeweile. An diesem Tag war das anders. Sandy Wilson und Dorsey »Manhattan« Byrg hockten in einem Raum der alten Werkstatt, den sie schon oft als Versteck benutzt hatten, wenn aufgebrachte Gruppenangehörige hinter ihnen her waren, denen sie mit ihren selbstgebastelten Maschinen Schrecken eingejagt hatten. Um eine Energiefräse herum waren zu Dutzenden leere Kisten gestapelt und vor den einzigen Eingang geschoben. Nur ein Loch blieb offen, gerade groß genug, um einen Mann hindurchkriechen zu lassen. Byrg trommelte unruhig mit den Fingern der rechten Hand auf den glatten Boden. Wilson lag ausgestreckt neben ihm und starrte auf den Eingang. »Du machst mich verrückt mit deinem Getrommle«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Aber sie müßten schon da sein«, flüsterte Byrg, als hätte er Angst vor versteckten Abhörgeräten. Unruhig rutschte er bis zur Wand und ließ sich mit dem Rücken dagegen fallen. »Sie sind überfällig.« »Bleib ruhig, Junge«, murmelte Wilson. »Cool …« »Cool! Cool! Auch dann noch, wenn sie uns auf die Schliche kommen?« Wilson schien durch nichts zu beeindrucken. Träge drehte er sich auf die Seite und blickte den Freund kopfschüttelnd an.
»Wolltest duʹs tun oder nicht, eh? Es war deine Idee, wenn ich dich daran erinnern darf. Sicher gabʹs bei der Verteilung eine Verzögerung. Was weiß ich? Vielleicht macht Ters mit seinen Gorillas oben Stunk, oder Sedera macht dem Vystiden schöne Augen. Nun sieh mich nicht so an, Dorsey. Die Roboter werden schon kommen.« »Ja«, knurrte Manhattan. »Kampfroboter!« »Dorsey, manchmal glaube ich, daß du …« Wilson winkte ab, grinste still in sich hinein und schob sich wieder in Lauerstellung. »Ich muß verrückt gewesen sein, als ich mich darauf einließ«, fuhr Byrg in seiner Selbstbemitleidung fort. »Total verrückt. Eine Schnapsidee!« »Deine Idee, Dorsey«, sagte Wilson nur. Byrg richtete sich an der Wand auf und begann, unruhig auf und ab zu gehen, trat gegen am Boden liegende Schachteln und fluchte. »Sie kommen nicht mehr, ich sagʹs dir. Außerdem – wie konnte ich wissen, daß du damit Ernst machen würdest? Verrückt, alles verrückt, und dabei soll der Mensch cool bleiben.« »Und wir haben sowieso nicht mehr lange zu leben«, knurrte Wilson. »Dorsey, jetzt halt endlich die Klappe!« »Ich sag ja schon nichts mehr.« Manhattan zog sich in seinen Schmollwinkel zurück und versuchte, ruhig zu sein. Er blickte an sich herab und musterte dann den Freund. Sie sahen heruntergekommen aus, aber kaum einer aus der Gruppe trug mehr als Fetzen am Leib – außer dem Boß natürlich. Avat trug immer hochgeschlossene Kleidung bis zum Hals und sogar Handschuhe. Er war der Boß. Er konnte das. Manchmal aber hatte Byrg den leisen Verdacht, Avat wollte etwas unter seiner Maskerade verbergen. Zerfetzte Leinenhosen, Strümpfe mit mehr Löchern als Maschen und ein altes, kariertes, nach Schweiß riechendes Hemd. Byrg
konnte sich bald selbst nicht mehr sehen. An diesem Tag ödete ihn überhaupt alles an. Dabei sollte er gespannt sein wie ein Kind auf sein Geburtstagsgeschenk. Vielleicht brachten die Roboter auch neue Kleider. Aber was sollte er damit? Die Tage der SOL waren ohnehin gezählt. Zuerst waren es nur Gerüchte gewesen, daß das Schiff irgendwo feststeckte. Dann, vor nur wenigen Tagen, war es so arg durchgebeutelt und gerüttelt worden, daß es dabei sogar Tote und viele Verletzte gegeben hatte. Jedenfalls sagten das einige Besucher von den benachbarten Gruppen, mit denen man gerade keinen Ärger hatte. Auf jeden Fall ging irgend etwas vor, und die Schiffsführung verschwieg es den einfachen Solanern. »Zur Hölle mit Deccon!« fluchte Byrg und setzte sich wieder. »Was hast du jetzt mit Deccon?« fragte Wilson. »Du weißt so gut wie wir alle, daß …« Er richtete sich halb auf und schob den Kopf vorsichtig durch die Öffnung. »Was ist?« fragte Byrg flüsternd. »Kommen sie?« »Oh nein!« seufzte Wilson. »Sandy, was sieht du? Kampfroboter?« »Ja, einen. Ein weiblicher Kampfroboter. Deine Mabel.« Byrg war mit einem Satz wieder auf den Beinen. Kopfschüttelnd beugte er sich über den Kumpan – und sah auch schon das Gesicht eines Mädchens, gleich darauf ihren Oberkörper in einer durch Verschleiß fast durchsichtigen Bluse und den Rest von ihr. Wilson zog sie in den Raum. »Hallo, Jungs!« rief Mabel, klopfte Wilson dankbar auf die Schulter und warf Byrg einen Kuß zu. »Ziemlich schwer, euch zu finden. Sind sie schon da?« »Oh, Mabel!« entfuhr es Byrg. »Du solltest doch nicht …« Vergeblich versuchte er, sie zu warnen. Wilson kniff ärgerlich die Augen zusammen. »Was ist?« wollte die Blondine mit dem schmalen Gesicht wissen.
»Hab ich was Falsches gesagt?« »Kommt auf den Standpunkt an«, knurrte Wilson. »So, Mr. Manhattan Byrg. Du kriegst vor Angst kalte Füße und trompetest dabei in der Gegend herum, was wir …« »Du spinnst! Ich habʹs nur ihr gesagt, und Mabel hält dicht.« Dorsey packte sie am Handgelenk. »Stimmtʹs nicht, Mabel?« Sie blickte von einem zum andern. »Ich glaube, bei euch stimmt was nicht. Sandy, ist er immer noch in dieser schrecklichen Weltuntergangsstimmung?« »Ist gar kein Ausdruck«, versetzte Wilson wütend. »Aber wenn du schon da bist, dann sorge um Himmels willen dafür, daß er jetzt den Mund hält. Ehrlich, Mabel: hast duʹs noch irgend jemand erzählt?« »Bin ich verrückt und blamiere mich?« Das sagte alles über die Erfolgsaussichten aus, die sie dem Coup gab. Sie setzte sich, zog Byrg zu sich herab und legte ihm einen Finger auf den Mund. »Du bist jetzt still!« flüsterte sie. »Oder ich sage Sandy, was du gestern abend über ihn …« Wilson wollte gar nicht wissen, was Byrg gesagt oder getan hatte. Immerhin verfehlte Mabels Drohung ihre Wirkung nicht, und der Quälgeist gab Ruhe. Wilson legte sich wieder auf die Lauer. Und diesmal mußte er nicht lange warten. Joung Kam sah die beiden Roboter, noch bevor sie in den Antigravschacht schweben konnten. Er brauchte sich nicht mehr in Nischen drücken oder sonstwie unauffällig zu verhalten. Sie bemerkten ihn nicht, was ihm nun, da er sie genauer betrachtete, kaum verwunderlich vorkam. Vor allen Maschinen, die zu Transportzwecken und anderen einfachen Arbeiten eingesetzt wurden, waren dies die zerbeultesten und ältesten, die der junge Haemate jemals zu Gesicht bekommen hatte. Sie mußten einer längst ausgelaufenen Modellreihe angehören.
Alt sind sie alle, zweihundert Jahre alt! dachte der Soldat. Jedenfalls war ihm nicht bekannt, daß irgendwo in der SOL noch neue technologische Entwicklungen vonstatten gingen. Die einfachen Solaner hatten genug damit zu tun, sich selbst zu bemitleiden oder die Zeit durch primitive Spielchen totzuschlagen. Die Rostjäger, die Brüder der sechsten Wertigkeit und unterste Kaste innerhalb der SOLAG‐Hierarchie, wußten gerade genug, um einfachste Reparatur‐ und Wartungsarbeiten durchzuführen. Pyrriden und Vystiden hatten ebenfalls streng umrissene Aufgabenbereiche, und die Magniden … Kam lachte unterdrückt. Die Brüder der ersten Wertigkeit würden sich nicht die Hände schmutzig machen. Vielleicht mochte es den einen oder anderen Ahlnaten reizen, etwas zu erfinden. Den Brüdern der dritten Wertigkeit traute Kam alles zu. Er mochte sie nicht, weil sie die Nase zu hoch trugen. Und die Troiliten, von denen niemand wußte, ob es sie überhaupt gab? Sie würden keine Maschinen brauchen, nicht einmal Mordmaschinen. Das besorgten sie selbst – falls es sie gab. Kam glaubte nicht an Märchen und Schauergeschichten. Diese beiden Roboter vor ihm sahen jedenfalls so aus, als wären sie noch zu jenen unseligen Zeiten, da die SOL von einer Verbrecherclique geführt und ihren wahren Besitzern vorenthalten worden war, verschrottet worden. Dann aber hatte jemand sie nicht nur umprogrammiert, sondern auch neu herausgeputzt und mit diesen und jenen Einrichtungen versehen, die sie erst wieder funktionstüchtig machten. Kam rannte auf den Antigravschacht zu, als die Maschinen darin verschwunden waren und langsam nach unten schwebten. Immer begieriger wurde der Haemate, die Burschen kennenzulernen, die sich diesen Coup ausgedacht hatten. Er schwang sich in den Schacht, ließ sich abwärts tragen und sah, daß die Roboter ihn nur ein Deck tiefer schon wieder verließen. Er tat das gleiche und schlich ihnen in zwanzig Meter Entfernung nach.
Die Korridore hier waren verlassen. Nur einmal blickte der Haemate durch eine offenstehende Tür in einen Raum, in dem sich ein Dutzend Solanern zusammendrängten, spielten oder schliefen. Ihr Gemurmel erstarb augenblicklich, als sie ihn sahen. Wartet nur! dachte Kam. Mit euch Gesindel werden wir schon noch fertig! Die Magniden hätten die SOL schon längst von diesem unnötigen Ballast befreien können. Sie bräuchten dazu nur die regelmäßigen Lieferungen zu stoppen. Mit den Verteilerstationen hatten sie doch die beste Waffe in der Hand, die sich denken ließ. Sollten sie den Nichtstuern den Hahn zudrehen. Joung Kam fragte nicht danach, warum die überwiegende Mehrheit der einfachen Solaner keine Arbeit hatte und zum Nichtstun und sinnlosem Dahinvegetieren verurteilt war. Er sah nur die Tatsachen. Und Tatsache war, daß die Burschen immer tollkühner wurden. Wirklich ein schlauer Plan, das mit den Robotern. Wer sie geschickt hatte, wußte ganz genau, daß Roboter bei einer Verteilungsaktion die unauffälligsten Beteiligten waren. Wer schenkte ihnen schon Beachtung im allgemeinen Wirrwarr? Ters nicht! dachte Kam grimmig. Mehrmals bogen die Maschinen ab. Kam erkannte einige der Korridore wieder. Er befand sich schon in der Nähe einer der alten Werkstätten. Das paßte zu dem Bild, das er sich machte. Und war hier nicht das Gebiet dieser Gang? Joung Kam blieb etwas weiter hinter den Robotern zurück und zog den Thermostrahler. Ein letztesmal bogen die bepackten Maschinen ab. Als Kam um die Ecke blickte, sah er, wie sie genau auf einen mit alten Kisten verbarrikadierten Eingang zuhielten. Die Wände dieses Ganges waren verschmiert, der Boden von Röhren und Werkzeugen übersät. Es stank nach verschmorten Kabeln und Unrat. Angewidert
verzog der Haemate das Gesicht. Neben dem verbarrikadierten Eingang las er: Halt! Was hier zu holen ist, gehört der GANG! Kam grinste finster. Er wartete, als die Roboter vor den Kisten stehenblieben. Irgend jemand rief dort drüben etwas. Dann wurden zwei, drei Kisten aus dem Verhau gezogen und verschwanden irgendwo im Raum hinter der Barrikade. Eine Öffnung entstand, gerade groß genug, um die Roboter hindurchschlüpfen zu lassen. Kam umklammerte den Griff der Waffe fester. Er gab den Dieben Zeit. Sollten sie sich an dem erfreuen, was ihnen die Maschinen herangeschleppt hatten. Um so größer würde dann ihre Überraschung sein. »Das dürfte reichen«, murmelte er, als die Kisten wieder zurück zwischen die anderen geschoben wurden. Kam schlich sich so leise wie möglich an, stand vor dem Eingang und holte Luft. Dann warf er sich mit der Schulter gegen die Kisten. Mit ihnen flog er in den Werkstattraum, stolperte und war sofort wieder auf den Beinen. Der Strahler zeigte auf die drei Solaner, die entsetzt vor ihm zurückwichen. Einer der beiden jungen Kerle war gerade dabeigewesen, einen der »gelieferten« Overalls anzuziehen. »Das warʹs!« sagte Kam kalt. Er dirigierte die drei mit der Waffe in eine Ecke des großen, mit allem möglichen Schrott überfüllten Raumes. »Was soll das sein? Ein neues Spiel?« Die beiden Jünglinge brachten vor Schreck kein Wort hervor und starrten entgeistert auf den Strahler. Nur das Mädchen fauchte ihn an: »Ja. Aber dabei ist einer zuviel!« »Drei sind zuviel, mein Täubchen«, knurrte der Haemate. »Aber das läßt sich schnell ändern. Schätze, euer Chef wird gleich drei Strolche weniger in seiner Bande haben.« »Bist du verrückt?« schrie Mabel. »Das … kannst du nicht tun!«
»Oh doch. Ich kann!« Kams Finger legte sich auf den Auslöser des Strahlers. 2. Elyt Avat machte einen seiner üblichen Rundgänge durch Centerhaven. Wie immer, trug er hochgeschlossene Kleidung. Man hatte sich daran gewöhnt und war allgemein der Ansicht, der »Boß« wollte durch diese besondere Art der Zurschaustellung seine Position nachdrücklich hervorheben. Das war nicht einmal nötig. Avat war ungekrönter König in Centerhaven, das sich hier auf dem 22. Deck vom zentralen Antigravlift für Personen bis hin zu den alten Werkstätten erstreckte und so eine Fläche von gut 3 000 Quadratmetern umfaßte. Natürlich war das Gebiet der Gang nicht exakt quadratisch oder rechteckig. Zwei lange Korridore stießen ein Stück in Patomas Land hinein, während sich auf der anderen Seite das Revier der Gruppe um Mentum Orhat wie ein Keil ins Gang‐Territorium hineinschob. Es gab keine endgültigen Grenzen. Immer wieder wurden sie nach kurzen, aber heftigen Scharmützeln mit den Nachbargruppen korrigiert. Einige der Männer und Frauen rissen sich förmlich darum, dort Wache schieben zu dürfen. Doch die anderen … Es war jedesmal deprimierend für Avat, zu sehen, wie sinnlos das Leben nicht nur hier geworden war. Kanya Demaro, die er für eine heimliche Terra‐Idealistin hielt, kam oft zu ihm und schwärmte ihm von den »Alten Zeiten« vor, als Menschen noch eine Aufgabe gehabt hatten. Dann sprach sie auch von Perry Rhodan, von Atlan und anderen, deren Namen an Bord der SOL längst zu Schimpfwörtern geworden waren. Dennoch ertappte Avat sich häufig dabei, daß er sich von Kanyas Begeisterung fast mitreißen ließ, und immer wieder mußte er sich
dann ins Gedächtnis zurückrufen, daß es Rhodan und seine Anhänger gewesen waren, die die SOL so lange für sich beanspruchten und sie fast ruinierten, indem die sie pausenlos den größten Gefahren aussetzten. Immerhin: Sie hatten ein Ziel vor Augen gehabt, wenngleich Avat sich nicht in ihre Gedankenwelt hineinversetzen konnte. Was wollten sie damals eigentlich? Es gab so gut wie keine Informationen mehr darüber, und was die Solaner wußten, das hatten sie von den High Sideryts und den Magniden gehört. Ziele … Die Ziele der Gang bestanden darin, sich vom großen Kuchen ein möglichst großes Stück sichern zu können, den nächsten Tag zu erleben, die Langeweile wenigstens für ein paar Stunden totzuschlagen oder ihr Territorium zu vergrößern. Avat sah sie am Boden hocken, sinnlose Spiele veranstalten oder sich blicklos irgendwelchen Träumen hingeben. Träume waren vielleicht alles, was ihnen noch blieb, um der grausamen Realität zu entfliehen. Dabei hätte er, zu dem sie alle aufschauten, doppelt soviel Grund dazu wie sie. Manchmal versuchte Avat, in den Blicken der Männer und Frauen zu lesen, suchte einen Hinweis darauf, ob sie wußten oder spürten, wer er wirklich war – was er war. »Boß!« Avat blieb stehen, drehte sich langsam um und sah, daß eine der drei Frauen, die sich damit beschäftigten, kleine Türme aus Würfeln aufeinanderzustellen und wieder umzustoßen, ihm zuwinkte. Mit sechs anderen Solanern teilten sie sich eine früher einmal saubere Kabine. Es gab keine Türen mehr. Korridore und Kabinen waren eine einzige Tummelwiese für die Frustrierten. Avat stieg über zwei Schlafende hinweg und hockte sich vor der Frau nieder. Sie hatte ihre besten Jahre hinter sich. »Denise?«
Sie lachte meckernd. »Du kennst meine Tochter«, sagte sie. »Mabel.« Das war keine sehr geistreiche Frage. Avat kannte jedes der augenblicklich 194 Gang‐Mitglieder. Sie waren eine Familie. »Und?« fragte er. »Istʹs bei ihr soweit?« Wenn es etwas gab, das außer Angriffen benachbarter Gruppen oder den augenblicklichen Schwierigkeiten, in denen die SOL steckte, die Menschen beunruhigte, dann höchstens noch, daß jemand kurz davor stand, sich das Leben zu nehmen. »Unsinn. Mabel doch nicht! Aber ich schätze, daß sie eine andere Dummheit machen wird. Sie redete so seltsam, daß es uns allen bald besser gehen sollte. Du weißt schon.« »Das ist nichts Ungewöhnliches«, meinte Avat. »Aber sie steckt doch in letzter Zeit mit diesem Manhattan zusammen – und mit seinem ebenso verrückten Freund.« Avat zog eine Braue in die Höhe. Natürlich war ihm nicht entgangen, daß Byrg und Wilson sich viel zu oft in den Werkstätten herumtrieben und dort wieder an irgend etwas bastelten. »Ich sage dir, sie hecken ʹwas aus, Boß!« fuhr Denise fort. »Sie sagte es nicht ausdrücklich, aber irgend etwas haben die drei vor. Und ausgerechnet heute, wo ein neuer Transport nach Grouvy kommt, sind sie nirgend aufzufinden. Ich sage dir, sie hetzen uns noch die Vystiden auf den Hals!« »Immerhin eine Abwechslung«, kommentierte eine der beiden anderen Frauen. »Ich kümmere mich darum, Denise«, versprach Elyt Avat. Er ging zurück auf den Korridor und von dort aus in einen Aufenthaltsraum, angelockt durch wüstes Geschrei. Zwei Männer stritten sich um irgend etwas Belangloses. Avat kannte dieses Bild. Hinter jedem der beiden standen zehn, zwölf andere, die nur darauf warteten, daß sie losschlagen konnten. Es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Bald würden die üblichen Raufereien nicht mehr ausreichen, um alle angestauten
Aggressionen abzubauen. Niemand sprach darüber, aber jeder fühlte, daß etwas mit der SOL nicht stimmte. In Gedanken mochten sich die Verunsicherten die schrecklichsten Gefahren ausmalen, in die das Schiff geraten war. Und die SOL war doch das einzige, was sie noch hatten. Avat fragte sich wieder, ob es überall in der SZ‐1 aussah wie hier, von der geheimnisumwitterten Zentrale einmal abgesehen. Und in den ferner gelegenen Teilen des Schiffes? Kaum jemand wußte noch, daß es ein Mittelteil und eine zweite SOL‐Zelle gab. Wozu auch? Die SZ‐1 war eine Welt für sich. Nur die wenigen Buhrlos, die der Gang lose angehörten, verschwanden dann und wann für Tage, um nach ihrer Rückkehr von ihren Ausflügen in den Weltraum zu berichten. Das waren Feiertage für die Gruppenangehörigen. Avat zog sich unauffällig zurück. Sollten die Männer ihre Rauferei haben. Sein Bedarf an Elendsbildern war für heute gedeckt. Kurz überlegte er, ob er in den Werkstätten nach dem Rechten sehen sollte. Aber was sollten Byrg und Wilson dort schon anstellen? Er war froh darüber, daß sie etwas hatten, mit dem sie sich beschäftigen konnten. So wie Halms und Pewitter, die beiden einzigen »produktiven« Mitglieder der Gang. Sie hatten sich eine kleine Schmiede eingerichtet, in der sie Teile herstellten, die dann und wann von den Ferraten abgeholt wurden, wofür es dann Sonderrationen an Nahrung oder abgetragene Kleider gab. Doch damit ließ sich die Armut nicht besiegen. Sie alle hatten nur die SOL, und die Angst um das Schiff machte sie noch verzweifelter. Avat begegnete scheuen Blicken, als er zu seiner Kabine ging. Die Gang und die benachbarten Gruppen hatten ihre Unterschiede, doch eines war ihnen allen gemeinsam: die Verbundenheit mit der SOL und der feste Glaube daran, daß das Schiff ihre Welt war, der einzige mögliche Aufenthaltsort. Ihre größte Angst – nach der vor einer Katastrophe – war die, eines
Tages zu Ferraten gemacht und später den Pyrriden zugeteilt zu werden. Daß man sie zwingen würde, die SOL zu verlassen und mit den Beibooten Planeten anzufliegen. Elyt Avat wünschte sich, er hätte etwas mehr über die Vergangenheit der SOL gewußt. Den Magniden und dem High Sideryt traute er nicht. Sie mochten ihm viel erzählen. Dennoch war er auf sie angewiesen. Sosehr die Gang ihn respektierte – ein »Unfall« war schnell arrangiert, wenn er sich gegen die Interessen der Herrschenden stellte. Er verscheuchte die quälenden Gedanken, als er seine Kabine betrat. Als einzige verfügte sie hier über eine Tür, die sich von innen verriegeln ließ. Genau das tat der Anführer der Gang. Er blickte sich um, als sähe er sein kleines, privates Reich heute zum erstenmal – den alten, abgewetzten Tisch in der Mitte, die zwei Sessel und seine Liege. Neben dem Eingang hing ein Spiegel. Avat stellte sich kerzengerade davor und betrachtete sich. Sein Gesicht war hager und offen. Manche nannten es sogar klassisch schön, vor allem die Frauen von Centerhaven – und nicht nur die. Andere Männer hätten sich alle Finger nach den Ferraten, Pyrriden‐ und sogar Vystiden‐Frauen geleckt, die ihm oft genug eindeutige Angebote machten. Manchmal mußte er seine ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um in solchen Augenblicken nicht schwach zu werden. Er durfte es nicht – aus dem gleichen Grund, aus dem er Sedera Gampfer hatte abwehren müssen, die ihm besonders hart zugesetzt hatte. Wäre er nicht das, was er war, hätte er ihr Angebot ohne Zögern angenommen und dabei eine bevorzugte Belieferung seiner Gruppe erreicht. Er hatte ihr einen Korb gegeben, und dafür haßte sie ihn nun. Sedera war keine Frau, die so etwas auf sich sitzen ließ. Wer ihre weibliche Eitelkeit verletzte, mußte früher oder später einen hohen Preis dafür bezahlen.
Auch das verunsicherte Avat. Jeder Gedanke an sie erinnerte ihn an das, was er war. Was er unter seiner Kleidung, unter dem hohen Kragen und den Handschuhen verbarg. Nein, dachte der Solaner bitter. Niemandem durfte er je gestatten, mehr als seinen Kopf zu sehen, keiner Frau und keinem Mann. Vielleicht würden einige Gang‐Mitglieder nach dem ersten Schreck zu ihm stehen und für ihn kämpfen. Jene anderen aber, die er dadurch auf den Plan rief, würden ihn hetzen, immer tiefer hinein in unbekannte Teile der SOL, wo er, wenn er Glück hatte, untertauchen und als Paria weiterleben konnte – als Ausgestoßener unter Ausgestoßenen. Dann würde er Freiwild sein. Er hatte das Pech, als Sohn eines Ferraten‐Pärchens geboren zu sein, dessen Gene bei beiden Elternteilen durch harte Strahlung und viele unbekannte Komponenten verändert worden waren. Manche sagten von ihm, daß er in seiner Position einsam sei. Niemand wußte, wie einsam er wirklich war. Niemand sah es, wenn er sich nachts auf seinem Lager herumwälzte, von Alpträumen gequält. Elyt Avat riß sich das Hemd vor der Brust auf und sah im Spiegel die schorfige, schwarze Schuppenhaut, die seinen ganzen Körper, mit Ausnahme des Kopfes bedeckte. Er, der Anführer der Gang, der Mann, dem die Frauen in diesem Teil der SOL zu Dutzenden nachstellten, war ein Monster. Elyt Avat starrte sein Spiegelbild an, die hohe Stirn, seine schwarzen, glatten und gescheitelten Haare, die kühne Nase und die geschwungenen Lippen. Und im krassen Gegensatz dazu … Er konnte es nicht ansehen. Avat drehte sich ruckhaft um und ließ sich in einen der Sessel fallen. Er atmete plötzlich schwer, und nie gekannte Angst trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Wieso durfte er nicht wie all die anderen sein? Warum mußte gerade er …?
Er konnte seine Eltern nicht dafür verfluchen, ein Kind haben zu wollen – auch wenn sie das Risko kennen mußten. Ferraten hatten keine Kinder zu bekommen. Sie galten als unfruchtbar. Aber sie hattenʹs doch getan, und das Ergebnis … Angst. Schreckliche Angst vor einer ungewissen Zukunft. Sie war sein ständiger Begleiter auf allen seinen Wegen. Sedera Gampfer würde keine Ruhe geben. Sie konnte nicht wissen, daß er anders war. Doch sie wartete mit Sicherheit nur auf die Gelegenheit, ihm eins auswischen zu können. Was wurde dann aus der Gruppe? Spürten die Männer und Frauen seine Unsicherheit? War auch dies ein Grund für die Verschlimmerung ihres Gemütszustands in den letzten Wochen? Sie mußten doch merken, daß er sich immer öfter hierher zurückzog und immer weniger Zeit fand, sich um die Dinge in Centerhaven zu kümmern – wie jetzt um Byrd, Wilson und Mabel. Wann war es soweit? Wann sah er die entsetzten Blicke seiner Solaner auf sich gerichtet? Wann hörte er sie schreien: »Der Boß ist ein Monster!«? Avat verbarg das Gesicht in den Händen. War er denn nicht auch ein Mensch wie die anderen? War er weniger wert, nur weil er anders aussah? Jemand war auf dem Korridor. Jemand klopfte gegen die Tür und rief seinen Namen, mehrmals. Avat zuckte zusammen und starrte unsicher auf den Eingang. Er konnte jetzt nicht öffnen. In seinem Zustand konnte er sich niemandem zeigen. »Hat sich wohl aufs Ohr gelegt«, hörte er von draußen. »Na, so wichtig warʹs ja auch nicht …« Avat atmete auf und ließ den Kopf in den Nacken fallen. Er sollte nicht lange Ruhe haben.
3. »He, Mann!« Sandy Wilson sah, daß der Haemate schießen würde. Er würde es tun! Sandy streckte vorsichtig die Hände vor. »Warte, Mann. Warte noch. Ich meine, wir können doch reden, oder? Wir können uns einigen.« Ein zynisches Lächeln umspielte für Augenblicke Joung Kams Mundwinkel. Sein Finger war am Auslöser. Ein leichter Druck nur, und alles war vorbei. »Einigen, meinst du?« Kam sprach leise und gedehnt. Die Betonung, der ganze Hohn in seinen Worten ließ keinen Zweifel daran, daß er die drei Solaner tot am Boden sehen wollte. »Ja«, sagte Wilson schnell, während er fieberhaft nach einem Ausweg suchte. Sein Fuß stieß gegen etwas Hartes. Wilson blickte nicht nach unten. Er wußte auch so, daß dort eine Metallröhre lag, einen halben Meter lang und vielleicht drei Zentimeter im Durchmesser. Wenn er schnell genug war und die anderen mitspielten … »Ja, das meine ich.« Jede Sekunde war wertvoll. »In Ordnung, du bist uns auf die Schliche gekommen. Du hast gesehen, was wir mit zwei alten, längst desaktivierten Robotern gemacht haben. Euch Haematen gehtʹs doch auch nicht so besonders gut, oder? Aber wenn wir uns zusammentun? Wir können viel. Sieh dich nur um. Wir können nicht nur Roboter wieder funktionstüchtig machen. Wir können Maschinen und Geräte wieder so hinbiegen, daß wir sie an andere Gruppen oder sogar an die SOLAG verkaufen können. Hilf uns dabei, und wir teilen alles. Du kriegst die Hälfte!« »Hör auf, Junge.« Der Haemate tat Wilson nicht den Gefallen, den Regalen einen Blick zuzuwerfen. Sein giftiges Lächeln war verflogen. Er zielte auf Wilsons Brust und … Nur vage sah Sandy die Bewegung im Rücken des Soldaten. Mit einem Aufschrei ließ er sich fallen und griff nach dem Rohr. Zentimeter über seinem Nacken fuhr der glutheiße Strahl in die
Wand und schmolz Metall und Plastik. Wilson hatte das Rohr in der Hand, aber es war zu spät. Mit geschlossenen Augen wartete er auf den nächsten, tödlichen Schuß. Statt dessen hörte er einen dumpfen Laut und Mabels spitzen Schrei. Er rollte sich hinter die Energiefräse und sah zunächst nur den ungläubigen Ausdruck in Byrgs und Mabels Gesichtern. Die beiden hatten sich eng umklammert und waren noch in die Ecke gedrückt. Wilson schob den Kopf hinter der Fräse hervor. Der Haemate versuchte verzweifelt, sich aus der Umklammerung eines Mannes zu lösen, den Wilson noch nie hier gesehen hatte. Mit Sicherheit gehörte er nicht zur Gang. Der Soldat hatte den Strahler noch in der Hand. Doch der Fremde umklammerte sein Handgelenk und drückte es nach oben. Mit dem anderen Arm zog er den Kopf des Schießwütigen nach hinten. Der Haemate verdrehte die Augen und gab röchelnde Laute von sich. Er trat und schlug mit der freien Hand. »Hat vielleicht einer von euch Lust, ihm die Waffe abzunehmen?« rief der Unbekannte. Byrg trat zögernd vor, warf Mabel einen Blick zu, und sie nickte auffordernd. Manhattan überwand seine Furcht, lief auf die Ringenden zu und streckte beide Hände nach dem Strahler aus, wobei er einen regelrechten Tanz aufführte, um den Tritten des Uniformierten auszuweichen. »Wie lange soll ich ihn noch halten?« rief der Fremde. »Glaubst du, meinen Schienbeinen tut das gut? Los, nimm ihm das Ding schon ab!« Er bog den Arm des Haematen zur Seite nach unten. Ein Schuß löste sich und fuhr in die Wand. Byrg sprang zu rück. Dann aber war Mabel heran, stieß ihn unsanft zur Seite und entriß dem Soldaten die Waffe. Sie mußte ihm in die Finger beißen, damit er die Faust öffnete. Instinktiv sprang sie zurück, warf Wilson den Strahler zu, als hätte
sie sich die Finger verbrannt. Der Fremde nahm die Hand von Kams Gelenk, wirbelte ihn herum und gab ihm keine Chance, durch einen Schrei Verstärkung herbeizurufen. Mit einem wohlgezielten Kinnhaken setzte er ihn außer Gefecht. Kam sank betäubt zu Boden. »Und nun zu euch«, sagte der Mann mit den kurzgeschnittenen, silbernen Haaren und den rötlichen Augen. * Sandy Wilson kam hinter der Fräse hervor und richtete sich auf. Den Thermo‐Strahler hielt er in der Hand wie etwas, das im nächsten Moment explodieren könnte. Solange die Gang existierte, war es seines Wissens nur einmal gelungen, eine Energiewaffe zu erbeuten. Und die besaß der Boß. Byrg und Mabel starrten den so unvermittelt aufgetauchten Fremden nur an, nachdem das Mädchen Manhattan einen Blick zugeworfen hatte, der eigentlich mehr sagte als alle Worte. Ausgerechnet Byrg aber fand als erster seine Sprache wieder. Er warf einen Blick auf den Bewußtlosen, dann musterte er den Fremden wieder. Der Mann war groß und schlank, hatte silberweißes Haar und wahrhaftig fast rote Augen! Byrg spreizte verlegen die Arme, während er sich bemühte, dem Blick des Fremden einigermaßen standzuhalten. »Ich … wir …« Er schluckte und sagte nur: »Danke.« »Das war knapp«, murmelte Wilson. Scheu blickte er zum Eingang. »Du kamst gerade rechtzeitig. Von wo? War er«, Sandy deutete auf den Haematen, »der einzige, oder sind noch andere von seiner Art draußen?« »Ich habe keine anderen gesehen«, sagte der Fremde mit einer Stimme, die Byrg sofort wieder zusammenfahren ließ. Etwas war in ihr, das man hier in Centerhaven nicht kannte. Eine bestimmte
Entschlossenheit und … Verbitterung? Er stand da, als erwartete er eine Erklärung von den Solanern. Wilson grinste verlegen und deutete auf die beiden Roboter, die noch einen Teil ihrer »Fracht« trugen. »Du hast gehört, was ich dem Kerl anbot?« fragte er. »Und jetzt … willst du uns die Roboter wegnehmen?« Der Fremde schüttelte den Kopf. Wilson sah Byrg und Mabel unsicher an. »Was dann? Du gehörst doch nicht zur Gang. Zu einer der anderen Gruppen? Du spionierst hier herum, oder?« »Sandy!« Mabel schüttelte den Kopf und trat auf den Hochgewachsenen zu. »Hätte er uns dann geholfen?« Sie streckte dem Mann die Hand entgegen und lächelte, als dieser sie ergriff und schüttelte. »Hör nicht auf die beiden Dummköpfe. Mit ist egal, woher du kommst. Wir können jeden Mann gebrauchen. Wenn du möchtest, bringen wir dich zum Boß, äh …?« »Fellmer«, sagte der Weißhaarige. »Ich heiße Fellmer.« »Aha. Und woher kommst du?« »Die roten Augen«, flüsterte Byrg ihr ins Ohr. »Wenn er ein … ein Monster ist …« »Idiot!« kanzelte sie ihn ab. »Du!« Fellmer nickte Wilson zu. »Komm, gib mir die Waffe.« Sandy zögerte, kam dann aber der Aufforderung nach. Fast schien es, als wäre er froh, das gefährliche Ding aus der Hand geben zu können. Fellmer lächelte dankbar und steckte den leichten Strahler unter sein Hemd. Dazu trug er eine noch ziemlich gut erhaltene Hose und einfache Bordschuhe. »Ich komme aus einem anderen Teil der SOL«, gab er nun bereitwillig Auskunft. Die Unsicherheit der jungen Solaner schwand mit jedem seiner Worte. Seine Stimme hatte etwas Beruhigendes. »Ich konnte dort nicht bleiben. Ärger mit den Rostjägern und Haematen.«
»Ich verstehe.« Mabels Blicke hingen an seinen Lippen. In ihre Augen trat ein warmer, Wilson und Byrg nur zu gut bekannter Glanz. »Komm mit. Ich bringe dich zum Boß.« »Boß?« »Natürlich. So nennen wir unseren Anführer. In Wirklichkeit heißt er Elyt Avat, aber das klingt so trocken. Er nimmt dich bestimmt in die Gang auf. Was machen wir mit ihm?« Sie trat gegen das Schienbein des Bewußtlosen. Der Mann, der sich Fellmer nannte, legte die Stirn in Falten. »Am besten fesseln und mitnehmen. Aber man wird ihn bei seinem Trupp vermissen und nach ihm suchen.« »Ach, er ist einer von denen, die immer mit Arnos Ters kommen, dem Vystiden, wenn Grouvy neue Lieferungen bekommt. Sicher hat überhaupt niemand bemerkt, daß er den Robotern nachschlich. Denn wenn unsere beiden Helfer von Sedera entdeckt worden wären, würde es hier schon von Haematen wimmeln.« »Außerdem«, sagte Byrg, »gibtʹs hier in Centerhaven Verstecke genug für ihn.« »Und für … das?« Fellmer deutete auf die am Boden liegenden und noch von den Robotern getragenen Gegenständen. »Also, hört mir mal zu. Ich habe weder etwas mit der SOLAG zu tun noch mit sonst einer Gruppe hier auf der SOL. Wenn ihr mich zu eurem … eurem Boß bringen wollt, komme ich gerne mit. Vorher aber könntet ihr mir ruhig reinen Wein einschenken.« »Reinen Wein?« fragte Wilson verständnislos. Der Silberhaarige winkte lächelnd ab. »Ein geflügeltes Wort, wo ich herkomme.« »Das muß wirklich weit sein«, meinte Mabel. »Womöglich aus der SZ‐2?« Er ging nicht weiter darauf ein, blickte Byrg und Wilson abschätzend an und sagte: »Also kommt. Erzählt mir, wo ihr die beiden Roboter aufgetrieben
habt, und wie ihrʹs fertigbrachtet, sie für eure Zwecke zu programmieren.« »Das weißt du?« entfuhr es Byrg. »Es ist nicht schwer zu erraten.« »Ich glaube, es ist wirklich besser, wir sagen ihm alles, Dorsey«, seufzte Wilson. Sie setzten sich. Mabel warf einen Blick nach draußen, wo alles ruhig war. Der Weg hierher war mit Dornen gepflastert gewesen, wie alle Wege, die Atlan in der SOL gegangen war, nachdem ihn die Buhrlos aus der Kosmischen Burg in Rhodans altes Fernraumschiff gebracht hatten und zuerst einmal versteckten. Seitdem hatte er einige Eindrücke von dem bekommen, was aus diesem Schiff und seinen Bewohnern geworden war, die vor gut zweihundert Jahren mit so vielen Hoffnungen den Weg in unbekannte Tiefen des Weltraums angetreten hatten – jenen Weg, den sie für den einzig gangbaren hielten. Wie oft war es seit diesem 24. Dezember des Jahres 3586 mit seinen Gedanken bei ihnen gewesen, bei Joscan Hellmut, Bjo Breiskoll, Gavro Yaal, Douc Langour, Sternenfeuer, Federspiel – und wie sie alle hießen, die sich für die SOL entschieden hatten. Keinen einzigen der alten Bekannten hatte er angetroffen. Niemand schien sie mehr zu kennen. Selbst den Terra‐Idealisten waren sie nur verschwommene Begriffe – Legenden. Fremde Menschen beherrschten die SOL, ein »High Sideryt« namens Chart Deccon und zehn »Brüder der ersten Wertigkeit«, die ihm zur Seite standen – die Magniden. Atlan war noch keinem von ihnen begegnet, dafür aber Mitgliedern der anderen Kasten der SOLAG‐Hierarchie. Zuletzt hatten Ahlnaten, Ferraten und Haematen ein wahres Kesseltreiben auf ihn veranstaltet. Nur Romeo war es zu verdanken, daß er ihnen entkommen konnte. Für kurze Zeit nur war der Roboter zu neuem Leben erwacht, bevor er erneut erstarrte und mit einem Guß aus
Syntho‐Quarz überzogen wurde. Atlan war inzwischen sicher, daß SENECA dahintersteckte. Und obwohl die biopositronische Hyperinpotronik, die »Seele« der SOL, offensichtlich funktionsgestört war, vermutete er, daß SENECA gute Gründe dafür hatte, Romeo – und wahrscheinlich auch dessen Pendant Julia – auf diese Weise kaltzustellen. Er hatte keine Zeit gehabt sich allzu lange darüber den Kopf zu zerbrechen. Er war wieder auf sich allein gestellt und mußte seine Pyrriden‐Verkleidung ablegen – ebenso wie den falschen Namen Jon Tengor. Aus ihm war Fellmer geworden, ein neuer Name für einen neuen Mann. Atlan wußte sich selbst nicht zu erklären, warum er ausgerechnet ihn gewählt hatte. Eine sentimentale Anwandlung vielleicht. Fast bereute er seinen Entschluß bereits, Kontakt mit den »normalen« Solanern aufzunehmen, nachdem ihm die Buhrlos zwar verläßliche Helfer gewesen waren, aber letztlich nicht weiterhelfen konnten. In der großen Masse der einfachen Solaner hoffte er, wenigstens für einige Zeit untertauchen zu können. Er hatte wissen wollen, wie sie lebten, was sie dachten und was sie beschäftigte. Die ersten Eindrücke waren niederschmetternd gewesen. Wohin er auch kam – er sah Elend und Sinnlosigkeit, Armut und Hoffnungslosigkeit. Er war Bettlern begegnet, Männern und Frauen, die ihn aus leeren Augen anblickten und unter der Knute der SOLAG zitterten und ein menschenunwürdiges Dasein führten. Noch schlimmer als ihnen ging es den Monstern, deren einziges Verbrechen darin bestand, geboren zu sein. Abgründe von Leid und Elend hatten sich vor Atlan aufgetan, und oft hatte es ihn seine ganze Selbstbeherrschung gekostet, nicht einfach den Weg zur Zentrale der SOL zu suchen und vor den High Sideryt hinzutreten. Vielleicht mußte er es eines Tages tun, wenn er seinen Auftrag erfüllen wollte.
Dies schien ihm nun undurchführbarer denn je. Aber mußten die Kosmokraten nicht wissen, wie es an Bord der SOL aussah? Gehörte auch dies zu seinem Auftrag – die SOL von der Zwangsherrschaft eines Chart Deccon zu befreien? Denn er mußte das Schiff nach Varnhagher‐Ghynnst bringen, in jenen Raumsektor, in dem er eine Ladung an Bord nehmen sollte, über die sich die Kosmokraten ihm gegenüber ausgeschwiegen hatten. Er kannte das Ziel, an das diese Ladung gebracht werden sollte – nicht mehr. All das, was er in zweihundert Jahren hinter der Materiequelle erlebt und gesehen hatte, war aus seinem Bewußtsein gelöscht worden. Nur eines wußte er – daß die Durchführung seines Auftrags von ungeheurer kosmischer Bedeutung war. Warum hatten ihm dann die Kosmokraten kein anderes Schiff zur Verfügung gestellt? Warum ausgerechnet die SOL? Seine stummen Vorwürfe in Richtung Materiequelle wechselten ab mit dem Gedanken, daß er vielleicht hierherkommen mußte, um die unerträglichen Zustände an Bord zu beenden; daß vielleicht die Solaner eine Rolle im unbegreiflichen Kalkül der Kosmokraten spielten. Aber was? Was konnte er tun? Er war nichts als ein Fremder unter Fremden, ein Eindringling in eine fremde Welt, wie sie den Solanern, denen Perry Rhodan vor 204 Jahren »ihr« Schiff übergeben hatte, ganz bestimmt nicht vorgeschwebt war. Wenn wenigstens Seneca ihm hätte helfen können … Es gab so viele, das er nicht verstand. Wer waren die geheimnisvollen Schläfer? Warum hatte Romeo sich nicht davon abbringen lassen, er sei einer dieser Schläfer? Atlan durchstreifte die Korridore der SZ‐1, immer auf der Hut vor Ferraten, Ahlnaten, Pyrriden und Vystiden mit ihren Haematen. Er fand Menschen, die in Gruppen zusammenlebten, die oft schon regelrechte Stadtstaaten bildeten und nicht selten im Kampf miteinander lagen. Es waren Menschen, die offenbar all das verlernt
hatten, was ihre Vorfahren einmal beherrschten. Und nun saß er mit zwei jungen Männern und einem Mädchen in einer ehemaligen Reparaturwerkstatt und hörte staunend, was diese beiden Burschen getan hatten. Er sah zum erstenmal wieder so etwas wie Begeisterung für eine Sache in den Augen von Solanern. Bedeutete das einen Hoffnungsschimmer? Atlan blieb skeptisch – und er tat gut daran. Ein Deck höher braute sich das kommende Unheil bereits zusammen. 4. Sedera Gampfer schüttelte den Kopf. Sowohl sie als auch Arnos Ters hatten sich inzwischen wieder einigermaßen beruhigt, nachdem sie ihn davon »überzeugen« konnte, daß wirklich alles mit der Verteilung seine Ordnung hatte. Für jede der zwölf Gruppen, die von Grouvy aus versorgt wurden, gab es eine spezielle Markierung auf dem Boden. Mit roter Farbe waren dort große Kreise gezogen, in welche die den entsprechenden Gruppen zugedachten Materialien gebracht wurden. Dabei entsprach die Menge jeweils der Stärke einer Gruppe. Nicht die Verteilung war es, die der Ahlnaten‐Frau nun Kopfzerbrechen bereitete, abgesehen von der Wut, die sie auf den Vystiden hatte, weil er ihr einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht hatte. »Was ist denn noch?« fragteTers ungehalten. Die Blicke seiner Haematen entgingen ihm nicht. Sie langweilte es, hier tatenlos herumstehen zu müssen. Ters wußte gut genug, daß einige Heißsporne unter ihnen waren, die ihn für viel zu nachsichtig und lahm hielten. Dann und wann arrangierte er einen Zwischenfall für sie, damit sie ihr Mütchen kühlen konnten. Unzufriedene Haematen waren nicht gut für einen
Offizier. Oft genug war es schon vorgekommen, daß ein Vystide sich wegen angeblicher Verfehlungen vor die Magniden zitiert sah. Was er eigentlich getan oder unterlassen hatte, erfuhr er in der Regel nie – wohl aber, wer hinter seinem Rücken intrigiert hatte. Der nämlich nahm seinen Platz ein. Sedera hielt ihm die Listen vor die Nase, auf der die gelieferten Güter aufgeführt waren. »Das ist«, sagte sie kühl. »Es fehlt etwas.« Ters seufzte. Er deutete auf die Roboter, die sich zu einer langen Reihe formiert hatten und auf den Abmarschbefehl warteten. »Sie haben alles abgeladen, Sedera.« »Das sehe ich! Glaubst du, ich mache das hier zum erstenmal?« Aber hoffentlich bald zum letztenmal! dachte er. Laut sagte er: »Deine Routine ist nicht zu übersehen.« »Oh, danke, Bruder der höheren Wertigkeit!« versetzte sie bissig. »Es fehlt auch nicht nur Ware. Es fehlen zwei Roboter.« »Aber das ist doch Unsinn. Abgesehen davon, daß sie von der SOL‐Farm bis hierher von Kampfrobotern begleitet wurden.« »Es fehlen zwei. Sieh dir die Liste an. Da steht, was von der Farm und den Ausgabestellen für Bekleidung und Gebrauchsgegenstände abging, und auf wie viele Roboter es verteilt wurde. Zwanzig Maschinen, Ters! Und wie viele zählst du hier? « Er starrte sie verblüfft an, sah sich in der großen Halle um und mußte schließlich zugeben: »Achtzehn.« »Es waren zwanzig!« rief ein Haemate, der bei dem Eingang postiert war, durch den die Roboter gekommen waren. »Genau zwanzig. Zuerst kamen zwölf, und dann nochmal acht!« »So!« fuhr Ters den Soldaten an. »Dann weißt du sicher auch, wo die beiden fehlenden geblieben sind?« »N … nein«, sagte der Haemate kleinlaut. »Aber sie können sich nicht in Luft aufgelöst haben.« »Kaum«, sagte Sedera. »Also, was steht ihr noch hier herum? Ist es
meine Aufgabe, die Transporte zu überwachen, Vystide? Seht zu, daß die Roboter hier auftauchen, und zwar mit ihren Waren. Sonst könnte es mir einfallen, den Magniden davon Meldung zu machen.« »Das würdest du tun«, knurrte Ters. »Verlaß dich drauf!« Ters murmelte eine Verwünschung und drehte sich um. An jedem der insgesamt vier Zugänge zur Halle waren zwanzig Haematen postiert, hinter denen schwach glänzend die Kampfroboter zu sehen waren, die Grouvy wie jede andere Verteilerstation ständig bewachten. Ters rief die Namen der jeweiligen Trupp‐Führer auf: »Sedla Kumpff, Bernhard Lohar, Joung Kam, Iljitsch Lussov! Kommt her!« Drei Haematen lösten sich von ihrer Gruppe und stellten sich abwartend vor ihrem Offizier auf. »Wo ist Kam?« fragte Ters. Als er nur Schulterzucken zur Antwort erhielt, stampfte er fluchend auf Kams Gruppe zu. Die Haematen wichen vor ihm zur Seite. Er blickte auf den Korridor hinaus. Nichts. »Wo ist er? Irgendeiner von euch muß ihn doch weggehen gesehen haben! Ich hörte doch seine Sticheleien, bevor die letzten Roboter eintrafen.« Eine Frau trat vor und sagte: »Ich sah ihn weggehen. Seine Blase zwickte ihn wohl.« Ters starrte sie entgeistert an. Dann brach es aus ihm heraus: »Was für ein Haufen ist das eigentlich hier, wie? Man hat es wohl nicht mehr nötig, seinen Offizier um Erlaubnis zum Wegtreten zu fragen! Wann war das? Wann hat er sich verdrückt?« »Kurz nachdem die letzten acht Roboter eintrafen.« Der Vystide blickte die Frau an, als glaubte er, daß sie ihm noch etwas verheimlichte. Sie hielt seinem Blick stand. Ters fluchte erneut, drehte sich um und ging in die Halle zurück. Sederas spöttische Blicke ignorierte er. Natürlich ging es ihr nicht
um die fehlenden Waren. Wahrscheinlich hoffte sie nun, daß er ihr die Roboter nicht zurückbringen konnte. Wenn ein anderer an seine Stelle trat, dann ließ sich mit dem vielleicht besser handeln. Ausgerechnet Kam! dachte Ters. Kams Sprüche waren ihm wohlbekannt, sein fast schon krankhafter Ehrgeiz ebenso. Doch dieser Ehrgeiz mußte es ihm auch verbieten, sich ohne triftigen Grund davonzustehlen. »Hat einer von euch eine Beobachtung gemacht?« fragte Ters in die Runde. Niemand antwortete. Sedera Gampfer stand an einen Roboter gelehnt und verfolgte die Entwicklung mit Interesse und Spott. Nicht ohne triftigen Grund … Und nachdem die acht Nachzügler erschienen waren … »Er hat es gesehen«, murmelte Ters. »Wenn zwanzig Roboter in Grouvy waren und jetzt nur noch achtzehn, sind sie von hier aus verschwunden, obwohl sie alle doch eine eindeutige, exakte Programmierung hatten.« Die Konsequenz daraus, so ungeheuerlich sie auch war, mußte jetzt nebensächlich bleiben. Für den Vystiden stand fest, daß Joung Kam beobachtet hatte, wie die beiden fehlenden Roboter sich mitsamt ihrer Waren aus der Halle stahlen. Er hatte es gesehen und die Verfolgung aufgenommen. Durch einen der vier Eingänge konnten sie nicht entwischt sein. Dann also durch eines der seit langem nicht mehr benutzten Schotte. »In welche Richtung ging er, Miriam?« Die Haematen‐Frau zeigte es ihm. Ters nickte grimmig. »Er hat sich das schlau ausgedacht. Irgend jemand bringt das Kunststück fertig, die Programmierung von Robotern zu verändern. Irgend jemand läßt sich hier privat beliefern, und Arnos Ters, der alte Trottel, merkt nichts davon. Ein junger Möchtegern‐Vystide aber wittert seine große Chance. Wir durchsuchen sämtliche Decks, die von Grouvy aus versorgt werden. Und wennʹs Tage dauert – wir finden Kam und die Roboter!«
Ters wandte sich an die drei Trupp‐Führer und wollte ihnen entsprechende Befehle geben. Die Verteilerstation verwandelte sich in einen Kasernenhof. Die Ferraten, die eben noch vorwitzig herumgestanden hatten, zogen sich zurück und beobachteten von den Korridoren aus. Und ausgerechnet Sedera Gampfer schob sich zwischen Ters und die Haematen und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich glaube, ich kann euch Zeit ersparen«, sagte sie, plötzlich sehr zuvorkommend wirkend. »Weißt du, wo die Roboter stecken?« »Ich könnte es mir denken …« * Die Gelegenheit bot sich eher, als sie damit gerechnet hatte. Sedera Gampfer hatte die Abfuhr, die sie von Elyt Avat erhalten hatte, nicht vergessen. Für Sedera gab es nichts Unvorstellbareres, als daß ein Mann die Gelegenheit nicht gleich beim Schopf ergriff. Und eine Gelegenheit hatte sie ihm geboten. Sie, eine Schwester der dritten Wertigkeit, hatte sich dazu herabgelassen, ihm das anzubieten, was in der Regel nur ihresgleichen genießen durften. Ihm, einem lausigen Bandenführer! Mochte er ihr die Lumpenweiber seiner Gruppe vorziehen. Jetzt sollte er die Quittung bekommen. »Was soll das heißen, du könntest es dir denken?« fragte Ters ungehalten. »Eben noch …« »Eben noch!« Sie winkte ab. »Arnos Ters, das war, bevor du mich mit deinen Worten nachdenklich gemacht hast.« Was sollte das nun wieder? Ters kniff die Augen zusammen. Wieso schmierte sie ihm nun plötzlich Honig ums Maul? »Dann raus damit!« forderte der Vystide.
»Es gibt unter den zwölf Gruppen von einfachen Solanern, die von hier aus versorgt werden, nur eine, der ich einen solchen Coup zutraue. Ich kenne ihren Anführer. Als Chefin einer Verteilerstation kommt man ja nicht umhin, sich mit diesen Kerlen oder Weibern abgeben zu müssen.« »Und? Wenn meinst du damit?« »Der Name Elyt Avat wird dir nicht viel sagen, Arnos. Aber vielleicht hast du von einem Haufen gehört, der sich die Gang nennt?« »Gang« Ters schüttelte den Kopf. Wieso machte sie es so spannend? »Sedera, ich kenne weder eine Gang, noch einen Elyt Avat. Sag jetzt endlich, was du weißt!« »Sei doch nicht so hastig! Was eben war, ist doch vergessen. Joung Kam kennt die Bande.« Ters runzelte die Stirn, wechselte einen Blick mit seinen Haematen und stemmte die Fäuste in die Hüften. »So, Kam kennt sie. Er scheint vieles zu kennen und zu wissen, was ich nicht weiß!« Sie zuckte die Schultern. »Die Gruppe um Avat lebt nur ein Deck tiefer, fast genau unter Grouvy. Sie besteht aus etwa zweihundert Solanern und nennt ihr Gebiet Centerhaven. Ich hatte schon oft Schwierigkeiten mit ihnen. Sie sind aufsässig und kriminell. Eines Tages mußte so etwas wie heute geschehen.« »Sedera«, sagte Ters gedehnt, »du bist hier weit und breit für deine Affären bekannt.« »Was fällt dir ein?« fuhr sie ihn an. Ihre Augen blitzten. In diesem Moment glich sie einer zum Sprung bereiten Katze. »Und für deine Eitelkeit. Ich kenne allein zwei Vystiden, die …« »Das tut doch jetzt nichts zur Sache!« unterbrach sie ihn schnell. »Worauf willst du hinaus, Arnos?« Sie kochte innerlich. Hatte er sie schon durchschaut, oder bluffte er? Er sollte lieber ganz schön vorsichtig sein …
»Darauf, daß es dort unten einen Mann geben könnte, dem du eins auswischen willst. Vielleicht sindʹs auch zwei.« Er drehte sich wieder zu den Haematen um. »Hat einer oder eine von euch schon mal etwas von einer Gang gehört?« Zwei Soldaten nickten. »Und? Was sind das für Leute?« »Kriminelle«, sagte einer der beiden. »Verdammtes Diebesgesindel. Ihr Gebiet grenzt an einige alte Werkstätten, in denen auch desaktivierte Roboter zu finden sein sollten.« Ters atmete tief durch, nickte finster und straffte die Schultern. »Dann sehen wir uns dieses Centerhavenani.« Er bedachte Sedera Gampfer mit keinem Blick mehr, als er den Haematen Befehle zuschrie. Die Blicke aber, die die Ahlnaten‐Frau dem Soldaten zuwarf, von dem sie so unerwartet Unterstützung erhalten hatte, versprachen viel. »Abmarsch!« rief Arnos Ters und setzte sich an die Spitze seiner Truppe. 5. »Ja«, sagte Sandy Wilson. »So verbrachten Manhattan und ich schließlich jede freie Stunde in den alten Werkstätten, bis wir eines Tages die beiden alten, desaktivierten Roboter fanden – und mit ihnen Pläne und Aufzeichnungen. Zuerst verstanden wir kein Wort von dem, was da geschrieben stand. Aber wir hatten ja Zeit, und dann schafften wirʹs tatsächlich, die Roboter neu zu aktivieren und zu programmieren.« Atlan hatte schweigend zugehört. Er ließ sich nicht anmerken, wie bewegt er von der Geschichte war. Hier hatte er zwei junge Solaner vor sich, die nichts von ihren Eltern mit auf den Weg bekommen hatten. Schulen gab es so gut wie keine mehr – wenn, dann nur für
die Mitglieder der höheren Kasten der SOLAG. Was die einfachen Solaner lernten, waren die simpelsten Dinge des Lebens. Wozu brauchte man auf der SOL noch Kenntnisse in den höheren Rechenarten, wenn es doch nichts zu rechnen gab? Wie viele einfache Solaner waren völlige Analphabeten? Dorsey Byrg und Sandy Wilson waren in einer Umgebung aufgewachsen, in der nur das Überleben zählte. Ihre Welt war Centerhaven. Sie hatten einen Boß, auf den sie hörten, und ihre Gegner aus den benachbarten Gruppen, gegen die es Centerhaven zu verteidigen galt. Wußten sie, wußten all die Zehntausende von »normalen« Solanern überhaupt noch, in welch kompliziertem technischen Gebilde sie lebten? Wußten sie, was Planeten waren, Sonnen, Galaxien? Oder stand für sie der Begriff »Planet« nur noch für »Zwischenstop«, für Flugunterbrechung, wenn die Pyrriden die SOL verließen und draußen etwas taten, das sie nicht verstanden? Und doch: Diese beiden jungen Solanern hatten einen fast schon krankhaften Ehrgeiz entwickelt, zu lernen und Dinge zu begreifen, die ihnen vorher verschlossen gewesen waren. Ein Roboter war für die Solaner etwa so aufregend wie für einen Erdenbewohner des 20. Jahrhunderts ein Haushund. Die Roboter waren da. Man lebte mit ihnen, hatte schon immer mit ihnen gelebt. Aber Byrg und Wilson hatten sich gefragt: Wie funktioniert das? Sie hatten herum experimentiert, gelesen und entziffert, was ihnen nichts sagte. Vermutlich wären sie nie dazu gekommen, wären sie nicht in der Nähe der Werkstätten aufgewachsen und schon als Kinder mit dieser Wunderwelt konfrontiert worden. Aber hieß das nicht, daß man den anderen Solanern nur eine Aufgabe geben mußte, sie mit einer Herausforderung konfrontieren, um sie aus ihrer Lethargie zu reißen? Atlan hütete sich vor allzu großem Optimismus. Selbst wenn dies ein Weg war, aus Menschen wieder Menschen zu machen – war er denn überhaupt gangbar?
Würden die jetzigen Herrscher der SOL dies zulassen? Kaum, sagte sich der Arkonide. Was sie brauchten, waren Menschen, denen alle Voraussetzungen fehlten, ihre Lage richtig einzuschätzen und aus dieser Erkenntnis heraus zu opponieren. »Fellmer?« Atlan wurde aus seinen bitteren Gedanken gerissen. Er nickte Wilson zu. »Und ihr habt sie darauf programmiert, für euch zu stehlen«, sagte er. »Oh, so einfach war das nicht. Wir brauchten lange, bis wir soweit waren. Manhattan und ich setzten sie zunächst vorsichtig ein, gaben ihnen einfache Programme. Zum Beispiel ließen wir sie durch Nachbarreviere jagen und zu uns zurückkehren.« Er grinste Byrg an. »Dort zerbrechen sie sich noch heute die Köpfe darüber, was sie damals heimsuchte. Naja, und dann sagten wir uns, daß es eigentlich ziemlich sinnlos war, nur mit den Robotern zu spielen. Und Manhattan hatte plötzlich diese Idee, sie beim nächsten Transport nach Grouvy zu schicken und unter die Maschinen zu schmuggeln, die wieder zu den SOL‐Farmen zurückkehrten, um neue Vorräte zu holen.« »Ich hätte das für mich behalten sollen«, brummte Byrg. »Du wirst sehen, was wir uns da eingebrockt haben.« »Wir programmierten sie so, daß sie sich, einmal wieder in Grouvy, in einem geeigneten Augenblick aus der Verteilerstation herausstehlen und zu uns zurückkehren sollten. Und das haben sie ja auch getan.« »Ja«, jammerte Byrg. »Und sie haben den da mitgebracht.« Er spuckte nach dem immer noch bewußtlosen Haematen. »Und es kommen noch mehr. Sie suchen ihn bestimmt schon jetzt.« »Hör nicht auf ihn, Fellmer«, empfahl Mabel, die bislang still zugehört hatte. »Ich habe mich in ihm getäuscht. Er ist ein Jammerlappen.«
»Aber er hat recht«, sagte Atlan. Er stand auf. Die anderen folgten seinem Beispiel. »Sucht irgend etwas, womit wir den Haematen fesseln können. Wir bringen ihn zu eurem Chef. Und die Roboter nehmen wir auch mit.« »Aber …!« entfuhr es Wilson. Atlan mußte grinsen. »Ach so. Euer … Boß weiß wohl nichts davon?« »Der Boß hat keine Ahnung«, bestätigte Sandy. »Keiner weiß etwas davon.« Er drehte den Kopf dem Mädchen zu. »Das heißt, falls Mabel den Mund gehalten hat.« »Habe ich doch!« protestierte sie. »Streitet euch später.« Atlan ging zum Eingang und steckte vorsichtig den Kopf durch die Öffnung. »Fesselt den Haematen und ladet den Robotern die Sachen wieder auf.« Er half ihnen dabei. Minuten später war die Gruppe abmarschbereit. Nur Atlan, der in alten Kisten und Regalen nach Stricken oder Lederriemen gesucht und diese schließlich auch gefunden hatte, zögerte nun. »Was ist, Fellmer?« fragte Mabel. »Worauf wartest du?« Er stand vor einer der Kisten und hatte ein hühnergroßes Gerät in der Hand. »Geht schon vor«, murmelte er. »Ich komme nach.« »Aber … du kennst dich hier nicht aus.« Mabel sah den abwesenden Blick seiner Augen und wie er fast liebevoll über das Ding in seiner Hand strich. Sie zwinkerte im verschwörerisch zu. »Sandy und dieser Manhatten können ja schon mit den Robotern und dem Haematen gehen. Der Kerl ist mir sowieso zu schwer zum Tragen. Ich warte, bist du soweit bist.« »Ha!« rief Byrg und zuckte gleich darauf zusammen, als ihn ein Blick von Fellmer traf. »Ich wußte es.« »Was wußtest du?« fuhr Mabel ihn an. »Wir sind jetzt bei dir abgemeldet, eh? Wir …« »Mir kommen gleich die Tränen«, seufzte sie. »Geh zu Mami.« Dorseys Gesicht lief rot an. Wilson grinste schadenfroh und stieß
den Freund mit dem Ellbogen an. »Lassen wir sie doch allein. Hör zu: wir …« Er flüsterte etwas in Byrgs Ohr. Der bekam große Augen und nickte schließlich. »Nein!« sagte Atlan. »W … was nein?« »Ihr laßt die Roboter nicht verschwinden. Wir bringen sie zu Avat. Wir können gehen.« Mabel schien enttäuscht, ließ sich aber nichts anmerken, als sie sah, wie Atlan das kleine Ding in der Hosentasche verschwinden ließ. »Du mußt ein verdammt gutes Gehör haben, Fellmer«, sagte Wilson. »Habe ich. Und ein gutes Gedächtnis.« Er nickte ihnen zu und verließ als erster die Werkstatt. Der Korridor war noch verlassen. Keine sich nähernden Schritte von schweren Stiefeln waren zu hören. Er konnte nur hoffen, daß es tatsächlich gute Verstecke in Centerhaven gab – nicht zuletzt eines für ihn. Immerhin hoffte er ja, hier für eine Weile untertauchen zu können. Eine Gruppe Haematen, die das Gebiet Kabine für Kabine durchkämmten, hatte ihm gerade noch gefehlt. Warum sah er nicht zu, daß er von hier verschwand, solange noch Zeit dazu war? Er schüttelte den Kopf. Es war völlig egal, wo er sich befand. Die SOLAG hatte ihre Schnüffler überall. Außerdem konnten sie Haematen und ihre Offiziere, sollten sie tatsächlich hier nach dem Bewußtlosen suchen, unmöglich alle Mitglieder der Gang kennen. Wer wollte ihm absprechen, daß er schon immer hier gelebt hatte? Noch war es nicht soweit. Atlan folgte den drei jungen Solanern und den Robotern. Wilson hatte sich den Haematen über die Schulter geworfen, ächzte zwar, aber trug ihn. Sie kamen durch leere Korridore, in deren Ecken sich der Unrat häufte. Dann tauchten die ersten Solaner auf, die in türlosen
Kabinen hockten oder mitten auf den Gängen lagen. »Was tun sie den ganzen Tag?« fragte Atlan. Mabel ging jetzt neben ihm, wie um allen zu zeigen, wem der »Neue« gehörte. »Nichts. Manchmal prügeln sie sich oder suchen.« »Suchen?« »Sie sitzen mit geschlossenen Augen da und warten darauf, daß ihnen schöne Bilder erscheinen. Einer ist einmal fast dabei erstickt.« »Mit Mystos?« fragte der Arkonide alarmiert. »Was ist das – Mystos?« »Nichts, das ihr zu kennen braucht«, sagte Atlan erleichtert. Dabei fragte er sich, ob es in anderen Teilen der SOL nicht längst schon organisierte Banden gab, die die Droge teuer verkauften. Immer waren es Menschen ohne richtigen Lebensinhalt gewesen, die zu Opfern von Rauschgiften wurden. »Wann werde ich euren Boß sehen?« wollte er wissen. Männer und Frauen kamen nun herbei, um die seltsame Prozession zu bestaunen. Byrg und Wilson war dies sichtlich peinlich. Vor allem letzterer handelte sich mehrere »Ah!«‐ und »Oh!«‐Rufe ein, als die Solaner sahen, wen er da trug. Einige verschwanden ganz schnell wieder, wohl, um sich schon jetzt in Sicherheit zu bringen. Atlan sah es nicht gerade mit Begeisterung. Unwillkürlich fuhr seine Hand dort über das Hemd, wo er den Strahler versteckt hatte. »Wir sind gleich da«, sagte Mabel, die das alles völlig unberührt zu lassen schien. Sie sah ihn wieder einmal von der Seite an. »Du hast seltsame Augen, Fellmer.« »Du meinst, weil sie rötlich sind?« »Weil sie … so zeitlos wirken. Am Anfang warst du mir ja unheimlich, Fellmer. Irgendwie bist duʹs immer noch. Wie alt bist du?« »Jeder ist so alt, wie er sich fühlt«, wich er aus. Lächelnd fügte er hinzu: »Nicht zu alt für dich, Mabel.«
Byrg grunzte etwas. Atlan war nicht mehr nach Lächeln zumute, als er die Männer, Frauen und Kinder sah, die in einem Korridor Verstecken spielten und sich dabei aufführten wie Idioten. Alles in ihm verkrampfte sich. Und immer wieder stellte er sich die gleiche Frage: Wie hatte es jemals soweit kommen können? Aber er durfte es sich mit Mabel nicht verderben – mit keinem hier. Ein Feind genügte, ein hinter seinem Rücken einem Ferraten oder Vystiden zugeflüstertes Wort – und die Flucht begann von neuem. Byrg und Wilson betraten einen Gemeinschaftsraum, in dem eine wüste Keilerei zwischen Männern und Frauen tobte. Die Solaner hielten in ihrer Beschäftigung inne, als sie die Roboter und den Haematen sahen. Sie wichen zurück, als Wilson den Soldaten auf einen Tisch legte. Inzwischen hatte dieser das Bewußtsein wiedererlangt und zerrte an den Fesseln. Ein Knebel verhinderte, daß er schrie. »Holt den Boß!« rief Mabel. »Sagt ihm, was wir mitgebracht haben.« Einige zu Boden Gegangene sprangen auf und rannten auf den Korridor, begeistert über die Abwechslung. Andere warfen Atlan scheue Blicke zu und zuckten jedesmal zusammen, wenn die Roboter sich rührten. Wieder andere streckten schon ihre Finger nach den Kleidern und Kisten aus. Es dauerte lange, bis der Anführer dieser Solaner‐Gruppe endlich erschien. Atlan spürte Unruhe in sich aufkeimen. Wann waren die Haematen da? Die Roboter und der Gefesselte mußten verschwinden, und zwar schnell. Für einen Moment vergaß der Arkonide das alles, als der hochgewachsene Mann den Raum betrat, der so gar nicht zu den in Lumpen herumlaufenden anderen Gang‐Mitgliedern passen wollte. Auf den ersten Blick wirkte er in seiner den ganzen Körper bedeckten Kleidung und den Handschuhen kostümiert. Dann sah Atlan in seine Augen.
Und da wußte er, daß er einen Mann vor sich hatte, der grenzenlos einsam war. Der Hagere versuchte, einen entschlossenen Eindruck zu machen, auch als er die Roboter und den Haematen erblickte. Nur kurz zuckte er in seinem Gesicht. »Ich bin Elyt Avat«, sagte der Hochgewachsene. Auch als er Atlan direkt anblickte, beherrschte er sich mustergültig. Nur kurz sah der Arkonide so etwas wie grenzenloses Erstaunen in seinem Blick. »Du bist uns willkommen, Fellmer«, sagte Avat. »Nur hättest du dir einen besseren Moment aussuchen können, um zu uns zu stoßen.« Er drehte sich zu Byrg und Wilson um, und plötzlich verflog alle Sanftmut aus seinem Gesicht. »Ihr dreimal verfluchten Narren!« schrie er sie an. »Habt ihr jetzt endlich, was ihr wolltet?« * Elyt Avat hatte gewußt, was Byrg und Wilson in den alten Werkstätten trieben. Anfangs war er sogar froh darüber gewesen, daß sie mit ihren Robotern etwas Abwechslung ins triste Dasein der Gang brachten. Doch nie wäre er auf den Gedanken gekommen, daß sie etwas dermaßen Leichtsinniges und Verrücktes tun könnten. Sie mußten den letzten Rest ihres kümmerlichen Verstandes verloren haben! Du bist uns willkommen, Fellmer! Was sonst hätte er zu dem Fremden sagen sollen? Es war etwas an ihm, das ihn auf den ersten Blick in seinen Bann schlug. Er sah in seine Augen und glaubte, in einen Spiegel zu schauen. Daß die Augen dieses Mannes Fellmer einen rötlichen Schimmer hatten, war dabei zweitrangig. Avat wußte: Dieser Mann weiß, was es heißt, allein zu sein – mitten unter Menschen, und doch allein.
Vielleicht war er ein lästiger Mitfresser, aber danach sah er nicht aus. Kräftig und wach wie er war, sollte er die Gang verstärken können. Frisches Blut tat not. Was war von dem Haufen geblieben, der sich, zu allem entschlossen, einmal den stolzen Namen gegeben hatte? Wilson und Byrg, zwei Kinder, die nun mit Bomben spielten. Avat konnte sich dem Neuen jetzt nicht widmen. Wilson und Byrg berichteten abwechseln von ihren Experimenten und dem Coup. Byrg stotterte vor Verlegenheit und schlechtem Gewissen. Schließlich senkten sie die Blicke, und nun war es wieder an ihm, ihrem »Boß«, die Entscheidungen zu treffen. Doch welcher Spielraum blieb ihm noch? * Ters und seine Haematen würden nicht mehr lange auf sich warten lassen. Eigentlich müßten sie schon längst erschienen sein. Dies war die Chance für Sedera, sich zu rächen. Die Roboter mußten auf der Stelle verschwinden, der Haemate, die geraubte Kleidung … Und Fellmer? »Sie sind hinter dir her«, sagte Avat und quittierte das Nicken des anderen mit den Worten. »Du gehörst zu uns. Du hast immer zu uns gehört.« Avat winkte einige Männer und Frauen heran und trug ihnen auf, dies überall in Centerhaven zu verbreiten. »Ich danke dir«, sagte der Silberhaarige. »Das kannst du, wenn alles vorbei ist.« Avat ballte die Fäuste und machte drohend einen Schritt auf die beiden Übeltäter zu, die ihm und der Gang dies eingebrockt hatten. Er hatte Mühe, sich zu kontrollieren. Alles schien plötzlich auf ihn einzustürzen. Alle Mauern schienen niedergerissen zu werden, die er in Jahren um sich herum aufgebaut hatten. Die Vystiden würden sich nicht damit begnügen, Centerhaven zu durchkämmen und schulterzuckend wieder abzuziehen, wenn sie nichts fanden. Avat hatte Angst, schreckliche Angst. Noch beherrschte er sich. Aber merkten die Männer und Frauen
denn nichts? Spürten sie seine ganze Verzweiflung, seine Schwäche? Warteten einige schon darauf, ihm das Messer in die Rippen zu stoßen? »Die Roboter müssen zuerst weg!« sagte Avat. Er sah die gierigen Blicke der Solaner auf die Nahrungsmittelbehälter gerichtet. Avat wurde übervorsichtig. Überall witterte er nun Verrat. Er durfte seine Gruppe nicht gegen sich aufbringen. Sie liebten ihn, aber der Hunger war größer … »Nehmt euch, was sie gebracht haben!« rief er in die Runde. »Eßt, damit die Haematen nichts mehr finden außer alten Dosen und Beuteln. Nehmt die Kleider und versteckt sie – oder zieht sie euch an und beschmiert sie so, daß sie wie abgetragen aussehen. Und die Maschinen …« Eine Frau trat vor und blickte Byrg und Wilson mitleidig an. Dann lächelte sie hintergründig. »Ich glaube, ich weiß; wie wir sie loswerden können.« »Wenn?« entfuhr es Byrg. »Uns?« »Das wäre noch besser«, murmelte sie. »Nein, du Dummkopf. Die Roboter. Gib mir freie Hand, Boß, und ich verspreche dir, in zehn Minuten sind sie nicht mehr in Centerhaven.« Avat versuchte, in ihren Blicken zu lesen. Er gab es auf. Er war müde. »Mach keinen Fehler, Palala. Und ihr anderen, verteilt euch und begebt euch zu den Grenzen unseres Gebiets. Versucht, die Haematen aufzuhalten. Schreit, wenn ihr sie kommen hört oder seht.« Er nickte Fellmer zu. »Du kommst mit mir. Den Haematen nehmen wir mit.« Die Solaner sahen den beiden Männern nach, als sie den Gemeinschaftsraum verließen. Dann stoßen sie in alle Richtungen davon. Nur Mabel, ihre beiden Freunde und die Frau, ein altes Weib mit kurzgeschorenen Haaren und einem Sackkleid, blieben zurück. »So«, sagte sie zu Wilson und Byrg. »Nun werdet ihr euren
Maschinen ein neues Programm eingeben.« Drei Buhrlos schauten kurz herein, um dann schnell Avat und dem Fremden zu folgen. Die Weltraummenschen unterhielten sich in ihrer Zeichensprache. Offensichtlich waren sie sehr aufgeregt. »Kümmert euch nicht um sie!« herrschte Palala Karx die beiden Jünglinge an, die vor ihr standen wie begossene Pudel. »Also, ich will, daß ihr …« * Palala Karx hatte aufmerksam zugehört, als der Boß seine Anweisungen gab. Sie hatte seine Unsicherheit gesehen. Er wußte zu gut, daß es hier bald von Brüdern der zweiten Wertigkeit wimmeln würde. Das gab letztlich den Ausschlag für ihr Handeln. Längst schon hatte sie auf eine Gelegenheit gewartet, die Gang zu verlassen und sich einer der Nachbargruppen anzuschließen. Das aber ging nicht so ohne weiteres. In Patomas Land gab es schon genug hungrige Mäuler zu stopfen. Sie mußte etwas mitbringen, das Patoma überzeugte. Und sie glaubte es nun zu haben. Sie fluchte, als die Solaner, die eben den Raum verlassen hatten, nun mit anderen zurückkehrten und die Roboter plünderten. Zähneknirschend wartete sie. Sie hatte wenig Lust, jetzt noch von den Haematen geschnappt zu werden. Denn die Soldaten würden etwas finden und seien es nur neue Rostjäger oder Alte, die hier fast ebensowenig galten wie Monster oder Extras. Ters selbst war ein Mann, mit dem sich auskommen ließ, aber einige seiner Haematen … Palaia wartete, bis die Solan er endlich mit ihrer Beute verschwunden waren. Dann forderte sie Byrg und Wilson auf, sie zu den Werkstätten zu führen. Mabel blieb zurück, wütend auf den Boß, der ihr Fellmer
weggeschnappt hatte. Überall waren Gang‐Mitglieder dabei, die erhaschten Kleider zu verstecken oder überzustreifen, meist unter denen, die sie trugen. Und sie stopften sich das Gemüse und Fleisch in den Mund, als hätten sie seit Wochen nichts zu essen bekommen. In manchen Fällen traf dies sogar zu. Seit einiger Zeit wurden die Lieferungen von Grouvy immer spärlicher. Palala schätzte, daß Avat etwas damit zu tun hatte. Nun, damit sollte sie die längste Zeit Probleme gehabt haben. Wenn ihr Plan gelang, hatte sie fürs erste ausgesorgt. Sie erreichten die Werkstätten. Die Roboter folgten den beiden jungen Tölpeln. Sicherheitshalber ging Palala bis zum Antigrav, um sich davon zu überzeugen, daß Ters mit seiner Truppe noch nicht auf diesem Deck war. »Nun hört mir zu«, sagte sie zu Byrg und Wilson. »Ihr programmiert mir die Roboter so, daß sie auf meine Befehle hören. Ich sage etwas zu ihnen, und sie verstehen es und gehorchen. Ist das möglich?« »Ja«, gab Wilson zögernd zu. »Dann beeilt euch!« Sie taten es. Palala blieb im mit den Kisten verbarrikadierten Eingang stehen und beobachteten den Korridor. Dann und wann warf sie Byrg und Wilson mißtrauische Blicke zu. Sie verstand nicht, was sie nun taten, aber ihr Argwohn war unbegründet. Wie es aussah, würden sie nun heilfroh sein, die Maschinen loszuwerden und mit den ganzen Angelegenheiten nichts mehr zu tun zu haben. Sie blätterten in alten Heften, aus denen sie sich offenbar die benötigten Anleitungen holten. »Macht schneller!« rief sie. »Du hast gut reden!« entgegnete Wilson heftig. »Weißt du überhaupt, was du von uns verlangst?« Er schwitzte. Die Minuten zogen sich hin. Palala wurde immer ungeduldiger. Warum waren die Soldaten nicht längst hier? Sie brauchten nur zum
Antigrav und … Sie hörte sie, laute Stimmen und die Schritte schwerer Stiefel auf Metall. »Seid ihr soweit?« »Da hast du sie!« rief Byrg. »Nun mach mit ihnen, was du willst!« Er gab Wilson ein Zeichen, und bevor Palala zurückspringen konnte, stürmten sie an ihr vorbei aus der Werkstatt und rannten über den Korridor zu den Kabinen zurück. Sie wurde fast umgestoßen und konnte gerade noch den Fall abfangen. Unsicher blickte sie die Maschinen an. Für Augenblicke fürchtete sie, sich zuviel zugemutet zu haben. Wie die Roboter nur dastanden, wirkten sie wie stählerne Klötze, die sie aus glühenden Linsen höhnisch anstarrten. »Kommt mit mir!« befahl sie ihnen, nicht sicher, daß sie sich überhaupt bewegen würden. Doch sie folgten ihr wie treue Extras, als sie den Korridor hinunterlief, sich kurz umblickte und abbog. Nur wenige Meter hinter ihr schwebten sie zwanzig Zentimeter über dem Boden. Sie waren keine zwei Sekunden vom Korridor herunter, als Arnos Ters an der Spitze seiner Truppe um die Ecke kam. Neben dem Vystiden marschierten Sedera Garnpfer, die sich Elyt Avats Verhaftung um keinen Preis entgehen lassen wollte. 6. Atlan war von widersprüchlichen Gefühlen hin und her gerissen, als er Avat durch Centerhaven folgte. Der Anführer dieser Gruppe von Solanern trug den gefesselten Haematen, der sich nicht mehr wie rasend aufführte. Er mochte ahnen, daß er bald frei sein würde. Und er, Atlan? Es war zu spät, aus Centerhaven zu fliehen, selbst, wenn er sich woanders mehr Sicherheit hätte erhoffen können. Wenn die
Haematen auch noch nicht hier waen, so mußte er annehmen, daß das Gebiet der Gang schon umstellt war. Konnte er sich darauf verlassen, daß Avats Leute ihn nicht verraten würden? Er sah den Respekt, den sie ihrem Boß entgegenbrachten, aber auch die Gier in ihren Augen, als sie sich nun auf die geraubten Vorräte stürzten. Wie Tiere! Avats zur Schau getragene Ruhe konnte ihn nicht täuschen. Der Mann in der seltsamen Kleidung verbarg etwas. Das war nicht sein Problem. Sein Problem hieß Überleben. Männer und Frauen zwischen Unrat und Müll. Weinende Kinder. Alte, in deren Auge kein Glanz mehr war. Mit welchen Hoffnungen waren die Solaner vor zweihundert Jahren aufgebrochen! Nicht zum erstenmal fragte sich Atlan, ob Rhodan damals richtig gehandelt hatte, als er ihnen das Schiff übergab. Und sie alle gaben sich ihrer Gier hin, ihren sinnlosen Spielen und ihren Tagträumereien, als gäbe es die Bedrohung durch den geheimnisvollen Zugstrahl nicht, der die SOL fest im Griff hatte und immer weiter ins Mausefalle‐System hineinzog – zusammen mit unzähligen anderen kosmischen Objekten unterschiedlichster Größe und Herkunft. Die SOL nach Varnhagher‐Ghynnst bringen! Die SOL aus dem Zugstrahl befreien! Die SOL wieder zu einem Schiff machen, in dem Menschen wie Menschen leben konnten, frei vom Joch der SOLAG! Und überleben! All das türmte sich immer höher vor dem Arkoniden auf. Mit jedem Augenpaar, in das er blickte, wuchs seine Unsicherheit. In einer Kabine saßen zwei Solaner, die sich gegenseitig mit Farbe, die sie irgendwo aufgetrieben hatten, die Gesicher bemalten. Atlan hielt Avat am Arm zurück und trat vor die beiden hin. »Warum tut ihr das?« fragte er.
Sie blickten zu ihm auf und sahen ihn verständnislos an. »Was sollen wir sonst tun?« lautete die niederschmetternde Antwort. »Halte dich nicht mit ihnen auf!« sagte Avat, nun ungeduldig. Es ging weiter. Atlan wünschte sich, nichts von dem sehen zu müssen, was ihn umgab. Endlich erreichten sie eine Kabine, die als einzige über eine Tür verfügte. Avat betätigte den Öffnungsmechanismus und trug den Haematen in den Raum. Atlan folgte ihm. Avat legte den Gefesselten ab und verriegelte die Tür von innen. Sie sahen sich an. »Es ist zu spät, ihn zu verstecken«, sagte der Anführer der Gang. Er ging zu einem Wandschrank, öffnete ihn schweigend und hatte plötzlich eine Waffe in der Hand. Bevor Atlan ihn daran hindern konnte, paralysierte er den Haematen. »Wir werden sagen, daß er hier auftauchte, um nach zwei Robotern zu suchen, von denen wir nichts wissen«, erklärte Avat. »Er wurde ungemütlich, und mir blieb nichts anderes übrig.« Er legte den Paralysator auf den Tisch. »Aber er hat alles gehört, was wir beredeten«, protestierte Atlan. »Du willst ihn ausliefern?« »Sie sollen ihn sich holen. Das ist besser, als fänden sie gar nichts. Er wird ihnen erzählen, daß er die Roboter hier fand oder bis hierher verfolgte. Es werden keine Roboter mehr in Centerhaven sein, Fellmer. Niemand wird ihm glauben, egal, was er Ters noch alles erzählen wird.« »Ters?« »Sein Vystide.« Atlan behagte das ganz und gar nicht. Immer stärker wurde sein Eindruck, daß Avat unter Druck handelte, daß er die Übersicht verlor. Wenn der Haemate redete, würde man zumindest ihn, Atlan, mitnehmen und einem Verhör unterziehen, wenn es den Soldaten
nicht einfiel, ihn gleich auf der Stelle zu erschießen. Inzwischen mußte jeder Offizier über den Fremden Bescheid wissen, der von den Buhrlos an Bord der SOL gebracht worden war. Genau damit konfrontierte ihn Avat, bevor er erneut protestieren konnte: »Du bist der Mann, den sie suchen«, sagte er. »Der Fremde aus dem Weltraum.« Atlan ließ sich in einen Sessel fallen und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Keine Angst«, fügte Avat schnell hinzu. »Ich sagte, daß wir dich als einen von uns ausgeben, und ich stehe zu meinem Wort.« Das war alles so sinnlos – sinnlos wie das Leben der Menschen hier. Atlan sah Avat in die Augen. Dieser Mann schien jedes Gefühl für die Realität verloren zu haben, trotz seines selbstsicheren Auftretens. Begriff er denn nicht, daß er an den Dingen vorbeiblickte? Was beschäftigte ihn wirklich? Atlan verfluchte seinen Leichtsinn. Er hätte von hier verschwinden müssen, als noch Zeit dazu war. Unauffällig fuhr er sich über die Hosentasche und das Hemd, wo der Strahler und das eiförmige Gerät verborgen waren. Wußte Avat nicht einmal, daß er eine Waffe haben mußte – die Waffe des Haematen? Der Hochgewachsene stand vor dem Spiegel und sah hinein, und für Augenblicke hatte Atlan das Gefühl, daß er ihm etwas sagen wollte. Avat schüttelte den Kopf. Er setzte sich in den zweiten Sessel und wartete auf die Brüder der zweiten Wertigkeit. Nicht einmal riß er die Tür auf und erkundigte sich danach, ob alle Spuren der geraubten Waren vernichtet waren. Atlan versteifte sich. Gab es wirklich keinen anderen Weg, als sich auf ein Glückspiel einzulassen? Was lähmte ihn? Warum sprang er nicht auf und floh? Irgendwo mußte es ein Durchschlüpfen geben,
und wenn Hunderte von Haematen diesen Bezirk abgeriegelt hatten. Er würde sie wieder auf den Fersen haben. Es war von vorneherein eine Illusion gewesen, an eine Verschnaufpause zu glauben. Vielleicht anderswo, aber nicht hier. Was war los mit ihm? Lähmte das, was er mitansehen mußte, seine Fähigkeit, schnelle und klare Entschlüsse zu fassen? Sicher, er war müde und erschöpft, doch der Zellaktivator versorgte ihn ständig mit neuen Kräften. Er schien das einzige zu sein, das noch verläßlich arbeitete. Atlan biß die Zähne aufeinander, während er Avat aus den Augenwinkeln heraus beobachtete. Er mußte nun warten, im geeigneten Moment dafür sorgen, daß genug Verwirrung herrschte, um ihm eine bessere Fluchtchance zu geben. Solange der Haemate auf der Liege »schlief«, war er nur ein einfacher Solaner. Dies war die Situation. Atlan wartete darauf, daß von irgendwoher Schreie erklangen. »Kann ich dir helfen?« fragte er Avat, einem Impuls folgend. Der Solaner blickte ihn überrascht und erschrocken an. »Wie kommst du darauf?« fragte er, eine Spur zu heftig. »Nur so«, murmelte Atlan. »Vergiß es. Wieso nennt ihr euch Gang?« Avat winkte ab. »Es war hier nicht immer so wie jetzt, Fellmer – oder wie du wirklich heißen magst. Früher hatte ich Mühe, meine Leute zu bändigen. Wir kamen zusammen als einige Dutzend Solaner, die damals noch glaubten, die SOLAG zum Teufel jagen zu können. Wir verübten Anschläge auf ihre Quartiere und …« Avat seufzte und schüttelte den Kopf. »Das ist längst vorbei. Neue Mitglieder kamen zu uns, und wir sahen ein, daß nichts die Macht der SOLAG brechen kann, gar nichts. Viele von uns wurden getötet oder verschleppt. Ich überlebte mit einigen anderen unserer ursprünglichen Gruppe. Nur der Name hat sich gehalten.«
Selbst die Hoffnungslosigkeit, mit der Avat sprach, konnte Atlan nun nicht mehr erschüttern. »Es wird anders werden«, sagte er. »Das Pendel wird wieder zur anderen Seite hin ausschlagen.« Atlan wußte, daß dies leere Worte waren. »Wer bist du wirklich?« fragte Avat. »Von wo kommst du?« »Du weißt es wirklich nicht?« Avat schüttelte den Kopf. Bevor irgendeiner der beiden Männer noch etwas sagen konnte, hörten sie die Schreie. Avat fuhr in die Höhe, blickte scheu zur Tür, dann auf den Paralysierten. Und die Angst schrie aus seinen Augen. Angst um mehr als nur das nackte Leben. Atlan schob die rechte Hand unter sein Hemd und fühlte den Strahler. Dann waren die Marschschritte zu hören. * Palala Karx hörte die Haematen kommen. Sie waren schon überall. Ganz Centerhaven war umstellt. Schnell sah sie sich um. Der Gedanke, daß sie zu lange gewartet hatte, lähmte sie für Sekunden. Hinter ihr warteten die Roboter darauf, daß sie ihr weiter folgen konnten. Aber es gab Wege aus Centerhaven hinaus, die die Brüder der zweiten Wertigkeit nicht kennen konnten. Palala fuhr auf dem Absatz herum und lief ein Stück den Korridor zurück, über den sie mit ihren »Begleitern« gekommen war, bis sie vor einem Schott stand. Mit klopfendem Herzen lauschte sie auf die Schritte der Soldaten. Sie hörte nur noch, wie Befehle gebrüllt wurden. Offenbar hatten die Truppen ihre Positionen erreicht.
Dennoch atmete sie erst auf, als das Schott zur Seite schwang und sie in den großen, dunklen Raum dahinter trat. Die Roboter schwebten an ihr vorbei. Palala spähte noch einmal hinaus, sah, daß die Luft rein war, und schloß das Schott wieder. Sie befand sich in einer uralten Schleusenkammer. Wozu sie einmal gedient haben mochte, wußte sie nicht. Es konnte ihr auch gleich sein. Langsam arbeitete sie sich vor, stolperte über Herumliegendes und hielt beide Arme weit vor sich gestreckt. Die rot glühenden Linsen der Roboter waren ihr keine große Hilfe. Licht spendeten sie kaum. Ihre Finger berührten eine Wand. Sie tastete sich bis zum nächsten Schott vor und wischte Staub von den Schaltungen der manuellen Verriegelung. Sie hustete. Kurze Zeit später schwang auch dieses Schott auf. Wieder folgten ihr die Maschinen. Palala lachte grimmig, und metallene Wände warfen ihr Gelächter zurück. Jeder ihrer Schritte hallte in dem engen Korridor, in dem es ebenso stockdunkel war wie in der Schleusenkammer. War jemand jenseits dieser Wände, der sie hörte? Noch eine Schleuse, dachte sie. Dann war sie bereits auf Patomas Territorium. Früher hatten an dieser Grenze oft erbitterte Kämpfe zwischen der Gang und Patomas Gruppe getobt. Wenn sie nicht auf der Hut war, konnte es ihr passieren, daß sie ein Messer zwischen die Rippen bekam, bevor sie irgendeine Erklärung abgeben konnte. Sie entriegelte das erste Schott, dann das zweite. Halbdunkel umfing sie. Zuerst glaubte sie, daß es schon Nacht war und überall in der SOL die Beleuchtung heruntergeschaltet wurde. Dann schüttelte sie den Kopf. So sehr konnte sie sich nicht in der Zeit vertan haben. Bei den Kämpfen waren auch Beleuchtungseinheiten zerstört worden, und wer gab sich hier schon die Mühe, sie zu reparieren? Die Rostjäger kamen kaum einmal in dieses Gebiet, und
das war ganz gut so. Sie blieb stehen und lauschte wieder. Stellte Patoma keine Wachen mehr auf? Wozu auch? Von der einstmal so wilden Gang brauchte niemand mehr etwas zu befürchten. Sie war froh, diese Hungerleider nicht mehr sehen zu müssen. Zwar ging es den Männern und Frauen um Patoma Sarks nicht viel besser, doch das sollte sich ändern. Dazu war sie ja hier. »Heda!« rief sie halblaut. »Ist da jemand? Ich komme als Freund!« Langsam schlich sie den dunklen Korridor entlang, an dessen Ende es allmählich heller wurde. Sie konnte nicht vorsichtig genug sein. Wenn sie beobachtet wurde, konnte man die beiden Maschinen allzu leicht für Kampfroboter halten. Es gab hoch Leute in der SOLAG, die aus allen möglichen Typen alter Roboter Kampfmaschinen bastelten. Nicht selten hörte man davon, daß die Betreffenden dabei mit ihren Experimentierobjekten in die Luft flogen. »Ich komme als Freund!« rief sie immer wieder, während sie über den Müll der Patoma‐Leute stieg. Es stank fürchterlich. Natürlich war es gut, daß die Ferraten die Grenzen zwischen den einzelnen Gruppen mieden und sich nur sehen ließen, Wenn wieder einmal jemand gesucht wurde. Doch den Unrat, der sich überall an den Grenzen der Reviere sammelte, könnten sie schon dann und wann abholen. Aber anscheinend machte die Jagd auf Monster und andere Ausgestoßene mehr Spaß. Sie erreichte das Ende des Korridors. Er führte zwar weiter, doch hier war der Müll bis zur Decke aufgetürmt. Auf einen Sack war ein Totenschädel in einem Raumanzug gemalt. Das hieß: Von nun an keinen Schritt weiter, ohne Gefahr zu laufen, hinterrücks erschossen oder niedergeschlagen zu werden! Palala Karx blieb stehen, obwohl der Gestank von Verfaultem sie zum Würgen brachte. Einige der Säcke waren groß genug, um Leichen hineinzustecken. Genau das enthielten sie wohl auch.
Palala hob einen metallenen Gegenstand auf, unter dem sie sich nichts vorstellen konnte, und warf ihn in einen der beiden abzweigenden Gänge hinein. Laut polternd und hallend landete er zwanzig Meter weiter auf dem Boden. Die alte Solanerin drückte sich in eine Nische, als sie die Lichtkegel von Taschenlampen aufflammen sah. * Es waren drei, zwei Frauen und ein Mann in der typischen roten Kleidung der Patoma‐Leute. Der Himmel mochte wissen, wie sie daran kamen. Fast sahen sie darin aus wie Pyrriden. Die Lichtkegel richteten sich auf die beiden Roboter, die vor Palala auf dem Gang standen. Jemand schrie auf. Dann flog ein schwerer Metallgegenstand heran und knallte dumpf gegen eine der Maschinen. Bevor die drei die wertvollen Roboter beschädigen konnten, rief Palala aus ihrem Versteck: »Aufhören, ihr Narren! Ich komme als Freund! Die Blechkerle sind harmlos! Ich bringe sie euch als Geschenk!« Die Lichtkegel vereinten sich über die Nische. Palala trat mit weit über den Kopf erhobenen Händen heraus. »Hört auf mit dem Unsinn! Hört mich erst an!« Langsam kamen die drei näher. Eine der Frauen hielt ein Messer in der Hand. Die Taschenlampen blendeten die Solanerin. Sie kniff die Augen zusammen. »Kann ich die Hände jetzt wieder runternehmen?« »Langsam, Alte, langsam.« Das war der Mann. »Du gehörst nicht zu uns, eh?« Palala murmelte eine Verwünschung. »Das hast du also schon herausgekriegt. Wenn alle bei euch so gescheit sind, habe ich den Weg umsonst gemacht.« »Welchen Weg, Alte?« Der Solaner setzte ihr die Klinge an die
Kehle. Palala wich einen Schritt zurück. Außer in ihrer Kleidung unterschieden sich Patomas Anhänger kaum in etwa von der Gang‐ Mitgliedern. Sie waren genauso verdreckt und dumm. Die beiden Frauen musterten die Roboter scheu. »Ich bin aus Centerhaven abgehauen«, sagte Palala. »Die Vystiden heben das Nest aus, weil … Aber das sage ich eurem Chef selbst. Bringt mich zu ihm. Wir haben nicht viel Zeit zu verlieren!« »Zeit? Wozu?« wollte der Solaner wissen. »Wozu! Um Grouvy zu plündern, Mann!« * Patoma Sarks war alt, weit über hundert Jahre. Schon lange, bevor die Gang sich zusammengefunden hatte, war er mit seinen Leuten hiergewesen. Seine Gruppe umfaßte fast die doppelte Anzahl Männer, Frauen und Kinder als die Elyt Avat. Und sein Gebiet war so groß, daß alle anderen es nur »sein Land« nannten – Patomas Land. Palala hatte ihn natürlich nie zuvor gesehen. Die Grenze zwischen Centerhaven und Patomas Land war dicht, seitdem die blutigen Kämpfe aufgehört hatten, in deren Verlauf die Gang arg minimiert worden war. Nicht mehr lange, und es gibt keine Gang mehr! dachte Palala, als sie dem stämmigen alten Mann in die grauen Augen blickte. Es grenzte ohnehin an ein Wunder, daß sie noch existierte. Jeder angriffslustige Gruppenchef konnte in Centerhaven einmarschieren und würde keine Männer und Frauen zu verlieren haben, um sich das Gebiet zu nehmen. Ihr konnte es jetzt egal sein. Vielleicht hatten die Magniden ein Interesse daran, daß die Gang weiterbestand, oder der High Sideryt selbst. In etwa traf sie damit die Wahrheit.
Patoma Sarks war gut 1,80 Meter groß, stämmig und äußerst vital für sein Alter. Graues Haar fiel ihm bis auf die Brauen und weit in den Nacken. Sein ebenfalls grauer Vollbart stand kraus vom Kinn und von den Backen ab. Patoma gab den Wachen, die die Solanerin zu ihm gebracht hatten, ein Zeichen, daß sie zurücktreten sollten. Er saß auf einer Tischkante und ließ die Beine baumeln, während er Palala fragend anblickte. Sie hatte das Gefühl, geröngt zu werden. »Nun?« begann er endlich. »Was soll das Gerede von Grouvy und von Plünderung? Und was soll ich mit den Robotern?« Sie hatte sich einiges zurechtgelegt, das sie ihm erzählen wollte. Nun aber sah sie es wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Diesem Mann, das sah sie, konnte sie keine Lügen auftischen. Wieder blickte sie sich scheu um. Patoma hatte sie in einem alten Lagerraum empfangen, der eine regelrechte Befehlszentrale darstellte. Sie sah Bildschirme, die verschiedene Sektoren seines Gebiets zeigten. Hatte Patoma am Ende gar eine Verbindung nach »oben?« durchfuhr es sie. Das war Unsinn. Die Frau, die die Roboter inspiziert und ihrem Herrscher daraufhin etwas ins Ohr geflüstert hatte, verstand mehr von Technik, als Byrg und Wilson es jemals lernen würden. Sicher hatte sie – vielleicht zusammen mit anderen – die Schirme und Optiken installiert. Patomas Land war tatsächlich eine kleine Welt für sich. Er mußte sich gut mit den Brüdern der verschiedenen Wertigkeisten verstehen, wenn die SOLAG dies duldete. Aber war dann ihr Plan nicht von vorneherein zum Scheitern verurteilt? Sie sagte ihm die Wahrheit, was geschehen war und warum die Vystiden in Centerhaven einmarschierten. Sie verschwieg nichts – auch nicht den Fremden, der sich Fellmer nannte. Sie mußte ihn dem Grauhaarigen in allen Einzelheiten beschreiben. Patoma nickte mehrmals, und sie sah ihn
geheimnisvoll lächeln. »Was ist nun mit Grouvy?« fragte er, als sie geendet hatte. Sie blickte ihn verständnislos an. Wußte er immer noch nicht, worauf sie aus war? Warum wollte er es noch einmal hören? Sie hatte sich vorgestellt, daß sie mit ihren Robotern mit offenen Armen empfangen werden würde, daß Patoma sofort Feuer und Flamme wäre, wenn sie ihm sagte, was sie belauscht hatte. Statt dessen kam sie sich nun vor wie eine Bettlerin. Sie konnte froh sein, daß sie überhaupt noch lebte. Wirklich zu interessieren schien sich dieser Mann nur für Fellmer. »Wie ich dir sagte«, krächzte sie. »Grouvy ist verlassen, bis auf die alten Kampfroboter, die ständig dort sind. Die Ferraten sind viel zu neugierig, um sich Avats Gefangennahme entgehen zu lassen. Mit Sicherheit sind die den Brüdern der zweiten Wertigkeit gefolgt. Vielleicht ist Sedera Gampfer noch oben. Aber die Ahlnaten‐Frau dürfte kein Hindernis sein. Grouvy ist voll von Waren, Patoma! Gemüse, Fleisch, Kleidung und was sonst noch alles. Du hast Männer und Frauen genug. Du brauchst es dir nur zu holen.« »Und warum?« fragte er. Warum? Er hatte zwar Macht, aber seine Leute lebten in der gleichen Armut, litten den gleichen Hunger wie in Centerhaven. »Warum bietest du mir das an? Warum nicht Avat?« »Ich sagte doch, ich wollte von der Gang weg! Oh, ich will nichts für mich. Ich brachte dir die beiden Roboter als Preis für meine Aufnahme in deine Gruppe. Ich will nichts als zu euch gehören. Schick mich nicht wieder fort!« Patoma sprang vom Tisch und ging in der Halle auf und ab, ohne sie aus den Augen zu lassen. Mit einer Hand strich er sich durch den Bart. »Du mußt mich für sehr dumm halten, Alte! Du bringst mir die Roboter, die jetzt überall in Bereich der Verteilerstation gesucht werden. Wenn Ters sie nicht in Centerhaven findet, wird er die
anderen Gruppen besuchen. Ich könnte meinen, du wolltest uns die Schuld in die Schuhe schieben und so deinem Boß die Haut retten.« »Patoma …!« »Ich bin noch nicht fertig! Weiter könnte ich meinen, daß du dir besonders schlau vorkommst, weil die Roboter so programmiert sind, daß sie nur dir gehorchen.« »Aber … aber das mußte sein! Du mußt doch verstehen …« »Das ist keine Schwierigkeit für uns. Eylal wird das ändern.« Er setzte sich wieder und schob ihr einen Stuhl zu. »Und falls wir nun Grouvy überfielen – was galubst du, was dann geschähe?« Sie zuckte die Schultern. »Ich sagʹs dir: Patoma ist mächtig. Patoma könnte die Gang und ein halbes Dutzend andere Gruppen in den Weltraum jagen. Er könnte es tun, wenn es nach ihm ginge. Aber es geht nicht nach ihm. Patoma ist ebenso auf die Magniden und den High Sideryt angewiesen wie auch dein Avat.« Sie ließ sich in den Stuhl fallen und schlug die Augen nieder. »Meinetwegen kannst du hierbleiben«, hörte sie Patoma sagen. »Daß du mir nicht den gleichen Liebesdienst erweist wie deinem Boß, dafür werden meine Leute sorgen. Einer wird immer ein Auge auf dich haben. Aber in einer Hinsicht hattest du richtig spekuliert, Alte. Meine Leute haben Hunger, und was sie von der Ahlnaten‐ Frau kriegen, langt hinten und vorne nicht. Wir werden also Grouvy überfallen, natürlich auf unsere Weise.« Sie sah überrascht auf. »Aber eben sagtest du …« »Ich weiß, was ich sagte. Spätestens eine Stunde nach dem Überfall werden die Vystiden hier sein. Der High Sideryt mag es nicht, wenn eine Gruppe zu mächtig wird. Aber sie werden wieder abziehen, ohne uns nur einen Packen unserer Beute abzunehmen. Sie werden etwas anderes mitnehmen.« »Was?« »Du wirst es mir holen. Den Mann, der sich Fellmer nennt.«
Palala fuhr in die Höhe und starrte den mächtigen Mann an wie ein Monster. »Das ist nicht dein Ernst!« Patoma lachte dröhnend. »So? Warum nicht? Hat jemand deine Flucht bemerkt?« Byrg und Wilson mochten sich etwas zusammenreimen. Aber die beiden würden so schnell nicht wieder den Mund aufmachen. »Nein«, sagte sie zögernd. »Eben. Du gehst den Weg zurück, den du gekommen bist. Meine Leute begleiten dich bis zur Grenze. Und dort warten sie auf dich, bis du mit dem Fremden zurückkehrst. Er wird sich dir schneller anschließen als du denkst. Sag ihm nur, daß du einen Ort weißt, wo er sicher ist.« Auf ein Zeichen Patomas hin nahm Eylal eine Schaltung an einem der Bildschirme vor. Palala schrie schrill auf, als sie Avat, den Fremden und den gefesselten, offensichtlich paralysierten Haematen in einem Raum sah, den sie nicht kannte. »Du staunst? Die Residenz deines Bosses«, höhnte der Grauhaarige. »Du glaubtest, so schlau zu sein. Vielleicht wirst duʹs noch. Frauen wie dich kann ich gebrauchen, wenn du nicht auf dumme Gedanken kommst. Avat tut nichts, ohne daß ich davon erfahre. Er weiß natürlich nichts von unserem Minispion in seiner Kabine. Du siehst, vieles von dem, was du mir erzähltest, hättest du dir ersparen können. Aber zur Sache: Du siehst, daß Avat in Panik gerät. Jetzt hören sie wohl die Schritte der Haematen. Noch ist der Soldat betäubt. Aber wenn er zu sich kommt, wird er Ters sagen, daß Fellmer keiner von euch ist. Dann wirst du da sein und ihm die ʹFluchtʹ ermöglichen – direkt hierher.« Er machte eine Pause und sah sie durchdringend an. »Solltest du auf den Gedanken kommen, wieder auf eigene Faust zu handeln, dann überleg dir vorher, wer wohl die Kameras in Avats Kabine versteckt hat. Meine Leute, Palala! Und sie werden mit dir und … Fellmer fliehen. Sie sind bewaffnet und haben meine Anweisungen, wenn du noch nicht
wieder in Centerhaven bist.« Palala Karx konnte es nicht fassen. Sie starrte auf den Schirm, dann auf Patoma. Irgend etwas nahm sie gefangen. Dieser Mann war … die Macht! »Ich werde dich nicht hintergehen«, flüsterte sie. »Ich tue, was du befiehlst.« »Vernünftig.« Patoma kam zu ihr und klopfte ihr auf die Schulter. »Ich weiß, daß du viele Fragen hast. Ich weiß auch, daß du in mir etwas siehst, das ich nicht bin. In Wirklichkeit sind wir alle Solaner, einfache Solaner, Alte. Und wir müssen sehen, daß wir am Leben bleiben. Dazu brauchen wir den Fremden.« »Wer ist er?« fragte sie leise. »Ich weiß es nicht. Aber augenblicklich läßt Deccon jeden Winkel der SOL nach ihm durchkämmen. Ich werde ihn ihm ausliefern, um meinen Leuten etwas zu essen zu geben. Und der Himmel ist mein Zeuge: ich hasse mich dafür.« Sie blickte ihn an und verstand ihn nicht. Dieser mächtige Mann redete wie einer der jämmerlichen Sektierer, der Moralprediger. Das alles paßte nicht zusammen. »Geh jetzt!« forderte er sie auf. Patoma Sarks blieb allein zurück, als sie von den Wachen aus der Halle geführt wurde. Nur Eylal blieb bei ihm, lächelte ihm zu und arbeitete weiter an den Robotern. Er war alt geworden, zu alt fast für seinen Posten. Er wußte selbst nicht, weshalb er diese Hergelaufene hatte hinter seine Fassade blicken lassen. Er war nicht mehr so stark, alle die Demütigungen durch die SOLAG zu ertragen, denen auch er, der scheinbar so mächtige Mann, ausgesetzt war. Aber seine Leute mußten leben! Keine Angst, Avat, dachte er. Niemand außer mir weiß um dein Geheimnis. Und ich lasse es dir. Und du Fremder, wer du auch sein magst …
Vielleicht hättest du mir sagen können, wieʹs draußen aussieht, im Weltraum – dort, woher du kommst. Ich bin keiner von diesen Terra‐Idealisten, aber dieses Schiff bringt uns alle um. Ich muß es tun, und vielleicht kannst du mich verstehen. Meine Leute haben Hunger. Sie brauchen mich. Sie brauchen die Gruppe, das einzige, was sie haben. Chart Deccon würde sie zerschlagen lassen, wenn ich dich nicht … Er fluchte. Überrascht drehte Eylal sich zu ihm um. »Es ist nichts, Tochter«, sagte er. Dann trat er an einen der vom übrigen Schiff abgeklemmten Interkom‐Anschlüsse und rief seine Vertrauten zu sich. »Hört zu«, sagte er kurz darauf zu ihnen. »Wir werden Grouvy überfallen. Eylal präpariert diese beiden Roboter dort so, daß sie die Kampfmaschinen oben ablenken werden. Dann …« 7. Elyt Avat verzog keine Miene, als er zur Tür schritt und die Verriegelung handhabte. Die Tür schwang auf. Mehrere Männer und Frauen fielen fast in die Kabine. »Sie sind da!« schrien sie wild durcheinander. »Ters und seine …« »Laßt sie kommen«, sagte Avat. »Wir haben nichts zu verbergen. Oder?« Atlan stand einen Meter hinter ihm und spürte förmlich die Panik dieses Mannes. Auch er hatte Angst – wenn sich diese auch in erster Linie darin äußerte, die Situation abzuschätzen und nach einem Fluchtweg zu suchen. Er hatte solange Zeit dazu, wie der Haemate ohne Bewußtsein war. Alles in ihm drängte darauf, endlich selbst die Initiative zu ergreifen. Doch er wußte noch zu wenig von den Verhältnissen hier. Er mußte sich wohl oder übel zunächst einmal Avat anvertrauen –
so sehr ihn dessen Verhalten auch beunruhigte. Die Depression war verflogen, als er die Schreie hörte. Und deutlich kristallisierte sich sein Konflikt heraus. Er konnte fliehen. Natürlich konnte er es, trotz des Sperrgürtels der Haematen. Aber dazu mußte er sich seinen Weg freischießen – und das bedeutete den Tod für Solaner, die in eine Rolle gezwungen waren, die sie nicht gewollt hatten. Wer überleben wollte, mußte sich fügen oder die Leiter der SOLAG‐Hierarchie hinaufsteigen. Aber so sehr ihn die Repressalien der SOLAG‐Kasten auch anwiderten und tief bestürzten – sie alle, ob Ferraten, Pyrriden, Ahlnaten, Vystiden oder Magniden, sie alle waren die Nachkommen von Menschen, die nichts anderes gesucht hatten als grenzenlose Freiheit. Perry Rhodan hatte ihnen niemals ihre Freiheit genommen, so wie das der High Sideryt nun tat. Nur waren ihre Vorstellungen von Freiheit anders gewesen als die des Mannes, der sein Leben lang gegen Unterdrückung jedweder Art gekämpft und die Menschen zu den Sternen geführt hatte. Vielleicht hatte Rhodan – hatten sie alle, auch er, Atlan – nur den Weg ebnen können, auf dem andere fortschritten. Atlan sah sich wieder im Weltraum treibend, zwischen den drei Buhrlos, die ihn zur SOL brachten. Vielleicht waren die Weltraummenschen ein auf Dauer unfruchtbarer Nebenast der Evolution. Ihr ganzes Verhalten deutete darauf hin, daß sie sich dessen unterschwellig bewußt waren. Der Gedanke qäulte den Arkoniden. Die Zeiten, in denen er die Terraner an den Maßstäben seiner eigenen Rasse gemessen hatten, waren längst vorbei. Vielleicht war ihnen das beschieden, was den Arkoniden aus eigener Schuld versagt bleiben mußte. Aber hatten sie auch die Kraft, ihren Weg zu Ende zu gehen? Zu Ende … Er hatte sie beobachtet, als er noch auf der Erde weilte. Ihre sinnlosen Kriege, dann die Anfänge der Raumfahrt. Hätte er sich damals träumen lassen, was heute bereits Realität war? Menschen
durchflogen die Milchstraße. Es gab kein Solares Imperium mehr, sondern die Liga Freier Terraner. Die Einigung aller Rassen der Galaxis war kein ferner Wunschtraum mehr. Menschen waren in ES aufgegangen – die Konzepte von Eden II. Und nun gab es eine Gruppe, die ohne Schutzanzüge in der Lage war, 24 Stunden im Weltraum zu verbringen – Weltraumschwimmer. Zugegeben, auch ihnen waren enge Grenzen ge setzt. Wahrscheinlich hatten sie tat sächlich keine Zukunft – aber was kam nach ihnen? Und gab es überhaupt Wesen, die sich den Weltraum zur Heimat machten (auch wenn sie noch an ihr Schiff gebunden waren), ohne daß sie eine Rolle im Spiel der Superintelligenzen und der noch weit höher stehenden Mächte spielen mußten. Wer, was waren die Kosmokraten? schrie es in Atlan. Warum hatten sie seine Erinnerung an sie gelöscht? Elyt Avat riß den Arkoniden aus den Gedanken, die sich ihm so vehement aufgedrängt hatten. Der Solaner schüttelte ihn. »Träumst du?« Atlan schüttelte den Kopf und trat an ihm vorbei auf den Korridor. Nur etwa zehn, zwölf Solaner beiderlei Geschlechts scharten sich ängstlich um ihren Boß, als gäbe es nur in seiner Nähe Sicherheit für sie. Alle anderen waren in den Kabinenfluchten verschwunden. Über die Korridore kamen nun Haematen, an ihrer Spitze ein Vystide in seinem silbern glänzenden Metallfolienanzug. Neben ihm ging eine Ahlnaten‐Frau, unverkennbar in ihrem langfallenden hellblauen Gewand mit dem Atomsymbol auf der linken Brustseite. Atlan stand neben Avat und wartete. Und die Hände des Hochgewachsenen zitterten! Schweiß trat auf seine hohe Stirn. Sein Atem ging heftig. Drei Meter vor den Solanern und dem Arkoniden blieb Arnos Ters stehen und machte seinen Haematen ein Zeichen, sich auf die
Kabinen zu verteilen und dort jeden Winkel zu durchsuchen. Die Ahlnaten‐Frau stieß ihn mit dem Ellbogen an und deutete auf Elyt Avat. »Das ist er!« rief sie aus. »Das ist der Chef dieser Räuberbande!« Atlan sah blanken Haß in ihren Augen. Ters bedeutete der Frau, zurückzubleiben und machte einen weiteren Schritt auf Avat zu. Er mußte den Kopf in den Nacken legen, um Avat in die Augen blicken zu können. Haematen, die sich nicht an der Suche beteiligten, standen hinter ihm und hatten Energiewaffen auf den Anführer der Gang gerichtet. »Elyt Avat«, sagte der Vystide. Atlan war überrascht von der Ruhe, mit der er sprach. »Jemand entführte zwei Roboter eines Transports aus Grouvy oder schleuste zwei Maschinen unter die anderen. Ich weiß nicht, was genau geschah, und denke, du kannst mir die Antwort geben. Einer meiner Männer verfolgte offensichtlich die Roboter und wird seither bei uns vermißt. Sedera Gampfer, die die Verteilerstation leitet, glaubt zu wissen, daß deine Leute für den Raub verantwortlich sind.« Er nickte Avat zu. »Du machst es uns allen viel einfacher, wenn du sofort die Wahrheit sagst.« Einige der Haematen schienen ganz und gar nicht mit der Art einverstanden zu sein, mit der ihr Offizier an diese Sache heranging. Atlan hörte aus anderen Korridoren die Schreite von Solanern. Avat stand neben ihm wie zu Stein erstarrt. Er schluckte und schien um seine Beherrschung zu ringen. Atlan entging nicht der kurze Blick, den er mit der Frau wechselte, und er hätte in diesem Moment einiges dafür gegeben, zu wissen, was wirklich hinter Avats Stirn vorging. Er selbst war nun ganz ruhig. Er war einer von einem Dutzend Gang‐Mitgliedern, die sich um ihren Boß geschart hatten. Nur einmal sah er die prüfenden Blicke der Ahlnaten‐Frau auf sich gerichtet. Avat fing sich. Es mußte ihn all seine Selbstbeherrschung kosten,
ruhig zu antworten: »Der Haemate ist hier, Bruder der zweiten Wertigkeit. Von den Robotern, von denen du sprichst, wissen wir hier nur soviel, als daß er sie auch bei uns suchte. Ich sagte ihm, daß er nichts finden würde und sich besser bei den anderen Gruppen umsehen sollte. Er wurde ungemütlich und begann, meine Leute mit Drohungen einzuschüchtern und Frauen zu verprügeln. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn zu paralysieren. Er liegt in meiner Kabine, Arnos Ters.« Ters runzelte die Stirn, halb überrumpelt von soviel freiem Eingeständnis. »Hör nicht auf ihn!« schrie Sedera Gampfer. »Siehst du nicht, daß er lügt? Er zittert!« »Einfache Solaner haben Grund zum Zittern, wenn sie von Brüdern der zweiten Wertigkeit überfallen werden«, preßte Avat hervor. In Tersʹ Augen blitzte es kurz auf. »Zeig mir deine Kabine«, forderte er. Avat nickte nur und drehte sich um. Atlan sah zu, daß er bei den anderen Solanern blieb und sich genauso benahm wie sie. Dann standen sie vor der Liege, auf der Joung Kam immer noch paralysiert und gefesselt lag. »Wozu die Fesseln, Avat?« fragte Ters. »Zur Sicherheit.« Wieder nickte der Vystide. Er zog sich einen der Sessel heran und nahm darin Platz. »Dann werden wir hier darauf warten, daß er aus der Paralyse erwacht, und hören uns an, was er uns zu sagen hat«, bestimmte er. Sedera Gampfer stemmte die Fäuste in die Hüften und starrte ihn fassungslos an. »Arnos Ters, deine Haematen haben recht, wenn sie sagen, daß du zu schwach bist! Willst du denen da draußen wirklich die Zeit geben, ihre Beute in Sicherheit zu bringen? Ich …«
»Halt den Mund!« fuhr er sie an. »Meine Soldaten lassen sie nicht aus den Augen! Sedera, du brauchst nicht zu glauben, ich würde auch nur einen Moment zögern, dich zurück nach Grouvy bringen zu lassen, wenn du nicht sofort still bist!« Sie schnappte nach Luft, sah sich wütend unter den Haematen um, als erwartete sie Hilfe von ihnen. Dann stieß sie eine Verwünschung aus und lehnte sich an eine Wand. Elyt Avat blieb neben Ters stehen. Atlan wußte, daß er nun keine Zeit mehr zu verlieren hatte. Bald würden die Haematen leere Dosen und andere verräterische Gegenstände finden. Dann mußte er handeln. Tatsächlich erschienen bald einige Soldaten und zeigten Ters, was sie gefunden hatten. Der Vystide nickte. Was er dann tat, begriff Atlan erst, als es zu spät war. Arnos Ters rief über Funk weitere Vystiden mit ihren Truppen zur Verstärkung. Aber wegen zweihundert harmloser Solaner? »Einige hier mögen glauben, daß ich dumm bin«, sagte Ters. »Das ist vielleicht meine eigene Schuld, weil ich euch Gesindel zuviel Freiheit ließ. Aber so dumm bin ich nicht, daß ich nicht sehe, daß hier mehr faul ist als euer Abfall auf den Gängen.« Er zog seinen Strahler und deutete damit auf den Paralysierten. »Joung Kam hatte einen Thermostrahler am Gürtel. Ich gebe euch genau fünf Minuten, um ihn mir abzuliefern. Habe ich ihn bis dahin nicht, werdet ihr euch alle nackt ausziehen.« Atlan entging zwar Avats heftige Reaktion nicht, doch wußte er nicht, warum der Hochgewachsene plötzlich kreidebleich wurde. Andernfalls hätte er vielleicht nach einem Weg suchen können, das Unheil noch rechtzeitig abzuwenden. Er stand auf dem Sprung, um die Verwirrung zu stiften, die er zur Flucht brauchte. Doch bevor er auch nur das Geringste unternehmen konnte, brach Avat sein Schweigen. »Ich habe gelogen, um meine Leute zu schützen«, sagte der Boß von Centerhaven. Atlan fuhr herum. Er glaubte, nicht richtig zu
hören. »Zwei Männer aus meiner Gruppe schmuggelten die Roboter unter die anderen, die zur SOL‐Farm gingen, um Nahrung zu holen. Ihre Namen sind Dorsey Byrg und Sandy Wilson. Ich liefere sie dir aus, Arnos Ters. Außerdem kam ein Mann mit ihnen, der …« Atlan hörte das Fauchen von Schüssen auf dem Korridor. Avat stockte, und das war das Zeichen für ihn. Was immer auch in den Solaner gefahren war, er durfte kein Wort mehr sagen. Ters und die Haematen waren einen Augenblick unaufmerksam und blickten zur Tür. Atlan war mit einem Satz bei Ters, riß ihm den Strahler aus der Hand und zerrte ihn aus dem Sessel. Bevor der Vystide überhaupt begriff, was mit ihm geschah, hatte er ihm von hinten den linken Arm um den Hals geschlungen und drückte ihm die Mündung der Energiewaffe gegen die Schläfe. »Die Waffen weg!« schrie er die Haematen an, die herumgewirbelt waren und auf ihn anlegten. »Oder euer Chef stirbt mit dem ersten abgefeuerten Schuß!« Sie zögerten. Atlan wich mit Ters bis zur Wand zurück. Avat stand mit offenem Mund da und zitterte noch heftiger. »Tut, was er sagt!« rief da ausgerechnet Sedera Gampfer. Sie gehorchten. Das Fauchen der Schüsse daußen kam näher. Menschen schrien. Fieberhaft überlegte Atlan, was auf dem Korridor vorging. Waren die Gang‐Mitglieder doch bewaffnet? Plötzlich erschienen eine ältere Solanerin und zwei Männer im Eingang, alle mit Paralysatoren in den Händen. Alles ging nun so schnell, daß Atlan Mühe hatte, das Geschehen zu verfolgen. Die drei Eindringlinge paralysierten die Haematen. Nur Avat und die Ahlnaten‐Frau blieben verschont. Schnell zog Sedera Gampfer ihren eigenen Paralysator und warf ihn den Solanern vor die Füße. Atlan verstand gar nichts mehr, als die ältere Frau ihm heftig zuwinkte. »Komm!« rief sie. »Wir bringen dich hier raus!« Eine Falle? Wer konnte ein Interesse an seiner Person haben, wenn
er nicht wußte, wer er war? Er hatte jetzt keine Wahl. Atlan stieß Ters von sich, der gleich darauf paralysiert zu Boden ging. Die drei Solaner drehten sich um und liefen auf den Korridor. Atlan rannte hinter ihnen her. Gelähmte Haematen lagen überall auf dem Gang und in den Kabinen. Weiter vorne wurde noch geschossen. Glaubten die drei wirklich, sie kämen lebend aus Centerhaven heraus? Ein Strahlschuß schlug knapp vor dem Arkoniden in die Wand. Atlan fluchte, griff in die Hosentasche und aktivierte im Laufen das Gerät, daß er in der alten Werkstatt gefunden hatte. Ein IV‐Schirm baute sich um ihn auf – und das keine Sekunde zu früh. Hinter einem Kabineneingang hatten sich Haematen verschanzt. Ein Strahlschuß tötete einen der Solaner, ein zweiter fuhr in den Körperschutzschirm. »Weiter!« schrie die Frau. »Bleib dicht hinter mir!« Er gab einen Schuß aus Tersʹ Waffe auf den Kabineneingang ab. Die Haematen warfen sich in Deckung. Zwei weitere mit Paralysatoren bewaffnete Solaner tauchten wie aus dem Nichts auf und lähmten sie. Die Korridore verwandelten sich in wahre Hexenkessel. Von überallher wurde geschossen. Zwei Haematen kamen aus einer Kabine aus der rechten Gangseite, feuerten im Laufen und warfen sich in den gegenüberliegenden Raum. Atlan verwünschte seine »Retter«. Mit Ters als Geisel hätte er eine Chance gehabt, ohne Blutvergießen aus Centerhaven herauszukommen. Nun geschah das, was er unter allen Umständen hatte vermeiden wollen. Fluchend beugte er sich über den toten Solaner und nahm dessen Paralysator an sich. Die Energiewaffe schleuderte er von sich. »Verdammt! Komm endlich!« Die alte Solanerin war stehengeblieben und schoß blindwütig auf alles, was sich bewegte. Gang‐Mitglieder rannten schreiend aus ihrer Deckung und liefen in die Strahlbahnen aus den Waffen der Haematen.
Unbändiger Zorn erfaßte den Arkoniden. Einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, sich allein durch den Sperrgürtel zu schlagen. Dann entschied er sich anders. Wenn schon Menschen sterben mußten, so wollte er wenigstens wissen, warum. Wer immer die Alte und ihre Begleiter geschickt hatte, es ging ihm (oder ihnen) nur um ihn. Er rannte weiter, bog ab und kam mit der Solanerin auf gleiche Höhe. »Ihr seid wahnsinnig!« schrie er, um das Fauchen der Schüsse, das Geschrei in Panik fliehender Männer und Frauen und das Weinen von Kindern zu übertönen. »Wir kommen hier nicht lebend heraus!« Er vielleicht schon, geschützt durch den IV‐Schirm. Aber alle anderen … Er konnte sich die Strafaktion der SOLAG nur zu gut vorstellen. Die ganze Gang würde für diese Verrückten zu büßen haben. »Vertraue uns!« rief die Alte. »Wir wissen einen Weg!« »Und was erwartet mich an seinem Ende?« Sie gab keine Antwort. Am Ende des Korridors lagen Haematen hinter einer Barrikade aus allen möglichen metallenen Gegenständen. Die Solanerin warf sich flach auf den Boden. Ihre Begleiter sprangen zur Seite, drückten sich an die Wände und bestrichen die Haematen mit ihren Lähmstrahlen. Einer von ihnen starb, bevor die Brüder der zweiten Wertigkeit außer Gefecht gesetzt waren. »Der Weg ist frei!« rief die Solanerin, sprang auf und winkte Atlan zu. Die beiden Überlebenden waren schon über die Barrikade und verschwanden in einem abzweigenden, schmalen Gang. Als Atlan und die Alte sie erreichten, schwang vor ihnen ein Schott auf. Die Solanerin winkte den Arkoniden an sich vorbei. Kaum stand er in der dunklen Schleusenkammer, als die Männer das Schott auch schon wieder schlossen. Die Alte atmete heftig. Sie blieb stehen, mit der Linken an eine Wand gelehnt. Ihre Begleiter waren schon am zweiten Schott.
»Wohin?« fragte Atlan nur. Es waren keine Schüsse mehr zu hören. Die plötzliche Stille verstärkte den Eindruck noch, daß er in eine Falle geraten war. Es war zu dunkel, um viel von der Umgebung erkennen zu können. Die Solanerin war nur ein schattenhafter Schemen, als sie auf Atlan zutrat. Etwas drückte sich in seinen Rücken. »Ich wußte, daß du ein ganz besonderer Bursche sein mußt, wenn der High Sideryt dich überall auf der SOL suchen läßt«, sagte Palala Karx kalt. »Bald kannst du den Magniden deine Fragen stellen, und bis dahin machst du keine Dummheiten. Du scheinst eine Menge zu wissen, Fremder. Dann weißt du auch, daß dein IV‐Schirm dich nicht vor einem Vibratormesser schützt.« Der Druck verstärkte sich leicht. Atlan ließ den Paralysator fallen. »Los jetzt!« herrschte die Alte ihn an. Atlans Gedanken überschlugen sich. »Warum tut ihr das?« fragte er. »Warum?« Sie lachte humorlos. »Um zu leben! Warum sonst?« 8. Elyt Avat stand inmitten der Gelähmten, unfähig, auch nur ein Wort zu sagen. Sedera Gampfer blickte ihn schweigend an. Draußen waren die Schüsse zu hören. Kein Haemate erschien. Sedera bückte sich nach ihrem Paralysator und richtete ihn schweigend auf Avat. Er setzte sich auf die Liege und barg den Kopf in den Händen. Alles hatte er verloren, seine Gruppe, Centerhaven, und was schlimmer als alles andere war: die Achtung vor sich selbst. Er hatte Byrg und Wilson verraten, nur um seine Haut zu retten – und das in des Wortes wahrster Bedeutung. Er hätte den Fremden ans Messer geliefert, nur um nicht …
Warum mußte der verdammte Vystide von Ausziehen sprechen? Warum mußte er das sagen? Avat hatte vor Panik nicht mehr gewußt, was er tat. Er hätte noch mehr getan, um nicht als Monster entlarvt zu werden – alles, was Ters von ihm verlangte. Und wozu das alles? Was hatte er letztlich gewonnen? Ters würde aus der Paralyse erwachen und sich über seine überraschende Reaktion zu wunden beginnen. Sicher hatte Fellmer den Strahler. Wenn ihm die Flucht aus Centerhaven gelang, würde Ters weiter danach suchen lassen. Ausziehen … Monster! Dieses schrecklichste aller Wörter hallte quälend in Avats Bewußtsein. Seht hin! Ein Monster! Oh Gott! dachte Avat. Sedera hatte den Paralysator auf ihn gerichtet. Warum keine tödliche Waffe? Lieber wollte er jetzt sterben, bevor er die furchtbare Demütigung ertragen mußte. Er ist ein Monster! Er ist ein Monster! Jagt das Monster! Die Thermostrahler auf dem Boden! Wenn er schnell genug einen greifen und sich an die Schläfe setzen konnte … »Steh auf, Elyt!« sagte Sedera. Langsam kam sein Kopf in die Höhe. Blicklos sah er die Ahlnaten‐ Frau an. »Töte mich!« flüsterte er. Für einen Moment schwand der Triumph aus ihren Blicken. Sie gewann die Kontrolle über sich zurück und schüttelte den Kopf. »Steh auf, Elyt, bevor die Haematen hier sind.« »Aber wozu denn noch?« schrie er. »Ich bringe dich nach Grouvy. Ters wird sich mit den beiden Dieben zufriedengeben – und mit den Robotern.« »Aber die sind doch nicht mehr in Centerhaven!« »Dann findet er sie woanders. Ich regle das mit ihm, Elyt. Deine
Gruppe wird es nicht mehr geben. Was also hält dich noch hier?« »Was soll ich in Grouvy?« Neue, vielleicht irreale Hoffnung keimte in ihm auf. Wenn sie ihn mit sich nehmen wollte, konnte sie doch nicht wissen, daß er … anders war. »Du weißt es, Elyt. Ich wiederhole mein Angebot. Diesmal wirst du es nicht mehr ablehnen können.« Nein, diesmal nicht mehr. Sie wollte diesen Triumph. Sie wollte ihn gedemütigt sehen. Sie wollte es so sehr, daß sie einen handfesten Streit mit den Vystiden riskierte. Sie würde ihm sagen: »Zieh dich aus!« Etwas erwachte in Avat. Etwas, das er nie zuvor gefühlt hatte. Vielleicht gab es einen Weg für ihn, den von Anfang an vorgezeichneten. Wenn Ters und die Haematen ihn hier entlarvten, kam er nicht lebend aus Centerhaven heraus. Oben aber, mit Sedera allein … Er stand auf und nickte schwer. »Du hast mich in der Hand«, sagte er leise. Die Ahlnaten‐Frau lachte unterdrückt. »Du wirst es nicht bereuen, mein Freund.« Vielleicht hatte sie recht. Er würde niemals mehr andere Menschen ins Unglück schicken müssen, nur um nicht den Schrei: »Monster!« zu hören. Und auf gewisse Weise würde er frei sein. »Gehen wir«, sagte Sedera Gampfer, den Pairalysator nach wir vor auf ihn gerichtet. »Du brauchst die Waffe nicht mehr«, sagte er. »Sicher ist sicher, Elyt.« Chart Deccon, High Sideryt und Bruder ohne Wertigkeit, stand einsam in seiner Klause und ließ sich die Bilder der Außenbeobachtung auf seinen Bildschirm überspielen. Scheinbar hatte sich nichts verändert. Die SOL wurde weiter ins
Mausefalle‐System hineingerissen, mit nun an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf den siebten Planeten zu, und kosmische Objekte unterschiedlichster Größe und Form zogen weit jenseits der 3000‐Kilometer‐Operationskugel an ihr vorbei oder wurden von ihr überholt. Die Erschütterungen, die das Schiff fast pausenlos durchliefen, waren augenblicklich nur anmeßbar und viel zu schwach, um von den Solanern bemerkt zu werden. Chart Deccon wünschte sich, sie wären stärker und würden den Menschen an Bord endlich klarmachen, in welcher Gefahr sie alle schwebten. Vielleicht sollte er es ihnen sagen und so den Gerüchten ein Ende setzen, die in einigen Teilen schon Paniken auslösten. Da war die Rede von einem Schwarzen Loch, das die SOL verschlingen würde, oder von Weltraumungeheuern, von ganzen Flotten, die aus dem Nichts aufgetaucht waren und ihre Geschütze auf das Raumschiff richteten. Doch die meisten Solanern waren ahnungslos oder verdrängten das, was beim verzweifelten Versuch, die SOL aus dem Zugstrahl zu befreien das Schiff so hart durchgeschüttelt hatte. Plötzlich und unerwartet meldete sich SENECA. »Die Verteilerstation VS‐3‐ZS‐1 wird angegriffen«, hörte Deccon die warme Stimme der Positronik. »Na und?« Deccon war alles andere als gut auf SENECA zu sprechen. »Die Kampfroboter werden damit fertig!« »Das ist zu bezweifeln. Vielleicht wächst dein Interesse, wenn ich dir sage, daß die Solaner, die für den Angriff verantwortlich sind, dir in einer Stunde den Mann anbieten werden, den du suchen läßt.« Deccon erstarrte. »Weiter!« forderte er. »Wo ist er jetzt? Welche Gruppe hat ihn?« »Im Augenblick hat ihn keine.« Deccon fluchte. »SENECA, ich habe das verdammte Gefühl, du willst mich auf den Arm nehmen!« »Das wüßte ich aber«, lautete die lapidare Antwort.
»Dann sag mir, welches Deck, welcher …« Aber SENECA hatte die Verbindung schon wieder unterbrochen. Der High Sideryt ballte die Fäuste und schrie Verwünschungen, die niemand hörte. Fast hatte Chart Deccon den Verdacht, daß die Positronik Atlan zu schützen versuchte. Aber das war Unsinn. Warum hätte sie ihn dann benachrichtigt. Er gab es auf, SENECA begreifen zu wollen. Kurz überlegte er, ob er die Magniden unterrichten sollte. Und wenn er einen Reinfall erlebte? Chart Deccon schüttelte den massigen Kopf und ging zu einem Interkom‐Anschluß. Kurz darauf verließen Vystiden‐Trupps ihre Quartiere und machten sich auf den Weg, um alle Decks, die von der Station VS‐3‐ SZ‐1 aus versorgt wurden, nach außen hin abzuriegeln. Kampfroboter marschierten auf Grouvy zu. * Eylal, Patomas Tochter, führte selbst die fünfzig Solaner an, die den Angriff auf Grouvy riskierten. Die beiden Roboter schwebten an der Spitze der mit Beutestrahlern, Messern und Eisenstangen bewaffneten Männer und Frauen. Keine Brüder der zweiten Wertigkeit verstellten ihnen den Weg. Ferraten, die hier und dort arbeiteten oder tatenlos herumlungerten, suchten ihr Heil schnell in der Flucht. Gegen diese Übermacht konnten sie nichts ausrichten. Eylal hatte damit gerechnet, daß sie nicht ohne gesehen zu werden an die Verteilerstation herankamen. Sie drängte die Solaner noch mehr zur Eile. Die Rostjäger würden mit Verstärkung zurückkommen. Patomas Tochter hatte sich einiges Wissen über Kybernetik
aneignen können. Die Werkstätten, in denen Byrg und Wilson ihre Experimente gemacht hatten, reichten bis in Patomas Land hinein. Dort waren zwar keine Roboter zu finden gewesen, dafür aber um so mehr an Literatur über diese Maschinenwesen. Am Ende eines Korridors, kurz vor der Verteilerstation, schickte sie die beiden Roboter los. Sie waren so programmiert, daß sie die Kampfroboter durch ein wahres Feuerwerk von Normal‐ und Hyperfunkimpulsen genügend durcheinanderbringen konnten, um die Bewacher der Station lange genug außer Gefecht zu setzen. Eylal wartete genau zwei Minuten, dann gab sie den Befehl zum Angriff. Von Strategie verstand sie weniger als von Kybernetik, und so rannten die Solaner wie eine Horde Barbaren los, schwangen ihre Waffen und quetschten sich durch die vier Eingänge Grouvys. Die Kampfroboter drehten sich, schwebten davon, umkreisten sich gegenseitig und gaben ungezielt Schüsse nach allen Richtungen ab. »Schneller!« schrie Eylal. »Rafft auf, was ihr packen könnt, und dann nichts wie weg von hier!« Die Männer und Frauen behinderten sich gegenseitig. Sie steckten ihre Waffen ein und plünderten, was zu plündern war. Eylal stand in einem der Eingänge und winkte jene, die Packen und Kleider auf den Armen hatten, ungeduldig an sich vorbei. Immer wieder blickte sie auf den Korridor hinaus. »Beeilt euch!« Noch war nichts von Vystiden zu sehen. Doch einer der von ihr umprogrammierten Roboter lag halb zerschmolzen am Boden. Wenn auch der andere in einen Schuß der Kampfmaschinen lief … Es bedurfte dessen nicht mehr. Eylal schrie auf, als sie das Flimmern der Energiefelder sah, die Grouvy plötzlich von der Außenwelt abschirmten. Jene Mitglieder ihrer Gruppe, die schon auf dem Weg zurück zum Antigrav gewesen waren, drehten sich um und bekamen große Augen. Eylal sah die Kampfroboter aufmarschieren, ganze Kolonnen von
ihnen. Ehe die überraschten Männer und Frauen jenseits der Energiebarriere an Flucht denken konnten, waren sie in die Zange genommen. Eylal senkte den Kopf und ließ die Waffe fallen. Erst jetzt bemerkten die noch mit der Plünderung der Halle Beschäftigten, was draußen geschah. Sie schrien auf, ließen ihre Beute im Stich und bestürmten die Tochter Patomas mit Fragen: »Was tun wir jetzt, Eylal?« »Wer hat uns verraten?« »Was geschieht jetzt mit uns?« Die junge Solanerin zuckte die Schultern und ließ mutlos den Kopf hängen. Sie setzte sich auf den harten, kalten Boden. »Ich weiß nichts«, sagte sie. »Wir können gar nichts mehr tun, als auf die Vystiden zu warten.« »Dein Vater wird uns hier heraushauen!« hörte sie jemanden rufen. Sie lachte trocken. Patoma konnte gar nichts tun, wenn er nicht rechtzeitig diesen Fremden bekam. Dann vielleicht würden der High Sideryt und die Magniden mit sich reden lassen. Allerdings fragte sie sich, ob ihr Vater den Wert dieses Fremden nicht zu hoch einschätzte, und ob er nicht zu großes Vertrauen in die Ehrlichkeit der Magniden setzte. Selbst wenn sie auf den Handel eingingen und ihr Wort geben würden – wer garantiert, daß sie es auch hielten? Gegenüber einfachen Solanern – gegenüber Menschen zweiten Grades … Der Traum von ein paar Wochen ohne Hunger war vorerst für sie ausgeträumt. Die Menschen der Gruppe würden weiterhin das wenige essen und trinken, was ihnen zugeteilt wurde. Weitere Kinder würden an Mangelkrankheiten sterben. »Oh, Chart Deccon!« schrie sie in die Halle. »Ich verfluche dich!«
9. Atlan stand starr, die Arme seitlich von sich gespreizt. Sie wird nicht zögern! durchfuhr es ihn. Sie macht ernst! Ihr Ziel konnte nur das hier angrenze Gebiet sein, das Territorium einer Nachbargruppe. Und dort saß jemand, der darauf wartete, ihn den Magniden oder Deccon selbst auszuliefern. Oder erwarteten ihn die Vystiden dort bereits? Er mußte versuchen, Zeit zu gewinnen. Vielleicht konnte er die Solanerin überwältigen. Die beiden Männer konnten ihm mit ihren Paralysatoren nichts anhaben. Doch selbst, falls ihm das gelang – wohin sollte er fliehen? Direkt dorthin, wo sie ihn hinbringen wollte? Zurück nach Centerhaven? »Vorwärts!« zischte die Alte. »Geh schon!« »Warte!« Er riskierte es nicht, sich umzudrehen. In die Dunkelheit hinein sagte er: »Warte. Du sagst, ihr wollt leben. Vielleicht kann ich euch helfen.« Das schien sie über alle Maßen zu belustigen. »Du? Ein Fremder? Was weißt du denn schon?« »Mehr als du glaubst. Du kennst meinen Namen nicht?« »Du meinst Fellmer? Bestimmt nicht dein richtiger. Ist mir auch egal. Für mich zählt nur, daß ich dich Patoma abliefere.« Für einen Augenblick hatte er ihr sagen wollen, wer er war. Die Folge wäre die gleiche bittere Erkenntnis gewesen, die er schon kurz nach Betreten der SOL machen mußte. Niemand kannte ihn mehr, fast niemand. Deccon hatte es also allem Anschein nach noch nicht für nötig befunden, die einfachen Solaner einzuweihen. Natürlich hatte er es nicht getan. Nichts konnte er weniger gebrauchen als einen Mann, der den geknechteten Menschen an Bord neue Hoffnung geben
konnte – auch wenn sein Name wie der Perry Rhodans und der anderen alten Gefährten zum Schimpfwort geworden war. »Geh jetzt, oder wir bringen dich als Leiche zu Patoma!« Sie bluffte nicht. Deccon wollte ihn zwar lebend. Dennoch sah er ihn, wenn er ihn nicht bekam, mit Sicherheit lieber tot als frei. Konnte sie das wissen? Atlan verließ sich nicht darauf, daß dies nicht so war. Langsam setzte er sich in Bewegung. Sie dirigierte ihn mit dem Messer. All seine Sinne waren auf Flucht gerichtet. Er mußte sie überumpeln. Dann sah er weiter. Er kannte diesen Teil der SOL nicht, doch er war nach dem gleichen Grundmuster konstruiert wie vergleichbare Sektionen. Es gab Belüftungsschächte und andere Fluchtwege, die den heutigen Solanern unbekannt sein mußten. Auch den Vystiden, Ahlnaten und Rostjägern? Atlan wartete, bis sie durch das Schott waren und einen schmalen Gang betraten, dem eine zweite Schleusenkammer folgte. Als die beiden Männer sich an der Verriegelung zu schaffen machten, wirbelte er herum, schlug mit der rechten Hand das Messer zur Seite und packte den Arm der Alten mit der anderen. Sie schrie heiser auf. Die Solaner fluchten. Atlan sah sie nicht. Aber sie kamen im Dunklen heran. Er hörte ihre Schritte, umfaßte die Frau von hinten und entwand ihr die Waffe. Mit dem Fuß trat er das Messer fort. Die Alte schlug nach ihm und kratzte. »Bleibt, wo ihr seid!« rief der Arkonide in die Richtung, aus der die Schritte kamen. »Und du hältst still, oder ich vergesse, daß du eine Frau bist.« Die Solaner kamen weiter heran. Atlan sah sie als Schemen. Einer von ihnen feuerte den Paralysator ab. In Atlans Armen sank die Solanerin zu Boden. Er wich bis zur Wand zurück und erwartete den Angriff. Hatten auch sie Messer, oder wollten sie mit den Fäusten auf ihn los? »Was nützt dir das?« hörte er einen von ihnen. »Die Alte ist wertlos für uns. Du hättest es dir …«
Der Mann wollte von seinem Kameraden ablenken. Atlan spannte seine Muskeln und schnellte sich vor, als er die Gestalt im Dunkel sah. Ein Fausthieb verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Atlan duckte sich und bekam die Hüfte des Angreifers zu fassen. Bevor der Solaner die Überraschung überwand, hob er ihn hoch und schleuderte ihn dem anderen entgegen. Er wartete nicht auf den nächsten Angriff, ließ sich zu Boden fallen und rollte sich quer darüber, bis seine Hand den Paralysator berührte, den er fallengelassen hatte. Die Solaner kamen auf leisen Sohlen heran, selbst so blind wie er. Aber er hörte ihren Atem, zielte und schoß. Nebeneinander brachen sie gelähmt zusammen. Atlang sprang auf und fluchte. »Ihr Narren! Das habt ihr nun davon!« Wohin? Hinter der Schleuse mochten die Freunde der Paralysierten auf ihn warten. In Centerhaven wimmelte es von Haematen. Sicher war inzwischen die von Ters gerufene Verstärkung eingetroffen. Ein Geräusch ließ den Arkoniden herumfahren. Er war nicht allein! Er sah nichts. Hätte er wenigstens Licht gehabt! Von dort, woher er selbst gekommen war, näherten sich wieder Schritte, langsam und – vorsichtig. Es klang, als hätten die Unbekannten sich die Stiefel ausgezogen oder … Atlan hielt die Lähmwaffe schußbereit. »Wer ist da?« rief er leise. Drei Taschenlampen flammten auf und blendeten ihn. »Sei ruhig«, hörte er. »Ganz ruhig, Atlan. Wir bringen dich hier heraus …!« Das hatte er schon einmal gehört. Es war gar nicht lange her. Aber diese Stimmen – und sie nannten ihn bei seinem wirklichen Namen! Einer der drei kam näher. Die Lichtkegel wendeten sich von Atlan ab und ließen ihn erkennen, wer da mit erhobener linker Hand, an
der zwei Finger zum »V« gespreizt waren, auf ihn zukam. Unwillkürlich stieß er hervor: »Kartron? Kartron Amer?« Unterdessen warteten zwei junge Solaner darauf, daß sie von den Brüdern der zweiten Wertigkeit entdeckt und abgeführt würden. Dorsey »Manhattan« Byrg und Sandy Wilson waren nicht ins Zentrum von Centerhaven zurückgelaufen, nachdem sie Palala Karx ihren Willen getan hatten. Es gab nicht nur die eine alte Werkstatt in der Nähe der Grenze zu Patomas Land. In jener, in die sie sich geflüchtet hatten, gab es einen regelrechten Verhau aus alten Metallkisten, Stahlträgern, Röhren und was sonst noch an Abfallprodukten hier gelandet war, als in den Werkstätten noch gearbeitet wurde. Irgend jemand hatte sich einmal ein Versteck daraus gebaut, eine Höhle aus Schrott, der eine Hälfte des großen Raumes völlig ausfüllte und an der Wand bis zur Decke reichte. Durch den »Eingang« mußte man kriechen, drei Meter weit, und dabei immer höllisch aufpassen, daß man sich nicht den Kopf anstieß. Die Höhle selbst war nur so groß, daß die beiden Solaner gekrümmt sitzen konnten. Und sie schwitzten Blut und Wasser. »Vielleicht ziehen sie wirklich ab, wenn sie nichts finden«, flüsterte Byrg. »Der Boß hält dicht.« »Aber der Haemate wird alles erzählen«, widersprach Wilson. »Hätte Ters sonst die Verstärkung gerufen?« Er sprach die Vystiden an, die sie auf den Korridoren gehört hatten. Das waren mehr Soldaten, als Arnos Ters zur Verfügung hatte. Außerdem waren mehrere Male Befehle gebrüllt worden – und immer von anderen Offizieren. »Der Kerl hat schon geredet.« Byrg schluckte hörbar. »Sandy, wenn sie uns finden – was werden sie mit uns machen?« »Weiß nicht, vielleicht in den Weltraum stoßen, ohne Raumanzug.« »Sandy, damit macht man keine Witze!«
»Sollte auch keiner sein«, knurrte Wilson. Das zwischen den Schutteilen einfallende Licht reichte gerade aus, um ihn Byrgs Gesicht sehen zu lassen. Der Schweiß lief ihm in dicken Perlen die Wangen herab. Manchmal glaubte er, die Zähne des Kumpans klappern zu hören. »Dorsey, benimm dich einmal wie ein Mann!« »Nicht so laut!« »Wir sollten uns stellen.« »Bist du noch zu retten?« flüsterte Byrg, zu Tode erschreckt. Er starrte Wilson aus weit aufgerissenen Augen an. »Außerdem bist … bist …« »Was bin ich?« »Du bist schuld! Du allein! Stell du dich, wenn du ein Freund bist, Sandy!« Wilson stieß laut die Luft aus. »Da hört sich doch alles auf. Du hattest die Idee, und …« »Es gibt immer einen, der eine Idee hat, und einen anderen, der sie skrupellos ausschlachtet!« Das reichte. Sandy Wilson drehte sich von Bryg weg und legte sich umständlich auf den Bauch, so daß er durch die Eingangsröhre den Raum und dessen Tür sehen konnte. Wieder waren die Schritte schwerer Stiefel zu hören. Sie kamen näher. Stimmen wurden laut. »Jetzt kommen sie gleich!« zeterte Byrg. »Sie durchkämmen die Werkstätten. Wir sind verraten und verkauft!« »Halt die Klappe, Idiot!« Sie waren da. Fünf mit Strahlern bewaffnete Haematen erschienen im Eingang der alten Werkstatt. Zwei postierten sich zu beiden Seiten der breiten Tür. Die drei anderen kamen herein. Und mit ihnen … »Mabel!« flüsterte Byrg fassungslos. Wilson legte ihm einen Finger auf den Mund. »Das sieht ihr ähnlich«, flüsterte er. »Keinen Laut jetzt. Sie haben
uns noch nicht.« Mabel machte ihm einen dicken Strich durch die Rechnung. »Kommt raus, Jungs!« rief das Mädchen. »Es hat keinen Zweck mehr. Sie wissen alles!« – »Verfluchtes Weibsstück!« zischte Wilson. »Deine Freundin, Dorsey!« »Ach so? Vorher war sie deine, und jetzt ist sie hinter dem Neuen her! Du solltest …« »Kommt schon, oder wir holen euch raus!« rief einer der Soldaten. Mabel legte ihm die Hand auf den Arm mit der Waffe. »Sie kommen freiwillig, nicht wahr, Jungs? Keine Angst, ich habe mit den Vystiden geredet. Ich habe ihn von euren … euren überragenden Fähigkeiten im Umgang mit Robotern erzählt, und sie haben versprochen, ein Auge zuzudrücken. Ihr kommt zu den Ferraten!« »Ha!« schrie Byrg. »Zu den Rostjägern? Nein, danke!« »Entweder das oder …« Mabel zuckte die Schultern und fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Gurgel. »Ich werde übrigens auch zu den Ferraten gehen«, erwähnte sie beiläufig. Byrg schob Wilson zur Seite und spähte durch die Röhre. »Aha. Und was ist mit Fellmer?« »Der ist weg. Verschwunden.« »Also gut! Ich komme!« Wilson stieß die Luft aus und versuchte, ihn zur Vernunft zu bringen. Doch Byrg war nicht mehr zu halten. Er stieß sich einige Male an, bis er aus dem Metallverhau heraus war, und richtete sich verlegen grinsend vor Mabel und den Haematen auf. Wilson folgte ihm fluchend. Mabels eben noch zur Schau getragene Selbstsicherheit verflog augenblicklich. Sie nahm beide Übeltäter bei der Hand und sagte niedergeschlagen:
»Es war der einzige Ausweg, Jungs. Die Rostjäger können Männer gebrauchen, die sich aufs Programmieren von Robotern verstehen. Hätte ich die Vystiden nicht bekniet …« Sie brauchte nichts weiter zu sagen. Byrg und Wilson konnte sich ausmalen, was ihnen bevorgestanden hätte. »Und was ist mit dem Boß?« wollte Sandy wissen. »Mit der Gang?« »Keine Ahnung, was mit dem Boß geschehen ist«, sagte sie. »Es heißt nur, Sedera Gampfer hätte ihn sich unter den Nagel gerissen. Und die Gang…« Sie blickte auf und hatte Tränen in den Augen. »Die Gang wirdʹs bald nicht mehr geben.« * Sie hatten das Schlimmste noch nicht gesehen. In den Korridoren von Centerhaven lagen Tote. Strahlschüsse hatten Löcher in die Wände geschlagen. Überall standen Haematen. Die meisten überlebenden Mitglieder der Gang waren in zwei Gemeinschaftsräumen zusammengepfercht und streng bewacht. Ein Vystide, den weder Byrg noch Wilson kannten, gab jetzt die Befehle. Ters, so erfuhren sie von Mabel, lag noch gelähmt in Avats Kabine. Avat selbst war von Sedera Gampfer aus Centerhaven herausgebracht worden, ehe die Brüder der zweiten Wertigkeit erschienen, die Ters als Verstärkung angefordert hatte. »Und das ist allein unsere Schuld«, sagte Wilson bitter. »Seid still!« bat Mabel. »Bitte, seid still!« Sie wurden in eine Kabine geführt und von Haematen bewacht. Etwa eine halbe Stunde hatten sie Zeit, sich in Selbstvorwürfen zu ergehen. Dann sahen sie Ters auf dem Korridor, wie er sich, noch benommen, mit drei anderen Offizieren besprach. Einmal blickte er zu ihnen herein.
Sie hörten nicht viel von dem, was die Vystiden redeten. Aber sie sprachen von einem Überfall auf Grouvy und erwähnten dabei zwei alte Roboter, die von den oben stationierten Kampfmaschinen zerstrahlt worden waren. Der Name Patoma fiel ein‐, zweimal. Dann gaben sie wieder Befehle. Die gefangenen Gang‐Mitglieder wurden abgeführt. Wohin, das blieb unklar. In einer langen Prozession trotteten sie mit gesenkten Köpfen über den Gang. Nicht einer leistete den Haematen Widerstand. Als die anderen Vystiden sich dem Zug anschlossen, betrat Arnos Ters den Raum, in dem die drei jungen Solaner mit klopfendem Herzen darauf warteten, was nun mit ihnen geschehen sollte. Ters betrachtete sie lange schweigend. Dann nickte er. »Ihr habt mehr Glück als Verstand. Bedankt euch bei eurer Freundin. Bei den Ferraten werdet ihr Zeit genug dazu haben – und Zeit, euch zu überlegen, was ihr angerichtet habt.« Da war kein Hohn in der Stimme des Offiziers. Ters schien mit eigenen Problemen beschäftigt zu sein. »Abmarsch!« sagte er nur noch. Die drei ließen sich aus Centerhaven führen. Nur als sie durch einen Korridor kamen, in dem ein Schott offenstand, blieb Ters stehen. Haematen kamen aus der Wandöffnung und trugen Palala Karx und zwei Männer auf den Armen. Sie waren alle paralysiert. »Der Fremde?« fragte Ters. Einer der Haematen schüttelte den Kopf. »Keine Spur von ihm. Wir trafen zwischen den beiden Schleusenkammern mit denen zusammen, die von Patomas Land aus suchten. Er ist wie vom Erdboden verschluckt.« Der Mann dachte sich nichts dabei, als er diese Redewendung gebrauchte. Nur Ters hob eine Braue. Selbst heute noch lebte die Erinnerung an jene Zeiten in alltäglichen Dingen weiter, in denen Menschen auf Planeten lebten – auf der Erde.
»Patomas Land ist auch besetzt?« fragte Wilson überrascht. Ters nickte geistesabwesend. »Seine Leute überfielen Grouvy. Heute muß ein guter Tag für Gefangennahmen sein – und für Verrückte.« Der Vystide bedeutete ihnen, weiterzugehen. Wieder richteten sich die Waffen der Haematen auf sie. Elyt Avat wartete in Sedera Gampfers Quartier in unmittelbarer Nähe der Verteilerstation. Er wartete wie die Fliege auf die Spinne, in deren Netz sie sich verfangen hatte. Doch die Fliege würde sich losreißen. Heute konnte sie es. Etwas in Avat war gestorben – etwas Neues erwacht. Die Gang war für ihn verloren. Doch auch dies hätte eines Tages ganz zwangsläufig kommen müssen. Er wußte, daß er die Menschen niemals mehr wiedersehen würde, die ihm alles bedeutet hatten. Er wartete. Über zwei Stunden war Sedera nun draußen. Er hätte vielleicht in dieser Zeit fliehen können. War es der Gedanke an seinen letzten und einzigen Triumph, der ihn hielt? Endlich hörte er ihre Schritte. Die Tür zur Doppelkabine der Ahlnaten‐Frau wurde geöffnet. Sedera trat ein und drückte sie hinter sich wieder zu. Erwartungsvoll blickte sie ihn an. Elyt Avat erhob sich von der mit kostbarem Stoff bezogenen Liege. Der für die Begriffe eines einfachen Solaners fast unvorstellbaren Luxus des Quartiers beeindruckte ihn nicht mehr. Sedera hatte sich immer genommen, was sie haben wollte. Nun sollte sie auch ihn bekommen. Wahrscheinlich bin ich der einzige Mann, der ihr jemals einen Korb gab! dachte er, als er nun ihre Blicke auf sich ruhen sah. »Grouvy ist geräumt«, sagte sie übergangslos. »Ich habe mit Ters sprechen können. Er ist damit einverstanden, dich in meiner Obhut zu lassen.« Avat fragte nicht danach, welchen Preis sie ihm dafür bezahlt oder
versprochen hatte. »Du kennst die Bedingung, Elyt. Du wirst als mein Gefährte bei mir bleiben, solange ich es will.« Sie sprach offen. Sie hatte es niemals nötig gehabt, um die Dinge herumzureden. »Ich weiß«, sagte er. Sie lächelte, stieß sich von der Tür ab und kam auf ihn zu. Avat zuckte mit keiner Wimper, als ihre Hände seine Brust berührten, daran hochglitten und sich ihm um den Hals schlangen. »Küß mich!« flüsterte sie. Er tat es. Diesen Kuß sollte sie in Erinnerung behalten* so lange sie lebte. »Und jetzt«, sagte sie, als sie sich von ihm löste, »zieh dich aus, Elyt.« Er nickte, trat einen Schritt zurück und öffnete wortlos das hochgeschlossene Hemd. Mit einem Ruck riß er es über der Brust auf. Sedera schrie erstickt. Sie riß den Mund auf. Die Augen drohten ihr aus den Höhlen zu treten, als sie Schritt für Schritt zurückwich. »Das … ist nicht wahr!« brachte sie heiser hervor. »Sag, daß es nicht wahr ist! Du willst mich … quälen!« Elyt Avat sah hinab auf seine schwarze Brust, die schorfige Schuppenhaut, das zerrissene Hemd. Und dann sagte er die Worte, die er noch vor Stunden nicht einmal zu denken wagte! »Es ist wahr. Ich bin ein Monster.« Sedera sank in die Knie, schlug die Hände vor die Augen und fiel seitwärts auf den Boden. Fast hatte er in diesem Moment Mitleid mit der Ahlnatin, die zweifellos einen schweren Schock erlitten hatte. »Deine Sehnsüchte galten einem Monster, Sedera!« schrie Avat. »Einem Monster! Monster!« Er schrie es immer wieder, bis er keine Luft mehr hatte. Und mit jedemmal fiel etwas von der Last von ihm ab, die er so lange getragen hatte. Sedera bäumte sich auf und krümmte sich.
»Nein!« wimmerte sie. Er ließ sie liegen, trat an ihr vorbei und verließ ihr Quartier. Schnell zog er das Hemd wieder über der Brust zusammen und hielt es mit einer Hand zu. Der vor ihm liegende Gang war leer. Er begann zu rennen, blieb an Abzweigungen stehen und lief weiter, wenn er sich davon überzeugt hatte, daß niemand ihn sehen konnte. Seine lange Flucht begann. Er wußte, was ihm bevorstand. Er würde von nun an Freiwild sein, ein Ausgestoßener, ein Paria. Jeder durfte ihn jagen und töten. Sein Leben galt nichts mehr. Doch für ihn begann es erst. Sollten sie ihn jagen, die Brüder der verschiedenen Wertigkeiten und die einfachen Solaner. Er würde sich Verstecke suchen und immer wieder von neuem davonlaufen müssen. Doch das war jetzt zweitrangig geworden. Viel wichtiger war, daß er nicht mehr vor sich selbst davonlief. Elyt Avat konnte sich endlich zu dem bekennen, was er war. Das erfüllte ihn mit Stolz. Das gab ihm die Kraft, die er brauchen würde, um in der SOL zu überleben. Das ließ ihn vorübergehend vergessen, was ihn erwartete. Die Zeit des Versteckspiels war vorüber – die Zeit des Versteckens begann. Das galt auch wieder für einen anderen Mann an Bord der SOL. 10. Atlan wußte im gleichen Moment, in dem er den Namen rief, daß er sich täuschen mußte. Immer noch wirkte ein Buhrlo wie der andere auf ihn, vor allem im hier herrschenden Halbdunkel. Wo die Lichtkegel der Lampen sie trafen, glänzte die Glashaut der Weltraummenschen rötlich. Sie strahlten sich gegenseitig an, wohl
um dem Arkoniden zu zeigen, daß sie in Freundschaft kamen. »Ihr gehört zu Avats Gruppe«, sagte Atlan. »Ich habe euch einmal kurz gesehen.« »Dafür haben wir dich genau beobachtet, Atlan«, sagte der Sprecher der drei. »Dann habt ihr die ganze Zeit über gewußt, wer ich bin?« »Unsere Brüder und Schwestern, die wir im Weltraum trafen, berichteten von dir. Anfangs waren wir nicht völlig sicher, weil du dein Aussehen verändert hast.« Atlan lächelte dankbar. Er spürte die stille Zuneigung, die ihm die Buhrlos entgegenbrachten. Es war makabere Ironie;, daß ausgerechnet sie seine einzigen Verbündeten waren. Er durfte sich jetzt nicht schon wieder mit Sentimentalitäten aufhalten. »Ich muß fort von hier«, sagte er. »Wißt ihr wirklich einen Weg?« »Das sagten wir doch. Darum sind wir hier.« Der Buhrlo drückte Atlan die Taschenlampe in die Hand und gab seinen beiden Artgenossen ein Zeichen. Sie suchten etwas auf dem Boden. Atlan leuchtete ihnen, bis ihre Hände über das Metall fuhren, als würden sie damit feine Linien nachziehen. Dann hoben sie eine quadratische, ein mal ein Meter große Platte ab und legten sie vorsichtig neben die entstandene Öffnung. Einer von ihnen leuchtete in einen Schacht. Atlan trat vorsichtig heran und sah die Sprossen einer Leiter. »Dort müssen wir hinunterklettern«, hörte er. »Ich gehe als erster. Du folgst mir.« »Und deine beiden Brüder?« »Sie müssen die Abdeckplatte wieder an die alte Stelle legen und unsere Spuren verwischen. Sie kennen einen zweiten Weg hier heraus.« »Ich will nicht, daß ihr wegen mir in Schwierigkeiten geratet«, wollte Atlan abwehren. Der Buhrlo lächelte und ließ sich mit den Beinen in den Schacht gleiten.
»Mach dir keine Sorgen um uns, Atlan. Wir haben viele Freunde.« Atlan zögerte nicht länger. Er folgte dem Buhrlo. Als er mit den Füßen auf den Sprossen stand und nur noch sein Kopf aus der Öffnung herausschaute, reichte, er einem der beiden zurückbleibenden Weltraum menschen den Paralysator. »Vielleicht braucht ihr ihn. Ich habe eine Waffe. Und – danke!« »Es kommt der Tag, an dem wir uns bei dir bedanken müssen«, erwiderte der Buhrlo lächelnd. »Wenn du dich jetzt beeilst.« Atlan verstand den Wink. Schnell kletterte er nach unten, wo sein Führer schon ungeduldig auf ihn wartete. Über ihren Köpfen wurde die Platte an ihren Platz zurückgeschoben. »Sind sie auch wirklich sicher?« fragte der Arkonide. »Aber ja doch! Im Gegensatz zu uns, wenn du noch länger zögerst.« »Wie heißt du?« »Ganhan Pog.« Der Gläserne drehte sich um, packte Atlan am Arm und zog ihn mit sich. Er leuchtete glatte, dunkle Wände ab, als suchte er nach Markierungen. Atlan versuchte vergeblich, sich daran zu erinnern, wo sie sich befinden könnten. Es roch nach verschmortem Plastik. Von irgendwoher waren Pumpengeräusche zu hören. Die Richtung ließ sich nicht exakt bestimmen, dazu war der Gang zu eng. Die Geräusche wurden stark verfremdet. Es war heiß. Atlan öffnete sein Hemd, als er zu schwitzen begann. Der erbeutete Strahler fiel polternd zu Boden. Er bückte sich und hob ihn auf. Schon blickte Pog ihn wieder tadelnd an, als von oben Schritte zu hören waren. »Das ist nicht direkt über uns«, sagte der Buhrlo. »Das Metall leitet den Schall. Aber das weißt du ja. Die Haematen haben jetzt die Verbindung zwischen Centerhaven und Patomas Land gefunden.« Atlan lauschte. Er hörte nur die Schritte, keine Worte oder Schreie, keine Schüsse.
Er konnte nicht wissen, daß die Haematen, die in den Gang zwischen den beiden Schleusen eingedrungen waren, Minuten später Arnos Ters die Meldung machen würden: »Keine Spur von dem Fremden!« »Komm!« Er folgte dem Buhrlo durch kleine, runde und flache Verteilerstellen, in denen Röhren und Leitungen zusammenliefen und in kegelförmigen Konstruktionen verschwanden, kletterte durch weitere Schächte und mußte ein Stück auf allen vieren kriechen, als es durch ein langes, teilweise noch feuchtes Rohr ging. Dahinter befand sich abermals ein runder Raum, ein stählerner Kessel ohne jegliche Einrichtung. Pog bedeutete Atlan, sich zu setzen. »Hier müssen wir warten«, verkündete er. »Sie werden uns holen« »Wer?« Ganhan Pog lächelte verschmitzt. »Die beiden, um die du dich so sorgtest – Keiter und Bohth.« Atlans Bewunderung für die Weltraummenschen wuchs noch. Offenbar waren sie noch besser organisiert, als er bisher angenommen hatte. Vielleicht nicht in allen Teilen der SOL – aber hier hatten sie aus der Not eine Tugend gemacht und nichts dem Zufall überlassen. »Wir wußten, daß Centerhaven nicht mehr lange bestehen würde«, erklärte der Buhrlo, als könnte er Gedanken lesen. »Wir sahen uns früh genug nach einem Fluchtweg um.« »Wo sind wir hier?« wollte Atlan wissen. »Wir werden auf dem 16. Deck herauskommen. Dort gibt es eine Gruppe von uns. Du kannst bei uns bleiben, wenn du möchtest.« Atlan bezweifelte nicht, daß die Weltraummenschen ihn aufnehmen würden und auch für eine gewisse Zeit verstecken konnten. Aber er schüttelte den Kopf. »Danke für dein Angebot, Ganhan. Aber ich muß weiter.« »Ich dachte es mir.«
»Man wird euch suchen, Ganhan. Ters wird eure Namen bald wissen.« »Sollen sie. Sie finden uns nicht.« »Und Centerhaven? Ich meine – die Gruppe bedeutete euch gar nichts?« Im nächsten Moment glaubte er, etwas Falsches gesagt zu haben. Der Buhrlo senkte den Kopf und zuckte die Schultern. »Wir gehörten ihr niemals wirklich an. Wir kamen und wir gingen, Atlan. Wir erzählten den Solanern vom Weltraum, und sie konnten nicht genug davon hören. Dabei … haben sie Angst, den Fuß auf einen Planeten zu setzen.« »Wie ihr.« »Vielleicht. Wir stehen erst am Anfang.« Was sollte der Arkonide darauf sagen? Daß er die Weltraummenschen für einen zum Absterben verurteilten Nebenast der menschlichen Evolution hielt? Ganhan Pog gehörte vielleicht zu einer Gruppe, die mit Hoffnung in die Zukunft sah. Vielleicht wollte er auch nur nicht wahrhaben, was er dumpf ahnte. Atlan sehnte Keiter und Bohth herbei, um nicht zu Antworten gezwungen zu werden, die er nicht geben konnte und wollte. Doch noch blieb alles still. Und Pog fragte: »Atlan, eine meiner Schwestern sympathisiert mit den Terra‐ Idealisten. Ist es wahr, daß es auf der Erde keinen Haß auf Andersartige gab? Daß niemand leiden mußte, nur weil er anders aussah oder lebte?« »Es war nicht immer so«, sagte der Arkonide ausweichend. »Aber so schlimm wie auf der SOL kann es auf Terra doch niemals gewesen sein!« Schlimmer, mein Freund, viel schlimmer. »Ist es wahr, daß Perry Rhodan die Menschen einte?« »Ja.« Ganhan Pog sprang auf. »Warum kommt er dann jetzt nicht zurück auf die SOL? Warum
tut er es nicht noch einmal?« Atlan schluckte. Wann kamen die beiden anderen? »Warum nicht, Atlan?« »Weil … weil er mich schickte!« Auch Atlan sprang auf. Sollte er diesem Mann die Hoffnung nehmen, indem er sagte, daß er nicht wußte, was aus Rhodan geworden war? Daß Rhodan alles mögliche im Auftrag der Kosmokraten tun konnte, aber bestimmt nicht die SOL suchen? Pogs Schultern sanken herab. Er nickte. »Verzeih«, flüsterte der Buhrlo. »Ich … habe dich verletzt.« »Nicht deine Schuld«, murmelte der Arkonide. Doch eine alte Wunde war neu aufgerissen. Plötzlich waren Klopfzeichen zu hören. Pog legte eine Hand auf Atlans Arm und lauschte. Schließlich straffte sich seine Gestalt. »Sie sind es«, sagte er. »Komm.« Kurz darauf standen sie in einem töten Gang. Keiter und Bohth blickten Pog fragen an, und dieser schüttelte den Kopf. »Er wird nicht mit uns kommen.« Dann streckte er Atlan die Hand entgegen. Der Arkonide ergriff sie und drückte sie fest. »Alles Glück, Atlan«, sagte Ganhan Pog. »Nimm dich gut in acht. Sämtliche Vystiden und Haematen in diesem Teil der SOL sind in Alarmbereitschaft.« »Ich werdʹs versuchen«, versicherte er lächelend. »Viel Glück auch euch.« Er gab auch Keiter und Bohth die Hand, blickte sie dankbar an und nickte ihnen ein letztesmal zu. Sie blieben zurück, bis er ihren Blicken entschwunden war. Dann gab Pog den Brüdern ein Zeichen. Atlan aber irrte wieder durch die Gänge der SOL, auf der Suche nach Menschen, nach etwas, das ihn seinem fernen Ziel näherbrachte. Fern! dachte er bitter. Keine drei Kilometer von hier!
Er schaltete den IV‐Schirm aus und überzeugte sich davon, daß der leichte Thermostrahler fest im Hosenbund steckte. Noch klammerte er sich an die Hoffnung, doch noch Kontakt zu SENECA aufnehmen zu können oder die Schläfer zu finden. Aber nun begann ein neuer, aus Erfolglosigkeit geborener Plan in seinen Gedanken eine immer größere Rolle zu spielen: Sich einfach zu stellen und zu verlangen, den High Sideryt oder einen Magniden sprechen zu dürfen. Und das nicht als Gefangener. ENDE Atlans Abenteuer werden im übernächsten Band weiter fortgeführt. Im Roman der nächsten Woche geht es um die bislang unbekannte Historie der SOL. H. G. Winter schreibt den ersten Bericht aus dem Logbuch der SOL. Dieser Bericht aus dem Jahr 3590 erscheint unter dem Titel: DER KATZER