Mathias Brodkorb
Metamorphosen von Rechts Eine Einführung in Strategie und Ideologie des modernen Rechtsextremismus
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Mathias Brodkorb
Metamorphosen von Rechts Eine Einführung in Strategie und Ideologie des modernen Rechtsextremismus
WESTFÄLISCHES DAMPFBOOT
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
1. Auflage Münster 2003 © 2003 Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster Alle Rechte vorbehalten Umschlag: Lütke • Fahle • Seifert, Münster Satz: Mathias Brodkorb Fotos: Thomas Schmidt Druck: Altstadt-Druck Rostock ISBN 3-89691-595-9
Nach einer kurzen Definition von „Rechtsextremismus“ und der Vorstellung der deutschen rechten Parteien wendet sich der Autor einer ausführlichen Untersuchung von Ideologie und Handlungsstrategien der NPD zu. Großen Raum nimmt auch die Darstellung des Verbotsantrages samt den verfassungsschutzrechtlichen Begleitumständen ein. Brodkorb sieht einen Wandel der NPD von der nationalsozialistischen Nachfolgepartei hin zu einem modernisierten Rechtsextremismus, die neurechte Begriffe wie „Ethnopluralismus“ aufnimmt. Der Wandel, so Brodkorb, wird derzeit in der Forschung und im Umgang mit der NPD noch kaum umgesetzt. Mathias Brodkorb, geb. 1977, Studium der Philosophie und des Altgriechischen an der Universität Rostock, Abgeordneter im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern für die SPD-Fraktion; Veröffentlichungen auf den Gebieten: Politische Theorie, Dritter Weg, Marxismus, Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarktpolitik, Rechtsextremismus, Rassismus, Nationalismus, Philosophie.
Vorwort
Bücher sind nie die Produkte nur einzelner Menschen. Es ist daher eine schöne Tradition, zu Beginn eines Buches all jenen zu danken, die an seinem Entstehen beteiligt waren. Zunächst danke ich den christlichen Kirchen und den Gewerkschaften, denn wir neigen allzu oft dazu, das gering zu schätzen, was wir haben. Ohne ihren beharrlichen Widerstand gegen den Terror des Profits würden wir heute vielleicht nicht nur über den verkaufsoffenen Sonntag, sondern wohl möglich auch über die Abschaffung solcher Feiertage wie Weihnachten diskutieren. Ohne diese Feiertage hätte ich allerdings niemals die Zeit gefunden, vorliegendes Buch zu schreiben. Sodann danke ich all jenen, die mich beim Schreiben dieses Buches inspiriert haben. Hierzu zählen nicht nur die vielen Autorinnen, die dem Literaturverzeichnis zu entnehmen sind, sondern vor allem Prof. Dr. Wolfgang Bernard (Lübeck). Für rechtswissenschaftliche Ratschläge danke ich Prof. Dr. Bodo Wiegand-Hoffmeister (Bad Doberan), Erwin Sellering (Justizminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern), Dr. Jost Mediger (Staatssekretär des Finanzministeriums Mecklenburg-Vorpommern) und Prof. Dr. Axel Azzola (Berlin), der mit entscheidenden Passagen dieses Buches nicht zufrieden sein wird. Schließlich danke ich Erik Gurgsdies, dem Leiter der FES Mecklenburg-Vorpommern, der unbürokratisch die Abdruckgenehmigung für Teile dieses Buches erteilt hat∗ , ∗
Teile dieses Buches basieren auf folgender regionalen Rechtsextremismusstudie: Brodkorb, Mathias/Schmidt, Thomas (2002):
Hans-Günter Thien, dem Leiter des Verlages Westfälisches Dampfboot, für die Veröffentlichung des Buches sowie Thomas Schmidt für die Bereitstellung von Fotos aus der rechten Szene. Der größte Dank gilt allerdings meiner Lebensgefährtin Conny Proske, ohne deren Geduld und Unterstützung dieses Buch nicht möglich gewesen wäre. Ich weiß, dass ich die auf mich geladene Schuld nicht werde abtragen können. Rostock im Jahreswechsel 2002/2003
Gibt es einen modernen Rechtsextremismus? Das Fallbeispiel Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin (http://www.fes.de/schwerin)
Einleitung
Dieses Buch wird vermutlich Kritik von zwei Seiten auf sich ziehen: von Seiten der Praktiker und der Theoretiker. Sollte es zu dieser Kritik nicht kommen, hätte das Buch im Grunde seinen Sinn verfehlt. Denn seine innere Logik basiert geradezu auf der Existenz dieser Kritiken und der mit ihnen verbundenen Theorien. Es ist also nicht nur ein Buch über neuere Entwicklungen eines Teils der rechten Szene, sondern ebenso ein Buch über den (Un)Zustand bedeutender Teile der deutschen Rechtsextremismusforschung, der Bildungseinrichtungen und der politischen Öffentlichkeit. Die Praktiker werden dem Text wahrscheinlich vorwerfen, dass er zu wenig differenziert sei und zum Beleg zahlreiche Gegenbeispiele aus der Praxis vorlegen – z. B. dass die Rechtsextremisten zum Teil ganz anders denken und handeln als hier beschrieben. Es kommt allerdings bei der Beurteilung solcher Kritik entscheidend darauf an, was dieser Text leisten will: Hier wird nicht versucht, auf engstem Raum jedwede Einzelheit über die deutsche rechtsextreme Szene anzuführen. Dies hätte übrigens auch mit Wissenschaft nicht mehr viel zu tun, sondern würde sich in einer bloßen Aneinanderreihung unsystematisch aufeinander bezogener empirischer Fakten, in bloßer Stoffhuberei (Weber 1988a: 214) erschöpfen. Wer also politische, philosophische und soziologische Thesen über bestimmte Tendenzen in Teilen der deutschen rechtsextremen Szene aufstellt, muss sogar im Gegenteil vorab mit bestimmten Ausnahmephänomenen rechnen. Dieser Mangel an Präzision hat allerdings nicht in erster Linie etwas mit der Unfähigkeit
des Analysten, sondern vielmehr mit der mangelnden Eindeutigkeit und Konstanz des zu analysierenden Gegenstandes zu tun: „Es wird ja wohl für hinreichend gehalten, wenn etwas in Klarheit auseinandergesetzt worden ist, soweit es die zugrunde liegende Materie zulässt. Denn die Genauigkeit darf man nicht in gleichem Maße bei allen Gegenständen suchen […].“ (Aristoteles, NE 1094bll-13) Die Theoretiker hingegen werden dem Autor des Textes wahrscheinlich vorwerfen, dass er den Rechtsextremisten auf den Leim gegangen sei und nicht bemerkt habe, dass sie bestimmte inhaltliche Verschiebungen ausschließlich aus taktischen Gründen vollzogen hätten. So ist es zwar – so wird man vielleicht sagen – gar nicht so falsch, dass der eine oder andere Rechtsextremist nicht mehr so platt argumentiert wie einst die Nationalsozialisten um HITLER. Aber daraus lasse sich noch lange nicht schließen, dass diese andere Auffassung auch wirklich ernst gemeint sei. In Wirklichkeit, und das könne man ja schließlich auch an Beispielen wie dem Antisemitismus Horst MAHLERS belegen, sei dies noch die alte, hitleristische Ideologie. Nun, eine solche Argumentation ist äußerst voraussetzungsreich: 1. müsste, wer so „verschwörungstheoretisch“ argumentiert, Beweise für die Hypothese liefern, dass bestimmte Rechtsextremisten allein aus taktischen Gründen in der Öffentlichkeit anders argumentieren als sie in Wirklichkeit denken. Solche Belege hat, soweit ich weiß, bisher allerdings niemand vorgelegt. 2. müsste außerdem plausibilisiert werden, wie es möglich sein soll, dass politisch orientierte Gruppierungen der rechten Szene seit mehr als 50 Jahren jedwede gesellschaftliche Entwicklung an sich völlig spurlos vorbeigehen lassen können. Denn behauptet würde ja nicht weniger als dass trotz wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung nach
dem Zweiten Weltkrieg die Rechtsextremisten ideologisch völlig stehen geblieben sind. Man muss kein Historizist sein, um zu der Einsicht zu gelangen, dass Parteien politische Akteure sind, die in konkreten historischen Situationen operieren. Sie müssen sich folglich auf die gesellschaftlichen Debatten einlassen, sich in sie einklinken, um sich nicht völlig am Zeitgeist vorbei zu bewegen und sich dadurch die Möglichkeit des politischen Erfolges a priori zu verbauen. Es ist daher mehr als unwahrscheinlich, dass sich rechtsextreme Ideologien völlig unberührt von der gesellschaftlichen Entwicklung konservieren lassen und stets dieselben bleiben. Auch bei rechtsextremistischen Ideologien muss daher strikt zwischen den wesentlichen und den zeitgeistbedingten Bestandteilen unterschieden werden. Die einzige Möglichkeit, diesem Anspruch zu genügen, besteht in einer Historisierung der Rechtsextremismusforschung. Ohne eine konzise historische Analyse der jeweiligen Rechtsextremismen sowie ihres gesellschaftlichen Rahmens können wesentliche von bloß historischen Bestandteilen einer Ideologie nicht unterschieden werden. Dieses Plädoyer darf allerdings nicht mit einer historizistischen Position verwechselt werden, die notwendig mit einem Wahrheitsrelativismus einhergeht. Ich plädiere nicht dafür, alle Fakten in einer historischen Analyse aufgehen zu lassen, sondern dafür, zwischen zeitgeistbedingten und beharrlichen Bestandteilen in den Ideologien zu unterschieden: „Man kann der Kontextabhängigkeit des menschlichen Problemlösungsverhaltens Rechnung tragen, ohne einem Kontextualismus zu verfallen, der relativistische Konsequenzen hat.“ (Albert 1998: 28) Vorliegende Untersuchung lässt sich daher von zwei keinesfalls selbstverständlichen Grundüberzeugungen leiten:
Die erste Grundüberzeugung lautet: Wer den Rechtsextremismus verstehen will, muss ihn von innen heraus analysieren. Wir dürfen uns bei der Analyse also nicht von unseren Vorannahmen oder dem gesellschaftlichen Diskurs über die rechte Szene leiten lassen, sondern müssen stets prüfen, ob unsere Annahmen auch tatsächlich dem Selbstverständnis der rechten Szene entsprechen. Nicht selten wird man in Studien über Rechtsextremismus fast ausschließlich Bezugnahmen auf Sekundärliteratur finden und kaum auf authentische Quellen. Nur wenige Rechtsextremismusforscher machen sich die Mühe, ihre Theorien aus einer direkten Analyse der rechten Szene zu gewinnen oder sie anschließend wenigstens an ihr zu überprüfen – und zugegebenermaßen ist es kein großes Vergnügen, rechtsextremistische Autoren in großen Mengen zu lesen. Wer aber ein intimes und überzeugendes Bild der rechten Szene ermitteln will, kann dies nicht bewältigen, ohne ihre Zeitschriften, Sammelbände, Flugblätter, Parteiprogramme sowie Internetseiten ausführlich zu studieren und in die Analysen einzubeziehen. Deshalb werden hier häufig rechtsextremistische Publikationen als Beleg zitiert. Zur besseren Orientierung für den Leser bzw. die Leserin habe ich mich dazu entschlossen, die Nachnamen von Personen des rechten Spektrums grundsätzlich mit GROSSBUCHSTABEN ZU kennzeichnen. So kann man leicht unterscheiden, ob man es bei Zitaten jeweils mit Fremd- oder Eigencharakterisierungen der rechten Szene zu tun hat. Rechtschreibfehler oder alte Schreibweisen in Zitaten wurden nicht korrigiert. Außerdem fehlen bei Zitatnachweisen regelmäßig Seitenzahlen. Dies liegt u. a. daran, dass zahlreiche Dokumente der rechten Szene nur in digitaler Form im Internet vorliegen. Die entsprechenden Internetadressen werden im Literaturverzeichnis ausgewiesen.
Die zweite Grundüberzeugung lautet: Rechtsextremismus ist ein allgemeines Phänomen, das zu unterschiedlichen Zeiten verschieden ausgeprägt ist. Man darf also nicht den Fehler begehen, eine historische Einzelgestalt des Rechtsextremismus als den Rechtsextremismus schlechthin auszugeben. Grundlegend für die deutsche Rechtsextremismusforschung und noch mehr für das öffentliche Bewusstsein ist aber gerade die Gleichsetzung des allgemeinen Phänomens Rechtsextremismus mit dem historischen Nationalsozialismus, was offenbar durch die besondere Vergangenheit Deutschlands bedingt ist. Nur selten wird die Frage gestellt, ob mit der Analyse einer vor mehr als 50 Jahren konzipierten Variante rechtsextremistischen Gedankengutes die heutigen Phänomene überhaupt noch angemessen erfasst werden können. Eine der
Hauptthesen der vorliegenden Arbeit besteht deshalb in der Behauptung, dass die Kenntnis des Nationalsozialismus zwar notwendig ist, um die modernen Erscheinungsformen des Rechtsextremismus zu verstehen, dies aber nicht ausreicht. Vielmehr ergibt sich ein angemessenes Verständnis des modernen Rechtsextremismus erst dadurch, dass man seine zum Teil erheblichen Differenzen zum historischen Vorbild des Nationalsozialismus herausarbeitet. Der Nationalsozialismus kann daher „nur“ als historische Folie dienen, vor deren Hintergrund die tatsächlichen Veränderungen sichtbar werden. Demgemäß wird in diesem Buch bei rechtsextremistischen Ideologien zwischen Kern und Hülle unterschieden. Der Kern einer jeden rechtsextremistischen Ideologie stellt eine gewisse Form von Rassismus dar. Er ist sozusagen die Philosophie des Rechtsextremismus und das, was den Rechtsextremismus zum Rechtsextremismus macht. In den Bereich der Hülle hingegen fallen Ideologiebestandteile, die unmittelbar den Bereich der Politik und damit die Operationalisierbarkeit der Philosophie des Rechtsextremismus betreffen. Da die Gesellschaft allerdings zu unterschiedlichen Zeiten völlig verschiedene Anforderungen an die Politik stellt, einfach deshalb, weil sich die Probleme gerade in dynamischen Industriegesellschaften beständig wandeln, muss sich auch jede einigermaßen ernstzunehmende rechtsextremistische Ideologie auf der Ebene der Politik beständig umwandeln und neue Antworten auf neu entstandene Fragestellungen bereitstellen. Die ausdrücklich politischen Bestandteile der Ideologie sind gegenüber den Anforderungen der Gesellschaft porös und stellen die Anwendung des rassistischen, weitgehend beständigen Kerns auf die historisch konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse dar.
Um dies an einem historischen Beispiel zu erläutern: Nach dem Ersten Weltkrieg sahen viele Deutsche den Versailler Vertrag und die mit ihm in Verbindung stehenden Gebietsabtretungen als ungerechte „Schmach“ an. Folglich verlangten viele nach Revision der gezogenen Grenzen. Dies stellt sozusagen eine der gesellschaftlichen Problemlagen bzw. Anforderungen der Gesellschaft gegenüber der Politik in der deutschen Zwischenkriegsgesellschaft dar. Die Nationalsozialisten, die diese Einschätzung teilten, vertraten auf Grundlage einer Kombination von biologischem Rassismus und Sozialdarwinismus (Kern bzw. Philosophie des Nationalsozialismus) daraufhin die Strategie des Imperialismus (Politik bzw. Hülle des Nationalsozialismus im Bereich der Außenpolitik): Da die arische anderen Rassen überlegen sei, hätte sie das Recht, die Gebiete minderwertiger Rassen zu erobern und sie notfalls zu liquidieren. Dieses Beispiel zeigt, dass der Imperialismus als außenpolitische Strategie deutlich abhängig von einem historisch konkreten Kontext und keinesfalls die zwingende außenpolitische Strategie für eine jede Form von Rechtsextremismus ist. Im Laufe des Buches wird daher zu zeigen sein, dass die Schwierigkeiten der deutschen Rechtsextremismusforschung sowie Öffentlichkeit bei der Analyse des modernen Rechtsextremismus aus der Tatsache resultieren, dass der Unterschied zwischen substanziellem Kern und zeitgeistbedingter Hülle rechtsextremistischer Ideologien nicht gemacht wird.
In der vorliegenden Analyse geht es daher mehr um die Brüche, die historischen Veränderungen als um die Kontinuitäten. Es erscheint mir politisch wichtiger, die Veränderungen gegenüber den Kontinuitäten zu betonen, da
wir als Gesellschaft mit letzteren weit besser vertraut sind. Im Mittelpunkt dieser Untersuchungen steht dabei die NPD: Sie hat sich in den letzten Jahren als der dynamischste und „revolutionärste“ Teil des modernen Rechtsextremismus erwiesen. Von einem angemessenen Verständnis ihrer Aktivitäten, Strategien und programmatischen Grundsätze hängt daher meines Erachtens ein angemessenes Verständnis der rechten Szene überhaupt ab.
1. Kapitel
Was heißt „Rechtsextremismus“? Zu Beginn einer Untersuchung scheint es geboten, sich Rechenschaft über die Begrifflichkeiten abzulegen, mit denen man arbeitet. Hierfür gilt wiederum, was bereits weiter oben ausgeführt worden ist: Der Analysegegenstand der Rechtsextremismusforschung ist von so vielen schillernden Bedingungen abhängig, dass wohl kaum jemand rasiermesserscharfe Begriffe wird formulieren können. Allerdings darf dies auch nicht von der Verpflichtung entbinden, dennoch begründete Unterscheidungen einzuführen.
Zum Begriff des Extremismus In Deutschland hat es vor allem die so genannte Extremismusoder Totalitarismus-Forschung zu einer weiten Verbreitung gebracht. Demnach werden von der demokratischen Mitte zwei gleichermaßen extremistische Fraktionen abgegrenzt, das links- und das rechtsextremistische Lager. Der Unterschied zwischen extremistischen und nicht-extremistischen Politikmodellen besteht demnach in der Haltung gegenüber der so genannten „freiheitliche demokratische Grundordnung“ (BVerfG 2, 1), also dem Geist des Grundgesetzes. Verstanden werden hierunter meist bestimmte Einstellungen gegenüber dem Einsatz von Gewalt sowie demokratischen Verfahren. Bei einer solchen Charakterisierung ergibt sich das Problem, dass der amtliche Begriff des Extremismus in der Literatur damit
zumeist an formalen Kriterien, also an den verwendeten oder bevorzugten politischen Mitteln bzw. Handlungen festgemacht wird: „Er klammert die dem Verhalten zugrunde liegenden politischen Einstellungen aus. Das ist auch unabdingbar, da das Grundgesetz Meinungsfreiheit gewährleistet.“ (Stöss 2000a: 19) Der Extremismus-Begriff stellt die Legitimationsgrundlage für die Tätigkeit des Verfassungsschutzes dar, die sich hauptsächlich in der Beschaffung und Auswertung von Informationen erschöpft.
Neben dem Begriff des Extremismus wird auch der der Verfassungswidrigkeit gebraucht. Im Unterschied zum amtlichen Begriff des Extremismus stammt der Begriff der Verfassungswidrigkeit aus dem Verfassungsrecht. Er bezeichnet eine politische Gruppierung, die eine „aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung“ (BVerfG 5, 85) an den Tag legt und daher auf Antrag durch das Bundesverfassungsgericht verboten werden kann.
Vom Begriff des Extremismus muss der des Radikalismus unterschieden werden, was häufig weder in Politik noch Wissenschaft geschieht. Radikale haben zwar weitreichende Vorstellungen über die Umgestaltung der bestehenden Gesellschaft, bewegen sich bei der Wahl der Umgestaltungsmittel aber im Rahmen der bestehenden freiheitlich-demokratischen Grundordnung und sind damit nicht extremistisch, sondern Bestandteil des demokratischen Sektors.∗ So erklärt das Bundesamt für Verfassungsschutz selbst: „Über den Begriff des Extremismus besteht oft Unklarheit. Zu Unrecht wird er häufig mit Radikalismus gleichgesetzt. So sind z. B. Kapitalismuskritiker, die grundsätzliche Zweifel an der Struktur unserer Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung äußern und sie von Grund auf verändern wollen, noch keine Extremisten. Radikale politische Auffassungen haben in unserer pluralistischen Gesellschaftsordnung ihren legitimen Platz. Auch wer seine radikalen Zielvorstellungen realisieren will, muss nicht befürchten, dass er vom Verfassungsschutz beobachtet wird; jedenfalls nicht, solange er die Grundprinzipien unserer Verfassungsordnung anerkennt.“ (BfVS 1992: 18f) So können z. B. Sozialisierungen laut Artikel 15 Grundgesetz mit einfacher Mehrheit des Bundestages beschlossen werden. Gegen diese, insbesondere vom deutschen Verfassungsschutz favorisierte Extremismus-Theorie können folgende Einwände erhoben werden:
∗
Es gibt aber auch Autoren, die ohne ersichtlichen Grund die Begriffe genau umgekehrt verwenden: „Rechtsradikal wird […] Rechtsextremismus durch Übertretung des geltenden Rechts, vor allem in Form von Gewaltanwendung gegen politische Gegner und gegen die durch das Feindbild ausgegrenzten Menschen.“ (Eckerle 2001: 11)
1. Der Extremismus-Theorie wird häufig vorgeworfen, dass sie die „demokratische Mitte“ völlig unkritisch beleuchte und den Eindruck vermittle, als seien bedenkliche politische Meinungen nur ein Randproblem und gerade nicht ein unmittelbares Produkt der Mitte dieser Gesellschaft (Kühnl 1998). Allerdings ist diese Kritik nur stichhaltig, wenn das Extremismus-Modell als tatsächliche Beschreibung der bestehenden politischen Landkarte verstanden wird. Als Idealtypus politischer Theorien hingegen zieht es diese Kritik nicht auf sich (Stöss 2000a: 19). 2. Bedenklich hingegen ist die Aufassung, jemand würde erst aufgrund von tatsächlichen Handlungen zu einem Extremisten. Polemisch zugespitzt: Demnach wäre ein politisch inaktiver Adolf HITLER kein Rechtsextremist, da der „amtliche Extremismus-Begriff nur auf Handlungen bzw. Bestrebungen“ abzielt, „die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten.“ (Stöss 2000a: 19) 3. Hinzu kommt die Schwierigkeit, die Feindschaft gegenüber dem Grundgesetz bzw. der freiheitlich-demokratischen Grundordnung als formales und nicht als inhaltliches Problem anzusehen. Der Kern unserer Verfassung und damit auch der freiheitlich-demokratischen Grundordnung besteht ja gerade in einer bestimmteren Wertehaltung als bei der Verfassung der Weimarer Republik, ist also inhaltlicher und nicht formaler Natur. Auch alle demokratischen Regularien und Organe sind letztlich rückgebunden an die Grund- und Menschenrechte und damit an bestimmte inhaltliche Wertorientierungen. Mit anderen Worten: Es widerspricht dem Geist unserer Verfassung, zu behaupten, Meinungsfreiheit sei eine Sache der Pluralität, so lange diese Auffassung nicht auch in die Tat umgesetzt wird. Ob jemand ein Rechtsextremist ist oder nicht, kann daher nicht an formalen Kriterien entschieden werden. Die Ablehnung der freiheitlichdemokratischen Grundordnung
ist selbst ein inhaltliches Problem. Die Formulierung eines formalen Extremismus-Kriteriums stellt daher kein wissenschaftliches, sondern ein politisch-instrumentelles Kriterium dar, das sich auf die momentane Handlungsbereitschaft von politischen Gruppierungen bezieht. 4. Zwar ist die Extremismus- bzw. Totalitarismustheorie insofern berechtigt, als zwischen Rechts- und Linksextremisten bestimmte Berührungspunkte bestehen und diese durch dieses Modell betont werden, aber wir erfahren nichts darüber, was Links- und Rechtsextremismus eigentlich voneinander unterscheidet und ob sie – aus dem Blickwinkel des demokratischen Zentrums – wirklich zu Recht gleichgesetzt werden dürfen (Wippermann 1997:115f). Die Intention des Verfassungsschutzes ist ja auch nicht wissenschaftlich, sondern politisch: In den Vordergrund rücken Gruppierungen, die die Existenz des Rechtsstaates zu gefährden scheinen. Der Begriff des Extremismus droht daher beständig von dem der Verfassungswidrigkeit geschluckt zu werden.
Zwischen links und rechts Damit sind wir also auf ein zweites Problem verwiesen: Was eigentlich heißt es, „rechts“ zu sein? Und was heißt „links“? Das Extremismus-Modell umschifft mit der Konzentration auf scheinbar formale Fragen einen spannenden Punkt: Ist es angemessen, Links- und Rechtsextremismus einander gleichzusetzen und damit in gleicher Entfernung von der bürgerlichen Mitte zu verorten? Eine Antwort auf diese Frage versuchen gleichermaßen der deutsche Rechtsextremismusforscher Armin Pfahl-Traughber und der italienische politische Philosoph Norberto Bobbio zu geben. Nach ihrer Auffassung müssen Rechts- und
Linksextremismus einerseits durch ein formales und andererseits durch ein inhaltliches Kriterium voneinander unterschieden werden: „Die Definition von Rechtsextremismus setzt einerseits die Begriffsbestimmung von Extremismus allgemein und andererseits die Benennung seiner inhaltlichen Besonderheiten gegenüber anderen Extremismen voraus. Zunächst: Politischer Extremismus gilt als eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche antidemokratische Bestrebungen. […] Demokratie wird hier verstanden als Synonym für den modernen demokratischen Verfassungsstaat […].“ (Pfahl-Traughber 2001: 12) Ganz ebenso unterscheidet Norberto Bobbio den Extremismus und den Moderatismus, sofern man die Demokratie vor allem als eine politische Technik und insofern vor allem als formal ansieht, voneinander anhand des Kriteriums der „Antidemokratie“ (Bobbio 1994: 35).∗ Bobbio wirft nun zu Recht die Frage auf, wie sich eine weitgehende Identifizierung von Rechts- und Linksextremisten aus dem Blickwinkel der demokratischen Mitte rechtfertigen lässt, wo sich doch die beiden extremistischen Lager gerade zutiefst verfeindet gegenüber stehen: „Trotz aller gemeinsamen Merkmale […] stellen Faschismus und Kommunismus in der Geschichte unseres Jahrhunderts die große Antithese zwischen ∗
Sowohl bei Pfahl-Traughber als auch bei Bobbio gibt es hier allerdings eine gewisse Ambivalenz, da beide Demokratie letztlich als ein „Ganzes von Werten und Methode“ (Bobbio 1994: 40; ähnlich Pfahl-Traughber 2001: 12) betrachten. Dennoch scheint der Aspekt des Formalen zu dominieren, formuliert Pfahl-Traughber doch ausdrücklich: „Zur inhaltlichen Unterscheidung der verschiedenen ideologischen Varianten bei der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates haben sich die Begriffe Links- und Rechtsextremismus eingebürgert, die ebenfalls Sammelbezeichnungen bilden. Für ihre weitere Differenzierung bedarf es nicht einer formalen, sondern einer inhaltlichen Komponente.“ (PfahlTraughber 2001: 13)
rechts und links dar. Wie kommt es dazu? […] Die einzige Erklärung ist, meines Erachtens, die: das Kriterium, nach dem man eine Rechte von einer Linken unterscheidet, entspricht nicht dem, auf Grund dessen man innerhalb der rechten und linken Lager den extremistischen Flügel vom gemäßigten Flügel unterscheidet. Denn immerhin schließen sich in der politischen Praxis Faschismus und Kommunismus aus, trotz des gemeinsamen Feindes, der Demokratie mit ihren Regeln, die es der Rechten und der Linken erlauben, zu alternieren.“ (ebd.: 41)
Sowohl Bobbio als auch Pfahl-Traughber erblicken nun in der Behandlung des Problems der Gleichheit das inhaltliche Kriterium für die Unterscheidung zwischen rechts und links: „Hinsichtlich der extremistischen Einstellungen zum Ethos
menschlicher Fundamentalgleichheit gilt […]: Während die politisch linke Variante diese bejaht, aber im antidemokratischen Sinne ideologisch integriert, lehnt die rechte Variante diesen Gleichheitsgrundsatz zugunsten ihres antiegalitären Differenzprinzips ab.“ (Pfahl-Traughber 2001: 13f; siehe auch Bobbio 1994: 18) Tatsächlich scheint hiermit etwas Richtiges getroffen, da auch Autoren, die sich selbst der politischen Rechten zuordnen, im Gleichheitsproblem die Gretchenfrage zwischen links und rechts erblicken. So charakterisiert der Redakteur der NPD-Zeitung „Deutsche Stimme“, Jürgen SCHWAB, die Theorien von Arnold GEHLEN und Jürgen Habermas folgendermaßen: „Was sich in dem Streit Gehlen-Habermas idealtypisch abzeichnete, war die Hauptkonfliktlinie, die seither zwischen ,rechts’ und ‚links’ verläuft: hier die Behauptung von unveränderlichen anthropologischen Gegebenheiten, die Annahme einer fundamentalen Ungleichheit der Individuen, die Betonung der Schwäche des einzelnen und der Notwendigkeit seiner Einbindung, dort die Vorstellung von einer fast unbegrenzten Wandelbarkeit des Menschen, Vertrauen in seine Perfektibilität, Unterstützung aller Egalitätsund Emanzipationsforderungen.“ (SCHWAB 1999: 228) Dabei besteht sowohl auf Seiten der Rechten als auch bei großen Teilen der politischen Linken ein tiefgreifendes Missverständnis darüber, was das Gleichheitspostulat eigentlich beinhaltet. Vor allem die politische Rechte versucht mit großem argumentativen Aufwand ein ganz bestimmtes Missverständnis zu erzeugen. Die politische Linke strebe demnach nicht nur nach Gleichheit, sondern völliger Gleichmacherei (Egalitarismus), während die politische Rechte die natürliche Ungleichheit der Menschen akzeptiere: „Der auf Gleichheit gerichtete Humanitarismus verschlingt die Einzelpersönlichkeit – oder das Einzelvolk –, um es in dem
anonymen Individuum – oder der Masse – aufgehen zu lassen, es ist dies ein Humanitarismus der Gleichmacherei und daher der Entfremdung, letztlich der Entwertung; ein Humanitarismus, der vermengt und dabei zersetzt, der entwurzelt und daher zerstört. Ein Humanitarismus der Auflösung.“ (KREBS 1982: 27) Tatsächlich ist nichts falscher als das: Das von der intellektuell ernstzunehmenden politischen Linken vertretene Gleichheitspostulat ist eines der Gleichheit der Rechte und Chancen, nicht eines der Gleichmacherei. Nicht alle Menschen sollen die gleiche Nahrung zu sich nehmen, die gleiche Kleidung tragen, die gleiche Ausbildung erhalten etc. sondern alle Menschen sollen als Menschen gleichermaßen die Chance erhalten, ihre individuellen Fähigkeiten zu entwickeln. Präzise gesprochen kann das politische Projekt der Linken daher sowohl als Projekt der Gleichheit als auch der Ungleichheit interpretiert werden – je nachdem, auf welchen Aspekt man seine Aufmerksamkeit lenkt. In einem anthropologischmetaphysischen Sinn vertritt die Linke eine Theorie der Gleichheit,∗ im politisch-gesellschaftlichen Sinn allerdings eine Theorie der Ungleichheit, da es gerade nicht darum geht, dass alle dasselbe tun, sind und denken, sondern ihre ∗
Es ist so betrachtet geradezu paradox und ein schwerer theoretischer Mangel, dass die politische Linke auf eine eigene Anthropologie verzichtet und sie allein durch die Gesellschaftsanalyse ersetzen will. Gerade wenn sie auf anthropologisch-metaphysischer Ebene eine Theorie der Gleichheit vertritt, also eine Position, die allen Menschen prinzipiell aufgrund einer identischen wesenhaften Beschaffenheit dieselben Rechte und Entwicklungsfähigkeiten zuspricht, benötigt sie auch eine diese Auffassung begründende anthropologische Konzeption. Statt dessen überlässt die politische Linke bis heute in den Nationalsozialismus verstrickten Philosophen wie Martin HEIDEGGER und Arnold GEHLEN das Feld der philosophischen Anthropologie und eine entsprechende Präsenz an Deutschlands Universitäten.
individuellen Fähigkeiten zum Wohle des Ganzen entfalten: „Wenn in Humanismus und Aufklärung von der Gleichheit aller […] Menschen die Rede ist, so ist damit alles andere als Gleichmacherei gemeint. Gemeint ist vielmehr, dass alle Menschen das gleiche Recht und die gleiche Chance haben sollen, ihre unverwechselbare Individualität zu entfalten.“ (Strasser 1999: 52) Zum Beleg dieser Interpretation möge ein kurzer Verweis auf das Denken von Karl Marx genügen – wohl ohne Zweifel eine Schlüsselfigur der politischen Linken. Marx wirft in der „Kritik des Gothaer Programms“ (1875) Ferdinand Lassalle vor, dass dessen Sozialismus-Verständnis den Kapitalismus nicht überschreite, weil es das Prinzip des Warengeschäftes nicht überwinde. Lassalle plädiert nämlich für eine Gesellschaft, in der jeder das von der Gesellschaft zurückerhält, was er ihr zuvor gegeben hat: „Das gleiche Recht ist hier daher immer noch – dem Prinzip nach – das bürgerliche Recht […].“ (MEW 19/20) Marx macht auf das Problem einer solchen Position einleuchtend aufmerksam: „Der eine ist aber physisch oder geistig dem anderen überlegen, liefert also in derselben Zeit mehr Arbeit oder kann während mehr Zeit arbeiten […]. Ferner: Ein Arbeiter ist verheiratet, der andere nicht; einer hat mehr Kinder als der andere etc. etc.“ (ebd.: 20f) Würde also jeder von der Gesellschaft nur das erhalten, was er ihr gegeben hat (Prinzip der Äquivalenz), würden Kranke, Schwache, Familien etc. schlechter gestellt als andere. „Bei gleicher Arbeitsleistung und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhält also der eine faktisch mehr als der andere, ist der eine reicher als der andre etc. Um alle diese Missstände zu vermeiden, müsste das Recht, statt gleich, vielmehr ungleich [!!!, M. B.] sein.“ (ebd.) Diese Unterschiede auszugleichen hat allerdings nichts mit der Herstellung von
Gleichheit, sondern mit der Beseitigung von Diskriminierung zu tun. Letztlich gipfeln die Marxschen Ausführungen in der Formulierung des berühmten Grundsatzes einer sozialistischen bzw. kommunistischen Gesellschaft: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“! (ebd.: 21) Wenn man diesen Ausspruch genau bedenkt, wird man in ihm alles andere als eine Politik der Gleichmacherei entdecken. Es soll gerade nicht jeder dasselbe bekommen, sondern jeder soll leisten, was er kann, und erhalten, was er benötigt. Da aber sowohl die Ansprüche als auch Fähigkeiten individuell hoch verschieden sind, hätten wir mit einer kommunistischen Gesellschaft nach Marx gerade eine Gesellschaft der Ungleichen. Diese Ungleichheiten sollen allerdings weder das Ergebnis „entfremdeter“ ökonomischer Mechanismen sein noch zu sozialen Diskriminierungen der Einzelnen führen, sondern auf der freiwilligen Lebensentscheidung und den Fähigkeiten der Individuen beruhen: „Sozialismus ist nicht Egalitarismus, sondern die erfolgreiche Organisation der gesellschaftlichen Arbeit, die eine ungleiche Verteilung des Reichtums auf ungleiche Individuen möglich macht, ohne daß damit soziale Diskriminierungen und Ausgrenzungen verbunden sind.“ (Sost 1995: 16) Man kann Marx zwar vorwerfen, dass seine Zielstellungen unrealistisch seien oder eine reduktionistische Auffassung vom Leben beinhalten, er weder über eine Ethik noch über eine Anthropologie verfüge, auf deren Grundlage er Kriterien für eine dieser politischen Grundauffassung entsprechende gesellschaftliche Entwicklung formulieren könnte, aber ein Egalitarist war er jedenfalls nicht. Zwar könnte es so scheinen, als würde Marx’ Plädoyer für eine gewisse Ökonomische Gleichheit der Menschen letztlich doch nur eine Form des Egalitarismus sein, aber wer so argumentiert, reduziert Gesellschaft und damit das Leben des Menschen in liberaler Manier auf Ökonomie. Eine gesicherte
und insofern einigermaßen ausgeglichene Verteilung ökonomischer Ressourcen wäre daher überhaupt erst die notwendige Voraussetzung dafür, dass alle Menschen am Ganzen der gesellschaftlichen Entwicklung (z. B. Politik, Kunst, Wissenschaft etc.) aufgrund ihrer individuellen Fähigkeiten angemessen teilhaben könnten. Ein beschränkter Egalitarismus in einem Teilgebiet menschlichen Lebens erweist sich so als Voraussetzung zur Erschließung einer Fülle von Lebensmöglichkeiten und damit eines gesamtgesellschaftlichen Anti-Egalitarismus. Mit einer solchen Position wird übrigens auch nicht angestrebt, Menschen ohne Ansehen ihrer Leistungen oder Qualifikationen alle gleich zu behandeln. Vielmehr soll versucht werden, die Menschen, insofern sie gleich sind, gleich zu behandeln und insofern sie ungleich sind, ungleich. So stellt Norberto Bobbio zu Recht fest: „Die Entdeckung des Verschiedenen ist im Hinblick auf das Problem der Gerechtigkeit irrelevant, wenn man zeigt, dass es sich um eine Verschiedenheit handelt, die eine verschiedene Behandlung rechtfertigt. […] Die Verschiedenheit wird dann relevant, wenn sie die Grundlage für eine ungerechte Diskriminierung ist. Ob allerdings die Diskriminierung ungerecht ist, hängt nicht von der Verschiedenheit ab, sondern von dem Eingeständnis, dass es keine guten Gründe für eine ungleiche Behandlung gibt.“ (Bobbio 1994: 69f) Um ein kleines Beispiel zu geben: Wir sprechen allen Menschen als Menschen die Fähigkeit zu, vernünftig zu handeln und gewähren ihnen insofern entsprechende, gleiche Rechte. Menschen hingegen, die entgegen ihren eigentlichen Fähigkeiten nicht vernünftig handeln, also z. B. Verbrechen begehen, verwirken – zumindest für eine gewisse Zeit – bestimmte ihrer Rechte, z. B. das Recht auf Freiheit. Die Diskriminierung, die ein Verbrecher durch die Verhängung einer Haftstrafe erfährt,
erscheint daher nicht als willkürlich, sondern als gerechtfertigt. Die politische Linke will folglich nicht alle, sondern ungerechtfertige Diskriminierungen überwinden – wie die Benachteiligung von Frauen, so genannten Ausländern, sozial und ökonomisch ausgegrenzten Menschen etc. Es scheint daher vielleicht verwirrend, den Unterschied zwischen rechts und links an dem Begriff der Gleichheit festzumachen, da mit ihm sehr schnell fälschlicherweise Gleichmacherei assoziiert wird. Es wäre m. E. zielführender, den Unterschied an den politischen Projekten der jeweiligen Lager und damit an dem Begriffspaar Beteiligung (Inklusion) contra Ausschluss (Exklusion) festzumachen. Die politische Linke zielt nach Aufhebung von ungerechtfertigter Diskriminierung und verfolgt insofern ein politisches Projekt der Inklusion, während die politische Rechte eher auf Begrenzung menschlicher Gesellschaft abzielt, die mit ungerechtfertigter Diskriminierung einhergeht (z. B. Verhinderung des Zuzugs von so genannten Ausländern), und insofern für ein politisches Projekt der Exklusion steht. Für gewöhnlich wird dieses Phänomen eher mit dem Begriff des Rassismus bezeichnet. Er ist der philosophische Kern einer jeden rechtsextremistischen Ideologie. Diese begriffliche Bestimmung hat auch zum Ergebnis, dass sowohl der klassische bürgerliche Liberalismus als auch das Christentum ideengeschichtlich der politischen Linken zuzurechnen sind, insofern sie ein kosmopolitisches Projekt verfolgen. Ein authentisches Christentum ist in der Praxis sogar vielfach linker als viele „linke“ politische Gruppierungen: Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass die internationale Solidarität programmatisch eine der Säulen der sozialdemokratischen und sozialistischen Bewegungen
darstellt, in der Praxis aber fast nur von christlichen Trägern praktiziert wird.∗ Inhaltlich betrachtet befinden sich Linksund Rechtsextremismus daher nicht in gleicher Entfernung zum Wertehorizont der bürgerlichen Gesellschaft, sondern der Linksextremismus steht in deutlicherer Nähe zum Projekt der Aufklärung. Dies wird z. B. auch daran deutlich, dass das Gefährdungspotenzial durch den Rechtsextremismus erheblich größer ist als durch den Linksextremismus. Während im Grunde jeder Mensch potenzielles Opfer rechtsextremistischer Gewalt ist, schränken Linksextremisten ihre Gewalt normalerweise auf Vertreter des Staates (Polizei), gesellschaftliche Eliten sowie Rechtsextremisten ein. Während Rechtsextremisten also dazu neigen, das Gleichheitspostulat gänzlich in Frage zu stellen, sind so genannte Linksextremisten „nur“ dazu bereit, seine Geltung in Einzelfällen außer Kraft zu setzen. Dabei ist grundsätzlich zu berücksichtigen, dass sich diese begrifflichen Bestimmungen auf einer idealtypischen Ebene und nicht der der politischen Praxis bewegen. Es geht also um die Grundorientierungen politischer Bewegungen und nicht um ihre tatsächlichen Programme und Handlungen im Einzelnen: So werden in der Praxis kosmopolitische Orientierungen häufig durch das Projekt der Nation begrenzt. ∗
Demnach müssen auch die vielfach diskutierten Projekte des so genannten „Dritten Weges“ bzw. der „Neuen Mitte“ der europäischen Sozialdemokratie, insofern sie ernst gemeint sind, grundsätzlich als politische Projekte der Linken anerkannt werden (Brodkorb/Deml 2001). Zwar mag man der Auffassung sein, dass die neue programmatische Orientierung der Sozialdemokratie als äußerster rechter Rand innerhalb des linken Spektrums anzusehen ist, aber sowohl die Integration von Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen als auch von Ausländern und Zuwanderern sind der politischen Programmatik nach ganz klar Projekte der Inklusion (Giddens 1997 sowie Giddens 1999: 123ff).
Extremismus als tyrannische Charakterhaltung Hiermit wäre nun geklärt, was rechts und links unterscheidet, jedoch immer noch nicht, was eigentlich „extremistisch“ bedeutet. Dies an formalen Kriterien der politischen Technik (Mittel) festzumachen, scheint mir vor allem deshalb fragwürdig, weil sich die verwendeten politischen Mittel in ihrer Anwendung kaum von der ihnen zugrundeliegenden Motivation trennen lassen und insofern in der Regel höchstens Anzeichen, nicht aber Kriterien für Extremismus sein können. Um ein fiktives Beispiel zu konstruieren: Um eine Gewaltherrschaft: Adolf HITLERS und den Zweiten Weltkrieg zu verhindern, wäre möglicherweise selbst Albert Schweitzer bereit gewesen, eine antidemokratische, also gegen die nazifreundliche Haltung einer Mehrheit der Bevölkerung gerichtete politische Ordnung zu errichten. Auch ein Tyrannenmord an Adolf HITLER im Jahre 1933 wäre wohl ein Dienst an der Menschheit gewesen. Wenn sich dies nicht so verhielte, warum ehren wir dann jährlich die Widerständler und insbesondere jene, die Attentate auf HITLER verübt haben? Je nach dem also, in welchen konkreten Situationen sich jemand befindet und aufgrund welcher politischen Theorie er handelt, können äußerlich grausam und extremistisch anmutende Handlungen weit davon entfernt sein, tatsächlich Ausdruck einer extremistischen Haltung zu sein. Die Auffassung, Extremismus sei ein formales Problem, scheint mit einem spezifisch modernen Verständnis von Politik eng verknüpft zu sein. Spätestens mit Nicolo Machiavelli und Thomas Hobbes stieg der Begriff der Macht zum Kern der politischen Philosophie auf. Dieser Tradition folgten im 19. und 20. Jahrhundert so wichtige Autoren wie Friedrich Nietzsche, Carl SCHMITT oder Max Weber. In seinem berühmten Vortrag „Politik als Beruf“ (1918/19) definiert
Weber Politik wie folgt: „‘Politik’ würde für uns also heißen: Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt. […] Wer Politik treibt, erstrebt Macht.“ (Weber 1988: 506f) Dieser Begriff von Politik scheint es zu sein, der auch eine formale Ausdeutung des Extremismus-Begriffs nahe legt. Gewalt, sowohl physische als auch solche gegenüber bestimmten standardisierten politischen Verfahren, kann nämlich als eine äußerste Zuspitzung dieser Machtfrage verstanden werden. Allerdings scheint die Dominanz der Machtfrage in der politischen Theorie seit der Neuzeit ihrerseits in einer Entkopplung von Ethik und Politik zu wurzeln. Mit der Beseitigung der Ethik als der Richtschnur der Politik verlor gleichzeitig die Macht ihre (bloß) dienende Rolle und konnte zum Selbstzweck werden. Nicht also die Verschränkung von Macht und Politik ist eigentlich problematisch – denn auch normativ begründete Politik bedarf zur Realisierung ihrer Ziele der Macht –, sondern die ziellose Verabsolutierung der Macht, die Erhebung eines bloßen politischen Mittels zu einem Selbstzweck. In das Zentrum der Politik den Begriff der Macht zu stellen ist allerdings keinesfalls selbstverständlich. Die Begründer der politischen Philosophie, Platon und Aristoteles, waren vielmehr der Auffassung, dass der Leitbegriff der Politik der der Psyche ist.∗ Platon führte diese Auffassung dahin, einen ∗
Diese Analyse basiert allerdings auf der Voraussetzung, dass die PlatonKritik, die Karl Popper in „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ vorgelegt hat, inzwischen eindeutig als unhaltbar erwiesen ist (siehe hierzu Schmitz 2001; Hösle 1997: 39). Dass Popper seine Arbeit übrigens nicht einmal selbst als in erster Linie sachlich korrekte Platon-Interpretation ansah, kann man seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe des Jahres 1992 entnehmen: „Es erschien 1945, als der Krieg in Europa zu Ende ging, aber ich hatte es geschrieben als meinen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen.
strikten Parallelismus zwischen den individuellen psychischen Voraussetzungen der politisch Handelnden und dem Zustand des staatlichen Gemeinwesens insgesamt anzunehmen: Eine Gesellschaft enthemmter und ungerechter Menschen wird demnach ebenso enthemmt und ungerecht sein. Und umgekehrt: Wer die staatliche Gemeinschaft gerecht gestalten will, muss selbst ein gerechter Mensch sein. (Platon, Politeia 353e4f) Vittorio Hösle charakterisiert diesen Aspekt der politischen Philosophie Piatons also ganz richtig: „Wer nicht das Haus seiner Seele in Ordnung zu bringen vermag, wird im Haus des Staates […] nur Unheil stiften.“ (Hösle 1997: 38) Während daher die Hauptaufgabe des Politikers nach der modernen Politikauffassung die Anhäufung von Macht ist, besteht sie nach antiker Auffassung darin, den Bürgern eine angemessene Bildung im Sinne einer umfassenden Persönlichkeitsentwicklung zu verschaffen. Denn Gerechtigkeit, das ethische Leitziel von Politik, seitdem es menschliche Gemeinschaften gibt, kann nur durch individuell gerechte Menschen verwirklicht werden und diese hervorzubringen ist eine pädagogisch-psychologische Aufgabe: „Es ist klar, dass der Politiker über die Angelegenheiten der Psyche Bescheid wissen muss.“ (Aristoteles, NE 1102al8f) Mir scheint, was hier natürlich nicht angemessen ausgeführt und begründet werden kann, diese traditionelle Fundierung der Politik in der Psychologie ein weitaus plausibleres Modell zu sein als moderne Ansätze. Hierbei ist entscheidend, dass diese Form von Psychologie nicht mit der Freuds verwechselt werden darf, ja, mit ihr letztlich völlig unvereinbar ist. Seine Tendenz war: gegen Nazismus und Kommunismus; gegen Hitler und Stalin, die einstigen Verbündeten des Hitler-Stalin-Pakts von 1939.“ (Popper: 1992: IX)
„Psychologie“ im antiken Sinn analysiert nicht das Verhältnis des Bewussten zum Unbewussten, sondern die charakterlichen Qualitäten und Erkenntnishaltungen des Menschen. Dabei dürfte die antike Auffassung, dass der Begriff der Psyche bzw. der des Charakters ins Zentrum der politischen Philosophie zu stellen ist, implizit auch die der meisten Menschen sein: Es ist ja gerade eines der Probleme der Demokratie, dass von den Politikern, obwohl sie nach modernen politischen und soziologischen Theorien nur Machtmanager sind, dennoch moralisches Verhalten erwartet wird. Die heute viel beklagte Krise der Repräsentation resultiert zwar nicht allein, aber durchaus auch aus gerade diesem Dilemma: Jeder normale Mensch hält einen korrupten, skrupellosen, ungerechten Menschen nicht für geeignet, Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen. Die intuitive Auffassung von Politik bei der Bevölkerung folgt daher recht deutlich der antiken Unterstellung, dass, wer selbst nicht über eine bestimmte inhaltlich ausgezeichnete charakterliche Qualität verfügt, in der politischen Gemeinschaft nicht vernünftig und in einer dem Gemeinwohl dienlichen Weise handeln kann. Das Problem des Extremismus kann also, weil die ihm zugrunde liegende politische Theorie nicht überzeugend ist, nicht auf formaler Ebene abgehandelt werden. Vielmehr dürfte der Unterschied zwischen nicht-extremistisch orientierten und extremistisch orientierten Personen in einer psychologischen Dimension bestehen, denn es steht ja gerade in Frage, wie bestimmte politische Theorien aufgrund individueller Voraussetzungen der handelnden Akteure ein hohes Maß an Radikalität erreichen können. Und gerade diese ähnliche oder identische charakterliche Haltung ist es, die Menschen wie Benito MUSSOLINI und Horst MAHLER überhaupt möglich und erklärbar macht. MUSSOLINI war, bevor er zum Führer des italienischen Faschismus wurde, ein bedeutender Funktionär in
der sozialistischen Partei Italiens. MAHLER machte einen ähnlichen Weg durch: vom Gründungsmitglied der RAF zum Mitglied und Anwalt der NPD. Die charakterliche Haltung eines Menschen scheint daher gegenüber der von ihm vertretenen politischen Theorie dominant zu sein (Aristoteles, NE 1100b14). In diesem Sinne dürfte es berechtigt sein, die Nähe von Extremisten zueinander für wichtiger zu halten als ihre politisch-inhaltlichen Differenzen. Das, was wir heute „extremistisch“ nennen, dürfte etwa mit dem identisch sein, was in der antiken politischen Philosophie tyrannisch genannt wurde. Eine tyrannische Charakterhaltung stellt in gewisser Hinsicht eine äußerst bizarre Form des Individualismus dar. Ein Extremist glaubt demnach, sich über die menschliche Gemeinschaft, der er selbst angehört und der er seine eigene Existenz verdankt, stellen und sie eigenmächtig weitreichend und unter Anwendung radikaler Mittel umzugestalten zu können. Am klarsten kommt diese Überzeugung vielleicht darin zum Ausdruck, dass der Extremist sich berechtigt fühlt und es für sinnvoll hält, andere Menschen notfalls zu ihrem Glück zu zwingen. Die tyrannische Charakterhaltung basiert daher auf falschen Erkenntnisurteilen und ist in letzter Instanz ein Problem von Wissen und Bildung. Diese extremistische Haltung hat dabei auch Rückwirkungen auf die Radikalität der vertretenen politischen Theorie. Der Extremismus geht dabei häufig, allerdings nicht notwendig mit einem Wahrheitsfundamentalismus als Rechtfertigungsversuch für den Extremismus einher, mit dem auf einem eher unsicheren Erkenntnisbereich wie der politischen Wissenschaft der Anspruch auf eine absolut wahre Position erhoben wird: „Nicht die Überzeugung von der Wahrheit des eigenen Standpunktes, die die Wahrheit anderer, konkurrierender Positionen ausschließen würde, und das
argumentative Eintreten dafür führen zu einer intoleranten Beschränkung von Pluralität, sondern erst die fundamentalistische Haltung eines unbeugsamen, kompromisslosen, also dogmatischen Festhaltens an den eigenen Überzeugungen ungeachtet aller Gegenargumente. Für einen Fundamentalismus sind Pluralismus und Toleranz ohne Bedeutung, da sich die Frage des Irrtums für ihn gar nicht stellt. Erst der fundamentalistische Anspruch, einen privilegierten Erkenntniszugang zu haben, der diskursiven Wettbewerb überflüssig macht, führt zu einer – intoleranten – Beschränkung von Pluralität. […] Dogmatismus, Selbstgefälligkeit und Radikalität in der Durchsetzung praktischer Zielsetzungen sind die Konsequenz.“ (Wendel 2000: 149f) Die Kritik des Wahrheitsfundamentalismus bedeutet also nicht, generell den Anspruch auf Wahrheit aufzugeben, sondern die Unmöglichkeit des Irrtums in praktischen, also unsicheren Wissenschaftsbereichen zu bestreiten. Der Glaube an die Unmöglichkeit des Irrtums stellt für Extremisten meist die Legitimationsgrundlage für kompromissloses Handeln und das Überschreiten gewisser Normen dar. Im Interesse von Wahrheit und Geschichte müssten demnach jene, die die Wahrheit und geschichtliche Notwendigkeit nicht erkannt haben oder nicht erkennen wollen, Opfer bringen – also z. B. ihr Leben lassen. Allerdings ist eine tyrannische Grundhaltung ebenso mit dem Wahrheitsrelativismus, also dem Leugnen der Möglichkeit einer objektiven Wahrheit vereinbar. Die Rechtfertigung extremistischen Verhaltens kann dann z. B. entweder aus Willkür oder vermeintlicher Stärke erfolgen.
2. Kapitel
Der parteilich organisierte Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland Die wichtigsten der bisher als rechtsextremistisch eingestuften Parteien der Bundesrepublik sind „Die Republikaner“ (REPs), die „Deutsche Volksunion“ (DVU) und die „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD).
Die Republikaner (REPs) Die Republikaner, die jüngste der wichtigsten deutschen rechtsextremistischen Parteien, wurden im November 1983 gegründet. Hintergrund hierfür war die Zustimmung der CSU zu einem milliardenschweren Kredit an die DDR. Die CSUBundestagsabgeordneten Ekkehard VOIGT und Franz HANDLOS sowie der Journalist Franz SCHÖNHUBER gehörten zu den prominentesten Mitgliedern der Republikaner. SCHÖNHUBER löste 1985 HANDLOS als Vorsitzenden ab und verschaffte den Republikanern ein Profil mit geschichtsrevisionistischem Anstrich,∗ geriet aufgrund seines Führungsstils aber bald ins Kreuzfeuer der Kritik. Da die Republikaner nicht parallel zu einer wesentlichen gesellschaftlichen Problemlage gegründet
∗
Unter „Geschichtsrevisionismus“ wird die Umdeutung der kritischen Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus und damit eine Verharmlosung der Verbrechen des Nationalsozialismus verstanden.
wurden, blieben sie bis Ende der 1980er Jahre zunächst eher unbedeutend. Im Jahr 1994 musste SCHÖNHUBER schließlich seinen Sessel für Dr. Rolf SCHLIERER freimachen, da er entgegen Beschlüssen der Republikaner Wahlabsprachen mit der DVU angestrengt hatte. Ein Jahr später verließ er dann die Partei. SCHLIERER ist seitdem darum bemüht, den Republikanern ein rechtskonservatives Erscheinungsbild zu verschaffen. Die Republikaner grenzen sich daher sehr stark von DVU und NPD ab, weil sie als „normale Partei“ anerkannt werden wollen. So erklärt der derzeitige Bundesvorsitzende der Republikaner auf seiner Homepage: Für die Republikaner sei klar, „daß es für uns auch weiterhin keinerlei Zusammenarbeit mit Parteien wie der DVU oder der NPD geben wird. Über dem letzten Programmparteitag in Augsburg stand das Motto: Von der Protestpartei zur Programm- und Parlamentspartei. Das Ziel unserer Partei war damit klar definiert: Die politische Umsetzung des Parteiprogramms in den Parlamenten. Die Republikaner sehen sich damit nicht als außerparlamentarische Oppositions- oder Widerstandsbewegung, sondern als eine Partei, die in Gesetzgebung und Exekutive Verantwortung übernehmen will. Nur durch die praktischpolitische Mitgestaltung in den Parlamenten lassen sich die Verhältnisse in unserem Land verändern oder bewahren.“ Die Republikaner fürchten offenbar negative Imageeffekte unter den Wählern, wenn sie mit trunkenen und gewaltbereiten Skinheads oder radikalen Neonazis in Verbindung gebracht werden. Sie versuchen daher gezielt, als rechte bürgerliche Partei in Erscheinung zu treten. Dennoch werden die Republikaner vom Verfassungsschutz bisher als „rechtsextremistisch“ eingestuft, weil zumindest Teile der Mitgliedschaft „offen ihre Ablehnung gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bzw. gegen wesentliche Prinzipien unserer Verfassung“ (BfVS
1999: 25) dokumentieren. Allerdings ist durchaus umstritten, ob die Republikaner zu Recht als rechtsextremistisch eingestuft werden. Im November 2001 bezweifelte bspw. das Bundesverwaltungsgericht in einem Urteil die Verfassungsfeindlichkeit der Republikaner unter der politischen Führung ihres derzeitigen Vorsitzenden SCHLIERER. ES wird abzuwarten sein, wie Verfassungsschutz und Bundesinnenministerium mit diesem Urteil umgehen werden. Tatsächlich spricht nicht wenig dafür, die Republikaner eher als Zwischenphänomen zwischen Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus anzusehen. Die Konzentration der Republikaner auf Wahlen und Parlamentsarbeit führt zu einer weitgehend inaktiven Basis: Von wenigen Ausnahmen abgesehen, lässt sich kein Versuch der kontinuierlichen Einflussnahme der Republikaner auf das Denken der Bevölkerung feststellen. Sie ist eine „Wahlpartei mit nur mäßigem Erfolg.“ (BfVS 2000a: 13) Ihre größten Wahlerfolge verzeichneten die Republikaner 1989 in WestBerlin (7,5 %), bei der Europawahl des Jahres 1989 (7,1 %), in Baden-Württemberg 1992 (10,9 %) sowie 1996 (9,1 %). Seitdem befinden sich die Republikaner auf dem absteigenden Ast: Von ihren ursprünglich 30.000 Mitgliedern sind bis 2001 noch ganze 11.500 übrig geblieben. Christoph Butterwegges Einschätzung dürfte daher richtig sein: „Offenbar entspricht Schlierers Taktik, sich konservativ, aber nicht rechtsextrem, und national, aber nicht nationalistisch zu gerieren, heutigen Wählertrends nicht mehr. Um die Partei, der noch vor wenigen Jahren eine klare Vormachtstellung gegenüber DVU und NPD eingeräumt wurde, scheint es schlecht bestellt.“ (Butterwegge 2002: 61f)
Deutsche Volksunion (DVU) Ebenso vorrangig auf Wahlerfolge abgesehen hat es die DVU. Sie präsentiert sich allerdings nicht als Partei des rechten Biedermanns, sondern als Partei des Stammtischs. Gegründet wurde die DVU im Jahre 1987 unter dem Namen „Deutsche Volksunion – Deutsche Liste“ in München. Vorläufer der DVU war der bereits 1971 gegründete Verein DVU e. V. der 1988 einfach seine Satzung änderte und alle Vereinsmitglieder automatisch zu Mitgliedern der Partei DVU erklärte. Dies führte zwischen 1988 und 1989 mit 26.000 Anhängern beinahe zu einer Verfünffachung der Mitgliedszahlen. Heute verfügt die DVU noch etwa über 15.000 Mitglieder. Vorsitzender der DVU ist seit ihrem Bestehen der rechtsextremistische Medienverleger Dr. Gerhard FREY. Im eigentlichen Sinne kann die DVU nicht als (formaldemokratische) Partei angesehen werden: Kandidatinnen für politische Ämter werden häufig durch FREY ausgesucht und inthronisiert, nicht über korrekte demokratische Verfahren gewählt: „Es ist keine wirkliche aktive Mitgestaltung der Basis an der sachpolitischen Willensbildung erkennbar; bei Personalentscheidungen wird einzig die Treue zu FREY als Kriterium gewertet.“ (BfVS 2000: 13) Die DVU-Mitglieder stellen daher eher so etwas wie die Stammkundschaft des Medienverlegers und Devotionalienhändlers Gerhard FREY dar als eine politische Partei. Richard Stöss spricht gar von einer „Phantompartei“ (Stöss 2000a: 87). Auch die DVU verfügt über einen deutlichen Abgrenzungskurs gegenüber Republikanern und NPD, der sich vor allem wahltaktisch begründen dürfte: Die DVU sieht in den anderen beiden Rechtsparteien Konkurrenten, die die
eigenen Wahlerfolge in Frage stellen können. Gegenüber der NPD lässt sich allerdings ein deutlicherer Abgrenzungskurs feststellen. Prägnant formuliert: Der DVU sind Aktivitäten und Programm der NPD zu „radikal“: „Die NPD kommt für FREY […] zur Zeit wegen ihrer Öffnung gegenüber Neonazis und Skins und wegen ihres Wirtschaftsprinzips eines ‘nationalen Sozialismus’ nicht für ein Zusammengehen in Betracht.“ (BfVS 1999b: 24) Offenbar deshalb verweist die DVU mit Genugtuung auf die „NPD-Funktionäre, durch deren Schandtaten die Nationaldemokraten an den Rand des Verbots getrieben worden sind“ (DVU-PE 1. Juni 2001). Zwar versteht sich auch die DVU als Wahlpartei, allerdings zielt sie mit ihren Kampagnen nicht wie die Republikaner auf ein rechtes kleinbürgerliches Milieu, sondern auf unterdurchschnittlich gebildete und soziale Randschichten der Gesellschaft ab. Parteigründer und -Vorsitzender Gerhard FREY setzt dabei auf große, kostspielige Wahlwerbekampagnen mit dumpfen Parolen „nach Art einer Boulevardzeitung“ (BfVS 1999b: 12) wie „Deutsche, lasst euch nicht zur Sau machen!“, „Haut Rein! Korrupte Politiker in den Knast“ oder „Asylbetrüger und kriminelle Ausländer raus!“. Ihre größten Wahlerfolge erzielte sie 1987 in Bremen, als sie mit einem Wahlergebnis von 3,4 % aufgrund besonderer Wahlvorschriften einen Abgeordneten ins Landesparlament entsenden konnte, 1991 wieder in Bremen mit 6,2 %, 1992 in Schleswig-Holstein mit 6,3 %, 1998 in Sachsen-Anhalt mit 12,9 % und 1999 in Brandenburg mit 5,3%. Die programmatische Strategie der DVU besteht darin, als die eigentliche Partei des Grundgesetzes aufzutreten. Sie versucht also, gerade nicht den Anschein der „Systemfeindlichkeit“ zu erwecken. Vielmehr präsentiert sie sich selbst so, als ob erst mit ihrer Politik das Grundgesetz inhaltlich tatsächlich konsequent umgesetzt werden könnte:
„Die DEUTSCHE VOLKSUNION (DVU) bekennt sich vollinhaltlich und ohne jeden Vorbehalt zur freiheitlichdemokratischen Grundordnung, wie sie im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verfasst ist. […] Dass deutsche Politik in Deutschland endlich wieder gemäß […] des Grundgesetzes betrieben wird, ist das Hauptziel unserer Partei.“ (DVU-Programm: 1) Inhaltlich konzentriert sich die DVU bis heute auf dumpfe Hetze gegen Ausländer sowie die Glorifizierung der Wehrmacht. FREY nutzt für die Verbreitung dieser Themen insbesondere seine Wochenzeitung „NationalZeitung/Deutsche Wochenzeitung“, die eine Auflage von 45.000 Stück erreicht.
Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) Die NPD ist die mit Abstand älteste der deutschen rechtsextremistischen Parteien. Sie wurde bereits 1964 auf Initiative von Friedrich THIELEN als nationale Sammlungsbewegung gegründet: Sie sollte eine reine Wahlpartei werden und die beitretenden rechten Vereinigungen folglich politisch selbständig bleiben. Am 14. November erfolgte die Eintragung der NPD ins Vereinsregister Bremens, um einem eventuellen Namensmissbrauch vorzubeugen. Zwei Wochen später, also am 28. November, fand dann die offizielle Parteigründung im Döhrener Maschpark zu Hannover unter Beteiligung 90 verschiedener politischer Organisationen statt. In der NPD fanden demgemäß viele Altnazis eine neue politische Heimat, aber ebenso auch jene, die für eine rechte Erneuerungsbewegung standen. Bereits 1966 erfolgte die Gründung der NPDStudentenorganisation (Nationaldemokratischer Hochschulbund, NHB) und wenig später auch der NPD-
Jugendorganisation (Junge Nationaldemokraten, JN). Inhaltlich war die NPD in den ersten Jahren nach ihrer Gründung vor allem mit geschichts-revisionistischen Fragen und der Rückgabe der Ostgebiete beschäftigt. Günstig auf die Entwicklung der NPD wirkten sich die ersten größeren wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte sowie größere Einwandererzahlen gegen Ende der 1960er Jahre aus. Auch die damalige große Koalition, die in der Bevölkerung vielfach als Stillstand empfunden wurde, dürfte zur Stärkung des rechten Parteienlagers beigetragen haben. Von 1966-68 zog die NPD in insgesamt sieben Landesparlamente ein: 1966 in Hessen (7,9 %) und Bayern (7,4 %), 1967 in Rheinland-Pfalz (6,9 %), Schleswig-Holstein (5,8 %), in Niedersachsen (7,0 %) und Bremen (8,8 %) sowie 1968 in Baden-Württemberg (9,8 %). Auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung verfügte die NPD gegen Ende der 1960er Jahre über etwa 28.000 Mitglieder. Bereits 1967 spitzten sich allerdings ideologische Konflikte in der NPD so weit zu, dass der Parteivorsitzende THIELEN am 11. März 1967 vom Parteivorstand aller Ämter enthoben wurde. THIELEN trat daraufhin selbst von seinem Amt zurück und verließ am 10. Mai 1967 die NPD. Da die Durchführung eines Wahlparteitages nicht gelang, ernannte der NPDVorstand Wilhelm GUTMANN zum kommissarischen Vorsitzenden. Im Sommer 1967 erfolgte dann auf einem ordentlichen Bundesparteitag der NPD die Wahl Adolf von THADDENS zum Bundesvorsitzenden. Von THADDEN war damals die eigentliche Größe des bundesrepublikanischen Rechtsextremismus. Er gehörte bereits 1949 als Abgeordneter der „Deutschen Konservativen Partei – Deutsche Rechtspartei“ (DKP-DRP) dem deutschen Bundestag an. Als die NPD 1969 nicht zuletzt aufgrund einer entsprechenden gesellschaftlichen Debatte mit 4,3 % den
Einzug in den Bundestag verpasste, geriet sie in eine große Krise. Adolf von THADDEN gab 1971 in Holzminden den Parteivorsitz an Martin MUSSGNUG ab. Die NPD zersplitterte sich und brachte u. a. die DVU-Abspaltung hervor. Allerdings hatte auch Gerhard FREY das Seinige dafür getan, dass die NPD 1969 den Einzug in den Bundestag verpasste, indem er in seinen rechten Zeitungen Wahlkampf für die Unionsparteien und gegen die NPD machte. Nicht zuletzt diese mangelnde Geschlossenheit des rechten Lagers führte dazu, dass die Rechtsextremisten die tiefgreifenden strukturellen Umbrüche in den westlichen Volkswirtschaften (strukturelle Massenarbeitslosigkeit), die sich Mitte der 1970er Jahre abzuzeichnen begannen, nicht zu ihren Gunsten nutzen konnten. Bereits 1975 verfügte die NPD nur noch über etwa 10.000 Mitglieder. Hierzu dürfte auch die seit 1969 regierende sozial-liberale Koalition beigetragen haben. In der Opposition vollzogen CDU und CSU einen Rechtsruck und konnten so der rechtsextremistischen NPD die Wählerbasis streitig machen. 1975 kam es dann zu ersten Annäherungen zwischen der NPD und Gerhard FREY, die Adolf von THADDEN zum Austritt aus der NPD bewogen. FREY wollte stellvertretender Vorsitzender der NPD werden. Nachdem die Landtagswahl 1975 in Bremen für die NPD trotz FREYS Unterstützung zu einem Debakel wurde, konnte FREY gerade noch einen Beisitzerposten im Vorstand erringen. FREY verließ daraufhin die NPD bereits wieder nach kurzer Zeit. 1980 war sie schließlich auf dem Tiefpunkt ihrer Entwicklung als Wahlpartei angelangt. Bei den Bundestagswahlen erreichte sie nur noch ein Ergebnis von 0,2 % der Stimmen. In den 1980er Jahren traten mit den Republikanern und der DVU neue parteipolitische Konkurrenten auf den Plan. Die NPD konnte sich nicht zuletzt wegen ihres Images als reaktionäre Altherrenpartei in der Außenwahrnehmung gegen
die beiden Konkurrenzparteien schließlich nicht durchsetzen, obwohl sie Mitte der 1980er Jahren bei Wahlen wieder das eine oder andere nennenswerte Wahlergebnis erzielte. Dies führte den NPD-Vorsitzenden MUSSGNUG 1988 dazu, ohne Mandat des NPD-Parteivorstandes mit FREY eine Vereinbarung zu unterzeichnen, nach der die NPD gegen die Zusicherung aussichtsreicher Listenplätze zugunsten der DVU auf eine Teilnahme an der Europawahl 1989 verzichten sollte. Große Teile der NPD waren mit diesem Vorgehen nicht einverstanden und beriefen am 26. Juni 1988 einen Sonderparteitag ein. Da MUSSGNUG das Bündnis mit der DVU mit der Vertrauensfrage für seine Person verband, konnte er sich mit seiner Position schließlich durchsetzen. Ähnliches wiederholte sich auf dem Parteitag in Rahden im Jahr 1989. Allerdings begann sich langsam abzuzeichnen, dass MUSSGNUG dabei war, seine Zustimmung innerhalb der NPD zu verspielen. Nachdem das DVU-NPD-Bündnis bei der Europawahl 1989 mit 1,6 % der Stimmen scheiterte und statt dessen die Republikaner mit einem sensationellen Ergebnis von 7,1 % ins europäische Parlament einzogen sowie die NPD bei der Bundestagswahl 1990 nur ein Ergebnis von 0,4 % einfuhr, glaubte MUSSGNUG die NPD am Ende und befürwortete ihre Auflösung als eigenständige Partei. Als er im Parteivorstand mit einer Abstimmung über die Aufgabe der Eigenständigkeit der NPD unterlag, übernahm Walter BACHMANN den amtierenden Vorsitz der NPD. Nicht zuletzt das Wahlergebnis der Republikaner bei der Europawahl 1989 sowie die deutlichen Mitgliederzuwächse bei den westdeutschen rechtsextremistischen Parteien noch vor der Deutschen Einheit belegen daher übrigens, dass das Erstarken des Rechtsextremismus keinesfalls ein Produkt der „deutschen Einheit“ war, sondern dass es durch die Art ihrer Durchführung gesellschaftlich höchstens verstärkt wurde.
Auf dem Bundesparteitag in Herzogenaurach im Jahr 1991 wurde schließlich der zehn Jahre zuvor ausgetretene Günter DECKERT zum neuen Vorsitzenden der NPD gewählt. Mit DECKERT rückten vor allem nationale und geschichtsrevisionistische Fragen in den Vordergrund. Allerdings schienen diese Themen gerade infolge der deutschen Einheit nicht sonderlich öffentlichkeitswirksam zu sein. Vielmehr bestimmten die Themen Massenarbeitslosigkeit und soziale Gerechtigkeit zunehmend das öffentliche Meinungsbild. Während der 1990er Jahre schlidderte die NPD daher schließlich in die völlige Bedeutungslosigkeit: Die Wahlergebnisse blieben nicht selten weit unter 1 % und die Mitgliedszahlen sanken bis 1996 auf ein historisches Tief von 3.000-3.500 Mitgliedern. Die traditionsreichste rechtsextremistische Partei der Bundesrepublik schien kurz vor ihrem Aus zu stehen. Allerdings war insbesondere die Jugendorganisation der NPD, die Jungen Nationaldemokraten (JN), spätestens seit den 1980er Jahren darum bemüht, die NPD programmatisch und organisationspolitisch neu zu orientieren. Solange DECKERT Vorsitzender war, konnten sich die JN allerdings weder inhaltlich noch strategisch in relevantem Maße in der NPD durchsetzen. DECKERT wurde schließlich im Jahre 1995 in einem Aufsehen erregenden Prozess wegen Volksverhetzung zu zwei Jahren Haft verurteilt. Dies und angebliche Ungereimtheiten in finanziellen Fragen führten am 30. September 1995 zur Amtsenthebung DECKERTS durch den NPD-Parteivorstand. Der bisherige Stellvertreter DECKERTS, Udo VOIGT, erklärte daraufhin seine Bereitschaft, auf dem Bundesparteitag am 23./24. März 1996 in Bad Dürkheim für das Amt des Bundesvorsitzenden zu kandidieren. VOIGT setzte sich schließlich bei Abwesenheit DECKERTS gegen ihn durch.
Mit der Wahl des Diplom-Politologen Udo VOIGT zum Bundesvorsitzenden der NPD im Jahre 1996 haben sich in der NPD zwei tiefgreifende politische Wenden vollzogen: eine strategische und eine inhaltliche.
Die organisationspolitische bzw. strategische Wende besteht darin, dass die NPD nicht wie REPs und DVU in erster Linie Sitze in Parlamenten erringen will, weshalb auch geringe Wahlergebnisse nicht unbedingt ein angemessener Gradmesser für die Erfolge der NPD sind. Wenn daher bisweilen die These aufgestellt wird, die DVU sei derzeit die „erfolgreichste Kraft des Rechtsextremismus“ (Butterwegge 2002: 58), berücksichtigt dies nicht, dass die rechtsextremen Parteien zum Teil sehr unterschiedliche Ziele verfolgen und daher nicht alle im Hinblick auf ihren Erfolg am selben Maß gemessen werden können. Der NPD geht es „nicht um kurzfristige Wahlerfolge, sondern um langfristige, kontinuierliche Aufbauarbeit einer ernstzunehmenden politischen Kraft.“ (VOIGT 1999C: 471) Die NPD verfolgt nicht vorrangig das Ziel, in Parlamente einzuziehen, sondern sie will sich schrittweise und langfristig in die Gesellschaft hineinfressen, indem sie eine national-soziale Protestbewegung mit Alltagsverankerung zu formieren versucht: Dabei hat sie sich systematisch Skinheads und Neonazis geöffnet. Insbesondere in Ostdeutschland ist diese Strategie zur Rekrutierung junger Mitglieder aufgegangen. Der Bundesvorsitzende VOIGT spricht in diesem Zusammenhang auch vom Aufbau einer „Nationalen Außerparlamentarischen Opposition, der NAPO“ (VOIGT 2000b). Seit 1996 konnten so die Mitgliedszahlen auf nahezu 6.500 verdoppelt werden (BfVS 2001: 54). Die Veränderung der Altersstruktur der Mitgliedschaft macht dabei deutlich, dass dies vor allem auf einen großen Zustrom junger Mitglieder zurückzuführen ist: Nach eigenen Angaben konnte die NPD den Anteil der 16-25jährigen in der Mitgliedschaft auf 33 % steigern und damit das Durchschnittsalter der Parteimitglieder auf 39 Jahre absenken (BMI 2000: 6). Bei diesem Prozess spielte und spielt insbesondere die NPDJugendorganisation, die Jungen Nationaldemokraten (JN), eine
Schlüsselrolle. Sie regten nicht nur die Strategie an, freie Nationalisten und Skinheads gezielt an die NPD heranzuführen, sondern sorgten auch für eine programmatische Neuorientierung der Partei, die insbesondere soziale und wirtschaftliche Themen in den Vordergrund stellt. Unter dem Vorsitzenden Udo VOIGT konnten die jungen Parteimitglieder ihren Einfluss schließlich so weit ausbauen, dass ihre tatsächliche Rolle ihrem Selbstverständnis als „Speerspitze der Partei“ erstmals einigermaßen entsprach (APFEL 1999: 53). Die NPD strebt also den Aufbau einer vor allem jungen, weltanschaulich gefestigten Kaderpartei an, die eine organische Verknüpfung mit der Bevölkerung organisieren soll. Erst von dieser errungenen sozialen Machtbasis aus will sie dann die entscheidenden Schritte unternehmen, das „System“ zu überwinden. Erstmals wurden die Grundlagen für diese Wende in einem Strategiepapier des NPDParteivorstandes im Jahre 1997 festgehalten, in dem von drei Säulen des Erfolges die Rede ist: vom „Kampf um die Straße“, dem „Kampf um die Wähler“ und dem „Kampf um die Köpfe“ (VOIGT 1999C: 469f; NPD 1999a). Die inhaltliche Wende der NPD besteht darin, dass sie zunehmend von der alten, nationalsozialistischen Rechten Abstand zu nehmen versucht. Sie will eben nicht als Erbin des Nationalsozialismus, sondern als Begründerin des „neuen Nationalismus“ oder „nationalen Sozialismus“ verstanden werden. Sie zählt daher nicht zum neonazistischen Spektrum der rechtsextremistischen Parteien in Deutschland. Insbesondere dieser Punkt wird in der deutschen Rechtsextremismusforschung sowohl von Behörden als auch wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen systematisch verkannt und produziert daher häufig ein verzerrtes Bild von den programmatischen Grundsätzen der NPD.
Das vielleicht offensichtlichste Beispiel für ein solches Vorgehen stellt die Analyse der NPD in der Verfassungsschutz-Broschüre „Rechtsextremistische Parteien in der Bundesrepublik Deutschland“ (BfVS 1999) dar: Dort wird anhand eines einzelnen Buches, das von genau dem Wolfgang FRENZ veröffentlicht wurde, der sich im Rahmen des NPD-Verbotsprozesses Anfang 2002 als V-Mann des Verfassungsschutzes entlarvt hat, nachzuweisen versucht, dass die NPD als bundesweite Partei eine rassistische, antisemitische, revisionistische, letztlich also nationalsozialistische Partei alten Typus sei. Zwar ist man in der Tat bei den rechtsextremen Parteien zum Teil darauf angewiesen, ihre Verfassungsfeindlichkeit entgegen ihren offiziellen Verlautbarungen nachzuweisen, und insofern ist es auch nicht anstößig, „private“ Veröffentlichungen entsprechender Parteimitglieder als Belege anzuführen; sich aber bei einer solchen Beweisführung hauptsächlich auf eine Einzelveröffentlichung eines einzigen NPD-Provinzpolitikers zu beziehen und für dessen Äußerungen die Gesamtpartei in Haftung zu nehmen, stellt ein textkritisch problematisches Vorgehen dar. So würde man bei einer etablierten Partei jedenfalls nicht verfahren. Aus den beiden politischen Wenden der NPD erklärt sich auch die ablehnende Haltung gegenüber DVU und Republikanern: • Die DVU wird innerhalb der NPD vor allem verächtlich als Partei der rechten „Proleten“ gesehen, als eine Partei, von der „sich die Wähler entsetzt abwenden, nachdem sie bemerkt haben, was und wen sie gewählt hatten.“ (VOIGT 2000) Sie wird folglich auch innerhalb der Rechten für niveaulos und populistisch gehalten. Sie verfügt weder über ein gewisses Maß an Parteikadern, die eine qualifizierte Rechte sowie eine
organische Verbindung der Partei zur Bevölkerung organisieren können, noch über eine langfristige Strategie zur Eroberung der Gesellschaft. Sie konzentriert sich vielmehr auf kurzfristige parlamentarische Erfolge, in denen sich der Vorsitzende FREY sonnen will. Nicht zuletzt die mangelnde Bereitschaft zu langfristigen strategischen Allianzen beklagt NPD-Bundesvorsitzender VOIGT hinsichtlich der Versuche der Herbeiführung einer „Einheit der Rechten“: „Nach wie vor gilt: Die NPD war nie einem wirklichen Bündnis abgeneigt! Wir haben es in den 36 Jahren unserer Existenz immer wieder versucht und nicht zuletzt in den letzten Jahren mit unseren Forderungen zur Schaffung einer gemeinsamen Wahlplattform unter dem Arbeitsbegriff ‘Bündnis Deutschland’ Gespräche mit den REP und mit der DVU gesucht. Während die REPFührung sich in Schweigen hüllte, war von der DVU lediglich zu vernehmen, daß man an Wahlabsprachen interessiert sei. Aus den leidvollen Erfahrungen der Vergangenheit zeigten wir uns an einer solchen Mini-Lösung zeitlich begrenzter Zweckbündnisse nicht interessiert.“ (VOIGT 2000) • Die Republikaner aber werden von der NPD vor allem deshalb angegriffen, weil sie danach schielen, vom „liberalkapitalistischen System der BRD anerkannt zu werden“ (VOIGT 1999a), ausschließlich „systemimmanent“ agieren und außerdem die NPD als „neonazistisch“ beschimpfen (VOIGT 2000). Die Republikaner erweisen sich daher für die NPD nicht als wirklich rechte Protest- oder Alternativpartei, sondern lediglich „als rechter Flügel der C-Parteien“. Zusammenfassend charakterisiert NPD-Bundesvorsitzender VOIGT durchaus treffend seine eigene Partei innerhalb der rechten Parteienszene daher wie folgt: „Die NPD hat gegenüber REP und DVU eine Besonderheit: Sie hat geschulte
Kader, weltanschaulich gefestigte Mitglieder sowie den nicht zu unterschätzenden Zugang zur Jugend.“ (VOIGT 2000) Die NPD stellt mit Abstand die wichtigste und gefährlichste Partei des deutschen rechtsextremistischen Spektrums dar: Von einer gründlichen Analyse der NPD als dem Zentrum des bundesdeutschen Rechtsextremismus hängt m. E. ein angemessenes Verständnis der rechten Szene überhaupt ab. Sie wird bei den weiteren Analysen daher auch im Vordergrund stehen.
3. Kapitel
Rechtsextremismus als Subkultur und „Neue soziale Bewegung“ Die rechtsextreme Szene ist nicht nur ideologisch, sondern auch organisatorisch eine äußerst vielgestaltige und fein ausdifferenzierte Erscheinung. Weder denken alle Rechtsextremisten dasselbe noch bevorzugen sie eine einheitliche Arbeitsweise. Vielmehr zeigt sich, dass sich aus den theoretischen Differenzen auch die verschiedenen Auffassungen über die zu wählende organisatorische Struktur ergeben. Der in der politischen Öffentlichkeit am ehesten diskutierte Bereich sind die politischen Parteien des Rechtsextremismus. Hauptsächlich geht es hier um die Republikaner, die DVU und die NPD. Die rechtsextremen Parteien sind allerdings nicht die einzigen politischen Erscheinungsweisen des Rechtsextremismus in Deutschland. Vielmehr gibt es neben den Parteien auch einen parteipolitisch nicht gebundenen Rechtsextremismus, den so genannten „freien Nationalismus“. Hier tummeln sich vor allem die so genannten Neonazis. So werden jene Anhänger der rechten Szene bezeichnet, die sich selbst als politische Aktivisten bzw. politische Soldaten fühlen und bewusst an die Ideologie des Nationalsozialismus im weitesten Sinne anknüpfen. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums belief sich die Zahl der Neonazis im Jahr 2001 etwa auf 2.800 Personen. Neben dem in erster Linie als politisch zu charakterisierenden Rechtsextremismus entwickelt sich allerdings vor allem seit
Beginn der 1990er Jahre ein vielgestaltiges Netz eher an Kultur orientierter Rechtsextremisten, das 2001 ein Potenzial von rund 10.400 Personen umfasste. Hierbei geht es um Musikgruppen, Verlage, Zeitschriftenzusammenhänge, Fanartikel-Versande usw. Dieses kulturelle Segment ist das Hauptbetätigungsfeld der so genannten rechten Skinheads. Ihr geschichtlicher Ursprung liegt in einer der Arbeiterbewegung nahe stehenden Jugendbewegung aus Großbritannien, die sich schrittweise über die ganze Welt verbreitet hat und recht schnell von Rechtsextremisten unterwandert wurde. Heute stellen – jedenfalls in Ostdeutschland – Letztere das Hauptpotenzial der Skinheadszene. Trotz ihrer hauptsächlich kulturellen Orientierung vertreten diese Skins zumindest Versatzstücke rechtsextremistischer Ideologie.
Beide Gruppierungen organisieren sich nicht selten auch gemeinsam in so genannten regional gebundenen Kameradschaften: „Dies hat dazu geführt, dass in manchen
Regionen eine klare Unterscheidung zwischen neonazistischen Kameradschaften und rechtsextremistischen SkinheadGruppierungen immer schwieriger wird. Insbesondere in den ostdeutschen Ländern verwischen die Grenzen zwischen beiden Milieus häufig.“ (BfVS 2000c: 23) Bisweilen wird aufgrund dieser Übergangsphänomene daher inzwischen auch mit der Kategorie des „neonazistischen Skinheads“ gearbeitet. Insgesamt werden bundesweit mindestens 150 Kameradschaften gezählt, die auf einem organisatorisch hohen Niveau arbeiten. Neonazis und Skinheads können daher sowohl Mitglieder von Parteien als auch außerhalb der Parteipolitik entweder im Bereich des freien Nationalismus oder im kulturellen Sektor des Rechtsextremismus tätig sein. Die Unterscheidung zwischen ihnen hebt lediglich auf ihr eigenes Selbstverständnis ab: Handelt es sich in erster Linie um rechte Jugendliche, die „Spaß“ haben und sich über einen eigenen Lebensstil von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden wollen (Skinheads) oder handelt es sich um Neonazis, die sich vor allem durch ihr ernsthaftes politisches Engagement sowie ihre große ideologische Nähe zum Nationalsozialismus in einem weiten Sinne auszeichnen? Weder schließt diese begriffliche Unterscheidung Mitgliedschaften von Skinheads in der NPD aus noch die Teilnahme von Neonazis an Skinkonzerten. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang die NPD, weil sie sich weder ausschließlich dem politischen noch dem kulturellen Sektor des Rechtsextremismus zurechnen lässt. Sie nimmt bewusst eine Mittlerstellung zwischen beiden Bereichen ein, weil sie den stetig wachsenden rechtsextremen Kultursektor für ihre politischen Zwecke vereinnahmen will. Sie ist eine politische Partei mit Bewegungscharakter.
Von der Neuen zur Nationalen Sozialen Bewegung Noch immer wird von einigen Rechtsextremismusforschern mit Blick auf die Friedens- und Ökologiebewegung bestritten, dass Teile der extremen Rechten dabei sind, so etwas wie eine „soziale Bewegung“ zu organisieren. Hierfür werden meist zwei Gründe ins Feld geführt: 1. verfüge die extreme Rechte ja gerade nicht über denselben sozialen Wertehorizont∗ wie die „Neuen Sozialen Bewegungen“ (NSB) der 1970er und 1980er Jahre und 2. erreiche die extreme Rechte gar nicht solche Ausmaße wie die traditionellen NSB. Allerdings ist diese Argumentation wenig überzeugend: In beiden Fällen wird – ohne theoretische Begründung – eine historische Einzelerscheinung zu einem allgemein gültigen theoretischen Modell (Idealtypus) erhoben. Gegen dieses Vorgehen spricht außerdem, dass bereits vor den 1970er Jahren verschiedenste politische Strömungen das Bewegungskonzept aufgegriffen haben: „Dazu gehörte ebenso die sich aus den Anhängern und Mitgliedern von Arbeiterparteien und Gewerkschaften zusammensetzende Arbeiterbewegung, aber auch die sich aus Aktivisten und Mitgliedern von NSDAP und SA zusammensetzende nationalsozialistische Bewegung.“ (PfahlTraughber 1999: 96) Zudem widerspricht die These, die Rechte formiere sich nicht zu einer sozialen Bewegung, eklatant dem Selbstverständnis entscheidender rechtsextremer Kreise. So erklärte bspw. der amtierende NPDBundesvorsitzende VOIGT im Jahre 1999 unmissverständlich, ∗
„Inhaltlich analysiert, handelt es sich um eine unsoziale Bewegung, die sich keineswegs für sozial Benachteiligte einsetzt, Asylsuchende, Haftentlassene, Menschen mit Behinderungen, Obdachlose, Homosexuelle und andere ‚Randgruppen’ vielmehr ausgrenzt, ihnen sozialstaatliche Leistungen vorenthalten und/oder sie durch Zwangsmaßnahmen disziplinieren will.“ (Butterwegge 2000: 31)
dass die NPD „bestrebt ist, Motor einer neuen sozialen Bewegung zu werden.“ (VOIGT 1999a) Auch sei noch einmal an den Begriff der „Nationalen Außerparlamentarischen Opposition (NAPO)“ (VOIGT 2000b) erinnert, mit dem gezielt an das Selbstverständnis der Neuen Sozialen Bewegungen (NSB) der 1970er und 1980er Jahre angeknüpft wird. Es spricht daher viel dafür, den soziologischen Begriff der „Sozialen Bewegung“ eher an strukturellen als an normativen Gesichtspunkten auszurichten.
In Anlehnung an Joachim Raschke (Raschke 1985) können folgende Merkmale als für eine „Soziale Bewegung“ konstitutiv angesehen werden: • das Bewegungsmoment: Soziale Bewegungen sind Formen des politischen Engagements oberhalb des einzelnen Bürgers, aber unterhalb von Parteien und Staat. Durch ihre Mittelstellung weisen sie einen hybriden Charakter auf (Rucht 1994: 80): Sie pendeln sowohl strukturell als auch inhaltlich zwischen Mikro- und Makroebene und müssen beide ständig zum Ausgleich bringen. Sie zeichnen sich dabei durch ein hohes Maß an Mobilität und Aktivität aus, das außerdem kontinuierlich und dauerhaft organisiert wird. Die Strukturen sind im Vergleich zu Organisationen auf der Makroebene (z. B. Parteien) lockerer, die Protestformen variabler. • das Integrationsmoment: Soziale Bewegungen entwickeln zur Herausbildung einer Wir-Gruppe ein hohes Maß an symbolischer Integration. Die Integrationsleistung wird vor allem durch einen ideologischen Minimalkonsens, kodierte Umgangsformen sowie eine entsprechende Alltagskultur und Mode gesichert.
• das soziale Moment: Soziale Bewegungen fungieren sozusagen als Seismographen gesellschaftlicher Spannungsfelder. Sie entstehen meist aufgrund widersprüchlicher bzw. problematischer gesellschaftlicher Entwicklungen und versuchen Schnittstellen mit dem Alltagsbewusstsein der Bevölkerung zu finden. Bernd Wagner spricht in diesem Zusammenhang von „Generatorthemen“ (Wagner 1998: 45). Das Ziel sozialer Bewegungen ist die nachhaltige Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Legt man diese Merkmale zugrunde, scheint man durchaus mit gutem Recht behaupten zu können, dass zumindest Teile der extremen Rechten eine soziale Bewegung zu formieren suchen: • Das „soziale Moment“ wird vor allem durch eine radikale Globalisierungs-, Kapitalismusund Menschenrechtskritik auf gegriffen und befindet sich damit durchaus auf „der Höhe der Zeit“. Es wird gezielt versucht, das politische Hauptthema der letzten und der nächsten Jahre zu besetzen sowie die mit ihm verbundenen Ängste in der Bevölkerung zu schüren und zu instrumentalisieren („Arbeitsplätze zuerst für Deutsche!“, „Soziale Gerechtigkeit nur für Deutsche!“ etc.). • Vor allem stark ausgeprägt ist auch das „Integrationsmoment“, bei dem allerdings kulturelle gegenüber ideologischen Orientierungen überwiegen: Die extreme Rechte hat in den 1990er Jahren einen regelrechten Lifestyle, eine eigene Jugendkultur bestehend aus Mode, Musik (für Hörbeispiele siehe: http:// www.signalonline.de/mp3laden.htm), spezifischen Umgangsformen und Freizeitbeschäftigungen entwickelt, der sich zunehmend auch
in der Alltagskultur der Jugend etabliert: „Das Bild hat sich nicht verändert, aber es wirkt anders, und nur das zählt. Waren bestimmte Frisuren vor zehn Jahren typische Zeichen für einen ‘Fascho’, etwa die ‘Kante’ oder der ‘Scheitel’, so werden jetzt Kinder mit eben dieser Frisur auf den Spielplatz geschickt, weil die Eltern meinen, man müsse sich der allgemeinen Mode anpassen. Der Druck, sich konform zu verhalten und auszustaffieren, ist enorm, insbesondere während der Pubertät, in der die Weichen für die politische Meinung gestellt werden.“ (Schröder 2001: 133) • Und auch das „Bewegungsmoment“ wird von Teilen der extre men Rechten vor allem seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend erfüllt: Aufmärsche und Demonstrationen, Zeltlager und Musik-Konzerte, Saufabende und sonstige Veranstaltungen sind inzwischen zum Dauerprogramm geworden. Gerade in Sachen Mobilisierungsfähigkeit schuf die Rechte in den letzten Jahren außerdem eine neue Qualität: „Bei etlichen Demonstrationen hat es der nationale Widerstand geschafft, ein zahlenmäßig größeres Publikum zu mobilisieren als die Linke. Noch vor 10 Jahren wäre so etwas gleichsam unmöglich gewesen.“ (SCHWAB 1999b) Und auch in den Fällen, in denen die Gegendemonstranten überwiegen, ist das Mobilisierungspotenzial der Rechten klar ersichtlich, erreichen sie doch meist einen deutlich höheren Mobilisierungsgrad als die Vertreter des „demokratischen Sektors“. Hinzu kommt außerdem ein tiefgreifender Umstrukturierungsprozess: Unter dem Stichwort „Organisation durch Desorganisation“ werden zunehmend feste Strukturen vermieden und kleine „suborganisatorische Einheiten“ (FN 1998: 23) bevorzugt, deren Koordination in Zeiten von Internet und Handy ein Kinderspiel ist: Auch und gerade die extreme Rechte tummelt sich in der „Netzwerkgesellschaft“.
Die rechtsextreme Szene gehört zu den Pionieren der Informationstechnologie: Bereits seit Jahren nutzt sie modernste Technik für die politische Arbeit.
Differenzen zwischen Ost und West Es darf nicht übersehen werden, dass Soziale Bewegungen selbst verschiedene Stadien durchlaufen: Zunächst müssen sie sich gründen, anschließend konsolidieren, und schließlich gehen sie entweder in das Stadium der Institutionalisierung oder des Zerfalls über, nämlich genau dann, wenn der „Seismograph“ keine Signale mehr aufnehmen kann, weil sich nach einer gewissen Zeit die gesellschaftlichen Konfliktlinien verschoben haben. Berücksichtigt man diese Faktoren, fallen für die BRD zwei Trennungslinien ganz besonders auf. Erstens zerfällt das rechtsextreme parteipolitische Lager in einen Teil, der sich – wenn überhaupt – vor allem parlamentarisch orientiert und daher nicht der rechten Sozialen Bewegung zugerechnet werden kann (REPs und DVU). Zweitens wird diese Trennungslinie innerhalb des rechtsextremen Lagers von einer geographischen verstärkt: Während es durchaus zu Recht umstritten ist, ob im Westen Deutschlands ernsthaft davon gesprochen werden kann, dass sich dort eine „Rechte Soziale Bewegung“ (RSB) nachweisen lässt, verhält sich dies im Osten deutlich anders: Dort haben wir es in Teilen nicht mehr mit einer rechten Sub-, sondern mit einer Dominanzkultur zu tun und insofern mit der Phase der Konsolidierung. Dies bestätigt bspw. auch einer der Redakteure der NPD-Parteizeitung „Deutsche Stimme“ in seinem neuesten Buch. Als er über die Wirkung von nationalen Demonstrationen in der Öffentlichkeit zu sprechen kommt, bemerkt er: „Der negative Effekt [solcher
Veranstaltungen nach außen, M. B.] besteht darin, daß durch den großen Anteil junger ‘Subkultureller’ (Skins, Glatzenszene) vor allem nationale Wähler mit eher bürgerlichem Habitus abgeschreckt werden. Dies ist jedoch eher ein Phänomen, welches für Westdeutschland Gültigkeit hat, wo die Glatzenszene wirklich eine Randerscheinung darstellt – im Gegensatz zu Mitteldeutschland, wo kahlrasierte Nationale in vielen Gemeinden und Städten aus dem öffentlichen Bild nicht mehr hinwegzudenken sind […]“ (SCHWAB 1999a: 149). Während der Rechtsextremismus im Westen Deutschlands also vorrangig noch immer auf den Parlamentarismus setzt, geht die ernstzunehmende Rechte unter der Führung bzw. Einflussnahme der NPD zu einer Strategie der „kulturellen Subversion“ (Wagner 1998) über. Diese besteht aus mehreren Elementen: 1. sucht die NPD vor allem über ihre Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten“ (JN) gezielt Kontakt zu nicht parteige bundenen Skinhead-Cliquen und autonomen Kameradschaften: „Hiermit verfügt der deutsche Rechtsextremismus erstmals in seiner Nachkriegsgeschichte über ein für Jugendliche attraktives Organisationsangebot.“ (BfVS 2000a: 20). Während die anderen rechtsextremistischen Parteien aus taktischen Gründen meist den Kontakt zu auffälligen Skinheads und Neonazis meiden, weil sie eine Diskreditierung ihrer eigenen Partei in der Öffentlichkeit fürchten, sieht die NPD mit den JN gerade hierin die Chance, sich mit einer bereits bestehenden Jugendprotestkultur zu ver schmelzen. 2. nutzt die NPD dabei gezielt zunächst einen kulturellen Zugang zu den Jugendlichen: Es geht um Lebensstile, Freizeitgestaltung, Musik, Alltagsleben und erst an zweiter Stelle um eine auch über die Kultur transportierte
Weltanschauung: „Der moderne Rechtsextremismus ist deswegen erweitert reproduktionsfähig, weil er eine Kulturbewegung mit der Tendenz zum sozialen Bewegungsmilieu und politischer Implikation und nicht politische Bewegung mit kultureller Implikation ist.“ (Wagner 1998: 50)∗ Gerade dies macht die moderne Form des Rechtsextremismus so gefährlich: Es handelt sich meist eben nicht um eine intellektuelle Verirrung junger, erst noch nach politischer Orientierung suchender Jugendlicher, sondern um das jeweils eigene Selbstverständnis, um Lebensstile, um tiefgreifende identitätsbildende Prozesse. Hinzu kommt, dass diese Jugendlichen in einen sie bestätigenden gesellschaftlichen Kontext eingebunden sind, da „rechts sein“ – zumindest in weiten Teilen des Ostens – zu einem dominanten Lifestyle geworden ist: „Rechtsextremistische Verhaltensweisen und Symbole sind in Bereiche der Jugendkultur eingedrungen und Teil des Alltagsgeschehens geworden.“ (BfVS 1999a: 30) Hier liegt also offenbar eine Synthese zwischen einer sozialen Bewegung und einer Subkultur vor, was in der Bewegungsforschung eigentlich als ausgeschlossen gilt, da soziale Bewegungen auf gesellschaftlichen Wandel abzielen, während Subkulturen eher ein nicht-handlungsorientiertes Nischenphänomen darstellen sollen (Rucht 19f4: 81). 3. probt die extreme Rechte unter Führung der NPD in Ostdeutschland durch Unterwanderung bereits bestehender Institutionen den Angriff auf die Zivilgesellschaft, die ∗
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die heutige rechte Szene lebt also vor allem von ihrer kulturellen Identität, die politische Elemente impliziert. Die NPD nutzt dies als Anknüpfungspunkt für ihre Strategie, verfolgt allerdings die Absicht, das Verhältnis von Politik und Kultur umzukehren und eine politische Bewegung mit einer entsprechenden impliziten Kultur zu formieren.
aufgrund der DDR-Vergangenheit völlig unterentwickelt ist. Man wird sich daher an den Gedanken gewöhnen müssen, dass die Zivilgesellschaft nicht von sich aus der Hort von Demokratie und Freiheit, sondern selbst ein umkämpftes Feld ist und rechtsextreme Organisationen in manchen Gegenden Ostdeutschlands die einzigen funktionierenden zivilgesellschaftlichen Organisationen darstellen: „Für die Zivilgesellschaft gilt, was Kant von der Philosophie gesagt hat: Sie ist ein Kampfplatz. Sie hat alle möglichen Gesichter, ist weder demokratisch noch undemokratisch, weder links noch rechts, sondern ganz einfach – Gesellschaft. […] Der Appell an die Zivilgesellschaft kann also nur bedeuten, die verschlafenen Demokraten aufzuwecken, damit sie den Kampf führen.“ (Haug 2001: 233)
4. Kapitel
Die Strategie des „freien Nationalismus“ Bekanntermaßen kam es zu Beginn der 1990er Jahre im Zuge der Wiedervereinigung zu einer erheblichen Stärkung des rechten Lagers, die sich insbesondere in gewalttätigen Übergriffen geltend machte. Während sich die Anzahl gewalttätiger Gesetzesverletzungen mit rechtsextremistischem Hintergrund im Jahre 1990 offiziell auf „nur“ 306 Fälle belief, nahm die Zahl der Gewalttaten explosionsartig zu und erreichte 1992 ihren Höhepunkt mit offiziell 2.584 Fällen (BMI 1993: 71). Der Staat reagierte vorwiegend mit repressiven Maßnahmen, insbesondere Verboten entscheidender rechtsextremer ∗ Organisationen. Die rechtsextreme Szene änderte daraufhin ihre Strategie: „Die Entwicklung war nach den vielen Organisationsverboten fast zwangsläufig. Das Konzept, immer wieder neue Parteien und Gruppierungen zu gründen, ging nicht mehr auf. Über zehn Jahre konnten wir auf diese Weise unseren Kampf in überregionalen, hierarchisch gegliederten Organisationen führen […] Nun aber müssen wir begreifen, ∗
Allein von 1992 bis 1995 kam es zu Verboten folgender Organisationen (BfVS 2000c: 4): „Nationalistische Front“ (NF), „Deutsche Alternative“ (DA), „Deutscher Kameradschaftsbund“ (DKB), „Nationale Offensive“ (NO), „Nationaler Block“ (NB), „Heimattreue Vereinigung Deutschlands“ (HVD), „Freundeskreis Freiheit für Deutschland“ (FFD), „Wiking Jugend e. V.“ (WJ), „Nationale Liste“ (NL), „Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei“ (FAP), „Direkte Aktion/Mitteldeutschland“.
daß wir in eine neue Ära der Organisation des Kampfes um Deutschland getreten sind.“ (FN 1998: 24) Auch im Zuge der Entwicklung moderner Kommunikationsmedien ging man daher zu einer Strategie der autonomen Einheiten über: „So arbeiten führende Neonazis am Aufbau neuer Organisationsformen und forcieren die Gründung ‘autonomer’ Kameradschaften. Dabei sollen statt fester, vereinsmäßiger Bindungen lose, organisationsunabhängige Strukturen geschaffen werden. Ihr Zusammenhalt und die Koordination bundesweiter Aktionen sollen durch eine ‘informationelle Vernetzung’, also die Nutzung moderner Kommunikationssysteme, gewährleistet sein.“ (BfVS 2000b: 9) Die Grundidee ist dabei, dass Organisationsstrukturen wie die von Parteien für die staatlichen Behörden viel leichter überwachbar und bekämpfbar sind als kleine, variable, über moderne Kommunikationsmittel miteinander vernetzte, regional- und wohnortorientierte Operationszellen. Zu Recht werden die so genannten „freien oder autonomen Kameradschaften“ daher als „Kernstück der Modernisierung des heutigen Rechtsextremismus“ (Wagner 1998: 40) bezeichnet. Hinzu kommt die Einschätzung, dass vor allem nicht-parteiliche Zusammenschlüsse weniger einer schrittweisen Transformation durch Anpassung an das bestehende politische System unterliegen. Eine rechte Partei sei ja gerade zur Aufrechterhaltung ihrer Rechte und ihrer Existenz daran gebunden, sich selbsttätig im systemkonformen Sinne zu disziplinieren, um z. B. Verboten zu entgehen. Neben dieser organisationspolitischen Überlegung führten noch weitere Gründe zur strategischen Neuorientierung der rechten Szene hin zu einem „freien Nationalismus“: • Man verzeichnete wie im Rest der Gesellschaft zunehmend eine Parteienskepsis bzw. Politikverdrossenheit bei den
Jugendlichen: Stattdessen organisieren sie sich „in diesen freien (ungezwungeneren) Organisationsformen“ (FN 1998: 24). • Außerdem glaubt man, mit einer offeneren Organisationsform die Spaltung des rechten Lagers eher überwinden zu können. Für diesen ganzheitlichen Anspruch der freien Nationalisten steht auch der Begriff des „Nationalen Widerstandes“. Damit wird zwar für gewöhnlich die Gesamtheit des nationalen Lagers beschrieben (WORCH 1998). Aber gerade deshalb kommt in ihm ja der Wille zur bisher glücklicherweise fehlenden Geschlossenheit der Rechten zum Ausdruck: „Der Nationale Widerstand (NW) ist deshalb keine Partei oder Organisation im üblichen Sinn. Der nationale Widerstand stellt einen Oberbegriff dar, der die Einigkeit formieren soll und somit die Strukturen für die Zukunft vorzubereiten hat.“ (WBNW) Ein Beispiel einer solchen gemeinsamen, vor allem auf Nord deutschland konzentrierten Kooperation freier Kräfte unter dem Begriff des „nationalen Widerstandes“ findet sich unter http://www. widerstand.com. • Schließlich – und diese Motivation resultiert unmittelbar aus den „Systemzwängen“, denen eine Partei unterliegt – geht es den Freien darum, „die Radikalität innerhalb der Szene zu steigern“ (FN 1998: 25). Sie bezeichnen sich häufig ausdrücklich als „Nationalisten/Sozialisten der jungen Generation“ (ebd.: 24) bzw. „Nationalsozialisten“. Allerdings ist damit meist nicht der „Hitlerismus“, sondern die „linke“ Variante des Nationalsozialismus um Ernst RÖHM und die Gebrüder STRASSER gemeint. Gerade die Tatsache, dass unter dem Begriff „Nationalsozialismus“ meist „Hitlerismus“ verstanden wird, führte den Hamburger Neonazi Christian WORCH z. B. dazu, sich nicht mehr als „Nationalsozialist“ zu bezeichnen: „Es gibt sowohl juristische als auch politische Gründe, die es mir nahe legen, mich heutzutage im Gegensatz
zu jüngeren Jahren nicht mehr als ‘Nationalsozialist’ zu bezeichnen […]. Solange ich mich selbst aber noch als Nationalsozialist bezeichnet habe, habe ich immer Wert darauf gelegt, dies im Sinne des vormals ‘linken’ Flügels des Nationalsozialismus verstanden zu wissen, also im Sinne der Röhm, Strasser (Otto und Gregor) oder auch des frühen Dr. Goebbels, bevor Hitler ihn auf die Seite des ‘rechten’ Flügels zog.“ (WORCH 1998, Brief vom 10.12.1998) Die vorrangige Sympathie der Szene mit dem „linken“ Flügel des Nationalsozialismus belegt auch der Neonazi-Aussteiger Hasselbach (Hasselbach 2001: 58). Wo „Nationalsozialismus“ drauf steht, ist also nicht immer „Hitlerismus“ drin. Interessant ist außerdem, dass die rechte Szene sich in keiner Weise vor dem Eingeständnis geniert, bei ihrer Strategie des „freien Nationalismus“ von der (autonomen) Linken gelernt zu haben.∗ So wird ohne Umschweife klar darauf verwiesen, dass es eine deutliche „Parallele zur autonomen Szene“ (FN 1998: 24) gebe und man von den „Anarchos“ eine Menge gelernt habe (WORCH 2000d). Entsprechende Entwicklungen gehen inzwischen soweit, dass es selbst eine national-anarchistische Diskussionsplattform gibt {http://www.nationale-anarchie.de), auf der bisweilen auch der für die freie Bewegung wichtige Stratege und Organisator Christian WORCH (Hamburg) verkehrt. ∗
Allerdings ist das „Verwischen“ der Lagergrenzen offenbar ein allgemeines Phänomen, da es in verschiedensten Kreisen, nicht zuletzt durch heute ins rechtsextreme Lager gewechselte Alt-68er wie Horst MAHLER, Reinhold OBERLERCHER und Günter MASCHKE sowie die so genannte „Neue Rechte“, zu einer breiten Rezeption linker Autoren wie Karl Marx und Antonio Gramsci kommt, was hier aber nicht ausreichend untersucht werden kann.
Wovon sich dieser Kreis der extremen Rechten bei der Übernahme der Strategien der autonomen Linken aber offiziell ausdrücklich distanziert, das ist die Anwendung von Gewalt: „So wird es mit Sicherheit keine Randaledemos oder sinnlose Zerstörungen am Rande nationaler Demonstrationen geben.“ (FN 1998: 24) Dieses Bekenntnis bedeutet allerdings keinen generellen, sondern einen strategischen Gewaltverzicht im öffentlichen Raum: Es geht darum, rechten Demonstrationen und politischen Kundgebungen gezielt das Saubermannimage zu verpassen. Man kalkuliert geradezu gewaltsame Angriffe von der Linken ein, um sie anschließend in der Presse für sich verwerten zu können: „Auf Demonstrationen des rechtsextremistischen Spektrums, bei denen es häufig zu gewalttätigen Übergriffen – z. B. Stein- und Flaschenwürfe – durch militante Autonome kommt, wird zumeist von entsprechender Gegenwehr abgesehen. Dies erfordert jedoch stets hartes Durchgreifen anwesender ,Kameradschaftsführer’. Grund für eine derartige Zurückhaltung ist neben der Angst vor staatlichen Exekutivmaßnahmen die Hoffnung, durch diszipliniertes Auftreten Sympathien in der Bevölkerung zu wecken.“ (BfVS 2000c: 15) Dass die Gewaltfreiheit nur aus strategischen Gründen für den öffentlichen Raum propagiert wird, lässt sich sehr leicht anhand der so genannten AntiAntifa-Strategie zeigen, die auf die Neonazis Christian WORCH und Michael KÜHNEN zurückgeht: Die Nazi-Szene sammelt seit Anfang der 1990er Jahre gezielt persönliche Daten von Gegnern. Ihre „Gegenmaßnahmen“ reichen bis zum Mord. Ein Beispiel für eine Anti-Antifa-Plattform im Internet findet sich unter: http://www.die-kommenden.net. Der Vorteil der neuen Organisationsform, die sowohl die staatliche Überwachung erschwerte als auch die prinzipielle Mobilisierungsfähigkeit der Szene deutlich erhöhte, paarte sich zu Beginn und Mitte der 1990er Jahre allerdings mit einem
entscheidenden Nachteil, der sich für die NPD auf dem Höhepunkt ihres Abstiegs als günstig erweisen sollte: „Seit Anfang der 1990er Jahre wurde es für die vormaligen Angehörigen inzwischen verbotener Splittergruppen oder für freie Nationalisten immer schwieriger, Demonstrationen durchzuführen; Mitte der 1990er war es so gut wie unmöglich geworden. Ein paar Jahre lang gab es Demonstrationsfreiheit nur für die Inhaber des Parteienprivilegs aus Artikel 21 Grundgesetz.“ (WORCH 2000b) Die NPD nutzte nun die Gunst der Stunde und öffnete sich seit 1996 der subkulturellen und freien rechten Szene. Sie bot sich als rechtliche Plattform zur Organisation von gemeinsamen Demonstrationen und anderen Veranstaltungen an und konnte so innerhalb der rechten, eigentlich parteiskeptischen Jugendszene ihren Ruf deutlich verbessern. Die entscheidende organisatorische Rolle spielte dabei die NPD-Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten“ (JN), deren Einfluss in ihrer Mutterpartei erheblich ist: „Die JN haben sich zu einem Scharnier zwischen der NPD, Neonazis und anderen rechtsextremistischen Gruppierungen entwickelt und profitieren dabei von den Verboten neonazistischer Vereine. Einige Neonazis sind bei den JN inzwischen in führende Funktionen gelangt und verfügen über erheblichen Einfluß […] Aus diesen Positionen wirken sie […] in das nichtorganisierte neonazistische Lager (z. B. in die freien Kameradschaften) hinein und führen der Organisation neue Mitglieder zu.“ (BfVS 1999b: 49) Allerdings waren die Beziehungen zwischen NPD und freien Kräften nie wirklich entspannt: Zwar wurde die NPD grundsätzlich als die wichtigste nationale Partei anerkannt, aber dennoch führte das Ziel der NPD, „den Führungsanspruch im sogenannten ‘nationalen Lager’ […] durchzusetzen“ (VOIGT 2000b), bei den selbstbewussten Führungskräften der freien Nationalisten zu einer gewissen Distanz, da man eine
„Vereinnahmungsstrategie“ (WORCH 2000b) am Werke sah. Interessanterweise führten gerade die NPD-Verbotsanträge zu einer weiteren Distanzierung der freien Nationalisten von der NPD. Und zwar deshalb, weil die NPD im Mai 2000 aus Angst vor dem Verbot umgehend ein parteiinternes Demonstrationsverbot erließ, das seit August 2000 allerdings wieder gelockert ist. Gerade dies wurde in der freien Szene als endgültiger Beleg dafür angesehen, dass die NPD feige und als politische Partei den Systemzwängen unterworfen sei (WORCH 2000b). WORCH sieht inzwischen sogar „die Friedenspflicht gegenüber einem ehemaligen Bündnispartner als beendet“ (WORCH 2000c) an und hält ein Verbot der NPD für einen Vorteil, da so „ein vormaliger Verbündeter und jetziger Konkurrent“ (WORCH 2000a) der freien Szene verschwunden wäre. Allerdings dürfen diese Differenzen auf der Führungsebene nicht darüber hinwegtäuschen, dass die NPD, insbesondere durch die „Jungen Nationaldemokraten“, nach wie vor einen großen Einfluss in der rechten Szene hat.
5. Kapitel
Die NPD und ihre Robin-Hood-Strategie Neben der gezielten Öffnung der NPD für Skinheads und Neonazis leitete die NPD unter der Führung Udo VOIGTS auch eine grundsätzliche strategische Wende in ihrem Auftreten sowie in ihrer grundsätzlichen Orientierung ein. Während die Republikaner, noch mehr aber die DVU kurzfristige Wahlerfolge im Blick haben, will sich die NPD breit und dauerhaft in der Gesellschaft verankern. Erstmals ausführlich dargelegt hat die NPD-Führung ihr neues Konzept in einem Strategiepapier aus dem Jahr 1997, in dem von „drei strategischen Säulen“ des Kampfes die Rede ist: von der „Schlacht um die Köpfe“, der „Schlacht um die Straße“ und der „Schlacht um die Wähler“. Der Erfolg bei Wahlen steht dabei nicht zufällig an letzter Stelle: Er ist nach Auffassung der NPD-Kader erst dann dauerhaft möglich, wenn es der NPD gelungen ist, sich in den Herzen und Köpfen der Bevölkerung zu verankern. Es geht der NPD „nicht um kurzfristige Wahlerfolge, sondern um langfristige, kontinuierliche Aufbauarbeit einer ernstzunehmenden politischen Kraft. Erst wenn wir den von uns eröffneten ‘Kampf um die Straße’ endgültig für uns entschieden haben, kann der ‘Kampf um die Parlamente’ mit der Aussicht geführt werden, keine schnell verschwindenden Proteststimmen zu kanalisieren, sondern eine dauerhafte nationale Kraft im Nachkriegsdeutschland zu etablieren, die dem Anspruch gerecht wird, eine wirkliche Alternative zum liberalkapitalistischen System der BRD zu sein.“ (VOIGT 1999C: 471) Die NPD tritt dennoch bei Wahlen
an, nicht aber in der Überzeugung, bei diesen auch große Erfolge erzielen zu können. Sie dienen vielmehr der Schulung der eigenen Kräfte sowie der Bekanntmachung der Partei.
Das Konzept der „National befreiten Zone“ (NBZ) Im Zentrum der NPD-Strategie zur Erringung einer politischsozialen Basis steht das so genannte Konzept der „befreiten Zone“. Das entsprechende Strategiepapier, das erstmals Anfang der 1990er Jahre in der Nummer 2 der Zeitschrift des „Nationaldemokratischen Hochschulbundes“ (NHB) „Vorderste Front“, veröffentlicht wurde, bildet in der parteiinternen Diskussion noch heute den entscheidenden Dreh- und Angelpunkt aller wesentlichen strategischen Debatten (siehe SCHWAB 1999b, 2000; HUPKA 1999; HIEKISCH 2000; MAYER 2000; FUCHS 2000; DISTLER 1999). Bisweilen wird sogar betont, dass die Schaffung „Befreiter Zonen“ die „vordringliche Aufgabe des gesamten nationalen Widerstandes“ (HUPKA 1999) sein müsse. Dem Konzept liegen mehrere Einsichten zugrunde: 1. Man kann nicht (dauerhaft) parlamentarisch erfolgreich sein, ohne zuvor über eine entsprechende Verankerung in der Gesellschaft zu verfügen: „Ein wirklicher Wahlerfolg […] kann nur Folge einer bereits existierenden starken und kampfkräftigen Basis sein. Eben diese Basis müssen die Befreiten Zonen in mehr oder minder starker Ausprägung darstellen.“ (HUPKA 1999) 2. In der Hauptsache muss es folglich darum gehen, schrittweise und in kleinen Einheiten die Bevölkerung im Lebensalltag mit der nationalistischen Bewegung in Kontakt zu bringen. Dies geschieht allerdings nicht durch martialische
Aufmärsche, die zwar regelmäßig stattfinden, allerdings eher der Konsolidierung der eigenen Binnenstruktur dienen: „Ein wesentlicher Punkt in der Öffentlichkeitsarbeit liegt nicht in den ein bis zwei Demonstrationen im Jahr, welche in der jeweiligen Region stattfinden. Vielmehr ist ein Angebot in der Freizeit- und Kulturgestaltung zu schaffen, welches die Einwohner vor Ort anspricht und dazu animiert, sich mit einzelnen Personen des nationalen Lagers zu identifizieren […]. Deshalb müsste auch der Vereinsarbeit mehr als bisher von nationalistischer Seite Rechnung getragen werden. Hierzu müssen in der Regel nicht neue Vereine von uns gegründet werden, da in diese überwiegend ohnehin nur Nationalisten eintreten werden, sondern das nationalistische Augenmerk ist vielmehr auf bereits bestehende Vereine zu lenken. Das Betätigungsfeld reicht hierbei von der Freiwilligen Feuerwehr über die verschiedensten Sportarten, wobei sich hierbei insbesondere die ‘Volkssportarten’ anbieten, wie Fußball und Boxen; aber auch der Naturschutz, die Jugendarbeit und die lokale Kulturarbeit bieten Felder, auf denen sich Nationalisten mehr als bisher in das Bewußtsein der Bürger einbringen könnten.“ (HIEKISCH 2000) Ganz ähnlich plädiert auch der „Deutsche Stimme“-Redakteur Jürgen SCHWAB für die Erobe rung des „vorpolitischen Raumes“ von Rechts und empfiehlt dabei außerdem die Konzentration auf die Bundeswehr sowie Karnevals- und Faschingsvereine: „Auch die Gewerkschaften und die Betriebsräte von Unternehmen sollten keine Tabus für Sozialrevolutionäre Nationalisten darstellen, wenn es darum geht, ‘deutsche Arbeitsplätze für deutsche Arbeiter’ einzufordern.“ (SCHWAB 2000: 16) 3. Ostdeutschland stellt aufgrund seiner labileren Wirtschaftsund Sozialstruktur günstige Voraussetzungen für die Interventionen der Rechten bereit. Folglich könne das Strategiekonzept „in erster Linie in Mitteldeutschland“ (NHB
1991b) umgesetzt werden, da Ostdeutschland „eine Hauptkrisenregion“ (ebd.) in Europa und damit für rechtsextremes Gedankengut besonders anfällig sei. Hinzu kommt der Umstand, dass schon heute der „rechte Lifestyle“ in manchen Gegenden Ostdeutschlands zu einer dominierenden Alltagskultur geworden ist, an die die NPD gezielt anknüpfen und das Konzept der „Befreiten Zone“ zum Selbstläufer machen will: „Wer […] davon ausgeht, zur Zeit die Übertragung eines fixierten Konzeptpapieres in die alltägliche Praxis mitzuerleben, täuscht sich und macht es sich zu einfach. Vielmehr ist es derzeit umgekehrt so, dass erst durch die gerade für Jugendliche perspektivlose Alltagsrealität des Liberalkapitalismus einer ‘rechten’ Jugendkultur der Boden bereitet wird. Auf der Suche nach Provokationsformen bietet sich heute das stigmatisierte ‘rechts drauf sein’ als einzige effiziente Art des Protestes an, da linke Ansätze bereits konformistisch in den ‘Mainstream’ eingegliedert und etabliert sind.“ (DISTLER 1999) Dies spricht umgekehrt nicht gegen, sondern für das hohe Niveau rechtsextremer Strategie.
Was bedeutet „National Befreite Zone“? Nach eigenen Angaben bedeutet eine „befreite Zone“ zweierlei: Erstens geht es um die „Etablierung einer Gegenmacht. Wir müssen Freiräume schaffen, in denen wir faktisch die Macht ausüben, in denen wir sanktionsfähig sind […] Zweitens bedeutet für uns die Schaffung befreiter Zonen eine Klärung unter allen revolutionären Gruppen.“ (ebd.) D. h.: „extreme Linke“, „NS-Nostalgiker“, „Autonome“ sollen als „staatstragende Wirrköpfe“ (ebd.) entlarvt werden, die den Staat um Hilfe anbetteln werden, sobald die Strategie der „befreiten Zone“ aufzugehen beginnt. „Befreite Zonen sind
aber auch Plätze, wo die Menschen unsere Worte an unseren Taten messen können. Sie sind die Mikrokosmen der Gemeinschaft, die wir für alle anstreben. Befreite Zonen in unserem Sinn sind Bereiche, wo der zentrale Widerspruch unserer Zeit, nämlich der Widerspruch Identität/Entfremdung zugunsten der Identität aufgelöst wird. Es sind Orte der Geborgenheit, des Dazugehörens, der Wärme, der Solidarität. Sie sind Heimat für die Heimatlosen. Befreite Zonen sind sowohl Aufmarsch- als auch Rückzugsgebiete für die Nationalisten Deutschlands.“ (ebd.)
Welche Anknüpfungspunkte gibt es für die NBZ? Die Verwirklichung einer solchen Zone wird nach drei Gesichtspunkten unterschieden, die von den jeweiligen Lebenszusammenhängen aus konzipiert sind: 1. ist die Erringung ökonomischer Unabhängigkeit anvisiert, um von hier aus soziale, kulturelle und politische Vernetzungen vornehmen zu können; 2. geht es um die Erringung der Vorherrschaft in einem Wohngebiet, um die Gesellschaft von hier aus sozial und kulturell dominieren zu können und 3. steht schließlich die Eroberung der „Straße“ als eines politischen Schauplatzes im Vordergrund. Ökonomische Unabhängigkeit Es geht also darum, „von den Einrichtungen des Staates oder vom Staat und seinen Bütteln“ (ebd.) unabhängig zu sein. Dies bedeutet allerdings keinesfalls, dass auf staatliche Gelder generell verzichtet wird, sondern nur dort, wo nicht abgesichert werden kann, dass diese Alimentierung nicht zur Abhängigkeit führt: Denn es ist ja ganz im Gegenteil eine der Strategien der NPD, Jugendclubs zu erobern und die so genannte
„Akzeptierende Jugendarbeit“ für die Ausweitung des eigenen Einflusses unter Jugendlichen auszunutzen, also auch staatliche Gelder und Strukturen. Die Unabhängigkeit gegenüber staatlichen Strukturen soll vor allem so organisiert werden, dass „man sich selbst zum Arbeitgeber macht […]. Errichtung eines unabhängigen Buchladens, wo man auch Bücher und Schriften, Aufkleber und Flugblätter kaufen kann, die man sonst nirgends bekommt […] Oder eine Druckerei, eine Werbeagentur, ein Reiseunternehmen für kleine Geldbeutel […]. Hinzu kommt das Stichwort der Vernetzung. Gleichgesinnte Initiativen, die an verschiedenen Orten bestehen, müssen engen Kontakt halten, voneinander wissen, einander helfen.“ (ebd.) Wohnraum und „Robin-Hood-Strategie“ Der Wohnraum stellt aus zwei Gründen eine strategisch entscheidende Voraussetzung dar: Erstens dient er dem eigenen Schutz vor „Feinden“: „Revolutionäre dürfen nicht über das gesamte Stadtgebiet zerstreut wohnen, sondern sie sollten sich möglichst auf ein Wohnobjekt und einen Straßenzug konzentrieren, um vor Ort sichtbar Macht auszudrücken.“ (ebd.) Die „Macht“, von der die Rede ist, soll aber durchaus nicht der gesamten Bevölkerung gegenüber signalisiert werden, sondern nur gegenüber alternativen, vor allem linken politischen Kräften. Die „normale Bevölkerung“ soll auf völlig andere Weise erreicht werden. Das nationalistisch dominierte Wohngebiet erweist sich daher zweitens als günstige Voraussetzung dafür, um „mit der ansässigen Wohnbevölkerung in intensiven Kontakt zu treten, den Leuten immer und überall zu helfen. Das ist übrigens der fundamentale Unterschied zu gleichartigen Bemühungen [hinsichtlich der Machterringung, M. B.] der Linksextremisten […]. Alten Leuten beim Ausfüllen von Formularen helfen, sie
beim Einkauf unterstützen, man kann Babysitter bei arbeitenden Ehepaaren oder alleinstehenden Müttern spielen, man kann den Garten in Ordnung bringen, die Straßen sauber und durch regelmäßige Nachtpatrouillen sicher halten. Man kann gegen den Zuzug eines Supermarkts, die Vertreibung alteingesessener Mieter durch Miethaie, die Schließung des kleinen Eckladens, den Aufmarsch von Scheinasylanten und anderen Lichtgestalten oder den Bau einer Autobahn durch das Wohnviertel protestieren und agitieren. Man muß so handeln, daß man in einem Meer der Sympathie schwimmt, daß die ‘normalen’ Bewohner für uns ‘die Hand ins Feuer legen’. Dann wird dem Staat jede Form der Unterdrückung nicht nur nichts nützen, sondern das genaue Gegenteil bewirken […]“ (ebd.). Die Rechtsextremisten der NPD sind also weit entfernt davon, dumme und betrunkene Schläger zu sein: Sie haben ganz genau begriffen, dass sie nur dann erfolgreich sein können, wenn sie als nette Leute von nebenan auftreten und im Alltagsleben Kontakt zu den Menschen erhalten. Ein besonders interessantes Beispiel für die unmittelbare Verknüpfung der ersten beiden Ebenen hat in der Strategiediskussion der NPD Steffen HUPKA ausgearbeitet. Er schlägt vor, dass Kameradinnen lieber ein Haus kaufen als hohe Mieten zahlen sollen. Hiermit könnten sie sich einerseits eine eigene materielle Basis und andererseits eigene Wohnund Versammlungsräume schaffen: „Dieses Projekt sollte mindestens folgendes erfüllen: einen Wohnraum für Kameraden […], ein Versammlungsraum für die örtliche Gruppe (optimal für rund 100 Personen). Zur Optimierung des Hausprojektes zählen noch ein Sport- bzw. Kraftraum, eine Kneipe für gesellige Anlässe, eine Werkstatt sowie ein Laden, in dem ‘Szeneklamotten’ verkauft werden.“ (HUPKA 1999)∗ ∗
„Darüber hinaus hat insbesondere im Bereich der Musikszene eine Entwicklung Platz gegriffen, die nicht nur für manche Kameraden die
Von dieser Operationsbasis aus sollen die Kameraden dann die Herzen der Anwohner erobern: „Der nächste Schritt besteht nun darin, die Menschen, die um dieses Objekt herum und in dem Ort wohnen, durch tadelloses Auftreten positiv zu beeinflussen.“ (ebd.) Eroberung der Straße Die „Befreite Zone“ ist dann zum Abschluss gebracht, wenn der öffentliche Raum in einem entscheidenden Ausmaß von den Nationalisten beherrscht wird. Dies bedeutet nicht nur, dass ein Zustand herbeigeführt werden soll, in dem die nationale Szene ungestört in der Öffentlichkeit politisch operieren kann, sondern dass dies anderen politischen Kräften gerade nicht mehr möglich ist: „Aus militanter Sicht befinden wir uns dann in einer befreiten Zone, wenn wir nicht nur ungestört demonstrieren und Info-Stände abhalten können, sondern die Konterrevolutionäre dies genau nicht tun können […]. Es genügen zehn oder zwölf entschlossene Revolutionäre und WIR bestimmen, was aus militanter Sicht in einer Stadt ist und was nicht.“ (ebd.) Die Strategie der NPD erweist sich an dieser Stelle als besonders gefährlich für die bürgerliche Demokratie: Es werden durch die Eroberung des politischen Raumes nicht nur Linke bedroht, sondern generell politische Kräfte, die nicht mit der NPD sympathisieren. Hierzu reicht bereits die militante, permanente Präsenz von Neonazis und Skinheads im öffentlichen Raum aus, die von NPDFunktionären gesteuert werden: „Allein durch die optische Präsenz setzt sich das Machtmonopol auf Straßen und Chance zur Schaffung einer eigenen materiellen Existenzgrundlage als Produzent, Plattenhändler, Vertriebsbetreiber etc. eröffnet hat, sondern auch nationale Gegenkultur in Teilen der Jugend zum bestimmenden Faktor gemacht hat.“ (SCHWAB 1999; siehe auch DISTLER 1999)
öffentlichen Plätzen durch. Die ‘national befreite Zone’ etabliert sich zunächst symbolisch, dann ganz real. Kleidung dokumentiert die politische Absicht, kündigt ein Verhalten an und wird von Gleichaltrigen auch so verstanden.“ (Schröder 2001: 134) Damit wird gezielt das Entstehen politischer Strukturen jenseits der NPD behindert. So ergibt sich langfristig die Gefahr eines politischen Vakuums, das die NPD ausfüllen will. Die „befreite Zone“ darf übrigens nicht mit einer „no-go-area“ verwechselt werden. Eine „no-go-area“ ist ein Gebiet, das von Rechtsextremisten ausschließlich durch öffentlich dargestellte Gewalt beherrscht wird. Die „befreite Zone“ hingegen beinhaltet vor allem den Versuch, von der „normalen Bevölkerung“ aktive Zustimmung zu erlangen (Hegemoniefähigkeit). Von „Kritikern“ der rechten Szene wird immer wieder darauf hingewiesen, dass es in keiner einzigen Stadt Ostdeutschlands bisher gelungen sei, den gesamten öffentlichen Raum zu beherrschen – mit anderen Worten: Nirgendwo sei bisher eine „befreite Zone“ in Reinform umgesetzt. Diese Bemerkung, mit der man die momentane Situation offenbar entdramatisieren will, gleicht allerdings eher dem Versuch, pfeifend durch den Wald zu laufen, um sich zu beweisen, dass man eigentlich keine Angst hat: Bei der Umsetzung derartiger Strategien geht es nie darum, ein Konzept in „Reinform“ umzusetzen. Politische Strategien dürfen nicht mit technischen Konstruktionsplänen verwechselt werden. Das hat die rechte Szene selbst am besten begriffen: „Seit der Vorstellung des Konzepts der ‘befreiten Zone’ ist zunehmend versucht worden, Grundgedanken der Theorie in die Tat umzusetzen. Zweifellos ist dies nicht so verlaufen, wie es das Thesenpapier selbst in seiner idealtypischen [!!!, M. B.] Fassung aufgezeigt hatte, aber immerhin haben sich in so manchen Regionen vor allem Mitteldeutschlands örtliche nationale Jugendszenen gebildet,
deren Bedeutung innerhalb der Jugendkultur und damit im Hinblick auf das Umfeld, in dem junge Menschen sozialisiert werden, jene der etablierten Jugendkulturen übertraf.“ (SCHWAB 1999b) Und genau dies ist der einzig entscheidende Punkt.
„Der Kampf wird härter“ Für die konkrete Organisierung der kulturellen Vorherrschaft durch rechtsextreme NPD-Kader gibt es eine entsprechende nützliche Handreichung unter dem Titel „Der Kampf wird härter“ (JN 1997), in der Verhaltensregeln und Einstellungen zu den Themen Wirtschaft, Kultur, Sport, Gesundheit, Familie, Umwelt und Politik vermittelt werden. So wird zu ökologischer Lebensweise aufgerufen, zum Verzicht auf Alkohol und Zigaretten, zur Pflege deutschen Brauchtums und zur Überwindung der Skinheadkultur: „Bedenkt, dass man mit einer Glatze nur der sensationsgierigen Presse ausgeliefert ist und bei der Bevölkerung, die es ja zu gewinnen gilt, abschreckend wirkt […]. So schön auch Uniformen aussehen mögen: Legt Uniformfetischismus ab! […] Soldatentum ist keine äußere Darstellung, sondern eine innere Haltung.“ (ebd.) Dieser „nationalistische Knigge“ richtet sich dabei offensichtlich in jene Kreise der rechten Szene, die bereits einen gewissen Fortschritt in der Politisierung hinter sich gebracht haben. Denn es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Rechtsextremismus insbesondere im Osten Deutschlands in erster Linie ein Kulturphänomen darstellt, das gewisse politische Elemente impliziert. Die NPD hat nun über den Kontakt mit den freien Kameradschaften und der Skinheadszene Zugang zu dieser Kulturszene gefunden. Da es die NPD aber gerade darauf abgesehen hat, die Köpfe und
Herzen der „normalen Bevölkerung“ zu erobern, muss sie zwei Transformationen durchsetzen: Sie ist einerseits darauf angewiesen, das Verhältnis von Politik und Kultur umzukehren. Sie muss aus einer rechten Kulturszene, die ein gewisses Maß an Politik impliziert, eine politische Szene machen, die ein gewisses Maß an rechter Kultur beinhaltet. Und sie muss andererseits gleichzeitig den Versuch unternehmen, in der rechten Szene eine „zivilisierte“ rechte Kultur durchzusetzen, die in der Bevölkerung anschlussfähig ist und nicht abschreckend wirkt. Diese Handreichungen sind ehrgeizig und haben die Verhinderung der multikulturellen Gesellschaft zum Ziel. Gerade in dieser Frage fallen natürlich Anspruch und Wirklichkeit bei den NPD-Nazis deutlich auseinander. Die Abgrenzung gegenüber der rechten Skinhead-Kultur ist deutlich gewollt, gelingt aber in der Praxis nur in Einzelfällen. Das ist aber den Autoren des Papiers durchaus bewusst gewesen, bezeichnen sie doch gerade diese Stellen in ihrer Handlungsanleitung als „die Punkte, die man am schwersten befolgen kann.“ (ebd.: 14) Dennoch zeigt diese Orientierung, dass es der NPD gerade nicht um die Verallgemeinerung der Skinhead-Kultur geht, sondern um die Eroberung der „normalen Gesellschaft“: „Natürlich müssen wir unserer Jugend beibringen, dass Begriffe aus der englischen Sprache und die Kleidung der alliierten Feinde Deutschlands (Bomberjacken und Rangerstiefel) sich nicht mit dem Geist vereinbaren lassen, der hinter unserem Motto steht: ‘ich bin stolz, ein Deutscher zu sein!’ (VOIGT 1999C: 471)
Hier treten allerdings zwei strategische Orientierungen der NPD deutlich miteinander in Konflikt: Gerade in den letzten Jahren gelang es ihr, als Nazi-Sammelbecken zu fungieren. Regionale Skinhead- und freie Szenen wurden vor allem über kulturelle Zugänge für die NPD gewonnen oder an sie herangeführt. Nun macht sich die NPD vermehrt daran, diese gewonnenen Szenen kulturell zu transformieren und zunehmend zu politisieren, da ihr durchaus klar ist, dass sie mit trunkenen Glatzköpfen die Bevölkerung nicht erreichen kann. Und an dieser Stelle ergeben sich enorme Probleme: Schließlich lebt die rechte Kulturszene gerade von ihrer kulturellen Identität. Die NPD dürfte also bei dieser kulturellen und politischen Transformation auf enorme Schwierigkeiten stoßen: Das Aufbrechen der Skinhead-Kultur ist immer mit der Gefahr verbunden, damit auch die personelle Basis zu verlieren, die sich gerade über diese Skinhead-Kultur gebildet hat. Allerdings hat dies auch die NPD bemerkt: „Die Sicherung der Existenz von ‘Befreiten Zonen’ hängt […] entscheidend von der Verankerung der nationalistischen Strukturen im Volk ab. Grundsätzlich aber scheint die Erfolgschance, durch rechte Kultur systemverändernd zu wirken, langfristig nur dann gegeben, wenn der kulturelle Aspekt durch eine politische Ebene abgestützt, kanalisiert und ausgerichtet wird.“ (DISTLER 1999) Diese deutliche Schwachstelle könnte auch ein Ansatzpunkt für eine Gegenstrategie sein.
6. Kapitel
Die Ideologie der NPD – Der deutsche Sozialismus Rechtsextremismus ist nicht gleich Rechtsextremismus. Die unterschiedlichen Bewusstseinsphänomene bzw. Ideologiekomplexe sind starken historischen Schwankungen unterworfen: Dies ergibt sich allein schon daraus, dass auch rechte Ideologien in konkreten politischen Verhältnissen operieren müssen. Sie sind daher, wenn sie sich nicht die Möglichkeit des Erfolges verbauen wollen, gezwungen, Anschluss in den zeitbezogenen Debatten zu finden und die eigenen Ideologien entsprechend umzubauen.
Die Alte Rechte Die Ideologie des Nationalsozialismus∗ Der traditionelle Rechtsextremismus, der ziemlich genau bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs reicht, könnte auch der „Rechtsextremismus des Kolonial-Zeitalters“ genannt werden. Bestimmend waren für ihn (biologisch motivierte) abwertende Konstrukte, die auf die zu kolonisierenden Völker übertragen wurden und sie als minderwertig erscheinen ließen. Die ∗
Ich konzentriere mich hier auf die letztlich historisch entscheidende Fassung des Nationalsozialismus, wie sie von Adolf HITLER vertreten wurde und auch unser Bewusstsein vom Phänomen „Nationalsozialismus“ bestimmt. Debatten innerhalb des Nationalsozialismus z. B. um den „linken“ Ausleger um RÖHM und die Gebrüder STRASSER, die die soziale gegenüber der Rassen-Frage stärker betonten, bleiben hier unberücksichtigt.
Dominanz des Biologischen ist daran ersichtlich, dass auch die Juden, die ja zunächst nichts anderes als eine Religionsgemeinschaft bilden, zu einer (biologischen) Rasse definiert und mittels „rassenkundlerischer Analysen“ untersucht (vermessen, kategorisiert etc.) wurden (Balibar 1998a: 32). Dieses Bedürfnis nach Rückgriff auf die Biologie als Naturwissenschaft, der Versuch des „wissenschaftlichen“ Nachweises der Rassendifferenz und -hierarchie dürfte nicht zuletzt mit dem allgemein optimistischen Erwartungsbild der Menschen gegenüber den Naturwissenschaften, ihrer positivistischen Grundausrichtung seit dem 19. Jahrhundert sowie der Krise der Geisteswissenschaften zu tun haben. Hinzu kam in Deutschland die Tatsache, dass insbesondere der Antisemitismus, der als politischer Kern der nationalsozialistischen Ideologie angesehen werden kann, auf eine lange Geschichte zurückblicken konnte: „Die nationalsozialistische Version stellte lediglich eine akzentuierte, verstärkte und weiterentwickelte Form des bereits weithin akzeptierten Grundmodells dar.“ (Goldhagen 1996: 50) Die Neuerung, die durch HITLER und die NSDAP eingeführt wurde, bestand daher nicht in der gesellschaftlichen Popularisierung des Antisemitismus, sondern in der Erhebung eines bereits vorhandenen gesellschaftlichen Antisemitismus zu einer Staatsdoktrin und staatstragenden Politik. Als typische Merkmale einer (traditionell) nazistischen Ideologie können folgende sechs Komplexe betrachtet werden, die auf spezifische Weise miteinander verknüpft sind: Natürlichkeits-Fetisch und „Reinheitsgebot“: Der Nationalsozialismus basiert auf zwei entscheidenden, allerdings in ihrer letztlichen Fassung unbegründeten Grundprämissen. Zunächst wird die „Natur“ als Gesetzgeber für den Menschen vorausgesetzt: Was „natürlich“ ist, ist gut.
Die „ewigen“ Gesetze der Natur zu befolgen, ist daher vernünftig. Zuwiderhandlungen werden von der Natur bestraft: „Die Natur rächt unerbittlich die Übertretung ihrer Gebote.“ (HITLER 1934: 70). Hinzu kommt die Forderung nach Reinheit der eigenen „Rasse“, die als Bestandteil dieser „natürlichen“ Ordnung interpretiert wird. Sozialdarwinismus: Der Natürlichkeitsfetisch ist die unmittelbare Voraussetzung für den Sozialdarwinismus. Denn ohne die Annahme, dass die Natur den Menschen ihr Leben quasi diktiere, wäre er nicht möglich. Demnach streiten in der Natur die Lebewesen um Lebensraum und Nahrung. Dieser „Kampf ums Dasein“ wird auf Leben und Tod geführt. Dieser „natürliche Kampf“ gilt auch für die Menschheit. Der stärkere Mensch ist deshalb der bessere Mensch. Er hat aufgrund seiner Stärke das Recht, die „minderwertigen“, also die „schwächeren“ Menschen zu unterdrücken und gegebenenfalls zu liquidieren. Biologischer Rassismus und Nationalismus: Die Menschheit besteht aus Rassen, die sich aufgrund biologischer Merkmale qualitativ voneinander unterscheiden: Die edelste ist die nordische Rasse, an deren Spitze die arische steht. Sie ist den anderen Rassen an körperlicher Stärke, Schönheit und Geist überlegen. Die „minderwertigen Rassen“ bedrohen die „Reinheit“ der „arischen“. Sie müssen daher von der „arischen“ ferngehalten oder vernichtet werden. Der biologische Rassismus erweist sich damit als eine politische Konkretisierung des Sozialdarwinismus unter ausdrücklicher Berufung auf das „Reinheitsgebot“. Der biologische Rassismus fällt außerdem mit der nationalsozialistischen Variante des Nationalismus zusammen: Die Nation bzw. die „Volksgemeinschaft“ wird durch ihre
rassische Identität begründet. Aus dieser Auffassung ergibt sich zwingend sowohl die Beseitigung „Nicht-Deutscher“ als auch die Herbeiführung der Übereinstimmung von arischer Rasse und geographischem Territorium. Antisemitismus: Der Gipfelpunkt des nationalsozialistischen Rassismus ist der Antisemitismus. Insofern könnte darüber gestritten werden, ob ein eigener Bewusstseinskomplex „Antisemitismus“ zur Kennzeichnung der NS-Ideologie nötig ist. Aufgrund der enormen ideologischen Bindungskraft des Antisemitismus für den Nazismus scheint es aber angebracht, ihn – auch wenn er „nur“ die äußerste Zuspitzung des Rassismus ist – gesondert aufzuführen. Das Judentum wird als der Inbegriff des Bösen zum zersetzenden Moment der Menschheit stilisiert, das es besonders auf die Zerstörung der arischen Rasse abgesehen habe. Die Gefährlichkeit des Judentums wird dabei gerade nicht – wie z. B. bei den Slawen – durch seine rassische Degeneration, sondern umgekehrt durch seine rassische Reinheit erklärt; das Judentum wird zur Gegenrasse: „Zunächst ist das Judentum unbedingt Rasse und nicht Religionsgemeinschaft […]. Durch tausendjährige Inzucht […] hat der Jude im allgemeinen seine Rasse und ihre Eigenarten schärfer bewahrt als zahlreiche der Völker, unter denen er lebt […]. Der Wert des einzelnen wird nicht mehr bestimmt durch seinen Charakter, der Bedeutung seiner Leistungen für die Gesamtheit, sondern ausschließlich durch die Größe seines Vermögens, durch sein Geld […]. Sein Wirken wird in seinen Folgen zur Rassentuberkulose der Völker […]. Der Antisemitismus der Vernunft […] wird seinen letzten Ausdruck finden in der Form von Pogromen […]. Sein letztes Ziel aber muß unverrückbar die Entfernung der Juden sein.“ (HITLER 1988: 321f)
Die enorme Bedeutung erlangte der Antisemitismus im Nationalsozialismus durch zwei Umstände. Politisch, indem er zur Staatsdoktrin erhoben wurde: „Er trat gewissermaßen in den Dienst des Staates […]. Antijüdische Hassgefühle und Sehnsüchte, die von den Regierungen zuvor auf den zivilen, nichtstaatlichen Bereich begrenzt wurden, erhoben die Nationalsozialisten zu Leitprinzipien der staatlichen Politik“ (Goldhagen 1996: 118) – und moralisch, indem der Antisemitismus zum konstitutiven Bestandteil der sittlichen Ordnung nach dem Muster der „Politik als Feindsetzung“ wurde: „Die Begriffe und Vorstellungen, mit denen die Antisemiten Juden belegten, waren mit der moralischen Weltordnung verknüpft. Das hatte tiefgreifende Konsequenzen. Juden mit dem Bösen gleichzusetzen […] bedeutete, sie zu dämonisieren und sie in dieser Gestalt sprachlich, metaphorisch und symbolisch in das Leben der Antisemiten zu integrieren. Juden wurden also nicht einfach nach moralischen Prinzipien und Normen einer Kultur bewertet; sie wurden vielmehr zu einem konstituierenden Faktor der sittlichen Ordnung und der kognitiven Bausteine von Gesellschaft und Moral, die, um kohärent zu bleiben, schließlich den Antisemitismus benötigten.“ (ebd.: 57) Führerprinzip/Autoritarismus: Der Autoritarismus ist ein konsequentes Ergebnis des Sozialdarwinismus als Ordnungsprinzip des Inneren einer „Rasse“/Nation: Die gesamte Gesellschaft soll nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam durchgestaltet werden. Die Ungleichheit der Angehörigen ein und derselben „Rasse“ in Verbindung mit dem Sozialdarwinismus führt zu einer hierarchischen Gliederung der Gesellschaft – mit dem „Stärksten“ der „Rasse“ an der Spitze: „Die letzte Konsequenz der Anerkennung der Bedeutung des Blutes […] ist aber die Übertragung dieser
Einschätzung auf die einzelne Person. So wie ich im allgemeinen die Völker auf Grund ihrer rassischen Zugehörigkeit verschieden bewerten muss, so auch die einzelnen Menschen innerhalb einer Volksgemeinschaft […].“ (HITLER 1934: 492) Hinzu kommt der „theologischmessianische“ Gestus des Nationalsozialismus, der das Bedürfnis nach einem „Erlöser“ impliziert. Die politische Bedeutung des Führer-Mythos, der häufig sogar Missstimmungen der Bevölkerung gegenüber den Mitgliedern der NSDAP wirksam kompensierte und folglich eine für das NS-System einzigartige stabilisierende Funktion übernahm, hat Ian Kershaw herausgearbeitet (Kershaw 1999). Militarismus: Der Militarismus ist die Verwirklichung des Autoritarismus – und damit auch des Sozialdarwinismus – innerhalb einer Gesellschaft durch militärische Organisation: Die Anerkennung eines „Führers“ setzt eine hierarchisch gegliederte, geordnete und wehrhafte Masse ebenso voraus wie die Unterstellung eines gefährlichen Feindes (Judentum und Marxismus). Der Militarismus übernimmt damit innen- und außenpolitische Funktionen: Er konserviert und stärkt die „natürliche“ Gliederung des „Volkskörpers“ und stellt so die Voraussetzung für Stärke nach außen bereit. Imperialismus: Der Militarismus stellt damit unmittelbar die Basis für den völkischen Imperialismus dar, der wiederum in enger Beziehung zum Sozialdarwinismus steht: Die höherwertige arische Rasse hat das Recht, die Gebiete minderwertiger Rassen zu erobern und letztere zu unterdrücken. Hierzu ist allerdings militärische Wehrhaftigkeit unerlässlich. Der völkische Imperialismus erfüllt damit drei Funktionen: 1. ist er ein Mittel zur Herbeiführung der Identität von „Rasse“ und Nation. In erster Linie ist damit die
Eroberung „deutscher“ Gebiete angesprochen. Aber die Wirren während des Zweiten Weltkrieges wurden bekanntermaßen auch gezielt zur Liquidierung „Nicht-Deutscher“ genutzt – ^insbesondere der Juden, 2. dient er als Eroberungskrieg der Bereitstellung von Rohstoffquellen, Lebensmitteln sowie Siedlungsgebieten – insbesondere von „Lebensraum im Osten“ und 3. wird er als Mittel zur Abwehr von Feinden durch „Präventivschläge“ angesehen – insbesondere gegenüber der Sowjetunion, die Nazi-Deutschland als Weltzentrum von Marxismus und Judentum galt. Wer die historisch entscheidende Variante des Nationalsozialismus nüchtern analysiert, muss im Gegensatz zu häufig formulierten Urteilen zu dem Ergebnis kommen, dass hier sehr wohl ein Weltbild mit einem gewissen Maß an Kohärenz vorliegt. Es lässt sich eindeutig unterscheiden zwischen Basisprämissen und aus ihnen abgeleiteten Politikprojekten, die sich im Bereich der „Hülle“ abspielen. Die These, der Hitlerismus sei ideologisch konfus, ein völlig beliebig zusammen gestückeltes Denkgebäude mag daher zwar psychologisch dem Antirassisten schmeicheln und für ihn bequem sein, in Übereinstimmung mit der Realität befindet sie sich allerdings nicht. Es kommt daher darauf an, das Problem der Kohärenz einer Theorie von der Frage zu trennen, ob sie wahr oder falsch sei. Die Tatsache, dass man aus Prämissen logisch korrekte Schlussfolgerungen ziehen kann, bedeutet noch längst nicht, dass die Prämissen auch wahr sind.
Die Neue Rechte Die Ideologie des Ethnopluralismus Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Ideologie des Nationalsozialismus sowohl politisch als auch wissenschaftlich diskreditiert. Immer weniger Ewiggestrige beriefen sich nach wie vor in der Öffentlichkeit auf den Nationalsozialismus und verfolgten die so genannte Strategie des „Revisionismus“. Hierunter wird der Versuch verstanden, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu leugnen bzw. zu relativieren und so die angeblich entstellende und die Fakten verzerrende offizielle Geschichtsschreibung zurückzuweisen. Im Laufe der Zeit veränderten aber auch die rechten Kreise unter dem Druck der gesellschaftlichen Verhältnisse ihre Ideologie. Zwar ist der „Revisionismus“ auch heute nicht völlig verschwunden, spielt in den modernen rechtsextremistischen Ideologien aber häufig keine (bedeutende) Rolle mehr. Einen entscheidenden Einschnitt in dieser Hinsicht stellt die Gründung der so genannten „Neuen Kultur“ (Nouvelle Culture), „Neuen Schule“ (Nouvelle Ecole) oder „Neuen Rechten“ (Nouvelle Droite) gegen Ende der 1960er unter dem Chefideologen Alain de BENOIST in Frankreich dar. BENOIST und seine Anhänger bauten innerhalb kürzester Zeit zunächst nationale, später aber auch internationale intellektuelle Zirkel, Zeitschriften und Verlagsprogramme auf. Nicht nur Deutschland, sondern auch Südamerika und viele andere Länder sind dabei erklärtes Zielgebiet der „Neuen Rechten“. Während die Alte Rechte sich also davor scheute, über die eigenen Ländergrenzen hinweg Kooperationen einzugehen, bastelt die „Neue Rechte“ an so etwas wie einer ideologischen Internationale. Dieser internationalistische Gesinnungswandel ist dabei keinesfalls Zufall, sondern selbst Ergebnis
entscheidender ideologischer Brüche gegenüber der so genannten „Alten Rechten“. Die Ideologie der „Neuen Rechten“ ist der Versuch, eine rechte Ideologie für ein modernes Zeitalter in bewusster Abgrenzung zum i Nationalsozialismus zu konzipieren: Es geht darum, auch nach dem Nationalsozialismus eine rechte Denkweise zu etablieren, die modern, im Alltagsdenken anschlussfähig und nicht mit dem Makel des Nationalsozialismus behaftet ist. Die Ideologie der „Neuen Rechten“ unterscheidet sich von der hitleristischen Variante des Nationalsozialismus in mehreren Punkten entscheidend:∗ Kulturalistischer/differenzialistischer Rassismus: Vom biologistischen Rassismus wird ausdrücklich Abstand genommen: „Rassismus ist eine Ideologie, die entweder behauptet, dass es zwischen den Rassen solche qualitativen Ungleichheiten gebe, dass man zwischen ‘höheren’ und ‘minderwertigen’ Rassen unterscheiden könne, oder dass der Wert eines Menschen sich vollständig aus seiner rassischen Zugehörigkeit ableite, oder dass der rassische Faktor den erklärenden Hauptfaktor für die Geschichte der Menschheit bilde. Diese drei Behauptungen sind falsch.“ (BENOIST 1999: 107) An die Stelle des biologischen Rassismus rücken vorwiegend kulturell orientierte Ausschlussund Abgrenzungsverfahren. Ethnische Gruppen sind demnach nicht durch die Zugehörigkeit zu einer biologischen Rasse, sondern durch die Zugehörigkeit zu einer Kultur bzw. zu einem ∗
Mir sind die Differenzen, insbesondere die zwischen der französischen und der deutschen „Neuen Rechten“ bewusst, allerdings können hier nur die wichtigsten Brüche idealtypisch gegenüber der NS-ldeologie skizziert werden. Meine Interpretation der Schriften BENOISTS weicht dabei teilweise stark vom Standard ab (siehe z. B. Pfahl-Traughber 1998: 139ff).
Kulturkreis identitär geprägt: „Ideologisch gehört der gegenwärtige Rassismus, der sich bei uns um den Komplex der Immigration herum ausgebildet hat, in den Zusammenhang eines ‘Rassismus ohne Rassen’ […], eines Rassismus, dessen vorherrschendes Thema nicht mehr die biologische Vererbung, sondern die Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen ist […]“ (Balibar 1998: 28).∗ Dieser Neorassismus versucht dabei allerdings, die Argumentationskraft der biologischen „Naturgesetze“ zu erhalten, indem er die Kultur zu einer Quasi-Natur stilisiert. Daher wird hin und wieder in diesem Zusammenhang auch von einem Neo-Biologismus gesprochen. Man sollte aber besser vom Vorgang der „Substanzialisierung“ sprechen, der für jede Form von Rassismus eine notwendige Voraussetzung darstellt: Auch beim biologistischen Rassismus ist daher das Entscheidende nicht, dass anhand biologischer Merkmale ausgegrenzt wird. Vielmehr steht im Zentrum einer jedweden rassistischen Konstruktion die Absicht der radikalen Ausgrenzung. Diese ist immer auf vermeintlich eindeutige Merkmale und damit auf die „Substanzialisierung“ angewiesen. Als zweitrangig hingegen erweist sich das jeweilige inhaltliche Merkmal, das zum Kriterium der Ausgrenzung erhoben wird: im Nationalsozialismus die Biologie und heute vorwiegend die Kultur. Die Rede vom „Neo-Biologismus“ verwechselt daher das Wesen des Rassismus mit seinem historischen „Beiwerk“ bzw. seiner ∗
Präzise betrachtet ist damit der Antisemitismus des Nationalsozialismus der „Prototyp“ (Taguieff 1998: 246) des kulturalistischen bzw. differenzialistischen Rassismus. Allerdings sahen sich die Nazis in ihrem Weltbild genötigt, dieses „Kulturphänomen“ zu biologisieren – durch Schädelvermessungen, den Kult des „jüdischen“ Blutes, die „Hakennase“ etc. etc. Die Rassentheorie der Nazis definiert sich also durch die Dominanz des Biologischen, nicht durch die (vollständige) Abwesenheit von Kulturalismen.
konkreten historischen Gestalt. In den Metaphern von Hülle und Kern: In den Kern rechtsextremistischer Ideologien können Momente der Hülle als Ausschlusskriterien integriert werden. Präzise betrachtet müsste man daher sogar einen „Kern des Kerns“ annehmen. Kultur- und Werterelativismus: Außerdem wird, jedenfalls in der offiziellen Propaganda, jedwede Hierarchie zwischen den Völkern und Kulturen oder gar eine Überlegenheit der Deutschen (oder Franzosen etc.) gegenüber anderen Völkern bestritten. Der Sozialdarwinismus wird durch den KulturRelativismus ersetzt. Dennoch bestreitet dies BENOIST übrigens immer wieder: „Die Grundkategorien der Ethik sind allgemeingültig. Überall auf der Welt ist die Unterscheidung von edel und niederträchtig, gut und böse, gut und schlecht, bewundernswert und verachtenswert, gerecht und ungerecht, ehrenwert und entwürdigend anzutreffen. Dagegen ist die Bezeichnung der Handlungen, die in jede dieser Kategorien fallen, je nach Epochen und Gesellschaften unterschiedlich.“ (BENOIST 1999: 31f) Mit anderen Worten: Die Verbindlichkeit kommt nicht dem Inhalt der Moralauffassungen zu, sondern den bloßen Worten. Allerdings ist genau das eine relativistische Position, weil der Inhalt der Moral dann beliebig ist. Folgerichtig stellen in dieser Ideologie auch die Menschenrechte ein Übel dar, weil mit ihnen gerade die Festlegung einer für alle Menschen verbindlichen moralischen Grundlage beansprucht wird. Im Gegensatz hierzu wird bei der „Neuen Rechten“ die Verschiedenheit als solche ohne verbindliche moralische Grundlage zum „Wert an sich“ stilisiert: „Ich bin der Ansicht, dass die kulturellen Unterschiede, die Vielfalt der Völker und der Kulturen den eigentlichen Reichtum der Menschheit ausmachen.“ (BENOIST 1999: 9) Diese Behauptung ist deshalb äußerst geschickt, weil
sich diese Argumentationen auch häufig unter traditionellen „Antirassisten“ finden lassen, weil sie glauben, so könne der Rassismus effektiv zurückgewiesen werden: Demnach seien alle Menschen und Kulturen zwar verschieden, aber dennoch gleichwertig. Diese Auffassung ist aber gefährlich und falsch: Denn damit müsste behauptet werden, dass die Zeit zwischen 1933-1945 zivilisatorisch der Bundesrepublik nach 1945 prinzipiell gleichwertig, aber eben einfach anders sei. Wenn man hingegen nachhaltig behaupten will, dass Adolf HITLER und Albert Schweitzer als Menschen nicht gleichviel wert gewesen sind, was mir zwingend geboten und vernünftig erscheint, muss man die relativistische und politisch gefährliche These von der grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller Menschen und Kulturen zurückweisen. Allerdings kommt es dann darauf an, stichhaltige Kriterien zu formulieren, mit deren Hilfe dann aus gutem Grund ein berechtigter WertUnterschied zwischen Menschen und „Kulturen“ festgelegt werden kann. Der traditionelle Antirassismus irrt sich also, wenn er den Rassismus des Nationalsozialismus dadurch zurückzuweisen versucht, dass er im Gegenzug die grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Menschen postuliert. Denn der Nationalsozialist behauptet zweierlei: Erstens, dass es Wertunterschiede zwischen Menschen und Kulturen gibt und zweitens, dass diese durch biologische Tatsachen bestimmt sind. Der traditionelle Antirassist stürzt sich nun kritisch (hauptsächlich) auf den ersten Bestandteil der Argumentation und nicht auf den zweiten: Und gerade darin besteht sein Fehler. Denn auch vom Standpunkt der Menschenrechte aus machen wir Unterschiede zwischen Menschen und Kulturen und müssen dies auch tun: Ansonsten wären wir gezwungen anzuerkennen, dass Auschwitz den heutigen westlichen Demokratien zivilisatorisch „gleichwertig“ sei. Nicht also die
Überzeugung, dass es zwischen Menschen und Kulturen Wertigkeitsunterschiede geben kann (!), sondern das Kriterium, an dem wir dies messen und wie wir gegebenenfalls damit umgehen, muss der Gegenstand unserer Debatte sein.∗ Ethnopluralismus: Der Ethnopluralismus ist die Anwendung des Kultur- bzw. Werterelativismus auf die Außenpolitik. Wer die Gleichwertigkeit der Kulturen postuliert, hat auch keine Rechtfertigung und keinen Grund mehr für den traditionellen Eroberungsimperialismus der Nationalsozialisten. Da Nation und Kultur außerdem weitgehend zusammenfallen, spielt die Eroberung fremder Gebiete normalerweise in der Ideologie der „Neuen Rechten“ keine Rolle mehr. Es geht angeblich nicht um Unterwerfung, sondern um die „friedliche Koexistenz“ der Völker und Kulturen: „Die Behauptung des Rechts auf Verschiedenheit ist die einzige Möglichkeit, einem doppelten Irrtum zu entgehen: dem links verbreiteten Irrtum zu glauben, daß man die ‘menschliche Brüderlichkeit’ auf den Trümmern der Unterschiede, der Zerstörung der Kulturen und der Vereinheitlichung der Gemeinschaften verwirklichen wird; und dem rechts verbreiteten Irrtum zu glauben, dass die ‘Wiedergeburt der Nation’ nur dann erfolgen wird, wenn ihren ∗
Diese philosophische Begründungsarbeit kann hier leider nicht geleistet werden. Daher sei mir noch ein weiterer Hinweis gestattet. Auch der Begriff der „wehrhaften Demokratie“ setzt die Bereitschaft zu begründeter Diskriminierung voraus. Bekanntermaßen war es der Grundfehler der Weimarer Republik, sowohl diejenigen, die sie fördern, als auch diejenigen, die sie beseitigen wollten, weitgehend gleich zu behandeln. Im Grundgesetz ist daher der Grundsatz verankert, dass die Feinde der Verfassung und damit der Grund- und Menschenrechte nicht grundsätzlich und immer denjenigen gleichgestellt sein dürfen, die sich um ihre Förderung bemühen. Deshalb gibt es heute den Verfassungsschutz, die Möglichkeit zum Verbot politischer Parteien oder zur Aberkennung bestimmter Grundrechte.
Mitgliedern eine ablehnende Haltung gegenüber den anderen eingeprägt wird.“ (BENOIST 1999: 105). Der Begriff des „Ethnopluralismus“ wird daher ausdrücklich als Gegenbegriff zu dem des „Ethnozentrismus“ verstanden, der nach Ansicht der „Neuen Rechten“ vielmehr ein politisches Konzept ist, das sowohl von Nationalsozialisten als auch Liberalen vertreten wurde und wird. Regionalismus: Alain de BENOIST geht aber noch ein Stück weiter und kritisiert außerdem den Nationalismus und lehnt ihn als Bestandteil einer zukunftsfähigen rechten Ideologie ausdrücklich ab. In einem Interview mit der NPD-Parteizeitung „Deutsche Stimme“ aus dem April 2000 kritisierte er das Beharren der traditionellen Rechten auf dem Nationalismus folgendermaßen: „Die Neue Rechte ist […] nicht nationalistisch. Sie hält die Staatsnation für eine veraltete Form des politischen Lebens und betrachtet den Nationalismus als eine Art des Individualismus und der Ich-Sucht auf höherer Ebene […]. Ich fühle mich nicht deshalb jemandem nahe, nur weil er aus demselben Land kommt oder weil er die gleiche Nationalität hat wie ich. Ich fühle mich dann jemandem nahe, wenn er die gleiche Weltanschauung hat wie ich, wenn er denselben Wertvorstellungen anhängt wie ich […]. Die Zugehörigkeit zu einer politischen oder ‘nationalen’ Körperschaft garantiert die gemeinsame Identität nicht mehr.“ (BENOIST 2000: 3) BENOIST plädiert damit freilich nicht für eine weltoffene Gesellschaft, sondern eine Welt homogener Regionen: Der Nationalismus wird zum Regionalismus (BENOIST 1999: 112). Er lehnt Migration radikal ab, weil er sie für eine Zersetzung und damit Degeneration der regionalen Gemeinschaften hält.∗ Es wäre übrigens ein Fehler, diese ∗
Allerdings stellt der „Regionalismus“ eine jüngere Entwicklung dar. Noch
Position deshalb nicht mehr als „rechtsextremistisch“ anzusehen, weil bei ihr der Nationalismus, ein bisher traditionelles Merkmal rechtsextremer Ideologien, gestrichen wird. Im Gegenteil: Diese Ideologievariante verschärft die politischen Konsequenzen, weil Migrationsströme eben nicht nur international, sondern sogar interregional unterbunden werden sollen. Denn BENOIST lässt keinen Zweifel daran, dass er „Einwanderung eindeutig verdamme“ (ebd.).∗∗ Es dürfte deutlich geworden sein, dass sich die Ideologie der „Neuen Rechten“, für die sich bisher die Bezeichnung „Ethnopluralismus“ durchgesetzt hat und in deren Zentrum kein biologistischer, sondern ein relativistisch-kulturalistischer Rassismus steht, erheblich vom historischen Nationalsozialismus unterscheidet. Der „Ethnopluralismus“ stellt damit eine modernisierte Variante rechten Denkens dar, die im Alltagsdenken der Bevölkerung zahlreiche Anknüpfungspunkte findet: „nur“ eine rechte oder auch eine rechtsextremistische Ideologie darstellt, soll hier nicht nachgegangen werden. Es geht hier nämlich nur um das Problem, wie die Theorie der „Neuen Rechten“ die Argumentationen auch der eindeutig als rechtsextremistisch einzustufenden Kräfte verändert hat. • Er stellt sich der historischen Erfahrung des Nationalsozialismus und vermeidet jedwede positive politische Bezugnahme auf ihn. Wenn überhaupt, dann erfolgen Bezugnahmen auf die intellektuellen Wegbereiter des Nationalsozialismus, die so genannten Theoretiker der „Konservativen Revolution“. Aber auch bei diesen
in den 1980er Jahren war BENOIST der Überzeugung, dass „die Nationalund Volksgemeinschaft letzten Endes die Quelle der politischen Legitimität darstellt.“ (BENOIST 1986: 41) ∗∗ Der schwierigen Frage, ob die Ideologie der „Neuen Rechten“
Rückgriffen spielen die gegenüber dem Hitlerismus kritischen konservativen Denker meist die größere Rolle. • Das Feindobjekt ist nicht mehr eine biologisch konstruierte Rasse, sondern der kulturell definierte „Fremde“ als solcher. Der „Ethnopluralismus“ reagiert damit auf die wissenschaftliche Kritik am biologistischen Rassismus, die historische Erfahrung des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die Globalisierung: Die „Migrationsströme“ haben sich gegenüber dem Zeitalter des Kolonialismus ja gerade umgekehrt und treten seit Mitte der 1970er Jahre mit dem Ende des Wirtschaftswunders (Fordismus) in Konflikt. Nicht mehr die Europäer verlassen ihren Kontinent, um andere Völker zu unterwerfen, sondern es drängen umgekehrt Teile der ehemals kolonialisierten Völker in die Zentren der westlichen Welt. Es entsteht eine „neue soziale Frage“ (BENOIST 1999: 133-152). • Sowohl die bewusste Förderung des Rassismus im Zusammen hang mit der „neuen sozialen Frage“ (Wohlstandschauvinismus) als auch die Berufung auf den Werterelativismus („Alles ist relativ.“) sichert der „Neuen Rechten“ die Anschlussfähigkeit an das Alltagsdenken sowie an die Vorurteilsstrukturen vieler Menschen. Die „Neue Rechte“ scheint sich daher von der „Alten Rechten“ auch philosophisch ganz grundsätzlich zu unterscheiden. Während die „Alte Rechte“ als anti-moderner Protest gegen das Projekt der Aufklärung, als Protest gegen Positivismus, Dezisionismus und Relativismus verstanden werden kann, scheint sich die „Neue Rechte“ gerade der Konsequenzen dieser modernen philosophischen Strömungen zur Durchsetzung ihrer Ziele zu bedienen.
Der „deutsche Sozialismus“ – Die Ideologie der NPD Um es gleich vorwegzunehmen: Die NPD stellt keine neurechte Partei dar. Sie ist aber auch nicht neonazistisch. Man wird daher zur Kenntnis nehmen müssen, dass der Einfluss der „Nouvelle Droite“ auf klassische rechtsextremistische Parteien erheblich ist. Dies hat vor allem damit zu tun, dass sich die „Neue Rechte“ als erheblich flexibler erwiesen und die gesellschaftlichen Veränderungen ideologisch schneller in ein neues Konzept übersetzt hat als die hitleristische Rechte. Der „Ethnopluralismus“ ist für Parteien wie die NPD deshalb attraktiv, weil er den Zeitgeist atmet. Der Einfluss der „Neuen Rechten“ auf die Ideologie der NPD lässt sich relativ leicht nachweisen, ohne dass die NPD deshalb der Ideologie des Ethnopluralismus in allen Punkten folgen würde. Rein äußerlich lässt sich dies z. B. daran deutlich machen, dass der „Deutsche Stimme“-Redakteur Jürgen SCHWAB im Jahr 2000 Alain de BENOIST für die NPDParteizeitung interviewte. Außerdem werden in der „Deutschen Stimme“ regelmäßig Bücher und Zeitschriften des deutschen Ablegers der „Nouvelle Droite“, des „ThuleSeminars“ unter der Leitung von Dr. Pierre KREBS, meist wohlwollend rezensiert. Der ehemalige Vorsitzende der Jungen Nationaldemokraten, Holger APFEL, behauptet sogar, dass die NPD-Jugendorganisation bereits seit Mitte der 1970er Jahre darum bemüht gewesen sei, „zum Vorreiter einer inhaltlichen Erneuerung der Gesamtpartei, die sich an den Theoretikern der ,Neuen Rechten’ und an nationalrevolutionären Kräften (insbesondere an Henning EICHBERG, Wolfgang STRAUSS und Alain de BENOIST)“ orientiert, zu werden (APFEL 1999: 47). Inhaltlich lässt sich der Einfluss des Ethnopluralismus daran festmachen, dass man auch bei der NPD in den Programmen
oder Faltblättern jeglichen Antisemitismus, biologistischen Rassismus, Sozialdarwinismus oder Eroberungsimperialismus vergeblich sucht. Es gibt keinerlei Hasstiraden gegen Juden, keine Welteroberungspläne oder Vorstellungen über einen neuen Holocaust. Zwar kann man das alles als bloße Taktik abtun, aber damit würde man es sich m. E. zu leicht machen: Und zwar deshalb, weil die NPD spätestens seit der Wahl Udo VOIGTS ZU ihrem Bundesvorsitzenden im Jahr 1996 mit der „Alten Rechten“ brechen will. ∗ Tatsache ist, dass VOIGT in der Partei-Zeitung „Deutsche Stimme“ immer wieder dafür wirbt, nicht länger im „altrechten Ghetto“ (VOIGT 2000b) zu verharren und sich als „Rechtfertigungsnationalisten“ zu gebärden, „welche sich geistig und sprachlich nicht aus der jüngsten Vergangenheit lösen können.“ (VOIGT 2000a) Und dass VOIGT mit der „jüngsten Vergangenheit“ eindeutig die Zeit zwischen 1933-45 meint, lässt sich auch ohne Mühe zeigen: „Ein Blick auf die sogenannte ,Alte Rechte’ genügt, um festzustellen, dass dort – wo man sich immer noch mit bleiernen Debatten um die schmerzhafte Niederlage von 1945 paralysiert – keine politische Perspektive entstehen kann.“ (VOIGT 1999a) Damit sollte feststehen, dass die NPD spätestens seit 1996 auch eine inhaltliche Wende vollziehen und aus dem langen Schatten des Nationalsozialismus à la HITLER heraustreten will. ∗∗ Die NPD-Ideologie lässt sich anhand ihrer aktuellen Programmatik folgendermaßen charakterisieren: ∗
In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass am 677. Dezember 1996 auf dem Bundesparteitag in Ohrel auch ein neues Parteiprogramm beschlossen wurde, das die inhaltliche Wende der NPD bestätigt. ∗∗ In der Nr. 2 der Zeitschrift des „Nationaldemokratischen Hochschulbundes“ (NHB), „Vorderste Front“ (VF), erschien 1991 sogar ein Aufsatz unter dem Titel „Warum wir keine Nationalsozialisten sind“ (NHB 1991a).
Reinheitsgebot: Wie der Nationalsozialismus, aber auch jede andere Form rassistischer Ideologie, basiert die Programmatik der NPD zunächst auf der Gültigkeit des „Reinheitsgebotes“. Demnach existieren gewisse völkische Einheiten, die nur in Reinheit gedeihen können. Ihre „Durchmischung“ ist daher zu verhindern oder rückgängig zu machen. Allerdings lässt sich der „Natürlichkeitsfetisch“ in den Programmtexten der NPD nicht mehr oder kaum noch nachweisen: Die „Natur“ als biologische Tatsache wird daher offenbar nicht mehr als Gesetzgeberin für den Menschen verstanden. Kulturalistischer/differenzialistischer Rassismus und Nationalismus: Die „völkischen“ Einheiten werden bei der NPD nicht mehr durch biologische Fakten definiert. Vielmehr ist bei ihr der entscheidende Bezugspunkt der Identitätskonstruktion die Kultur. Die Träger einer einheitlichen Kultur werden als „Volk“ bezeichnet. Beide Größen fallen daher letztlich zusammen: „Volkstum und Kultur sind die Grundlagen für die Würde des Menschen […]. Ihrer kulturellen Eigenart werden sich die Völker besonders dann und dort bewusst, wo diese gefährdet ist. Die Erhaltung der Völker dient der Erhaltung der Kultur.“ (NPD 1997: 2) Bei der Pflege und Erhaltung der Kultur wird erwartungsgemäß der Familie als „Bindeglied überlieferter Traditionen“ (ebd.) eine entscheidende Rolle zugesprochen. Und auch dort, wo biologische Argumentationen bei der NPD noch eine Rolle spielen, geht es nicht mehr um den Nachweis rassischer Differenzen, sondern vielmehr um die Konstruktion einer biologischen „condition humaine“, um rassistische Vorgänge als natürliche Abwehrmechanismen aller Menschen zu legitimieren (siehe MAHLER 2001a: 55).
Die kulturelle Identitätskonstruktion wird durch Kombination mit dem „Reinheitsgebot“ zum rassistischen Ausschlusskriterium: „‘Multikulturelle’ Gesellschaften sind in Wirklichkeit kulturlose Gesellschaften. Die Vielfalt der Völker muss erhalten bleiben.“ (ebd.) Mit anderen Worten: Die „Fremdpartikel“ müssen entfernt werden, um die Reinheit der eigenen Kultur aufrechtzuerhalten. Dementsprechend wird jedwede Form von Integrationspolitik als „menschen- und völkerverachtend“ bezeichnet (ebd.: 7). Sie gefährde angeblich die Identität der Einwandernden und sei daher „menschenfeindlich“ und zerstöre außerdem die „deutsche Volkssubstanz“ (ebd.). Sehr deutlich spricht die Ausgrenzungsabsicht Jürgen SCHWAB (Redakteur der NPDParteizeitung „Deutsche Stimme“) in seinem letzten Buch aus. Aus dieser Passage wird klar, dass es nicht vorrangig um irgendein „Recht auf Verschiedenheit“, sondern um den gezielten Ausschluss bestimmter Menschen aus der Gesellschaft geht: „Dem deutschen Volk kann derzeit nichts besseres passieren, als dass sich die ethnisch Fremden, die nicht zu uns gehören, in eigenen Stadtteilen von uns absondern […]. Die Maßnahmen der Entausländerung lassen sich logischerweise auch leichter durchführen, wenn die Fremden ghettoisiert sind, als wenn sie ‘zerstreut’ unter den Deutschen leben würden.“ (SCHWAB 1999: 244f) Beim Nationalismus, der auch bei der NPD eng mit dem Rassismus verbunden ist, ergibt sich eine grundlegende Abweichung der Ideologie der NPD von der der „Neuen Rechten“. BENOIST hatte sich die Frage gestellt, ob Identitäten tatsächlich über große nationale Konstrukte hergestellt werden können oder nicht vielmehr auf kleinere Einheiten angewiesen sind. Die NPD muss eine solche Fragestellung zurückweisen: Da Kultur und Volk identisch sind und die sie verwaltende Institution der Nationalstaat ist, muss ihre politische Theorie
nationalistisch sein. Unter „Nationalismus“ wird dabei hier eine Position verstanden, die die Interessen der „eigenen“ Nation grundsätzlich für wichtiger hält als das Gesamtwohl bzw. die Interessen anderer Staaten. Nationalistische Politik wird demnach nicht die Herstellung von Gerechtigkeit, sondern die Vertretung „deutscher“ Interessen im Blick haben. Dementsprechend formuliert die NPD: „Die Erhaltung unseres Volkes und der Schutz für alle seine Teile sind die höchsten Ziele deutscher Politik.“ (NPD 1997: 2) Oder noch deutlicher im Europa-Programm: „Die NPD vertritt die Interessen des deutschen Volkes […]“ (NPD 1999b, Präambel). Dieser Nationalismus bildet die Voraussetzung für das Konzept der so genannten „raumorientierten Volkswirtschaft“ (ebd.: 5). Die NPD versteht dies als ihr Gegenkonzept zur Globalisierung: Sie möchte die internationalen Handelsbeziehungen und Arbeitsteilungsstrukturen abbauen und Deutschland zur „Autarkie“ führen (AAE 1999). Relativismus: Da die NPD in ihrer Programmatik den „Natürlichkeitsfetisch“ beseitigt hat, fehlt ihr allein schon deshalb die theoretische Voraussetzung für den Sozialdarwinismus. Sie ersetzt ihn – wie die Neue Rechte – durch den Relativismus. Es interessiert nicht, welcher Art die „Kulturen“ sind, die erhalten werden sollen, sondern ihre bloße Existenz, die jeweilige „kulturelle Eigenart“, wird zum Selbstzweck. Politisch relevant wird diese Argumentation deshalb, weil sie der eigenen Ideologie eine Daseinsberechtigung verschafft: Die gesellschaftliche Verallgemeinerung einer relativistischen Position würde der NPD das politische Tagesgeschäft sehr erleichtern, weil sie ihre Programmatik dann ungehindert und unkritisiert propagieren könnte. Sie hat also auch ein strategisches Interesse an einer relativistischen Position, zumal solche
Grundhaltungen auch in der bürgerlichen Demokratie häufig vertreten werden und den Anschein eines falsch verstandenen, weil werteungebundenen Demokratismus erwecken. Wohlstandschauvinismus: Das wahrscheinlich wichtigste Element für eine moderne rechtsextreme Ideologie stellt der so genannte Wohlstandschauvinismus dar. Er übernimmt daher – politisch betrachtet – die Funktion, die der Antisemitismus für den Nationalsozialismus hatte: Er steht im Zentrum des öffentlichen rechten Diskurses und stellt die wichtigste Schnittstelle zum Alltagsdenken der Bevölkerung dar. Wohlstandschauvinismus ist eine Haltung, bei der nur den Angehörigen der „eigenen Nation“ ein Anrecht auf soziale Teilhabe zugesprochen wird. Hierdurch bestätigt sich auch, dass es nationalistischer Politik nicht um die Herstellung von Gerechtigkeit unter Berücksichtigung der legitimen Interessen aller Menschen geht, sondern um die ausschließliche Vertretung der „eigenen“ Interessen: „Sozialpolitik bedeutet die Solidarität des Volkes mit seinen Angehörigen.“ (NPD 1997: 6) Der Wohlstandschauvinismus stellt daher die durch einen kulturalistischen Rassismus motivierte Antwort auf die „neue soziale Frage“ dar, die in der BRD durch die Massenarbeitslosigkeit seit Mitte der 1970er Jahre sowie den schwierigen ökonomischen Einigungsprozess nach 1990 hervorgerufen wurde. Bei der NPD schlägt sich diese Haltung in den berühmten Formeln nieder: „Kindergeld als volkspolitische Maßnahme des Staates darf nur an deutsche Familien ausgezahlt werden.“ (ebd.: 3), „Arbeitsplätze sind zuerst an Deutsche zu vergeben.“ (ebd.: 5) sowie „Ausländer sind aus dem deutschen Sozialversicherungswesen auszugliedern.“ (ebd.: 7) Für diese Verknüpfung einer nationalistischen Ideologie mit sozialen Themen stehen Begriffe wie „deutscher Sozialismus“ (VOIGT nach BfVS
1999b: 36; SCHWAB 1999: 317) oder auch „nationaler Sozialismus“. Für den NPD-Bundesvorsitzenden steht nämlich fest, dass eine nationalistische Bewegung antikapitalistisch sein muss: „Es ist eine Tatsache, daß kapitalistische und nationalistische Interessen antagonistische Gegensätze sind, die einander völlig ausschließen.“ (VOIGT 1999b)∗ Organische Demokratie: Ohne Sozialdarwinismus hat auch das Führerprinzip keine theoretische Grundlage mehr. Und in der Tat wurde auch dieses Element der nationalsozialistischen Ideologie bei der NPD durch eine politische Alternative ersetzt – die „organische Demokratie“. Der Begriff selbst stammt wiederum von Alain de BENOIST (BENOIST 1986). Er verband in den 1980er Jahren damit die politische Organisation der Gesellschaft durch zwei Prinzipien: 1. sollen sämtliche Rechte, die ein Individuum hat, von der Frage abhängig sein, ob man einem Volk angehört oder nicht. Übertragen auf die NPD bedeutet dies, dass auf „deutschem“ Territorium nur ein Angehöriger des deutschen Volkes überhaupt Rechte hat. 2. soll in einer „organischen Demokratie“ endlich der „Volkswille“ vollstreckt werden. Demokratie wird damit als ein rein formales, werteungebundenes Verfahren verstanden, mit dem sich prinzipiell sämtliche Entscheidungen rechtfertigen lassen – also z. B. auch massive Menschenrechtsverletzungen. Auch hier wird wieder die relativistische Grundhaltung moderner rechtsextremistischer Ideologien deutlich. Beide Prinzipien fasst die NPD in ihrem ∗
Der „Antikapitalismus“ der Rechten besteht also darin, einen sozial und finanzkapitalistisch entfesselten sowie globalisierten Kapitalismus zu geißeln. Er ist nicht von einer prinzipiellen Skepsis gegenüber dem Privateigentum an den Produktionsmitteln sowie der Marktsteuerung als moderner Form der Vergesellschaftung gekennzeichnet, die vielmehr den Antikapitalismus der sozialistischen Linken ausmacht.
Parteiprogramm folgendermaßen zusammen: „Volksherrschaft setzt die Volksgemeinschaft voraus. Politische Organisationsformen müssen so geordnet sein, daß sie handlungsfähige Organe ermöglichen, die in Übereinstimmung mit den Grundzielen des Volkes handeln.“ (NPD 1997: 3) Allerdings beschränken sich die Ausführungen der NPD zur „organischen Demokratie“ mehr oder weniger auf diese zwei Sätze. Auch wird der Begriff selbst nicht verwendet. Dennoch scheint mir, dass das von ihr vertretene Politikmodell am ehesten mit BENOISTS Theorie charakterisiert werden kann. Militarismus: Der Militarismus bleibt ein wichtiger Bestandteil der NPD-Ideologie: „Wehrdienst ist Ehrendienst am deutschen Volk. Daher bejaht die NPD den soldatischen Dienst in der Bundeswehr […]. Die tapfere Haltung deutscher Soldaten aller Zeiten muss Vorbild der Bundeswehr sein.“ (ebd.: 13) Der Militarismus bietet darüber hinaus wichtige Anknüpfungspunkte für autoritäre Haltungen. Während also das Führerprinzip von der NPD nicht mehr vertreten wird, ist der Autoritarismus mit ihrer Position zumindest vereinbar. Da die Programmatik der NPD allerdings nicht auf dem Sozialdarwinismus aufbaut, fehlt diesem Militarismus die außenpolitische Aggressivität des nationalsozialistischen Militarismus.∗
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Freilich ließe sich hier einwenden, dass auch HITLER und die NSDAP ihre Kriegsziele zunächst verschwiegen hätten. Allerdings waren ihre Kriegsbestrebungen eindeutig aus ihrer Rassentheorie ableitbar. Für die NPD-Ideologie hingegen, sollte sie in ihren Grundzügen ernstgemeint sein – und dafür spricht sehr viel –, lässt sich dies nicht feststellen.
Ethnopluralismus: Gemäß ihrer relativistischen Grundhaltung vertritt die NPD eindeutig eine ethnopluralistische Position auf Ebene der Nationalstaaten. Der völkische Imperialismus der Nationalsozialisten wird also durch den Ethnopluralismus
ersetzt, der außerdem als Gegenbegriff zum Ethnozentrismus verstanden werden kann. Dies ergibt sich bereits aus der Formel, dass die Vielfalt der Völker erhalten werden müsse, lässt sich aber noch deutlicher anhand des Europa-Programms aus dem Jahre 1999 zeigen: „Die Vielfalt der politischen und völkischen Gliederungen ist wesentlich für den Reichtum der europäischen Gesamtkultur, da jedes Volk, jeder Volksstamm und jedes Siedlungsgebiet eigene schöpferische Kräfte entfalten konnte […]. Die primäre Aufgabe der europäischen Staatengemeinschaft ist deswegen nach nationaldemokratischer Auffassung – in Analogie zu den Aufgaben des Nationalstaates – die Sicherung der europäischen Völker und ihrer Eigenständigkeit wie auch ihrer geistigen Einheit in reicher völkischer Vielfalt.“ (NPD 1999b) Es findet sich also nirgendwo eine Spur von Eroberungsimperialismus à la Nationalsozialismus. Und dennoch hat das Ganze noch einen revisionistischen Beigeschmack, denn die NPD beharrt darauf, dass die Grenzen des Jahres 1937 wiederhergestellt werden müssten, da die entsprechenden Gebiete und die dort wohnenden Menschen eben zu Deutschlands Kultur und damit seinem Volk gehörten. Zusammengefasst wird dies in dem markigen Spruch: „Deutschland ist größer als die Bundesrepublik!“ (NPD 1997: 9), der immer wieder auf entsprechenden Aufklebern und Flugblättern zu lesen ist. Dementsprechend ist auch durchweg von „Mitteldeutschland“ die Rede, wenn Ostdeutschland gemeint ist.
Gibt es einen kulturellen Antisemitismus? Meine Argumente werden sicher nicht alle überzeugt haben. Vor allem werden jene, die die rechte Szene etwas genauer
kennen, viele Dokumente und Äußerungen zitieren können, die zunächst eindeutig zu beweisen scheinen, dass sich die NPD dennoch in erster Linie am Hitlerismus orientiert. Dies betrifft insbesondere den Fall des „Antisemitismus“. Immer wieder kann man auch im Umfeld der NPD wilde Attacken gegen den „jüdischen Geist“ vernehmen. Also doch der alte Nationalsozialismus?
Um diese Frage zu klären, scheint es hilfreich, sich noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, wodurch sich der historische Nationalsozialismus von den modernen Formen des Rechtsextremismus zentral unterscheidet. Im Zentrum des „Hitlerismus“ steht die Biologie, im Zentrum des „Ethnopluralismus“ der NPD die Kultur. Allerdings ist auch weiter oben bereits darauf hingewiesen worden, dass wir es nicht mit einer radikalen Trennung dieser beiden Bereiche zu tun haben, sondern dass der historische Nationalsozialismus vielmehr nicht durch die Abwesenheit kultureller, sondern durch die Dominanz biologischer Ausgrenzungsstrategien
gekennzeichnet ist und umgekehrt der moderne Rechtsextremismus durch die Dominanz kultureller Ausgrenzungsmechanismen und nicht durch die völlige Abwesenheit biologischer. Die Wichtigkeit dieser Feststellung wird sehr deutlich durch den Punkt 24 des NSDAPParteiprogramms aus dem Jahr 1920 belegt: „Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden. Sie bekämpft den jüdisch-materialistischen Geist in und außer uns und ist überzeugt, dass eine dauernde Genesung unseres Volkes nur erfolgen kann von innen heraus auf der Grundlage: Gemeinnutz vor Eigennutz.“ (NSDAP 2000: 99) Entscheidend ist dabei die Bemerkung, dass die NSDAP den „jüdisch-materialistischen Geist in und außer uns“ bekämpfen wolle. Wenn man die Ideologie der Nazis, jedenfalls im Jahr 1920, rein biologistisch interpretieren will, wie erklärt man es sich dann, dass sie den „jüdischen Geist“ „in uns“ bekämpfen wollten? Wie kann ein „Arier“, der schon rein biologisch nach Ansicht der Nazis kein „Jude“ ist, dennoch „jüdischen Geistes“ sein? Auch bei den Nationalsozialisten waren also von Anfang an biologische und kulturelle Ausgrenzungsmechanismen vermischt, wenngleich die biologischen dominierten. Der heutige Antisemitismus hingegen, sofern er überhaupt in Erscheinung tritt, hat oft die Wende weg von biologischen Ausgrenzungsmechanismen hin zu (vorwiegend) kulturellen mitvollzogen: Wenn also heute teilweise antisemitische Äußerungen getätigt werden, so erfolgt dies meist nicht mehr im Sinne eines nationalsozialistisch-biologistischen Rassismus, sondern im Sinne der Ablehnung eines bestimmten kulturellen Musters. Mit dem „jüdischen Geist“ wird dann, wie dies ja auch schon bei den historischen Nationalsozialisten der Fall war, der Drang nach Geld und Vermögen, der Finanzkapitalismus, die „Geldgier“ bezeichnet. Nicht die
rassische Blutsverwandtschaft steht hier also im Vordergrund, sondern der „materialistische Geist“. Wenn also bereits die NSDAP davon gesprochen hat, sie wolle den „jüdischen Geist“ „in uns“ überwinden, so erklärt sich dies genau aus dieser Überlegung: Die NSDAP wollte gegen den Vorrang des Geldes auch in der „deutschen“ Bevölkerung angehen, ließ allerdings den Kampf gegen den „jüdischen Geist“ im Laufe der Zeit in einer ausschließlich rassisch-biologistischen Definition des „Juden“ und damit schließlich im Holocaust gipfeln. Es muss natürlich kaum betont werden, dass sowohl dieser biologistische Antisemitismus als auch der vor allem heute vertretene kulturelle Antisemitismus keine berechtigte argumentative Grundlage haben. Gerade wenn eine „materialistische Lebenshaltung“ in allen Kulturen möglich ist, stellt deren Bezeichnung als „jüdisch“ eine absichtsvolle und durch nichts zu rechtfertigende Diskriminierung und Verunglimpfung des jüdischen Kulturkreises dar. Um die These vom Gestaltenwandel des „Antisemitismus“ zu belegen, verweise ich auf eben jenen Autor, dem immer wieder ein aggressiver Rassen-Antisemitismus im Sinne der Nationalsozialisten vorgeworfen wird (siehe z. B. Fischer 2001: 44ff, 153ff) – nämlich Horst MAHLER. Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist ein als Buch veröffentlichtes Gespräch zwischen MAHLER und Franz SCHÖNHUBER aus dem Jahr 2000. Um einen „kulturellen Antisemitismus“ vertreten zu können, muss man zunächst jede Form einer biologistischen Rassentheorie konsequent ablehnen. Dass MAHLER dies tut, daran lässt er keinen Zweifel: „Also, ich würde sagen: Der menschenverachtende Rassismus, das heißt die Übernahme angelsächsischer Rassetheorien und Imperialismusvisionen durch Hitler war der Sündenfall des Systems. Daran ist es zugrunde gegangen […]. Ich erlebe es immer wieder, dass der
Rassismus im Sinne einer biologistischen Interpretation unserer Existenz noch nicht überwunden ist. Ich halte das für gefährlich […]. Der Mensch ist nicht auf Biologie zu reduzieren, er ist ein geistiges Wesen. Im Verhältnis zu den Juden war diese Einsicht damals nicht wirksam. Sie wurden in der offiziösen Propaganda herabgewürdigt.“ (MAHLER/SCHÖNHUBER 2000: 179f) Und weiter: Im Hitlerismus sei die „Volksgemeinschaft“ noch nicht als „Geist“ aufgefasst worden, „sondern als etwas Naturhaftes, durch biologistisch aufgefasste Rassenmerkmale bestimmt […]. Die Folge davon war, dass die Überwindung des Alten, des jüdischen Prinzips (Trennung von Gott und Mensch) und des darin wurzelnden ‘wissenschaftlichen Weltbildes’ nicht als ein geistiger Prozess verstanden wurde, sondern als chirurgischer Eingriff in das Biosubstrat des deutschen Volkes, aus dem der jüdische Mensch ausgemerzt werden sollte. Das war das Verhängnis.“ (ebd.: 34) Der Mensch ist also, folgt man MAHLER, ein geistiges und kein vorrangig biologisch bestimmtes Wesen. Dementsprechend muss sich auch das „Judentum“ geistig und nicht biologisch definieren lassen: Der „jüdische Geist“ besteht in der Vergötzung des Geldes, die ihrerseits in der Trennung des Menschen von Gott wurzelt. Gerade deshalb kann man nach Auffassung MAHLERS, auch wenn dies zunächst paradox klingen mag, gemeinsam mit Israel gegen das „Judentum“ kämpfen: „Der israelische Staat ist der Untergang des Judaismus in seiner säkularen Form des Mammonismus. An Israel wird diese jüdische Vergötzung des Geldes zugrunde gehen, denn Israel wird auch nur als eine sich bewusste Volksgemeinschaft überleben.“ (ebd.: 29) Je mehr sich Israel – so MAHLERS Überzeugung – zu einer tatsächlichen „Volksgemeinschaft“ entwickelt, um so mehr wird es ein Eigeninteresse daran haben, egoistische Geldgier und Finanzkapitalismus, die einer „Volksgemeinschaft“ immer
abträglich sind, zu unterbinden. Wenn Deutschland folglich Israel bei dem Aufbau einer tatsächlichen „Volksgemeinschaft“ hilft, so MAHLERS Überzeugung, wird es auch effektiv etwas gegen das „Judentum“ als Kulturerscheinung tun. Selbst jene Autoren also, denen immer wieder vorgeworfen wird, dass sie zu den radikalsten Verfechtern nationalsozialistischer Ideologien gehören, distanzieren sich deutlich von HITLER sowie vom historischen Nationalsozialismus und vertreten keine biologistische Rassentheorie und damit auch nicht die bei den Nationalsozialisten letztlich dominante Form des RassenAntisemitismus. Dennoch sind es interessanterweise gerade solche Aussagen wie die von MAHLER, die zahlreiche Rechtsextremismusforscher in ihrer Überzeugung bestärken, die Rechtsextremisten seien alle völlig irrational und ihre Gedanken komplett abstrus. Und in der Tat: Wer von der Gleichung ausgeht, dass letztlich jede Form von Rechtsextremismus mehr oder weniger die Gestalt des Nationalsozialismus nachahmen muss, für den ist die Aussage, man könne mit Israel gegen das Judentum kämpfen, notwendig völliger Unsinn. Wer aber bemerkt, dass sich die theoretischen Voraussetzungen der Rechtsextremisten zum Teil erheblich verschoben haben, der wird – jedenfalls in einigen Fällen – leider zu dem Urteil kommen müssen, dass die Widersprüchlichkeit rechtsextremistischer Ideologien teilweise eine von den Forschern (ungewollt) konstruierte ist. Damit soll nicht bestritten werden, dass rechtsextremistische Ideologien letztlich auf einer irrationalen, also rational nicht zu rechtfertigenden Grundlage beruhen, aber ganz so platt und offensichtlich widersprüchlich, wie oft unterstellt, sind sie eben nicht. Dies zeigte sich bereits an der Ideologie des Nationalsozialismus: Ihre einzelnen Bausteine sind recht eng
miteinander verflochten und weisen daher eine gewisse innere Kohärenz auf. Eine solche Bewertung rechtsextremistischer Ideologien folgt allerdings der Auffassung, dass auch rechtsextremistische Ideologien als Gestalten von „Wissen“ ernstgenommen werden müssen. Auch Rechtsextremisten sind Menschen und suchen daher nach Orientierungswissen. Ihre Ideologien sind daher zumindest nicht nur Ausdruck des „radikal Bösen“, sondern ebenso Ausdruck einer scheiternden Erkenntnisabsicht. Wäre dies nicht der Fall, könnten sämtliche Bemühungen im Kampf gegen den Rechtsextremismus auf den Gebieten Bildung und Kultur eingestellt werden.
Fazit Es dürfte deutlich geworden sein, dass sich die NPD (inzwischen) erheblich mehr von der modernen Variante rechten Denkens leiten lässt als vom Hitlerismus. Sie kombiniert den neueren Ethnopluralismus außerdem mit Versatzstücken des „linken“ Nationalsozialismus, der in gewisser Hinsicht sogar als Vorform des Ethnopluralismus verstanden werden kann. Denn bis heute wird nur selten zur Kenntnis genommen, dass auch der Nationalsozialismus keinesfalls ein ideologisch homogenes Phänomen war. Otto STRASSER, ehemals Sozialdemokrat, galt als theoretischer Kopf des „linken“ Flügels der NSDAP. Er trat 1931 mit seiner Gruppe unter Protest aus der Partei aufgrund ideologischer Differenzen aus, die er auf drei Ebenen ausmachte: er kritisierte 1.) den imperalistischen Charakter des Hitlerismus, 2.) den Plan zur Errichtung eines faschistischen Obrigkeitsstaates sowie 3.) die Vernachlässigung der „sozialen Frage“ in der nationalsozialistischen Bewegung (STRASSER 2000: 191ff). Diese Kritik nahmen zahlreiche deutsche
Rechtsextremisten nach dem Zweiten Weltkrieg auf und machten sie zum Fundament ihres „nationalsozialistischen“ Weltbildes. Theoretisch ergänzt wird diese programmatische Verschiebung seit Ende der 1960er Jahre durch die französische „Neue Rechte“ unter Alain de BENOIST, dessen Einfluss auch auf die deutsche rechtsextreme Szene inzwischen deutlich größer sein dürfte als der STRASSERS. Für die NPD bestätigt Holger APFEL, dass sich die Theorien der „Neuen Rechten“ bereits Anfang der 1980er Jahre durchzusetzen begannen: „Das Germersheimer Manifest [NPD-Bundesparteitag 1982 in Germersheim, M. B.] baute auf der jahrelangen Vorarbeit junger Nationaldemokraten auf, in deren Dokumenten die Denkansätze der Neuen Rechten längst Einzug gehalten hatten.“ (APFEL 1999: 48) BENOIST greift dabei sachlich die wesentlichen Motive von STRASSERS Hitlerismus-Kritik wieder auf. Nicht zuletzt hieraus dürfte sich auch der Umstand erklären, dass BENOIST in der deutschen rechtsextremen Szene so großen Einfluss erlangt hat: Er setzt sachlich das fort, was STRASSER einst begonnen hat. Da STRASSER von Anfang an einer der Pfeiler des bundesrepublikanischen Rechtsextremismus war, stieß BENOIST hier mit seinen Schriften auf guten Nährboden. Dabei muss beachtet werden, dass BENOIST seine „neue Rechte“ zu Beginn tiefgreifender Umbrüche in den westlichen Industriestaaten (Krise des Fordismus) zu konzipieren begann. Damit war praktisch vorprogrammiert, dass durch eine „neue soziale Frage“ (BENOIST 1999: 133-152) Themen wie Arbeitslosigkeit und soziale Gerechtigkeit zu Schlüsselthemen moderner rechtsextremistischer Ideologien avancieren würden. Die Dominanz wohlstandschauvinistischer Parolen in Programm und Agitation der NPD beweist ihre historische Gebundenheit deutlich.
Der Wandel vom Hitlerismus zum Ethnopluralismus in entscheidenden Teilen der deutschen rechtsextremen Szene wird m. E. weder in der Rechtsextremismusforschung noch im öffentlichen Bewusstsein ausreichend zur Kenntnis genommen. Die Forschung scheint mir nach wie vor hauptsächlich von der Gleichsetzung von Rechtsextremismus und Nationalsozialismus geprägt zu sein. Selbst jene Forscher, die wie Stöss, Pfahl-Traughber und Butterwegge∗ um die ideologischen Veränderungen prinzipiell wissen, ziehen aus diesen Erkenntnissen nicht die nötigen Konsequenzen. So kommt Stöss z. B. sogar zu dem Ergebnis, dass sich die „Ideologie der Rechtsextremen […] in den vergangenen 100 Jahren substanziell kaum verändert“ habe (Stöss 2000b: 106; siehe außerdem Schröder 2001: 33); und Butterwegge, obwohl er sich des teilweisen Wandels in den Argumenten der Rechtsextremisten weg vom Biologismus hin zum Kulturalismus klar bewusst ist (Butterwegge 2002: 30), zählt – wenn ich ihn richtig verstehe – z. B. Biologismus und Sozialdarwinismus zu den Kern-Bestandteilen rechtsextremistischer Ideologien schlechthin (ebd.: 26). Derartige Fehlurteile scheinen aus zwei Umständen zu resultieren: Da ist einerseits die bereits erwähnte geistesgeschichtliche Vorbelastung durch den Nationalsozialismus in Deutschland, die die Analysen der rechten Szene stark beeinflusst und von der man sich auch nicht gerade leicht befreien kann, und da ist andererseits eine ständige Unterschätzung des Niveaus rechtsextremer ∗
Als Belegstellen: Stöss 2000a: 21, 26, 40ff, 113ff, Stöss 2000b: 117ff; Pfahl-Traughber 1998 sowie 2000: 72ff; Butterwegge 2002: 26ff sowie 30 und 67ff. Exemplarisch deutlich macht die Richtigkeit der Gleichsetzungsthese der Forschungsüberblick von Jürgen R. Winkler (Winkler 2000: 46ff).
Ideologien durch die Wissenschaft. Rechtsextreme Ideologien werden für niveaulos und abstrus, für bloßen „Wahn“ (Stöss 2000b: 105f; Claussen 1994: 15f) gehalten. Zwar ist es richtig, dass die rechtsextremen Ideologien letztlich auf einer irrationalen Grundlage beruhen, aber dennoch darf dies nicht dazu führen, eine Analyse dieser Ideologien und ihrer inneren Logik für überflüssig oder nicht der Rede wert zu halten. Ich folge in dieser Hinsicht dem französischen Philosophen Etienne Balibar: „Ich möchte mich […] zu dem Gedanken vorwagen, daß sich im Rassismus auf eine unlösbare Weise die zentrale Funktion der Verkennung […] mit einem ‘Willen zum Wissen’ vermischt, d. h. mit einem heftigen Begehren nach Erkenntnis, nach einer unmittelbaren Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse.“ (Balibar 1998: 25f) Auch eine rechtsextremistische Ideologie stellt den Versuch dar, die Gesellschaft zu erklären, sich eine weltanschauliche Orientierungsgrundlage zu geben und ist damit eine Gestalt von „Wissen“, die genau geprüft werden muss. Wenn hier die NPD in die Nähe des Ethnopluralismus gerückt wird, soll damit nicht behauptet werden, dass sich das gesamte rechtsextremistische Lager vorwiegend an der französischen „Neuen Rechten“ orientiert und mit dem historischen Nationalsozialismus vollständig gebrochen hat.∗ ∗
Dies trifft natürlich vor allem auf die berühmten „Tankstellenglatzen“ nicht zu, deren Selbstbewusstsein sich ja meist gerade daraus speist, dass sie mit dem Hitlerismus kokettieren, weil sie sich durch einen solchen „Skandal“ der Aufmerksamkeit der Gesellschaft sicher sein können. Vorliegende Arbeit ist aber eben keine empirisch-soziologische, sondern eine ideologietheoretische. Mich interessiert nicht die plumpe Argumentation der Tankstellenglatze, sondern die Veränderung der rechtsextremen ideologischen Konzepte. Außerdem halte ich es keinesfalls für ausgeschlossen, dass es der NPD aufgrund ihres Kader-Anspruches und ihrer guten Kontakte zu Skinheads und Neonazis schrittweise gelingt, ethnopluralistische Argumente selbst bis in die eher kulturell orientierte
Die entscheidende These besteht vielmehr darin, dass die „Kader“ der am ehesten ernstzunehmenden rechtsextremen Partei Deutschlands dies tun und man zumindest damit rechnen muss, dass heute selbst überzeugte Hitleristen in der Lage sind, argumentativ auf den Ethnopluralismus auszuweichen. Und dies ist letztlich der entscheidende Punkt: Für die öffentliche Auseinandersetzung ist es unerheblich, ob jemand an den Ethnopluralismus „glaubt“ oder ihn aus strategischen Gründen vertritt. In beiden Fällen ist man mit demselben Phänomen konfrontiert und muss sich mit ihm auseinandersetzen. Wer also – vor allem die Jugend – gegen Rechts wappnen will, muss sie mit allen Grundtypen rechtsextremen Denkens vertraut machen. Unterstellt man diese Ergebnisse, wird man grob drei verschiedene Typen von NPD-Mitgliedern finden können: 1. wird es in der NPD auch weiterhin traditionelle Nazis geben, die sich an der Linie HITLER orientieren und entsprechende schriftliche und mündliche Äußerungen tätigen. 2. wird es in der NPD Mitglieder geben, die vor allem mit dem historischen Nationalsozialismus sympathisieren, aber öffentliche Äußerungen in diese Richtung unterlassen und sich bei Bedarf auf ethnopluralistische Argumente zurückziehen. In diesem Fall wird der Ethnopluralismus also vor allem aus taktischen Erwägungen heraus vertreten. 3. wird es in der NPD Mitglieder geben, die mit der alten, an HITLER orientierten Rechten bewusst brechen wollen, sich ernsthaft am Modell des Ethnopluralismus orientieren, ihn mit gewissen Elementen des „linken“ Nationalsozialismus um RÖHM und die Gebrüder STRASSER kombinieren und die Szene einzuspeisen. Außerdem wäre zu prüfen, inwieweit sich auch DVU und REPs in den letzten Jahren haben vom Ethnopluralismus leiten lassen – eine Aufgabe, die hier nicht geleistet werden kann.
momentan innerhalb der NPD die Mehrheitsfraktion darstellen. Ob man die NPD-Ideologie dabei als eigenständigen Typus rechtsextremen Denkens ansehen will oder als Amalgam aus Nationalsozialismus und „Ethnopluralismus“ ist politisch eine sekundäre Frage.
Dies ist vielleicht auch die geeignete Stelle, um darauf hinzuweisen, dass die NPD der „Neuen Rechten“ aus Frankreich und Deutschland nicht nur ihre programmatische, sondern auch Teile ihrer strategischen Neuorientierung zu verdanken hat. Seit Gründung der „Neuen Rechten“ ist vor allem Alain de BENOIST darum bemüht, im Rückgriff auf die Schriften des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci die Strategie der „Kulturellen Hegemonie“ bzw. der „Metapolitik“ zu entwickeln. Grundgedanke dieser Orientierung ist die Idee, dass man zunächst die Köpfe und Herzen der Menschen dauerhaft erobern muss, bevor man langfristig politische Macht ausüben kann. Die „Neue Rechte“ deutet Gramscis Theorie aber intellektualistisch aus und versteht unter „Kultur“ vor allem theoretische Debatten, während Gramsci seiner Theorie ausdrücklich einen „organischen“ Kulturbegriff zugrundelegt, in dessen Zentrum die Alltagskultur steht und der daher nicht intellektualistisch verengt ist. Wie bereits bei der programmatischen Wende dürfte aber auch die strategische vor allem auf indirekten Rezeptionsphänomenen beruhen. Die extreme Rechte ist also eher durch die „Neue Rechte“ auf bestimmte Fragestellungen, Probleme oder Lösungsansätze aufmerksam geworden, als dass sie von ihr sozusagen direkt abgeschrieben hat. Übrigens ist die NPD mit ihrer Strategie sogar gramscianischer als die „Neue Rechte“ selbst: Es geht ihr ja gerade nicht um
Intellektuellenzirkel, sondern um die kulturelle Vorherrschaft im Alltag (Brodkorb 2002). Meine Ausführungen werden mit Sicherheit mindestens ein Gegenargument hervorrufen: Zwar sei es vielleicht richtig, dass die NPD in der Öffentlichkeit ihr Auftreten geändert habe und nicht so dumm sei, sich als Nachfolgeorganisation der NSDAP zu gebärden. Allerdings müsse man das als bloße Taktik ansehen, in Wirklichkeit denken die NPD-Mitglieder immer noch wie HITLER. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass eine solche Argumentation mehrere Probleme beinhaltet: 1. Wenn diese These Gehalt haben soll, muss sie auch bewiesen werden, was nach meinem Kenntnisstand bisher niemandem gelungen ist. Tatsächlich bestätigen im Gegenteil anerkannte Rechtsextremismusforscher wie Armin PfahlTraughber, dass die NPD bereits in den 1960er Jahren nicht mehr als bloße Fortsetzung der NSDAP verstanden werden konnte: „Trotz verschiedener Gemeinsamkeiten mit der historischen NSDAP konnte die NPD damals aber nicht ideologietheoretisch der nationalsozialistischen Variante des Rechtsextremismus zugerechnet werden: Mit ihrer besitzbürgerlichen und national-konservativen Prägung stand sie stärker in der Tradition des Deutsch-Nationalismus der extremistischen Rechten.“ (Pfahl-Traughber 2001: 26)∗
∗
Mir scheint es daher auch irreführend, wenn Pfahl-Traughber der NPD unter der Führung von VOIGT den Rückgriff auf „nationalsozialistische Ideologiefragmente“ (Pfahl-Traughber 2001: 36) unterstellt. PfahlTraughber scheint damit zu meinen, dass die NPD unzweifelhaft einen stark Sozialrevolutionären Charakter angenommen hat. Allerdings thematisierte und thematisiert nicht nur die NSDAP soziale Themen. Außerdem weckt der Begriff „Nationalsozialismus“ eher Assoziationen an Antisemitismus, Sozialdarwinismus etc. Es führt daher zu Missverständnissen, die Sozialrevolutionäre Wende der NPD als „nationalsozialistisch“ zu bezeichnen.
2. setzt eine solche Argumentation die Annahme voraus, dass rechtsextreme Parteien keine Rücksicht auf die gesellschaftlichen Entwicklungen nehmen und ignorant an ihren völlig veralteten Konzepten festhalten, auch wenn dies zur Konsequenz haben sollte, völlig am Zeitgeist vorbei zu agitieren. Tatsächlich ist eine derartige Entwicklung keinesfalls unmöglich, aber doch unwahrscheinlich. Insbesondere die Entwicklung der NPD in den 1990er Jahren scheint mir diese These aber zu widerlegen. 3. Wenn die These von der bloßen programmatischen Taktik richtig sein sollte, müsste strikt zwischen öffentlichen und parteiinternen Äußerungen und Publikationen unterschieden werden. In den öffentlichen Schriften und Äußerungen würde man dann die taktischen Elemente finden, aber in den parteiinternen müsste die Partei weiterhin die Möglichkeit haben, ihr eigentliches Denken zu präsentieren und zu diskutieren. Denn auf irgendeine Weise müssen auch die Mitglieder rechtsextremistischer Partei en miteinander diskutieren und ihr programmatisches Profil entwickeln. Tatsächlich besteht nun allerdings das Problem, dass auch in den internen Äußerungen und Schriften der NPD nicht das nationalsozialistische Weltbild (biologischer Rassismus, Sozialdarwinismus, Antisemitismus etc.), sondern ethnopluralistische Konzepte diskutiert werden. Dies gilt für die monatliche Parteizeitung „Deutsche Stimme“ ebenso wie für das JN-Blatt „Der Aktivist“, das NHB-Organ „Vorderste Front“ oder die internen NPD-Schulungshefte „Weg und Ziel“.
Es ist nicht abwegig davon auszugehen, dass rechtsextremistische Kreise ihr Auftreten auch von taktischen Erwägungen abhängig machen. Z. B. dürften Bekenntnisse der NPD zum Grundgesetz und zu den Menschenrechten eher
taktisch motiviert sein. Insofern spreche ich mich keinesfalls dagegen aus, neben ernst gemeinten auch taktische Elemente in Auftreten und Ideologie der Rechtsextremisten voneinander zu unterscheiden. Aber es scheint mir zu weit zu gehen und nur schwer belegbar zu sein, wenn behauptet wird, die ideologischen Metamorphosen des Rechtsextremismus würden ausschließlich taktischer Natur sein.
7. Kapitel
Wie argumentiert man gegen Ethnopluralisten? Zum Schluss dürfte noch die Frage interessant sein, wie man mit einem nationalistischen Ethnopluralisten argumentativ überhaupt umgeht. Generell lässt sich eine politische Theorie über zwei Wege widerlegen. Entweder spießt man ihre konkreten oder ihre allgemeinen Thesen auf und weist jeweils Widersprüche nach. Da es sich bei der vorliegenden Analyse um eine ideologiekritische Abhandlung handelt, werde ich mich hier auf Einwände grundsätzlicher Art beschränken. Da auch die Ideologie des Ethnopluralisten eine gewisse Kohärenz aufweist und bestimmte Theoreme die Voraussetzung für andere Ideologiebestandteile darstellen, muss man nur die wichtigsten Grundvoraussetzungen des Ethnopluralisten in Frage stellen, um das ganze Gebäude zum Einsturz zu bringen. Die wichtigsten Voraussetzungen wären dabei das „Reinheitsgebot“, der kulturalistische Rassismus sowie der Relativismus. Kritik des „Reinheitsgebotes“ Zunächst könnte man den Ethnopluralisten fragen, warum eigentlich etwas nur in „Reinheit“ existieren kann und was das eigentlich heißen soll. Warum sollte nicht etwas, das aus den guten Bestandteilen zweier Dinge gemischt wird, am Ende besser sein als jedes „rein“ für sich? Für die gegenteilige Annahme gibt es keinen vernünftigen Grund. Denn warum sollten andere Kulturen nicht Kulturgüter hervorgebracht haben, die den unsrigen überlegen sind oder bei uns gar nicht
vorkommen, aber dennoch nützlich sein könnten? Sollte der Ethnopluralist tatsächlich behaupten, andere Völker hätten nichts hervorgebracht, was unseren Errungenschaften überlegen ist, würde er etwas behaupten, was er aufgrund seines Relativismus gar nicht behaupten kann: Man könnte ihn des Rückfalls in die Idee des Sozialdarwinismus überführen, weil er die „deutsche“ Kultur für allen anderen überlegen und die anderen für minderwertig hält. Dass es in anderen Ländern nichts gibt, was für uns nützlich sein könnte, bei uns aber ursprünglich nicht vorkommt, wird er nicht ernsthaft behaupten können. Denn auch z. B. das Bier, das ja unter strammen Nationalisten regelmäßig konsumiert werden soll, kommt ursprünglich aus Ägypten – von Südfrüchten ganz zu schweigen. Wenn der Ethnopluralist aber zumindest gewisse „nicht-deutsche“ Güter in seine Kultur zu „assimilieren“ bereit ist, ist es mit der „Reinheit“ dahin. Jede weitere Integration „kulturfremder“ Güter ist eine bloß quantitative Frage. Der Ethnopluralist hätte nur eine Möglichkeit, sich dieser Argumentation zu entziehen, indem er nämlich die angebliche Bedrohung durch die „fremde“ Kultur von den Kulturgütern auf ihre Träger abwälzt: Nicht das Bier, das eigentlich keine „deutsche“ Erfindung ist, wäre dann die Bedrohung, sondern der „Nicht-Deutsche“ als Person. Allerdings verstrickt sich der Ethnopluralist dann in das nächste Problem: Denn aus welchem Grund sollte man diese Trennung überhaupt vornehmen? Und was viel wichtiger ist: Was macht den „Nicht-Deutschen“ eigentlich so gefährlich für die „deutsche“ Kultur, wenn nicht, dass er Träger einer anderen Kultur ist, die die Identität und Reinheit der „deutschen“ Kultur bedroht? Die Trennung zwischen dem Träger der Kultur und ihren Elementen erweist sich damit aber politisch als fiktiv. Per Lennart AAE versucht den Widersprüchen des „Reinheitsgebotes“ dadurch zu entgehen, dass er anerkennt,
dass Kulturen und Nationen historische Produkte und keinesfalls ewige, schicksalhafte Urgestalten sind (AAE 1999). Allerdings verschiebt AAE das Reinheitsgebot letztlich nur auf eine andere Ebene und gibt es keinesfalls auf, da er jetzt das historisch gewachsene „deutsche Volk“ als kulturell abgeschlossene Einheit denkt und damit das Reinheitsgebot auf diese historisch gewachsene Struktur anwendet, um so die Ablehnung multikultureller Einflüsse zu begründen. Kritik des kulturalistischen Rassismus Was wäre außerdem z. B. eigentlich die reine „deutsche Kultur“? Sollte der (nationalistische) Ethnopluralist daraufhin eine Liste „deutscher“ Kulturgüter anfertigen, könnte man ihn wiederum fragen, woher er denn nun weiß, dass er a) nichts Wesentliches vergessen hat und b) die aufgezählten Güter bzw. Eigenschaften tatsächlich „deutsch“ sind und warum? In aller Regel werden deutsche nationalistische Ethnopluralisten auf eine solche Frage so antworten, wie Jürgen SCHWAB es versucht hat, und wenn sie es nicht von selbst tun, kann man es ihnen ja durch eine prüfende Frage nahelegen. Nach SCHWABS Ansicht gilt, „dass Deutscher ist, wer Deutscher Abstammung ist.“ (SCHWAB 1999: 224) Damit wurde die Argumentation von SCHWAB natürlich nur auf eine weitere Ebene verschoben, denn nun müssen wir wiederum fragen, wann jemand „deutscher Abstammung“ ist. Aber auch darauf hat SCHWAB eine Antwort: „Es ist hierbei klar zu unterscheiden zwischen Auslandsdeutschen und Fremden, die im Inland leben. Ein Mensch zum Beispiel, der deutsche Eltern hat, aber im Ausland (zum Beispiel in Chile oder Russland) geboren wurde, gilt als Deutscher, ein Türke, der in Wien oder Frankfurt/Main geboren wurde jedoch nicht. Das gleiche Prinzip lässt sich auch auf die Staatsbürgerschaft übertragen.“ (ebd.) „Deutscher Abstammung“ ist also, wer „deutsche Eltern“ hat. Aber jetzt
ergibt sich dasselbe Problem: Wann sind denn die Eltern eines Menschen „deutsch“? Die einzig mögliche Antwort: Wenn die Eltern dieser Eltern wiederum „deutscher Abstammung“ sind. Und wann sind die Eltern der Eltern „deutscher Abstammung“? Wenn die Eltern der Eltern der Eltern „deutsch“ sind usw. So könnte man bis ins Unendliche fortfahren und würde dann irgendwann bei unseren deutschen affenähnlichen Vorfahren ankommen und schließlich bei so etwas wie der deutschen Amöbe. Jede rassistische Argumentation mündet letztlich in der Lächerlichkeit einer unendlichen Begründungskette, die eben deshalb dann gar keine Begründung mehr ist, sondern bloße willkürliche, rassistische Grenzziehung. Auch könnte man dem Ethnopluralisten die Frage stellen, warum ein „deutscher“ Punker mit einem „deutschen“ Banker eine größere kulturelle Identität aufweisen soll als ein französischer oder australischer Punker mit einem deutschen Punker oder ein südamerikanischer Banker mit einem deutschen Banker? Das dürfte nicht so leicht zu begründen sein – höchstens mit der gemeinsamen Sprache, die Rechtsextremisten immer wieder als wichtiges Abgrenzungskriterium zwischen den Kulturen und Völkern ansehen (siehe auch NPD 1997 sowie SCHWAB 1999: 233, 238). Allerdings ergäben sich hieraus wiederum zwei Probleme: Wenn die Sprache darüber entscheidet, zu welchem Kulturkreis jemand oder etwas gehört, zu welcher Kultur gehört dann eine englische Übersetzung der Werke Goethes oder eine deutsche Übersetzung der Werke Shakespeares? Und außerdem ist das Missliche an der Sprache ja gerade, dass ein jeder Mensch sie erlernen kann – eine Erkenntnis übrigens, die selbst Adolf HITLER aufgegangen ist: „Die Rasse […] liegt nicht in der Sprache, sondern ausschließlich im Blute, etwas, das niemand besser weiß als der Jude, der gerade auf die
Erhaltung seiner Sprache nur sehr wenig Wert legt, hingegen allen Wert auf die Reinhaltung seines Blutes. Ein Mensch kann ohne weiteres die Sprache ändern, d. h. er kann sich einer anderen bedienen; allein er wird dann in seiner neuen Sprache die alten Gedanken ausdrücken; sein inneres Wesen wird nicht verändert.“ (HITLER 1934: 342) Demnach wäre, wenn die Sprache über die Zugehörigkeit zu einer Nation, einem Volk etc. entscheiden soll, jeder Mensch ein potenzieller Deutscher, und sobald er die deutsche Sprache erlernt hätte, müsste er als Deutscher gelten können. Und so mancher „Deutscher“ müsste dann aufgrund unzureichender Grammatikund Rechtschreibkenntnisse oder eines vom Hochdeutschen stark abweichenden Dialektes aus Deutschland ausgewiesen werden. Man könnte sich außerdem den „Spaß“ machen, mit Hilfe von BENOIST gegen einen nationalistischen Ethnopluralisten sowie Wohlstandschauvinisten zu argumentieren. BENOIST hatte den Nationalismus ja als eine Form des Egoismus auf höherer Ebene kritisiert und deshalb abgelehnt. Da es nun in aller Regel zum Einmaleins eines Rechtsextremisten gehört, den „Materialismus“ und Egoismus der westlichen Welt im Gewande der Globalisierung abzulehnen, ließe sich mit Recht die Frage stellen, inwiefern sich eine moderne liberalistische Position eigentlich grundsätzlich von einer nationalistischen unterscheidet? Denn der Nationalist verlagert den Egoismus sowie den Individualismus einfach nur von der Ebene des Individuums auf die Ebene des „Volkes“, lehnt damit Individualismus und Egoismus aber keinesfalls ab. Eine politische Theorie, die Egoismus und einen falsch verstandenen Individualismus ernsthaft in Frage stellt, müsste demnach eine kosmopolitische sein.
Kritik des Relativismus Die Kritik des Relativismus wird sich vielleicht als das schwierigste Unterfangen herausstellen, nicht zuletzt deshalb, weil eine solche Position – wie bereits weiter oben hervorgehoben – nicht selten auch von Demokraten vertreten wird. Aber man könnte den erklärten Ethnopluralisten, wenn er Mitglied der NPD ist oder mit ihr zumindest sympathisiert, z. B. fragen, ob er der Meinung ist, dass das Programm der NPD besser ist als die Politik der NSDAP. Mit anderen Worten: Ist das, was die NPD vorhat, besser als Auschwitz? Das NPDMitglied hat jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder es behauptet, und das müsste es als Relativist eigentlich, dass die Politik der NPD nicht besser als Auschwitz ist. Denn die Grundthese des Relativismus lautet ja gerade, dass es keinerlei Kriterien zur Unterscheidung zwischen gut und böse bzw. besser und schlechter gibt. Wenn das aber der Fall ist, dann kann natürlich die Politik der NPD nicht besser sein als die der NSDAP. Jetzt gibt es aber wiederum zwei Probleme: Warum hat die NPD dann eigentlich ein anderes Parteiprogramm als die NSDAP, wenn sie doch gar kein Kriterium zur Beurteilung der Güte von Parteiprogrammen hat? Aber wichtiger ist das zweite Problem: Denn das öffentliche Zugeständnis, dass das Politikmodell der NPD nicht einmal besser ist als das der NSDAP, wird die argumentative Position des NPD-Mitglieds nicht nur deutlich schwächen, sondern seine eigentliche politische Intention zerstören. Denn auch die NPD ist ja gerade darum bemüht, sich in Abgrenzung zur NSDAP und zum Nationalsozialismus zu definieren. Sie gibt ja teilweise gerade zu, dass während der NS-Zeit schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden. Und dann muss das NPD-Mitglied auch zugeben, dass das, was die NPD will, besser ist, als das, was die NSDAP wollte. Sobald es das aber zugibt, hat es seine eigene relativistische Position widerlegt.
Oder das NPD-Mitglied behauptet, dass die NPD natürlich etwas vorhabe, was besser sei als die Pläne der NSDAP. Aber dann gilt genau dasselbe: Wenn das NPD-Mitglied dies behauptet, zerstört es seinen Relativismus, denn es gibt dann ja offenbar doch Kriterien, an denen gemessen werden kann, ob etwas „besser“ oder „schlechter“ ist. Generell gilt: Man muss einen Relativisten argumentativ nur so lange jagen, bis er selber Wertungen vornimmt. Sobald der Ethnopluralist in seiner Argumentation dies tut, widerspricht er seinen relativistischen Grundsätzen.
8. Kapitel
Ist der Verfassungsschutz verfassungswidrig? Zu den juristischen Grundlagen eines Parteiverbots∗ In öffentlichen Diskussionen gilt das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland häufig als politischer Bibelersatz. Wer es wagt, die Gültigkeit des Wortlauts des Grundgesetzes politisch zu hinterfragen, wird in der Öffentlichkeit nicht selten so behandelt, wie man sich die Behandlung Nicht-Gläubiger im Mittelalter vorstellt. Man ist ein Aussätziger, und zwar einfach deshalb, weil man zu hinterfragen wagt, was einer Mehrzahl der Deutschen als selbstverständlich gilt. Bisweilen wird in der Wissenschaft in diesem Zusammenhang auch vom „Totalitarismus“ oder „Extremismus der Mitte“ gesprochen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ohne Zweifel ist es ein plausibler Gedanke anzunehmen, dass die Einheit der Menschheit ebenso eine einheitliche moralische Grundlage erfordert. Nur: Diese Selbstverständlichkeit des Alltagsverstandes ersetzt eben noch lange keine wissenschaftliche Begründung. Ein ähnliches Problem ergibt sich beim höchsten deutschen Gericht, dem Bundesverfassungsgericht. Ihm und seinen Entscheidungen haftet in der Meinung der Öffentlichkeit etwas geradezu Mystisches an. Bisweilen kann man sogar den ∗
Wie jedem anderen habe ich auch diesem Kapitel die mir mögliche Gewissenhaftigkeit zugrunde gelegt. Dennoch bleibt der Hinweis wesentlich, dass ich auf dem Gebiete der Rechtswissenschaft nicht mehr als ein bemühter Laie sein kann.
Eindruck gewinnen, das Bundesverfassungsgericht habe in der Öffentlichkeit den Status eines göttlichen Rates zur Auslegung des Grundgesetzes inne. Hierbei ist nicht nur auf die Selbstverständlichkeit hinzuweisen, dass das Organ Bundesverfassungsgericht aus regelmäßig wechselnden Richtern besteht, die sich auch wie jeder andere Mensch irren können, sondern dass teilweise Entscheidungen von erheblicher Tragweite vom höchsten deutschen Gericht mit äußerst knappen Mehrheitsentscheidungen getroffen werden. Bei einer anderen Besetzung wären die Entscheidungen möglicherweise anders ausgefallen. Es ist daher wissenschaftlich – entsprechende Sachargumente vorausgesetzt – nicht nur legitim, sondern tatsächlich juristischer Alltag, dass den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von angesehenen Rechtsgelehrten widersprochen wird. Dies wirft in der Praxis bspw. das nicht unerhebliche Problem auf, dass Entscheidungen, die das Bundesverfassungsgericht vor Jahrzehnten getroffen hat, eine gewisse moralische Bindungswirkung auch für die nachfolgenden Richter schaffen – auch wenn diese Jahrzehnte später in einem ähnlichen Fall anderer Meinung sein können. So wie jedes andere Gremium unterliegt daher auch das Bundesverfassungsgericht der Gefahr, sich bei der Rechtsauslegung vom Zeitgeist bestimmen zu lassen. Und dennoch ist und bleibt ohne Zweifel das Bundesverfassungsgericht die Hüterin unserer Demokratie, die aufgrund ihrer formalen Unabhängigkeit am ehesten in der Lage ist, für unsere Demokratie weitreichende Entscheidungen zu kontrollieren bzw. zu treffen. Allerdings sollte man sich von der Meinung freimachen, in Karlsruhe stünde so etwas wie der deutsche Olymp.
Von der werthaften zur wehrhaften Demokratie Der Grund für den Stellenwert des Grundgesetzes ist vor allem in der historischen Erfahrung des Nationalsozialismus zu suchen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war man sich in Deutschland weitgehend darüber einig, dass ein Normenkatalog nötig sei, der unter allen Umständen einer Wiederbelebung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen einen Riegel vorschiebt. Daher beansprucht das Grundgesetz selbst für seine innere Substanz durch die so genannte „Ewigkeitsgarantie“ absolute Gültigkeit. In Artikel 79 Absatz 3 heißt es hierzu: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“ Während Artikel 1 (auch durch Absatz 3) das Bekenntnis zu den Menschenrechten beinhaltet und hier die Beanspruchung einer unverrückbaren Gültigkeit vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen durchaus nachvollziehbar ist, scheint hingegen eine Festschreibung des politischen Föderalismus als unaufhebbarer Tatbestand jedenfalls weniger normativ überzeugend. Die Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes verweist dabei auf den Kern der deutschen Verfassung: Das Grundgesetz verbürgt zwar eine freiheitliche Demokratie, aber dies darf nicht mit einer Demokratie der Beliebigkeit verwechselt werden. Die Freiheit des Einzelnen findet also dort ihre Schranke, wo sie dazu verwendet wird, die Freiheit selbst aufzuheben. Das deutsche Grundgesetz zieht daher die Konsequenzen aus der Zeit des Nationalsozialismus und betont stärker als die Weimarer Verfassung den Schutz der bestehenden Ordnung und bestimmter Werte.∗ Das Freiheitsverständnis unserer ∗
Häufig wird behauptet, erst mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik
Demokratie ist also keinesfalls relativistisch und räumt nicht allen Meinungen und Bestrebungen den gleichen Rang ein. Von extremistischen Parteien wird dieser Absolutheitsanspruch des Grundgesetzes∗∗ häufig als selbstwidersprüchlich und totalitär zurückgewiesen. Wenn Deutschland eine wirklich freiheitliche Demokratie sein wolle, müsse es auch die Meinungen und Bestrebungen zulassen, die möglicherweise gegen sie gerichtet sind. Wer die Freiheit gegen die Feinde der Freiheit einschränke, so das Argument, sei kein wirklicher Anhänger der Freiheit, sondern nur seiner eigenen und insofern antidemokratisch und totalitär. Von juristischer Seite hingegen wird genau umgekehrt argumentiert: Es bedeutete eine „Selbstparadoxierung der Freiheitsgarantie“ (Morlok 1988: 307), wenn die Demokratie die Feinde der Freiheit frei gewähren ließe: „Es ist mithin nur eine Konsequenz der Institutionalisierung einer freiheitlichen politischen Ordnung, dass die Freiheit nicht zur Aufhebung der freiheitlichen Ordnung selbst missbraucht werden darf.“ (ebd.) Indes ist dieser Widerstreit der Meinungen leicht erklärbar. Der Streit resultiert nämlich aus einem spezifisch modernen Verständnis darüber, welchen Rang die Demokratie politisch und verfassungsrechtlich einnehmen soll.
Deutschland habe der Staat im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung Abwehrmöglichkeiten gegen Verfassungsfeinde erhalten. Dies ist allerdings falsch. Die Unterschiede bestehen vielmehr in drei Hauptpunkten: 1. können Parteiverbote nicht mehr von der Exekutive ausgesprochen werden, 2. sind sie nicht revidierbar und 3. basieren sie auf einer strikten Werteorientierung der Verfassung (Kunig 2001: 91, Mommsen 2002, Groh 2002: 92, Ipsen 2003: 926, Kersten 2001: 1 ff) ∗∗ Das Bundesverfassungsgericht bestätigt dies, wenn es im Urteil gegen die KPD betont, dass im Grundgesetz „absolute Werte anerkannt“ (BVerfG 5, 85ff) sind, die „entschlossen gegen alle Angriffe verteidigt werden sollen“ (ebd.).
In der antiken politischen Philosophie hatte man ein eher „entspanntes“ Verhältnis zur Demokratie. Demokratie wurde dort nicht als Zweck oder Ziel an sich, sondern vielmehr als eine politische Herrschaftsform unter vielen möglichen angesehen. Das eigentliche Ziel gesellschaftlicher Entwicklung war nicht „Demokratie“, sondern „das gute Leben“. In der modernen politischen Philosophie, nicht zuletzt wegen der historischen Erfahrung des Nationalsozialismus, kam es allerdings zu einer Verselbständigung des Werts der Demokratie. Sie wurde zu einem Zweck und Ziel an sich, nicht aber in erster Linie zu einer politischen Herrschaftsform, einem Mittel zu einem bestimmten Zweck. Verleiht man der Demokratie den Stellenwert eines „Werts an sich“, erzeugt selbstverständlich die Einschränkung derselben einen inneren Selbstwiderspruch. Wenn Demokratie der höchste zu achtende Wert ist, stellt seine Verletzung – auch gegen Feinde – ihn gerade als höchsten Wert in Frage, Wird Demokratie hingegen als eine Form politischer Herrschaft verstanden, die der Verwirklichung einer bestimmten normativen Ordnung dienen soll und aus ihr abgeleitet wird, stellt es überhaupt keinen Widerspruch dar, die Demokratie genau dann einzuschränken, wenn durch ihre Anwendung die Untergrabung der ihr zugrunde liegenden normativen Ordnung befürchtet werden muss.∗ Wenn die Verwirklichung der Menschenrechte der eigentliche Zweck auch des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland ist und die Demokratie „nur“ ein aus diesem Ziel abgeleitetes Mittel zur Herbeiführung eben dieses Ziels, so verliert dieses Instrument genau dann die Berechtigung auf seine Anwendung, wenn es das Ziel zu untergraben statt zu ∗
Es muss in diesem Zusammenhang vielleicht daran erinnert werden, dass die NSDAP nach fehlgeschlagenen Putschversuchen zur Strategie der Legalität übergegangen ist. Sie hat die politische Macht nicht durch Gewalt, sondern weitgehend auf formal-demokratischem Wege erlangt.
erreichen droht: „Die ,wehrhafte’ Demokratie muss auch insoweit mit der ,werthaften’ verbunden werden, dass sie nur letzterer dienen darf.“ (Streinz 2000: 388f) ∗ Aus der Aufgabe des Schutzes einer menschenrechtlichen Mindestnorm hat der Verfassungsgeber insgesamt drei wesentliche Mechanismen abgeleitet, die der so genannten „wehrhaften“ oder „streitbaren Demokratie“ politische Wirkmächtigkeit verleihen: • Art. 9 Abs. 2 GG; Vereinsverbot: „Vereinigungen, deren Zweck oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.“ • Art. 18 GG; Verwirkung von Grundrechten: „Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Art. 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Art. 8), die Vereinigungsfreiheit (Art. 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10), das Eigentum (Art. 14) oder das Asylrecht (Art. 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.“ • Art. 21 Abs. 2 GG; Parteiverbot: „Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind ∗
Dieser Kerngedanke der deutschen Fassung der Demokratie wird bis heute nicht selten aufgrund eines wertneutralen, liberalen Verfassungsverständnisses übersehen. So stellten im Rahmen der NPDVerbotsdebatte zahlreiche Diskutanten fest, dass sich ein Parteiverbot für eine liberale Demokratie nicht gehöre (bspw. Seils 2002: 49).
verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.“ Für die vorliegenden Betrachtungen kommt lediglich das Instrument des Parteiverbots in Betracht, das in positiver Wendung und in Abgrenzung zu Art. 9 Abs. 2 häufig auch als „Parteienprivileg“ bezeichnet wird. Demnach entsprechen Parteien nicht den in Art. 9 Abs. 2 genannten „Vereinigungen“ und können auch nicht von staatlichen Behörden verboten werden.∗ Um eine Partei zu sein, dürfen Vereinigungen keine „Zufallsbildungen von kurzer Lebensdauer“ (BVerfG 3, 19) sein und müssen die entsprechenden Kriterien nach § 2 Parteiengesetz (PartG) erfüllen. Hierzu zählen: Einflussnahme einer Gruppe von Bürgerinnen über einen längeren Zeitraum auf die politische Willensbildung auf Ebene des Bundes oder der Länder sowie eine erkennbare „Ernsthaftigkeit“ des Unternehmens, die sich vor allem zeigt in der Festigkeit der Organisation, der Anzahl der Mitglieder sowie im Hervortreten in der Öffentlichkeit. Über Verbote von Parteien entscheidet ausschließlich das Bundesverfassungsgericht, um die Missbrauchsgefahr durch das Parteiverbot zu minimieren – so genanntes „Entscheidungsmonopol“ (BVerfG 47, 228). Das Verbot folgt unmittelbar aus § 46 Absatz 3 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG). Läge die Möglichkeit zum Parteiverbot in Händen der Regierung (Exekutive), wäre die Gefahr gegeben, dass es zum Missbrauch der wehrhaften Demokratie durch Ausschaltung missliebiger Parteienkonkurrenz kommt. Der Erfolg dieser ∗
Der Verbotswelle gegen zahlreiche neonazistische Organisationen zu Beginn der 1990er Jahre ging daher die Einschätzung voraus, dass es sich bei ihnen nicht um Parteien im Sinne des Grundgesetzes handelte (Bsp.: BverwG NVwZ 1997, 66ff).
Missbrauchshürde zeigt sich daran, dass es in der BRD bisher nur zu zwei Parteiverboten kam, die beide in die 1950er Jahre fielen. So stellte das Verfassungsgericht für die „Sozialistische Reichspartei“ (SRP) am 23. Oktober 1952 und für die „Kommunistische Partei Deutschlands“ (KPD) am 17. August 1956 die Verfassungswidrigkeit fest. Da es hiernach nicht zu weiteren Parteiverboten kam, wurde in der Fachliteratur bisweilen sogar über die inzwischen eingetretene Überflüssigkeit der Ausführung von Art. 21 Abs. 2 GG diskutiert (Streinz 2000: 408). Mit dem Verbotsantrag gegen die NPD dürfte diese Diskussion allerdings hinfällig sein. Antragsberechtigt sind laut § 43 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) der Bundestag, der Bundesrat sowie die Bundesregierung. Soweit sich die Partei in ihrer Tätigkeit und Organisation auf ein einzelnes Land beschränkt, ist auch die jeweilige Landesregierung antragsberechtigt. Die Vollstreckung des Verbots obliegt laut § 32 des Parteiengesetzes der Exekutive.
Die Schutzgüter Als Schutzgüter nennt das Grundgesetz in Art. 21 Abs. 2 die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ (FDGO) und den „Bestand der Bundesrepublik Deutschland“. Beide Schutzgüter werden in der Verfassung selbst nicht näher spezifiziert und bedurften daher der nachträglichen Ausdeutung u. a. durch das Bundesverfassungsgericht. In der Fachliteratur wird dies durchaus als problematisch thematisiert: „Das Grundgesetz verwendet den Begriff [der FDGO, M. B.] auch in anderen Bestimmungen als Tatbestandsmerkmal, ohne ihn zu definieren. Dies ist angesichts der weitreichenden Folgen, die an ihn geknüpft werden, im Hinblick auf das rechtsstaatliche
Gebot klar begrenzter Eingriffsvoraussetzungen nicht unbedenklich.“ (Streinz 2000: 395f) Die FDGO definierte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil gegen die rechtsextremistische SRP wie folgt: „Freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Art. 21 Abs. 2 GG ist eine Ordnung, die unter Ausschluß jeglicher Gewalt-und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt.“ (BVerfG 2, 1) Zu den acht grundlegenden Prinzipien der Verfassung erklärte es dabei: • Achtung der Menschenrechte • Volkssouveränität • Gewaltenteilung • Verantwortlichkeit der Regierung • Gesetzmäßigkeit der Verwaltung • Unabhängigkeit der Gerichte • Mehrparteienprinzip • Chancengleichheit aller politischer Parteien Diese „obersten Grundwerte“ (BVerfG 2, 12) der Verfassung dürfen allerdings nicht mit konkreten politischen Institutionen verwechselt werden. Es handelt sich hierbei um die „Kernsubstanz“ (Streinz 2000: 396) der Verfassung, die mit verschiedenen institutionalisierten Formen der politischen Demokratie vereinbar ist. Während das Grundgesetz mit der FDGO auf die innere Ordnung der BRD abzielt, bezieht sich der „Bestand der Bundesrepublik Deutschland“ auf ihre Außenverhältnisse: „Der Begriff ,Bestand der Bundesrepublik Deutschland’ bezieht sich im Unterschied zu demjenigen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht auf die innere, sondern
auf die äußere Ordnung. Es geht um die territoriale Integrität und die politische Unabhängigkeit des Staates, völkerrechtlich gesehen um die Gebietshoheit und die Souveränität.“ (Kunig 2001: 94; so auch Morlok 1998: 309; Pieroth 2002: 569 u.a.)
Die Verbotskriterien Es ist durchaus strittig, aufgrund welcher Kriterien Parteien in der Bundesrepublik Deutschland verboten werden können. In Art. 21 Abs. 2 ist festgelegt, dass sie „nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen“ müssen, „die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden.“ Versteht man die Beziehung zwischen Beeinträchtigung und Beseitigung als ein „Verhältnis der Steigerung“ (Streinz 2000: 399; Ipsen 2003: 928) und nicht als einen prinzipiellen Unterschied, ergeben sich insgesamt vier mögliche Varianten für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit:∗ Entweder richten sich die Ziele der Partei auf die • Beeinträchtigung/Beseitigung der FDGO • Gefährdung des Bestandes der BRD Oder das Verhalten der Anhänger∗∗ richtet sich auf die ∗
Martin Morlok unterscheidet allein im Hinblick auf die FDGO „vier Varianten“ (Morlok 1998: 310) der Feststellung der Verfassungswidrigkeit. Nimmt man dann noch die Bestandsgefährdung hinzu, kommt man dann insgesamt auf sechs mögliche Varianten zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit. Umgekehrt interpretiert Volker Neumann das entscheidende „oder“ als „und“ und reduziert die Möglichkeiten zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit auf zwei (Neumann 2002: 168). ∗∗ Der Begriff des Anhängers ist deutlich weiter als der des Mitglieds. Hierbei besteht das Beweisproblem, dass nicht jedwedes Verhalten eines
• Beeinträchtigung/Beseitigung der FDGO • Gefährdung des Bestandes der BRD Die Gründe für ein Parteiverbot sind damit eindeutig definiert, nämlich der Angriff auf die beiden Schutzgüter. Daher spricht das Grundgesetz auch vom „Daraufausgehen“, das vom Bundesverfassungsgericht im Urteil gegen die KPD näher definiert wurde: „Eine Partei ist nicht schon dann verfassungswidrig, wenn sie die obersten Prinzipien einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht anerkennt; es muss vielmehr eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung hinzukommen.“ (BVerfG 5, 85) Die aktiv kämpferische, aggressive Haltung kann keinesfalls mit dem Tatbestand der Gewalt identisch sein, weil dies aufgrund der historischen Erfahrung gerade die wehrhafte Demokratie ad absurdum führen würde: „Angesichts der Erfahrung mit der Machtergreifung Hitlers, die in derselben Form vor sich gegangen war wie zahlreiche Regierungswechsel vorher, kommt es nur noch auf das Ziel, die freiheitliche demokratische Ordnung abzuschaffen, nicht mehr auf das Mittel der Gewalt an.“ (Grimm 2002: 140).∗∗ Das Moment des Aggressiv-Kämpferischen weckt daher durchaus falsche Assoziationen. Das Bundesverfassungsgericht stellte klar, dass hiermit nicht ein Gewaltakt und auch kein „konkretes Unternehmen“ (BVerfG 5, 85) gemeint ist, sondern die dauerhafte „Absicht“ (ebd.) einer Partei, die Grundordnung zu bekämpfen: „Sie muss Anhängers der Partei zugerechnet werden kann. Vielmehr muss die Handlung des Anhängers in einem sachlich erkennbaren Zusammenhang zu den Zielen der Partei stehen. ∗∗ Anders sehen dies allerdings Groh (Groh 2002: 97), Meier (Meier 2002: 19) und Busch (Busch 2002: 63), die die Gewalt zum Eingriffskriterium des Staates gegenüber Parteien machen wollen. Sie kehren damit allerdings zum liberalen Verfassungsverständnis der Weimarer Republik zurück und verkennen den Kerngedanken der wehrhaften Demokratie.
außerdem so weit in Handlungen (das sind u. U. auch programmatische Reden verantwortlicher Persönlichkeiten) zum Ausdruck kommen, dass sie als planvoll verfolgtes politisches Vorgehen der Partei erkennbar wird.“ (ebd.) Programmatische Reden, und keinesfalls lediglich Gewaltakte, werden also durchaus als Handlungen gesehen, die eine „aktiv kämpferische, aggressive Haltung“ zum Ausdruck bringen. Der Begriff der aktiv kämpferischen, aggressiven Haltung wirft daher vielleicht mehr Probleme und Fragen auf, als er zur Klärung beiträgt. Einerseits soll er das „Daraufausgehen“ näher bestimmen und scheint einen Aspekt politischen Handelns integrieren zu sollen, andererseits wird im selben Kontext davon gesprochen, dass die „Absicht“ einer Partei für ihre Verfassungswidrigkeit ausreichend sei. Präzise betrachtet ist ja auch eine „Haltung“ noch keine politische Handlung. Die Verfassungswidrigkeit ist also nicht zweistufig im Sinne einer notwendigen (verfassungswidrige Ziele) und hinreichenden Bedingung (verfassungswidriges Handeln), sondern das Verhalten der Anhänger dient vielmehr als äußerer Anhaltspunkt zur Feststellung verfassungswidriger Ziele. Für diese Interpretation spricht die Formulierung, dass durch eine Handlung ein „planvoll verfolgtes politisches Vorgehen der Partei erkennbar wird.“ (BVerfG 5, 142) Damit machen allerdings nicht erst die Handlungen, sondern bereits die Ziele einer Partei diese verfassungswidrig. Die Handlungen haben als „Erkenntnismittel“ (Ipsen 2003: 927) höchstens bestätigenden Status. Diese Differenzierung würde bspw. für den Fall nötig, dass eine Partei zum Zwecke der Verschleierung ihr Parteiprogramm bewusst vage hält und nur vom zielgerichteten Verhalten der Anhänger auf die Verfassungswidrigkeit der Parteiziele geschlossen werden kann (ähnlich Streinz 2000: 403).
Dabei ist entscheidend, wie vergleichsweise niedrig die inhaltlichen, nicht die verfahrensmäßigen Hürden eines Parteiverbotes in Deutschland sind. Nach dem Wortlaut des Grundgesetzes ist es bereits ausreichend, wenn eine Partei auch nur das Ziel verfolgt, die FDGO zu beeinträchtigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden. Dies kann auch gar nicht anders sein, da es gerade dem Grundgedanken der wehrhaften Demokratie entspricht, bereits präventiv wirksam zu werden und Gefährdungen der beiden Schutzgüter möglichst früh auszuschließen. Ein Parteiverbot ist daher eine „Präventivmaßnahme“ (BVerfG 5, 142) zur Gefahrenabwehr. Nicht ohne Grund stellte das Bundesverfassungsgericht daher in seinem Urteil gegen der KPD klar: „Eine Partei kann […] auch dann verfassungswidrig sein, wenn nach menschlichem Ermessen keine Aussicht darauf besteht, dass sie ihre verfassungswidrige Absicht in absehbarer Zukunft werde verwirklichen können.“ (BVerfG 5, 143)
Schützt das Grundgesetz die Meinungsfreiheit? In Art. 5 Abs. 1 des Grundgesetzes wird ausdrücklich die Meinungsfreiheit geschützt: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemeinzugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“ Vor allem dieser Artikel bildet die argumentative Basis für eine liberale Verfassungsauslegung, wie sie von Volker Neumann und Horst Meier vorgeschlagen wird. Meier kritisiert bspw. die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre
1952, nicht nur verfassungswidrige Organisationen verbieten, sondern auch noch die von ihr vertretenen „Ideen selbst aus dem Prozeß der politischen Willensbildung“ (BVerfG 2, 73) ausscheiden zu wollen (Meier 2002: 20; auch Henke 1972: 265f). Dies sei ein Eingriff in die Meinungsfreiheit und unvereinbar mit dem Grundverständnis liberaler Demokratien. Er kommt mit Hinblick auf ein mögliches NPD-Verbot daher zu dem Urteil: „Gefahrenabwehr, die rechtsstaatlichen Ansprüchen genügen will, muss den landesüblichen ideologischen Verfassungsschutz ablösen.“ (Meier 2002: 27f) Tatsächlich scheint diese Interpretation aber dem Geist des Grundgesetzes zuwider zu laufen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist keine liberale, also werteneutrale Verfassung im amerikanischen Sinne, sondern eine „wertegebundene Ordnung“ (BVerfG 2, 12). Im internationalen Vergleich ist dies „Novum“ und „Unikum“ zugleich (Streinz 2000: 412). Auch das Bundesverfassungsgericht betont in seiner Verbotsentscheidung gegen die KPD daher, dass die deutsche Verfassung sich in diesem Punkt von klassisch liberalen Verfassungen fundamental unterscheidet und begründet diesen Unterschied mit der historischen Erfahrung des Nationalsozialismus (BVerfG 5, 137ff). Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts spricht außerdem dafür, dass Verbote nicht nur die Umsetzung verfassungswidriger Ziele verhindern, sondern diese Ziele selbst aus der Öffentlichkeit beseitigen sollen. Die vom Grundgesetz garantierte Meinungsfreiheit kann daher im Grundsatz gar nicht in dem „liberalen“ Sinne gemeint sein, wie viele Autorinnen dies interpretieren. Das Grundgesetz schränkt von seinem Geist her die politisch wünschenswerte Meinungsfreiheit auf Ideensysteme ein, die auf den Menschenrechten aufruhen. Gegenteilige Auslegungen des
Grundgesetzes ebnen daher gerade die differentia specifica zwischen Weimarer Reichsverfassung und dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ein. Diese Diskussion ist keine rein theoretische Spitzfindigkeit. Immer wieder hat in den letzten Jahren das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster von sich reden gemacht, das sich in seinen Entscheidungen teilweise ausdrücklich gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wendet und bspw. die Meinungsfreiheit auf Demonstrationen rechtsextremistischer Organisationen einschränken will. Der Standpunkt des OVG Münster nähert sich dabei dem hier vertretenen an, dass aufgrund der Wertegebundenheit der Verfassung sowie aufgrund der durch das Bundesverfassungsgericht formulierten Zielstellung, mit der Verfassung in Widerspruch stehende Ideen aus der Öffentlichkeit zu verbannen, eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, soweit sie sich auf den öffentlichen Raum bezieht, von der Intention her verfassungsrechtlich zumindest legitim ist. Häufig werden die Begründungen des OVG Münster aber kritisch gesehen und in negativer Konnotation als „beispiellos“ (Neumann 2002: 165) bezeichnet. Dieses Problem hatte auch das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Begründung der Feststellung der Verfassungswidrigkeit der KPD erwogen und die Frage gestellt, ob nicht die „beschränkende Bestimmung selbst als verfassungswidrig angesehen werden müsste“ (BVerfG 5, 137). Das Bundesverfassungsgericht stellte in seiner Entscheidung eindeutig fest, dass „eine gewisse Spannung zwischen der Vorschrift des Art. 21 Abs. 2 GG und der politischen Meinungsfreiheit, ohne Frage einem der vornehmsten Rechtsgüter jeder freiheitlichen Demokratie, besteht“ (BVerfG 5, 134). In einer weiteren Formulierung
sprach es sogar davon, dass beide Regelungen „theoretisch in Widerspruch“ (ebd.) zueinander stehen. Letztlich entschied sich das Gericht allerdings dafür davon auszugehen, dass beide Prinzipien der Verfassung als gleichwertig angesehen werden müssten: „In der Ebene der Verfassung stehen somit Art. 21 Abs. 2 GG und das Grundrecht der politischen Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) gleichwertig nebeneinander, so dass von einem formal höheren Rang einer der beiden Bestimmungen nicht die Rede sein kann.“ (BVerfG 5, 137) Diese Argumentation beruht allerdings auf einem unauflösbaren Widerspruch: Es ist gar nicht einzusehen, wie eine Partei überhaupt verboten werden können soll, wenn das Parteienprivileg dem Recht auf Meinungsfreiheit gleichwertig sein soll. Das Parteienprivileg ist vielmehr negativer Ausdruck der höchsten Bestimmung des Grundgesetzes, nämlich des Schutzes der Menschenwürde auf der Basis der Menschenrechte: „In der freiheitlichen Demokratie ist die Würde des Menschen der oberste Wert.“ (BVerfG 5, 204) Eine Beschränkung der Meinungsfreiheit, wie sie auch durch den Art 21. Abs. 2 zum Ausdruck kommt, ist ausschließlich aufgrund der Gefahr der Verletzung dieses höchsten Verfassungsgutes zu rechtfertigen. Da aber das Parteienprivileg nur eine negative Konsequenz aus diesem obersten Wert ist, kann die Meinungsfreiheit ihr nur nachgeordnet und keinesfalls mit ihr „gleichwertig“ sein. Allerdings sind damit die umstrittenen Urteile des OVG Münster noch keinesfalls legitimiert. Es sei daran erinnert, dass es aus gutem Grund ausschließlich dem Bundesverfassungsgericht obliegt, darüber zu entscheiden, ob eine Partei verfassungswidrig ist oder nicht. So lange die Verfassungswidrigkeit nicht festgestellt ist, ist eine Beschränkung der Rechte einzelner Parteien nach Ansicht vieler Autorinnen unzulässig: „Der Grundsatz der
Chancengleichheit verbietet jede Ungleichbehandlung der Parteien durch den Gesetzgeber […]. Auch die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung muss sich der offenen und verdeckten Werbung für einzelne der miteinander konkurrierenden politischen Parteien oder sonst an der politischen Meinungsbildung beteiligten Gruppen enthalten.“ (Schmidt-Bleibtreu/Klein 1999: 561f) Diese „Chancengleichheit“ ergibt sich zwar nicht direkt aus dem Wortlaut des Grundgesetzes, lässt sich aber aus dem Prinzip des Mehrparteiensystems schlussfolgern. Daher hat bspw. auch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1978 einer Verfassungsbeschwerde der Parteien KPD/ML, KBW und KPD stattgegeben, weil verschiedene Rundfunksender die Ausstrahlung von Parteienwerbung mit dem Argument verweigerten, Teile der auszustrahlenden Texte seien verfassungswidrig gewesen. Hierzu stellte das Bundesverfassungsgericht unmissverständlich fest: „Eine so weitreichende Inhaltskontrolle der Wahlwerbespots durch Rundfunkanstalten lässt das in Art. 21 GG umschriebene Parteienprivileg nicht zu. […] Das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts schließt ein administratives Einschreiten gegen den Bestand einer politischen Partei schlechthin aus, mag sie sich gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung noch so feindlich verhalten.“ (BVerfG 47, 228) Beschneidungen der Rechte einer politischen Partei sind also nach dieser Auffassung laut Art. 21 Abs. 2 GG ausschließlich aufgrund eines Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen eines Verbotsverfahrens zulässig, insofern nicht Straftatbestände erfüllt sind.
Ist der Verfassungsschutz verfassungswidrig? Dies scheint den Streit zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem OVG Münster zugunsten des Bundesverfassungsgerichts zu lösen. Allerdings ist dies nicht der Fall. Aus dem zitierten Urteil folgt unter Berücksichtigung des Prinzips der Chancengleichheit in einem Mehrparteiensystem, dass eine politische Partei so lange in ihrem Handeln nicht eingeschränkt werden darf, wie die Verfassungswidrigkeit nicht festgestellt wurde.∗ Allerdings widerspricht dies wiederum dem Prinzip der „wehrhaften Demokratie“. Die wehrhafte Demokratie soll ja gerade dem möglichen Sturz der Ordnung präventiv begegnen. Dies setzt allerdings voraus, dass Überwachungsmaßnahmen gegen möglicherweise verfassungsfeindliche Parteien bereits vor der Feststellung ihrer Verfassungswidrigkeit erfolgen müssen. Diese Tätigkeit übernehmen in Deutschland die Verfassungsschutzämter als den Innenministerien nachgeordnete Behörden. Die Tätigkeit des Verfassungsschutzes, und damit einer Behörde der Exekutive (!), stellt allerdings einen Eingriff in die Chancengleichheit der betroffenen Partei dar: „Gerade die abschätzige Beurteilung im Verfassungsschutzbericht soll die Beurteilung einer Partei in den Augen der Bürger beeinflussen, vielleicht auch indirekt Druck auf das Verhalten der Partei selbst ausüben. Solche staatlichen Äußerungen greifen in die verfassungsrechtlich geschützte Freiheit der betroffenen Partei ein.“ (Morlok 2002: ∗
Hieraus wird auch deutlich, warum der Art 21. Abs. 2, obwohl negativ formuliert, ganz zu Recht als Parteienprivileg bezeichnet worden ist (anders Ipsen 2003: 926). Das Bundesverfassungsgericht stellt hierzu selbst fest: „So ist im Grunde die Stellung der staatsfeindlichen Parteien nach dem Grundgesetz gesicherter als in Staaten, deren Verfassungen ein förmliches Verbotsverfahren nicht kennen.“ (BVerfG 5, 139f)
69) Hierbei handele es sich folglich um eine „Beeinträchtigung des Rechtsstatus einer Partei“ (Morlok 1998: 312f). Dies wird auch in den einschlägigen Kommentaren übereinstimmend so gesehen: Im Grundsatz bildeten die Maßnahmen des Verfassungsschutzes „Umgehungen der Schutzwirkungen des Art. 21. Abs. 2 GG“ (Streinz 2000: 392). Daher wird die verfassungsmäßig legitime Tätigkeit des Verfassungsschutzes auch häufig stark eingegrenzt: „Beobachtungs- und Überwachungsaktivitäten und entsprechende Sachstandsberichte sind allein im Hinblick auf ein mögliches Verbotsverfahren zulässig.“ (ebd.; ähnlich Pieroth 2002: 570) Aber auch dies ist problematisch: Wenn das Bundesverfassungsgericht darauf abhebt, dass das „Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts […] ein administratives Einschreiten gegen den Bestand einer politischen Partei schlechthin“ (BVerfG 47, 228) ausschließt, dann muss jeder Eingriff des Verfassungsschutzes, der die Chancengleichheit der Parteien verletzt und einem Verbotsprozess vorausgeht, verfassungswidrig sein. Genau die Instanz, die die wehrhafte Demokratie schützen soll, erweist sich als verfassungswidrig, wenn dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes gefolgt wird. Martin Morlok spricht hier daher zu Recht von einem „rechtsstaatlichen Dilemma“ (Morlok 2002: 71). In Deutschland kommt es allerdings nicht nur zum Zwecke des Parteiverbots zu Überwachungshandlungen durch den Verfassungsschutz: Parteien, die im Verdacht stehen, gegen die Verfassung gerichtete Ziele zu verfolgen, werden dauerhaft überwacht und in entsprechenden Verfassungsschutzberichten erwähnt. Folgt man obiger Logik der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes sowie den einschlägigen Kommentaren, handelt es sich hierbei, soweit politische Parteien betroffen sind, eindeutig um ein verfassungswidriges
Vorgehen. Entweder die Überwachungen führen zu Erkenntnissen, die ein Verbot erzwingen oder die Überwachungen und die damit verbundenen Diskriminierungen müssen aufgrund des Parteienprivilegs nach einer überschaubaren Zeit eingestellt werden. Dieser Zwangsmechanismus führt daher auch viele Autorinnen zu der Auffassung, dass ein Verbotsantrag nicht im politischen Ermessen der Antragsteller liegen kann, sondern vielmehr durch die normativen Grundlagen der Verfassung erzwungen werde. Denn die Exekutive ist durch die Verfassung verpflichtet, Maßnahmen zum Schutz der Grundordnung zu betreiben. Hierzu dient bspw. die Tätigkeit des Verfassungsschutzes als einer Verbotsvorbereitungshandlung. Da diese Tätigkeit aber aufgrund des Parteienprivilegs ausschließlich auf diesen Zweck eingeschränkt ist, muss nach dieser Sichtweise eine solche Maßnahme entweder in einem Verbotsantrag oder in der Einstellung der Überwachungshandlung münden. Folglich bestehe eine Pflicht zur Antragstellung (Ipsen 2003: 931 ff; Kersten 2001: 3): „Es besteht allerdings keine verfassungsrechtliche Möglichkeit, die Bundesregierung zu einem solchen Antrag zu zwingen.“ (Streinz 2000: 408; so auch Wassermann 2002: 102)
Politisches Ermessen oder Pflicht? Allerdings ist fraglich, ob tatsächlich eine Pflicht zur Antragstellung (Legalitätsprinzip) besteht. Letztlich steht damit zur Debatte, ob ein Verbotsantrag eine politische Maßnahme auf Basis einer normativen Grundlage darstellt oder ob es sich in Gänze um ein bloß juristisches Verfahren handelt, also etwas rein Formales.
Es widerspricht dem Gründungsgeist der Grundgesetzes, eine Pflicht zur Antragstellung anzunehmen (so auch Münch 2002: 53, Morlok 2002: 72) Und zwar deshalb, weil die Aufgabe der Antragsberechtigten darin besteht, Maßnahmen zum Schutze der auf dem obersten Verfassungswert, der Menschenwürde, ruhenden Grundordnung zu verfolgen. Nun ist aber ohne Schwierigkeiten eine Situation denkbar, in der sich zwar eine Partei politisch betätigt, die inhaltlich als verfassungswidrig eingestuft werden muss und dennoch ein verfassungsmäßiges Interesse an einem Verbot nicht bestehen kann. Dies gilt genau dann, wenn die begründete Befürchtung besteht, dass durch das Verbot die Gefährdung der Schutzgüter in noch höherem Maße eintritt, als wenn der Partei weiterhin die Legalität zugestanden wird. Sollte es also bspw. wahrscheinlich sein, dass im Falle eines Verbotes die Mitglieder einer Partei in den Untergrund gehen und so ein dauerhaft gesteigertes Bedrohungspotenzial erzeugen oder ein mögliches Verbot der mit der Partei verbundenen Szene durch einen Märtyrereffekt zusätzliche Anhänger verschafft, kann ein Verbot nicht im Interesse der wehrhaften Demokratie sein. Es spricht daher alles dafür anzunehmen, dass der Verbotsantrag ausschließlich ein politischer Akt ist, der dem Ermessen der Antragsteller anheim gestellt ist (Opportunitätsprinzip).∗ Dies bestätigt auch das Bundesverfassungsgericht, das sein Entscheidungsmonopol ausschließlich damit begründet, dass so der Missbrauchsgefahr des Parteiverbotes am wirksamsten ∗
Diese Interpretation bestätigen auch die ehemaligen Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm und Ernst Benda: „Das Grundgesetz zwingt die Antragsberechtigten – Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat – nicht zu einem Verbotsantrag, wenn die Partei verfassungswidrige Ziel verfolgt. Aber sie dürfen solchem Treiben nicht gleichmütig zusehen.“ (Benda 2002: 152f; ähnlich Grimm 2002: 143). Der kalkulierte Verzicht auf einen Verbotsantrag darf freilich nicht mit gleichmütigem Zusehen gleichgesetzt werden.
begegnet sei: „Lediglich aus rechtsstaatlichen Erwägungen ist bestimmt, dass die Feststellung der Verfassungswidrigkeit mit rechtlicher Wirkung nicht von jedermann, auch nicht von Regierung und Verwaltung, und nicht in jedem Verfahren getroffen werden kann, sondern nur durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts in einem der Erforschung der materiellen Wahrheit dienenden Verfahren.“ (BVerfG 2, 73) Das Bundesverfassungsgericht bestätigt schließlich in einem Urteil selbst, dass es keine Pflicht zur Antragstellung gibt: „Art 21. Abs. 2 GG gibt der Bundesregierung die Möglichkeit, die freiheitliche demokratische Grundordnung gegen verfassungswidrige Parteien zu schützen. Hält sie die Voraussetzungen für den Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei für gegeben, so ist es […] zunächst immer noch eine Frage des politischen Ermessens, ob sie nach Abwägung aller Umstände dem Gebot des Verfassungsschutzes nachkommen oder die hiernach zulässige Maßnahme […] zurückstellen will. Entschließt sie sich zur Antragstellung, so stellt sich für das zur Entscheidung berufene Bundesverfassungsgericht die Frage, ob die Bundesregierung damit die Grenzen dieses politischen Ermessens eindeutig überschritten hat.“ (BVerfG 5, 129, ähnlich BVerfG 5, 113) Es seien daher die Antragsberechtigten dafür verantwortlich zu entscheiden, „ob sie den Antrag stellen wollen […] oder ob die Auseinandersetzung mit einer von ihnen für verfassungswidrig gehaltenen Partei im politischen Felde geführt werden soll.“ (BVerfG 40, 291) Mit anderen Worten: Jedes Verbotsurteil gegen eine Partei ist notwendig politisch und kann nichts anderes sein. Dieser politische Charakter kommt dadurch zustande, dass die Antragstellung selbst den politischen Akt konstituiert, der dann zur Vollstreckung auf das Bundesverfassungsgericht übertragen wird. Das Bundesverfassungsgericht selbst fügt
diesem Vorgang allerdings nichts Politisches hinzu, sondern entscheidet auf der Grundlage rechtsstaatlicher Verfahren über die Rechtmäßigkeit eines Verbots. Insofern ist der häufig im kritischen Sinne erhobene Vorwurf der „politischen“ oder „Gesinnungsjustiz“ nicht nur kein Vorwurf, sondern drückt – ungewollt – exakt die deutsche Verfassungsrealität aus. Das Verbot einer Partei in Deutschland richtet sich gegen eine verfassungswidrige, weil im Kern gegen die Menschenrechte gerichtete Gesinnung einer Partei und ihrer Anhänger. Es ist zugleich politisch, weil Vor- und Nachteile eines Verbots aufgrund konkret-historischer Umstände vom jeweiligen Antragsteller abgeschätzt werden müssen. Ist der Antrag einmal gestellt und erfüllt er materiell die Voraussetzungen für ein Verbot, obliegt es dem Bundesverfassungsgericht nicht, einen politischen Spielraum geltend zu machen. Es muss dann die entsprechende Partei für verfassungswidrig erklären. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kommt hier also nicht in Betracht. Aus der Anerkennung des politischen Ermessens folgt eine entscheidende Konsequenz: Die dauerhafte Überwachungstätigkeit des Verfassungsschutzes kann dann nicht mehr als verfassungswidrig angesehen werden. Da die Antragsteller den Verbotsantrag auf eine politische und damit auch taktische Entscheidung zu gründen haben, müssen sie ständig über ausreichend Informationen zur Beurteilung der Umstände verfügen. Dies kann nur gewährleistet werden, wenn dem Verfassungsschutz das Recht auf dauerhafte Überwachung solcher Organisationen eingeräumt wird, die aufgrund begründeter Annahmen in ihrer Zielsetzung als verfassungsfeindlich einzuschätzen sind. Dies setzt allerdings voraus, dass das Parteienprivileg nicht in dem strikten Sinne ausgelegt werden kann, wie dies durch das Bundesverfassungsgericht im Urteil gegenüber den
Rundfunkanstalten im Jahr 1978 erfolgt ist. Da die dauerhafte Überwachung von Parteien durch den Verfassungsschutz einer Beeinträchtigung des Chancengleichheit einer Partei gleichkommt und diese Beeinträchtigung im Sinne der wehrhaften Demokratie aber als „wünschenswert“ angesehen werden muss, kann sie nicht erst mit Vollzug der Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das Bundesverfassungsgericht legitim werden. Nun hat sich das Bundesverfassungsgericht allerdings 1975 in einem weiteren Urteil zu der Frage geäußert, ob die Tätigkeit des Verfassungsschutzes in Form von Informationsbroschüren einen Eingriff in die Chancengleichheit der betroffenen Parteien darstelle oder nicht. Das Verfassungsgericht wies eine entsprechende Beschwerde der NPD mit der Begründung zurück, aus einer vom Innenminister zu verantwortenden Meinungsäußerung ergäben sich keine rechtlichen Folgen, die das Parteienprivileg in Frage stellen. Da der Kampf der Exekutive gegen verfassungswidrige Organisationen sogar eine durch die Verfassung auferlegte Pflicht sei und es außerdem im politischen Ermessen der Regierung stehe, dies im Rahmen eines Verbotsverfahrens oder auf anderem Wege zu tun, müssten Werturteile des Ministers bzw. der ihm unterstehenden Behörden legitim sein: „Dies bedeutet indessen nicht, dass der Befugnis der Staatsorgane, negative Werturteile über Ziele und Betätigung nicht verbotener politischer Parteien kundzutun, keinerlei verfassungsrechtliche Schranken gesetzt wären. Das Recht solcher politischer Parteien auf Chancengleichheit als ein wesentlicher Bestandteil der demokratischen Grundordnung verbietet vielmehr jede staatliche Maßnahme, die den Anspruch der Partei auf die Gleichheit ihrer Wettbewerbschancen willkürlich beeinträchtigt. Danach wäre es der Regierung untersagt, eine
nicht verbotene politische Partei in der Öffentlichkeit nachhaltig verfassungswidriger Zielsetzung und Betätigung zu verdächtigen, wenn diese Maßnahme bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich wäre und sich daher der Schluss aufdrängte, daß sie auf sachfremden Erwägungen beruhte.“ (BVerfG 40, 293) Sofern also die Chancengleichheit einer Partei nicht willkürlich, sondern begründet beeinträchtigt wird, sieht das Bundesverfassungsgericht dies als verfassungskonform an. Allerdings ergibt sich hieraus ein Problem: Das Bundesverfassungsgericht beansprucht für sich das so genannte „Entscheidungsmonopol“: „Weil die Parteien verfassungsrechtlich relevante Integrationsfaktoren sind, schließt das Grundgesetz die Möglichkeit aus, dass eine Partei dem Zugriff der Exekutive oder des Gesetzgebers ausgesetzt wird. Das Grundgesetz sieht aber als Korrelat der Freiheit der Parteigründung die Möglichkeit vor, dass die politische Partei für verfassungswidrig erklärt wird; die Entscheidung darüber hat es aber ausschließlich dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten.“ (BVerfG 12, 306) Dieser Logik folgend gab es einer Beschwerde kommunistischer Parteien statt, die die Weigerung einiger Rundfunkanstalten, vermeintlich verfassungswidrige Texte kommunistischer Parteien auszusenden, betraf. Gleichzeitig erklärte es in einem anderen Urteil die Einschränkung der Chancengleichheit nicht als verfassungswidrig eingestufter Parteien durch die Exekutive dann für verfassungskonform, wenn diese nicht „willkürlich“ sei. Derartige Maßnahmen würden sogar der Pflicht der Exekutive zum Schutz der Verfassungsgüter entsprechen, da es ihr obliege zu entscheiden, auf welche Weise sie gegen verfassungswidrige Parteien vorgehen wolle: „Es ist daher verfassungsrechtlich legitim, wenn die mit dem Recht zum
Verbotsantrag ausgestatteten obersten Verfassungsorgane, statt von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, zunächst versuchen, eine Partei, die sie für verfassungswidrig im Sinne von Art. 21 Abs. 2 Satz 1 GG halten, durch eine mit Argumenten geführte politische Auseinandersetzung in die Schranken verweisen zu lassen und dadurch ein Verbotsverfahren überflüssig zu machen. Auch damit erfüllen sie in aller Regel ihren Auftrag, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu wahren und zu verteidigen.“ (BVerfG 40, 291f) Der Zielkonflikt, der sich hieraus ergibt, ist offensichtlich: Einerseits soll die Möglichkeit zum Parteiverbot, d. h. zum Eingriff in den Bestand einer Partei, gerade der Exekutive und damit mittelbar konkurrierenden politischen Parteien entzogen sein, um möglichem Missbrauch vorzubeugen: „Das Entscheidungsmonopol soll den Status der Partei vor Eingriffen nicht nur seitens der Administrative und Legislative, sondern auch der allgemeinen Judikative schützen.“ (Lorenz 1976: 8) Andererseits erklärt es das Bundesverfassungsgericht für legitim, mit Hilfe des Verfassungsschutzes gegen noch nicht als verfassungswidrig erklärte Parteien politisch vorzugehen. Da dies vom Bundesverfassungsgericht sogar als Alternative zum Verbot formuliert wird und die legitimen Eingriffe daher offenbar bis zur faktischen Ausschaltung der entsprechenden Partei reichen können, droht hiermit das Entscheidungsmonopol politisch und faktisch ausgehebelt zu werden. Es ist daher erstaunlich, dass dieses Grundsatzproblem, das sich aus dem Konzept der wehrhaften Demokratie ergibt, bis heute nicht angemessen und eindeutig geklärt worden ist.
Verfassungsfeindlichkeit und Verfassungswidrigkeit In einer strikten Auslegung des Parteienprivilegs stellt selbst die Verbotsvorbereitungshandlung des Verfassungsschutzes einen verfassungswidrigen Tatbestand dar. Es würde aber gerade den Kerngedanken der wehrhaften Demokratie ad absurdum führen, die Tätigkeiten des Verfassungsschutzes grundsätzlich für verfassungswidrig zu erklären. Eine Lösung des Problems könnte darin bestehen, den Verfassungsschutz dem Bundesverfassungsgericht zu unterstellen und so das rechtsstaatliche Dilemma zu heilen. Allerdings bedeutete dies einen Eingriff in die Gewaltenteilung. Dies könnte allerdings aus drei Gründen als vertretbar erscheinen: 1. lässt sich durchaus auch das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts umgekehrt als exekutivisch verstehen (Lorenz 1976: 6f), 2. ist der Verfassungsschutz unmittelbar aus dem Prinzip der wehrhaften Demokratie abgeleitet, das innerhalb der Verfassung ebenfalls einen besonderen Status inne hat (ein besonderer Status des Verfassungsschutzes innerhalb der Verfassungswirklichkeit wäre daher jedenfalls nicht absurd) und 3. stellt der Verfassungsschutz lediglich eine ermittelnde Behörde dar. Gegen eine solche Umstrukturierung spricht allerdings die Tatsache, dass der Verfassungsschutz als ermittelnde Behörde dann gerade den möglichen Antragstellerinnen entzogen wäre. Die Situation, in der sich heute der Bundestag befindet, würde somit auf alle Antragsberechtigten ausgedehnt. Eine andere Lösung des Konflikts könnte darin bestehen, neben dem Status der Verfassungskonformität und dem der Verfassungswidrigkeit den der Verfassungsfeindlichkeit einzuführen (anders Ipsen 2003: 937 u. a.). Der Unterschied zwischen der Verfassungsfeindlichkeit und der
Verfassungswidrigkeit würde dann darin bestehen, dass die Verfassungswidrigkeit die durch das Bundesverfassungsgericht endgültig festgestellte Verfassungsfeindlichkeit darstellt, die mit dem Verbot der jeweiligen Partei zusammenfällt. Nur dem Bundesverfassungsgericht würde es damit zufallen, in den Bestand einer Partei einzugreifen. Damit wäre sowohl das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichtes über die Verfassungswidrigkeit unangetastet als auch mit dem Begriff der Verfassungsfeindlicbkeit eine Legitimationsgrundlage für die Tätigkeit des Verfassungsschutzes gegeben. Relevant ist dabei, dass ein Unterschied zwischen „Bestandsund Handlungsfreiheit“ (Lorenz 1976: 14) einer Partei geltend gemacht werden muss und unter der Verletzung der Bestandsfreiheit nicht jedweder Eingriff in die Chancengleichheit der Parteien verstanden werden kann, sondern hierunter lediglich Parteiverbote, also Akte fallen, die den Bestand einer Partei in Frage stellen. Die Unterscheidung zwischen der Verfassungsfeindlichkeit und der Verfassungswidrigkeit könnte außerdem eine Klärung der Frage herbeiführen, wie mit der Meinungsfreiheit in einer wehrhaften Demokratie umzugehen sei. Inhaltlich betrachtet macht die Verfassung sehr wohl einen Unterschied zwischen solchen Meinungen, die die Menschenrechte fördern und jenen, die sie überschreiten. Dieser Unterschied gipfelt u. a. in Art. 21. Abs. 2 und führt zu einer Einschränkung der Meinungsfreiheit. Dennoch kann eine freiheitliche Gesellschaft kein Interesse daran haben, dass dieses Instrument politisch missbraucht wird, – und sei es nur durch eine zu restriktive Handhabung – , da sonst droht, aus „Angst vor dem Tod Selbstmord zu begehen“ (Streinz 2000: 389). Auch jenen Kräften, die inhaltlich eindeutig verfassungsfeindlich sind, wird daher die Betätigung gestattet, solange die Auseinandersetzung der demokratischen Parteien mit ihnen im
öffentlichen Raum bessere Aussicht auf Erfolg hat. Diese Selbstbeschränkung der wehrhaften Demokratie folgt dabei aus ihrem inneren Geiste. Allein aus dieser Vorsichtsüberlegung heraus kommt es nicht zu so einer weiten Einschränkung der Meinungsfreiheit, wie sie das OVG Münster – inhaltlich betrachtet zu Recht, aus Vorsichtsüberlegungen heraus zu Unrecht – bisweilen anmahnt. Allerdings wäre hiermit nicht die abschließende Frage geklärt, ob die vom Bundesverfassungsgericht anerkannten faktischen Eingriffsrechte der Exekutive in die Chancengleichheit der Parteien nicht vielleicht doch das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichtes auszuhebeln drohen. Obige Erwägungen dürfen daher nicht dahingehend missverstanden werden, dass sie eine konsistente Lösung des Problems darstellen. Eine solche Aufgabe kann nur von fachkundigen Juristen bewältigt werden.
9. Kapitel
Der NPD-Verbotsprozess Zur Erinnerung: Es war der 27. Juli 2000, als in Düsseldorf ein Handgranatenanschlag auf Aussiedlerinnen verübt wurde. Der Hintergrund der Tat war nicht einmal geklärt, als der bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) bereits das Verbot der NPD forderte. Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) verweigerte sich diesem unsachlichen Vorschlag zunächst noch einige Tage. Als allerdings insbesondere die Medien eine breit angelegte Kampagne zum Verbot der NPD lostraten und die öffentliche Meinung daraufhin kippte, änderte auch die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung plötzlich ihre Meinung und unterstützte ein Verbot. Anfang 2001 stellten dann Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat geschlossen Anträge auf Verbot der NPD beim Bundesverfassungsgericht. Lässt man diese Ereignisse Revue passieren, müssen zwei wichtige Erkenntnisse festgehalten werden. 1. Der Antrag auf ein Verbot der NPD kam nicht aufgrund einer von wissenschaftlichen Fakten legitimierten Diskussion zustande, sondern war ein Akt symbolischer, effekthascherischer Politik. Dass dieser Vorgang auch noch Unterstützung in Medien und Öffentlichkeit fand, wirft ein bezeichnendes Licht auf den Zustand der deutschen Mediendemokratie. 2. Die Art und Weise des Zustandekommens der Verbotsanträge setzte die Mitarbeiterinnen der Innenministerien unnötig unter Druck. Sie hatten keine Gelegenheit, die ein mögliches Verbot rechtfertigenden Fakten sorgsam zusammenzutragen, sondern
mussten aufgrund des politischen Drucks innerhalb kürzester Zeit ihr Material zusammen schustern. Dass es letztlich zur Einstellung des Verfahrens infolge der V-Leute-Affäre kam, liegt also nicht zuletzt auch in den Umständen begründet, unter denen die Verbotsanträge zustande kamen.
Die Anträge Auf etwa knapp 600 DIN A4-Seiten, Anlagen nicht mitgerechnet, haben es die drei Antragstellerinnen mit ihren Verbotsanträgen gebracht. Aufgebaut sind die Anträge alle drei sehr ähnlich: Sie beginnen zunächst mit allgemeinen rechtstheoretischen Erörterungen darüber, ob ein Parteiverbot verfassungsrechtlich legitim und im vorliegenden Falle überhaupt möglich sei. Zu diesem Zwecke wird von allen drei Antragstellern plausibel bewiesen, dass die NPD als politische Partei betrachtet werden und das Instrument des Parteiverbotes daher überhaupt Anwendung finden kann: Die NPD trete regelmäßig zu Wahlen auf allen Ebenen an, verfüge über ein Netz von regionalen Organisationsstrukturen, als einzige der rechtsextremen Parteien über einen eigenen Jugendverband und besitze mit dem Drei-Säulen-Konzept eine politische Strategie, die sie tatsächlich auch umzusetzen bestrebt sei. Diese politischen Bemühungen sowie zahlreiche Demonstrationen, in Straftaten verwickelte NPD-Mitglieder, rege Kontakte zu militanten und neonazistischen Gruppierungen sowie aggressiv verfassungsfeindliche Äußerungen selbst höchster Partei-Funktionäre belegen außerdem eindeutig eine aktiv-kämpferische Haltung dieser Partei. Es bleibt daher nur die Frage zu klären, ob auch die Ziele der NPD verfassungsfeindlich sind und wie dies zu beweisen ist.
Trotz der Ähnlichkeit im Aufbau der Anträge weichen sie hinsichtlich ihrer argumentativen Qualität äußerst stark voneinander ab: Die am wenigsten überzeugende Einlassung haben die Anwälte der Bundesregierung, Prof. Dr. Hans Peter Bull und Dr. Karlheinz Quack, vorgelegt. Sie stützen ihre Begründung für die Notwendigkeit eines Verbotes der NPD inhaltlich von Beginn an auf die These, dass sie „mit der NSDAP wesensverwandt“ (Bull/Quack 2001: 24) sei. Zwar verweisen sie selbst darauf, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem SRP-Urteil eine klare Definition der Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus nicht gegeben habe (ebd.: 30), aber dennoch glauben sie sich zu der Schlussfolgerung berechtigt, dass „trotz des zeitlichen Abstandes zum Nationalsozialismus“ eine entsprechende Wesensverwandschaft beider Parteien „unverkennbar“ (ebd.) sei. Die Antragsteller bemerken richtigerweise, dass die NPD den Begriff der (biologischen) Rasse durch den Begriff der „Kultur“ (ebd.: 41) ersetzt habe, allerdings unterstellen sie hier allein taktische Motive. Die NPD gehe wie die NSDAP von der biologisch begründeten Ungleichwertigkeit verschiedener Menschengruppen aus und vertrete daher einen „ethnozentrischen Nationalismus“ (ebd.: 48), der mit dem Gleichheitsanspruch der Menschenrechte im Grundgesetz unvereinbar sei. Außerdem sei die NPD antisemitisch. Zum Beleg hierfür führen die Vertreter der Antragstellerin fast ausschließlich ein Buch des Anfang 2002 enttarnten V-Mannes Wolfgang FRENZ sowie mehrere Publikationen Horst MAHLERS, einem der NPD-Anwälte im Verbotsverfahren, an (ebd.: 52ff). Ob dies ausreichend ist, um der gesamten Partei „denselben aggressiven Antisemitismus“ (ebd.: 89) zu unterstellen wie dem Hitlerismus, mag bezweifelt werden.
Der Antrag des Bundestages, formuliert von Prof. Dr. Günter Frankenberg und Prof. Dr. Wolfgang Löwer, erweist sich allein schon in seinem juristischen Teil als deutlich besser als der Antrag der Bundesregierung. Inhaltlich gründet allerdings auch er hauptsächlich auf dem Vorwurf der „Wesensverwandtschaft der NPD mit dem Nationalsozialismus“ (Frankenberg/Löwer 2001: 91). Diesen Vorwurf sehen sie dadurch gerechtfertigt, dass die Verfassung auch historisch die „manifeste Negation“ (ebd.: 89) dessen darstelle, was der historische Nationalsozialismus erreichen wollte. Zwar verweisen die Autoren darauf, dass die Wesensverwandtschaft nicht als eine Eins-zu-Eins-Kopie der NSDAP erwartet werden (ebd.: 144) und daher keinesfalls „Identität im strengen Sinne“ (ebd.: 90) bedeuten könne, allerdings sehen sie als entsprechende Kriterien nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts „Programm, Vorstellungswelt und Gesamtstil“ (BVerfG 2, 70) einer Partei an. Auf dieser Basis kommen sie zu dem Ergebnis: „Die NPD ist aufgrund ihrer politischen Programmatik, Strategie und Taktik, ihrer politischen Sprache und Rhetorik, ihrer affirmativ-apologetischen Darstellung nationalsozialistischer Verbrechen und ihrer nationalsozialistischen Traditionspflege eine dem Nationalsozialismus wesensverwandte und daher nach Maßgabe von Art. 21 Abs. 2 GG verfassungswidrige politische Partei.“ (ebd.: 91) Auch hier werden ganz ähnlich wie beim Antrag der Bundesregierung zahlreiche politische Dokumente ideologisch im Sinne des Hitlerismus gedeutet, ohne sich ernsthaft die Frage zu stellen, ob dies tatsächlich angemessen ist: Die NPD huldige einer biologistischen Grundlegung ihrer Politik (ebd.: 97), sei sozialdarwinistisch (ebd.: 99, 107 u. a.), behaupte die Minderwertigkeit bestimmter Menschengruppen (ebd.: 118f) und sei antisemitisch (ebd.: 121ff). Auch hier werden als
hauptsächliche Kronzeugen wiederum Wolfgang FRENZ und Horst MAHLER bemüht. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Natürlich gibt es Äußerungen unter Mitgliedern und Anhängern der NPD, die in derartige Richtungen gehen oder zumindest so interpretiert werden können. Die entscheidende Frage ist allerdings, ob hieraus auf das programmatische Ziel der Gesamtpartei geschlossen werden kann. Jedenfalls ist auffällig, dass die bisweilen festgestellten Diskrepanzen zwischen unterstellter Wesensverwandtschaft und dem tatsächlichen Quellenbefund mit dem Hilfsargument beseite gewischt werden, die NPD verfolge einen „Legalitätskurs“ (ebd.: 143) und müsse daher ihre wahren programmatischen Ziele geheim halten: „Dass in der NPD-Programmatik die […] Begriffe nicht in ihrem nationalsozialistischen Gewande auftreten, vermag die Wesensverwandtschaft […] nicht zu widerlegen, da es strategische Vorsicht und die in den aktuellen Debatten verwendete Begrifflichkeit ganz offensichtlich der NPD nahe legen“ (ebd.: 99), nicht direkt auf hitleristisches Vokabular zurückzugreifen. Den wahrscheinlich besten Verbotsantrag haben für den Bundesrat die Rechtsanwälte Prof. Dr. Konrad Redeker, Dr. Dieter Seltner, Prof. Dr. Hans Dahs und Prof. Dr. Gunter Widmaier vorgelegt. Insbesondere der juristische Teil des Verbotsantrages vermag durch seine profunden Ausführungen zu überzeugen. Die Autoren widerlegen bspw. den in der Literatur häufig zu lesenden Vorwurf, ein Parteiverbot widerspreche den Grundsätzen einer liberalen Demokratie, mit dem einfachen wie bestechenden Hinweis, dass es sich hierbei um einen Scheinwiderspruch handele: „Das Grundgesetz ist nicht wertrelativistisch, sondern bestimmt die Unabänderbarkeit bestimmter Regelungen in Art. 79 Abs. 3 GG; es ist nicht wertneutral, sondern ,werthaft’.“ (Redeker u.
a. 2001: 33) Ähnlich klar argumentieren sie dafür, dass das Bundesverfassungsgericht bei einem Verbotsverfahren einen Entscheidungsspielraum nicht geltend machen könne, sondern das „Übermaßverbot“ (ebd.: 42) ausschließlich durch den Antragsteller selbst bei der Antragstellung in Anschlag gebracht werden könne. Auch versuchen die Autoren als einzige Vertreter einer Antragspartei, unter Bezug auf Arbeiten von Armin Pfahl-Traughber überhaupt einmal den Begriff „Rechtsextremismus“ zu definieren. Zwar schwanken sie dabei zwischen einer weiten Rechtsextremismusdefinition, die auf die Elemente Nationalismus und Rassismus setzt und einer engen, die klassische Elemente des Hitlerismus wie Antisemitismus und Sozialdarwinismus integriert, aber immerhin kommt man zu der Feststellung, dass die rechtsextreme Szene in sich sehr differenziert ist und daher zwar „alle Neonazis Rechtsextremisten, aber nicht alle Rechtsextremisten Neonazis“ (ebd.: 47) seien. So ist auch bemerkenswert, dass die Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus zumindest eine deutlich geringere Rolle als in den anderen Anträgen spielt. Die Autoren zielen argumentativ vielmehr auf die konkreten Bestrebungen der NPD auf Untergrabung der bestehenden politischen Ordnung, wobei nicht immer der Unterschied zwischen dem politischen System der Bundesrepublik und der Kernsubstanz der Verfassung (FDGO) im Auge behalten wird. Letztlich ist aber auch bei Redeker u. a. die Versuchung groß, die NPD in starke programmatische Nähe zur NSDAP zu setzen. So glaubten sie ihr unter Hinweis auf MAHLER und FRENZ eine antisemitische Grundhaltung nachweisen zu können (ebd.: 122ff), ebenso eine rassistische Ideologie im Sinne des Hitlerismus (ebd.: 130ff) und kommen so schließlich zu der These, die NPD sei wesensverwandt mit der NSDAP:
„Wenngleich sich viele ihrer Funktionäre von den schlimmsten NS-Verbrechen offiziell zu distanzieren wissen, ist die Wesensverwandtschaft der NPD mit der NSDAP unübersehbar.“ (ebd.: 142)
Die Antragsgegnerin Vertreten wurde die NPD im Verbotsprozess von den Anwälten Hans Günter EISENECKER und Horst MAHLER. EISENECKER ist gleichzeitig Landesvorsitzender der NPD Mecklenburg-Vorpommern, und MAHLER gehörte zu den Gründungsmitgliedern der linksextremen RAF und war bis März 2003 Mitglied der NPD. Eigentlich bestand der erste Fehler der NPD im Verbotsprozess darin, genau diese beiden Anwälte zu benennen. Es ist nie empfehlenswert, Betroffene zu Anwälten oder Richtern in einer Sache zu erheben. Das kann eigentlich nur schief gehen. Denn gerade weil man aus dem politischen Milieu der Antragsgegnerin stammt, fehlt einem meist die Sensibilität und das Verständnis für das Denken der Gegenseite. Dass die NPD letztlich im Verbotsprozess dennoch nicht unterlag, ist daher auch weniger dem Geschick der beiden Anwälte zu verdanken als dem ungeschickten Agieren der Gegenseite im Vorfeld des Prozesses. EISENECKER und MAHLER haben sich die Arbeit geteilt. Während MAHLER zunächst eine Erwiderung auf den Antrag der Bundesregierung verfasste und ihn wenig später um einen Antrag gegen alle Antragstellerinnen ergänzte, formulierte EISENECKER das Gegenstück zum Antrag des Bundesrates. Gleichwohl es gewisse einheitliche Linien in der
Argumentation beider Anwälte gab, wichen die jeweiligen Texte dennoch stark voneinander ab. Insbesondere die Texte Horst MAHLERS machen einen äußerst ungeschickten Eindruck. Anstatt dass MAHLER sich vorsichtig zurückhält, provoziert er sogar noch die Richter des Bundesverfassungsgerichts. Denn über dutzende Seiten ist er damit beschäftigt nachzuweisen, dass gerade die NPD die einzige verfassungskonforme Partei sei: „Das Menschenbild der Regierung dagegen ist lebensfeindlich und eine Bedrohung für alle Menschen.“ (MAHLER 2001 a: 61). Es sei die „Verviehung des Menschen, der Rückfall in die Bestialität.“ (ebd.: 63f) Und in seiner zweiten Erwiderungsschrift fragt MAHLER in Richtung Bundestag: „Wer ist da wohl der Verfassungsfeind?“ (MAHLER 2001b: 6) Dass MAHLER sich genau mit dieser Argumentation allerdings aus dem gewöhnlichen Parteienspektrum herauskatapultierte, weil er für die NPD einen totalen Alleinvertretungsanspruch reklamierte, und er gerade so die Gründe für ein NPD-Verbot eigentlich auch noch vermehrte, schien er nicht zu bemerken. Ansonsten legte MAHLER seiner gesamten Verteidigung die Strategie zugrunde, der NPD mit Hilfe der Hegeischen Philosophie aus der Patsche zu helfen. MAHLERS Affinitäten zu diesem Philosophen des deutschen Idealismus sind als Wurmfortsatz der 1968er-Bewegung bekannt. Er behauptete nun tatsächlich, dass die NPD strikt auf dem Boden des deutschen Idealismus Hegels stehe und daher die Vorwürfe gegen die NPD nichtig seien. So streite die NPD nicht für eine Wiederbelebung des totalitären NSDAP-Staates, sondern vielmehr um „die Idee des sittlichen Staates im Sinne der deutschen idealistischen Philosophie […]. Diese Philosophie ist in der Programmatik der Antragsgegnerin gegenwärtig und wirksam.“ (ebd.: 40ff) Dementsprechend hielt MAHLER nicht nur tödlich lange und langweilige Vorträge über das
„Versailler Diktat“ , die „Kriegsschuldlüge“ und das Problem der Kollektivschuld, sondern er gab akademische Seminare in Hegelscher Logik, Geschichtsphilosophie und Theologie. Warum das Ganze? Nun, MAHLER schien hierdurch aus zwei Gründen der NPD helfen zu können. 1. erweist die Unterstellung einer Geschichtsdetermination im Sinne Hegels jedes Parteiverbot als sinnlos. Demnach seien in der Geschichte große Mächte am Werk, die sich auch in bestimmten Parteien äußern. Nun könne man zwar die Parteien verbieten, aber da sie nur Ausdruck dieses Geschichtsstromes seien, wäre das ganz sinnlos: „Mit juristischen Fesseln ist die Geschichte nicht zu bändigen.“ (MAHLER 2001a: 22) Hieraus schlussfolgerte MAHLER übrigens auch die geschichtliche Notwendigkeit des Holocaust sowie die historische Berechtigung der NSDAP, denn Hitler habe schließlich die richtigen Fragen gestellt: „Die deutsche Katastrophe besteht darin, dass er sie teilweise falsch beantwortet hat. Die Antworten falsifizieren aber nicht die Fragen.“ (ebd.: 116) 2. leitete MAHLER den Volksbegriff der NPD aus dem Begriff des absoluten Geistes (Gott) ab (ebd.: 102). Völker seien bei der NPD somit nicht mehr biologisch, sondern kulturell-geistig definiert. Ein biologischer Rassismus wie der der NSDAP könne daher von ihr nicht vertreten werden: „Die Natur und ihre ,Gesetze’ sind nicht mehr Imperativ und Maß für die Politik. […] Der Geist wird nicht mehr auf die ,Natur’ zurückgeführt (Reduktionismus), sondern die Natur als eine andere Gestalt des Geistes erkannt.“ (ebd.: 53) MAHLER problematisierte außerdem zu Recht, inwiefern die NSDAP heute noch Maßstab für ein Parteiverbot sein könne und was eigentlich die Kriterien für eine „Wesensverwandtschaft“ seien (ebd.: 114f). Ansonsten setzte MAHLER ganz auf die relativistische Karte: Ein Parteiverbot sei grundsätzlich verfassungswidrig, weil es
einen Eingriff in die Freiheit bedeute (ebd.: 35), es sei außerdem unverhältnismäßig, weil die NPD unbedeutend sei (ebd.: 36), es stelle einen Eingriff in die Souveränität des Volkes dar und sei daher antidemokratisch (Mahler 2001b: 10). Deutlich geschickter als MAHLER agierte der zweite Anwalt, EISENECKER. Seine Zurückweisung des Verbotsantrages des Bundesrates begründete er vor allem mit zwei Argumenten. Erstens sei der Vorwurf der Wesensverwandtschaft der NPD mit der NSDAP unhaltbar und lasse zweitens schwere methodologische Mängel im Vorgehen der Antragsteller vermuten: „Alle drei Anträge zeigen, daß hier etwas zu Papier gebracht wurde, was davon gekennzeichnet ist, daß die Verfasser die Antragsgegnerin weder kennen noch ihre Haltung, ihr Denken und ihr Ethos, ihre Grundempfindungen verstanden haben. Und nur aus dieser Unkenntnis, diesem völligen Unverständnis heraus ist es erklärlich, daß man – a priori – auf die NSDAP und auf deren Vorstellungsinhalte Rückgriff nimmt und dabei der Ansicht ist, etwas über die Antragsgegnerin zu sagen.“ (EISENECKER 2001: 1) Zum Beleg dieser durchaus richtigen These referierte EISENECKER noch einmal ausführlich die „Grundwerte“ (ebd.: 8) der NPDProgrammatik. Im Zentrum seiner Ausführungen stand dabei die Herausarbeitung eines relativistischen kulturellgeistigen Konzeptes von Volksgemeinschaft. Zum Schluss seiner Stellungnahme kam er auf das Problem der Wesensverwandtschaft noch einmal zurück und benannte klar in Abgrenzung zur NSDAP die ideologischen Differenzen. Die NPD sei nicht biologistisch-rassistisch, vertrete keinen Sozialdarwinismus und keinen Imperialismus: „Es gibt keine Wesensverwandtschaft der Antragsgegnerin mit dem Hitlerismus. Wer anderes behauptet, verkennt entweder die
Antragsgegnerin und/oder verwechselt die nationalen Gedanken mit der NSDAP.“ (EISENECKER 2001: 29f) Die sonstigen Vorwürfe gegen die NPD, die sich mehr im Feld des Politischen bewegen, versuchte Eisenecker mit folgenden Argumenten zu widerlegen: • Der Vorwurf, die NPD kooperiere mit gewaltbereiten Skinheads und Neonazis und sei deshalb verfassungswidrig, sei absurd. Diese gewaltbereiten Jugendlichen seien schließlich Produkte der BRD-Gesellschaft – nicht der NPD. Wenn sich die NPD ihrer zivilisierend annehme, erfülle sie lediglich ihren grundgesetzlichen Auftrag als Partei (ebd.: 14). • Die NPD vertrete auch keinen totalitären Alleinvertretungsanspruch und wolle daher auch nicht das Mehrparteiensystem angreifen. Vielmehr sei die NPD „auf der Basis des nationalen Gedankens’ in sich auf eine pluralistische Struktur hin angelegt“ (ebd.: 7). Folglich könnte sich die Antragsgegnerin nach einer grundsätzlichen Neuausrichtung der Politik „verstärkt in Flügel und Fraktionen“ gliedern, „die sich dann später zum Teil als Parteien etablieren könnten.“ (ebd.: 16) Offenbar erhob die NPD damit doch einen totalitären Anspruch, glaubte sie doch offenbar als einzige die Grundlage eines Mehrparteiensystems sein zu können. • Auch leugnete EISENECKER die Beweiskraft der Tatsache, dass in zahlreichen Organen der NPD verfassungswidrige Äußerungen zu lesen sind und diese, weil sie nicht unterbunden werden, ihr offenbar zugerechnet werden müssen. Wäre dies richtig, müsste die NPD eine „Zensurkommission“ einrichten: „Eine absurde Folge! Daß eine derartige Zensur, die Festlegung einer ‚verbindlichen Linie’ nicht dem Gebot parteiinterner Demokratie entsprechen kann, dürfte wohl keine weitere Erörterung erfordern.“ (ebd.: 19) Auch EISENECKER
berief sich hiermit Verfassungsinterpretation.
auf
eine
relativistische
Ein wichtiger Vorwurf, den EISENECKER wie MAHLER zurückweisen, besteht darin, dass in allen drei Verbotsanträgen darauf hingewiesen wird, dass die NPD sich verächtlich über das „System“ äußere und hierin eine Parallele zum Nationalsozialismus liege, da auch die NSDAP die Weimarer Republik als „System“ denunziert habe. MAHLER und EISENECKER machen nun allerdings durchaus zu Recht geltend, dass unter „System“ innerhalb der NPD nicht die freiheitlich demokratische Grundordnung, sondern die kapitalistische Wirtschaftsordnung verstanden werde. Es bestehe also ein Unterschied zwischen den Grundwerten der Verfassung und der Verfassungswirklichkeit (EISENECKER 2001: 21). Von der Verwendung gleicher Wörter dürfe daher nicht automatisch auf einen identischen Sinn geschlossen werden. Kritisiert werde von der NPD nicht die Kernsubstanz der Verfassung, sondern lediglich die Verfassungswirklichkeit (ebd.; auch MAHLER 2001a: 72ff). Trotz dieses im Grundsatz richtigen Einwandes beinhaltet allerdings die System-Kritik der NPD häufig auch deutliche Angriffe auf die FDGO. Am 1. Oktober 2001 beschloss das Bundesverfassungsgericht, das Parteiverbotsverfahren gegen die NPD durchzuführen. Ein Antrag Horst MAHLERS, das Verfahren auszusetzen, weil eigentlich der Europäische Gerichtshof für das Verfahren zuständig sei, wurde am 22. November 2001 abgelehnt.
Hätte die NPD verboten werden können? Klärungsbedürftig bleibt die Frage, warum trotz so offensichtlicher Differenzen der NPD-Ideologie zu der des historischen Nationalsozialismus von allen Antragstellern und so gut wie der gesamten Öffentlichkeit diese Differenz nicht bemerkt wird.∗ Der eine Grund dürfte einen tiefgreifenden geistesgeschichtlichen Hintergrund, der andere dürfte schlicht mit der deutschen Rechtsprechung zu tun haben. Immer wieder wird unterschätzt, in welch’ besonderer Situation sich gerade Deutschland befindet. Wir sind nahezu das einzige Land in Europa, das den Holocaust historisch zu verantworten hat. Gerade dies fixiert uns allerdings auch auf die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, wenn es um Fragen des Rechtsextremismus geht. Ulrich Bielefeld betont daher zu Recht, „daß die Diskussion über Rassismus in der Bundesrepublik wie in der ehemaligen DDR anderen Bedingungen unterlag als in den westlichen Nachbarländern. […] Nach 1945 konnte man sich dem nicht entziehen, daß es nur im nationalsozialistischen Deutschland zu einer Institutionalisierung des Rassismus in Form systematischer Vernichtungspolitik gekommen war.“ (Bielefeld 1998: 3) Bereits in der Schule wird in Deutschland den Jugendlichen die Gleichung nahegelegt Rechtsextremismus = Nationalsozialismus. Und diese Gleichung prägt bis heute: Wenn in Fernsehbeiträgen über Rechtsextreme berichtet wird, dann geht es oft um Adolf HITLER, Hakenkreuze, die Judenvernichtung, biologischen Rassismus, ∗
Eine nicht unwesentliche Ausnahme hiervon bilden Horst Meier (Meier 2002: 19) und Volker Neumann (Neumann 2002: 166), die die Wesensverwandtschaft von NPD und NSDAP keinesfalls als bewiesen ansehen.
Sozialdarwinismus, Krieg und Imperialismus. Selbst der Bundesinnenminister begründete seinen NPD-Verbotsantrag vor dem Bundesrat damit, dass die NPD eine antisemitische und pronazistische Partei sei. Ob das uns allen antrainierte Interpretationsschema „Nationalsozialismus“ aber überhaupt auf die heutigen Formen des Rechtsextremismus anwendbar ist, ob die Erhebung einer historischen Einzelerscheinung zu einem allgemeingültigen Modell zulässig ist und man nicht vielmehr die Auseinandersetzung gegen die Feinde der Demokratie zu verlieren droht, wenn man ihre Absichten und ihre innere Logik gar nicht kennt und daher unangemessene Gegenmaßnahmen einleitet, fragen sich nur wenige. Selbst der ehemalige Rechtsextremist Jörg Fischer kommt in seinem Buch „Das NPD-Verbot“ (2001) zu dem Ergebnis, dass die NPD eine der NSDAP wesensverwandte Partei sei. Zwar analysiert er sehr präzise und richtig die strategische Wende der NPD (Fischer 2001: 26ff), ihre programmatische hingegen bleibt ihm völlig verschlossen: Auch Fischer begeht dabei wie schon der Verfassungsschutz den Fehler, sich in genau den Fragen, bei denen er der NPD eine nationalsozialistische Ideologie nachzuweisen versucht, auf die Veröffentlichungen von Wolfgang FRENZ ZU stützen. Eine ganze Partei für die Äußerungen einer einzigen Person in Haftung zu nehmen und der Gesamtpartei in genau den Fällen absichtsvolles Schweigen zu unterstellen, in denen die Meinung dieser Einzelperson ganz offensichtlich in Widerspruch zu den programmatischen Dokumenten der Partei steht, scheint mir aber ein äußerst bedenkliches Verfahren zu sein. Außerdem unterschlägt dies gerade, dass auch die Mitgliedschaft der NPD in sich sehr differenziert ist und allein schon deshalb nicht von einem Einzelfall auf die Gesamtpartei geschlossen werden kann.
Wahrscheinlich gerade aufgrund dieser grundsätzlichen geistesgeschichtlichen Problemstellung lässt sich auch die deutsche Gerichtsbarkeit seit Gründung der Bundesrepublik dazu verleiten, die Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus zum entscheidenden Kriterium der Verfassungswidrigkeit zu erklären. Zumindest liegt es nahe, derartige Schlussfolgerungen aus verschiedenen Urteilen sowie dem Art. 139 GG (Entnazifizierungsartikel) zu ziehen. Historisch betrachtet war es richtig, die SRP auch aufgrund ihres Charakters einer direkten Nachfolgeorganisation der NSDAP zu verbieten. Nicht nur waren zahlreiche Mitglieder der SRP auch NSDAP-Mitglieder. Darüber hinaus gab es gewichtige Hinweise darauf, dass die SRP über ihre direkten programmatischen Anklänge an die NSDAP hinaus radikalere Positionen vor allem aus taktischen Überlegungen heraus zurückhielt. In seiner abschließenden Verbotsbegründung kommt das Bundesverfassungsgericht daher auch zu dem Urteil, die SRP sei in Vorstellungswelt, Programm und Gesamtstil „der früheren NSDAP wesensverwandt“ (BVerfG 2, 70). Diese Formulierung scheint prägend für die nachfolgende Rechtsprechung geworden zu sein. Bundesregierung und Bundesrat beantragten bspw. 1994 das Verbot der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP) mit der Begründung, sie weise eine „Wesensverwandtschaft“ (BVerfG 91, 276) mit der NSDAP auf. Mit derselben Begründung sprach sich im Jahr 1992 der Bundesminister des Innern gegen eine Verfassungsbeschwerde wegen Vereinsverbot gegen die Vereinigung „Deutsche Alternative“ beim Bundesverwaltungsgericht aus. Auch er berief sich dabei auf ihre „Wesensverwandtschaft“ (NVwZ 1997, 66ff) mit dem Nationalsozialismus. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte in seiner Entscheidung, dass sich die „Deutsche Alternative“ in „ihren äußeren Formen und in ihrem Sprachgebrauch am
Nationalsozialismus“ (BVwerG, NVwZ 1997, 66ff) orientiere. Auch die Anwälte der Bundesregierung weisen in ihrem Verbotsantrag darauf hin, dass die Wesensverwandtschaft zum Nationalsozialismus bisher von den zuständigen Gerichten offenbar als adäquates Verbotskriterium angesehen worden ist (Bull/Quack 2001: 30). Es kann daher auch gar nicht verwundern, dass der Begriff der Wesensverwandtschaft im NPD-Verbotsprozess eine so große Bedeutung erlangt hat. Rechtsextreme Parteien müssen allerdings nicht mit der NSDAP „wesensverwandt“, um verfassungswidrig zu sein – jedenfalls dann nicht, wenn man „Wesensverwandtschaft“ so eng versteht, dass eine Partei in allen zentralen Fragen dieselbe Ideologie vertreten muss wie die NSDAP. Um dies in der Metaphorik von Kern und Hülle nochmals zu verdeutlichen: Die deutsche Öffentlichkeit, und zu ihr gehören auch die Antragsteller im NPD-Verbotsprozess, lässt sich zu sehr von den Elementen der Hülle beeindrucken. Diese sind aber nicht die zentralen ideologischen Fundamente rechtsextremistischer Ideologien, sondern deren konkrete politische Antworten aufgrund ihres ideologischen Kerns. Der Begriff der „Wesensverwandtschaft“ wird aber meist gerade an Phänomene der Hülle gekoppelt, selbst dann, wenn sich der ideologische Kern eines konkreten Untersuchungsobjektes längst verschoben hat. Dies führt in der ideologietheoretischen Praxis von Wissenschaft und Verfassungsschutz häufig zu merkwürdigen Vorgängen: Da werden dann krudeste Verschwörungstheorien nach dem Motto „Die sagen bloß nicht, was sie wirklich denken!“ bemüht, um den Widerspruch erklären zu können, dass man die Ideologieelemente, die man verzweifelt sucht, nicht oder nur in unbefriedigendem Maße finden kann. So werden bisweilen Untersuchungsobjekte nach
den eigenen Vorurteilen zurechtgebogen, anstatt ihren authentischen Kern freizulegen. Würde der Begriff der „Wesensverwandtschaft“ am Kern rechtsextremistischer Ideologien ausgerichtet, müsste man selbstverständlich zu dem Ergebnis kommen, dass die NPD mit der NSDAP wesensverwandt sei. Aber eben nicht deshalb, weil sie dieselbe Hülle vertritt, sondern denselben Kern. Die NPD ist also nicht imperialistisch, auch nicht antisemitisch oder sozialdarwinistisch, aber sie huldigt wie die NSDAP einer Form des Rassismus und ist insofern mit ihr wesensverwandt und auch verfassungswidrig. Denn die rassistische Ideologie der NPD zielt auf eine radikale, rational nicht zu rechtfertigende Ausgrenzung und Benachteiligung bestimmter Menschengruppen, die mit dem obersten Wert unserer Verfassungsordnung, der Menschenwürde, nicht vereinbar ist. Dies belegen auch beispielhaft die gewaltsamen Übergriffe bzw. verfassungswidrigen Äußerungen einer Reihe von NPDMitgliedern sowie -Funktionären. Die Wesensverwandtschaft zwischen NPD und NSDAP besteht also darin, dass ihr ideologischer Kern gleichermaßen rassistisch ist. Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass man hier eigentlich von einem „Kern des Kerns“ sprechen müsste, da sich auch die Art des Rassismus aufgrund zeitgeistbedingter Umstände wandeln kann (z. B. biologischer contra kulturalistischer Rassismus). In den Kern können also Elemente der Hülle integriert werden. In vorliegender Arbeit wurde meist diese historisch-konkrete Ausformung des Rassismus als „Kern“ bezeichnet, was eigentlich unpräzise ist. Entkleidet man sie von ihren zeitgeistbedingten Elementen der Hülle, erhält man mit dem „Kern des Kerns“ eine allgemeine Definition des Rassismus. Die NPD ist also von ihrer Zielstellung her ohne Zweifel eine verfassungsfeindliche Partei – und dies trotz der Tatsache, dass
sie nicht in der Weise mit der NSDAP wesensverwandt ist, wie dies die Antragsteller meinten. Auch liegen durch das Handeln ihrer Mitglieder ausreichende Beweise dafür vor, dass es in ihrer Absicht liegt, diese verfassungsfeindliche Ideologie auch umzusetzen und damit die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen. Materiell und formell lagen daher die Voraussetzungen für ein Verbot durch das Bundesverfassungsgericht vor. Da Art. 21. Abs. 2 für das Verfassungsgericht keinen Ermessensspielraum vorsieht, Fragen wie die Verhältnismäßigkeit daher keine Rolle spielen und außerdem materiell die Bedingungen für ein Verbot erfüllt gewesen wären werden, hätte das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit gehabt, die NPD zu verbieten. Dass es hierzu dennoch nicht gekommen ist, bedeutet keine Absage an die Beweiskraft der Argumente für ein Verbot, sondern wirft ein bezeichnendes Licht auf dessen Entstehungsgeschichte.
Hätte die NPD verboten werden sollen? Neben der Frage, ob man die NPD hätte verbieten können, ist die Frage interessant, ob dies denn überhaupt sinnvoll gewesen wäre. Es handelt sich hierbei um eine ausschließlich politische Frage. Als Argumente gegen ein Verbot werden immer wieder ins Feld geführt: • Verbote machten die Verbotenen eher noch interessanter und würden so einen Märtyrereffekt erzeugen. • Verbote seien immer Ausdruck von Schwäche (Narr 2002: 130) und in einer liberalen Demokratie auch nicht sinnvoll (Preuß 2002: 117).
• Verbote würden die Verbotenen in den Untergrund drängen und so das Problem der politischen Gefährdung der Republik noch verschärfen (Leggewie 2002: 169). • Die NPD sei eine harmlose, ungefährliche Partei und müsse daher nicht verboten werden: „Eine Partei, die Gewalt nicht hervorruft und bei Wahlen regelmäßig weit unter der Fünfprozentklausel politisch abgestraft wird, ist objektiv ungefährlich.“ (Meier 2002: 27) • Verbote seien ein Akt symbolischer Politik, der von den langfristigen Ursachen des Rechtsextremismus ablenke (Narr 2002: 128; Mommsen 2002: 148). Trotz aller sicherlich zu Recht formulierter Bedenken können diese Argumente – jedenfalls mich – nicht überzeugen: • Es ist durchaus möglich, dass Parteiverbote auf manche Personen eher anziehenden als abstoßenden Charakter haben. Bei anderen Personen verhält sich dies allerdings genau umgekehrt. Daher kann diese Frage wohl nicht allgemein, sondern nur am konkreten Fall entschieden werden. Ein besonders relevanter Märtyrereffekt hat sich allerdings während des NPD-Verbotsprozesses nicht eingestellt. Im Gegenteil: Die Verbotsanträge haben sogar Differenzen zwischen der radikaleren, freien Neonaziszene und der NPDFührung erzeugt, die politisch durchaus wünschenswert sind, da sie die regionale Kampfkraft rechtsextremistischer Kreise signifikant schwächen. • Parteiverbote sind gerade keine Schwäche, sondern die Stärke der wehrhaften Demokratie. Außerdem wurde ausführlich erläutert, dass wir eben keine liberale, relativistische Demokratie sind. Insofern basiert dieses Argument gegen ein Verbot auf falschen Grundlagen. • Die Untergrundthese mag auf manche Organisationen zutreffen, aber gerade bei der NPD ist sie wenig überzeugend. Es ist ja gerade das Ziel der NPD, auf Basis einer legalen
Strategie Zustimmung bei der Bevölkerung zu erzielen und so ihr langfristiges Vertrauen zu gewinnen (Hegemoniefähigkeit). Die NPD zielt doch gerade auf eine zivile Eroberung des öffentlichen Raums ab und nicht auf militante, rechtsterroristische Aktionen. Es ist also nicht ernsthaft ersichtlich, warum die Anhänger der NPD ihre niveauvolle Strategie nach einem Verbot hätte einstellen sollen. • Geradezu unverständlich ist die These, die NPD sei eine ungefährliche Partei, weil sie bei Wahlen bisher weitgehend erfolglos geblieben sei. Es kann gar nicht oft genug darauf hingewiesen werden, dass dies nicht das adäquate Kriterium zur Überprüfung der Gefährlichkeit der NPD ist. Die NPD will ja zunächst gerade nicht in die Parlamente, sondern auf subtile Weise die zivile Gesellschaft erobern. Sie zielt mit RobinHood-Strategien von Rechts auf die Untergrabung der staatlichen Gewalt in national „befreiten Zonen“ ab. • Schließlich bleibt die Gefahr eines lediglich symbolischen politischen Aktes. All jene, die dies als Argument gegen ein NPD-Verbot vorbringen, müssen sich allerdings eine Frage gefallen lassen: Wenn die bundesdeutsche Politik ohnehin nur auf symbolische Akte aus ist und einen wirklich wirksamen, langfristig angelegten Kampf gegen den Rechtsextremismus scheut, was hätte sich dann an diesem Zustand dadurch ändern sollen, dass von einem NPD-Verbot abgesehen wird? Dann hätte man also eine nicht agierende politische Klasse und außerdem kein NPD-Verbot gehabt.
Aber hieraus sollte nicht auf die Unsinnigkeit des NPDVerbots, sondern umgekehrt auf die Notwendigkeit weiterer politischer Initiativen und Prozesse geschlossen werden. Insgesamt hätten daher die politischen Gründe für ein Verbot überwogen. Es hätte die Szene materiell aufgrund des Entzugs von Vermögen und Steuergeldern getroffen, es würde die Anhänger der NPD kriminalisieren und daher auf breite Kreise der Bevölkerung abschreckend wirken und es hätte die NPDAnhänger aufgrund des Verlustes des Parteienstatus in ihren subtilen Aktivitäten stark eingeschränkt. Aber natürlich darf dies nicht davon ablenken, dass zentrale Bausteine der NPDStrategie und -Ideologie auch mit einem Verbot gefährlich geblieben wären. So wie die Strategie der „befreiten Zone“ ja gerade lebensweltlich und nicht parteipolitisch orientiert ist, so stellt auch der Ethnopluralismus eine Ideologie dar, die für ihre Wirksamkeit nicht auf parteipolitische Strukturen angewiesen ist.
Die Spitzelaffäre und das Ende des Verfahrens Von besonderem Interesse für Medien und Öffentlichkeit war die so genannte Spitzelaffäre, die schließlich auch zur Einstellung des Verfahrens gegen die NPD führte. Anfang 2002 flog der erste V-Mann mit dem Namen Wolfgang FRENZ auf. FRENZ gehörte, und dies machte die Sache noch brisanter, zu den Personen, auf die sich die Antragstellerinnen in ihrer Argumentation in ganz besonderer Weise stützten. Nicht selten hörte man infolge der Spitzelaffäre höhnische Kommentare wie, man solle doch einfach den Verfassungsschutz abschaffen, und dann würde auch der NPD das Geld ausgehen. Aber ganz so einfach ist die Sache natürlich nicht.
Nachdem in relativ kurzer Zeit weitere V-Leute aufgeflogen waren, setzte das Verfassungsgericht am 22. Januar 2002 die weiteren Verhandlungstermine aus. Zunächst sollte geklärt werden, inwiefern diese V-Mann-Affäre Einfluss auf das Prozessergebnis haben könnte. Wenn nämlich die die NPD belastenden Beweise zu nicht unerheblichen Teilen auf Aussagen von V-Männern basieren, erhält das Problem der Zurechenbarkeit erhebliche Relevanz. Es stellt sich dann die Frage, ob die möglichen Verbotsgründe wirklich von der NPD zu verantworten sind. Allerdings schien das NPD-Verbotsverfahren durch die Spitzel-Affäre nicht ernsthaft gefährdet gewesen zu sein. Ich habe versucht zu zeigen, dass die Aussagen von FRENZ zwar eindeutig verfassungswidrig, allerdings nicht wesentlich für die von der NPD vertretenen Ideologie sind. Und auch wenn man die anderen „entlarvten“ V-Leute aus der Beweisführung ausklammert, ergibt sich kein wesentlich verändertes Bild. So peinlich die V-Mann-Affäre daher für die Antragstellerinnen gewesen sein mag – sie hätte von der Substanz her das NPDVerfahren eigentlich nicht gefährden können. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 18. März 2003, das Verbotsverfahren gegen die NPD einzustellen, ist demnach auch eine „Prozessentscheidung“ und keine „Sachentscheidung“ (BVerfG, 2 BvB 1/01 vom 18.03.2003, 63). Für juristische Laien dürfte die Entscheidung außerdem eher kurios als nachvollziehbar sein. In der Sache verhält es sich folgendermaßen: Nach Bekanntwerden der Spitzelaffäre setzte das Gericht zunächst die Verhandlungstermine aus. Am 30. August 2002 erklärte die Antragsgegnerin die Fortführung des Prozesses für unzulässig, da es aufgrund der Tätigkeit der V-Leute naheliegend sei, dass die NPD mögliche verfassungswidrige Vorgänge nicht selbst zu verantworten habe, sondern der Verfassungsschutz. In
Schriftsätzen vom 17. Oktober 2002 erklärten Horst MAHLER und Hans Günter EISENECKER außerdem, dass auch während des Prozesses mindestens ein V-Mann Mitglied des Bundesvorstandes gewesen sei und die Antragsteller hierdurch die Möglichkeit erhalten hätten, „von der internen Planung der Prozessführung der Antragsgegnerin Kenntnis zu erlangen.“ (ebd.: 41) Dieser Umstand könne lediglich durch die Einstellung des Verfahrens geheilt werden. Da die Verfassungsrichter diese Ausführungen als Antrag auf Einstellung des Verfahrens werteten, kam § 15 Absatz 4 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) ins Spiel. Der Absatz lautet: „(4) Im Verfahren gemäß § 13 Nr. 1, 2, 4 und 9 bedarf es zu einer dem Antragsgegner nachteiligen Entscheidung in jedem Fall einer Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Senats. Im übrigen entscheidet die Mehrheit der an der Entscheidung mitwirkenden Mitglieder des Senats, soweit nicht das Gesetz etwas anderes bestimmt. Bei Stimmengleichheit kann ein Verstoß gegen das Grundgesetz oder sonstiges Bundesrecht nicht festgestellt werden.“ Das BVerfGG schreibt also auch in Parteiverbotsverfahren eine Zweidrittelmehrheit für Entscheidungen vor, die für die Antragsgegnerin nachteilig sein können. Diese Zweidrittelmehrheit kam allerdings nicht zustande. Vier Richter stimmten der Fortsetzung des Verfahrens zu und drei Richter stimmten dagegen. Obwohl also eine Mehrheit der Verfassungsrichter für die Fortsetzung des Verfahrens votierte, wurde das Verfahren eingestellt, da das BVerfGG in solchen Fällen eine Zweidrittelmehrheit vorschreibt. Die Minderheit des Senats stützte ihre Entscheidung auf die Argumentation, dass das Verfahren aufgrund der Spitzelaffäre nicht mehr die für ein Parteiverbotsverfahren nötige „Staatsfreiheit“ (ebd.: 62) gewährleiste. Erstens sei es wahrscheinlich, dass die V-Leute und damit der Staat die
Partei in einer Weise beeinflusst haben, die einem Verbot zuträglich ist und zweitens habe die Beobachtung durch den Verfassungsschutz unmittelbar vor und während des Verfahrens einen fairen Prozess unmöglich gemacht: „Mitglieder der Führungsebene, die mit einander entgegengesetzten Loyalitätsansprüchen des staatlichen Auftraggebers und der observierten Partei konfrontiert sind, schwächen die Stellung der Partei als Antragsgegnerin vor dem Bundesverfassungsgericht im Kern. Sie verfälschen unausweichlich die rechtsstaatlich notwendige freie und selbstbestimmte Selbstdarstellung der Partei im verfassungsgerichtlichen Prozess.“ (ebd.: 84) Die Mehrheit der Richter wies diese Sichtweise allerdings zurück und brachte vor allem drei Argumente für die Fortsetzung des Verfahrens ins Spiel: Erstens sei nichts davon bekannt, dass der Verfassungsschutz die Antragsgegnerin während des Prozesses ausspioniert und den Antragstellern entsprechendes Material zugeleitet habe. Zweitens könne auch nicht davon die Rede sein, dass die NPD gezielt von V-Leuten unterwandert und im Auftrag des Verfassungsschutzes in die Verfassungswidrigkeit getrieben worden sei. Drittens müsste bei der vorliegenden Entscheidung eine Güterabwägung vorgenommen werden zwischen der möglicherweise entstehenden Gefährdung der Verfassungsordnung aufgrund einer Einstellung des Verfahrens und der möglichen Verletzung der Antragsgegnerin in ihren Prozessrechten: „Geht von einer politischen Partei eine konkret nachweisbare Gefahr für den Fortbestand des freiheitlichen Verfassungsstaates aus, so darf das Bundesverfassungsgericht etwaige Verstöße gegen den allgemeinen Grundsatz des fairen Verfahrens bei der Abwägung nicht als überwiegend ansehen.“ (ebd.: 141) Unter Berücksichtigung dieser Argumente kam die Mehrheit der
Verfassungsrichter zu dem Ergebnis, dass ein „Verfahrenshindernis“ derzeit nicht bestehe. Es stellt sich zum Schluss die Frage, wer eigentlich Schuld ist am misslichen und peinlichen Ausgang dieses Verfahrens. Wenn man bei der Beurteilung dieses Sachverhaltes einigermaßen ehrlich und objektiv bleibt, kann die Verantwortung weder den Mitarbeitern des Verfassungsschutzes noch den Richtern des Bundesverfassungsgerichtes zugeschrieben werden. Der Einsatz von V-Leuten ist häufig einfach notwendig, um brisante und intime Erkenntnisse über die rechtsextreme Szene zu erhalten; und ebenso kann man die Entscheidung eines Richters, ein Verfahren zu Gunsten der langfristigen Sicherung und Stabilisierung des Rechtsstaates einzustellen, respektabel finden, auch wenn man ihr inhaltlich nicht folgen muss. So bleibt zur Übernahme der Verantwortung nur eine dritte Instanz übrig – die politische Klasse der BRD. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die Verbotsanträge nicht aufgrund sachlicher Erwägungen, sondern aufgrund einer Medienkampagne zustande kamen. Dies setzte die Mitarbeiter der Innenministerien, der Verfassungsschutzämter und die beteiligten Juristen unnötig unter großen Druck. So fehlte einfach die Zeit, das Verfahren gründlich vorzubereiten und alle möglicherweise auftretenden Schwierigkeiten im Vorfeld auszuloten und auszuräumen. So gesehen wurde die Politik in diesem Fall das Opfer ihres eigenen effekthascherischen Vorgehens. Die Verantwortung für das Scheitern tragen daher Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag gleichermaßen.
10. Kapitel
Wieviel Wohlstandschauvinismus darf’s denn sein? Vor allem zu Beginn der 1990er Jahre, als es im Zuge der Deutschen Einheit zu zahlreichen gewalttätigen Übergriffen von rechtsextremistischer Seite kam, wurde der Rechtsextremismus als bloßes gesellschaftliches Randphänomen betrachtet: Rechtsextremisten, das sind und waren nach dieser Wahrnehmung ein paar jugendliche Spinner am Rande des politischen Spektrums, die eine Glatze haben, Bier trinken und Ausländer verprügeln. Gegen Mitte und Ende der 1990er Jahre hat sich hingegen immer mehr die Einsicht durchgesetzt, dass der Rechtsextremismus aus der „Mitte“ der Gesellschaft kommt (Butterwegge u. a. 2002). So unbezweifelbar richtig diese These ist, so wenig werden aus ihr in der Regel die nötigen Konsequenzen gezogen. Die These von der Vermittlung des Rechtsextremismus kann nur dann glaubhaft aufrecht erhalten werden, wenn man auch gleichzeitig dazu bereit ist, sein eigenes Verhalten kritisch zu hinterfragen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass in modernen rechtsextremistischen Ideologien und Parteien nicht mehr der Antisemitismus, sondern der Wohlstandschauvinismus das entscheidende „Generatorthema“ (Wagner 1998: 45) darstellt, mit dessen Hilfe die Rechtsextremisten Anknüpfungspunkte im Alltagsbewusstsein großer Teile der Bevölkerung suchen. Nach einer Studie von Richard Stöss und Oskar Niedermayer aus dem Jahr 1998 stimmten in Westdeutschland 23 % und in Ostdeutschland sogar 39 % der Bevölkerung
wohlstandschauvinistischen NPD-Parolen zu. Die Ideologieelemente Antisemitismus und Pronazismus traten dabei gesamtdeutsch mit „nur“ 5-6 % weit unterdurchschnittlich in Erscheinung (Stöss 2000a: 29).∗ Damit zeigt sich auch empirisch, was weiter oben für den Wandel rechtsextremer Programmatik behauptet worden ist: Die klassischen Bestandteile nationalsozialistischer Ideologie, insbesondere der Antisemitismus und der Pronazismus, stellen für gegenwärtige rechtsextremistische Ideologien keine notwendigen Bezugspunkte mehr dar. Während beim Hitlerismus der Antisemitismus noch das zentrale Ideologieelement war, erreicht er heute in Umfragen unter Rechtsextremisten nicht einmal mehr den Durchschnittswert; und dennoch wird in den Sozialwissenschaften noch immer davon ausgegangen, dass Antisemitismus und Pronazismus in modernen rechtsextremistischen Ideologien „eine besonders große Rolle“ (Kleinert/de Rijke 2000: 178) spielen.
∗
Grundsätzlich, allerdings nicht ganz so deutlich, wurden diese Ergebnisse auch durch eine weitere Untersuchung aus dem Dezember 2001 bestätigt (Angermeyer/Brähler 2001: 8).
Die bewusste Ausgrenzung von „Ausländern“ aus dem sozioökonomischen System der Bundesrepublik Deutschland ist also in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit und Armut vor allem im Osten der Republik eine aussichtsreiche Strategie, sich gesellschaftlichen Rückhalt zu organisieren. Dabei stricken die Anhänger von Aufklärung, Menschenrechten und Gleichheitspostulat, also die gesellschaftliche Linke seit geraumer Zeit an einer wohlfeilen Legende: Demnach ist der Rechtsextremismus zwar ein Problem, das aus der Mitte der Gesellschaft kommt, aber man selbst hat hiermit gar nichts zu tun. Als Anhänger der gesellschaftlichen Linken steht man ja schließlich für internationale Solidarität, für Gleichberechtigung aller Menschen, für Entwicklungshilfe, für soziale Gerechtigkeit, gegen Ausgrenzung und Diskriminierung etc. Nur Rechtsextremisten grenzen demnach andere aus, sind Wohlstandschauvinisten und kümmern sich nicht um Probleme wie internationale Armut. Dieses Selbstverständnis der Linken ist freilich angenehm, aber dennoch realitätswidrig. Ganz offensichtlich wurde dieses Zerrbild der Linken spätestens im Jahr 1998. Infratest/dimap legte im Auftrag des WDR eine Studie vor, nach der Gewerkschaftsmitglieder – insbesondere jüngere – zu erheblich größeren Teilen zur Wahl rechtsextremer Parteien neigten als Nicht-Mitglieder: Bundesweit erwogen 11 % der Gewerkschaftsmitglieder die Wahl einer rechtsextremen Partei, bei nichtorganisierten Wahlberechtigten betrug der Anteil 7%. Unter den Mitgliedern im Alter von 18-24 konnten sich 32 % vorstellen, eine rechtsextreme Partei zu wählen, während es bei den nicht gewerkschaftlich organisierten Jugendlichen „nur“ 17 % waren (Dammann 1999: 30f). Obwohl die Gewerkschaften aus einer genuin linken Tradition hervorgegangen sind und ihre
eigentlichen Ursprünge in der sozialistischen Bewegung liegen, haben sie es offenbar nicht vermocht oder nicht gewollt, ihre eigenen Mitglieder gegen rechte Ideologien zu immunisieren. Der DGB reagierte auf diese Ergebnisse schnell: Er richtete eine Kommission ein und legte im Mai 2000 deren Ergebnisse vor. Als einzigen Grund für die überproportionale Anfälligkeit von Gewerkschaftsmitgliedern für rechtsextremes Gedankengut konnte die Kommission ein gewisses Nützlichkeitsdenken ausmachen: „Die Umstellung der Mitgliedermotivationen von Gemeinschaftsgefühlen auf Nutzenkalküle erweist sich für die Ausprägung der Sozialbeziehungen in Betrieb und Gesellschaft zunehmend als zweischneidiges Schwert. Denn dieselben Nutzenkalküle, die zum Eintritt in die Gewerkschaft bewegen und unter stabilen gesellschaftlichen Bedingungen ein funktionalkollegiales Verhalten nahe legen, können in Krisenzeiten zur Diskriminierung und Ausgrenzung ausländischer Arbeitnehmer führen.“ (DGB 2000b: 36) Die Kritik des Nützlichkeitsdenkens mutet allerdings merkwürdig an. Gewerkschaften sind seit ihrer Gründung Interessenorganisationen der abhängig Beschäftigten. Ihr Ausgangspunkt war zunächst nie die „allgemeine Wohlfahrt“, sondern die Durchsetzung der Interessen der in ihr Organisierten. Erst als zweiten Schritt entwickelte die Gewerkschaftsbewegung einen allgemein-politischen Anspruch, der sie über reines Nützlichkeitsdenken hinausführte. Eine angemessene Kritik an den Gewerkschaften scheint daher eher darin bestehen zu müssen, dass sie es in den letzten Jahren zusehends versäumt haben, bei ihren Mitgliedern für einen allgemein-politischen Anspruch zu werben, der den Standpunkt des reinen Eigeninteresses überwindet. Nicht die Anwesenheit der Vertretung der eigenen
Interessen, sondern die Abwesenheit eines allgemeinpolitischen Mandats, das die eigenen Interessen ins gesellschaftliche Ganze einordnet und sie relativiert, ist das Problem. Viele Arbeiter hatten daher seit Gründung der Arbeiterbewegung aufgrund eines unzureichend ausgestalteten politischen Mandats mit dem System, in dem sie lebten, gar kein grundsätzliches Problem. Die Hauptkritik richtete sich vielmehr gegen die Stellung, die die Arbeiter innerhalb des Systems einnahmen. Viele Gewerkschaftsmitglieder wollen auch heute keine andere Gesellschaftsform, keine andere Lebensweise, sondern auch mal im Chefsessel sitzen, im Lotto gewinnen oder einen Daimler-Benz fahren. Vor diesem Hintergrund kann es gar nicht verwundern, dass Gewerkschaftsmitglieder überdurchschnittlich für die Wahl rechtsextremistischer Parteien anfällig sind, wenn gerade letztere das Thema Wohlstandschauvinismus ins Zentrum ihrer Programmatik stellen. Es kommt hier zu politischen Schnittmengen, die durch die Gewerkschaften selbst aktiv hervorgerufen werden, auch wenn sich dies ihre führenden Köpfe bis heute nicht eingestehen wollen. So konnte Janine Cremer in einer Medienexpertise zeigen, dass es eben nicht die als links geltende Gewerkschaft IG Metall, sondern die IG BCE war, die bei der Greencard-Debatte in der gewerkschaftseigenen Medienlandschaft eine fortschrittliche Position vertrat (Cremer 2002). Klaus Zwickel hingegen bediente unter seinen Kolleginnen wohlstandschauvinistische Ressentiments zur Verteidigung des deutschen Arbeitsmarktes. Wer für die „Wettbewerbsfähigkeit“ oder den „Standort Deutschland“ Bündnisse für Arbeit schmiedet, wie dies die deutschen Gewerkschaften seit Jahren tun, anstatt sich für internationale Sozialstandards und Re-Regulierungen der Weltwirtschaft zu engagieren, braucht sich nicht zu wundern, dass die eigenen Mitglieder Anhänger eines
„Standortnationalismus“ (Butterwegge/Häusler 2001: 42) werden und NPD-Parolen wie „Arbeitsplätze zuerst für Deutsche!“ gut finden. Ganz ähnlich verhält es sich übrigens mit allen deutschen Parteien: Ob SPD, CDU, CSU, PDS, FDP oder Grüne – alle sind direkt oder indirekt in das Problem des Rechtsextremismus verstrickt. Dies lässt sich mit einer einfachen Überlegung erhärten. Ernstzunehmende Rechtsextremismusstudien beziffern den Anteil der Menschen mit einem geschlossen rechtsextremen Weltbild an der Gesamtbevölkerung auf 12-17 %. Dass dieses Potenzial tatsächlich vorhanden ist, belegen die Landtagswahl von 1998 in Sachsen-Anhalt, bei der die DVU aus dem Stand 12,9 % der Stimmen erreichte und die Bürgerschaftswahl in der Hansestadt Hamburg, bei der die Schill-Partei auf 19,4 % kam. Meist erreichen die rechtsextremen Parteien bei den Wahlen insgesamt aber nur selten mehr als 5%. Wo bleibt also der Rest? Prinzipiell sind mehrere Möglichkeiten denkbar: Entweder flüchten sie ins Lager der Nichtwähler, wählen etablierte Parteien oder beides. Und da Letzteres der Fall ist, müssen sich alle etablierten Parteien die Frage stellen, wodurch sie überzeugten Rechtsextremisten einen Grund dafür geben, sie und eben keine rechtsextremen Parteien zu wählen. Teilweise kam es aufgrund entsprechender Äußerungen des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder sogar zu Wahlaufrufen rechtsextremistischer Organisationen für die SPD (Butterwegge/ Häusler 2002: 252).
Offenbar bedienen alle etablierten Parteien in unterschiedlichem Maße Themen, die ideologische Schnittmengen zwischen sich und rechtsextremen Ideologien erzeugen. Horst MAHLER und Hans Günter EISENECKER haben daher im Rahmen des NPD-Verbotsprozesses nicht ohne Grund immer wieder darauf hingewiesen, etablierte Politiker verfassungskonformer Parteien, so z.B. Altbundeskanzler Helmut Schmidt, würden sich ganz ähnlich zur „Ausländerfrage“ äußern wie die NPD und letztere könne folglich gar nicht verfassungswidrig sein. Die potenziell rechtsextreme Wählerschaft der jeweiligen Parteien lässt sich soziologisch auch einigermaßen bestimmen (Hermann 1996; Birsl/Lösche 2001): • Die Unionsparteien ziehen aufgrund ihrer teilweise deutlichen Anklänge an nationalistische und konservative Ideologien entsprechende Wählerinnen auf sich. Ob Wolfgang Schäuble Lobreden auf die „nationale Identität“ oder auf die
„deutsche Nation“ als „Schicksalsgemeinschaft“ (Schäuble 1998: 184ff) hält, ob Laurenz Meyer ideologische und kulturelle Überschneidungen mit Symbolen der Skinheadszene in Kauf nimmt (Häusler 2002), wenn er seinen Stolz auf Deutschland proklamiert oder ob Friedrich Merz gezielt eine Debatte über „Deutsche Leitkultur“ entfacht, um Einwanderung und Integration argumentativ zu untergraben – dies alles trägt zur Stabilisierung einer national-konservativen Wählerschaft bei. • Die FDP steht als neoliberale Partei nahe am rechten Rand des deutschen Parteienspektrums. Denn die häufig nicht ausgesprochene Prämisse des Neoliberalismus ist ein „sozialdarwinistisch angehauchtes Menschenund Gesellschaftsbild“ (Birsl/Lösche 2001: 354; Birsl 2002). Nicht prinzipiell alle Menschen, sondern die Stärksten sollen nach Ansicht der FDP das Sagen haben. Zu den wenigen Anhängern des Neoliberalismus, die dies offen eingestehen, zählt der ehemalige BDI-Chef Hans-Olaf Henkel: „Auch wenn Darwins Lehre in Deutschland mit dem abwertenden Stempel des ,Sozial-Darwinismus’ versehen ist, erscheint mir seine Theorie von der Anpassung doch zutreffend: Eine Spezies, die sich nicht anpasst, wird untergehen.“ (Henkel 2002: 207f) Folglich dürften die Wählerinnen der FDP, die dem rechtsextremen Spektrum zuzuordnen sind, vor allem in „leistungsorientierten“ Schichten zu finden sein. • Einen gewissen Sonderfall stellen noch die Grünen dar. Sie sind die Partei, die den geringsten Anteil rechtsextremer Wähler aufzuweisen hat. Allerdings sind sie bereits seit Jahren damit beschäftigt, sich in ihre Grundfarben gelb und blau zu zerlegen. Es scheint daher nicht ungerechtfertigt davon zu sprechen, dass die Grünen inzwischen „die zweite Partei des organisierten Liberalismus“ (Birsl 2002: 46) in der BRD darstellen. Mit der Übernahme neoliberaler Konzepte durch die
Grünen besteht die rale Gefahr, zunehmend auch Anhänger des Sozialdarwinismus aus „leistungsorientierten“ Schichten als Wählerinnen auf sich zu ziehen. • SPD und PDS hingegen zählen als Linksparteien vor allem wohlstandschauvinistische Wählerinnen aus der Unterschicht zu ihren Unterstützern (Meyer 2002: 61). Nicht zuletzt daher übernahm die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung wahrscheinlich auch im Rahmen der Einwanderungsdebatte den von der Union angestoßenen „Nützlichkeitsdiskurs“, um möglicherweise eigene Anhängerinnen nicht zu verprellen und in die Hände der Union zu treiben. Die Bereitschaft der Linksparteien, Argumentationen der politischen Rechten zu übernehmen, muss daher häufig als strategischer Schachzug verstanden werden und entspricht nicht unbedingt der tatsächlichen Auffassung dieser Parteien: Um bei Wahlen die Regierungsmehrheit zu erhalten, werden gegenüber weniger fortschrittlichen Wählergruppen häufig entsprechende Zugeständnisse gemacht. Hierbei folgt man meist der Logik, dass es immer noch besser sei, eine konservativ oder national eingefärbte sozialdemokratische Politik fortsetzen zu können als dem politischen Gegner zur Regierungsmacht zu verhelfen. Diese Strategie beinhaltet allerdings die Gefahr, selbst zum Erfüllungsgehilfen derjenigen zu werden, deren Politik man eigentlich verhindern will. Durch die Übernahme rechter Argumentationen durch die politische Linke verschiebt sich das politische Koordinatenkreuz der Gesellschaft weiter nach rechts und verschärft sogar meist die Ausgangsvoraussetzungen für eine weltoffene Politik: Die entsprechenden Wähler fühlen sich bestätigt und sehen gar keinen Grund, ihre Position zu überdenken. Daher lässt sich durchaus darüber streiten, welcher Weg langfristig der bessere ist: ob die schrittweise
Übernahme der Argumente des politischen Gegners mit all den Folgen, die dies haben kann, oder der beharrliche Versuch, für eine weltoffene Politik der Toleranz zu werben. Dies mag in dem einen oder anderen Fall kurzfristig auch eine Wahlniederlage zur Folge haben, langfristig könnte dies allerdings zur Stabilisierung des politischen Koordinatensystems beitragen. Allerdings ist dies in jedem konkreten Fall neu zu entscheiden.
Wohlstandschauvinismus von links Ein wirklich absurdes Beispiel für eine Form des Wohlstandschauvinismus von links bot jüngst in einem Aufsatz Jörg Finkenberger: „Es darf nicht zum Konflikt zwischen globaler Gerechtigkeit und dem in den Metropolen erkämpften Wohlstandsniveau kommen. […] Wir müssen dabei klarstellen, dass aus ökologischen Gründen zwar eine andere Art von Wohlstand erforderlich ist, aber ökonomisch betrachtet die Schaffung von gerechtem Wohlstand auf der Erde nicht zulasten der arbeitenden Klassen in den Metropolen geht.“ (Finkenberger 2001: 19) Mit anderen Worten: Natürlich ist die Linke nicht wohlstandschauvinistisch, aber spätestens wenn es um den Reichtum der arbeitenden Klassen in den westlichen Metropolen geht, ist Schluss: Dieser Wohlstandschauvinismus kommt zwar vornehmer daher, aber er ist trotzdem einer. Er übersieht zunächst, dass auch die „arbeitenden Klassen in den Metropolen“ von einer völlig ungerechten Welthandelsstruktur profitieren. Warum wohl sind in Mitteleuropa Schokolade, Tee, Kaffee, Textilien, Südfrüchte, Turnschuhe, Blumen und andere Güter so preiswert? Weil sie selbst oder ihre Vorprodukte meist unter den miesesten sozialen, ökologischen und arbeitsrechtlichen
Bedingungen in der so genannten „Dritten Welt“ hergestellt werden und auch die deutschen Kundinnen den Preiskrieg auf dem Weltmarkt durch ihr Verhalten forcieren. Hinzu kommen horrende Zölle auf veredelte Produkte aus der „Dritten Welt“, so dass die westlichen Industriestaaten die Länder der „Dritten Welt“ hauptsächlich zum Rohstoffund damit Arbeitsplatzexport zwingen. Während also z. B. in den Herkunftsländern veredelter Kaffee auf deutschen Märkten aufgrund der Einfuhrzölle so teuer wäre, dass er kaum Kunden fände, veredeln deutsche Arbeitskräfte auf deutschen Arbeitsmärkten die Kaffeebohnen und verlagern so Wertschöpfung aus der „Dritten“ in die „Erste Welt“. Nicht nur die Anhebung der Entwicklungshilfe gemäß den internationalen Verpflichtungen auf 0,7 % des Bruttosozialprodukts, sondern ebenso die Öffnung der Märkte des Westens für die Produkte der „Dritten Welt“ wären daher wichtige Schritte hin zu einer gerechteren Welt. Aber nicht nur diese ungerechten Welthandelsstrukturen führen Finkenbergers Argumentation ad absurdum. Er übersieht ebenso, dass neben den Finanzmärkten vor allem eines globalisiert ist: das Klima. Auch die „arbeitenden Klassen in den Metropolen“ pflegen einen Lebensstil, der das Klima nachhaltig verändert und z. B. durch Verwüstung in Afrika anderen Menschen Lebensraum zerstört: „In diesen globalen Krisen können die »Verantwortlichen’ in der einen Gesellschaft eine nicht-nachhaltige Entwicklung ausleben – etwa am Ende des 20. Jahrhunderts in Europa und den USA – , während die ,Opfer’ sie in einer ganz anderen Gesellschaft erleben werden.“ (Lipietz 2000: 59) Zur Rechtfertigung des vornehmeren Wohlstandschauvinismus von links gegenüber den Armen des Südens rät Finkenberger zu einer aberwitzigen Argumentationsstrategie: „Wir müssen […] in der […]
Diskussion herausstellen, dass auch die ‚privilegierten’ arbeitenden Klassen des Nordens den Gesetzen der kapitalistischen Exploitation unterworfen sind, d. h. ausgebeutet werden […]“ (Finkenberger 2001: 19). Mit anderen Worten: Westliche „Arbeiter“, die trotz aller sozialer Ungerechtigkeit auch in den westlichen Industriestaaten im Vergleich zu den Hungernden dieser Welt wie Maden im Speck leben, sollen hungernden Kindern entgegenrufen: „Macht euch nichts draus, wir werden schließlich vom Kapitalismus auch ausgebeutet.“ Das ist wirklich nur gedankenloses Geschwätz. Und das vor allem deshalb, weil große Teile der „arbeitenden Klassen“ im Westen das Leben der Menschen in der so genanten „Dritten Welt“ nicht nachhaltig interessiert, sondern vor allem ihre eigene Stellung innerhalb des westlichen Systems. Angesichts solcher, in der gesellschaftlichen Linken wahrscheinlich nicht selten verbreiteter Auffassungen muss es manchmal schon verwundern, mit welcher Inbrunst so genannte Linke glauben, als Vertreter des Guten gegen rechtsextremistische Wohlstandschauvinisten auftreten zu dürfen. Es sind ein falsches Bild vom „guten Leben“ und eine gewisse Form von Egoismus, die Autoren wie Finkenberger dazu veranlassen, blind gegenüber dem eigenen Wohlstandschauvinismus zu sein. Wir haben es hier noch immer mit einer Linken zu tun, die glaubt, das Glück der Menschen liege im Konsum und nicht in einer qualitativen Entwicklung menschlichen Lebens; sie träumt – zumindest implizit – immer noch wie Marx von der Möglichkeit des Paradieses auf Erden und glaubt daher an die unbegrenzte Güterproduktion und -konsumtion (Produktivismus und Konsumismus). Und sie ignoriert ihre Mitverantwortung für die Lage dieser Welt. Sie ist abstrakt und theoretisch internationalistisch, aber in der Praxis kommt es nur selten zu
Akten tatsächlicher Solidarität. Es wäre sicher interessant, einmal zu überprüfen, wie viele Mitglieder von Gewerkschaften sowie sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien wenigstens ein wenig Geld für wohltätige Zwecke auszugeben bereit sind und zumindest hin und wieder ihren Tee, Kaffee oder ihre Schokolade in so genannten „Weltläden“ kaufen, die ökologisch hergestellte und sozial fair gehandelte Produkte anbieten – die Ergebnisse wären wahrscheinlich nicht sonderlich ermutigend. Es ist und bleibt bis heute ein fragwürdiger Zustand, dass die angebliche Speerspitze der internationalen Solidarität von kirchlichen Trägern noch Einiges zu lernen hat. Wer es wirklich ernst meint mit dem Gleichheitspostulat, ist allerdings nicht nur zur kritischen Überprüfung seiner Haltung gegenüber der so genannten „Dritten Welt“ angehalten, sondern kauft sich gleich noch ein weiteres Problem ein. Das Gleichheitspostulat beinhaltet ja die Überlegung, dass Ungleichbehandlung nur dann gerechtfertigt ist, wenn auch tatsächlich irgendeine Differenz vorliegt, die diese Ungleichbehandlung legitimiert. Norberto Bobbio hat die Konsequenzen, die aus einer solchen Auffassung resultieren, sehr klar und richtig gesehen: „Erst in unserer Zeit wurden die drei Hauptursachen für die Ungleichheit, nämlich Klasse, Rasse und Geschlecht, äußerst kritisch hinterfragt. Die stufenweise Gleichstellung der Frauen mit den Männern – zunächst innerhalb kleiner Familienverbände, dann innerhalb der größeren zivilisierten politischen Gesellschaft – ist eines der sichersten Anzeichen für den unaufhaltsamen Weg der Menschheit auf die Gleichheit [im Sinne der Gleichberechtigung, M. B.] zu. Und was soll man zu der neuen Haltung gegenüber den Tieren sagen? Immer häufigere, immer umfangreichere Diskussionen über die Berechtigung der Jagd, die Grenzen der Tierversuche, den Schutz von selten
gewordenen Tierarten, den Vegetarismus, was sonst sind sie, wenn nicht erste Anzeichen für eine mögliche Ausweitung des Gleichheitsprinzips weit über die Grenzen des Menschengeschlechts hinaus, eine Ausweitung, die auf dem Bewusstsein beruht, dass die Tiere zumindest in der Fähigkeit zu leiden uns Menschen gleich sind?“ (Bobbio 1994: 94) Wenn wir es also, da der Mensch leidfähig ist, für selbstverständlich halten, seine körperliche und seelische Integrität zu verteidigen, warum sehen wir uns nicht zu demselben Ziel gegenüber den Tieren verpflichtet, wo doch auch sie leidfähige Wesen und uns Menschen insofern gleich sind? Der Wohlstandschauvinismus – und mit ihm die Überwindung jeder Form willkürlicher Exklusion (Rassismus) – ist daher weit davon entfernt, nur ein Problem unter Menschen zu sein. Seine Überwindung schließt unser Verhältnis zu allen Lebewesen ein, deren Leid wir verursachen oder aktiv vermindern können. Diese Argumentation wird viele Leser sicher nicht besonders überzeugen. Allerdings dürfte es kein Zufall sein, dass auch renommierte Autoren der Rassismusforschung wie Albert Memmi ihr Grundlagenwerk über Rassismus mit der Tierproblematik beschließen: „Der Kern jeder Moral ist die Achtung des anderen; es wird an unserer menschlichen Ehre liegen, eine humanere Welt zu errichten. So lange, bis eines Tages auch die Tiere in ihr Frieden und Sicherheit finden werden, müssen wir dafür Sorge tragen, dass wenigstens die Menschen, und zwar alle Menschen, nicht mehr wie Tiere behandelt werden.“ (Memmi 1992: 148)∗ Vielleicht ist also ∗
Innerhalb der Philosophie wird inzwischen die Frage des Rassismus des Menschen gegenüber Tieren von dem aus vielen Gründen zu Recht umstrittenen Ethikprofessor Peter Singer unter dem Begriff „Spezieismus“ (Singer 1996: 82) diskutiert.
doch mehr dran an der Vermutung, dass unser neuzeitliches Verhältnis zu Tieren jedenfalls nicht völlig außerhalb der Rassismusproblematik zu stehen scheint.
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