Musiktherapie und NLP von Inge Kritzer
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Musiktherapie und NLP von Inge Kritzer
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usgehend von meinen Erfahrungen mit musikalischer Improvisation bei Kindern und Erwachsenen in unterschiedlichen Handlungsfeldern, biete ich Kindern in musiktherapeutischen Einzelstunden an der Musikschule die Möglichkeit, Störungen verschiedener Art zu begegnen und zu bearbeiten.
Fallbeschreibung Judith, zu Beginn der Musiktherapie 11 Jahre alt, hat nach dem schweren Unfall, bei dem die vierköpfige Familie gemeinsam im Auto saß und bei dem ihr Vater starb, depressive Züge. Sie selbst sowie ihre Mutter und Schwester lagen nach dem Unfall noch Wochen schwerverletzt im Krankenhaus. Außer dem schweren Schock waren ihre Gehirnfunktionen beeinträchtigt, wobei nicht sicher ist, ob das später noch einmal auftreten wird. Es fällt ihr nach dem Krankenhausaufenthalt schwer, sich wieder in den Alltag einzuordnen. Sie lebt sehr in sich zurückgezogen, zeigt kaum Interesse an der Schule, die schulischen Leistungen gehen stark zurück, sie kann die Forderungen, die ihr von der Schule gestellt werden, nicht erfüllen. Der Hausarzt rät der Mutter dringend, Judith in eine psychosomatische Klinik für Kinder einweisen zu lassen. Das Mädchen wehrt sich jedoch heftig dagegen, aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen zu werden. Die Mutter sucht nach anderen Lösungsmöglichkeiten, und wird von der sie be-
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handelnden Heilpraktikerin an mich verwiesen. Nach einem gemeinsamen Gespräch mit Mutter und Tochter entscheide ich mich, Judith musiktherapeutisch zu begleiten. In den ersten Stunden ist sie sehr schüchtern und zurückhaltend, es kommt nur zögerlich zu einem Gespräch. Ihr bisheriger Bezug zur Musik besteht darin, Unterricht in Gitarre und Keyboard zu bekommen, was ihr jedoch nur mäßigen Spaß macht. Das Kennenlernen der Musikimprovisation eröffnet ihr eine neue, bisher gänzlich unbekannte Ausdrucksweise und neue Felder, die es zu entdecken gilt . In den ersten Wochen, in denen sie zu mir kommt, erschrecke ich jedesmal, wenn ich ihre Körperhaltung sehe: vornübergebeugt, verkrampft, schleppender Gang; sie ist sehr dünn und blaß. Sie bekommt keine Psychopharmaka laut Auskunft der Mutter. Es ist erstaunlich, zu beobachten, wie sich die Hautfarbe und der Gesichtsausdruck verändern, wenn sie sich an Instrumente begibt, die ihr unbekannt sind. Die Kalimba hat es ihr am Anfang besonders angetan, und sie nimmt sie für eine Woche sogar mit nach Hause. Nach dem Vertrautwerden mit mir und dem Instrumentarium, taut sie in den ersten Stunden sichtlich auf. Wir spielen „Frühling musikalisch darstellen“, „Schule“, „Gefühle gestalten“, nehmen diese Stücke auf, hören sie uns wieder an und sprechen darüber. Das Musizieren macht ihr immer mehr Spaß, und sie wählt immer öfter
Themen aus ihrem Alltag, die wir musikalisch differenziert darzustellen versuchen. Unsere Beziehung wird vertrauter, die Improvisationen lebendiger im Laufe der nächsten Sitzungen. Ihren verstorbenen Vater erwähnt sie jedoch nie. Um hier noch intensiver arbeiten zu können, entschließe ich mich, Methoden aus dem NLP mit in die Musiktherapie zu nehmen und sie miteinander zu verbinden.
Einige erläuternde Worte noch zu NLP: NLP ist eine Kombination von pädagogischen, psychologischen, psychotherapeutischen und kommunikativen Fähigkeiten. Mit den Methoden des NLP lassen sich in kurzer Zeit sehr wirkungsvolle Veränderungen bewirken, da stets alle Sinne mit einbezogen werden und das Unterbewußtsein dabei angesprochen wird. Techniken von Meistertherapeuten wurden genau gefiltert, beobachtet und differenziert, so daß sie zum Teil als Techniken anwendbar sind. Es hängt jedoch viel von der Persönlichkeit des Therapeuten ab, wann und wie welche Methode eingesetzt wird. Ein halbes Jahr nach Beginn der Musiktherapie gestalte ich eine Sitzung, in der ich ihr eine „Reise durch den Körper“ anbiete: „Setz dich bequem und entspannt hin, schließe die Augen, wenn du möchtest. Sitzposition solange verändern, bis sie optimal ist.“
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Kritzer – Musiktherapie Es folgt eine angeleitete Phantasiereise durch den Körper, eingebettet in eine Entspannungsübung, die einen leichten Trance-Zustand induziert. Die Wahrnehmung wird nach und nach von außen nach innen geleitet. Die real vorhandenen Dinge (Kontaktfläche der Füße auf dem Boden spüren) und die in der „Reise durch den Körper“ angeleiteten Wahrnehmungen (wie fühlt sich das Körperteil an, das am angenehmsten zu spüren ist) werden zunächst in ein Verhältnis von 4:1 4:2 4:3 4:4 3:4 2:4 1:4 gestellt. Das bedeutet, am Anfang vier real vorhandene Dinge aufzuzählen, danach eine mögliche, vielleicht in diesem Moment nicht wahrgenommene Sache, z.B. Atembeobachtung und -veränderung etc. Am Ende steht das Herausfinden und Wahrnehmen von zwei Körperteilen, ein angenehmes, ein unangenehmes, so differenziert wie möglich (Farbe, Form, Geruch, Geschmack, Ton). Damit arbeiten wir nach der Phantasiereise, die behutsam und langsam beendet wird, indem das oben angeführte Zahlenverhältnis von unten nach oben durchgegangen wird. Nach dem allmählichen Beenden der Entspannungsübung durch dehnen, strecken, gähnen, wird ein deutlicher „Separator State“ durchgeführt. Die Aufmerksamkeit wird wieder auf die Umgebung hier in der Realität gelenkt. Erst danach wird wieder an die vorherige Übung angeknüpft und die Instrumente werden benannt, die zu den beiden Körperteilen gefunden wurden: Metallophon — Kopf (angenehm), GatoDrum: Knie (unangenehm). Die darauf folgende Improvisation beginnt Judith mit dem Metallophon, geht über zu dem Gato-Drum, auf dem sie etwas lebhafter spielt, um dann wieder helle, leise Töne auf dem Metallo-
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phon zu spielen. Sie führt, ich folge mit meinen Instrumenten, und es entwickelt sich ein kurzer Dialog. In der Reflektion dieser musikalischen Einheit erzählt sie zum ersten Mal von ihrem verstorbenen Vater. Danach biete ich ihr die Idol-Strategie in einer leichten Trance an: Es geht darum, eine Problemsituation zu finden, die häufig wiederkehrt, mit dem Ziel, neue Verhaltensweisen im positiven Gefühlszustand herauszufinden und sie in der nahen Zukunft entsprechend einsetzen zu können. Dieser Prozeß wird dann entsprechend musikalisch nachvollzogen.
Idolstrategie: Ich beginne mit der Frage: „Gibt es eine Situation in deinem Leben, die du gerne ändern möchtest?“ Wie in der vorhergehenden Stunde geht Judith auf meine Anleitung hin in einen entspannten Zustand (nachdem sie vorher ihre Bereitschaft dazu gegeben hat), in dem alle Wahrnehmungskanäle angesprochen werden. Sie findet ein aktuelles Problem (ihre Freundin wacht eifersüchtig darüber, daß sie nicht zuviele Kontakte zu anderen Mädchen hat), das ihr zu schaffen macht, und sie sucht sich als Probleminstrument das Metallophon aus. Ich habe sie vorher darüber informiert, daß es in dieser Übung nicht erforderlich ist, mich über das in der Entspannung gefundene Problem zu informieren. Daraufhin bitte ich sie, eine Position im Raum zu finden, von der aus sie die
Instrumente und ihre vorhergehende Position mit Abstand betrachten kann. Dann bitte ich sie, nach einer Person (Idol) in ihrem Leben zu suchen, von der sie glaubt, daß sie ihr aktuelles Problem positiv bewältigen kann. Sie sucht den Platz im Raum, den ihr Idol einnehmen würde. In der Rolle des Idols geht sie die Situation in ihrer Phantasie noch einmal durch und findet heraus (verbal), wie das Idol an ihrer Stelle gehandelt hätte. Sie sucht sich als Instrumente für das Idol eine Handtrommel mit Schlegel und Agogos. Nachdem sie die Instrumente ausprobiert hat, geht sie mit der Trommel zurück in ihre Ausgangsposition. Wir spielen die veränderte Situation mit Metallophonen und Trommeln durch, wobei sie sich sehr harmonisch und selbstbewußt ausdrückt und sich offensichtlich sehr wohl dabei fühlt. Bei allen drei Durchgängen muß ich die Rolle ihrer Freundin mit demselben Instrument übernehmen. Nach Abschluß des gemeinsamen Spiels stelle ich ihr die Frage, ob sie noch andere Fähigkeiten erkunden möchte, die sie für die Lösung zukünftiger ähnlicher Problem-Situationen benötige. Sie antwortet daraufhin kongruent mit „Nein“ und ist sicher, daß ihr eine Veränderung mit den heute erworbenen neuen Fähigkeiten und Verhaltensweisen gelingen wird. Bis heute, sechs Monate danach, ist das vorher immer wiederkehrende Problem nicht wieder aufgetreten.
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Dazu möchte ich noch anmerken, daß diese Arbeit Judith bereits vertraut war; ohne Entspannungsübung und ohne Idolstrategie haben wir, unter Ausschöpfung eigener Ressourcen, ein ähnliches Problem, das sie mit einem ihrer Lehrer hatte, erfolgreich bearbeitet. Nach diesen Einheiten ist es uns gelungen, an tiefere Schichten ihres Erlebens heranzukommen, die direkt mit ihrem Unfall-Trauma in Verbindung stehen. Sie litt fast ein Jahr unter schweren Schlafstörungen und Angst-Träumen, die wir konkret mit verschiedenen NLPMethoden (wie: „Reise durch den Körper“, „Idolstrategie“) in Kombination mit musiktherapeutischen Methoden bearbeiteten. Heute sind wir soweit, daß sie mit der Trauerarbeit beginnen kann. Ihre Körperhaltung hat sich verändert, sie hat einen aufrechten Gang, eine rosige, gesunde Gesichtsfarbe, und beschäftigt sich hauptsächlich mit den Problemen eines pubertierenden Mädchens. Sie ist jetzt im zweiten Jahr bei mir in
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der Musiktherapie und unsere Zusammenkünfte sind zur Zeit intensiv, vertrauensvoll, ja geradezu lustvoll im gemeinsamen musizieren. Ich wende nach wie vor bei Bedarf NLP-Methoden an und bin davon überzeugt, daß die Musiktherapie dadurch bereichert, intensiviert und sogar erleichtert werden kann, da die verschiedenen Wahrnehmungskanäle gezielter angesprochen werden, und durch das Hinzufügen einer anderen Ebene erlebnisorientierte und zielorientierte Elemente weiterentwickelt werden können. Literaturbeispiele: • Bandler/Grinder: Neue Wege der Kurzzeit-Therapie. Junfermann Verlag, Paderborn 1986. • Stahl, Thies: Triffst du ‘nen Frosch unterwegs... NLP für die Praxis. Junfermann Verlag, Paderborn 1988. Über die Autorin: Inge Kritzer ist NLP-Practitioner und seit ca. 10 Jahren an der Musikschule und an der Universität Siegen freiberuflich im musikpädagogisch-therapeutischen Bereich tätig.
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