Butler Parker Neu Nr. 173
Ein neuer Butler-Parker-Krimi mit Hochspannung und Humor von
Günter Dönges
Parker hebt den...
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Butler Parker Neu Nr. 173
Ein neuer Butler-Parker-Krimi mit Hochspannung und Humor von
Günter Dönges
Parker hebt den
»Maulwurf« aus
»Ich versichere Sie selbstverständlich meiner vollsten Diskretion, Mr. Preston«, sagte Butler Parker und deutete eine steife und knappe Verbeugung an. »Sie können frei und offen reden.« »Ich möchte nämlich keinen Ärger bekommen«, begann William Preston, der einen äußerst nervösen Eindruck machte. »Die Drohungen am Telefon waren eindeutig genug.«
»Womit wir bereits beim Thema wären, Mr. Preston.« Josuah Parker sah seinen Kollegen erwartungsvoll an. William Preston war ein Mann von etwa fünfundfünfzig Jahren und trug zur gestreiften Hose eine weißgelb gestreifte Weste. Er war der Butler des Lord of Lanters und hatte sich vor knapp anderthalb Stunden hilfesuchend an Parker gewandt. »Man will mich umbringen«, sagte Preston und holte tief Luft. »Ein verabscheuungswürdiges Unterfangen«, räumte Josuah Parker ein. »Es gibt bestimmte Gründe für diese erklärte Absicht, Mr. Preston?« »Das kann man wohl sagen, Mr. Parker.« William Preston bemühte sich um Haltung. »Die Krone gab mir die Ehre, mich als Geschworenen in einem Strafprozeß zu berufen.« »Um welchen Prozeß handelt es sich?« Parker war ein Mann undefinierbaren Alters, etwas über mittelgroß und fast schlank. Er hatte das glatte und undurchdringliche Gesicht eines Pokerspielers und verfügte über eine Ausdrucksweise, die man nur als barock bezeichnen konnte. Er war der Butler einer gewissen Lady Agatha Simpson und betätigte sich schon fast hauptberuflich als Amateurkriminalist. »Es handelt sich um die Strafsache George Hunt«, beantwortete Preston Parkers Frage. »Sie wissen vielleicht, er steht unter der Anklage, einen Garagenbesitzer erschossen zu haben.« »Dieser Strafprozeß ist mir bekannt.« Parker nickte knapp. »Nach Lage der Dinge möchte ich unterstellen, daß man Sie für den Fall bedroht hat, daß Sie den Angeklagten für schuldig
erklären, nicht wahr?« »Das genau ist es, Mr. Parker«, antwortete William Preston. »Und nun weiß ich nicht, wie ich mich verhalten soll. Ich bin kein Held, verstehen Sie? Und ich spüre, daß diese Drohung ernst gemeint war, sehr ernst sogar.« »Dem möchte ich durchaus beipflichten, Mr. Preston«, sagte Parker. »Mr. George Hunt ist ein in Unterweltkreisen recht bekannter Mann, der über großen Einfluß verfügt.« »Was soll ich also tun, Mr. Parker? An die Polizei kann ich mich unmöglich wenden. Man hat mir gedroht, mich dann einfach niederzuschießen wie einen tollen Hund.« »Dies wäre ein Umstand, den man als sehr peinlich bezeichnen müßte«, antwortete der Butler gemessen. »Wann werden die Geschworenen über den Schuldspruch entscheiden?« »Schon morgen, Mr. Parker, das ist es ja gerade. Ich habe überhaupt keine Zeit, irgend etwas zu unternehmen. Ach richtig, da wäre noch etwas.« »Ich erlaube es mir bereits zu ahnen.« »Man hat mich auch davor gewarnt, etwa krank zu werden oder eine Reise anzutreten. Man besteht darauf, daß ich morgen im Gerichtsgebäude bin, und hat mir gesagt, daß man mich nicht aus den Augen ließe.« »Eine Situation, die ich als äußerst heikel bezeichnen möchte.« »Sie sind meine einzige Hoffnung, Mr. Parker. Ich weiß doch, daß Sie sich manchmal mit Kriminalfällen befassen.« »Ich habe die Ehre, Lady Simpson in solchen Fällen ein wenig assistieren zu dürfen.« »Was soll ich tun, Mr. Parker?« »Sie werden umgehend so etwas wie eine überstürzte Flucht antreten«, erwiderte Butler Parker. »Dann wird man mich umbringen. Ich weiß das genau!« »Wenn Sie gestatten, Mr. Preston, werde ich Ihre Flucht
arrangieren.« »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.« »Ich werde mir die Freiheit nehmen, mein Äußeres ein wenig zu verändern«, antwortete Josuah Parker. »Dies dürfte nicht besonders schwer sein, wie ich Ihnen versichern kann, zumal Sie und meine bescheidene Wenigkeit den Beruf eines Butlers ausüben.« »Und wozu soll das gut sein? Morgen muß ich auf der Geschworenenbank sitzen, Mr. Parker. Flucht hat überhaupt keinen Sinn, begreifen Sie doch endlich! Man überwacht mich. Vielleicht lauern vor dem Haus bereits einige Mörder.« »Das wäre ausgezeichnet, Mr. Preston. Wenn ich vorschlagen darf, sollte jetzt eine Art Personentausch stattfinden. Ich werde mir gestatten, diese Beobachter ein wenig in die Irre zu führen.« »Aha, so meinen Sie das!« William Preston hatte endlich verstanden. »Sie wollen diese Gangster vom Haus weglocken, damit ich mich in Sicherheit bringen kann, nicht wahr?« »Sie befinden sich auf einer Fährte, die ich als fast richtig bezeichnen möchte«, lautete Parkers Antwort. »Über die weitere Entwicklung der Dinge sollten Sie sich vorerst keine Sorgen machen. Ich muß allerdings darauf bestehen, daß Sie während der nächsten beiden Stunden das Haus auf keinen Fall verlassen.« »Das schwöre ich Ihnen, Mr. Parker.« »Sehr aufmerksam.« Josuah Parker nickte zufrieden. »So, und nun möchte ich das machen, was man in Theaterkreisen gemeinhin Maske nennt. Die Täuschung der Bewacher sollte möglichst umfassend sein.«
Josuah Parker hatte in weiser Voraussicht das Haus durch einen Hintereingang betreten. Nun verließ er es durch den
Haupteingang und war selbst für einen aufmerksamen Beobachter nicht mehr wiederzuerkennen. Er hatte die leicht gebeugte Haltung seines Berufskollegen Preston angenommen und zog das linke Bein kaum merkbar nach. Er trug einen dunklen Paletot und selbstverständlich auch eine Melone. Dieser angebliche Mr. William Preston sah sich scheu nach allen Seiten um, zog förmlich den Kopf ein und ging dann zur nächsten Straßenecke. Zwischendurch schaute er sich immer wieder um. Es war ganz offensichtlich, daß dieser Mann Angst hatte, verfolgt zu werden. Daß dies aber bereits der Fall war, hatte Josuah Parker schon längst herausgefunden. Ein kleiner grauer Morris folgte ihm im Abstand von etwa dreißig Metern. Vorn im Wagen saßen zwei stämmig aussehende Männer, die sich ganz eindeutig für ihn interessierten. Wahrscheinlich warteten sie nur auf eine passende Gelegenheit, um sich mit ihm zu befassen. Und Butler Parker sorgte dafür, daß sie diese Gelegenheit auch möglichst schnell erhielten. Er hatte die Seitenstraße hinter sich gelassen und hielt auf einen kleinen Park zu, dessen Ränder zur Straße hin mit dicken und dichten Sträuchern bewachsen waren. Sie ließen nicht lange auf sich warten. Parker hörte schnelle Schritte hinter sich und wurde dann von den beiden Männern überholt, die sich zuerst mal überhaupt nicht um ihn kümmerten. Dann aber machten sie plötzlich kehrt und bauten sich vor ihm auf. Sie hielten sehr häßlich aussehende Schlaginstrumente in den Händen: Kabelenden, die mit Isolierband oberflächlich umwickelt waren. Die beiden Männer drängten den scheinbar verwirrten Butler in dichtes Buschwerk und kamen schnell zur Sache. »Wer will denn hier abhauen?« fragte der erste Schläger und lächelte tückisch. »Wer will denn hier die Kurve kratzen?« erkundigte sich der
zweite und schüttelte fast vorwurfsvoll den Kopf. »Ich ... Ich habe nicht die Absicht, meine Herren«, schickte Parker voraus, doch die energische Handbewegung des ersten Schlägers ließ ihn schweigen. »'ne kleine Abreibung kann niemals schaden«, sagte der Mann dann und holte mit dem Kabelende aus. »So was prägt sich nämlich ein«, behauptete der zweite Schläger. »Wir wollen ja morgen nicht vergessen, daß Mr. Hunt völlig unschuldig ist, nicht wahr?« »Keine Angst, Mann, dein Gesicht bleibt heil«, tröstete der erste Rowdy freundlich. »Nur die Rippen werden leicht stechen«, sagte der zweite und wollte seinen ersten Schlag anbringen. Er holte blitzartig aus und ... erlebte eine mehr als peinliche Überraschung. Butler Parker in der Maske seines Berufskollegen Preston hatte keine Lust, sich von diesen beiden Schlägern mißhandeln zu lassen. Er hielt plötzlich seine schwarze Melone in der rechten Hand und setzte die Wölbung auf die Nase des Sadisten. Der Mann heulte auf wie ein getretener Hund. Seine Nase legte sich quer, und auch das Nasenbein wurde deutlich in Mitleidenschaft gezogen. Der Mann vergaß den geplanten Schlag, hatte Tränen in den Augen und war in den nächsten Sekunden nicht mehr in der inneren Verfassung, sich weiter um den Butler zu kümmern. Der erste Schläger war perplex. Mit solcher Reaktion und Gegenwehr hatte er nicht gerechnet. Er war einen Moment ratlos. Als er dann einen Entschluß faßte, war es dazu bereits zu spät. Butler Parker hatte seine schwarze Melone wieder hochgerissen und traf mit der Wölbung das Kinn des Mannes. Da dieser Teil der Melone mit solidem Stahlblech ausgefüttert war, entsprach der Zusammenprall einem Niederschlag. Der Schläger verdrehte die Augen, stieß einen tiefen Seufzer aus, wurde weich in den
Knien und nahm Platz. »Ich bedaure diesen Zwischenfall außerordentlich«, sagte Parker und setzte die Melone wieder korrekt auf. »Sie werden aber zugeben müssen, daß Sie mich zu dieser unzivilisierten Handlung geradezu gezwungen haben.« Die beiden Schläger nahmen dazu keine Stellung und gaben sich ihrem Schmerz hin.
Lady Agatha Simpson, mit dem Blut- und Geldadel der Insel eng verschwistert und verschwägert, war eine mehr als stattliche Dame, die an die Walküre aus einer Wagneroper erinnerte. Sie war immens reich und konnte sich im Grund jeden Luxus leisten. Darauf aber legte sie überhaupt keinen Wert. Ihr Steckenpferd war das Kriminalfach. Sie fühlte sich als Amateurkriminalistin wohl und hatte das Glück, Gangster und Kriminalfälle anzuziehen wie das Licht die Motten. Darüber hinaus begann sie seit vielen Monaten mit der Niederschrift eines Kriminalbestsellers. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, eine gewisse Agatha Christie weit in den Schatten zu stellen. Es störte die Lady sehr wenig, daß sie bisher noch nicht eine einzige Zeile zu Papier gebracht hatte. Ihr Alter gab Agatha Simpson ebenfalls seit Jahren mit »etwa sechzig« an, was man ihr durchaus abnahm. Sie hatte in ihrer Jugend ausgiebig Sport getrieben, spielte jetzt noch Golf und schwang den Sportbogen mit größter Treffsicherheit. Lady Simpson besaß ein weiches Herz, doch das tarnte sie recht geschickt. Nach außen hin gab sie sich immer leicht gereizt und barsch. Die Detektivin hielt sich an diesem Mittag in ihrem Stadthaus in London auf, genauer gesagt im Stadtteil Shepherd's Market. Sie musterte sehr interessiert und fast
wohlwollend einen kleinen, untersetzten Mann, der an einen gereizten Bullterrier erinnerte. Es handelte sich um den ChiefSuperintendent McWarden, der in Scotland Yard eine Sonderabteilung leitete. »Streichen Sie nicht wie eine Katze um den heißen Brei herum, McWarden«, meinte sie. »Rücken Sie schon endlich mit der Sprache heraus! Sie sind doch niemals zufällig vorbeigekommen, oder?« »Allerdings nicht, Mylady«, gestand McWarden widerwillig. »Sie melden also wieder mal Konkurs an, wie?« Agatha Simpsons Lächeln wurde jetzt katzenfreundlich. Sie genoß die Qualen ihres Gegenübers. »So hart würde ich es nicht ausdrücken«, verteidigte McWarden sich. Er war ein Mann von gut und gern fünfzig Jahren, der sich in Myladys Gegenwart automatisch wie ein junger, hilfloser Mann vorkam. »Also, wo drückt der Schuh?« Die Hausherrin rückte sich zufrieden in ihrem Ledersessel zurecht. »Sie brauchen meine Hilfe! Warum geben Sie das eigentlich nicht zu?« »Mr. Parker befindet sich nicht zufällig im Haus, Mylady?« »Mr. Parker besucht einen Bekannten«, antwortete die ältere Dame und wurde sofort ungnädig. »Ich bin Ihnen wohl nicht gut genug, wie, junger Mann! Sie müssen das ehrlich und offen sagen, ich werde daraus dann meine Konsequenten ziehen, verlassen Sie sich darauf!« »Aber nein, Mylady, wirklich nicht.« McWarden hob abwehrend die Arme. »Ich weiß doch nur zu gut, über welche Erfahrungen Sie verfügen.« Dies war eine glatte Lüge, und auch Agatha Simpson wußte es. Ohne Butler Parker war sie selbstverständlich hilflos und nicht in der Lage, einen Kriminalfall zu lösen. Doch das hörte sie natürlich nicht gern.
»Es handelt sich um seltsame Vorfälle«, begann McWarden. »Seit einiger Zeit platzen Strafprozesse. Das heißt, selbst in eindeutigen Fällen lehnen die Geschworenen die eigentlich fälligen Schuldsprüche ab. Darüber hinaus ändern Zeugen plötzlich ihre Aussagen zugunsten der Angeklagten. Wir wissen natürlich, daß hier Erpressung und Angst im Spiel sind, Mylady, doch wir können nichts beweisen.« »Natürlich nicht.« Agatha Simpson nickte überzeugt. »Und jetzt soll ich Ihnen wieder mal die Kastanien aus dem Feuer holen, nicht wahr?« »Eine gewisse Hilfestellung, Mylady, wäre schon sehr wünschenswert, das gebe ich ohne weiteres zu.« »Na also, warum nicht gleich so, junger Mann. Ihnen kann geholfen werden.« »Stellen Sie sich das nicht so leicht vor, Mylady«, warnte Chef-Superintendent McWarden. »Natürlich haben wir die betreffenden Leute verhört, aber sie rücken einfach nicht mit der Sprache heraus. Sie streiten rundweg ab, je erpreßt worden zu sein.« »Das wird sich bald ändern, McWarden.« Agatha Simpsons Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an. »Sie haben ein paar Unterlagen mitgebracht, hoffe ich?« »Selbstverständlich, Mylady.« McWarden langte in die Innentasche seines Sakkos und legte eine Liste vor. »Hier finden Sie alle Prozesse, die in letzter Zeit geplatzt sind. Hier finden Sie auch Namen und Adressen der Geschworenen. Es handelt sich selbstverständlich um vertrauliche Angaben.« »Gibt es im Augenblick einen Fall, der besonders akut ist?« »Der Fall George Hunt, Mylady«, erläuterte McWarden. »Dieser Hunt ist ein an sich kleiner Gangsterboß, der einen Garagenbesitzer niedergeschossen hat. Die Tatsachen und Beweise reichen vollkommen für den Schuldspruch aus, doch ich vermute, daß die Geschworenen zu keiner Einigung
kommen werden.« »Wann wird das Urteil verkündet, junger Mann?« »Nennen Sie mich nicht immer junger Mann, Mylady«, reagierte McWarden verärgert. »Morgen ist es soweit.« »Ich könnte Ihre Mutter sein.« »Du lieber Himmel, Mylady«, seufzte der ChiefSuperintendent. «Das hätte mir gerade noch gefehlt, ich meine, äh, also...« »Schon gut, junger Mann, ich weiß, daß Sie mich nicht ausstehen können«, antwortete Agatha Simpson genußvoll. »Aber damit werden Sie leben müssen, McWarden! Gut, ich werde morgen im Strafgericht sein und mir die Dinge aus nächster Nähe ansehen. Wenn mich nicht alles täuscht, scheine ich hier genau das Thema zu finden, das ich für meinen Bestseller schon lange suche.«
Leicht angeschlagen humpelten die beiden Schläger zurück zu ihrem kleinen Morris. Als sie im Wagen saßen, zündeten sie sich erst mal Zigaretten an und versuchten, ihr Nervenkostüm wieder in Ordnung zu bringen. Ihr Selbstbewußtsein war erheblich strapaziert worden. Das, was man mit ihnen im kleinen Park angestellt hatte, war neu für sie. Bisher waren sie es immer gewesen, die Schläge austeilten. »Ich versteh' das nicht«, sagte Joe Humbel und fingerte vorsichtig an seiner schmerzenden Nase herum. »Ich glaub', ich hab mir das Nasenbein gebrochen.« »Und mein Unterkiefer hat 'nen Knacks abbekommen«, vermutete Bill Slide wehleidig. Er redete nur mühsam. »Wie konnt' das passieren?« »Weil das 'n feiger und hinterlistiger Überfall gewesen ist.«
Joe Humbel war ehrlich entrüstet. »So was tut man nicht.« »Man kann sich auf nix mehr verlassen«, bestätigte Bill Slide. »Der Typ hat doch eigentlich harmlos ausgesehen.« »Coltex werd' ich was erzählen«, meinte Joe Humbel wütend. »Der hätt' uns ja wenigstens warnen können.« »Fahren wir zu ihm?« »Klar doch.« Humbel nickte. »Wir kassieren und steigen aus. In Zukunft halt' ich mich an solide Sachen.« Er saß am Steuer und ließ den kleinen Morris anrollen. Die beiden Schläger zeigten keine Lust, sich noch mal mit dem Butler des Lord zu befassen, dem sie in den kleinen Park gefolgt waren. Natürlich hatten sie keine Ahnung, daß man sie nachhaltig getäuscht hatte. Während der Fahrt durch London kamen sie überhaupt nicht auf die Idee, daß man sie eventuell verfolgte. So etwas konnten die beiden recht simplen Ganoven sich nicht vorstellen. Sie hatten die City bereits hinter sich gelassen und fuhren in Richtung Soho. Hier ließen sie ihren Morris irgendwo auf einem Parkplatz stehen und gingen zu Fuß weiter. Auch jetzt schauten sie sich nicht ein einziges Mal um. Sie waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Sie betraten ein kleines Uhrwarengeschäft, dessen Auslage einen mehr als nur leicht verstaubten Eindruck machte. Sie warteten erst gar nicht ab, bis der Uhrmacher vorn im Ladenlokal erschien. Sie marschierten zielsicher auf einen Vorhang zu und schlugen ihn zur Seite. Vor einem Arbeitstisch saß ein kleiner, magerer Mann von vielleicht fünfundfünfzig Jahren. Er trug einen grauen Kittel und hatte eine Uhrmacherlupe ins linke Auge geklemmt. Dieser Mann wandte sich um und sah seine beiden Besucher abwartend an. »Was ist passiert?« fragte er dann mit sanfter Stimme. »Das siehst du doch, Lern«, erwiderte Joe Humbel gereizt. »Reingelegt worden sind wir«, fügte Bill Slide hinzu. »Der
Butler war 'ne ganz schöne Bombe!« »Was ist passiert?« fragte Lern Coltex nochmal und nahm die Lupe aus dem Auge. Er gab sich ruhig und gelassen. »Der Kerl hat uns fast zusammengeschlagen«, beschwerte sich Joe Humbel. »Als wir's ihm dann geben wollten, kamen leider Leute. Wir mußten abhauen.« »Ich möchte Einzelheiten erfahren.« Lern Coltex war aufgestanden und sah im Gegensatz zu den beiden Schlägern schmächtig und geradezu erbarmungswürdig aus. Erstaunlicherweise aber ging von ihm eine deutlich spürbare Autorität aus. Bill Slide, der zweite Schläger, lieferte die gewünschten Einzelheiten, milderte sie allerdings ein wenig ab. Und das angebliche Auftauchen von Passanten übertrieb er ungemein. »Seid ihr verfolgt worden?« erkundigte sich Coltex. »Nee, wer sollte das denn getan haben?« erwiderte Joe Humbel. »Schon gut. Ihr werdet euch in den nächsten Zug setzen und London verlassen«, sagte Lern Coltex. »Macht irgendwo an der Südküste Urlaub. Meldet euc h, ich werde euch dann schon wieder zurückrufen.« »Und wie isses mit unserem Geld?« fragte Slide. »Werdet ihr bekommen.« Lern Coltex schob Humbel zur Seite und ging auf einen altersschwach, aussehenden Tresor zu. Er wandte den beiden Schlägern ungeniert den Rücken zu und schien keine Sorge zu haben, von ihnen überfallen zu werden. Joe Humbel und Bill Slide juckte es in allen Fingern, sich selbst zu bedienen. Sie tauschten entsprechende Blicke, doch sie trauten sich nicht. Über Coltex' Schulter hinweg konnten sie in eines der Tresorfächer sehen. Und sie sahen recht hübsche Banknotenbündel, die ein kleines Vermögen darstellten, aber wie gesagt, sie rührten sich nicht von der Stelle. Sie schienen vor diesem kleinen Uhrmacher einen Riesenrespekt zu haben. Lern Coltex drehte sich um und reichte den beiden tumben
Schlägern ihr Geld. »Wie war's denn mit 'nem zusätzlichen Schein?« fragte Humbel. »Als 'ne Art Gefahrenzulage«, meinte Slide. »Sie hatten uns diesen Butler ganz anders beschrieben, Coltex.« »Einverstanden.« Coltex lächelte. »Wenn ihr nachzählt, werdet ihr herausfinden, daß ich an die Gefahrenzulage bereits gedacht habe. So, und jetzt verschwindet, Jungens! Meldet euch, sobald ihr eine passende Bleibe gefunden habt!« Humbel und Slide blätterten ihr Handgeld durch und nickten dann zufrieden. Sie verließen den kleinen Uhrmacherladen und ließen einen nachdenklichen Lern Coltex zurück, der nach einigen Minuten zum Telefon griff, eine Nummer wählte und dann einen gewissen Steve Widcorne anrief. »Gib's weiter an den >Maulwurf<«, sagte der kleine Uhrmacher. »Butler Parker ist uns in die Quere gekommen. Wie? Natürlich wird es Ärger geben! Für Parker? Widcorne, so sicher ist das nicht, machen Sie sich da nur ja keine Illusionen. Sie scheinen nicht zu wissen, wer dieser Butler Parker ist!«
»Wenn man Sie mal wirklich braucht, sind Sie natürlich nicht da«, grollte Agatha Simpson, als Josuah Parker im großen Wohnsalon des Stadthauses erschien. »Mylady benötigten meine bescheidene Wenigkeit?« erkundigte der Butler sich höflich und deutete eine knappe Verbeugung an. »McWarden war hier, Mr. Parker. Er hat wieder mal Sorgen.« »Ein neuer Fall, Mylady?« »Die Sensation, auf die ich schon seit vielen Monaten warte«, übertrieb die Detektivin wie üblich. »Diesmal werde ich meinen Bestseller schreiben können.«
»Darf ich mich erkühnen, Mylady schon jetzt und hier Erfolg zu wünschen? « »Papperlapapp, zuerst muß dieser Fall mal geklärt werden, Mr. Parker. Und das wird nicht einfach sein. Ich werde mich sehr anstrengen müssen.« »Myladys Bemühungen führten bisher stets zum Erfolg.« »Hören Sie sich das Tonband an, das ich mitgeschnitten habe, Mr. Parker! Ich brauche den ganzen Unsinn dann nicht noch mal zu wiederholen.« Während sie noch redete, deutete sie auf ein modernes, kleines Tonbandgerät. Parker schaltete es ein und hörte sich die Unterhaltung zwischen seiner Herrin und Chief-Superintendent McWarden aufmerksam an. »Nun, was sagen Sie dazu?« Sie sah ihn triumphierend an. »Ist das ein Fall oder nicht?« »Der Eklat, Mylady, von dem Chief-Superintendent McWarden spricht, wird morgen in der Tat eintreten«, gab der Butler zurück. »Sie meinen den Fall George Hunt?« »Gewiß, Mylady. Während meiner Abwesenheit hatte ich den Vorzug, einen der Erpreßten anhören zu können.« »Das kann doch nicht wahr sein!« »Wie Mylady wünschen und befehlen.« »Sie haben einen der Geschworenen gesprochen?« »Einen gewissen Mr. William Preston, Mylady, der der Butler des Lord of Lanters ist. Besagter Berufskollege wandte sich hilfesuchend an meine bescheidene Person.« »Und das erfahre ich erst jetzt?« »Der Grund für dieses Zusammentreffen wurde mir erst vor knapp einer Stunde offenbart, Mylady.« »Dann wissen Sie also Bescheid?« »In etwa, um nicht der Übertreibung anheimzufallen, Mylady.« »Was sind das für Ganoven, die diesen armen Burschen
unter Druck setzen?« »Zwei an sich bedeutungslose Schläger, Mylady. Die Namen lauten Joe Humbel und Bill Slide. Man kann diese beiden Männer quasi mieten.« »Und wo stecken sie jetzt?« »Sie begaben sich in das Ladenlokal eines gewissen Lern Coltex, Mylady, der einen kleinen Uhrmacherladen in Soho betreibt.« »Und Sie haben die beiden Schläger laufen lassen? Habe ich das richtig verstanden?« Myladys Busen wogte vor Empörung. »Sie sind bedeutungslos, Mylady und dürften keine Ahnung haben, von wem sie engagiert wurden.« »Von diesem Uhrmacher, von wem denn sonst? So etwas habe ich im Gefühl, Mr. Parker. Ihnen fehlt natürlich das kriminalistische Gespür, doch das ist nicht neu für mich.« »Wie Mylady zu meinen geruhen.« Parker ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Kennen Sie diesen Uhrmacher?« Agatha Simpson war längst aufgestanden und wanderte nervös wie ein etwas füllig geratenes Rennpferd über den kostbaren Teppich. »Mr. Lern Coltex, Mylady, ist über seinen ursprünglichen Beruf hinaus Hehler und eine Art Agent der Unterwelt. Er schnürt, wenn ich es so ausdrücken darf, kriminelle Pakete.« »Was soll denn das schon wieder bedeuten?« Agatha Simpson blieb stehen und sah Josuah Parker gereizt an. Sie schätzte es gar nicht, wenn Butler Parker wieder mal beiläufig und wie selbstverständlich einen Wissensvorsprung zeigte. »Mr. Lern Coltex, Mylady, soll, wie es heißt, geldträchtige Gelegenheiten zusammen mit jenen Spezialisten anbieten, die diese Arbeiten auch durchführen können.« »Guter Gott, können Sie sich nicht verständlicher ausdrücken? Nennen Sie mir ein Beispiel!« »Wie Mylady wünschen.« Parker deutete wieder eine knappe Verbeugung an. »Mr. Lern Coltex bietet beispielsweise
einen Wandsafe in irgendeinem Haus an und garantiert, daß dieser Safe wohlgefüllt ist. Gleichzeitig aber benennt er Spezialisten, die in der Lage sind, solch einen Wandsafe zu öffnen. Für solche kriminellen Pakete, Mylady, um bei diesem Ausdruck zu bleiben, nimmt er Prozente, die nicht unbeträchtlich sein sollen, was die Höhe anbetrifft. Er garantiert aber, wie man sagt, vollen Erfolg.« »Und diesem Subjekt haben wir bisher nicht das Handwerk gelegt?« Mylady sah ihren Butler strafend an. »Warum erfahre ich erst jetzt von diesem Gangster? « »Die sogenannte Gunst der Stunde, Mylady, hatte bisher noch nicht geschlagen.« »Dafür aber jetzt. Und zwar laut und deutlich!« Lady Agatha Simpsons Augen funkelten unternehmungslustig. »Es ist natürlich klar, daß dieser Coltex genau der Mann ist, der Zeugen und Geschworene einschüchtern läßt. Wir werden uns da sofort einschalten.« »Mylady s Wünsche decken sich durchaus mit meinen bescheidenen Vorstellungen.« »Was ich mir auch ausgebeten haben möchte, Mr. Parker! Wo kommt unsere Rechtsprechung denn hin, wenn solche Subjekte tätig sind? Aber es ist doch wieder mal typisch für McWarden, daß er nicht Bescheid weiß.« »Davon sollte man tunlichst nicht ausgehen, Mylady. Mr. McWarden dürfte über Mr. Coltex durchaus Bescheid wissen. Mr. Coltex hat es bisher nur geschickt verstanden, alle Spuren zu verwischen.« »Das ändert sich ab heute, Mr. Parker. Lassen Sie sich etwas Nettes einfallen! Sie wissen, mit Einzelheiten gebe ich mich nicht ab, die gehören zu Ihrem Ressort.« »Mr. Lern Coltex dürfte inzwischen wissen, Mylady, daß man sich für ihn interessiert.« »Woher sollte er das wissen?« »Er dürfte sich inzwischen ausgerechnet haben, Mylady,
daß nicht Butler Williams Preston die beiden Schläger ein wenig zur Ordnung rief.« »Sie glauben, er weiß jetzt, daß Sie es gewesen sind?« »Davon sollte man ausgehen, Mylady.« »Sehr schön, damit sind die Fronten geklärt. Coltex wird sich an Ihnen rächen wollen. Und genau dann schlage ich zu, Mr. Parker. Wir werden diesem Paketschnürer gründlich das Handwerk legen, verlassen Sie sich darauf!« Butler Parker sah die Dinge wesentlich komplizierter, doch er hütete sich, darüber etwas zu verlautbaren. Er wollte die optimistische Grundstimmung der älteren Dame im Moment nicht erschüttern, wußte aber bereits jetzt, daß man sich mit äußerst brutalen und mörderischen Gegnern anlegen würde.
Mylady befand sich im Schwurgericht. Neben ihr hatte Josuah Parker Platz genommen, der ebenfalls auf den Spruch der Geschworenen wartete. Die zwölf Damen und Herren der Jury hatten gerade wieder auf ihren Bänken Platz genommen und machten alle einen durchaus gesammelten und konzentrierten Eindruck. Die Spannung im Gerichtssaal war fast körperlich zu spüren. Der ehrwürdige Richter wartete, bis die Unruhe sich gelegt hatte. Dann nickte er dem Sprecher zu, der sich an die Geschworenen wandte. Deren gewählter Vertreter stand auf und teilte dem Gericht mit, der angeklagte George Hunt sei nicht schuldig zu sprechen. Der Richter schnappte ein wenig nach Luft und schüttelte
dann deutlich sichtbar den Kopf. Natürlich war er mit dieser Entscheidung nicht einverstanden, doch nach dem geltenden Recht blieb ihm anschließend nichts anderes übrig, als den Gangster George Hunt in die Freiheit zu entlassen. Er verkniff sich jeden Kommentar zum Entscheid der Jury, während im Zuschauerraum erneut Unruhe entstand. Pressefotografen stürzten sich auf George Hunt und schossen serienweise Aufnahmen. Der durchschnittlich aussehende Mann von knapp vierzig Jahren grinste triumphierend in die Optik und genoß seinen Freispruch. Er schien gar nicht überrascht zu sein, was wohl auch kein Wunder war. Schließlich waren für ihn ja gewisse Weichen nachdrücklich gestellt worden. McWarden erschien vor Lady Simpson und Butler Parker. »Ein Skandal«, sagte er empört. »Aber so was hatte ich auch in diesem Fall erwartet.« »Zumal die Hauptbelastungszeugen Erinnerungslücken zu verzeichnen hatten«, warf Parker gemessen ein. »Da muß man nun einen Gangster laufen lassen, der eindeutig einen Mord begangen hat.« Der ChiefSuperintendent ballte die Fäuste. »Aber noch ist nicht aller Tage Abend!« »Verlassen Sie sich darauf, junger Mann!« Agatha Simpson nickte grimmig. »Dieser Hunt wird seines Lebens nicht froh werden, das verspreche ich Ihnen.« »Der taucht jetzt erst mal unter«, vermutete McWarden. »Sehen Sie doch, wie er mich angrinst! Ich könnte ihm ... Nein, ich sage besser nicht, was ich am liebsten möchte.« »Tun Sie sich nur keinen Zwang an, McWarden«, meinte die ältere Dame. »Haben Sie sich die Leute auf den Zuschauerbänken näher angesehen?« »Da hat es vor Gaunern und Ganoven nur so gewimmelt«, meinte der Chief-Superintendent gereizt. »Die wollten doch miterleben, wie das neue System klappt. Und wie es geklappt
hat!« »Das Blatt wird sich bald wenden, junger Mann.« »Sie haben schon erste Erkenntnisse gewonnen?« McWarden wurde sofort hellhörig. »Lassen Sie sich überraschen, McWarden!« Lady Agatha tat sehr geheimnisvo ll. »Ich bin bereits auf einer sehr heißen Spur.« »Mylady, was immer Sie auch wissen, Sie sollten mich informieren«, riet McWarden eindringlich. »Soweit bin ich noch nicht, McWarden. Du lieber Himmel, Sie waren ja erst gestern bei mir und flehten um Hilfe.« »Nun, gefleht habe ich gerade nicht, Mylady«, korrigierte der Chief-Superintendent ein wenig ärgerlich. »Sie lagen vor mir fast auf den Knien, junger Mann«, stellte die ältere Dame genußvoll fest. »Sehen Sie doch, wie dieser Lümmel sich feiern läßt!« »Ich könnte ihn...« McWarden beließ es erneut bei dieser Andeutung. Agatha Simpson hingegen boxte sich ziemlich ungeniert einen Weg durch die Menge der Fotografen und Freunde Hunts. Parker folgte ihr dicht auf, denn er rechnete selbstverständlich mit Komplikationen. Ihm war die Spontaneität seiner Herrin nur zu bekannt. Lady Agatha benahm sich Sekunden später sehr undamenhaft. Geschützt von der Menge, die Hunt umlagerte, trat sie dem freigesprochenen Gangster genußvoll gegen das Unke Schienbein. George Hunt ächzte, verfärbte sich und knickte ein. Schmerzenstränen schossen ihm ins Auge. »Fühlen Sie sich nicht wohl?« erkundigte Agatha Simpson sich mit ihrer dunklen Stimme, um dann erneut zuzutreten. Diesmal traf sie das rechte Schienbein des Gangsters, der aufheulte wie ein getretener Hund. »Es müssen seine Nerven sein«, teilte die resolute
Sechzigerin den Umstehenden mit und sagte damit noch nicht mal die Unwahrheit. »Es war wohl alles zuviel für ihn.« Während sie dies feststellte, rammte sie ihm den Stiel ihrer Lorgnette in die rechte Rippenpartie. Hunt brüllte auf und wollte sich hinter seinen Freunden in Sicherheit bringen, doch das erwies sich als schwierig. Er war fest eingekeilt und konnte eine schnelle Flucht nicht antreten. »Diesem Mann ist nicht wohl«, verkündete Lady Simpson und ... jagte ihm eine ihrer Hutnadeln ins Gesäß. George Hunt produzierte einen schrillen Schrei und brüllte um Hilfe. »Das Glück der Verwirrung«, kommentierte Lady Simpson und knallte ihm ihren rechten Ellbogen in die Magenpartie. Daraufhin ging Hunt endgültig zu Boden. Die Fotografen arbeiteten auf Hochtouren. Die Freunde des Gangsters schlossen einen engen Ring um ihn und suchten verzweifelt nach der Ursache, die das Unwohlsein ihres Bosses hervorgerufen hatte, doch auf die ältere Dame kamen sie nicht. Agatha Simpson hatte sich zurück zu Parker durchgearbeitet und nickte zufrieden. Parkers Gesicht zeigte den leisen Anflug eines amüsierten Lächelns, was normalerweise undenkbar war. Lady Simpson hatte genau das getan, wozu McWarden Lust verspürte. George Hunt wurde im Geleitzug aus dem Gerichtssaal geschleppt. Er war inzwischen schon nicht mehr fähig, sich auf den Beinen zu halten. Die Hutnadel der Agatha Simpson hatte es nämlich in sich gehabt. Sie war chemisch präpariert und verursachte neben einem brennenden Schmerz auch eine Art Lähmung des Nervensystems. Butler Parker hatte diese recht bösartige Mischung hergestellt und sie zur Präparation der Hutnadel verwendet. In der Hand der Lady wurde diese Ziernadel zu einer beachtlichen Waffe. »Was ist denn mit Hunt los? « wunderte sich Chief
Superintendent McWarden, der wieder vor Agatha Simpson und Butler Parker erschien. Er sah die ältere Dame mißtrauisch an. »Eine momentane Indisposition, Sir«, sagte Josuah Parker. »Das Glück dürfte, wie Mylady es bereits ausdrückte, Mr. Hunt übermannt haben.« »Nur das Glück?« McWarden grinste ein wenig unverschämt. »Was sonst, junger Mann?« fuhr sie ihn sofort bissig an. »Sie glauben doch hoffentlich nicht, daß eine Lady Simpson sich an solch einem Subjekt vergreifen könnte, oder?« McWarden zog es vor, diese Frage nicht zu beantworten.
»Das Weib bring' ich um«, schrie George Hunt, der freigesprochene Gangster. Er saß auf dem Rücksitz eines teuren amerikanischen Wagens und konnte sich endlich wieder einigermaßen bewegen. Die Schmerzen waren jedoch noch vorhanden. Sein Gesäß brannte, als habe er es ohne jede schützende Bekleidung mit Brennesseln behandelt. »Was ist denn überhaupt passiert?« fragte Paul, einer der beiden Leibwächter des Gangsters. Er war, wie sein Begleiter, zirka dreißig Jahre alt. Beide Leibwächter sahen übrigens nicht wie Gangster aus, sondern eher wie gut erzogene Bankangestellte. Sie trugen modische Brillen, die mit Fensterglas versehen waren. »Dieses alte Miststück hat mich getreten und gestochen«, beschwerte sich George Hunt. »Wann denn?« wollte Artie, der zweite Leibwächter wissen. Er hatte überhaupt nichts mitbekommen. »Verdammt, wo habt ihr denn eure Augen gehabt?«
schimpfte George Hunt aufgebracht. »Die hätte mich glatt umbringen können.« »Von wem reden Sie eigentlich, Chef?« Paul blieb gelassen. »Von dieser Lady Simpson«, antwortete Hunt, der sich endlich etwas beruhigte. »Das war die Alte mit dem scheußlichen Hut.« »Der wie ein Südwester aussah?« fragte Artie. Er saß am Steuer des Wagens und erinnerte sich jetzt vage. »Dieser Lady werde ich es zeigen.« Hunt rieb sich die beiden schmerzenden Schienbeine. »Die wird noch vor mir auf den Knien liegen und um Gnade winseln...« »Sollen wir sie fertigmachen, Chef«, erkundigte sich Paul. »Natürlich.« Hunt schwelgte in wüsten Rachegedanken. »Ich hatte ja vor, London zu verlassen, aber das ist bereits vergessen. Ich werde mir erst mal diese Simpson vorknöpfen. Du lieber Himmel, sie hat zugetreten wie 'n Pferd.« »Aber Sie sind frei, Chef«, sagte Paul. »Und können wegen dieser Geschichte nicht noch mal unter Anklage gestellt werden.« Artie lächelte. »Die Sache mit dem Maulwurf hat sich also gelohnt.« »Und ein kleines Vermögen gekostet.« George Hunt dachte an die horrende Summe, die er für seinen »Freispruch« hatte auswerfen müssen. Jetzt, nachdem er frei war, reute ihn das Geld bereits. »Wer ist der Maulwurf eigentlich?« fragte Paul. »Haben Sie 'ne Vorstellung, Chef?« »Keine Ahnung.« Hunt zuckte die Achseln. »Da scheint sich irgendein raffiniertes Schlitzohr spezialisiert zu haben.« »Könnte es Widcorn sein?« tippte Artie an. »Über den ist die Sache schließlich in Gang gesetzt worden.« »Ach was, Widcorne ist nur 'ne Art Briefkasten, der so was weiterreicht.« Hunt schüttelte den Kopf. »Ich wüßte ja auch gern, wer der Maulwurf ist. Der Mann macht ein Vermögen, wenn er so weiterarbeitet.«
»Wäre das nicht 'ne Sache für uns?« Paul lächelte versonnen. »Daran habe ich auch schon gedacht.« Artie lächelte ebenfalls. Es war ein wölfisches Blecken seiner Zähne. Und er sah für Sekunden nicht aus wie ein junger, ehrgeiziger und korrekter Bankbeamter. »Könnte nicht schaden, wenn wir uns um den Maulwurf kümmern«, antwortete George Hunt. »Aber erst ist diese Alte an der Reihe. Ich könnte sie erwürgen!« »Was für 'ne Lady ist sie denn?« wollte Paul wissen. »Stinkreich. Sie hält sich für 'ne Kriminalistin und macht auf Amateurdetektiv«, lautete Hunts Antwort. »Wirklich gefährlich ist ihr Butler. Schon mal den Namen Parker gehört?« »Nee«, erwiderte Artie und schüttelte den Kopf. »Sie vergessen Chef, daß wir aus Liverpool kommen.« »Ein Butler und gefährlich?« Pauls Frage klang ungläubig. »Wie eine Ladung Nitroglyzerin«, sagte George Hunt. »Und daß er im Gerichtssaal gewesen ist, paßt mir überhaupt nicht. Mich würd's nicht wundern, wenn er mir bereits auf den Fersen säße.« Er wollte sich umwenden und sich vergewissern, doch das schaffte er noch nicht. Paul besorgte das für ihn und schüttelte den Kopf. »Dieser Butler fährt ein ehemaliges Taxi. Sieht ganz unauffällig aus«, schärfte Hunt seinem Leibwächter ein. »Hinter uns sind jede Menge Taxis, Chef«, erwiderte Paul. »Aber müssen wir denn überhaupt in Ihr Apartment, wenn Sie sich von diesem Butler bedroht fühlen?« »Bedroht von einem Butler?« Artie lächelte abfällig. »Wir steigen sicherheitshalber erst in 'nem Hotel ab«, sagte Hunt aus einer plötzlichen Eingebung heraus. »Sucht euch was Passendes aus, nicht zu groß, aber auch nicht zu schäbig. Ich werde erst mal für ein paar Tage untertauchen. Ich habe eine
Menge zu überlegen.« Leibwächter Paul hatte sich längst wieder umgewandt und den kleinen, verbeulten Mini-Cooper übersehen, an dessen Steuer eine Art graue Maus saß. Es handelte sich dabei um eine junge Frau, die eine antiquierte Frisur und eine nicht gerade modische Brille trug.
Die graue Maus hieß Kathy Porter und war die Gesellschafterin der Lady Agatha Simpson. Kathy Porter, eine mehr als gelehrige Schülerin des Butlers, hatte wieder mal geschickt Maske gemacht und führte einen Auftrag aus, um den Parker sie gebeten hatte. Sie sollte herausfinden, wo George Hunt Quartier bezog. Sie wußte es inzwischen. Ihr kleiner Mini-Cooper stand in einer schmalen Seitenstraße in der Nähe jenes Hotels, das George Hunt betreten hatte. Dieses Hotel befand sich hinter der WaterlooStation und hatte den Standard der Mittelklasse. Kathy Porter hatte gerade ihren Telefonanruf getätigt und Butler Parker informiert. Er kam mit Lady Simpson gerade nach Hause und nahm diese Information entgegen. Kathy Porter sah übrigens schon nicht mehr wie eine graue Maus aus. Sie trug einen flotten Trenchcoat, der ihre schlanke, geschmeidige Figur zur Geltung brachte, hatte das Haar gelöst und Make-up aufgelegt. Sie wirkte ein wenig keß und sexy, aber alles hielt sich noch durchaus in Grenzen. Myladys junge Gesellschafterin ging um den Häuserblock herum und betrat die Empfangshalle des »Center-Hotel«. Sie kreuzte vor dem Empfangschef auf und stellte sich als Maud Croydon vor. »Ist Professor Pounders schon eingetroffen?« fragte sie
selbstsicher. »Professor Pounders? Nicht seit einer halben Stunde, Miß Croydon. Und da habe ich meinen Dienst erst angetreten.« »Wir sind hier verabredet«, erklärte die angebliche Miß Croydon. »Verständigen Sie mich, sobald er gekommen ist! Ich werde in der Lounge auf ihn warten.« Sie wartete die Antwort gar nicht erst ab, wandte sich um und ging hinüber in die kleine Lounge. Sie nahm in einem der Sessel Platz, griff nach einer Zeitschrift und blätterte gelangweilt darin. Sie wußte, daß sie beobachtet wurde und sah kurz hoch, als ein Kellner erschien und sich nach ihren Wünschen erkundigte. »Einen Fruchtsaft mit Wodka«, sagte sie und blätterte weiter. Sie zündete sich eine Zigarette an und wartete auf den Professor, mit dem sie verabredet war. Nachdem der Drink serviert worden war, verließ sie die Lounge und suchte den Waschraum auf. Der Empfangschef, der inzwischen von ihrer Seriosität überzeugt war, dienerte höflich. Natürlich suchte sie keineswegs den Waschraum auf. Kathy Porter fand zielsicher die Tür zu einem Korridor, der zu den Wirtschaftsräumen führte, ebenfalls auf Anhieb die Treppe für die Angestellten, die sie sehr leichtfüßig nach oben stieg. Sie wollte herausfinden, wo Hunt und seine beiden Leibwächter sich eingemietet hatten. In der dritten Etage wurde sie fündig. Als sie die Tür zum Hotelkorridor für die Gäste vorsichtig aufdrückte, verließ gerade ein Etagenkellner ein Doppelzimmer. Er schob einen Servierwagen vor sich hier und kurvte in eine Teeküche, aus der er wenig später wieder hervorkam. Auf einem Tablett trug er jetzt Flaschen und Gläser, mit denen er in dem Zimmer verschwand, das er eben erst verlassen hatte. Für Kathy Porter war es klar, daß ein gewisser George Hunt seine Freisprechung feiern wollte.
Kathy Porter verließ das Treppenhaus und ging nicht zu schnell in Richtung Teeküche. Sie hatte noch einiges mit George Hunt vor. Butler Parker hatte ihr genaue Anweisungen gegeben, an die sie sich halten wollte.
Die junge Dame klopfte an und mußte warten, bis das Doppelzimmer von innen geöffnet wurde. Kathy Porter hatte sich erneut verwandelt und war jetzt ein adrettes Stubenmädchen. Sie trug einen hoteleigenen Kittel und ein schmales Stirnhäubchen. Diese Dinge stammten aus der Teeküche. Kathy hatte sie in einem schmalen Wandschrank gefunden. Paul spähte durch den Türspalt nach draußen und verlor sofort jedes Mißtrauen, als er das vermeintliche Stubenmädchen sah. »Die Betten, Sir«, sagte Kathy und benutzte einen deutlich hörbaren Londoner Akzent. »Kommen Sie rein, Mädchen!« Leibwächter Paul öffnete schwungvoll die Tür und sah ihren hübsch gerundeten Proportionen, nach. George Hunt lag fast in einem Sessel und trank gerade aus seinem Glas. Leibwächter Artie, der seitlich hinter ihm stand, ließ sich von Kathy Porter ebenfalls ablenken. Sie ging ins benachbarte Schlafzimmer und schlug das Doppelbett auf. Dann verschwand sie für ein paar Sekunden aus der Sicht der Männer, die nach wie vor arglos blieben. Man hörte, wie sie den Korb abstellte, der wohl Putz- und Pflegemittel enthielt. Das angebliche Stubenmädchen kam schon nach wenigen Augenblicken wieder zurück in den Wohnraum, ging zur
Waschecke hinüber und stellte auch hier den Weidenkorb ab. »Ich bin sofort wieder zurück«, entschuldigte sie sich dann bei den drei Männern, die nachdrücklich geschwiegen hatten. »Ich habe das Desinfektionsmittel vergessen.« »Beeilen Sie sich, Hübsche«, sagte George Hunt ungeduldig. »Nur ein paar Sekunden, Sir.« Das angebliche Stubenmädchen huschte aus dem Zimmer und schloß leise die Tür hinter sich. »Wir sollten uns vielleicht doch an Widcorne hängen«, sagte George Hunt und nahm damit das Thema ihrer eben geführten Unterhaltung wieder auf. »Schön, er ist nur Briefträger des Maulwurfs, aber über ihn kommen wir vielleicht an ihn ran.« »Und wo steckt dieser Widcorne?« wollte Leibwächter Paul wissen. »Widcorne macht auf seriös«, antwortete Hunt und verzog sein Gesicht spöttisch, soweit es seine schmerzenden Schienbeine gerade noch zuließen. »Der hat drüben in Soho ein Reisebüro. Prächtige Tarnung.« »Schon gebucht.« Leibwächter Artie nickte. »Reden wir mit ihm auf die harte Tour, Chef?« »Auf keinen Fall, Jungens!« George Hunt schüttelte den Kopf. »Er könnte sich an den Maulwurf wenden, und dann haben wir allein den Ärger. Nein, nein, Widcorne muß ganz vorsichtig beschattet werden. Irgendwann und irgendwie nimmt er mit dem Maulwurf bestimmt Kontakte auf.« »Geht in Ordnung, Chef.« Artie warf seinem Partner einen schnellen Blick zu. Diese Information paßte ihnen durchaus in den Kram. »Und was machen wir mit der Alten?« wollte Paul wissen. »Die wiegen wir erst mal in Sicherheit«, entschied Hunt. »Ein paar Tage Ruhe soll sie haben, aber dann ...« Die drei Gangster hatten das angebliche Stubenmädchen
völlig vergessen. Und sie achteten schon gar nicht auf den Weidenkorb in der Nähe des Waschbeckens. Sie kamen nicht auf die Idee, daß man sich bereits intensiv mit ihnen befaßte. Hunt gähnte zuerst, und zwar so, daß die Kiefergelenke knackten. Er lehnte sich zurück und schloß zufrieden die Augen, spürte eine wohlige Mattigkeit in sich aufsteigen, entspannte sich und vergaß seine Schmerzen. Ihm entging völlig, daß auch die beiden Leibwächter Paul und Artie ausgiebig gähnten, sich räkelten und ebenfalls die Augen schlossen. Es dauerte nicht lange, bis Schnarch- und Pfeiftöne zu hören waren. Das Trio erwies sich nicht gerade als besonders melodisch; doch immerhin als lautstark. Es war George Hunt, der besonders grelle Pfeiftöne produzierte. Nach wenigen Minuten erschien Kathy Porter. Sie war noch immer wie ein Zimmermädchen gekleidet, hielt die Luft an, lief zum Waschbecken und ergriff den kleinen Weidenkorb mit den Putzmitteln. Dann huschte sie wieder aus dem Zimmer und schnappte erst draußen auf dem Korridor wieder nach Luft. Sie hatte nicht die Absicht, ebenfalls in einen Tief schlaf zu fallen. Im Weidenkorb befand sich eine völlig harmlos aussehende Spraydose, die es aber in sich hatte. Jetzt war sie leer. Sie hatte ihren gasförmigen Inhalt verströmt und die drei Gangster prompt und übergangslos einschlafen lassen.
Hinter dem Mini-Cooper, in dem wieder die graue Maus namens Kathy Porter saß, hielt ein hochbeiniger Wagen, der ehemals ein original Londoner Taxi gewesen war. Aus diesem unauffälligen Wagen stieg Butler Parker. Er legte sich seinen altväterlich gebundenen Regenschirm korrekt über den linken Unterarm und schritt auf Lady Simpsons Gesellschafterin zu, die inzwischen ebenfalls ausgestiegen war.
»Sie sehen meine bescheidene Wenigkeit erfreut, Miß Porter«, gestand Butler Parker. »Nach Lage der Dinge scheint die Operation gelungen zu sein.« »Die Patienten sind aber nicht tot, Mr. Parker, sie schlafen nur.« »Sie haben einige Informationen sammeln können, Miß Porter?« »Sie sind auf dem Tape-Recorder, Mr. Parker. Ich habe mir die Kassette schon vorgespielt. Der Verbindungsmann zum Maulwurf scheint ein Mr. Widcorne zu sein.« »Maulwurf, Miß Porter?« »Das dürfte der Mann sein, den wir suchen, Mr. Parker. Er hat ein kleines Reisebüro in Soho. Wollen Sie sich das Band anhören?« »Später, Miß Porter. Jetzt möchte ich mich erst mal mit Mr. George Hunt befassen. Sie können derweil zurück zu Lady Simpson fahren.« »Kann ich Ihnen nicht helfen, Mr. Parker?« »Sie können mir sagen, Miß Porter, wo ich die drei Herren finden kann«, antwortete Parker gemessen. »Darüber hinaus aber möchte ich allein agieren. Die Dinge, die ich zu tun gedenke, Miß Porter, bedürfen der absoluten Diskretion. Ich gestatte mir, Ihnen eine gute Fahrt zu wünschen.« Kathy Porter lächelte und nickte. Sie wußte aus Erfahrung, daß es sinnlos war, Parker umstimmen zu wollen. Sie nannte die Etage und die Zimmernummer der drei Gangster, setzte sich in ihren kleinen Wagen und war bald darauf verschwunden. Butler Parker stieg in den Fond seines Wagens und zog sich hier schnell und geschickt einen dunklen Reisemantel an. Er vertauschte die schwarze Melone gegen einen weichen, grauen Filzhut und setzte sich eine Brille auf. Dann nahm er einen durchschnittlich aussehenden Koffer vom Rücksitz, stieg aus dem Wagen und verschloß die Türen. Anschließend ging er um
die Straßenecke und schritt auf das Hotel zu. Seine Maske war perfekt. Er glich einem nicht gerade armen Mann aus der Provinz mit strengen Grundsätzen. Er hielt sich straff und marschierte entschlossen auf den Empfang zu. »Ein Einzelzimmer ohne Bad, billig, aber sauber«, verlangte er mit schnarrender Stimme. »Ich hoffe, daß es so etwas noch in London gibt.« Der Empfangschef versicherte ihm, daß er ein solches Zimmer anzubieten habe. »Man wird sehen«, erwiderte Parker streng und barsch. »Nein, keinen Boy, meinen Koffer trage ich selbst. Man geht mit fremden Dingen heutzutage nicht gerade pfleglich um.« »Wollen Sie sich eintragen, Sir?« Der Empfangschef schob Parker das Gästebuch zu. »Später«, entschied der Besucher unwirsch. »Meinen Zimmerschlüssel, wenn ich bitten darf.« Er bekam den Schlüssel, ging zum Lift und fuhr hinauf in den obersten Stock. In dem kleinen, wirklich sauberen Zimmer ohne Bad wartete Parker etwa fünf Minuten, dann nahm er den Koffer in die Hand und trug ihn zum Treppenhaus, das schon Kathy Porter benutzt hatte. Ohne langes Suchen fand er die Tür, öffnete sie und betrat das Doppelzimmer. Er schloß hinter sich ab, setzte sich eine Nasenklemme auf, wie sie von Tauchern benützt wird, und schob sich eine dicke Zigarre in den Mund. Durch diese Zigarre versorgte er sich mit Atemluft. In dieser Zigarre befand sich nämlich ein Miniatur-Luftfilter, wie er in Gasmasken der Armee verwendet wird. Butler Parker war ein geschickter und erfindungsreicher Bastler, der sich solche Hilfsgeräte gern einfallen ließ. Auch die von Kathy Porter eingesetzte Spraydose stammte selbstverständlich aus seiner Bastlerwerkstatt. Ein Josuah Parker ging die Dinge immer systematisch an und bediente sich sämtlicher erreichbarer technischer Hilfsmittel.
Die drei Gangster schnarchten und pfiffen noch um die Wette. Selbstverständlich war das Betäubungsmittel nicht gesundheitsschädlich, doch es förderte einen erholsamen Tiefschlaf. Parker stellte seinen Koffer auf dem Couchtisch ab, öffnete ihn und packte dann ruhig und gelassen einige Gegenstände aus, die er sorgfältig im Zimmer verteilte. Anschließend brachte er den Koffer zurück in den Vorraum, ließ einige Handschuhe aus geschmeidigem Gummi zurück, wie man sie in Haushalten und Hotelküchen verwendet, ging zum Telefon und wählte die Nummer des Empfangs. Der Empfangschef meldete sich prompt. Parker nannte mit undeutlicher Stimme die Nummer des Zimmers, in dem er sich befand und verlangte eine Stadtleitung, die er prompt erhielt. Parker wählte erneut eine Nummer und brauchte nicht lange zu warten, bis auf der Gegenseite abgehoben wurde. »Hunt«, sagte er wieder undeutlich. »Alles okay, Coltex, die Sache hat erstklassig funktioniert.« »Hunt? Hunt? Wer spricht dort?« Die Stimme des Mr. Lern Coltex klang erstaunt und unschuldig. »Hunt«, wiederholte Parker ebenso undeutlich. »Schon gut, Coltex! Sie kennen mich nicht. Macht nichts. Dennoch gute Arbeit. Ich werde mich bei Gelegenheit revanchieren. Ende!« Butler Parker legte auf. Fingerspuren brauchte er nicht wegzuwischen. Er trug ohnehin Handschuhe, ging in den Vorraum, nahm den Koffer in die Hand und eilte über die Wirtschaftstreppe zurück in sein Zimmer. Parker stellte den Koffer ab, fuhr mit dem Lift nach unten, nickte dem Empfangschef knapp zu und verließ das Hotel. Von einer nahen Teestube aus rief er erneut an. Diesmal hatte er die Nummer des Yard gewählt und verlangte einen gewissen Chief-Superintendent McWarden zu sprechen. Das Durchstellen dauerte nur wenige Sekunden, dann meldete sich
die stets ein wenig gereizt klingende Stimme des YardMannes. »Ich hab 'n heißen Tip für Sie«, sagte Parker in breitestem Cockney, einem unverwechselbaren Londoner Dialekt. »Hunt reißt schon wieder 'n Ding auf, Chief. Wer ich bin? Bestimmt nicht blöd, Chief. Mein'n Namen sag' ich nich', ich bin ja nich' lebensmüde. Sperren Sie jetzt Ihre Lauscher mal auf und kratzen se‘ möglichst schnell die Kurve, bevor Hunt abhaut!« McWarden stellte keine Fragen. Er öffnete wunschgemäß seine Ohren und nahm gierig einige heiße Tips entgegen. Parker legte auf, schritt gemessen zurück zu seinem hochbeinigen Wagen und nahm die Rückverwandlung vor, die nur wenige Sekunden dauerte. Als er anfuhr, hörte und sah er einen Streifenwagen der Polizei, der in Richtung Hotel fuhr, um dann noch vor der letzten Straßenecke die Sirene abzustellen. Chief-Superintendent McWarden konnte man manches nachsagen, nur keine Langsamkeit. Er reagierte prompt im Sinne des Butlers.
»Sie kommen natürlich wieder mal zufällig vorbei, nicht wahr?« stichelte Agatha Simpson genußvoll, als Parker den Chief-Superintendent in den großen Wohnraum geführt hatte. »Diesmal nicht, Mylady«, gestand McWarden, der einen aufgeräumten Eindruck machte. »Ich dachte mir, daß Sie sich für gewisse Nachrichten interessieren könnten.« »Vielleicht schaffen Sie es diesmal, junger Mann, mich zu überraschen«, sagte die ältere Dame. McWarden schluckte den »jungen Mann« und nahm Platz, nachdem Lady Agatha ihm ihrerseits freundlich zugenickt hatte. »George Hunt sitzt wieder«, berichtete McWarden stolz. »Ein paar Stunden nach dem Freispruch konnte ich ihn wieder
festnehmen.« »Sie sind möglicherweise ein Genie«, tippte die Detektivin an. »Um es aber gleich zu sagen, McWarden, sicher bin ich mir da nicht.« »Dürfte man erfahren, Sir, wie es zu der erwähnten und erneuten Festnahme gekommen ist?« Butler Parker hatte sich eingeschaltet. Seinem glatten und ausdruckslosen Gesicht war nicht anzusehen, daß er sehr wohl Bescheid wußte. »Wir erhielten einen anonymen Anruf«, berichtete McWarden. »Dieser Anrufer bezog sich auf George Hunt und lieferte uns ein paar wichtige Tips.« »Tips welcher Art, McWarden?« erkundigte sich die passionierte Detektivin. »Danach planten Hunt und seine beiden engsten Leibwächter bereits ein neues Ding«, erzählte der ChiefSuperintendent weiter. »Das muß man sich mal vorstellen, Mylady, kaum freigesprochen, und schon will dieser Gangster ein neues Verbrechen begehen.« »Ich nehme an, Sie fuhren sofort zu ihm, oder?« »Er hatte mit seinen beiden Leibwächtern Quartier in einem Hotel in der Nähe von Waterloo-Station bezogen.« Der ChiefSuperintendent nickte. »Als wir sein Zimmer stürmten, schliefen die drei Gangster ihren Rausch aus.« »Wahrscheinlich hatten sie eine Siegesfeier hinter sich, oder?« Agatha Simpson lächelte milde, fast verständnisvoll. »Sie können auch betäubt worden sein.« McWarden schoß ohne jede Vorwarnung einen prüfenden Blick auf den Butler ab, doch dieser Blick prallte an Parker wirkungslos ab. »Betäubt?« wunderte Lady Agatha sich. »Lassen wir das, Mylady.« McWarden winkte ab. »Wir entdeckten im Hotelzimmer Waffen und Pläne einer kleinen Bank im Osten der Stadt. Aus diesen Unterlagen geht hervor, daß Hunt wahrscheinlich die Tresore einer Schifffahrtsbank ausrauben wollte. Aber die Waffensammlung allein redete eine
eindeutige Sprache.« »Schrecklich, diese Gangster!« Lady Simpson schüttelte empört den Kopf. »Wie gut, daß wir eine Polizei haben, nicht wahr, Mr. Parker? « »Dieser treffenden Bemerkung Myladys möchte ich mich nachdrücklich anschließen. « Parker deutete eine Verbeugung an. »Nun ja, nun sitzt er wieder.« McWarden lächelte. »Das hätte Hunt sich bestimmt nicht träumen lassen. Aber es kommt noch besser.« »Sie überraschen mich ja heute am laufenden Band, McWarden.« Lady Agatha blieb wohlwollend. »Vor seiner Festnahme rief George Hunt noch einen gewissen Lern Coltex an«, erzählte der Chief-Superintendent »Der Empfangschef hat das Gespräch rein zufällig mitbekommen. Und wissen Sie, was Hunt sagte?« »Mit dieser Frage überfordern Sie mich«, bedauerte die ältere Dame. »Hunt bedankte sich bei diesem Coltex für den Freispruch, das ging sinngemäß aus dem Gespräch hervor. Wissen Sie, Mylady, was ich glaube?« »Spannen Sie mich nicht so auf die Folter, McWarden«, raunzte Lady Agatha ihr Gegenüber an. »Nun reden Sie schon endlich!« »Coltex ist der Bursche, der die Zeugen und Geschworenen erpreßt«, sagte McWarden mit Nachdruck. »Beweisen kann ich das zwar noch nicht, aber es dürfte nur eine Frage der Zeit sein.« »Diesmal werden Sie einen Fall allein schaffen, McWarden«, hoffte Lady Agatha und unterdrückte jede Ironie. »Bei Gott, Mylady, darauf können Sie sich verlassen. Diesen Sumpf der Erpressung werde ich austrocknen! Wenn ich nur wüßte, wer der anonyme Anrufer gewesen ist. Dieser Mann scheint eine Menge zu wissen.«
»Man kann nicht alles haben, McWarden«, tröstete Agatha Simpson ihren forschen Besucher. »Und wer weiß, vielleicht meldet er sich mal wieder, wenn Sie nicht weiter wissen.« »Ich rechne damit.« McWarden sah Butler Parker eindringlich an. »Ich rechne sogar sehr stark damit, wirklich!«
Das Reisebüro gab nicht viel her. Steve Widcorne benutzte es nur als Tarnung für seinen wirklichen Beruf. Er war in der Unterwelt tätig und befaßte sich mit allem, was geldträchtig war. Er war ein vierzigjähriger, großer und schlanker Mann mit Stirnglatze, einem ausgeprägten Pferdegesicht und einem Gebiß, das ebenfalls einem Hengst recht gut angestanden hätte. Steve Widcorne beschäftigte zwei weibliche Angestellte, die von seiner wahren Beschäftigung keine Ahnung hatten. Es waren zwei ältliche, solide Frauen um die fünfundvierzig herum, die wechselseitig nur halbtags im Reisebüro erschienen. Sie saßen hier ihre Stunden ab, beschäftigten sich mit den wenigen Kunden und machten sich kaum Gedanken darüber, wieso Widcorne sie überhaupt bezahlen konnte. Reiselustige Touristen erschienen schließlich nicht gerade massenweise in dem kleinen Büro. Am späten Nachmittag betrat kurz vor Dienstschluß ein Butler das Reisebüro, lüftete höflich seine schwarze Melone und verlangte nach Mr. Steve Widcorne. Die Angestellte verschwand hinter einem Vorhang, um den Butler anzumelden, der übrigens seinen Namen genannt hatte. Sie kam schon nach wenigen Augenblicken wieder zurück. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen.« Sie deutete auf den Vorhang. »Die erste Tür rechts, Sir.« Parker lüftete erneut seine schwarze Melone und stand
Widcorne gegenüber, der ihm bereits entgegengekommen war. »Parker mein Name, Josuah Parker«, stellte der Butler sich vor. »Darf ich davon ausgehen, daß Sie mir einige Minuten Ihrer sicher kostbaren Zeit schenken werden?« »Um was geht es denn?« fragte Widcorne. »Gehen wir doch in mein Büro, Mr. Parker.« »Es handelt sich um eine langfristige Reise, Mr. Widcorne«, meinte Parker, nachdem man in dem kleinen, völlig normal eingerichteten Privatbüro war. »Damit kein Mißverständnis aufkommt, Mr. Widcorne, ich denke an eine Reise und an einen Aufenthalt, der sich auf Sie bezieht.« »Auf mich?« Widcorne lächelte. »Ich verstehe kein Wort.« »Ich spreche von einer Reise, Mr. Widcorne, deren Endziel möglicherweise eine staatliche Anstalt betrifft. Genauer gesagt, ich rede von einem Gefängnis.« »Was ... Was soll das?« »Nach meinen bescheidenen Informationen, Mr. Widcorne, haben Sie solch eine Reise bereits angetreten«, fuhr Parker würdevoll weiter fort. »Und das Ziel dieser Reise durfte bereits in Sicht sein.« »Hören Sie, ich habe keine Lust...« »Nötigung, Bedrohung und Erpressung werden in England recht hart und nachdrücklich bestraft, Mr. Widcorne. Sollten Sie das übersehen haben?« »Ich hätte große Lust, Sie rauszuwerfen!« Widcorne, größer als Parker, kam um den Schreibtisch herum und plusterte sich auf. Als er dann aber den kühlen Blick seines Gegenübers mitbekam, rutschte er eindeutig in sich zusammen und schluckte. »Aufgrund Ihrer Botendienste, Mr. Widcorne, sind in der Vergangenheit einige Strafprozesse nicht so verlaufen, wie die Krone es erwarten durfte. Ankläger und Richter Ihrer Majestät - lang möge Sie leben - vermuten nicht zu unrecht gewisse Manipulationen.«
»Was, zum Teufel, habe ich damit zu tun?« Widcorne nahm quasi Deckung hinter seinem Schreibtisch. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie eigentlich reden.« »Von einem Individuum, das in eingeweihten Kreisen >Maulwurf< genannt wird, Mr. Widcorne.« »Maul... Maul... Maulwurf?« Widcorne verfärbte sich und stotterte. »Maulwurf«, wiederholte Parker gemessen. »Da Sie ohnehin gewisse Botendienste für ihn erledigen, sollten Sie besagtem Maulwurf dringend raten, sich anderen Geschäften zu widmen. Aus Gründen einer gewissen Fairneß wollte ich diese Warnung aussprechen. Man wird sehen, ob sie fruchtet. Ich wünsche Ihnen noch einen heiteren Abend, Mr. Widcorne.« Parker lüftete seine schwarze Melone und verließ das Büro. Er nickte der ältlichen Angestellten freundlich zu und betrat dann die Straße. Er schüttelte unwillig den Kopf, als ihn eine ziemlich verwelkte Vertreterin des horizontalen Gewerbes ansprechen wollte. Parker war ein Mann von und mit Grundsätzen. Mit Damen dieser Zunft verkehrte er niemals privat.
Etwa um die gleiche Zeit betrat eine majestätisch aussehende Dame den Uhrmacherladen von Lern Coltex, der gerade einen Kunden bediente und ihm eine billige Taschenuhr verkaufte. Diese majestätisch aussehende Dame trug ein zu weites, aber sehr bequemes Tweed-Kostüm, hatte einen Hut auf, der an den Südwester eines Seemannes erinnerte und musterte Coltex durch eine Lorgnette, einer Stielbrille, wie sie eigentlich nur noch in Kostümstücken zu sehen ist. Durch diese Lorgnette musterte die Dame den Uhrmacher,
der sichtlich nervös wurde. Seine Hände gerieten in leichte Vibration, als er das Geld des Kunden kassierte. »Madam?« fragte Coltex, als der Kunde das Geschäft verlassen hatte. Er trat sicherheitshalber einen halben Schritt zurück und schluckte verlegen. Er kam sich vor wie das oft zitierte Kaninchen vor der ebenfalls oft zitierten Schlange. »Sie sind also Coltex!« stellte die resolute Dame mit baßgefärbter Stimme fest. »Sie erfrechen sich, harmlose Bürger in Angst und Schrecken zu versetzen?« »Madam?« Coltex tat einen leichten Schnaufer. Solche Unmittelbarkeit und Offenheit hatte er nicht erwartet. »Sie sind ein verkommenes Subjekt«, grollte die Besucherin. »Halten Sie gefälligst den Mund!« »Ich habe ja noch gar nichts ...« »Ruhe!« Sie Stimme donnerte wie ein aufziehendes Gewitter. »Sie reden nur, wenn Sie gefragt werden! Sagt Ihnen der Name William Preston etwas? Das war jetzt eine Frage, und ich erwarte eine umgehende Antwort.« »Madam«, keuchte Coltex, der sich langsam erholte. »Wie kommen Sie dazu, hier in meinem Geschäft...« »Sie kennen William Preston«, stellte die ältere Dame fest. »Er ist der Butler des Lord of Lanters. Und dieser bedauernswerte Mann wurde von Ihren Schlägern unter Druck gesetzt.« »Ich werde die Polizei alarmieren. Verlassen Sie sofort mein Geschäft!« »Alarmieren Sie, junger Mann, alarmieren Sie!« Mylady lächelte grimmig und deutete auf das Telefon, das in der kleinen Werkstatt zu sehen war. »Ich ... Ich kenne keinen William Preston«, verteidigte sich der Gangster. »Sie müssen mich verwechseln. Gehen Sie jetzt endlich, oder ich ...« Was er wirklich wollte, ließ sich im Moment nur schwer sagen, Coltex beging aber immerhin den Fehler, blitzschnell
eine Schublade aufzuziehen, die sich unter der Ladentheke befand. Er hätte besser darauf verzichtet! Lady Simpson, die diesen Besuch abstattete, langte herzhaft und zielsicher mit ihrem Pompadour zu. Der perlenbestickte Handbeutel, wie ihn Damen einer vergangenen Epoche gern trugen, hatte es in sich. Genauer gesagt, in diesem Pompadour befand sich ein echtes Pferdehufeisen, das aus Gründen der Humanität ein wenig oberflächlich mit dünnem Schaumstoff umwickelt war. Dieser »Glücksbringer«, wie Lady Agatha das Hufeisen nannte, knallte auf den Handrücken des Uhrmachers, der tatsächlich das Gefühl hatte, von einem auskeilenden Pferd getreten worden zu sein. Coltex jaulte auf, schwang sich hoch auf seine Zehenspitzen und vollführte eine halbe Pirouette, die ihm allerdings mißlang. Er fiel gegen das hinter ihm stehende Wandregal und stierte dann auf seine Hand. Agatha Simpson kümmerte sich nicht weiter um Coltex. Sie beugte sich vor und griff in die Schublade. Sie fischte einen kurzläufigen Trommelrevolver hervor, der sich allerdings als eine Gaspistole entpuppte. »Wollten Sie damit etwa auf eine alte und wehrlose Frau schießen?« fragte sie empört. »Hatten Sie tatsächlich diese Absicht, Sie Lümmel?« »Nein, nein«, hechelte Coltex. »Ehrenwort, ich wollte nicht!« »Funktioniert das Ding überhaupt?« fragte Lady Agatha und richtete den Lauf auf Coltex. »Vorsicht!« brüllte Coltex und machte eine tiefe Verbeugung, doch leider in die falsche Richtung. Lady Simpson hatte bereits abgedrückt, dabei aber den Lauf gesenkt, um möglichst nicht zu treffen. Später behauptete Coltex, sie habe den Lauf schnell und gekonnt gesenkt, doch das konnte er natürlich nicht beweisen.
Auf jeden Fall löste sich der Schuß, und die Gasladung erwischte den Gangster voll. Er stöhnte, rieb sich die tränenden Augen und kniete vor Mylady nieder. »Es funktioniert tatsächlich«, wunderte Agatha Simpson sich. »Und damit wollten Sie auf mich schießen? Ich denke, wir unterhalten uns in Ihrer Werkstatt weiter, Sie Lümmel! Vorwärts, Sie Waschlappen, stellen Sie sich gefälligst nicht so an! Sie werden sich doch nicht vor einer kleinen Frau fürchten, oder? «
»Mylady haben sich gut unterhalten?« erkundigte Butler Parker sich höflich. Er servierte das Dinner zum Abend. Da die Detektivin seit einiger Zeit auf Diät hielt, bot er eine leichte Brüht , etwas Fisch, Huhn und ein Steak an. Zum Nachtisch sollte es noch Käse und Obst geben. Doch Lady Agatha schütelte mißbilligend den Kopf, sie beantwortete damit nicht Parkers Frage, sondern bezog sich auf das Angebot an Eßwaren. »Das soll eine Diät sein?« fragte sie gereizt. »Mylady sind unzufrieden?« »Das entspricht ja einer Hungerkur«, entrüstete sie sich. »Wollen Sie mich umbringen?« »Etwas Huhn wäre noch da«, erwiderte Parker höflich. »Mylady könnten auch noch ein wenig Fleischpastete wünschen.« »Das klingt schon besser.« Sie gab sich ein wenig versöhnt. »Sie wissen, ich muß abnehmen, aber ich will nicht gerade vor Entkräftung sterben.« »Myladys Besuch waren erfolgreich?« Parker wechselte das Thema und legte vor. »Ich habe diesem Lümmel von Coltex gründlich meine
Meinung gesagt«, antwortete Agatha Simpson. »Sehr gründlich, Mylady?« »Der Rettungswagen brauchte nicht zu kommen, wenn Sie das meinen«, grollte sie empört. »Halten Sie mich etwa für gewalttätig?« »Keineswegs, Mylady«, verneinte Parker, wobei sein Gesicht ausdruckslos blieb. »Das möchte ich mir auch ausgebeten haben. Nun, ich mußte vielleicht etwas energisch werden. Dieser Flegel griff mich an, das muß man sich mal vorstellen! « »Wie leichtsinnig von Mr. Coltex, Mylady.« »Nicht wahr?« Lady Agatha lächelte versonnen. »Ich habe ihm schnell klar gemacht, daß ich darauf allergisch reagiere. « »Mr. Coltex erklärte sich bereit, mit einigen Informationen zu dienen, Mylady?« »Dieser Flegel ist eine richtige Plaudertasche«, erinnerte die ältere Dame sich kopfschüttelnd. »Er kannte nach einigen Minuten Ihren Kollegen Preston. Und er wußte auch von diesen beiden Schlägern Humbel und Slide, mit denen Sie sich ja im Park bereits unterhielten.« »Eine bemerkenswerte Geständnisfreudigkeit, Mylady.« »Es war mehr eine Plauderei«, wehrte Agatha Simpson ab. »Coltex räumte sogar ein, daß er in der Vergangenheit seine beiden Schläger zu anderen Personen geschickt hatte. Die Namen hat er mir freundlicherweise aufgeschrieben. « »Mylady müssen sehr überzeugend gewesen sein.« »Im Gegensatz zu Ihnen, Mr. Parker, verfüge ich über eine geschickte Verhörtechnik«, verkündete die Detektivin. »Ich weiß, man traut sie mir nicht zu, und genau das ist mein Vorteil.« »Mylady erregen wieder mal meine rückhaltlose, aber dennoch auch bescheidene Bewunderung.« »Coltex sprach sogar von einem gewissen Steve Widcorne, den er flüchtig kennen würde«, zählte die ältere Dame weiter
auf. »Aber einen Maulwurf will er nicht kennen.« »Mylady fragten sicher mehrfach nach diesem Maulwurf?« »Mehrfach und streng«, sagte sie grimmig. »Aber da paßte er. Er scheint vor diesem Maulwurf eine unheimliche Angst zu haben. Ich respektierte das schließlich.« »Der Maulwurf, Mylady, wird sich jetzt mit Sicherheit ans Tageslicht bequemen müssen«, gab Parker zurück. »Seine beiden Zuträger und Helfershelfer Coltex und Widcorne dürften längst Alarm geschlagen haben.« »Und wenn dieser Maulwurf uns etwas pfeift, Mr. Parker, und sich noch tiefer eingräbt?« »Dieser Maulwurf, Mylady, wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf sein so einträgliches Geschäft nicht verzichten wollen«, meinte Parker. »Meiner bescheidenen Ansicht nach wird er zur Offensive übergehen.« »Was ich mir auch ausgebeten haben möchte!« Sie nickte zufrieden. »Übrigens, von der Fleischpastete möchte ich tatsächlich noch kosten, Mr. Parker. Das Steak war ja so klein wie eine Shillingmünze. Ich möchte vor Entkräftung nicht vorzeitig sterben!«
»Wie siehst du denn aus?« erkundigte Widcorne sich bei Coltex und sah den Uhrmacher kopfschüttelnd an. »Bist du durch 'nen Wolf gedreht worden?« »Lady Simpson war hier.« Coltex legte sich den kühlenden, nassen Lappen auf der linken Wange zurecht und fingerte vorsichtig nach einer Beule, die seinen Hinterkopf zierte. »Lady Simpson? Die Alte, für die dieser Butter Parker
arbeitet?« »So was hab ich noch nie erlebt«, gestand Coltex freimütig, allerdings ein wenig nuschelnd. »Diese Frau ist irre.« »War die etwa der Fleischwolf?« »Das siehst du doch«, nuschelte Coltex, dessen Kiefer schmerzte. »Die hat mich fast auseinander genommen.« »Das glaub' ich einfach nicht.« »Ich werd sie dir auf den Hals hetzen.« »Und die war allein hier?« wollte Widcorne wissen. »Das zahle ich dieser Alten heim«, schwor Coltex nuschelnd. »Die lass' ich demontieren. Noch ist nicht aller Tage Abend.« »Dann packen wir diesen Parker gleich dazu«, empfahl Widcorne. »Der war nämlich bei mir.« »Man sieht dir aber nichts an, Widcorne. « »Parker war hundsgemein höflich«, ärgerte sich der Reisebürounternehmer. »Aber er weiß, daß es den Maulwurf gibt.« »Das weiß die alte Simpson ebenfalls«, warf Coltex schnell ein. Sein Berufskollege brauchte ja nicht zu wissen, daß er, Coltex, diesen Namen fast freiwillig genannt hatte. »Es kommt noch schlimmer«, redete Widcorne weiter und schluckte Coltex' Bemerkung wie selbstverständlich. »Hunt ist verhaftet worden. Er und seine beiden Leibwächter.« »Paul und Artie?« »Scotland Yard hat sie aus einem Hotel geholt.« »Und woher weißt du das?« »Der Maulwurf war bereits informiert.« »Mensch, woher bezieht der nur seine Nachrichten«, wunderte sich Coltex. »Und was ist jetzt? Hat er schon neue Sachen auf Lager?« »Hat er, Coltex, hat er! Treibjagd auf Parker und die verrückte Lady. Bis die geschafft sind, unterbleiben alle anderen Aktionen. Alles wird abgeblasen, was bereits
eingefädelt worden ist. Funkstille auf der ganzen Linie.« »Und was ist mit Scotland Yard? Sind die nicht längst hinter uns her?« Coltex steckte das Tuch in eine Schüssel mit Wasser, in der Eiswürfel schwammen. Dann wrang er den Lappen aus und kühlte erneut sein leicht geschwollenes Gesicht. »Du meinst, Parker oder die Lady hätten den Yard informiert? Nee, sitzt nicht drin, das weiß der Maulwurf ganz genau. Die beiden Amateure sind wild drauf, die Behörden reinzulegen und alles allein zu machen. Darauf kann man sich fest verlassen.« »Das klingt schon besser.« Coltex schöpfte neue Hoffnung. »Ich mach' hier aber mit, damit diese irre Alte nicht wieder aufmarschieren kann. Und dann werde ich ein paar FirstclassSchläger besorgen. Widcorne, Profis, die noch jeden kleingekriegt haben. Die setze ich auf die Irre und ihren Butler an.« »Genau, was der Maulwurf von dir erwartet, Coltex. Und ich werd' mich ebenfalls mal umsehen. Treibjagd, das ist das Stichwort. Sag' mal, wer hat Hunts Gang eigentlich geleitet, als er in Untersuchungshaft gewesen ist?« »Gene Wolvers. Tückisch wie 'ne gereizte Klapperschlange. Der ist ganz wild drauf, sich den Laden unter den Nagel zu reißen. Jetzt scheint seine Chance gekommen zu sein.« »Ob er Hunt reingelegt hat? Ich meine, ob er ihn verpfiffen haben könnte?« »Keine Ahnung! Gene Wolvers geh' ich aus dem Weg. Der ist mir zu gefährlich. Willst du ihn etwa interessieren?« »Hunts Gang ist erstklassig.« »Vielleicht steht die schon direkt beim Maulwurf unter Vertrag, Widcorne. Ich wäre da an deiner Stelle verdammt vorsichtig.« »Der Maulwurf braucht keine eigene Organisation, das weiß ich genau«, erwiderte Widcorne. »Der macht alles per Telefon und Geldpäckchen. Der läßt sich nicht in die Karten blicken,
der nicht!« »Ich hab dich nie danach gefragt, Widcorne, wie erhältst du eigentlich die Tips und Anweisungen?« »Das ist doch kein Geheimnis.« Widcorne lächelte. »Habe ich doch gerade gesagt, ich werde angerufen und damit basta. Der sagt, was anliegt, dann bekomme ich ein Päckchen und da drin ist das Geld für die Leute, die für ihn arbeiten.« »Ganz schön raffiniert.« »Und so einfach.« Widcorne grinste. »Wer der Maulwurf ist, kümmert mich nicht die Bohne, Coltex, Hauptsache, das Geld stimmt!« »Der Bursche verdient ein Vermögen.« »Du brauchst gar nicht weiterzureden«, dämpfte Widcorne das Interesse seines Kollegen. »Er bekommt sein Geld in die Schweiz auf ein Nummernkonto überwiesen. Alles bestens abgesichert. Den hebt keiner aus.« »Im Moment habe ich auch andere Sorgen«, räumte Coltex ein. »Schaffen wir also erst mal diese Lady und ihren Butler aus dem Weg, dann sehen wir weiter. Diese Amateure müssen doch klein zu kriegen sein, oder?« »Du kennst sie besser als ich, Coltex. Was redet man denn so in Fachkreisen über sie?« »Nur mieses Zeug«, entgegnete Coltex und verzog sein Gesicht. »Die sind so verdammt schwer auszurechnen, kapierst du? Die tun immer genau das, womit du nicht rechnest. Bei den Bullen weiß man Bescheid, die arbeiten nach 'nem bestimmten Schema, aber die Alte und ihr Butler, na ja, die sind eben irre!« »Nicht mehr lange«, versprach Widcorne. »So, und jetzt hau' ich ab. Du weißt Bescheid, was der Maulwurf sehen und hören will.« Die beiden Gangster wechselten noch einige Sätze, dann trennten sie sich. Widcorne verließ den Uhrmacherladen und schlenderte die Straße hinunter zu seinem Wagen. Natürlich achtete ein Mann wie er nicht auf eine verwelkt
aussehende Vertreterin des Rinnsteingewerbes. Er hatte andere Sorgen. Er übersah diese verblühte Schöne der Nacht, die eine Schultertasche trug und offensichtlich auf Beute aus war ...
»Das wird meine nächste Maske sein«, erklärte Agatha Simpson mit Nachdruck und musterte die verblühte Bordsteinschwalbe, die vor ihr im Salon stand. »Ich werde wahrscheinlich noch überzeugender aussehen als Sie, Kindchen.« Josuah Parker und Kathy Porter tauschten einen schnellen Blick. »Sie wirken nämlich noch eine Spur zu seriös, Kindchen«, redete die ältere Dame inzwischen weiter. »Man glaubt Ihnen dieses Gewerbe nicht so recht.« »Ich werde mich erkühnen, Myladys Wünsche zu notieren«, versprach Josuah Parker, der sich Lady Agatha nun wirklich nicht als sogenannte »Schöne der Nacht« vorstellen konnte. »Darf ich fragen, Miß Porter, ob Ihre Exkursion erfolgreich verlief? « »Es kam genau so, wie Sie es vermuteten, Mr. Parker.« Kathy nahm dankbar den Tee entgegen, den Parker reichte. »Nach Ihrem Besuch bei Widcorne verließ er das Reisebüro und rief von einer Telefonzelle aus an. Leider konnte ich nicht nahe genug herankommen. Er scheint aber mit dem Maulwurf gesprochen zu haben.« »Woran wollen Sie das erkannt haben, Kindchen?« erkundigte sich Agatha Simpson streng. »An seiner ganzen Art, Mylady«, antwortete Kathy Porter. »Er nahm förmlich Haltung an, Sie verstehen, was ich meine?« »Nun gut, und was tat dieses Subjekt dann?«
»Er ging zu Fuß hinüber zu Mr. Coltex' Uhrmachergeschäft, Mylady. Er blieb dort etwa zwanzig Minuten lang, kam dann zurück auf die Straße und ging wieder in sein Reisebüro.« »Waren Sie in der Lage, Miß Porter, das Richtmikrofon einzusetzen?« wollte Josuah Parker wissen. »Ich glaube, daß die Aufnahme gut geworden ist.« Kathy reichte Parker die Teetasse und hob ihre Schultertasche auf, die sie an ihn weiterreichte. Er öffnete sie und holte ein kleines Tonbandgerät heraus. Anschließend warf er einen kurzen, prüfenden Blick auf das eigentliche Richtmikrofon. Es sah äußerlich aus wie eine normale, etwas zu große Puderdose, deren Ränder allerdings mit einer Klebefolie versehen waren. Diese angebliche Puderdose ließ sich durch einen dünnen Zuleitungsdraht mit dem Tonbandgerät verbinden. »Wie haben Sie denn dieses Etwas verwendet?« wollte Agatha Simpson wissen. »Ich preßte die Puderdose gegen die Schaufensterscheibe«, erwiderte Kathy Porter. »Die ganze Scheibe wirkte als Schallboden. Ist es so richtig ausgedrückt, Mr. Parker?« »Im Prinzip durchaus, Miß Porter.« Parker deutete ein Kopfnicken an und wandte sich an Lady Simpson. »Wenn Mylady befehlen, werde ich die technischen Details und auch die Funktion näher erläutern.« »Schnickschnack«, sagte sie abwehrend, »Hauptsache, das Ding hat funktioniert. Mr. Parker, spielen Sie das Band ab!« Butler Parker ließ sich seine Spannung nicht anmerken, als er das Tonbandgerät in Betrieb setzte, das Band zurückspulte und dann auf »Sendung« ging. Es war erstaunlich, wie deutlich die Stimmen der beiden Gangster Coltex und Widcorne zu hören waren. Die Schaufensterscheibe hatte die Schallwellen im Innern des Uhrmacherladens nicht nur genau aufgenommen, sondern sie schien sie sogar noch verstärkt zu haben.
»Das ist doch die Höhe!« Agat Simpson war aufgesprungen, als da Band nichts mehr brachte. »Haben Sie das mitbekommen, Mr. Parker? Diese beiden Flegel nennen mich eine Irre. Nun, das fasse ich als Beleidigung auf!« »Der deutliche Unterton grenzenlosen Respekts war allerdings nicht zu überhören, Mylady.« »Zu diesen Frechheiten wird noch einiges zu sagen sein«, meinte die ältere Dame grollend. »Ich hätte größte Lust, Mr. Parker, diesem Coltex sofort einen zweiten Besuch zu machen.« »Man sollte ihm eine kleine Verschnaufpause gönnen, Mylady, zumal damit zu rechnen ist, daß die kommende Nacht mit Sicherheit noch einige Überraschungen bereit hält.« »Wie soll ich das verstehen?« »Darf ich Mylady an das Stichwort Treibjagd erinnern? Mit einem massiven Anrücken der Gangster dürfte zu rechnen sein.« »Das versöhnt mich allerdings.« Sie beruhigte sich wieder. »Bereiten wir diesen Subjekten einen netten Empfang. Mr. Parker, ich erwarte, daß Sie sich etwas einfallen lassen.«
Gene Wolvers war ein Mann, dem man einen Gebrauchtwagen ohne jedes Mißtrauen abgekauft hätte. Er erinnerte keineswegs an eine stets gereizte Klapperschlange, wie Steve Widcorne seinem Berufskollegen Colt-ex gegenüber behauptet hatte. Gene Wolvers war übrigens, was zu seinem Typ paßte, tatsächlich im Gebrauchtwagengeschäft tätig. Sein Abstellplatz lag im Osten der Stadt, in einem Viertel also, in dem die Finanzaristokratie nicht gerade zu Hause war. Seine Kunden waren Leute, die sich den Kauf eines Gebrauchtwagens sehr genau überlegten. Und sie wurden von Gene Wolvers korrekt und ehrlich bedient.
Sie hatten übrigens kaum eine Ahnung, daß Wolvers bei manchen Geschäften aus eigener Tasche zuschoß. Ihm kam es darauf an, zufriedene Kunden und damit ein gutes Image zu haben. Sein Büro gleich rechts neben der Einfahrt zum Grundstück war in einer mittelgroßen Steinbaracke untergebracht. Die Einrichtung bestand aus soliden, aber gebrauchten Möbeln; Wolvers kleidete sich unauffällig und unterstrich damit die Solidität seines Unternehmens. Mit den Behörden war er bisher noch nicht in Konflikt geraten. Es hatte nur einige Ermittlungen gegen ihn gegeben, doch die waren im Sand verlaufen. Der Polizei war selbstverständlich bekannt, daß Gene Wolvers mehr war als nur ein Gebrauchtwagenhändler. Die Polizei wußte, daß er quasi die Hunt-Bande als Stellvertreter leitete, aber zu beweisen war da nichts. Es war bereits dunkel, und Wolvers hatte das schwere Tor zum Grundstück geschlossen. Er saß in seinem Büro und wartete auf Besuch. Widcorne hatte sich angekündigt; Widcorne, das Pferdegesicht ... Pünktlich zur vereinbarten Zeit meldete sich die Torklingel. Gene Wolvers stand auf, verließ die Steinbaracke und trat hinaus in die Dunkelheit. Er wartete, bis seine Augen sich an die herrschenden Lichtverhältnisse gewöhnt hatten und marschierte dann zum Tor, um die darin eingelassene kleine Tür zu öffnen. »Kommen Sie rein«, sagte er zu Widcorne, den er kannte, wenn auch nur flüchtig. »Sind wir allein?« erkundigte sich Pferdegesicht Widcorne. »Natürlich.« Wolvers schloß die kleine Tür hinter seinem Besucher und führte ihn in die Steinbaracke. Dann deutete er auf einen Sessel und auf die Flasche, die er bereitgestellt hatte. »Sie wissen natürlich, warum ich gekommen bin, oder?« eröffnete Widcorne das Gespräch. »Ihr Boß Hunt sitzt wieder.
Aber das dürfte für Sie keine Neuigkeit sein.« »Er ist reingelegt worden«, antwortete Wolvers. »Und er hat sich reinlegen lassen wie ein Anfänger.« »Pech kann jeder mal haben.« »Er mußte wissen, daß man ihn beschatten würde. Na gut, nicht mein Bier. Was wollen Sie, Widcorne? Was haben Sie mir vorzuschlagen?« »Sie leiten wieder Hunts Organisation? « »Das steht noch nicht fest«, gab Wolvers zurück. »Möglich, daß ich mich selbständig machen werde.« »So oder so, Wolvers, ich hätte ein gutes Angebot zu machen.« »Das vom Maulwurf stammt, nicht wahr?« »Sie ... Sie wissen vom Maulwurf?« Widcorne tat zwar überrascht, war es jedoch nicht. Ein Mann wie Wolvers wußte selbstverständlich, wie es zum Freispruch von Hunt gekommen war. Er wußte auch, welche beträchtliche Summe Hunt dem Maulwurf dafür hatte zahlen müssen. »Der Maulwurf möchte zwei Figuren ausschalten lassen, die sich mausig machen«, redete Widcorne weiter. »Wäre das was für Sie?« »Wie heißen die beiden Figuren?« »Butler Parker und Agatha Simpson. Möglich, daß Sie sie kennen.« »Mann, das ist vielleicht eine Frage!« Gene Wolvers lächelte mild. »Sind die beiden Typen hinter dem Maulwurf her?« »Nicht direkt, aber sie könnten weitere Aktio nen stören.« »Worauf Sie sich verlassen können, Widcorne. Falls ich die Sache übernehme, wird das den Maulwurf aber 'ne Menge Geld kosten. Sehr viel Geld sogar. Und dazu käme dann noch so 'ne Art Gefahrenzulage.« »Übertreiben Sie die Gefährlichkeit der beiden Typen nicht?«
»Ich untertreibe höchstens noch.« Gene Wolvers lehnte sich zurück. »Haben Sie schon mal 'nen Blindgänger entschärft, dessen Zünder Ihnen unbekannt ist? Und dazu kommt noch, daß Parker und die Lady ganz sicher keine Blindgänger sind.« »Nennen Sie Ihren Preis, Wolvers! Ich bin ermächtigt, darauf einzugehen. Der Maulwurf handelt nicht.« »Fünftausend Pfund.« »Mann, das ist 'ne Menge Geld.« »Pro Person«, fügte Wolvers hinzu. »Und das ist 'ne Art Vorzugspreis, Widcorne. Wann soll die Sache denn steigen?« »Möglichst umgehend, Wolvers. Je schneller, desto besser.« »Der Maulwurf scheint ja ganz schön in der Tinte zu sitzen.« Wolvers freute sich. »Er will wieder freie Bahn haben.« »Sie haben natürlich keine Ahnung, wer der Maulwurf ist, wie?« »Keine blasse Ahnung, Wolvers.« »Sie sind es nicht zufällig, oder?« Wolvers lächelte breit, doch seine Augen machten dieses Lächeln nicht mit. Sie blickten kalt und abschätzend auf Widcorne. »Wie sollte ich an die richtigen Informationen kommen?« Widcorne lächelte ebenfalls, aber auch seine Augen blieben davon unberührt. »War nur eine Frage. Wenn der Preis akzeptiert wird, mache ich noch in dieser Nacht Dampf auf. Sind noch andere Leute auf Parker und die Lady angesetzt?« »Ich war bei Coltex. Der wird sich um zwei Killer kümmern.« »Wollen die etwa auch noch in dieser Nacht loslegen?« »Eindeutig nicht, Wolvers. Er muß die beiden Killer erst engagieren.« »Kann er sich sparen, Widcorne. Morgen wird die Polizei sich um zwei Leichen zu kümmern haben: Parker und die Lady!«
»Sie wissen, Wolvers, wo diese beiden Amateure wohnen?« »Shepherd's Market, kein Problem.« Wolvers winkte ab und wollte noch etwas sagen, fuhr dann aber so blitzartig von seinem Sitz hoch, daß Widcorne zusammenzuckte. Wolvers hielt einen Revolver in der Hand, und Widcorne konnte sich nicht erklären, woher er ihn genommen hatte. »Was ist denn?« fragte er dann leise. »Irgendwas draußen auf dem Gelände«, sagte Wolvers. »Reden Sie weiter, Widcorne, ich verschwinde mal kurz!« Bevor Widcorne etwas sagen konnte, verschwand Wolvers in einem Nebenraum und drückte die Tür leise hinter sich ins Schloß. Coltex hatte diesen Mann richtig beschrieben: Wolvers war geschmeidig und geräuschlos wie eine Schlange aus dem Büro geglitten. Dieser Mann war gefährlich!
Die Klapperschlange befand sich auf dem Gelände. Sie bewegte sich noch langsam, sicherte und suchte nach der Quelle des Geräusches, das sie gehört hatte. Gene Wolvers war ein Mann, der nicht gleich alles auf eine Karte setzte. Den Revolver hatte er längst wieder eingesteckt. In seiner rechten Hand lag die Schneide eines Wurfmessers. Er schätzte diese lautlose und absolut tödliche Waffe. Er wußte sie mit der Treffsicherheit eines Artisten zu handhaben, der sich auf Wurfmesser spezialisiert hat. Er wandte sich langsam um, als er erneut ein Geräusch hörte. Irgendwo links hinter ihm war ein feines Knirschen gewesen. Wolvers duckte sich, glitt geschmeidig in die neue Richtung, wand sich förmlich um einen der hier zahlreich stehenden Gebrauchtwagen herum und sah dann seinen Gegner.
Eine mittelgroße Gestalt stand neben dem Kofferraum eines Fahrzeugs und duckte sich gerade ebenfalls. Wolvers' Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Er hatte keine Ahnung, wer sich auf dem Gelände herumtrieb, aber er wußte, daß dieser Eindringling bösen Zeiten entgegenging. Er blieb stehen und wartete darauf, daß die Gestalt sich noch mal zeigte. Dann wollte er das Messer werfen. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis es soweit war. Gegen den Widerschein des Nachthimmels hob sich die Silhouette erneut ab. Wolvers reagierte fast schon automatisch. Er hatte ausgeholt und ließ das schwere Messer durch die Luft zischen. Bruchteile von Sekunden später war ein explosionsartiger Knall zu vernehmen. Ja, und dann war die Silhouette wie durch Zauberei völlig verschwunden. Sie schien sich in Luft aufgelöst zu haben und war einfach nicht mehr zu sehen. Gleichzeitig aber erlebte der Gangster etwas, was ihm völlig fremd war. Eine Hand legte sich auf seine Schulter, leicht und fast beiläufig. Wolvers erstarrte, ihm blieb die Luft weg. Er war wie versteinert und nicht in der Lage, wie gewohnt zu reagieren. Ein eiserner Reifen legte sich um seine Brust. Er wußte plötzlich, was Angst und Grauen waren. »Sie handeln ein wenig zu impulsiv«, sagte dann eine höfliche Stimme. »Wie leicht kann dabei etwas passieren!« Wolvers' Erstarrung löste sich. Er wollte sich herumwerfen, angreifen und vernichten. Die Beklemmung hatte sich gelöst. Er raste innerlich vor Zorn. Er schaffte jedoch nur eine halbe Drehung, dann legte sich ein schwerer Gegenstand nachdrücklich auf seinen Hinterkopf. Wolvers erstarrte erneut. Dann gurgelte er leicht, verdrehte die Augen und ging in einer schraubenartigen Bewegung zu Boden. Er blieb regungslos in einer Pfütze liegen. Josuah Parker beugte sich über den Liegenden und durchsuchte erst mal dessen Taschen. Er barg den Revolver
und ein zweites Messer. Dann nahm er die Beine des Mannes in die Hände und brachte Wolvers hinter einem Ge brauchtwagen in Sichtdeckung. Er sah zur Steinbaracke hinüber. Im Büro war das Licht ausgeschaltet worden, doch Parker rechnete nicht damit, daß Wolvers' Besucher sich ebenfalls nach draußen bequemt hatte. Dieser Bursche saß jetzt wohl ziemlich nervös und ängstlich im dunklen Raum und wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Natürlich hatte dieser Mann den lauten, explosionsartigen Knall gehört, ihn aber gewiß nicht deuten können. Parker bückte sich, nahm mit der schwarz behandschuhten Hand eine kleine Portion Kies und schleuderte sie Richtung Fenster der Steinbaracke. Der Erfolg war frappierend. Die Steinchen prasselten wie Hagelkörner gegen die Scheiben und trieben den Besucher im Büro hoch. Die Tür wurde nämlich plötzlich aufgestoßen, und eine Gestalt galoppierte mit wilden Sätzen auf das Tor zu, das allerdings samt der kleinen, darin eingelassenen Tür verschlossen war. Nun zeigte sich das wahrhaft olympische Talent des Mannes. Er sprang förmlich aus dem Stand am Gittertor hoch, strampelte ein wenig mit den Beinen und flankte dann fast elegant hinüber auf die andere Seite. Parker kümmerte sich nicht weiter um diesen Mann, den er ja ohnehin kannte. Um Steve Widcorne konnte man sich später immer noch kümmern. Vorerst war Gene Wolvers an der Reihe.
Als die Klapperschlange wieder zu sich kam, brauchte sie einige Zeit, bis sie sich an gewisse Dinge erinnern konnte.
Wolvers lehnte mit dem Rücken gegen eine feuchte Mauer und registrierte, daß völlige Dunkelheit ihn umgab. Er blieb sitzen. Bevor er sich bewegte, wollte er erst mal die allgemeine Atmosphäre schnuppern und Witterung aufnehmen. Sein wacher Instinkt sagte ihm, daß Gefahr in der Luft lag. Er ärgerte sich maßlos darüber, auf den Butler hereingefallen zu sein. Daß er von ihm niedergeschlagen worden war, lag für Wolvers auf der Hand. Klar war ihm ebenfalls, daß er sein Wurfmesser eindeutig auf eine Art Phantom geworfen hatte. Wahrscheinlich hatte es eine aufblasbare Gummipuppe zerfetzt, und platzen lassen. Aber wo war er jetzt? Wohin mochte der Butler ihn gebracht haben? Was hatte dieser raffinierte Fuchs mit ihm vor? Befand er sich ebenfalls im Raum? Wollte er mit ihm, Wolvers, Katz' und Maus spielen? Gut, das konnte er haben. Wolvers nahm die Hände hoch, formte sie vor seinem Mund zu einem seitlich geöffneten Trichter und ließ im übertragenen Sinn einen ersten Versuchsballon los. »Parker, sind Sie da?« rief er und leitete die Schallwellen seiner Stimme bewußt in die falsche Richtung. Keine Antwort... »Ich weiß, Parker, daß Sie da sind!« Wolvers rief jetzt in eine andere Richtung. Die im Grunde ersehnte Antwort blieb aus. »Wenn Sie glauben, mich nervös machen zu können, sind Sie auf dem Holzweg.« Diesmal leitete Wolvers den Schall seiner Stimme direkt nach vorn. Keine Antwort... »Schön, dann werde ich Sie aufspüren, Parker. Ich komme!« Wolvers scharrte ein wenig mit den Absätzen auf dem Boden herum, der aus Beton gegossen war, doch er blieb sitzen. Wolvers war ein gut trainierter und gerissener Bursche. Ihm kam es darauf an, die Gegenseite nervös zu machen. Er
wollte Parker dazu bringen, sich durch eine Bewegung zu verraten. Wolvers durchsuchte vorsichtig seine Taschen und achtete darauf, kein Geräusch zu verursachen. Daß er den Revolver nicht mehr besaß, wunderte ihn kaum, als er jedoch das zweite Wurfmesser in seinem rechten Jackettärmel entdeckte, schoß ein Gefühl heißer Freude in ihm hoch. Wolvers hatte aber auch sein Feuerzeug gefunden. Er wog es in der Hand und ... warf es dann in weitem Bogen in die Dunkelheit. Es landete vor einer Steinwand und fiel klirrend zu Boden, doch sonst tat sich leider nichts. Wolvers behielt immer noch die Nerven. Er verließ nicht seinen Platz, setzte voll auf die Geduld und seine bessere Erfahrung. Gene Wolvers hörte plötzlich ein Scharren von links. Um ein Haar hätte er bereits jetzt das Messer durch die Luft zischen lassen, aber er konnte die Wurfbewegung gerade noch stoppen. Er schüttelte den Kopf. Nein, er wollte sich nicht hereinlegen lassen. Wahrscheinlich hatte auch der Butler einen fremden Gegenstand in die Dunkelheit geworfen, um Reaktionen auszulösen. Vielleicht rechnete Parker bereits damit, daß Wolvers sich in der Dunkelheit bewegte. Wenig später hörte Wolvers ein hastiges Atmen. Nun gab es kein Halten mehr für ihn. Er schleuderte das Messer in die Dunkelheit und wartete auf den Aufschrei des getroffenen Opfers. Nun, es schrie nicht!
»Ich nehme es Ihnen sehr übel, Mr. Parker, daß Sie mich um das nächtliche Vergnügen gebracht haben«, beschwerte Agatha Simpson sich grollend. »Vielleicht ist noch mit dem Erscheinen der Coltex
Spezialisten zu rechnen, Mylady«, antwortete Josuah Parker. »Warum haben Sie diesen Wolvers außer Gefecht gesetzt, Mr. Parker? Gerade von ihm und der Hunt-Bande hatte ich mir sehr viel versprochen.« »Mr. Gene Wolvers ist ungemein gefährlich, Mylady«, erinnerte der Butler. »Einige Abkühlung wird seine Mordlust dämpfen.« »Dafür hätte auch ich sorgen können. Und zwar sehr nachdrücklich.« Die ältere Dame sah ihren Butler grimmig an. »Wo steckt er denn jetzt?« »In einem Lagerkeller der East India Docks, Mylady. Er wird sich zur Zeit mit der Dunkelheit, die ihn umgibt, auseinandersetzen. « »Diese absolute Dunkelheit wird Mr. Wolvers mit Sicherheit in eine nervösgereizte Stimmung versetzen, Mylady, zumal ich mir die Freiheit nahm, für Abwechslung zu sorgen.« »Das klingt schon besser. Sie können mir noch etwas Portwein nachgießen, Mr. Parker.« Die Hausherrin lehnte sich in ihrem Kaminsessel zurück und nippte wenig später an dem schweren, rubinroten Portwein. »Nun erzählen Sie schon endlich!« »Die Betondecke des Kellers, Mylady, ist ein wenig wasserdurchlässig«, schilderte der Butler gemessen. »Die fallenden Tropfen werden Mr. Wolvers Bewegungen vortäuschen, die es nicht gibt. Darüber hinaus werden von Zeit zu Zeit verschiedene Kleinstgegenstände zu Boden fallen, die von mir dort an der Decke befestigt wurden.« »Von Zeit zu Zeit, Mr. Parker.« Sie nahm einen herzhaften Schluck aus dem Glas. »Kleine Holzstücke und Kieselsteine, Mylady, die ich mittels Klebeband recht oberflächlich befestigte. Das Eigengewicht dieser Gegenstände wird sie vom Klebeband lösen und herabfallen lassen.« »Nacheinander, Mr. Parker?« Sie wirkte bereits ein wenig
versöhnt. »Zumindest unregelmäßig, Mylady«, räumte Josuah Parker ein. »Mr. Wolvers wird sehr beschäftigt sein. Er dürfte zwischendurch immer wieder nach seinem Wurfmesser suchen, das ich ihm beließ.« »Wieso wird er nach seinem Messer suchen?« »Ich erlaube mir davon auszugehen, Mylady, daß er es immer wieder in Richtung der Geräusche schleudern wird.« »Sehr hübsch.« Die Sechzigjährige lächelte. »Diese Idee hätte von mir stammen können, Mr. Parker, sehr hübsch. Und was geschieht morgen?« »Bei Tagesanbruch werden die zuständigen Behörden einen wahrscheinlich recht nervösen Mr. Wolvers bergen.« »Behörden, denen Sie einen Tip gegeben haben, nicht wahr?« »Chief-Superintendent McWarden wird eine wenn auch anonyme Information dankbar entgegennehmen, Mylady.« »Schade, daß ich diesen Wolvers nicht beobachten kann.« Agatha Simpson stand auf. »So, jetzt werde ich noch ein wenig arbeiten.« »Mylady wollen sich noch Ihrem Romanmanuskript widmen? « »Natürlich, Mr. Parker.« Sie sah ihn hoheitsvoll an. »Sie glauben also, daß die Coltex-Gruppe noch erscheinen könnte?« »Dafür, Mylady, möchte ich mich allerdings nicht verbürgen.« »Warten wir es ab, Mr. Parker. Gute Nacht!« »Ich erlaube mir, Mylady ebenfalls eine geruhsame Nacht zu wünschen.« Parker geleitete seine Herrin ins Treppenhaus. Sie stieg majestätisch nach oben und verschwand dann im oberen Korridor. Josuah Parker kontrollierte noch mal die Sicherungen der Rolläden, die Türschlösser und schaltete das hauseigene Alarmsystem ein. Dann begab auch er sich zur Ruhe, das heißt,
er stieg hinunter ins Souterrain und genoß sein Privatleben. Er rechnete keineswegs mit dem Erscheinen nächtlicher Besucher. Der aus der Steinbaracke geflüchtete Steve Widcorne hatte seinen Freund Coltex mit Sicherheit gewarnt. Die Gangster, die der Maulwurf hatte einsetzen wollen, befanden sich wahrscheinlich in einem Zustand tiefster Ratlosigkeit. Möglicherweise verloren sie sogar alle Lust, sich von diesem Maulwurf weiterhin engagieren zu lassen. Und genau das wollte Josuah Parker erreichen. Ihm ging es darum, daß dieser raffinierte Maulwurf sich ans Tageslicht bemühen mußte, falls er weiterhin kassieren wollte...
»Ich komme zufällig vorbei«, behauptete ChiefSuperintendent McWarden wieder mal schamlos und nickte dem öffnenden Butler zu. »Ist die Dame des Hauses schon zu sprechen?« »Mylady nimmt gerade das Frühstück zu sich. Ich werde Sie umgehend anmelden, Sir.« Agatha Simpson hatte McWardens Stimme bereits gehört und erschien in der Wohnhalle ihres Stadthauses. Sie trug einen wallenden Morgenmantel, der ihr das Aussehen eines großen und üppigen Engels verlieh. »Als Mitglied einer staatlichen Behörde schon so früh auf den Beinen?« spöttelte sie. »Ich möchte wetten, daß Sie wieder mal Sorgen haben, junger Mann.« »Mylady, ich bin kein junger Mann!« McWardens Stimme klang gereizt. »Das kann man wohl sagen.« Sie nickte bekräftigend. »Ich wollte es nur mal aus Ihrem Mund hören. Gibt es einen neuen Strafprozeß, der eventuell scheitern könnte?«
»Den gibt es auch, Mylady, aber deswegen bin ich nicht gekommen. Ich habe mich mit Mr. Parker dienstlich zu unterhalten.« »Meine bescheidene Wenigkeit steht Ihnen zur Verfügung«, schaltete Parker sich würdevoll ein. »Aber erst, wenn Sie mir das Frühstück gereicht haben.« Agatha Simpson stampfte zurück in den kleinen Salon. »Allein und ohne Beistand bekomme ich diese magere Diät nicht herunter. Trinken Sie eine Tasse Tee, McWarden?« McWarden fühlte sich geehrt und nahm am Tisch Platz, der die magere Diät Lady Simpsons trug. Der ChiefSuperintendent schaute ein wenig verblüfft auf die Schlankmacher, die Parker seiner Herrin servierte. Da gab es Toast und Butter, gebratene Würstchen, Schinken mit Ei, Schinken ohne Ei, ein wenig Fisch und gebratene Speckscheiben. »So hungert man sich durch das Leben«, beschwerte Lady Agatha sich. »Ich kämpfe um jedes Gramm.« »Tatsächlich?« McWarden schluckte. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Er hätte sich an dieser Diät gern beteiligt. »Sie ahnen ja nicht, wie brutal Mr. Parker mit mir umspringt«, redete die ältere Dame weiter. »Wenn das so weitergeht, werde ich noch total vom Fleisch fallen.« »Möglich ist viel«, erwiderte McWarden neutral. »Darf ich jetzt zur Sache kommen, Mylady?« »Sie wollten Mr. Parker etwas fragen, nicht wahr? « »Mr. Parker, ist Ihnen ein Mann namens Gene Wolvers bekannt?« McWarden wandte sich dem Butler zu, der ihm gerade den avisierten Tee servierte. »Ein bekannter Name in der Unterwelt«, erwiderte Parker. »Er dürfte allerdings nur Insidern bekannt sein.« »Wann sahen Sie ihn zuletzt?« »In der vergangenen Nacht, Sir.«
»Das geben Sie ohne weiteres zu?« McWarden staunte. »Die Wahrheit ist eine Tugend, Sir, der man frönen sollte.« »Und was passierte, als Sie Wolvers sahen?« McWarden bemühte sich, die Köstlichkeiten auf dem Frühstückstisch zu übersehen. »Mr. Wolvers muß meinen nicht angekündigten Besuch völlig mißverstanden haben«, berichtete der Butler. »Er war, wenn ich es so ausdrücken darf, sehr daran interessiert, mich mit einem Wurfmesser zu begrüßen, was ich, wie ich einräumen muß, nicht sonderlich schätzte.« »Sagen Sie schon, was mit diesem Wolvers passiert ist, McWarden«, schaltete Lady Agatha sich ein. »Wir arbeiten schließlich zusammen, wenn ich Sie daran erinnern darf.« »Wolvers wurde aufgrund eines anonymen Anrufs heute morgen in einem Lagerkeller der East India Docks gefunden«, entgegnete McWarden. »Der Mann hatte Schaum vor dem Mund.« »Das hört sich aber recht gut an«, fand Lady Agatha. »Schaum vor dem Mund, Sir?« Parker tat ahnungslos. »Wolvers tobte herum und griff meine Leute an. Einen verletzte er sogar durch einen Messerstich.« »Man kann nicht vorsichtig genug sein, McWarden«, stellte die ältere Dame fest. »Warum tobte er?« »Er hatte die ganze Nacht in diesem dunklen Lagerkeller verbracht und muß da durchgedreht haben. Er redete irres Zeug, wehrte sich wie besessen und scheint fast so etwas wie weiße Mäuse gesehen zu haben.« »Das klingt wieder erfreulich.« Agatha Simpson nickte zufrieden. »Und er redete ununterbrochen von Ihnen, Mr. Parker.« McWarden sah den Butler prüfend an. »Er will Sie um jeden Preis umbringen. Er behauptet, er habe sich die ganze Nacht mit Ihnen in diesem Lagerkeller herumgeschlagen.« »Dies, Sir, entspricht keineswegs den Tatsachen«, erwiderte
Josuah Parker gemessen. »Nach dem Angriff auf meine bescheidene Person schaffte ich Mr. Wolvers in der Tat in den erwähnten Lagerkeller. Ich ging von der Annahme aus, daß er sich dort ein wenig beruhigen würde, doch dies scheint nicht der Fall gewesen zu sein.« »Der Mann wird gerade von einem Psychiater behandelt«, erklärte McWarden und grinste wider Willen. Insgeheim freute er sich natürlich, daß ein so gefährlicher Gangster wie Wolvers im Moment nicht mehr aktiv sein konnte. »Ein Gangster mit schwachen Nerven. Man erlebt immer wieder neue Überraschungen.« Lady Simpson befaßte sich mit dem Rührei und den gebratenen Speckscheiben. »Was Mr. Parker betrifft, so hielt er sich während der Nacht über im Haus auf, McWarden, dafür verbürge ich mich.« »Dem habe ich nichts hinzuzufügen«, warf Parker ein. »Mr. Wolvers muß sich mit einem Phantom herumgeschlagen haben.« »Er hat einen Ihrer Leute verletzt«, sagte Lady Agatha zu McWarden und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Dafür wird man ihn doch sicher belangen, nicht wahr?« »Selbstverständlich, Mylady. Er muß mit einer Anklage rechnen, falls man ihn nicht für unzurechnungsfähig erklären sollte. Wie gesagt, er hatte Schaum vor dem Mund.« »Damit dürfte die Hunt-Bande so gut wie ausgetrocknet sein, nicht wahr?« Lady Agatha lächelte freundlich. »Mit Hunt und Wolvers sind die führenden Köpfe ausgeschaltet, Mylady«, bestätigte McWarden. »Die übrigen Bandenmitglieder haben ohnehin nur auf Anweisung gearbeitet.« »Sie sollten sich bei Mr. Parker bedanken«, schlug die Detektivin vor. »Da wäre noch etwas«, sagte McWarden, ohne auf diesen Vorschlag einzugehen. »Wolvers könnte der geheimnisvolle Maulwurf nicht sein, oder wie denken Sie darüber, Mr.
Parker?« »Auf keinen Fall, Sir«, entgegnete Parker. »Der gesuchte Maulwurf dürfte bisher seine schützende Deckung noch nicht verlassen haben, doch es wird sich wahrscheinlich recht bald ändern, wenn ich dieser Vermutung Ausdruck verleihen darf.«
Steve Widcorne hatte mehrmals versucht, sich telefonisch mit Gene Wolvers in Verbindung zu setzen, doch auf der Gegenseite war nicht abgehoben worden. An diesem Morgen versuchte es Widcorne erneut. Es handelte sich übrigens um den sechsten Versuch dieser Art. Doch auch jetzt meldete sich niemand. Steve Widcorne hatte keine Ahnung, was in der vergangenen Nacht passiert war, doch der Schrecken saß ihm in den Knochen. Immer noch hörte er den Knall, den er sich auch jetzt nicht zu erklären vermochte; noch immer hörte er das Prasseln der Steinchen gegen die Fensterscheiben der Steinbaracke. Was mochte da wohl geschehen sein? Es hielt ihn nicht länger in seinem kleinen Reisebüro. Widcorne verließ das Ladenlokal, setzte sich in seinen Ford und fuhr erst mal hinaus nach Shepherd's Market. Er wollte sich an Ort und Stelle davon überzeugen, ob Gene Wolvers erfolgreich gearbeitet hatte. Falls das so war, mußten vor dem Haus der Lady Simpson schließlich noch Polizeifahrzeuge zu sehen sein. Nun, er konnte nichts entdecken ... Das altehrwürdige Fachwerkhaus machte einen völlig unversehrten Eindruck. Wolvers war also mit Sicherheit nicht hier gewesen. Aber, wo zum Henker, steckte er? Ob er sich von diesem Butler hatte hereinlegen lassen? Widcorne unternahm eine zweite Orientierungsfahrt.
Er bemühte sich hinaus in den Osten der Stadt und hielt vor dem Grundstück des angeblichen Gebrauchtwarenhändlers. Das Tor war noch fest verschlossen. Und auch die Steinbaracke machte einen verlassenen Eindruck. Widcorne wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Seine Neugier war immer größer geworden. Was war nur mit diesem raffinierten Gangster geschehen? Nach einer guten halben Stunde saß Widcorne wieder in seinem Reisebüro und wollte gerade seinen Freund Coltex anrufen, als das Telefon sich meldete. »Sehr schlechte Arbeit«, sagte eine vertraute Stimme, die Widcorne nur zu gut kannte. »Wolvers sitzt. Er ist hereingelegt worden.« »Sind Sie es?« fragte Widcorne, der die Stimme des Maulwurfs sofort erkannt hatte. »Sie bekommen gleich ein Päckchen mit neuen Anweisungen«, antwortete die wohlvertraute, aber undeutliche Stimme. »Und die andere Sache muß so schnell wie möglich erledigt werden.« »Sollten wir nicht 'ne kleine Pause einlegen?« fragte Widcorne. »Ausgeschlossen! Ich habe einen grandiosen Fall«, sagte der Maulwurf. »Richten Sie Coltex aus, daß ich ihm eine Sonderprämie zahlen werde, falls er erfolgreich ist!« Bevor Widcorne seine Bedenken noch mal äußern konnte, war auf der Gegenseite bereits aufgelegt worden. Widcorne knallte wütend den Hörer in die Gabel und zündete sich eine Zigarette an. Dieser Maulwurf hatte gut reden. Der hielt sich stets aus der Schußlinie heraus und ging im Grund kein Risiko ein. Es dauerte etwa zehn Minuten, bis eine der Angestellten in seinem Privatbüro erschien und ein Päckchen abgab. »Wer hat es gebracht?« fragte Widcorne und wog das Päckchen mißtrauisch in der Hand.
»Ein Straßenjunge, Sir«, erwiderte die ahnungslose Angestellte. »Er warf das Päckchen einfach auf den Tisch und war sofort wieder verschwunden.« Widcorne scheuchte seine Angestellte mit einer knappen Handbewegung aus dem Büro und schnürte dann das Päckchen auf, das natürlich keinen Absender trug, hob den Deckel ab und beugte sich über den Inhalt. Er hätte es besser nicht getan! Mit der Verzögerung von einer Zehntelsekunde »detonierte« der Inhalt des Päckchens. Das Deckpapier, das den Inhalt schützte, zerriß und schleuderte eine Portion Farbpulver nach oben. Widcornes Gesicht wurde voll getroffen. Er schrie vor Schreck auf, warf sich zurück und konnte im ersten Moment nichts sehen. Dann öffnete er zögernd die Augen, hörte die schnellen Schritte seiner Angestellten und dann ihr Kichern, das schon sehr bald in ein glucksendes Lachen überging. »Was ... Was, ist denn?« fragte er wütend. »Sie ... Sie sehen knallrot aus, Sir«, sagte die ältliche Angestellte und wollte sich zusammenreißen, was ihr jedoch völlig mißlang. Sie deutete mit ausgestreckter Hand auf sein Gesicht, wandte sich ab und lief glucksend wieder hinaus. Widcorne sprang auf, stellte sich vor den Spiegel, der über dem kleinen Handwaschbecken angebracht war und nahm eine Besichtigung vor. Er ächzte betroffen auf, als er im Spiegel die intensiv rote Gesichtsfarbe ausmachte, die sich langsam in giftiges Violett verfärbte. Und dann klingelte das Telefon. Widcorne ging zum Apparat, hob den Hörer ab und preßte die Lippen zusammen, als sich die wohlvertraute Stimme meldete. »Ein kleiner Scherz«, sagte diese Stimme, undeutlich wie immer. »Sie sollten in Zukunft auf Aussehen und Größe jener Päckchen achten, die Ihnen der Maulwurf zustellen läßt. Wer
weiß, Mr. Widcorne, vielleicht befindet sich im nächsten Päckchen bereits eine echte Sprengladung!« Widcorne ließ den Hörer zurück in die Gabel fallen und nahm sich spontan vor, eine längere Reise anzutreten. Wozu betrieb er schließlich ein Reisebüro. Er brauchte ja nur zu wählen.
»Sie glauben, daß er vorerst nicht mehr mitmachen wird?« erkundigte Agatha Simpson sich bei Parker. »Mr. Widcorne sitzt bereits in einem Wagen, der ihn hinaus aufs flache Land führt«, erwiderte Josuah Parker. »Die Einfärbung seines Gesichts und die Anspielung, es vielleicht auch mal mit einer echten Sprengladung zu tun zu bekommen, verleiht ihm im übertragenen Sinn Flügel.« »Sie sind mit diesem Gangster viel zu höflich umgesprungen, Mr. Parker«, sagte sie mißbilligend. »Sie hätten ihm ein Pfund Dynamit ins Haus schicken sollen.« »Wie Mylady meinen.« Parker ging auf diesen Vorschlag nicht näher ein. »Nun dürfte es der Maulwurf nur noch mit Mr. Lern Coltex zu tun haben.« »Diesen Lümmel würde ich gern aus dem Verkehr ziehen.« »Dazu werden Mylady mit Sicherheit noch Gelegenheit haben«, antwortete Josuah Parker. »Im Augenblick jedoch sollte man Mr. Coltex noch ein wenig agieren lassen.« »Und wozu soll das gut sein?« »Er beabsichtigt nach den gesicherten Erkenntnissen, zwei sogenannte Profis kommen zu lassen. Diese beiden Vertreter der Unterwelt sollte man erst mal anreisen lassen.« »Nicht schlecht. Drei auf einen Streich.« Agatha Simpson gab sich versöhnt. »Aber wie ist das mit diesem Subjekt Widcorne? Wird er beschattet?« »Ich war so frei, Mylady, Mr. McWarden offiziell anzurufen
und ihm einen entsprechenden Hinweis zu geben. Seine Leute werden Mr. Widcorne nicht aus den Augen lassen.« »Und wo steckt Kathy?« »Miß Porter hält sich zur Zeit in Soho auf, Mylady. Sie verkauft dort Blumen in einem kleinen Floristenshop, wie diese Läden neuerdings genannt werden.« »Und paßt auf Coltex auf? « »In der Tat! Miß Porter achtet auf die Ankunft der beiden Herren, die Mr. Coltex engagiert hat.« »Das hört sich ja alles recht gut an, Mr. Parker. Aber nun mal zum Maulwurf. Ich hoffe, Sie haben sich ebenfalls schon Gedanken gemacht über diesen Gangster, oder?« »Mylady haben eine Theorie?« »Aber natürlich, Mr. Parker. Im Grund weiß ich bereits, wo dieser Gangster zu suchen ist.« »Mylady machen meine bescheidene Person ungemein neugierig, wie ich einräumen muß.« »Die Sache ist sehr einfach«, schickte die Detektivin voraus. »Der Maulwurf wußte in der Vergangenheit derart gut Bescheid, daß er nur in Gerichtskreisen zu suchen ist.« »Dem erlaube ich mir beizupflichten, Mylady.« »Woher sollte der Maulwurf sonst so genau Bescheid über die Zeugen und Geschworenen wissen?« »Sehr wohl, Mylady.« »Sind Sie etwa anderer Meinung?« »Myladys Theorie ist bestechend«, erwiderte Josuah Parker. »Dieser Maulwurf ist in der Lage, die Gerichtsunterlagen einzusehen«, redete Agatha Simpson begeistert weiter. »Er fotografiert wahrscheinlich heimlich die herausgehenden Ladungen an die Zeugen und an die Geschworenen. So weiß er genau, wo er den Hebel ansetzen muß. Nun, Mr. Parker, was sagen Sie jetzt?« »Mylady sind wieder mal bestechend«, entgegnete der Butler. »Man kann nur hoffen, daß Chief-Superintendent
McWarden nicht ebenfalls diese Gedanken hegt.« »Du lieber Himmel, McWarden!« Sie lächelte geringschätzig. »Dieser Mann hat doch überhaupt keine Phantasie. Auf solche Gedanken kommt er doch nie!«
Kathy Porter verkaufte Blumen. Sie war von Josuah Parker in ein kleines Geschäft geschleust worden, dessen Inhaberin sich ihm um jeden Preis endlich mal erkenntlich zeigen wollte. Butler Parker hatte die dralle, rundliche Frau vor geraumer Zeit mal vor Ganoven beschützt, und das konnte und wollte sie ihm nicht vergessen. Kathy Porter befand sich in dem kleinen Eckladen und hatte eine ausgezeichnete Sicht in die Straße hinein, in der sich Lern Coltex' Uhrmacherwerkstatt befand. Daß es sich bei diesem jungen Mädchen um Kathy Porter handelte, wußte die gute Frau ebenfalls nicht. Kathy Porter hütete sich natürlich auch, ihr Inkognito preiszugeben. Die Frau sollte nicht in Schwierigkeiten gebracht werden. Stunde um Stunde verstrich, doch vor dem Uhrmacherladen tat sich nichts. Hin und wieder konnte Kathy den Uhrmacher sehen, der hinter der Schaufensterscheibe erschien und sei nerseits die Straße beobachtete. Sicher wartete Coltex auf irgend etwas ... Erst gegen Mittag kamen die Dinge in Fluß. Zwei etwa fünfundzwanzigjährige Männer, durchschnittlich groß und schlank, schlenderten über die Straße und bewegten sich etwas zu betont unauffällig. Kathy Porters geschulten Augen entging allerdings nicht, daß diese beiden jungen
Männer ihre Umgebung ständig musterten. Sie schienen berufsmäßig vorsichtig und mißtrauisch zu sein. Sie blieben vor der schäbigen Auslage des Uhrmacherladens stehen und interessierten sich ganz sicher nicht für die billige Ware, die dort zu sehen war. Diese Besichtigung dauerte nur wenige Augenblicke, dann schlenderten die Männer bereits weiter, passierten das Blumengeschäft und verschwanden in einer Seitenstraße. Es dauerte nur einen Moment, bis auch Lern Coltex das Bedürfnis verspürte, etwas frische Luft zu schnappen. Er kam aus dem Laden, verschloß die Tür, zündete sich eine Zigarette an und schlenderte ebenfalls am Blumengeschäft vorbei, um dann in der Seitenstraße zu verschwinden. Der Gangster wurde beschattet, doch damit hatte Kathy Porter gerechnet. Chief-Superintendent McWarden wußte ja von der Existenz des Uhrmachers und auch davon, daß dieser Coltex für den Maulwurf tätig war. McWarden hatte also einige seiner Leute auf Coltex angesetzt, und einer davon folgte nun dem Gangster. »Ich bin gleich wieder zurück«, rief Kathy Porter der Blumenfreundin zu, nahm eine vorbereitete Blumenschachtel in die Hand, band sich ein Kopftuch um und verließ das kleine Geschäft. Es waren jetzt zwei Männer, die den drei Gangstern folgten. Chief-Superintendent McWarden wollte sicher jedes Risiko vermeiden. Diese beiden Männer sahen sehr unterschiedlich aus, denn einer glich einem amerikanischen Touristen und war ein wenig grell und auffällig gekleidet. Der zweite Polizeiverfolger paßte vollkommen in diese Gegend, er schien Handwerker zu sein, der auf dem Weg zu irgendeiner Reparatur war: Er trug eine schwere Arbeitstasche über der Schulter und sah wirklich nicht aus wie einer von McWardens Spezialeinheit. Kathy sah natürlich auch die beiden jungen Männer, die
völlig ahnungslos taten, obwohl sie sicher schon längst Bescheid wußten, wer Coltex auf den Fersen war. Coltex schloß nicht zu ihnen auf. Er wußte wahrscheinlich ebenfalls, daß man ihn beschattete. Er betrat eine der vielen Teestuben hier und lockte die beiden Verfolger ebenfalls in dieses kleine Lokal, das heißt, der angebliche Handwerker blieb draußen vor der Tür und beschäftigte sich angelegentlich mit seiner Werkzeugtasche, in der er kramte. Es dauerte jedoch nicht lange, bis dieser Handwerker sich plötzlich aufrichtete und in die Teestube rannte. Kathy, die aufgeholt hatte, blieb stehen und gesellte sich zu anderen Zuschauern, die sich die Schlägerei in der Teestube ansehen wollten. Diese Schlägerei war von Coltex arrangiert worden. Kathy Porter hatte mit solch einem oder einem ähnlichen Trick bereits gerechnet. Während die beiden Verfolger beschäftigt wurden, würde Coltex das Weite suchen und sich dann in aller Ruhe mit den beiden jungen Männern treffen. Butler Parker hatte Kathy Porter auf solch einen Trick schon im Vorhinein aufmerksam gemacht. Sie drückte sich aus der Menge der Neugierigen und entdeckte Coltex, der aus der Tür eines Nachbarhauses kam. Sie wunderte sich also wieder mal, wie gut Butler Parker Dinge zu berechnen verstand und nahm die Verfolgung der drei Gangster jetzt allein auf.
»Ich bin Jim, das ist Robert«, stellte einer der beiden jungen Männer sich und seinen Partner vor. »Weitere Namen spielen keine Rolle, Coltex, denke ich.« »Nur keine Namen!« Coltex schüttelte lächelnd den Kopf.
»Schön, daß Sie gekommen sind.« »Bannister hat uns angerufen und hierher nach London geschickt«, erklärte Jim, der das Wort führte. »Sie haben Schwierigkeiten?« »Mächtige Schwierigkeiten«, antwortete Coltex. »Es handelt sich um zwei Amateure, die ziemlichen Ärger machen.« »Amateure?« fragte Jim und sah Coltex erstaunt an. »Und da werden wir engagiert?« »Wir sind nicht gerade billig«, ließ der Mann sich vernehmen, der sich Robert nannte. »Die besten Leute sind gerade gut genug«, antwortete Coltex. »Diese Amateure haben es in sich.« »Nun übertreiben Sie mal nicht, Coltex.« Jim lächelte herablassend. »Diese Amateure sind Spitze!« »Wenn schon«, meinte Robert verächtlich. »Und was sind das für Typen?« »Es handelt sich um 'ne echte Lady und um ihren Butler.« »Das darf doch wohl nicht wahr sein.« Jim sah seinen Partner Robert irritiert an. »Und ihr werdet mit so was nicht allein fertig? Das klingt doch wie'n Witz!« »Leider handelt es sich um harte Wirklichkeit«, redete Coltex weiter und dämpfte seine Stimme. Er saß mit den beiden Männern in einem Balkanrestaurant, in dem es recht lautstark zuging. Dennoch wollte er jedes Belauschen vermeiden. »Diese Lady und ihr Butler sind hier bei uns nicht gerade unbekannt.« »Und dann läuft so was noch frei und ohne Bandagen herum?« wunderte sich Robert kopfschüttelnd. »Weil die beiden Typen eben raffiniert sind, mein Wort darauf! Ihr glaubt also, daß ihr sie schaffen könnt?« »Wollen Sie uns beleidigen, Coltex?« fragte Jim. »Wie lautet die Adresse'? Haben Sie ein paar Fotos von den beiden?
Alles weitere ist unsere Sache.« »Die Lady und ihr Butler wohnen in Shepherd's Market«, erklärte Coltex. »Fotos habe ich leider nicht. Aber die beiden Figuren sind nicht zu übersehen.« »Okay, das geht schon in Ordnung, oder?« Jim sah seinen Partner an. »Schnell verdientes Geld«, fand Robert leichtsinnigerweise. »Das haben schon andere gesagt und behauptet, aber dann sind sie auf die Nase gefallen«, warnte Coltex. »Morgen können wir wieder abhauen«, meinte Jim und lächelte überheblich. »Amateure! Man schämt sich ja direkt ...« »Laßt euch nur nicht täuschen«, warnte Coltex erneut. »Ihr kennt die Hunt-Bande?« »Vom Hörensagen«, erwiderte zur Abwechslung mal Profi Robert. »Die ist hin, aufgeflogen, existiert nicht mehr. Und das geht auf das Konto dieser beiden Amateure, daran solltet ihr immer denken.« »Sie kennen unseren Preis, Coltex?« »Liegt bereits in einem Schließfach am Bahnhof. Hier ist der Schlüssel dazu. Ihr braucht das Geld nach der Arbeit nur noch abzuholen.« Man war sich einig und brauchte nicht mehr viel Worte zu machen. Jim und Robert verließen das Restaurant, um sich nach Shepherd's Market zu begeben, Coltex wartete noch eine Weile, bevor auch er ging. »Was ist nur aus dieser Stadt geworden«, wunderte sich Profi Jim, als er mit seinem Partner zur nächsten U-Bahnstation ging, um nach den Opfern Ausschau zu halten. »Man sollte auswandern«, meinte Profi Robert ironisch. »Man schämt sich ja direkt, hier in England noch zu arbeiten.«
»Wie Galgenvögel sehen die eigentlich nicht aus«, stellte Lady Agatha fest, als sie die Fotos betrachtete, die Kathy Porter von den beiden Gangstern Jim und Robert geschossen hatte. Parker hatte seiner Herrin gerade die Aufnahmen vorgelegt und nickte dabei Kathy Porter, die zurück ins Stadthaus gekommen war, anerkennend zu. »Es handelt sich eindeutig um Profis, Mylady«, erwiderte Butler Parker. »Man hat sie nicht umsonst hierher nach London kommen lassen.« »Sie haben von der Unterhaltung nichts aufschnappen können, Kindchen?« Agatha Simpson sah ihre Gesellschafterin fragend an. »Das ließ sich leider nicht einrichten, Mylady«, entgegnete Kathy Porter. »Ich wäre sonst mit Sicherheit aufgefallen.« »Macht ja nichts, Kindchen. Sie haben ganz ansprechend gearbeitet. Ich selbst hätte es nicht besser tun können.« »Ob sie einen kaltblütigen Mord planen, Mr. Parker?« Kathy Porter sah den Butler fragend an, nachdem sie der älteren Dame dankbar zugelächelt hatte. »Diese Frage, Miß Porter, möchte ich verneinen.« Parker schob die Fotos zur Seite. »Diese beiden Männer dürften einen Unfall mit tödlichem Ausgang planen. Mein bescheidenes Gefühl sagt mir das.« »Ich hoffe, Sie lassen sich etwas Geeignetes einfallen«, meinte die Detektivin wieder mal optimistisch, ohne näher auf die Gefühle des Butlers einzugehen. »Ich möchte mich endlich ungestört mit dem Maulwurf beschäftigen.« »Mylady hegen bereits bestimmte Pläne?« »Die bieten sich doch zwangsläufig an, Mr. Parker.« Sie sah ihn fast vorwurfsvoll an. »Ich habe Ihnen doch gesagt, wo dieser Maulwurf zu finden ist. Also werde ich mir das Schwurgericht mal aus der Nähe ansehen. Erfreulicherweise habe ich unter den Lordrichtern einige nette alte Freunde, die mir gewiß helfen werden.«
Daran zweifelte Parker überhaupt nicht. Agatha Simpsons gesellschaftliche Verbindungen waren außerordentlich und umfassend. Wo immer sie sich auch auf dem Globus aufhalten mochte, sie fand stets schnell und ohne langes Suchen bekannte Namen und bekannte Gesichter. Auf welchem Kontinent fand sie keinen Menschen, der sich darum riß, ihr einen Gefallen zu erweisen? »Ist Ihnen schon was eingefallen?« wollte sie dann wissen. »Es bieten sich zwei Möglichkeiten für die beiden von Miß Porter beobachteten Gangster an«, schickte Parker gemessen voraus. »Einmal könnten sie versuchen, ihren Opfern hier vor dem Haus aufzulauern, doch diese Möglichkeit scheidet wohl aus. Die zweite Möglichkeit besteht in einer Verfolgung der Opfer. Dabei ließe sich das von mir vermutete Unglück wesentlich leichter bewerkstelligen.« »Und wie bringen die beiden Mordlümmel mich aus dem Haus?« erkundigte sich Lady Agatha süffisant. »Durch eine Art Lockanruf, Mylady«, vermutete Parker und nickte bestätigend, als sich genau in diesem Moment das Telefon meldete. Während einer Theatervorstellung hätte auf einer Bühne solch ein Anruf nicht präziser und gekonnter erfolgen können. Parker hob ab und nannte seinen Namen. Er hörte einen Moment schweigend zu. »Wie teuer wird diese Information sein?« fragte er dann. »Tausend Pfund? Nun, diese Summe scheint ein wenig hoch gegriffen zu sein. Wie beliebten Sie zu sagen? Nun, da muß ich Ihnen allerdings beipflichten. Gut, ich werde diese Summe verantworten und damit auch zahlen. Mylady wird diese meine Maßnahme billigen, denke ich.« Parker hörte einen Moment zu und ließ sich weitere Informationen geben. »Ich erlaube mir zu repetieren«, sagte er dann wieder fast feierlich. »Sie erwarten Mylady und meine bescheidene Wenigkeit um sechzehn Uhr in St. John Wood, genauer gesagt,
auf der Ostseite des Cricket-Grounds. Man wird pünktlich sein, wie ich versichern darf.« Parker legte auf und deutete in Richtung seiner Herrin eine knappe Verbeugung an. »Die Mörder, Mylady«, sagte er dann sichtlich zufrieden. »Man scheint sich für einen Unfall mit tödlichem Ausgang entschieden zu haben.« »Diese Galgenvögel«, lautete Myladys Kommentar. »Ich erwarte, Mr. Parker, daß Sie Ihre Pflicht tun werden.« Sie nickte hoheitsvoll und verließ den Salon, um sich vor der Begegnung mit ihren potentiellen Mördern noch ein wenig zu entspannen.
»Natürlich werden sie kommen«, sagte Killer Jim und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Man kennt doch die Neugier dieser Amateure, Robert.« »In fünf Minuten wird's sich zeigen.« Robert saß am Steuer eines mächtigen, fahrbaren Betonmischers, den die Gangster erst vor einer halben Stunde an sich gebracht hatten. Der Fahrer dieses Mischers war nicht in der Lage, den Diebstahl seines Lasters anzuzeigen. Er lag gefesselt und geknebelt im Gebüsch eines kleinen Parks und hoffte, daß man ihn irgendwann fand. Der Plan der beiden zugereisten Killer war mehr als einfach. Nach dieser Methode hatten sie in der Vergangenheit schon einige Male gearbeitet und immer großen Erfolg gehabt. Man nahm mit solch einem Ungetüm aus Stahl und Gußeisen einfach den Wagen auf die Hörner, in dem sich die Opfer befanden. So einfach war das!
Nach Zusammenstößen dieser Art blieb von einem normalen Personenwagen meist kaum noch etwas übrig von den Insassen ganz zu schweigen. Nach solch einem Zusammenstoß brauchte man sich nur schleunigst zu entfernen und hatte damit bereits alle Spuren verwischt. »Noch drei Minuten«, sagte Killer Jim und rauchte gelassen seine Zigarette. »Achte auf einen Schlitten, der wie ein normales Taxi aussieht, Robert! Sobald der drüben vor dem Eingang zum Grund steht, Vollgas und drauf! So schnell haben wir unsere Mäuse noch nie verdient. « »Man kommt sich richtig albern vor«, beschwerte sich Robert, um sich dann plötzlich steil aufzurichten. »Da kommt ein Taxi!« Gangster Jim nahm sein Fernglas, das er regulär in einem Geschäft erstanden hatte, und beobachtete die Insassen des hochbeinigen Wagens, der sich einem der Eingänge näherte. »Das sind sie«, sagte er wenig später. »Am Steuer sitzt ein Butler mit schwarzem Bowler, hinten im Wagen 'ne Alte, die nur die Lady sein kann. Mensch, sind die blöd!« »Nicht mehr lange«, versprach Gangster Robert und legte den Gang ein. Er löste die Bremse und gab Vollgas. Der Betonmischer mit der noch rotierenden Mischbirne setzte sich nur langsam in Bewegung, denn hier waren Tonnen in Schwung zu bringen. Doch dann nahm der Wagen Fahrt auf, wurde schneller und brauste in Richtung Taxi, wenn auch auf der anderen Straßenseite. Gangster Robert wollte den Betonmischer erst im letzten Augenblick quer über die Straße steuern und das Taxi seitlich mit der schweren Stoßstange zermalmen, »Diese Anfänger sind völlig ahnungslos«, stellte Jim fest. »Bis es zu spät ist.« Robert hatte das Gaspedal bis hinunter auf das Bodenbrett getreten. Die Geschwindigkeit des Betonmischers war schon recht beachtlich geworden. Plötzlich aber tat sich einiges, womit die beiden Profis nicht
gerechnet hatten. Da war zuerst ein Lichtblitz, der das Tageslicht völlig schluckte. Die beiden Gangster glaubten in die Sonne zu sehen und wurden geblendet. Sie hörten das Splittern der Windschutzscheibe, dann erst ein berstendes Krachen. Sekunden später - Robert hatte längst die Gewalt über das Lenkrad verloren, weil er sich automatisch die Hände schützend vor die Augen gelegt hatte - rammte der Betonmischer eines der Kassenhäuschen, wirbelte es durch die Luft und ließ die vielen kleinen Trümmer durch die Gegend regnen. Der Betonlaster raste weiter, riß einige Absperrketten und Pfosten um und ... landete krachend vor einem schweren Betonpfeiler. Jim und Robert hatten sich instinktiv von ihren Sitzen nach unten rutschen lassen und wurden so daran gehindert, durch die zerplatzte Windschutzscheibe nach draußen zu segeln. Sie verloren jedoch das Bewußtsein. Als sie wieder zu sich kamen, fühlten sie sich gar nicht wohl. Gewiß, gesundheitliche Schäden hatten sie nicht davongetragen, von einer kleineren Gehirnerschütterung mal abgesehen, aber dennoch, sie litten. Dieses Leiden hing mit dem von Sekunde zu Sekunde immer härter werdenden Beton zusammen, in dem sie bis zu den Hüften steckten. Die Mischbirne aus Stahlblech war auseinandergeplatzt und hatte einen Großteil ihres Inhalts auf den Platz ergossen. In diesem schon sehr zähen Brei steckten die beiden Gangster, die verständlicherweise auf die Beine kommen wollten, was sie aus eigener Kraft aber nicht mehr schafften. Sie riefen laut um Hilfe, doch man hörte nicht auf sie. Lady Simpson und Butler Parker standen auf der Straße und leiteten den Verkehr um die Unfallstelle herum. Sie hatten im Moment keine Zeit für die beiden Profis, die ihrerseits das Gefühl hatten, daß man sie absichtlich überhörte und vergaß ...
»Fast eine Stunde lang haben meine Leute mit Meißel und Hammer arbeiten müssen«, beschwerte sich McWarden. »Die Betonmischung war schon fast steinhart.« »Und wie haben die beiden Betonmischfahrer ihren Unfall überstanden?« erkundigte sich Josuah Parker gemessen. »Die beiden Gangster sind natürlich noch schwer geschockt«, lautete die Antwort des Chief-Superintendent, wobei er allerdings lächelte. »Sie wissen nicht zufällig, wie es zu diesem Unfall gekommen ist?« »Es ist noch jetzt rätselhaft«, bedauerte die ältere Dame. »Plötzlich schoß dieses schreckliche Ungetüm von einem Wagen auf mich los.« »Zum Ausweichen blieben nur Zehntelsekunden, Sir«, warf der Butler ein. »Ich erlaube mir es jetzt noch als ein kleines Wunder zu betrachten, daß ein Zusammenstoß vermieden wurde.« »Ein Wunder, dem Sie nachgeholfen haben dürften, wie?« »Mit dieser Ihrer Frage, Sir, fühle ich mich überfordert.« Parker sah McWarden an, der natürlich wieder mal zufällig vorbeigekommen war und die Gelegenheit genutzt hatte, Agatha Simpson einen Höflichkeitsbesuch abzustatten. »Die beiden Männer im Beton behaupten, von einer Art Lichtblitz geblendet worden zu sein. Und dann soll auch noch irgend etwas die Windschutzscheibe zertrümmert haben.« »Eine sehr präzise Angabe«, mokierte Lady Simpson sich. »Die beiden Gangster sprechen von einer Art Rakete.« McWarden sah den Butler prüfend an. »Aber davon wissen Sie nichts, wie ich denke.« »Die beiden Unfallgeschädigten, Sir, müssen dem zum
Opfer gefallen sein, was man gemeinhin eine Halluzination nennt«, antwortete Josuah Parker in seiner höflichen Art. »Ich möchte allerdings nicht verhehlen, daß Mylady und meine bescheidene Wenigkeit durchaus den Eindruck hatten, daß der Betonmischwagen absichtlich auf meinen Privatwagen gelenkt wurde.« »Das könnte sogar stimmen, Mr. Parker. Diese beiden Männer sind den Behörden nicht gerade unbekannt.« »Was Sie nicht sagen, McWarden«, wunderte Agatha Simpson sich gespielt überrascht. »Im nachhinein muß man ja fast annehmen, daß man mich absichtlich rammen wollte.« »Sie waren mit diesen beiden Männern nicht zufällig verabredet, Mylady?« McWarden ahnte wohl, wie die Antwort ausfallen würde. Seine Frage war ohne jeden Nachdruck. »In meinem Alter verabredet man sich nicht mehr mit jungen Männern, McWarden«, erfolgte prompt ihre Antwort. »Behaupten diese beiden Subjekte etwa das Gegenteil?« »Sie streiten ab, Sie und Mr. Parker zu kennen, Mylady.« »Na also.« Lady Agatha nickte zufrieden. »Werden Sie diese beiden Verkehrsrowdies einlochen? Ich meine, für längere Zeit?« »Mit Sicherheit, Mylady. Es liegen einige Untersuchungen gegen sie vor. Die Kollegen in Manchester und Liverpool werden froh sein, wenn ich ihnen die Burschen überstelle.« »Und wann wird das geschehen?« »Sobald der restliche Beton abgemeißelt ist«, entgegnete McWarden und lächelte. »Ein toller Zufall, nicht wahr? Ausgerechnet Sie waren wieder an der richtigen Stelle.« »Das Schicksal erlaubt sich häufig recht überraschende Scherze«, schaltete Josuah Parker sich ein. »Darf ich mir erlauben, dem Gespräch eine andere und aktuellere Wendung zu geben?« »Sie wollen vom Maulwurf reden, nicht wahr?« McWarden war sofort einverstanden. »Sie haben Neuigkeiten?«
»Neuigkeiten wollen wir von Ihnen hören, McWarden«, grollte Lady Agatha. »Sie müssen doch schon längst zu gewissen Ergebnissen gekommen sein.« »Nun ja, Mylady, ich verfolge da eine bestimmte Spur.« McWarden wollte ganz offensichtlich nicht mit der Sprache heraus. »Sie werden den Maulwurf in der Geschäftsstelle oder Verwaltung des Schwurgerichts finden«, sagte Agatha Simpson beiläufig, aber sehr gezielt. »Das liegt doch auf der Hand, junger Mann! Nur dort kann dieses Subjekt sein, wie sollte es sonst an die richtigen Adressen kommen? Darüber werden Sie sich noch einige Gedanken machen müssen, McWarden.« Chief-Superintendent McWarden bekam einen roten Kopf vor Aufregung. Ihm war deutlich anzusehen, daß Agatha Simpson ins Schwarze getroffen hatte.
Lem Coltex befand sich in seiner kleinen Werkstatt und war mit sich und der übrigen Welt zufrieden. Er zweifelte keinen Moment daran, daß die beiden Profis Jim und Robert erfolgreich sein würden. Coltex wartete auf den erlösenden Anruf der beiden Männer. Als das Telefon anschlug, griff er fast gelassen nach dem Hörer und meldete sich. »Ihre beiden Freunde haben ein Eigentor geschossen«, sagte eine undeutliche Stimme. »Meine ... beiden Freunde? Wer spricht denn dort? Von wem reden Sie eigentlich?« Coltex ahnte, wer ihn da angerufen hatte; es konnte nur der Maulwurf sein. »Ich habe es fast schon geahnt, daß es so kommen würde«, redete die undeutliche Stimme weiter. »Jetzt sind Sie an der
Reihe, Coltex.« »Wer spricht denn dort?« Coltex ließ sich nicht aus der Reserve locken. Er hatte Angst, ein gewisser Butler Parker könnte ihn aufs Glatteis führen. »Wer hier spricht, wissen Sie genau, Coltex. Und Sie werden jetzt mal selbst etwas tun müssen.« »Hören Sie, ich verstehe kein Wort.« Coltex spielte stur. »Sie müssen die falsche Nummer gewählt haben.« Er legte auf, sprang hoch und lief nach vorn in das kleine Ladenlokal. Seine Hochstimmung war restlos verflogen, er hatte nur noch Angst. Jim und Robert hatten ein Eigentor geschossen? Das konnte doch nur bedeuten, daß sie von Butler Parker und Lady Simpson hereingelegt worden waren wie zum Beispiel die beiden Gangster Humbel und Slide, die er aus Gründen der Sicherheit quasi in die Wüste geschickt hatte. Nein, Coltex hatte nicht die geringste Lust, sich selbst einzuschalten, wie die undeutliche Stimme am Telefon es gefordert hatte. Er, Coltex, war kein Mann, der seine sichere Deckung verließ und gar eine Waffe in die Hand nahm. So etwas war ihm einfach zu gefährlich. Widcorne hatte sich abgesetzt, wie er inzwischen wußte, und auch Wolvers saß in Untersuchungshaft. Mit Hunt war ebenfalls nicht mehr zu rechnen, auch ihn und seine Leibwächter hatte es erwischt. Der Maulwurf hatte tatsächlich nur noch ihn: Coltex. Der Uhrmacher beschäftigte sich mit einer möglichen Reise. Warum fuhr er nicht umgehend nach Schottland? Warum, so fragte er sich weiter, sollte er sich nicht mal Paris oder Brüssel ansehen? Auch in Holland konnte man recht gut untertauchen. Mußte er unbedingt hier in London bleiben und nur darauf warten, bis die schreckliche Lady wieder erschien, oder bis ein gewisser Butler Parker seine Tricks ausspielte? Dann änderte sich die Richtung seiner Gedanken.
Coltex dachte an die immensen Beträge, die der Maulwurf bisher fast risikolos eingestrichen hatte. Wenn dieser Geheimnisvolle jetzt seine Arbeit einstellte, dann hatte die Mühe sich für ihn gelohnt. Der Maulwurf mußte inzwischen ein steinreicher Mann sein. Er hingegen, Coltex, war doch eigentlich mit einem Taschengeld abgespeist worden. Ließ sich das nicht ändern? Konnte man hier nicht so eine Art »Vermögensübertragung« vornehmen? War es nicht an der Zeit, den Maulwurf selbst mal zur Kasse zu bitten? Coltex erwärmte sich an dieser Vorstellung immer mehr. Die Frage war nur, wie er an den Maulwurf herankam. Wer mochte dieser geheimnisvolle Mann sein? Hinter welcher Maske verbarg er sich? Wie konnte er, Coltex, es schaffen, einen Blick auf den Maulwurf zu werfen? Das Telefon schlug erneut an. Coltex ließ sich diesmal Zeit, bis er sich meldete. Und prompt hörte er wieder diese undeutliche Stimme. »Legen Sie nicht noch mal auf«, sagte diese Stimme, und sie hatte einen gereizten, wütenden Unterton. »Ich finde jederzeit Leute, die sich gern ein paar Pfund nebenbei verdienen.« »Ich ebenfalls.« Coltex wurde ruppig. Instinktiv hatte er das Gefühl, zur Offensive übergehen zu müssen. »Wenn Sie mit mir reden wollen, können wir uns ja irgendwo treffen.« »Gut, abgemacht.« Der Maulwurf, falls er es war, stimmte nach kurzem Zögern zu. »Ich schlage vor, wir sehen uns mal Victoria Station an. Was halten Sie davon? Irgendwie werden wir dann schon aufeinander zukommen.« »Einverstanden, Coltex.« Der Maulwurf zögerte diesmal nicht. »Aber keine faulen Tricks«, verlangte Coltex. »Um es gleich zu sagen, ich habe bestimmte Unterlagen bei einem Freund deponiert, das heißt, ich werde das noch tun. Falls mir was passiert, gehen diese Unterlagen umgehend...»
»... an den Yard, nicht wahr?« Die Stimme des Mannes, der der Maulwurf sein konnte, klang ein wenig spöttisch. »Dann gehen diese Unterlagen an einen gewissen Mr. Josuah Parker«, korrigierte Coltex aus einer plötzlichen Eingebung heraus. »Der ist unangenehmer als der ganze Yard zusammen, finden Sie nicht auch?«
Coltex hatte wieder mal eines seiner berühmten »Pakete« geschnürt. Als er in der Halle der Victoria Station erschien, fühlte er sich recht gut abgesichert. Er hatte sich kurzfristig einen »Spezialisten« gekauft, der Fred Sandom hieß und das Urbild eines gelangweilten Rentners darstellte. In Wirklichkeit war dieser Fred Sandom ein gewiefter Beobachter, der sich für gutes Geld an die Fersen von Personen heftete, für die seine Auftraggeber sich interessierten. Fred Sandom spähte alles aus, was man von ihm erwartete. Gewalttätigkeiten lagen ihm nicht, dazu war er viel zu vorsichtig. Lern Coltex schlenderte durch die große Halle und wartete darauf, daß der Maulwurf sich zeigte. »Wo sein »Späher« Sandom war, konnte der Uhrmacher übrigens nicht ausmachen, doch das sprach wohl nur für die Qualität des Mannes. Als Coltex sich eine Zeitung kaufte, erschien neben ihm am Stand ein mittelgroßer, rundlicher Mann, der eine Brille trug und eine Aktentasche in der linken Hand hielt. Er mochte etwa fünfzig Jahre alt sein und fiel im Gedränge nicht auf. »Ich brauche eine Gartenzeitschrift«, sagte dieser Mann zu der Verkäuferin. »Zum Henker mit den Maulwurfen! Dagegen muß man doch etwas unternehmen können.« Coltex war natürlich prompt hellhörig geworden. Er musterte unauffällig den neben ihm stehenden Mann, der sich ein paar Fachzeitschriften reichen ließ, darin blätterte und dann
schließlich ein Magazin erstand. Ohne Coltex auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen, schlenderte der Maulwurfbekämpfer dann zurück in die Halle. Nun wußte Coltex Bescheid. Er klemmte sich die gekaufte Zeitung unter den Arm und folgte dem Hobbygärtner. Er war ein wenig enttäuscht, denn er hatte sich den geheimnisvollen Maulwurf doch erheblich anders vorgestellt. Wie ein raffinierter Gangster sah dieser Mann wirklich nicht aus. Der Hobbygärtner verließ die Bahnhofshalle und überquerte den Vorplatz. Er verschwand in einer Teestube, die Coltex natürlich auch aufsuchte. Er setzte sich an den Tisch des Mannes und bestellte sich Tee und einen Sandwich. Man kam völlig unauffällig und wie selbstverständlich ins Gespräch. Auch ein aufmerksamer Beobachter hätte nur an einen Zufall geglaubt. »Enttäuscht, nicht wahr?« fragte der Maulwurf, nachdem der Tee vor ihnen stand. »Ich bin sicher, daß Sie in Wirklichkeit anders aussehen«, erwiderte Coltex. »Darauf können Sie sich verlassen. Man kann nicht vorsichtig genug sein.« »Die ganze bisherige Vorsicht hat bisher nichts eingebracht. Wie soll ich Sie nennen?« »Smith«, sagte der Maulwurf und lächelte breit, wobei er einige Goldzähne zeigte, was Coltex sich natürlich sofort einprägte. »Zugegeben, Coltex, wir hatten in den vergangenen Stunden ein wenig Pech.« »Pech? Das war eine Katastrophe am laufenden Band«, berichtigte Coltex ärgerlich. »Sie wissen genau, wer da alles abgebucht worden ist. Hunt und seine beiden Leibwächter sitzen, Wolvers hat sich hereinlegen lassen, und Widcorne ist verschwunden, von den anderen Leuten ganz zu schweigen. Ich will Ihnen mal was sagen, Smith, Sie haben diesen Parker
völlig unterschätzt.« »Trauen Sie sich zu, ihn auszuschalten, Coltex?« »Das dürfte nicht gerade billig sein, Smith.« »Darüber sollten Sie sich keine Sorgen machen, Coltex.« Der Maulwurf lächelte ein wenig überheblich. »Das Geld für die beiden Spezialisten liegt noch im Schließfach«, erinnerte Coltex. »Aber den Schlüssel dazu haben Jim und Robert, das sind die Leute, die eben erst ein Eigentor geschossen haben.« »Dieses Geld gehört Ihnen, Coltex. Ich denke, Sie werden es inzwischen schon aus dem Schließfach geholt haben.« »Wie .. . Wie kommen Sie denn darauf?« Coltex bekam ein rotes Gesicht. »Weil ich Sie für clever halte, Coltex.« Der Maulwurf lächelte. »Sie haben den beiden angereisten Männern doch bestimmt ein Duplikat gegeben.« »Okay, Sie liegen richtig.« Coltex räumte sofort ein, daß er das Geld aus dem Schließfach geholt hatte. Es war so gewesen, wie der Maulwurf gerade gesagt hatte: Er hatte Jim und Robert ein schnell angefertigtes Duplikat ausgehändigt. Coltex hatte nämlich für den Fall vorgesorgt, daß auch diese beiden Spezialisten Schiffbruch erlitten. In solch einem Fall konnte das Geld ja nicht herrenlos in einem Schließfach herumliegen. »Über diesen Betrag hinaus bekommen Sie noch mal eine fette Prämie«, sagte der Mann, der sich Smith nannte. »Sie werden zufrieden sein, Coltex, aber schaffen Sie mir endlich den Butler und die Lady vom Hals.« »Ich denke, wir werden die Sache schon schaukeln, Smith. Ich bin ja schließlich Uhrmacher.« »Falls Sie es schaffen, Coltex, erwäge ich eine Gewinnbeteiligung für die Zukunft«, sagte der Maulwurf jetzt. »Über die Einzelheiten könnte man sich noch unterhalten.« »Mit der Uhrmacherei läßt sich viel machen«, pries Coltex seine Fähigkeiten. »Sie wissen schon, was ich meine, nicht
wahr? Zeitzünder und so! Die könnte man Zeugen und Geschworenen in Zukunft in die Wohnungen schicken.« »Genau das, woran ich denke, Coltex.« Der Maulwurf nickte. »Dieses Intermezzo, Parker - Lady Simpson, wird ja wohl bald beendet sein, oder?« »Dafür verbürge ich mich, Smith.« Coltex nickte. »Hauptsache, Sie bleiben im Geschäft.« »So eine Geldquelle gibt man nicht freiwillig auf, Coltex. Die soll noch so lange sprudeln, bis wir restlos saniert sind.« Die beiden Ehrenmänner unterhielten sich noch eine Weile, dann verabschiedete sich der Maulwurf. »Moment noch«, sagte Coltex. »Wie verständigen wir uns in Zukunft?« »Ich werde anrufen«, erwiderte der Maulwurf. »Und noch etwas, Coltex, versuchen Sie nicht herauszufinden, wer ich bin und wo ich wohne. In diesem Fall würde ich mich von Ihnen trennen.« »Keine Sorge, ich respektiere meine Geschäftspartner, Smith.« »Und wie ist das mit den angeblichen Unterlagen, die Sie bei einem Freund deponiert haben?« »Vergessen Sie's, Smith!« Coltex lächelte und griff nach seiner Teetasse. »Der Mensch redet viel, wenn der Tag lang ist.« »Hatte ich mir fast schon gedacht.« Der Maulwurf lächelte und verschwand wenig später auf der Straße.
»Ich werde Mr. Parker bitten, Ihnen ein Zimmer herzurichten«, stichelte Agatha Simpson, als McWarden den Salon betrat. Chief-Superintendent McWarden lächelte ein wenig müde und nahm Platz, nachdem die Hausherrin auf
einen Ledersessel gedeutet hatte. »Coltex ist um ein Haar umgebracht worden«, sagte er. »Wiederholen Sie das noch mal!« Lady Agatha richtete sich steil auf, dann schaute sie zu Parker hinüber, dessen Gesicht jedoch ausdruckslos wie immer blieb. »Wurde Mr. Coltex nicht von Ihren Mitarbeitern überwacht, Sir?« erkundigte sich Parker dann höflich. »Er traf sich in der Victoria Station mit einem Mann«, berichtete McWarden. »Und natürlich wurde Coltex beschattet. Er und dieser andere Mann setzten sich in eine Teestube und gerieten scheinbar zufällig miteinander ins Gespräch.« »Er wird sich mit dem Maulwurf getroffen haben«, vermutete die Detektivin sofort. »Ist dieser Mann verfolgt worden?« »Das schon, Mylady.« Chief-Superintendent McWarden nickte, wirkte aber nach wie vor nicht sonderlich glücklich. »Er konnte seine Verfolger aber abhängen. Ihr Wagen wurde in einen Unfall verwickelt. Ob der nun bestellt war oder nicht, muß sich erst noch herausstellen.« »Und was passierte mit Coltex?« Agatha Simpson sah McWarden schon strafend an. »Er brach plötzlich an seinem Tisch zusammen.« »Vergiftet, nicht wahr?« »Vergiftet«, bestätigte der Chief-Superintendent. »Coltex wurde sofort ins Spital geschafft, wo man ihm den Magen auspumpte. Die Ärzte geben ihm eine Chance.« »Wunderbare Arbeit«, spottete die Sechzigjährige. »Da könnten einem ja direkt die Tränen kommen, McWarden. Sie stehen also mit leeren Händen da: Der Maulwurf ist Ihnen entwischt, und Coltex hat eine kleine Chance, mit dem Leben davonzukommen. Sie können wieder mal sehr stolz sein.« »Mr. Coltex konnte natürlich noch nicht verhört werden, Sir, oder?« erkundigte Parker sich. »Das war bisher ausgeschlossen. Aber selbst wenn, Mr.
Parker, was soll er aussagen? Ich glaube nicht, daß er weiß, wer der Maulwurf ist.« »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, wo er zu finden ist, junger Mann.« Agatha Simpson sah den Chief-Superintendent ungnädig an. »Warum durchleuchten Sie nicht die Geschäfts oder Poststelle des Gerichts? Dort werden Sie dieses Subjekt finden!« »Diese Durchleuchtung findet ja längst statt, Mylady.« »Und das Ergebnis?« »Keine gesicherten Erkenntnisse, Mylady.« McWarden hob die Schultern und stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Es gibt eine Menge von verdächtigen Personen, aber mehr auch nicht.« »Die Situation, Sir, dürfte sich mit der Ausschaltung des Mr. Coltex zuspitzen«, ließ der Butler sich vernehmen. »Sie meinen, der Maulwurf bricht seine Zelte ab?« McWarden fühlte sich bei dieser Vorstellung keineswegs getröstet.« »Dies, Sir, wird die nahe Zukunft lehren«, erwiderte Parker. »Ich möchte allerdings annehmen, daß der sogenannte Maulwurf ab sofort ohne Hilfskräfte arbeiten wird.« »Aber irgendwie wird er die zukünftigen Zeugen und Geschworenen doch einschüchtern müssen? Warum hat er das bisher nicht allein getan? Glauben Sie, daß er inzwischen gelernt hat?« »Durchaus, Sir. Wahrscheinlich wird er sich neuerer und wirksamerer Methoden bedienen, die möglicherweise sehr blutig sein können.« »Daran darf ich gar nicht denken.« McWarden wischte sich erste Schweißperlen von der Stirn. »Wann wird es denn den nächsten, wichtigen Prozeß geben, in den dieser Maulwurf sich einmischen könnte?« fragte Lady Simpson. »Ich habe jetzt die genauen Termine«, lautete McWardens
Antwort. »Kommenden Montag beginnt vor dem Schwurgericht ein Mordprozeß. Angeklagt ist ein Rauschgifthändler, Mylady, kein kleiner Dealer, sondern ein Großverteiler.« »Und was wirft man ihm vor?« »Abgesehen vom Rauschgiftdelikt, Mylady, einen zweifachen Mord. Er soll zwei Konkurrenten niedergeschossen haben. Ich könnte mir gut vorstellen, daß dieser Mann sich an den Maulwurf gewandt hat.« »Wie heißt dieses Subjekt?« »Ron Feavers, Mylady.« »Sind die Vorladungen an die Zeugen schon rausgegangen, McWarden?« fragte Agatha Simpson zielsicher weiter. »Sind die Geschworenen schon bestellt?« »Die Ladungen sind bereits ergangen, Mylady, aber es kann ja immer noch zu Änderungen kommen, falls ein Geschworener aus plausiblen Gründen nicht erscheinen kann.« »Der Maulwurf, Mylady, dürfte sich erst in dem Moment einschalten, in dem der Prozeß begonnen hat«, schaltete Josuah Parker sich gemessen ein. »Ich möchte annehmen, Sir, daß die Geschworene n diesmal besonders überwacht und geschützt werden?« »Worauf Sie sich verlassen können, Mr. Parker. Aber was hilft das? Weiß der Himmel, welche Methoden der Maulwurf sich diesmal ausgedacht hat, um die Geschworenen einzuschüchtern. Ich mache mir nichts vor, wir stehen wieder da, wo wir gestanden haben. Wir sind nicht einen Schritt weitergekommen. « »Sie lassen den Kopf zu schnell hängen, McWarden«, erwiderte die ältere Dame aufmunternd. »Ich denke, daß es diesen Maulwurf schon in allerkürzester Zeit nicht mehr geben wird.« »Sie ... Sie haben eine heiße Spur?« »Papperlapapp, McWarden, dann hätten wir Sie ja längst
informiert.« Lady Simpson schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Es ist nur mein Gefühl, verstehen Sie? Ich spüre, daß die Stunde dieses Gangsters bald schlagen wird.« »Ihren Optimismus möchte ich haben, Mylady.« »Denken Sie an meine Worte!« Sie erhob sich und verließ hoheitsvoll den Salon. Mylady hatte nämlich keine Ahnung, warum und wieso die erwähnte Stunde des Maulwurfs schlagen sollte, aber das brauchte sie ja nicht deutlich werden zu lassen. Ihr kam es darauf an, McWardens weiteren Fragen zu entgehen. »Besteht Hoffnung?« erkundigte sich McWarden, als er mit Josuah Parker allein war. »Die sollte man niemals aufgeben, Sir«, gab Parker ausweichend zurück und geleitete den Chief-Superintendent zur Haustür. »Meiner bescheidenen Ansicht nach wird der Maulwurf sich jetzt verstärkt mit Mylady und meiner be scheidenen Wenigkeit beschäftigen, um das zu erreichen, was man gemeinhin freie Bahn zu nennen pflegt.« »Hoffentlich geht er bald auf Sie los, Mr. Parker«, sagte McWarden. »Ich hoffe ja nicht, daß Ihnen was passiert, Sie verstehen schon, aber da liegt tatsächlich unsere einzige Chance.«
Fred Sandom, der Mann, der wie ein gelangweilter Rentner aussah, hatte alles genau mitbekommen. Er stand auf einer Straße in Soho und ärgerte sich maßlos. Er hatte die Spur verloren. Der Mann, der aus der Teestube gekommen war, hatte ihn geschickt abgeschüttelt. Es war für Sandom nur ein schwacher Trost, daß auch die Kriminalbeamten von diesem Mann abgehängt worden waren. Sandom hatte die Detektive natürlich
schnell entdeckt und identifiziert. Solche Dinge waren für ihn schon reine Routine. Der angebliche Rentner hatte sich eine billige Zigarre angezündet und ging zurück zu seiner Wohnung, die ebenfalls in Soho lag. Er kam an der Teestube vorbei und merkte, daß sich hier einiges ereignet hatte, während er unterwegs war. Wenig später wußte er Bescheid. Sein Geldgeber Coltex war mit einer schweren Vergiftung ins Hospital geschafft worden. Fred Sandom war ehrlich betroffen und schaltete blitzschnell. Coltex' Gesprächspartner mußte das Gift verabreicht haben. Der Uhrmacher schien sich da auf eine mörderische Sache eingelassen zu haben. Und plötzlich war der angebliche Rentner heilfroh, daß er abgeschüttelt worden war. Mit Gift und Mord wollte er wirklich nichts zu tun haben, das entsprach nicht seinem Lebensstil. Dann aber, er hatte die nächste Straßenecke erreicht, durchfuhr ihn so etwas wie ein elektrischer Schlag. Dort drüben ging genau der Mann, mit dem Coltex sich getroffen hatte. Eine Verwechslung war ausgeschlossen. Das war der Mann! Er war mittelgroß, rundlich und trug eine Brille. Unter dem Arm hielt er noch das Magazin, das er in der Bahnhofshalle gekauft hatte. Fred Sandom überlegte fieberhaft, wie er sich verhalten sollte. War es sinnvoll, die Verfolgung wieder aufzunehmen? Oder war die Sache für ihn erledigt, zumal Coltex ja vorerst nicht zahlen würde? Wie groß war das Risiko, wenn er diesen Mann beschattete? Der Rundliche mit der Brille auf der Nase ging inzwischen weiter und fühlte sich mit Sicherheit unbeobachtet. Er rauchte eine Zigarette und kaufte später in einem Gemüsegeschäft Obst. In der Nähe der Poland Street betrat er dann ein altersschwach aussehendes Bürohaus. In Fred Sandom kämpfte die Gier mit der Vorsicht.
Er war einem Mörder auf der Spur, der zumindest versucht hatte, Coltex zu vergiften. Was würde Coltex, wenn er durchkam, für einen heißen Tip zahlen? Den ließ er sich doch sicher ein kleines Vermögen kosten. Sandoms Gier siegte. Er schob sich unauffällig an den Eingang des Bürohauses heran und hatte das Glück, auf einen Hausmeister zu stoßen, der gerade oberflächlich die Treppe kehrte. »Hier ging doch gerade Mr. Rinters rein, oder?« fragte Sandom nach der uralten Regel des Bluffs. »Der kleine Dicke mit der Brille.« »Nee, das war Mr. Smetters«, erwiderte der Hausmeister arglos. »Ach so, Smetters.« Sandom nickte. »Smetters von der United Housekeeping, wie?« »Nee, das stimmt wieder nicht. Smetters hat hier 'n Büro für Poster und so«, erklärte der Hausmeister. »Sie liegen völlig falsch, Mann.« »Kann ja mal vorkommen.« Sandom lächelte. »Ich werd' mir 'ne Brille zulegen müssen.« Er nickte dem Hausmeister zu und verließ den Hauseingang. Mehr brauchte er vorerst nicht zu wissen. Bei einem Bier galt es jetzt zu überlegen, welchen Kurs er anlegte. Was ließ sich mit dieser Information anfangen? Wie konnte man sie in klingende Münze verwandeln? Man sagte es ihm, als er nach einem längeren Aufenthalt in einem Pub in seine kleine Wohnung zurückkehrte. Fred Sandom befand sich in der Küche und wollte sich aus dem Eisschrank eine Dose Bier holen, um noch mal alles gründlich zu überdenken, als er plötzlich ein Hüsteln hörte. Er fuhr herum und ... sah in den Lauf einer Pistole, die mit einem Schalldämpfer ausgerüstet war. Hinter dieser Pistole stand der Dickliche. Seine Augengläser glitzerten tückisch.
»Mylady mögen die fast unverzeihliche Störung entschuldigen«, sagte Josuah Parker, nachdem er das Studio seiner Herrin betreten hatte. »Ich bin mir durchaus bewußt, Myladys schöpferische Phase empfindlich unterbrochen zu haben.« Diese Feststellung war eine klare Übertreibung, denn von einer schöpferischen Phase konnte überhaupt keine Rede sein. Lady Agatha saß zwar vor ihrer ungemein modernen und elektrischen Schreibmaschine, die sie sich für die Niederschrift ihres geplanten Bestsellers gekauft hatte, aber sie war schlicht und einfach davor eingenickt. Sie fuhr jetzt hoch und faßte sich sofort. Sie warf ihrem Butler einen grollenden Blick zu. »Gerade wollte ich anfangen«, beschwerte sie sich. »Was gibt es denn, Mr. Parker?« »Ein meiner bescheidenen Schätzung nach wichtiger Anruf, Mylady.« »Um diese Zeit?« »Dieser Anruf, Mylady, bezog sich auf den Maulwurf, wenn man es recht betrachtet.« »Und wer hat angerufen? Ist McWarden mir etwa zuvorgekommen? Das wäre ja schrecklich!« »Der Anrufer war ein gewisser Fred Sandom, Mylady. Besagter Mr. Sandom ist in Kreisen der Unterwelt als eine Art Späher oder Spitzel bekannt. Er behauptet, von Mr. Coltex für den späten Nachmittag engagiert worden zu sein. Er weiß angeblich, von wem Mr. Coltex vergiftet worden ist.« »Das ist ein Trick, Mr. Parker, haben Sie das noch nicht durchschaut?« »Von einer Falle sollte man in der Tat ausgehen, Mylady.« »Was hat denn dieser Lümmel am Telefon sonst noch
gesagt?« Agatha Simpson gewann diesem Thema mehr und mehr Interesse ab. »Besagter Sandom möchte für seine weiteren Informationen natürlich bezahlt werden, Mylady, etwas, was in Aussicht zu stellen ich mir erlaubte.« »Es gibt also diesen Sandom, sagten Sie?« »Dieser Mann existiert wirklich, Mylady. Wie bereits angedeutet, verdient er sich seinen Lebensunterhalt damit, gewisse Beobachtungen vorzunehmen. Ich könnte mir durchaus vorstellen, daß Mr. Coltex sich der Dienste des Mr. Sandom versicherte.« »Wozu sollte er das getan haben, Mr. Parker?« »Mr. Coltex traf sich offensichtlich mit dem oft zitierten Maulwurf, Mylady. Dies erscheint um so zwingender, als Mr. Coltex der einzige Mitarbeiter des Maulwurfs ist beziehungsweise war, der noch als einsatzfällig gelten konnte.« »Natürlich, das sage ich doch die ganze Zeit.« »Der Maulwurf dürfte sich mit Mr. Coltex getroffen haben, um weitere Maßnahmen zu besprechen, ihn in Wirklichkeit aber aus dem Weg zu räumen, wie man inzwischen ja durch die bekannten Ereignisse in der Teestube weiß.« »Und Coltex hat sich absichern wollen und darum dieses Subjekt engagiert, nicht wahr?« »Mylady hätten es nicht zwingender ausdrücken können.« »Dann könnte dieser, wie heißt er noch...?« »... Fred Sandom, Mylady.« »Dann könnte dieser Sandom also doch wissen, wo der Maulwurf sich versteckt hält.« Agatha Simpson nickte nachdenklich. »Wann will er uns die Adresse dieses Gangsters verraten?« »Noch in dieser Nacht, Mylady. Nach Erhalt der nicht unbeträchtlichen Geldsumme möchte Mr. Sandom Urlaub auf dem Land machen, wie er sich ausdrückte. Er scheint eine gewisse Furcht vor dem Maulwurf zu hegen.«
»Woher weiß dieser Lümmel aber, daß wir an diesem Fall arbeiten?« Die ältere Dame sah den Butler triumphierend an. »Aha, daran haben Sie noch gar nicht gedacht, wie?« »Mr. Coltex könnte ihn vorher über Myladys Interessen unterrichtet haben, quasi für den Fall des Falles.« »Natürlich, das wollte ich gerade auch sagen, Mr. Parker. Aber auf den Gedanken, daß dieser Lümmel für den Maulwurf arbeitet, sind Sie noch nicht gekommen, gestehen Sie es ein!« »Dies, Mylady, würde an der Tatsache nichts ändern«, lautete Parkers würdevolle Antwort. »Sandom ist zur Zeit die einzige Brücke, die zum Maulwurf führt. Und diese Brücke sollte man, wenn mir ein Rat erlaubt ist, betreten.«
»Da sind Sie ja endlich«, sagte Fred Sandom und atmete sichtlich auf. »Ich dachte schon, Sie hätten's sich anders überlegt.« »Ihre Information«, antwortete Parker, der sein hochbeiniges Monstrum in der Nähe einer Straßenlaterne geparkt hatte. »Wer is' das da im Wagen?« wollte Sandom wissen. Er war mißtrauisch und nervös. »Lady Simpson, natürlich«, antwortete Parker. »Aber zurück zu meiner Frage.« »Zuerst die fünfhundert Pfund«, forderte der kleine Gauner, der wie ein Rentner aussah. »Hier, wenn ich bitten darf, Mr. Sandom.« Parker reichte dem Mann einen Briefumschlag. »Sie können selbstverständlich nachzählen.«
»Ich werd' Sie doch nich' beleidigen«, meinte Sandom und steckte den Briefumschlag ein. »Sie legen mich nich' rein, das weiß ich.« »Und nun Ihre Information, Mr. Sandom. Ich hoffe, Sie spielen Ihrerseits ein sauberes Spiel, wie es wohl in Ihren Kreisen heißt.« »Der Kerl heißt Smetters«, berichtete Sandom hastig und nannte die Adresse des schäbigen Bürohauses. »Smetters prägen Sie sich den Namen ein! Er hat ein Büro im zweiten Stock, und da wohnt er auch, gleich nebenan.« »Sie sind sicher, daß dieser Mr. Smetters sich mit Coltex unterhielt?« »Ich hab doch Augen im Kopf«, antwortete Sandom fast aufgebracht. »Coltex hat mir extra gesagt, ich sollte Sie anrufen, wenn ihm mal was passiert, Sie wüßten dann Bescheid.« »Ein Hinweis, den man als ausgesprochen weise bezeichnen sollte«, gab der Butler gemessen zurück. »Ich wünsche Ihnen einige erholsame Tage auf dem flachen Land.« »Ich werd' mich sofort verdrücken«, antwortete Sandom, der die ganze Zeit über recht laut gesprochen hatte. Er wandte sich ab und flüsterte dann plötzlich ein sehr leises >Achtung, Mord!<« Josuah Parker reagierte überhaupt nicht darauf. Er schritt zurück zu seinem hochbeinigen Monstrum, setzte sich ans Lenkrad und fuhr los. Agatha Simpson im Fond des Wagens saß hoheitsvoll in den weichen Polstern und sah sich interessiert die inzwischen nächtliche Szene an. Nein, es handelte sich nicht um eine Puppe, die dort saß, es war eine Frau aus Fleisch und Blut.
Parker drückte die Tür zum Bürohaus auf und schritt auf die Steintreppe zu. Einen Lift gab es hier nicht. Im Haus waren die üblichen Geräusche zu hören: Radios spielten, Fernsehgeräte waren eingeschaltet und sogar das Klappern von Schreibmaschinen war aus einigen Büros zu vernehmen. Parker erreichte das zweite Geschoß und brauchte nicht lange zu suchen, bis er das Schild eines Mr. Smetters gefunden hatte. Er legte sein Ohr gegen die Türfüllung, doch zu hören war nichts. Natürlich hatte der Butler noch die leise Warnung seines Informanten im Ohr. Fred Sandom hatte bestimmt nicht geblufft, sondern seinen neuen Geldgeber ehrlich vor einem Mordanschlag warnen wollen. Und er hatte wahrscheinlich das Gespräch deshalb so laut geführt, weil er sich beobachtet fühlte. Bestimmt hatte sich in nächster Nähe, wenn auch versteckt, der Maulwurf aufgehalten. Dieser Gangster hatte erstaunlicherweise nicht versucht, einen heimtückischen Schuß auf ihn abzufeuern. Das deutete nach Parkers Ansicht daraufhin, daß der Maulwurf nicht aus der Unterweltszene stammte. Es mußte sich um einen Mann handeln, der ein Außenseiter war und sich keinen sicher gezielten Schuß zutraute. Es konnte natürlich auch sein, daß er darauf aus war, nicht nur ihn, Josuah Parker, zu erledigen, sondern möglichst gleichzeitig auch Agatha Simpson. Und sie hatte sich immerhin im Wagen befunden, wäre also nur sehr schwer ebenfalls zu treffen gewesen. Josuah Parker verstand sich auf Türschlösser aller Art. Ein hochbezahlter Spezialist der Branche hätte bei ihm noch in die
Lehre gehen können. Parker zog sein- kleines Besteck aus der Hosentasche und stocherte erst mal mit einem dünnen Laubsägeblatt im Türschloß herum. Er wollte feststellen, ob sich auf der anderen Seite so etwas wie eine Sprengladung befand, die beim öffnen hochging. Nun, dies schien nicht der Fall zu sein. Josuah Parker wählte ein anderes Instrument, nämlich einen seiner Spezialkugelschreiber. Er schob ihn ins Schlüsselloch, um dann den Halteclip senkrecht nach oben zu klappen. Dann begab er sich ohne jede unnötige Hast in die Deckung der Korridorwand und wartete. Es dauerte genau drei Sekunden, bis plötzlich ein gleißend heller Lichtschein aufleuchtete; ein scharfes Zischen war zu hören, dann roch es nach einer Art Blitzlichtpulver. Parker ging zurück zur Tür und drückte sie mit der Spitze seines altväterlich gebundenen Universal-Regenschirms auf. Die winzig dosierte Thermitladung im Kugelschreiber hatte das Schloß samt Halterung förmlich aus dem Türholz heraustropfen lassen. Parker öffnete jetzt eines der Korridorfenster und ließ die wenigen Schwaden abziehen. Dann schaltete er das Licht ein und betrat das Büro des Mr. Smetters. Es war durchschnittlich eingerichtet und bot keine Überraschungen. Es gab ein paar Rollschränke, einen alten Schreibtisch, ein Tischchen, auf dem eine noch ältere Schreibmaschine stand, und dann eine abgewetzte Sitzgruppe in Fensternähe. Parker ging zur Verbindungstür, die nur angelehnt war. Er drückte sie mit der Spitze seines Schirms auf, trat dabei dicht an die Wand. Auch jetzt tat sich nichts. Versteckte Sprengsätze schien Smetters nicht angebracht zu haben. Seine Mordabsichten schienen anderer Art zu sein. Hinter der aufgeschwungenen Tür befand sich die kleine, Wohnung, die aus einem einzigen größeren Raum und einer
Küchenecke bestand. Daneben gab es ein winzig kleines, fensterloses Badezimmer. Alles schien unverdächtig zu sein. Natürlich bedauerte Parker es ungemein, sich auf diese Art und Weise Zutritt verschafft zu haben. Immerhin war das, was er getan hatte, ungesetzlich. Er nahm sich vor, sich später zu entschuldigen und für den Schaden aufzukommen. Parker ging zurück ins Büro und wollte sich gerade daran machen, nach Spuren zu suchen, die ihm mehr über diesen Smetters sagten, als das Telefon läutete. »Ja, bitte?« fragte er, nachdem er abgehoben hatte. Er ahnte bereits, daß dieser Anruf ihm galt. Immerhin hatte Sandom ihm ja eine Warnung zukommen lassen. »Hier spricht der Maulwurf«, meldete sich eine undeutliche Stimme, die ironisch und auch ein wenig triumphierend klang. »Ich erwarte Sie im Museum für Geologie und Vorgeschichte, Parker. Sie werden da ein interessantes Fossil finden, das sich nach Ihnen sehnt. Machen Sie sich möglichst schnell auf den Weg, Parker, sonst könnte ich die Geduld verlieren! Ja, und noch etwas, Sie werden natürlich allein kommen, sonst ist das Fossil erledigt ...« »Mylady wird mit dieser Art der Bezeichnung kaum einverstanden sein«, antwortete Josuah Parker förmlich, doch auf der Gegenseite wurde bereits aufgelegt.
Parker war das Museum bekannt, das der Maulwurf genannt hatte. Es stand im Stadtteil Bloomsbury, nördlich von Soho, war in einem ehemaligen Kinogebäude untergebracht und wurde von einer privaten Gesellschaft betrieben, die durchaus Anspruch auf Seriosität nehmen konnte. Um möglichst viele Menschen für dieses private Museum zu
interessieren, war es sehr publikumswirksam gestaltet worden: Es gab hier künstlich nachgestaltete Höhlen, Grotten und Felsspalten, die den Originalen in der freien Natur entsprachen. Es gab hier Felszeichnungen, Nachbildungen von Höhlenmenschen und Tieren, die seinerzeit mal gelebt haben. Großstadtbewohner hatten hier die Möglichkeit, in die Frühgeschichte der Menschheit zurückzugehen und kamen voll auf ihre Kosten. Nach dem Telefonanruf betrat Parker wieder die Straße und wunderte sich kaum, daß sein hochbeiniger Wagen inzwischen verschwunden war. Der Maulwurf mußte ihn samt Agatha Simpson entführt haben. Warum er die Detektivin in dieses Frühzeitmuseum entführt hatte, konnte Parker sich zur Zeit noch nicht erklären. Er winkte ein Taxi ab und ließ sich nach Bloomsbury bringen, was nur eine knappe Viertelstunde dauerte. Unweit des Museums stieg er aus, entlohnte den Fahrer und näherte sich dem Privatmuseum, das um diese Zeit natürlich geschlossen war. Nur die Tür zum Verwaltungstrakt war geöffnet, wie der Butler es schon vermutet hatte. Der Maulwurf tat alles, um ihm das Betreten des großen Gebäudekomplexes zu erleichtern. Er wartete irgendwo im Museum darauf, ihn umzubringen. »Schließen Sie die Tür, Mr. Parker«, ertönte plötzlich eine Stimme. Sie kam aus einem der Lautsprecher der Kommunikationsanlage. »Schalten Sie kein Licht ein, benutzen Sie die Taschenlampe, die Sie auf der Treppe finden, gehen Sie in die Eiszeitgrotte!« Parker schloß die Tür und fand wenig später auch die Taschenlampe. Er nahm sie in die Hand, doch er hütete sich, sie einzuschalten. Er wußte ja schließlich nicht, welche Überraschungen sie barg. Er bediente sich da lieber der Kugelschreibertaschenlampe, die er mit sich führte. Sie war tatsächlich mit einem normalen Kugelschreiber zu
verwechseln, aber sie lieferte einen feinen, scharfen Lichtstrahl. Parker leuchtete damit seinen Weg aus, fand die Hinweisschilder, ging eine Treppe hinunter und stand dann vor dem Eingang, der in die Eiszeitgrotte führte. Die Täuschung war perfekt. Schon nach wenigen Metern fühlte er sich in eine fremdartige und irgendwie auch unheimliche Welt versetzt. Er befand sich in einer Tropfsteinhöhle, deren Wände mit Felszeichnungen bedeckt waren. Es gab Stalagmiten und Stalaktiten, Tropfsteinsäulen, die entweder vom Boden oder von den Gewölben wuchsen, es gab einen künstlichen See, eine Feuerstelle mit rauchgeschwärzter Höhlendecke und schließlich einige Vorzeitmenschen, die nur mit Fellen bekleidet waren. Das alles wurde von verdeckt angebrachten Leuchtbändem oder Punktstrahlern förmlich aus der Dunkelheit herausgeschnitten. Die eigentliche Überraschung jedoch stellte sich ein paar Augenblicke später ein. Zwei Handscheinwerfer flammten auf und strahlten eine stattlich aussehende Dame an, die man mittels einiger handfest aussehender Stricke an Tropfsteingebilden festgezurrt hatte. »Bleiben Sie stehen, Parker«, sagte von irgendwoher eine Stimme, die jetzt nicht mehr undeutlich, sondern eindeutig triumphierend und hohnvoll klang. »Ihr Wunsch muß mir Befehl sein«, sagte Parker in das Gewirr der Tropfsteingebilde. Er hatte immer noch nicht herausfinden können, wo der Maulwurf sich verbarg. »Das will ich Ihnen auch geraten haben, Parker«, erwiderte die Stimme. »Ich habe Sie genau im Visier, Lady Simpson ebenfalls. Machen Sie also keine Dummheiten!« »Ich habe es vermutlich mit dem Maulwurf zu tun, nicht wahr?« Parker blieb stehen. »Mit dem Maulwurf.« »Endlich begreife ich, warum Sie sich diesen Namen
zugelegt haben«, redete Parker weiter. »Er ist gut gewählt, wie ich versichern möchte.« »Sie haben mich also doch unterschätzt«, sagte der Maulwurf von irgendwoher. »Im Gegensatz zu den Profis, die Sie einzusetzen beliebten.« Parker deutete ein knappes Nicken an. »Profis haben keine Phantasie«, erwiderte die Stimme des Maulwurfs aus dem Dunkel der Grotte. »Hier können wir jetzt ungestört miteinander abrechnen.« »Sie beabsichtigen, Mylady und meine bescheidene Wenigkeit zu ermorden?« Parker hatte sich noch immer nicht von der Stelle gerührt. Er ging davon aus, daß tatsächlich der Lauf einer Schußwaffe auf ihn gerichtet war. »Ich lasse mir mein Geschäft nicht vermiesen«, entgegnete der Maulwurf von irgendwoher. »Blicken Sie mal nach rechts! Stoßen Sie mit der Spitze Ihres Regenschirms eine der Handlampen nach rechts! Dann werden Sie was auf dem Boden entdecken...« Parker folgte diesem Befehl und wurde nicht enttäuscht. Im Licht der Handlampe sah er eine Zündschnur, die auf dem nachgebildeten Grottenboden lag und an eine lange, dünne Schlange erinnerte. Sie führte auf ein paar Kisten zu, deren Inhalt laut aufgedruckter Schrift recht explosiv sein mußte. »Beabsichtigen Sie möglicherweise, Mylady und meine bescheidene Wenigkeit in die Luft zu sprengen?« erkundigte Parker sich in seiner unnachahmlich höflichen Art. »Vielleicht bluffe ich auch nur«, meinte die Stimme selbstgefällig. »Ihr Sinn für Bluff ist ja stark ausgeprägt, Parker. Zünden Sie die Lunte an! Falls nicht, werde ich sofort auf Mylady schießen ...« »Sie lassen Mylady und meine bescheidene Person also im unklaren darüber, ob die Kisten dort wirklich Sprengstoff enthalten oder nicht? Habe ich Sie so richtig verstanden?« »Ich sagte ja schon, Sie haben einen ausgeprägten Sinn für
Bluff«, gab die Stimme von irgendwoher zurück. »Lassen Sie sich überraschen! Nun zünden Sie schon die Lunte an! Ich gebe Ihnen genau fünf Sekunden Zeit.«
Butler Parker mußte sich dieser Order beugen, wenn er Mylady nicht sofort schon umbringen lassen wollte. Die Absicht des Maulwurfs war teuflisch. Er wollte mit seinen beiden Opfern spielen und sie durch alle Höllen der Angst jagen. Er machte ihnen hier eine mörderische Rechnung auf. Sprengstoff oder nicht, das war die Frage! Lady Simpson saß unverrückbar fest an dem Tropfsteingebilde und konnte jederzeit durch einen gezielten Schuß getötet werden. Parker mußte also die Lunte anzünden in der Hoffnung, daß die Kisten keinen Sprengstoff enthielten. Er griff in die Tasche seines schwarzen Zweireihers, holte ein geradezu vorsintflutlich altes Feuerzeug hervor und ... zündete die Lunte an. Dann aber, fast gleichzeitig zu dieser Bewegung, schleuderte er einen seiner Spezialkugelschreiber in die Tiefe der Grotte. Ein stechend greller, gleißender Lichtblitz leuchtete den letzten Winkel der Grotte aus. Selbst Parker war für einen Moment geblendet, doch er hatte sich genau eingeprägt, wo Mylady stand. Er war mit ein paar Schritten neben ihr, prallte förmlich mit ihr zusammen und zerschnitt mit fast traumhafter Sicherheit die Stricke, die ihren fülligen Oberkörper am Tropfsteingebilde festhielten. Dann fiel ein Schuß! Kalksplitter spritzten durch die Luft. Dort, wo eben noch der Oberkörper gewesen war, hatte sich das Geschoß in die Tropfsteinsäule gebohrt.
Ein paar weitere Schritte, und Lady Simpson lag flach auf dem Boden. Parker schlug mit dem bleigefütterten Griff seines Regenschirms die beiden Handlampen zur Seite, wobei ihre Gläser und Birnen zersprangen. Unheimliche Dunkelheit herrschte jetzt in der Grotte, und nur das Zischen der gezündeten Lunte war zu vernehmen. Butler Parker kümmerte sich nicht weiter um die Zündschnur. Der Schuß auf seine Herrin hatte ihm bewiesen, daß der Maulwurf sich ebenfalls in der künstlichen Tropfsteinhöhle befand. Daher mußten die Sprengstoffkisten leer sein. Der Maulwurf hätte sich ja wohl niemals freiwillig mit in die Luft gejagt. Irgendwo fiel eine Tür ins Schloß. Parker störte das wenig. Er beschäftigte sich weiter mit Lady Simpson, zerschnitt ihre restlichen Fesseln und half ihr dann hoch. »Ich hoffe, Miß Porter«, sagte er dann, »Sie fühlen sich wohl.« »Alles in Ordnung, Mr. Parker«, gab sie zurück. »Ich weiß übrigens, wer der Maulwurf ist.« »Sie waren in der Lage, sich mit ihm unterhalten zu können?« Parker sprach leise, schaltete noch immer nicht das Licht seiner kleinen privaten Taschenlampe ein. »Er stand hier vor mir und prahlte«, entgegnete Kathy Porter. Sie wollte weiterreden, doch in diesem Moment kam über die Lautsprecheranlage ein scharfes Knacken, dann war die Stimme des Maulwurfs zu hören. »Gute Fahrt ins Jenseits«, sagte sie. »In den Kisten war zwar kein Sprengstoff, Parker, aber dafür habe ich die Hauptgasleitung aufgedreht. Nein, nein, geben Sie sich keine Mühe, Sie werden es nicht schaffen! Bis zum Morgengrauen werden Sie hin sein, wahrscheinlich noch früher ...«
»Dieser Mann scheint ungemein zu hassen«, sagte Parker zu Kathy Porter. »Aus der Grotte kommen Sie nicht heraus«, redete der Maulwurf weiter. »Riechen Sie schon das Gas? Wenn es soweit ist, werde ich das Licht anzünden. Und dann erleben Sie eine Himmelfahrt, wie sie im Buch steht.« »Der Maulwurf scheint jeden Sinn für das rechte Maß verloren zu haben«, konstatierte der Butler. »Diesmal dürfte es sich übrigens nicht mehr um einen Bluff handeln, Miß Porter.« »Das ist mir klar«, entgegnete Agatha Simpsons Gesellschafterin. Auch ihre Stimme klang gelassen und beherrscht. »Man kann nur warten, nicht wahr?« »Es wird nicht lange dauern«, versicherte Josuah Parker. »Übrigens, Miß Porter, wenn meine Sinne mich nicht trügen, riecht es tatsächlich bereits nach Leuchtgas!«
»Weiter, weiter«, drängte Chief-Superintendent McWarden, Er befand sich im Salon der Lady und schluckte vor Aufregung. »Da gibt es nicht mehr viel zu erzählen, junger Mann«, erwiderte Lady Agatha mit dunkler, satter Stimme der Zufriedenheit. »Dieses Subjekt lief direkt in meinen Pompadour und überschlug sich fast. Es war ein herrlicher Anblick.« »Sie waren Mr. Parker und Miß Porter gefolgt?« »Natürlich, McWarden, was dachten denn Sie? Ich kann sie doch nicht allein wirken lassen, wo würde das hinführen. Es hat sich wieder mal gezeigt, daß man ohne mich doch ziemlich verloren ist.« »Mylady, Miß Porter und meine bescheidene Wenigkeit hatten die Täuschung verabredet«, schaltete der Butler sich ein.
»Miß Porter übernahm Myladys Rolle, weil mit einem Überfall zu rechnen war, Mylady hingegen benutzte den Mini-Cooper von Miß Porter und folgte bis zum Museum.« »Vielleicht habe ich ein wenig zu zaghaft zugelangt«, sagte die resolute Dame bedauernd. »Es reichte vollkommen«, versicherte McWarden Lady Agatha. »Ein Kieferorthopäde wird sich mit dem Maulwurf befassen müssen. Leider konnte er bisher keine Aussage machen. Wer ist der Mann nun eigentlich?« »Ein gewisser Randolph Smaldy, Sir«, erklärte Parker. »Er hatte sich unter dem Namen Smetters ein Büro gemietet, von wo aus er seine Aktionen leitete. Randolph Smaldy ist ein ehemaliger Journalist, der seit einiger Zeit der Reklameabteilung des Museums vorstand. Von dieser Tätigkeit her, ich erinnere an die Grotten und Höhlen, leitete er wohl auch sein Inkognito ab, wie ich vermuten möchte.« »Nicht zu glauben.« Chief-Superintendent McWarden schüttelte den Kopf. »Und wie kam er an die Namen der Zeugen und Geschworenen?« »Als Journalist ließ er sich von der Presse- und Geschäftsstelle des Gerichts bedienen«, antwortete der Butler. »Das geschah völlig regulär. Sobald ihm bekannt war, wie die Personen hießen, machte er den Angeklagten seine Angebote.« »Wie ich es ja gleich gesagt habe«, schaltete die Detektivin sich ein. »Für mich war der Fall von Anfang an völlig klar, aber man wollte ja wieder mal nicht auf mich hören.« Parker, Kathy Porter und McWarden tauschten einen schnellen Blick des Einverständnisses, doch sie sagten nichts. »Wann kommen Sie endlich mal mit einem Fall, der mich wirklich fordert?« fragte die ältere Dame dann den ChiefSuperintendent. »Diese kleinen Bagatellgeschehen sind doch reine Routinesache. Wissen Sie, junger Mann, worüber ich mich ärgere?« McWarden hob interessiert und abwartend die
Augenbrauen. »Ich ärgere mich darüber, nicht zweimal mit dem Pompadour zugelangt zu haben«, meinte Lady Agatha dann. »Das läßt sich wohl nicht nachholen, wie?« »Ganz sicher nicht, Mylady.« McWarden schüttelte lächelnd den Kopf. »Mr. Parker, sorgen Sie für einen neuen Fall«, forderte Agatha Simpson und sah Butler Parker streng an. »Ich langweile mich bereits wieder.« »Mylady dürfen versichert sein, daß meine bescheidene Person sich ehrlich bemühen wird«, lautete Parkers Antwort. »Ob es an diesem Tag allerdings noch geschieht, möchte ich zu bezweifeln wagen.«
Günter Dönges schrieb wieder einen neuen Butler Parker Nr. 174 Parker langt in fremde Taschen Die Zunft der Taschendiebe kleineren bis mittleren Kalibers in London durchlitt schwere Zeiten, was mit einem gewissen Butler Parker zuerst mal gar nichts zu tun hatte. Sie wurden von brutalen Schlägern abgefangen und aus dem Verkehr gezogen. Ein Gangster in der Stadt hatte nämlich die Absicht, diese Branche neu zu organisieren und nur noch für sich arbeiten zu lassen, Butler Parker und Lady Simpson waren mit den Methoden dieser Burschen aber überhaupt nicht einverstanden und nahmen sich des Geheimnisvollen sehr intensiv an. Auf Tricks und Gegenmaßnahmen wollte er überhaupt nicht eingehen, bis Parker ihn soweit aus der Fassung brachte, daß er zurückschlagen mußte, um sein Gesicht nicht zu verlieren. Er verlor es dennoch, dazu sein frisch gegründetes Imperium und und... Aber das werden wir nicht verraten. Sie sollen es nämlich lesen! Günter Dönges legt einen neuen Parker-Krimi vor, der die Leser begeistern wird. List, Psychologie und überraschende Einfalle, das sind die Waffen dieses Butlers, der sich wieder einmal nicht verblüffen läßt.
Scan by Crazy2001 / Layout und Korrektur by Larentia / Juli 2003