Cäcilie Schildberg Politische Identität und Soziales Europa
Cäcilie Schildberg
Politische Identität und Soziales Eur...
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Cäcilie Schildberg Politische Identität und Soziales Europa
Cäcilie Schildberg
Politische Identität und Soziales Europa Parteikonzeptionen und Bürgereinstellungen in Deutschland, Großbritannien und Polen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17223-1
Inhalt
1
Einleitung ....................................................................................................................12 1.1 Forschungsproblematik im Kontext......................................................................12 1.2 Forschungsgegenstand und Schlüsselkonzepte ....................................................16 1.3 Forschungsdesign und Fallauswahl .....................................................................20 1.4 Aufbau der Arbeit .................................................................................................21
2
Die Legitimität der EU: Demos, Identität und Öffentlichkeit ................................24 2.1 Sozialer Wandel und Globalisierung ....................................................................25 2.2 Die Legitimität der Europäischen Union .............................................................26 2.2.1 Demokratische Legitimationsprozesse.............................................................28 2.2.2 Das Öffentlichkeitsdefizit der EU ....................................................................31 2.3 Die Demos-Frage im Rahmen der EU-Debatte....................................................33 2.3.1 Demos als Kulturgemeinschaft ........................................................................34 2.3.2 Demos als Institutionen....................................................................................38 2.3.3 Demos als politische Identität ..........................................................................39 2.4 Alternativkonzeptionen europäischer Identität auf Forschungspraxis .................40 2.5 Fazit zur Europäischen Identitätsdebatte .............................................................44
3
Theorien der Identität: Personale, soziale und kollektive Identitäten ...................47 3.1 Sozialwissenschaftliche Identitätstheorien und ihre Forschungsansätze .............47 3.1.1 Theorien personaler Identität ...........................................................................49 3.1.2 Theorien sozialer beziehungsweise kollektiver Identität .................................51 3.2 Die Nation als „Prototyp“ kollektiver Identität ...................................................53 3.2.1 Nationale Identität in essentialistischer Perspektive ........................................54 3.2.2 Nationale Identität in konstruktivistischer Perspektive ....................................55 3.2.3 Nationale Identität zwischen Essentialismus und Konstruktivismus ...............57
4
Politische Projektidentität der EU: Konzept und ‚Operationalisierung’ ..............60 4.1 Wesen und Begründung einer europäischen Projektidentität ..............................61
6
Inhalt 4.2 Aufbau einer europäischen Projektidentität .........................................................65 4.3 Untersuchungsdesign ...........................................................................................67 4.3.1 Methodenvorstellung .......................................................................................74 4.3.2 Länder- und Parteienauswahl ...........................................................................75
5
Europäisches Skript: Das verfasste normative Selbstverständnis der EU ............78 5.1 Die soziale Dimension politischer Identität .........................................................78 5.1.1 Soziales Europa................................................................................................80 5.1.2 Ein Europäisches Sozialmodell ........................................................................84 5.2 Die soziale Dimension in den Verträgen von Rom (1957) bis Lissabon (2007).............................................................................................................92 5.2.1 EWG-Vertrag 1957 ..........................................................................................93 5.2.2 Die Einheitliche Europäische Akte und ihre Folgewirkung .............................94 5.2.3 Der Vertrag von Maastricht 1992 ....................................................................99 5.2.4 Verträge von Amsterdam (1997) bis Nizza (2000) ........................................102 5.2.5 Die soziale Dimension im gescheiterten Verfassungsvertrag ........................109 5.2.6 Veränderungen im Rahmen des neuen Grundlagenvertrages ........................114 5.3 Fazit zur Entwicklung der sozialen Dimension im Europäischen Integrationsprozess ......................................................................................118 5.4 Einordnung des EU-Skripts in Wohlfahrtsstaatstypologien ...............................121 5.4.1 Kategorien der Vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung ..........................122 5.4.2 Einordnung des EU-Skripts ...........................................................................129
6
Sozio-Kultur: Wohlfahrtsstaatliche Vorstellungen in den Bevölkerungen einzelner europäischer Gesellschaften....................................................................136 6.1 Wohlfahrtstaatliche Kultur der Länder ..............................................................136 6.2 Wohlfahrtsstaatliche Ideen in EU-Staaten (Einstellungsanalyse) ......................137 6.3 Vergleichsanalyse mit dem EU-Skript ................................................................150 6.4 Ein europäischer Sozialstaat als Desiderat der Bürger? ...................................151 6.5 Fazit zur Sozio-Kultur ........................................................................................162
7
Deutungskultur: Parteien als Träger und ‚Interpreten’ politischer Kultur .......164 7.1 Politische Parteien in Demokratien ...................................................................165 7.1.1 Parteien und politisches System .....................................................................166 7.1.2 Parteien und Gesellschaft ...............................................................................170 7.1.3 Parteien und Medien ......................................................................................177 7.2 Methodisches Vorgehen......................................................................................185
Inhalt
7
7.3 Deutschland ........................................................................................................195 7.3.1 Politische Institutionen und sozialstaatliche Strukturen .................................195 7.3.2 Zeithistorischer Kontext 1990 bis 2005 .........................................................197 7.3.3 Analyse der parteipolitischen Frames zwischen 1990 und 2005....................199 7.3.4 Bilanz Deutschland ........................................................................................236 7.4 Großbritannien ...................................................................................................237 7.4.1 Politische Institutionen und sozialstaatliche Strukturen .................................237 7.4.2 Zeithistorischer Kontext 1990 bis 2005 .........................................................239 7.4.3 Analyse der parteipolitischen frames zwischen 1990 und 2005 ....................242 7.4.4 Bilanz Großbritannien ....................................................................................272 7.5 Polen ..................................................................................................................274 7.5.1 Zeithistorischer Kontext von 1945 bis zur Transformation ...........................275 7.5.2 Politische Institutionen und sozialstaatliche Strukturen im Transformationsprozess......................................................................280 7.5.3 Begründung der Parteienauswahl für Polen ...................................................291 7.5.4 Analyse der parteipolitischen Frames zwischen 1990 und 2005....................294 7.5.5 Bilanz Polen ...................................................................................................321 7.6 Fazit zur Deutungskultur ....................................................................................323 7.7 Vergleichsanalyse mit dem EU-Skript ................................................................326 8
Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlussfolgerungen ................................330 8.1 Skript, Sozio-Kultur und Deutungskultur im Vergleich ......................................330 8.2 Grenzen und Ausblick .........................................................................................335
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1:
Parteipolitische Rechts-Links-Dimension
Tabelle 2:
Wesentliche Merkmale der drei Wohlfahrtsstaatsmodelle
124
Tabelle 3:
Welfare-regime-typen und Konzeptionen der Aktivierung
127
Tabelle 4:
Wohlfahrtsstaatstypologie nach Roller
128
Tabelle 5:
Einordnung des EU-Skripts anhand der Wohlfahrtsstaatstypologien
130
Tabelle 6:
Der Staat sollte verantwortliche sein für
138
Tabelle 7:
Wohlfahrtsstaatliche Einstellungen 1996
142
Tabelle 8:
Zustimmungsraten zu den Wohlfahrtsstaatsmodellen
143
Tabelle 9:
Einstellungsdifferenzen von 2006 zu 1996
144
Tabelle 10:
Mittelwerte nach neuen und alten EU-Mitgliedsstaaten untergliedert
145
Tabelle 11:
Regressionsanalyse zu Erklärung der Wohlfahrtsstaatsmodelle
148
Tabelle 12:
EU-Entscheidungskompetenz im Kampf gegen Arbeitslosigkeit
153
Tabelle 13:
EU-Entscheidungskompetenz zum Schutz sozialer Rechte
154
Tabelle 14:
EU-Entscheidungskompetenz zur Sicherung des Wirtschaftswachstums
155
Tabelle 15:
EU-Entscheidungskompetenz zur Gleichbehandlung
156
Tabelle 16:
Befürworter und Gegner einer Vereinheitlichung der Sozialsysteme
157
Tabelle 17:
Antwort „Ein europäisches Sozialsystem“ auf die Frage, was das Gefühl verstärken würde, ein europäischer Bürger zu sein
158
Platzierung der Antworten auf die Frage, was das Gefühl verstärken würde, ein europäischer Bürger zu sein
159
Tabelle 19:
Signifikanten Einflüsse auf die EU-Einstellungen der Bürger
161
Tabelle 20:
Sozialpolitische Mikroframes zur sozialen Sicherung
189
Tabelle 21:
Sozialpolitische Mikroframes in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik
190
Tabelle 22:
Nationaler Gesellschaftsframe
192
Tabelle 23:
Europäischer Frame
194
Tabelle 24:
Wohlfahrtsstaatliche Parteiorientierungen in Deutschland 1994-2005
236
Tabelle 25:
Wohlfahrtsstaatliche Parteiorientierungen in Großbritannien 19922005
273
Tabelle 26:
Präsidenten und Regierungen in Polen 1989-2007
283
Tabelle 27:
Wohlfahrtsstaatliche Parteiorientierungen in Polen 1993 bis 2005
322
Tabelle 18:
77
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Four Analytical Perspectives on Supranational Identity-Formation
57
Abbildung 2: Politischen Projektidentität nach Meyer
66
Abbildung 3: Ziele und Instrumente der europäischen Beschäftigungsstrategie
105
Abbildung 4: Reichweiten europäischer sozialer Grundrechte im VVE
111
Abbildung 5: Vertragliche Verankerung der sozialen Dimension im Vergleich
112
Abbildung 6: Regulative Leitideen sozialer Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat
126
Abbildung 7: Bewertung der EU-Mitgliedsstaaten anhand der Lissabon-Indikatoren
133
Abbildung 8: Operationalisierung der Wohlfahrtsstaatsmodelle
140
Abbildung 9: Paradigmen der Parteienforschung
168
Abbildung 10: Veränderungen der Konfliktlinien am Beispiel Deutschlands
171
Abbildung 11: Sinus-Milieumodell für Deutschland
173
Abbildung 12: Parteipolitische Frames
188
Abbildung 13: Parteipositionen zum Europäischen Integrationsprozess
193
Abbildung 14: Parteipolitische Cleavages in Polen
289
Abbildung 15: Relative Parteianordnung entlang der Links-Rechts-Dimension
324
Danksagung
Entstanden ist die vorliegende Arbeit zwischen 2005 und 2008 während meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politikwissenschaft der Technischen Universität Dortmund. Ermöglicht und unterstützt wurde sie vor allem von Prof. Dr. Thomas Meyer, der mir ein hohes Maß an Vertrauen entgegenbrachte, mir mit hilfreichen Anregungen und klaren Worten manchen Umweg ersparte und mir durch die Teilnahme am europäischen Exzellenznetzwerk GARNET ein anregendes internationales Forschungsumfeld bot. Dafür und für die Entlastung von Aufgaben in der Endphase der Dissertation bin ich ihm sehr dankbar. Für das Gelingen meiner Arbeit möchte ich insbesondere Prof. Dr. Udo Vorholt danken, der als Zweitgutachter im wahrsten Sinne des Wortes alles stehen und liegen ließ, um das Gutachten rechtzeitig fertig zu stellen, so dass meine Dissertation noch vor der Geburt meiner Tochter abgeschlossen werden konnte. Finanziell unterstützt wurde die Publikation durch den Dissertationspreis 2008 der Fakultät Humanwissenschaft und Theologie der TU Dortmund. Darüber hinaus gilt mein Dank in besonderer Weise meinem guten Freund und geschätzten Kollegen Dr. Volker Balli, der mir stets Mut machte, wenn Zweifel aufkamen und mir mit seinen vielen inhaltlichen und strukturellen Anregungen zu mehr Klarheit und neuen Einsichten verhalf. Bei Dr. Stefan Meyer und Tim Buchen möchte ich mich für die wunderbaren Übersetzungen der polnischen Parteiprogramme bedanken. Als ausgewiesener Polonistikexperte erfuhr ich Stefans Bereitschaft, mit mir meine Fragen umfassend zu erörtern als große Hilfe für die Überarbeitung und Fertigstellung meiner Länderanalyse Polens. Mein Dank gilt ebenfalls Dr. Kai Mühleck, der mir mit seinen guten Tipps und Hinweisen eine wertvolle Hilfe bei der Bearbeitung der Daten war. Für die konstruktiven Gespräche während meines GARNET-Forschungsaufenthaltes in Brüssel und darüber hinaus möchte ich mich sehr herzlich bei Prof. Dr. Mario Telo, Prof. Dr. Furio Cerutti, Prof. Dr. Janine Goetschy, Prof. Dr. Jean-Marc Ferry bedanken. Für seine aufmunternden Worte zur rechten Zeit danke ich Prof. Dr. Michael Bruter. Des Weiteren möchte ich mich bei folgenden KollegInnen aus Doktoranden- und Forschungskolloquien bedanken, deren Ideen und Nachfragen meiner Arbeit zugute kamen: Jan Turowski, Johanna Eisenberg, Hanja Eurich, Thomas Toelch, Karsten Schmitz, Stefan Seifen, Kathrin Vogel, Ina Drescher, und Tiezheng Li. Für die Korrekturlesungen und hilfreichen Rückmeldungen möchte ich mich insbesondere bei Inge und Dr. Helmut Meyer-Dietrich bedanken, die viele Stunden damit zubrachten meine angesammelten sprachlichen und grammatikalischen Irrwege zu korrigieren. Ebenfalls für ihre Textkorrekturen danke ich Nathalie Ceasar, Nico Naeve und Lars Schall. Eine unschätzbare Hilfe bei der Erstellung des Literaturverzeichnisses war Regina Hack, dafür und für die vielen Entlastungen danke ich ihr sehr. Ferner geht mein Dank an Birgit Leschner und Petra Kremer, die nicht nur stets ein offenes Ohr für mich hatten son-
Danksagung
11
dern mir auch bei allen formal-administrativen Fragen meiner Dissertation fachkundig zur Seite standen. Meinen Eltern und Geschwistern möchte ich meinen Dank dafür aussprechen, dass Sie mir stets den Rücken stärkten und an mich glaubten. Meinem Mann, Alexander Petring, danke ich von ganzem Herzen für seine Geduld und fortwährende Bereitschaft, mit mir meine wissenschaftlichen Fragen und Probleme an unzähligen Wochenenden zu erörtern und mit wertvollen Fragen und Kommentaren voranzubringen. Seine tatkräftige, wohlwollende und motivierende Unterstützung haben das Projekt wesentlich mitgetragen. Berlin, im September 2009 Cäcilie Schildberg
1 Einleitung
1.1 Forschungsproblematik im Kontext Seit Mitte der 1990er Jahre wurde die wissenschaftliche und zu einem späteren Zeitpunkt auch die politische und öffentliche Auseinandersetzung um Europa, von „großen Themen“ geprägt, die nach dem „Wesen“, der Legitimität und Finalität der EU fragten. Vor diesem Hintergrund kam die Frage nach einer europäischen (politischen) Identität auf, die für die Legitimität eines politischen Europas als zunehmend notwendig erachtet wurde. Fast zeitgleich rückten die sozio-ökonomischen Auswirkungen des fortschreitenden Integrationsprozesses ins Blickfeld der Debatten. Ausgehend von der Feststellung, dass durch den Europäischen Integrationsprozess die sozialpolitischen Handlungsfähigkeiten der Nationalstaaten eingeschränkt würden, entfachte die Diskussion um ein „soziales Europa“. Das Scharnier dieser beiden Debattenstränge bildet die Hypothese, dass ein „soziales Europa“ die Herausbildung einer europäischen politischen Identität befördere und damit die Legitimität und Stabilität der EU stärken würde. Hierbei stellt sich jedoch die Frage, was unter einer „politischen europäischen Identität“ verstanden werden kann, was mit einem „sozialen Europa“ gemeint ist und nicht zuletzt auch wie diese beiden Konzeptionen miteinander in Beziehung stehen. Die folgende Untersuchung strebt sowohl eine theoretischkonzeptionelle Klärung als auch eine empirische Prüfung dieser Fragen an. Im einleitenden Überblick wird zunächst der grobe Forschungskontext umrissen, daran anschließend werden sowohl Forschungsgegenstand als auch relevante Schlüsselkonzepte kurz vorgestellt, um abschließend das methodische Vorgehen und den Aufbau der Arbeit darzulegen. Die EU als Problemlösung und Problemgenerierung Unter den Bedingungen verschärfter globaler Konkurrenz hat sich die Einsicht der politischen Akteure in die Notwendigkeit einer vertieften europäischen Integration verstärkt. Dabei wird die EU mit ihren politischen, im Prinzip handlungsfähigen Institutionen als möglicher Handlungsrahmen für die transnationale Rekonstruktion national verloren gegangener oder eingeschränkter politischer Steuerungsfähigkeit und Regelungskompetenzen angesehen.1 Folglich wird ihr eine prinzipielle Problemlösungskompetenz zugeschrieben. Jedoch wirft der Integrationsprozess selbst wiederum neue Probleme auf. Diese resultieren maßgeblich aus der Spannung zwischen einer schwachen institutionellen Struktur der EU bei gleichzeitig weit reichender Handlungsmacht. Wesentlich ist hierbei, dass die Systemstruktur der EU eine unzureichende und untypische Gewaltenteilung aufweist und ihr ein (regierungsähnliches) Machtzentrum fehlt. Die Schwäche der Institutionen resultiert 1
Meyer (2005:365f)
1 Einleitung
13
hierbei einmal aus der Tatsache, dass die EU-Institutionen nur insoweit über Kompetenzen verfügen, wie diese ihnen von den Regierungen der Mitgliedsstaaten übertragen wurden, und zum anderen aus einer zunehmenden Ausdifferenzierung des Systems, was einer gewissen Dezentralisierung und Enthierarchisierung im Politikformulierungsprozess entspricht.2 Jedoch schaffen die europäischen Institutionen ihre institutionelle Schwäche mitunter dadurch auszugleichen, dass sie im Politikformulierungsprozess zahlreiche Akteure (u. a. Expertengruppen) und Interessen einbinden und folglich über ein hohes Maß an fachlicher Expertise verfügen und gleichzeitig zu erwartende Widerstände frühzeitig zu minimieren versuchen. Zudem können auf europäischer Ebene gefällte Entscheidungen supranationale Wirkung entfalten und damit die Souveränität der Nationalstaaten einschränken. Dies beruht maßgeblich sowohl auf der Überordnung der EU-Rechtssetzung gegenüber nationalem Recht, der Einführung von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat als auch auf dem exklusiven Initiativrecht der Kommission.3 Durch diesen „sui generis“ Charakter der EU, die weder eine rein intergouvernementale Organisation darstellt noch einen (supra-) nationalstaatlichen Charakter aufweist, ergeben sich Legitimationsprobleme.4 In diesem Kontext werden grundlegende Fragen bezüglich der Organisation des Zusammenlebens innerhalb der EU, der weiteren und letztendlichen Ausgestaltung des Prozesses (Finalitätsdebatte), der geographischen Grenzziehung (Türkeidebatte) und der demokratischen Begründung des Einigungsprojektes diskutiert. (Legitimations- und Identitätsdebatte.5 Insofern wird der Integrationsprozess selbst zum „Problem“, indem durch ihn neue zu bewältigende Herausforderungen entstehen. Darunter fallen insbesondere:6 1. 2. 3.
die Handlungsfähigkeit der Union zu erhalten, vor allem durch institutionelle Reformen, einen Verfassungsgebungsprozess und/oder flexible Integrationsmodi, eine sozialpolitische Flankierung auf europäischer Ebene als Schutz gegen negative Folgelasten der europäischen Integration als auch der wirtschaftlichen Globalisierung zu etablieren, sowie die Legitimität des politischen Systems zu stärken, indem der demokratische Charakter der EU und ihre Transparenz erhöht wird.
Im Kontext dieser Arbeit werden der zweite und dritte Aspekt näher beleuchtet und zueinander in Beziehung gesetzt. Ausgangspunkt der Legitimitätsdebatte bildete die Feststel2
Vgl. Tömmel (2005) Ausführlich dazu s. Tömmel (2005) 4 Diese resultieren auf institutioneller Ebene gerade aus der unzureichenden und ungewohnten Gewaltenteilung, da die beiden Organe, welche legislative und exekutive Funktionen übernehmen (Kommission und Ministerrat) nicht durch die europäischen Bürger gewählt bzw. nicht aus dem direkt gewählten Parlament hervorgehen. Der Ministerrat ist zwar über die nationalen Wahlen indirekt legitimiert, repräsentiert aber immer nur die jeweiligen Mehrheitsfraktionen des jeweiligen Mitgliedsstaates, so dass Minderheiten in großem Maße auf europäischer Ebene gar nicht repräsentiert werden. Trotz weit reichender intergouvernementaler Entscheidungsprozesse besitzt die EU supranationalen Charakter, da die europäische Gesetzgebung der nationalen übergeordnet ist sowie im Rahmen von Mehrheitsentscheidungen nationalstaatliche Souveränitätsverluste einhergehen. Damit einher geht eine mangelnde Kontrollierbarkeit von Entscheidungen und eine nicht adäquate Vertretung gesellschaftlicher Interessen (Dominanz wirtschaftlicher Interessensverbände) auf europäischer Ebene. Vgl. Tömmel (2005:220-240), Holzinger/Knill/Peters et al. (2005:89-105) 5 Gründe hierfür sind insbesondere die tief greifende Verflechtung im Rahmen der ersten Säule der EU (WWU) sowie die Überordnung europäischen Rechts über nationales Recht. Vgl. z. B. Tömmel (2005) Vgl. auch Kapitel 4 6 Nach Tömmel (2005), vgl. ferner: Leibfried/Pierson (1998), Meyer (2004), Wendler (2005), Fuchs (2002a) 3
14
1 Einleitung
lung, dass sich die EU zu einem politischen Gemeinwesen entwickelt habe, was schließlich die Frage aufkommen ließ, worauf sich dieses stützen könne, „um tragfähig zu sein“.7 Die Suche nach Rechtfertigungsgründen für ein politisches europäisches Gemeinwesen, welches den anstehenden Herausforderungen gewachsen ist, mündete (unter anderem) in der Suche nach einer europäischen Identität.8 Dabei wird davon ausgegangen, dass die EU nur als ein stabiles und legitimiertes politisches System letztlich auch ihr Potential als neuer politischer Handlungsrahmen zur Bewältigung der veränderten ökonomischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen im Zuge der Globalisierung entfalten könne. Infolgedessen konnte der Begriff der Europäischen Identität zu einem Schlüsselbegriff in der Debatte avancieren. Europäische Identität Ausgangspunkt der Europäischen Identitätsdebatte ist eine normativ-demokratietheoretische Prämisse9, wonach Demokratien für ihre Legitimation und Stabilität der Herausbildung einer kollektiven Identität bedürfen. In der politischen Theorie kommt kollektiver Identität der Stellenwert einer Vor- bzw. Metabedingung für die Legitimation von politischen Ordnungen zu.10 Es besteht in der politikwissenschaftlichen Debatte großteils Einigkeit darüber, dass sich eine solche noch nicht oder allenfalls erst in Ansätzen herausgebildet habe, so dass der EU auch in dieser Hinsicht ein Legitimationsdefizit attestiert wird. Was jedoch genau unter einer kollektiven europäischen Identität zu verstehen sei und welche Bedingungen für ihre Herausbildung erfüllt sein müssen, wird höchst kontrovers diskutiert. Dabei geht es hauptsächlich um die Bestimmung dessen, was als das „Europäische“ einer solchen Identität angesehen werden kann/sollte, also ob diese politisch bzw. rational oder kulturell-affektiv zu begründen sei.11 Folglich wird zwischen politischer und kultureller Identität unterschieden. Das Konzept einer kulturellen Identität postuliert eine Erinnerungsgemeinschaft, wobei die Kollektividentität der Bürger auf der Grundlage einer gemeinsamen historisch verankerten Kultur, also durch eine gemeinsame Geschichte, Kultur und Sprache ‚imaginiert’ wird. Hierbei spielt die Vorstellung, dass sich eine politische Gemeinschaft auf eine Art „vorpolitischen Raum“ gründe, eine wesentliche Rolle. Für die Schaffung einer kollektiven Identität bedürfe es demnach einer gemeinsamen historischen Narration, geteilter kultureller und religiöser Werte. Eine politische Identität hingegen stützt sich maßgeblich auf die in der Verfassung niedergelegten universalistischen liberal-demokratischen Werte. Wesentlicher Bezugspunkt für die Herausbildung einer kollektiven Identität sind damit die politischen Institutionen, wobei 7
Balli (2006a:167) Ebd. 9 Einzelne Autoren weisen den normativen demokratietheoretischen Zugang für das europäische Identitätsthema zurück, indem sie argumentieren, dass die EU als ein im Entstehen begriffenes System nicht mit nationalstaatlichen Demokratiekonzeptionen vergleichbar sei. Zudem wird auch darauf verwiesen, dass der Ausgangspunkt der Legitimations- und Identitätsdebatte letztlich nur auf der Annahme bzw. Behauptung beruhe, die EU sei ein „politisches (Gemein-)Wesen“. Vgl. z. B. Barker (2003), Balli (2006a). Andere Autoren wie Moravscik (2002) sehen in der EU nach wie vor eine komplexe internationale (zwischenstaatliche) Organisation. 10 Zudem bedarf es materieller Leistungen in den Bereichen Sicherheit/Schutz, Wohlbefinden und ein Mindestmaß an Legalität. Cerutti (2005:141) 11 Balli (2006a:167) 8
1 Einleitung
15
die Identifikation der Bürger im und durch den demokratischen Prozess stattfindet. Die politische Gesellschaft realisiert sich und bildet ihre politische Identität in der Interaktion der Staatsbürger im Rahmen einer (politischen) Öffentlichkeit heraus. Für eine europäische Identität – im Unterschied zu einer nationalen – spielen jedoch drei Besonderheiten eine wichtige Rolle. Neben ihrem normativen Gehalt beruht sie auf einer doppelten Relation, dem Verhältnis der Mitgliedsstaaten (bzw. der Bürger) untereinander im Sinne einer sozialen bzw. solidarischen Verbundenheit (horizontale Dimension) und deren Verhältnis zur EU im Sinne einer Identifikation mit dem politischen Projekt (vertikale Dimension). Zudem muss davon ausgegangen werden, dass eine europäische Identität die nationalen Identitäten niemals völlig ersetzen kann, sondern vielmehr als eine zusätzliche und in den meisten Fällen auch schwächer ausgeprägte Identität konstruiert wird. Insoweit erscheint es plausibel, dass die Herausbildung einer europäischen politischen Identität nur dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn wesentliche Sinnzusammenhänge der nationalen politischen Identitäten auf europäischer Ebene reflektiert werden. In der Forschung können zwei Perspektiven auf das Problem einer europäischen Identität unterschieden werden: Top-Down- und Bottom-up-Ansätze. Während Top-DownAnsätze danach fragen, was Europa ist und vereint (kulturell-historisches Erbe, politische Werte), wie es charakterisiert werden kann, welches institutionelle Selbstverständnis die EU aufweist, wer Europäer ist und was eine europäische Bürgerschaft ausmacht, fragen Bottom-up-Ansätze nach den individuellen Einstellungen/Gefühlen der Bürger gegenüber „Europa“ und der EU und den zugrunde liegenden Bedeutungen. Bottom-up-Ansätze gehen also von der subjektiven Perspektive europäischer Identität aus und fragen, wer sich europäisch fühlt, warum sich einige mit Europa oder der EU identifizieren, andere hingegen nicht, und was Europa für den Einzelnen bedeutet.12 Innerhalb dieser Zweiteilung können nochmals vier Analyseebenen auf das Problem einer europäischen Identität differenziert werden. Die erste, ideengeschichtliche Ebene befasst sich mit der „Idee Europa“. Dabei geht es um Vorstellungen, was Europa ist und sein soll und um den europäischen Diskurs, was europäisch ist. Insbesondere Historiker, aber auch Soziologen und Politologen haben sich der Frage nach der Entstehung, den Interpretationen und Ausgestaltungen der „Idee“ Europa gewidmet13. Als zweiter Forschungsbereich, ähnlich der ersten Betrachtungsebene, ist die Ebene kultureller Deutungs- und Wertesysteme von Belang. Hierunter fallen Studien, die nach dem Verhältnis von nationaler und kollektiver Identität fragen14 oder danach, ob es eine wertebezogene Basis europäischer Identität gibt15 und welche kulturellen Differenzen zwischen den Mitgliedsstaaten vorherrschen. Hinzu kommen zunehmend Arbeiten über die Bedeutung von Symbolen und „Erinnerungsorten“ wie z. B. Denkmälern, Mythen, Feiertagen etc. für kollektive Identitätsbildungsprozesse.16 Eine dritte ist die staats- und verfassungsrechtliche Ebene von Identität. Dabei wird europäische Identität vorrangig als die politische Identität der EU konzeptualisiert, wie sie in den Verträgen und der europäischen Rechtsprechung zum Ausdruck kommt. Demnach 12
Bruter (2005:1-11) Stellvertretend für viele können hier die historischen Arbeiten von Nies (2001), Kaeble (2000, 2002) und Kaelble et al. (2002) genannt werden, stellvertretend für soziologische Arbeiten z. B. Münch (1993), Münkler (1991). 14 Vgl. z. B. Westle (2003), Delhey (2004) 15 Vgl. z. B. Fuchs (2000), Gerhards (2005) 16 Vgl. z. B. Wintle et al. (2000), Wintle (1996) 13
16
1 Einleitung
weist die EU qua Institutionenbildung und Rechtssetzung ein eigenes Selbstverständnis auf.17 Zudem wird gefragt, welche identitätsstiftende Funktion Institutionen und Verfassungen im Sinne eines Top-Down-Prozesses aufweisen und was eine europäische Staatsbürgeridentität beinhalten kann und soll.18 Die vierte und letzte Bedeutungsebene europäischer Identität befasst sich mit der individuellen Identifikation der Bürger mit Europa oder der EU und wird in Form von Umfragen (z. B. Eurobarometer) und Interviews ermittelt. Die Gründe zur Herausbildung eines solchen Massenbewusstseins werden hingegen unterschiedlich interpretiert, sei es „als Folge der Institutionenbildung, der politischen Identität Europas, seiner Idee oder Erinnerungspraktiken oder als Ergebnis voluntaristischer Konstruktion“19. 1.2 Forschungsgegenstand und Schlüsselkonzepte Diese Arbeit wird somit im Kontext der Debatte um eine europäische Identität angesiedelt. Sie will den in der Forschung postulierten Zusammenhang zwischen der Herausbildung einer europäischen Identität und der Entstehung einer sozialen Dimension im europäischen Integrationsprozess näher untersuchen. Durch die Verbindung der europäischen Identitätsdebatte mit der Debatte um ein „Soziales Europa“ werden klassische Themen der politischen Theorie in einen europäischen Kontext übertragen, so dass sich diese Arbeit in das weite Feld der Demokratieforschung und der Vergleichenden Wohlfahrtsstaatforschung einordnen lässt. Dabei kann diese Arbeit auf einige wenige europäische Forschungsarbeiten zu diesem spezifischen Thema sinnvoll aufbauen, zugleich aber einen darüber hinaus weisenden Forschungsbeitrag leisten. Ein relevanter Anknüpfungspunkt stellt hierbei die empirische Studie von Jürgen Gerhards (2004) dar, in der die Kompatibilität zwischen dem „kulturellen Selbstverständnis“ der EU als normativer Bezugspunkt des Vergleichs mit den kulturellen Vorstellungen und Überzeugungen in den Mitglieds- und Beitrittsstaaten der EU untersucht wird.20 Im Unterschied zum eher statischen makrosoziologischen Forschungsdesign von Gerhards (2004) soll im Rahmen dieser Arbeit ein stärker ausdifferenzierter und mit einer dynamischen Perspektive ausgestatteter politikwissenschaftlicher Ansatz entwickelt werden, um das Verhältnis zwischen dem Europäischen „sozialen“ Selbstverständnis und nationalen „sozial- und europapolitischen“ Wert- und Einstellungsmustern zu untersuchen. Vor diesem Hintergrund soll nicht nur eine Klärung und Weiterentwicklung wichtiger Schlüsselkonzeptionen angestrebt werden, sondern vor allem die vorrangig theoretisch diskutierte Frage des Zusammenhangs von „Europäischer Identität“ und „Sozialem Europa“ mit neuen empirischen Befunden angereichert und neue Erkenntnisse hinsichtlich der Chancen und Grenzen für eine Europäische Identität erschlossen werden.
17
Die Unterscheidung zwischen Selbstverständnis und Identität erscheint an dieser Stelle wichtig, da der Begriff der politischen Identität, der dieser Arbeit zugrunde liegt, ein Übereinstimmungsmoment zwischen der Ebene der Institutionen und der Ebene der politischen Kultur beinhaltet, während Selbstverständnis für sich selbst stehen kann, also keiner Übereinstimmung (oder im ursprünglichen Sinne des Begriffs der Identität als Gleichheit) bedarf. Dabei wird noch keine Aussage darüber gemacht, ob dieses Selbstverständnis auf der Ebene der Bürger auch geteilt wird. 18 Vgl. stellvertretend für viele Hurrelmann (2002), Magnette (2001) 19 Kohli (2002:120) 20 Vgl. Gerhards (2005)
1 Einleitung
17
Ziel der folgenden Untersuchung ist es herauszufinden, inwieweit die im Skript der EU verankerten politischen Werte und Ziele prinzipiell in den politischen Kulturen ausgewählter Mitgliedsstaaten geteilt werden. Zwei erkenntnisleitende Fragen können zu diesem Zweck formuliert werden: 1. 2.
Können in den politischen Kulturen ausgewählter Mitgliedsstaaten gleiche oder ähnliche sozialpolitische Ziele, Normen und Werte ausgemacht werden wie im sozialen Skript der EU? Welche Rückschlüsse können aus möglichen Übereinstimmungen bzw. Divergenzen zwischen dem EU-Skript und den nationalen politischen Kulturen für die Herausbildung einer europäischen Identität gezogen werden?
Das Erkenntnisinteresse der Arbeit ist demnach ein Doppeltes: Zum einen die so genannte „soziale Dimension“ des normativen Selbstverständnisses der EU – wie es in den Verträgen formuliert wird – zu bestimmen und zweitens zu untersuchen, inwieweit dieses europäische Selbstverständnis in den politischen Kulturen einzelner Mitgliedsstaaten eine Entsprechung findet bzw. prinzipiell geteilt wird.21 Schlüsselkonzepte: Politische Identität und Soziale Dimension Insofern „Politiken“ und hierbei insbesondere Sozialpolitik als ein wichtiges Element für die Herausbildung einer europäischen Identität vorausgesetzt wird, gründet sie auf dem Konzept einer europäischen politischen Projektidentität in Anlehnung an Castells (2003) und Meyer (2004). Damit einher geht die Abgrenzung vom Konzept einer europäischen Kultur- bzw. Wertegemeinschaft auf der Basis einer umfassenden kulturellen Identität. Der Versuch, eine allen in Europa gemeinsame kulturelle Identität zu bestimmen und/oder zu schaffen, erscheint bereits vor dem Hintergrund der liberal-demokratischen Verfasstheit der EU problematisch, denn eine ihrer normativen Vorgaben ist es ja gerade, die sozialen und politischen Grundwerte der Gemeinschaft so zu gestalten, dass ein Maximum an Freiheit hinsichtlich der alltäglichen und religiösen Überzeugungen und Praktiken vorherrscht.22 Politische Projektidentität Dementsprechend soll hier europäische Identität nur als eine politische gedacht werden, die sich durch ein Bewusstsein über die Zugehörigkeit und damit die Gleichbetroffenheit von verbindlichen Entscheidungen sowie durch eine bewusste Verantwortung für das politische Projekt auszeichnet. Europäische Identität wird folglich als zu gestaltendes Projekt begriffen. Sie ist nicht einfach gegeben, sondern konstituiert sich im Rahmen eines offenen politischen Prozesses, wobei ihre spezifischen Konturen in diesem immer auch wieder bestä21
Inwieweit das EU-Selbstverständnis in den politischen Kulturen der Mitgliedsstaaten geteilt wird, kann im Rahmen der Analyse lediglich auf der Ebene der „Parteien“ geschehen, jedoch nicht anhand der Umfragedaten. Hier kann lediglich konstatiert werden, ob es analoge Vorstellungen in den einzelnen politischen Kulturen gibt, es können aber keine Aussagen darüber gemacht werden, inwiefern diese bereits mit der EU in Verbindung gebracht werden. 22 Vgl. Meyer (2004)
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tigt, verworfen und erneuert werden. Einen zumeist über längere Zeit gleich bleibenden Orientierungsrahmen bilden die institutionalisierten politischen Werte, Ziele und Verfahrensregeln, während im politischen Alltag um die spezifische politische Ausgestaltung stets gerungen werden muss. Man kann politische Identität ebenso als ein alle drei Ebenen des Politischen umfassendes Projekt beschreiben, wobei auf der Ebene der Polity eine Identifikation mit den Institutionen sowie den darin festgelegten Zielen und Werten grundlegend ist. Diese stellt damit einen relativ dauerhaften Verständigungsrahmen und Bedeutungszusammenhang für die auf der Policy- und Politics-Ebene ablaufenden Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse im Rahmen einer geteilten politischen Kultur dar.23 In dieser Perspektive ist für den öffentlichen demokratischen Diskurs ein Mindestmaß an geteilten politischen Grundwerten in der jeweiligen politischen Kultur Voraussetzung, damit eine vernünftige Verständigung von Konfliktparteien bezüglich der gerechten politischen Ausgestaltung sichergestellt ist.24 Eine solche politische Identität wird als notwendig für das demokratische Leben und die Weiterentwicklung der politischen Integration angesehen und erscheint dadurch für die Legitimation und Stabilität der EU auf lange Sicht unersetzlich. Denn letztlich werden die politischen Entscheidungen, die das Leben der Bürger in einem Gemeinwesen betreffen, von diesen nur dann langfristig als legitim anerkannt, wenn sie sich mit diesen zu einem gewissen Maße auch identifizieren können und prinzipiell die Möglichkeit besitzen, ihre eigenen Interessen zu organisieren und damit politischen Einfluss auszuüben. Ohne eine positive Identifizierung mit den Grundregeln des demokratischen Gemeinwesens ist politische Partizipation kaum vorstellbar, es sei denn, sie richtet sich gegen das System. Allerdings darf hieraus nicht geschlossen werden, dass eine solche Identifizierung statischer Natur sei, sie ist vielmehr ein dauerhafter Prozess im Rahmen der politischen Praxis um Mehrheitsbildungen, der eine Kanalisierung unterschiedlicher Interessen darstellt. Als ein politisches Projekt im Kontext demokratischer europäischer Gesellschaften bedarf die EU für ihre Legitimation der Herausbildung einer europäischen Identität, wie sie im Konzept der politischen Projektidentität noch näher vorgestellt wird. Die Krise, in der sich die EU spätestens seit den gescheiterten Verfassungsreferenden befindet, machte deutlich, dass für die Weiterentwicklung des Integrationsprozesses sowie zur Bewältigung europäischer (Osterweiterung) und globaler Herausforderungen eine bürgernahe Legitimation des Prozesses auf lange Sicht notwendig ist.25 Diese Argumentation knüpft an eine liberal-demokratische Konzeption politischer Legitimität an, wobei hier maßgeblich die ‚Theorie der Sozialen Demokratie’ den Begründungszusammenhang liefert.26 Die soziale Dimension stellt in dieser Hinsicht einen wesentlichen Bestandteil einer solchen politischen Identität dar. Was darunter verstanden wird, soll im Folgenden schon mal kurz skizziert werden.
23
Zu den Ebenen politischer Kultur siehe Meyer (2006b:195) Meyer (2005a:39) 25 Vgl. stellvertretend: Castells (2003), Cerutti/Rudolph (2001), Meyer (2004) 26 Meyer (2005a) 24
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Soziale Dimension Der Begriff der sozialen Dimension wurde Mitte der 1980er Jahre insbesondere von Jacques Delors geprägt, mit dem Ziel der Begründung eines europäischen sozialpolitischen Handlungsauftrages. Dieser sollte dann als eine normative Grundlage für ein auf den Prinzipien der Solidarität und sozialer Gerechtigkeit basierendes Europa dienen. Insofern wird der „sozialen Dimension“ in Form einer institutionalisierten sozialpolitischen Komponente im europäischen Integrationsprozess eine weitreichende identitätsstiftende Wirkung zugesprochen: Nicht nur, da sie nicht nur ein zentrales Element für die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit dem politischen Projekt durch die Wahrnehmung geteilter sozialer Werte der europäischen Gesellschaften ist, sondern auch der politische Integrationsprozess enorm politisiert würde.27 Jacques Delors hob die Bedeutung der sozialen Dimension für eine besser integrierte Gesellschaft hervor, indem er ausführte: „The social dimension permeates all our discussions and everything we do (…). Think what a boost it would be for democracy and social justice if we could demonstrate that we are capable of working together to create a better integrated society for all.“28
Die Bedeutung einer sozialen Dimension muss dabei vor den im Rahmen der Nationalstaaten gemachten Erfahrungen gesehen werden. Das in den Mitgliedsstaaten historisch gewachsene Verständnis der Verantwortung des Staates zur Sicherung sozialer Grundrechte und gesellschaftlicher Solidarität, welches in Form des Sozialstaates institutionalisiert wurde, verhalf dem Nationalstaat wesentlich zu seiner politischen Legitimität29. Die soziale Dimension nationaler politischer Identitäten stellt – neben weiteren Dimensionen – damit einen wichtigen Bestandteil derselben dar, so dass angenommen werden kann, dass die EU die Unterstützung und Anerkennung ihrer Bürger dauerhaft nur zu sichern vermag, sofern der Integrationsprozess nicht als Bedrohung nationalstaatlicher Errungenschaften wahrgenommen wird. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund nationaler Sparmaßnahmen und „Einschnitten ins soziale Netz“ zur Erreichung der Konvergenzkriterien im Rahmen der Währungsunion konnte ein wachsendes Misstrauen der Bürger gegenüber der EU verzeichnet werden.30 Gerade unter den Bedingungen der Globalisierung sowie der Dominanz negativer Integrationsprozesse auf europäischer Ebene (Wirtschafts- und Währungsunion, Wachstumsund Stabilitätspakt) werden die nationalen Sozialstaaten in ihrer Handlungskompetenz eingeschränkt („halbsouveräne Wohlfahrtsstaaten“31), ohne dass dieser Autonomieverlust auf europäischer Ebene bisher ausreichend aufgefangen würde. Aufgrund der legitimatorischen Funktion von Sozialstaatlichkeit im Rahmen der Nationalstaaten kann angenommen werden, dass eine zusätzliche Ebene „gesellschaftlicher Solidarität“ auf europäischer Ebene die Wahrnehmung der EU als verbesserten Schutzraum vor den Risiken der Globalisierung erhöhen würde und damit eine positive Bedeutungszuschreibung seitens der Unionsbürger
27
Vgl. u. a. Wendler (2005:11f), Scharpf (2002a), Aust et al. (2002) Jacques Delors zitiert nach Wendler (2005:11) 29 Zur Begründung von Sozialpolitik als einer wichtigen politischen Strategie zur Legitimation politischer Herrschaft moderner liberaler Demokratien, siehe Meyers Theorie der Sozialen Demokratie (2005). 30 Tömmel (2005:37) 31 Leibfried (1998:58) 28
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stattfinden kann.32 Ein weiterer Effekt wäre ein Politisierungsprozess, da um die inhaltliche Ausgestaltung des Projektes konkret gerungen werden müsste, was für Identitätsbildungsprozesse im Sinne einer politischen Projektidentität förderlich wäre. Die Verbindung der Identitätsdebatte mit der Debatte um die politische Ausgestaltung der EU als eine ‚Soziale Union’ formuliert damit einen Zusammenhang zwischen den innereuropäischen und globalen Herausforderungen einerseits und der demokratietheoretischen Legitimation von politischer Herrschaft andererseits. 1.3 Forschungsdesign und Fallauswahl Die Analyse wird mit folgender Konzeptualisierung von politischer Identität arbeiten: Sie ist ein Konstrukt mit zwei Ebenen und zwei Säulen. Die obere Ebene inkorporiert das normative Selbstverständnis der EU, wie es sich in der Formulierung von verbindlichen Werten, Policy-Zielen und Leitbildern in den europäischen Verträgen manifestiert. Dieses Selbstverständnis, was letztlich eine angestrebte Ausrichtung des Integrationsprozesses 33 zum Ausdruck bringt, wird im Folgenden auch als das Skript der EU bezeichnet. Auf der unteren Ebene ist/sind die politische Kultur bzw. die politischen Kulturen der europäischen Mitgliedsstaaten angesiedelt. Zusammengehalten werden die beiden Ebenen durch die subjektive und objektive Zugehörigkeit des Einzelnen zum politischen Projekt (als erste Säule) und einer bewussten Identifikation mit den politischen Zielen und Grundwerten des Projektes (als zweite Säule). Vor diesem begrifflichen Rahmen kann das Identitätsproblem der EU derart gefasst werden, dass man fragt, inwiefern die Unionsbürger mit den im Skript niedergelegten Zielen und Werten des politischen europäischen Projektes übereinstimmen und sich mit diesen identifizieren können. In diesem Konzept europäischer Identität stellen die beiden Ebenen, Skript und politische Kultur, die unabhängigen Variabeln dar. Da jedoch das spezifische Verhältnis dieser beiden Ebenen ausschlaggebend dafür ist, ob sich eine europäische politische Identität herausbilden kann, müssen Skript und politische Kultur selbst zum Untersuchungsgegenstand (zu abhängigen Variabeln) werden. Der Untersuchungsansatz stützt sich dabei sowohl auf qualitative als auch quantitative Methoden: 1. 2. 3.
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in Form einer hermeneutischen Analyse der europäischen Verträge (Skript) einer statistischen Untersuchung von Bevölkerungseinstellungen (Sozio-Kultur) sowie einer systematischen Textanalyse von parteipolitischen Programmen (Deutungskultur)
Allerdings stellt sich die Frage, warum in fast allen Ländern Europas in den letzten Jahren von den nationalen Regierungen Sozialabbau betrieben werden konnte, ohne dass dies zu außergewöhnlichen Protesten in den nationalen Bevölkerungen geführt hat. In Deutschland wurde Bundeskanzler Schröder auch vor dem Hintergrund seiner Agenda 2010 zwar abgewählt, jedoch konnte sich die SPD im Rahmen einer großen Koalition weiter in der Regierung halten. Die Frage bleibt somit offen, welche spezifischen Bedingungen (Akteure, Diskurse und Maßnahmen) zur Akzeptanz bzw. Ablehnung von Sozialabbau führen. Dies kann sicherlich nicht pauschal beantwortet werden, sondern immer nur unter Berücksichtigung der vielfältigen Einflussfaktoren im Einzelfall. 33 Ins Deutsche ließe sich der englische Begriff Skript am ehesten mit Drehbuch übersetzen, wonach die in den Verträgen verankerten Werte, Prinzipien und Ziele die gemeinsam angestrebte Entwicklung der Europäischen Union entwerfen und den Weg dorthin – zumindest in groben Zügen – festschreiben.
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Die hermeneutische Analyse der europäischen Verträge fokussiert dabei die soziale Dimension, d.h. die darin zum Ausdruck kommenden sozialen Grundwerte und Prinzipien sowie die sozialpolitischen Ziele und Leitbilder. Da, wo es für das Verständnis des aus den Verträgen abgeleiteten sozialen Selbstverständnisses der EU sinnvoll erscheint, wird die Analyse mit Erkenntnissen aus der Sekundärliteratur angereichert. Die Analyse der politischen Kultur – untergliedert in Sozio- und Deutungskultur –wird auf Länderebene zum einen anhand von Umfragedaten des International Social Survey Programmes (ISSP) aus 1996 und 2006 und des Special-Eurobarometers (Nr. 251) vom März 2006 und zum anderen anhand einer in drei Ländern vertiefenden systematischen Textanalyse von politischen Parteiprogrammen zwischen 1990 und 2005 erfolgen. Die Analyse der Parteiprogramme und Umfragedaten soll somit Aufschluss über die vorherrschenden sozialpolitischen Einstellungs- und Wertemuster in den politischen Kulturen ausgewählter Mitgliedsstaaten liefern. Die Ergebnisse werden dann jeweils in Bezug zum normativen Selbstverständnis der EU gesetzt und mit diesem verglichen. Eine detaillierte Beschreibung und Begründung der Methodik wird - wo es notwendig erscheint – der empirischen Analyse im jeweiligen Kapitel vorweg gestellt. Fallauswahl: Länder und Parteien Vor dem Hintergrund eines „most different case design“ (Berg-Schlosser 2003) wurden für die vertiefende Analyse der Deutungskulturen die Länder Deutschland, Großbritannien und Polen ausgewählt. Im deutschen Kontext werden die Wahlprogramme zwischen 1990 und 2005 der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) sowie der Christdemokratischen Partei Deutschlands (CDU) und für Großbritannien die der Labour-Party und der Conservative-Party. Die Auswahl der polnischen Parteien unterlag aufgrund der hohen Instabilität des Parteiensystems und unterschiedlichen parteipolitischen CleavageStrukturen als in westeuropäischen Parteiensystemen besonderen Kriterien. Als Konsequenz mussten pro Wahl jeweils drei Parteien Eingang in die Analyse finden. Diese sind:
die Sozialdemokratische Partei Polens (SLD) über den gesamten Zeitraum hinweg die Demokratische Union (UD) 1993, die Freiheitsunion (UW) 1997 und die Bürgerplattform (PO) 2001 und 2005 die Konföderation eines unabhängigen Polens (KPN) 1993, die Wahlaktion Solidarnosc (AWS) 1997 sowie die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) 2001 und 2005.
Eine genauere Begründung der Länder- und Parteienauswahl wird im Rahmen der Darstellung des Untersuchungsdesigns im vierten Kapitel (unter 4.3.2) vorgenommen. 1.4 Aufbau der Arbeit Die Arbeit gliedert sich in zwei grundlegende Teile, einen theoretisch-konzeptionellen Teil (Kapitel 2 bis 4) sowie einen empirisch-analytischen Teil (Kapitel 5 bis 7). Das achte und letzte Kapitel wird der Zusammenführung der Ergebnisse und deren Einordnung in den breiteren Forschungskontext dienen.
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Im zweiten Kapitel wird der theoretische Kontext, indem diese Arbeit anzusiedeln ist, dargelegt. Ausgehend von den globalen und internen Herausforderungen europäischer Gesellschaften wird die Frage einer europäischen Identität entlang der Legitimitätsdebatte nachvollzogen. Hierbei sollen nicht nur unterschiedliche Perspektiven und Zugänge hinsichtlich der Frage nach der Legitimität der EU erörtert werden, sondern auch eine kritische Auseinandersetzung mit den im Rahmen dieser Diskussion vorherrschenden Identitätskonzeptionen stattfinden. Anschließend wird der Stand der (empirischen) europäischen Identitätsforschung skizziert und grundlegende Schlussfolgerungen zusammengefasst. Das dritte Kapitel wird den für diese Arbeit zentralen Begriff der Identität näher beleuchten. Dazu werden die Grundaussagen und Forschungsansätze der vorrangig sozialwissenschaftlichen Theorien personaler, sozialer und kollektiver Identität vorgestellt. Da der Identitätsbegriff in der Forschung höchst vieldeutig verwendet wird, bedarf es einer Bewusstmachung der bisherigen Ansätze und Identitätskonzeptionen, nicht nur um die Abgrenzung zu anderen Identitätskonzeptionen zu verdeutlichen, sondern auch um auf dieser Grundlage ein eigenes tragfähiges Konzept für diese Arbeit entfalten und begründen zu können. Im vierten Kapitel wird das dieser Arbeit zu Grunde gelegte komplexe europäische Identitätskonzept entfaltet und begründet. Dabei sollen dessen konstitutiven Komponenten (Skript, politische Kultur) im Einzelnen expliziert werden und die methodische Vorgehensweise samt Fall- und Parteienauswahl vorgestellt werden. Die detaillierte Darlegung des Untersuchungsdesign soll einem besseren Verständnis und der Nachvollziehbarkeit der einzelnen Analyseschritte dienen. Das anschließende fünfte Kapitel widmet sich zunächst der Frage nach einem „Sozialen Europa“ und dessen Verknüpfung mit der europäischen Identitätsfrage. Die theoretische Einbettung des Zusammenhangs dieser beider Fragen scheint schon deshalb geboten, da höchst unterschiedliche und umstrittene Vorstellungen dessen, was unter einem „Sozialen Europa“, der sozialen Dimension oder einem „Europäischen Sozialmodell“ verstanden wird, anzutreffen sind. Die daran anschließende Skript-Analyse soll das tatsächliche, in den Verträgen der EU verankerte sozialpolitische Selbstverständnis der EU herausarbeiten. Dieses wird dann für den späteren Vergleich mit den Sozio- und Deutungskulturen im Rahmen wohlfahrtsstaatlicher Typologien verortet. Das sechste Kapitel untersucht die wohlfahrtsstaatlichen Vorstellungen der Bürger in den europäischen Mitgliedsstaaten (ISSP Datenanalyse) und vergleicht diese mit dem Europäischen Skript. Daran anschließend wird gefragt, inwieweit diese Ergebnisse als ein Votum für oder gegen ein „Soziales Europa“ gewertet werden können. Zu diesem Zweck werden weitere statistische Daten des Eurobarometers herangezogen und in Beziehung zu den Ergebnissen der nationalen ISSP-Daten gesetzt. Im siebten Kapitel folgt die vertiefende Analyse der parteipolitischen Deutungskulturen in Deutschland, Großbritannien und Polen. Hierbei wird zunächst theoretisch begründet, warum Parteien als Träger bzw. Interpreten politischer Kultur gelten können. Daran anknüpfend wird eine Rechtfertigung und Darstellung der anschließenden methodischen Vorgehensweise zur Analyse der parteipolitischen Programme vorgenommen. Die Analyse selbst erfolgt länderweise und dabei in chronologischer Reihenfolge. Jede Länderanalyse beginnt mit einer Darstellung der politischen Institutionen, der sozialstaatlichen Strukturen sowie des zeithistorischen Kontextes und endet mit einer kurzen Bilanzierung der wesentlichen Ergebnisse. Diese Einrahmung dient nicht nur der Strukturierung und besseren Ver-
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ständlichkeit der Analyse, sondern soll vor allem die letztendliche Verankerung der Deutungskultur im institutionellen Rahmen des politischen Systems und im jeweiligen Zeitkontext verdeutlichen. Zum Schluss des Kapitels wird die Vergleichsanalyse mit dem EUSkript unternommen. Das achte und letzte Kapitel dient der Zusammenführung der Ergebnisse aus den Teilanalysen und setzt diese zueinander in Beziehung. Anschließend findet ein Rückbezug auf die Ausgangsfragen der Untersuchung und die Einbettung der Erkenntnisse in den größeren theoretischen Zusammenhang statt. Dabei soll nicht nur der Forschungsbeitrag der Untersuchung herausgestellt, sondern auch die Grenzen des Ansatzes diskutiert werden.
2 Die Legitimität der EU: Demos, Identität und Öffentlichkeit
Während bis zum Ende der 1980er Jahre die Beschreibung und ein prinzipielles Verständnis des Integrationsprozesses, seiner Entwicklungsdynamik und Funktionsweisen im Vordergrund der europawissenschaftlichen Diskussion standen, ging man im Zuge der Vertragsreformen der achtziger und neunziger Jahre mehr und mehr dazu über, das sich herauskristallisierende europäische politische Phänomen zu evaluieren und normativen Maßstäben der Beurteilung zu unterziehen.34 Im Rahmen dieser „normativen Wende“35 wurde um ein besseres Verständnis dessen, was die Europäische Union ist und was ihre zukünftige Rolle in einer sich rapide wandelnden und von Unsicherheiten geprägten (politischen) Welt(-ordnung) sein kann und sollte, gerungen.36 Denn der europäische Integrationsprozess kann nicht nur als Produkt, sondern auch als fortwährender Produzent von gesellschaftlichem und politischem Wandel betrachtet werden37. Dabei scheinen tief greifende politische und ökonomische Umbrüche sowie veränderte gesellschaftliche Wahrnehmungen Europa38 derzeit besonders herauszufordern. Die gesellschaftlichen und politischen Um- und Neuordnungsprozesse seit dem Ende des OstWest-Konflikts 1989 sowie die veränderten technologischen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Bedingungen im Rahmen der fortschreitenden „Globalisierung“ rücken die Europäische Union als zunehmend wichtig gewordenen Handlungsrahmen ins Blickfeld der politischen und wissenschaftlichen Debatten. Diese „neue Rolle“39 leitet sich zudem aus der Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses selbst ab, der spätestens seit den Vertragsrevisionen von Maastricht und Amsterdam weit über rein wirtschaftliche und administrative Aufgaben hinausgeht und in den Institutionen der Europäischen Union mit ihren Politiken die Entstehung eines politischen Gemeinwesens zum Ausdruck bringt. Die im Zuge des Integrationsprozesses etappenartige Politisierung und Demokratisierung der Europäischen Gemeinschaften hin zu 34
Der normativen Wende in der Europaforschung ging die Feststellung voraus, dass sich die Europäische Union in ein – wie auch immer näher zu charakterisierendes – politisches Gemeinwesen, eine polity, entwickelt habe. Vgl. weiter unten als auch Schildberg (2008a:3) 35 Bellamy/Castiglione (2003:7) 36 Das Aufwerfen zentraler Fragen der normativen Politischen Theorie sollte letztlich neben einer Selbstvergewisserung der Europäer auch mögliche europäische Antworten auf die anstehenden Herausforderungen im Kontext von Globalisierung und sozialem Wandel liefern. 37 Vgl. Tömmel (2005). Balli konkretisiert konsequenterweise, dass „[…] die Vorstellung der prinzipiellen Zeitlichkeit menschlichen Zusammenlebens heute weit verbreitet [ist], und […] zudem Geschichtlichkeit oft als ein Kennzeichen Europas angeführt [wird]. Nichtsdestotrotz scheint sich die Ordnung des Zusammenlebens – und somit die politische Ordnung – in Europa in einem Prozess der Veränderung zu finden, der nach besonderer Aufmerksamkeit verlangt.“ Balli (2006b:191) 38 Im Rahmen dieser Arbeit werden die Begriffe ‚Europa’ und ‚europäisch’ zumeist in Bezug zum Integrationsprozess gesetzt. An Stellen, wo eine Unterscheidung zwischen Europa als geographischem Raum und der EU als wirtschaftlichem und politischem Integrationsprojekt notwendig erscheint, wird explizit darauf verwiesen. 39 Balli (2006b:191)
2 Die Legitimität der EU
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einer Europäischen Union (1992) als einen wirtschaftlichen und politischen Zusammenschluss mit einem breiten Spektrum an Politiken, die über intergouvernementale, aber auch supranationale Institutionen und Entscheidungsverfahren verfügt, ließ schließlich die Frage nach der demokratischen Legitimation eines – vorgeblich – politisch gewordenen Europa virulent werden40. Die sozialen, politischen und ökonomischen Herausforderungen, denen die europäischen Gesellschaften gegenüber stehen, werden aus zwei bisweilen reziproken Entwicklungsdynamiken abgeleitet: Zum einen aus „externen“ globalen und damit einhergehenden „internen“, alle westlichen Industriegesellschaften betreffenden, veränderten gesellschaftlichen Problemlagen. Schlagworte sind hier Sozialer Wandel und Globalisierung. 2.1 Sozialer Wandel und Globalisierung Die „internen“ veränderten Problemlagen europäischer Gesellschaften41 zeigen sich im demographischen Wandel und in einer Pluralisierung von Lebensweisen und Wertvorstellungen42. Die Lebensbedingungen in westeuropäischen Industriestaaten haben sich zunächst im Rahmen der Industrialisierung und Modernisierung verändert. Die darin geschaffenen Verhältnisse wurden dann seit Ende der 1950er Jahre nochmals – nicht zuletzt aufgrund von (zunehmenden) Individualisierungsprozessen – grundlegend verändert. Mit der fortschreitenden Herauslösung aus vorherigen sozialen Bindungen (tradierten Sozialmilieus, religiösen Anbindungen, vordefinierten Geschlechterrollen) werden Individuen letztlich über das politisch-ökonomische System – über Märkte und sozialstaatliche Regulation – neu zueinander in Beziehung gestellt.43 Die externen Rahmenbedingungen leiten sich maßgeblich aus der Globalisierung44 in Form der internationalen Liberalisierung und Deregulierung von Kapitalströmen sowie der 40
Ebd. Die internen veränderten Problemlagen werden letztlich für alle westlichen Industriegesellschaften konstatiert, für das Thema der Arbeit sollen hier jedoch die europäischen Gesellschaften in den Blick genommen werden. 42 Unter demographischen Wandel wird die wachsende Lebenserwartung bei gleichzeitiger Abnahme der Geburtenrate gefasst, was wiederum Auswirkungen auf das gesamtgesellschaftliche System (Arbeitsbeziehungen, soziale Sicherung, Renten- und Gesundheitssystem etc.) mit sich bringe. Vgl. Beck (1994), Inglehardt (1997). 43 Normativ betrachtet bezeichnet der Individualisierungsprozess einen mit der Industrialisierung und Modernisierung einhergehenden Prozess des Übergangs von der Fremd- zur Selbstbestimmung. Dabei werden grundsätzlich zwei Phasen unterteilt: die erste ist geprägt von einer Erweiterung der Arbeitsteilung bei gleichzeitiger Schwächung traditioneller sozialer Bande (Zerfall von Dorfgemeinschaften und Rückzug der Großfamilie) und der Ausweitung ökonomisch geprägter Beziehungen (z. B. beschrieben von Georg Simmel 1890 und Emil Durkheim 1893). Der Beginn einer zweiten Phase des Individualisierungsprozesses wird auf das Ende der 1950er Jahre datiert, womit eine Radikalisierung und Universalisierung des Prozesses eingesetzt habe, so dass gesellschaftliche Zuordnungen nach Stand und Klasse obsolet geworden seien, eine Pluralisierung der Lebensstile, eine Steigerung der Bildung - und letztlich ein erhöhter Zwang zu reflexiver Lebensführung einhergehe. Insbesondere Beck und Giddens haben die so wahrgenommenen veränderten sozialen Lebensbedingungen in ihrer Theorie der reflexiven Modernisierung konzeptualisiert. Vgl. Beck (1986), Beck et al. (1996), darüber hinaus: Dörre (2002:58ff) 44 Unter Globalisierung wird hier in Anlehnung an Grabas (2007) ein komplexer Prozess verstanden, der sich durch drei wesentliche Strukturmerkmale auszeichnet. Globalisierung ist demnach: 1. eine zunehmende weltwirtschaftliche Verflechtung mit weit reichenden politischen, sozialen, kulturellen, ökonomischen und ökologischen Folgewirkungen; 2. ein Dynamisierungs- und Expansionsprozess augrund der prinzipiellen Mobilität von Produkten und Produktionsfaktoren und einer bisher nicht abgeschlossenen institutionellen Öffnung von Wirtschafts- und Lebensräumen; 3. ein widerspruchsvoller und konfliktträchtiger Prozess, der keinem teleologischen Prinzip folgt und durchaus durch individuelle und kollektive Akteure als gestaltbar angesehen wird. Grabas (2007:60) 41
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2 Die Legitimität der EU
transnationalen Verflechtung von Güter- und Dienstleistungsmärkten ab. Damit einher geht eine Verschärfung der Standortkonkurrenz, die eine Schwächung nationalstaatlicher Souveränität und tief greifende Veränderungen der Arbeitswelt mit sich bringt. Neben den ökonomischen Auswirkungen der Globalisierung wird zudem eine kulturelle Dimension konstatiert: Durch die Ausbreitung von globalen Kommunikations- und Informationssystemen wird die traditionelle Verbindung von geographischem Raum und seinen kulturellen Merkmalen aufgeweicht und eine Verschmelzung der unterschiedlichen Kulturen bewirkt.45 Vor diesem Tableau externer und interner Herausforderungen, denen sich die europäischen Gesellschaften gegenüber sehen, wird die Europäische Union als eine (mögliche) Antwort zur Bewältigung derselben betrachtet. Unter diesen Bedingungen wird der europäischen Ebene als neuer und gewichtiger Handlungsrahmen ein positives Potential zur Kompensation national verloren gegangener oder zumindest eingeschränkter politischer Steuerungsfähigkeit und Regelungskompetenz zugeschrieben. Jedoch wirft die Übertragung von politischer Entscheidungsmacht und Regelungskompetenzen die Frage der Legitimität solcher Prozesse auf. Der fortschreitende Integrationsprozess hat folglich nicht nur Problemlösungspotential, sondern wirft durch seine politische Entscheidungen und institutionellen Strukturen selbst wieder neue Probleme auf. Hieran knüpfen die Fragen nach der Legitimität der europäischen Institutionen und Prozesse an. 2.2 Die Legitimität der Europäischen Union Ging es zu Beginn des europäischen Integrationsprozesses primär um die Fragen des wirtschaftlichen Wachstums und der rechtlichen Grundlagen der neu geschaffenen Institutionen der Europäischen Gemeinschaften, verlagerte sich mit der voranschreitenden Integration die Aufmerksamkeit auf die Frage der demokratischen Legitimität dieses Prozesses. Im Großen und Ganzen können drei Perspektiven auf das Problem der europäischen Legitimität unterschieden werden:46 In der ersten Output-Perspektive, wird die Legitimität der EU am Grad ihrer effektiven Problemlösungsfähigkeit gemessen. Insofern geht es weniger um eine demokratische Legitimation von politischen Entscheidungen und Verfahren, sondern vorrangig um die Frage, inwieweit die Entscheidungsverfahren effizient sind und mit den politisch erzielten Ergebnisse eine erhöhte Glaubwürdigkeit erreicht wird. Als Hauptvertreter dieser Perspektive gelten in der EU-Debatte Majone (2006)47 und Moravscik (2002)48. Beide – wenn auch mit 45
Die Auswirkungen des Globalisierungsprozesses werden in der wissenschaftlichen Debatte hoch kontrovers diskutiert. Als positive Auswirkungen der Globalisierung werden u. a. größerer wirtschaftlicher Wachstum, steigender Wohlstand sowie Warenvielfalt und Beschleunigung technologischen Fortschritts genannt. Auf kultureller Ebene wird betont, dass durch den zunehmenden Kulturaustausch Menschen mehr voneinander lernen und kooperatives Verhalten gefördert werde. Globalisierungsgegner verweisen hingegen insbesondere auf die Dominanz der ökonomischen Globalisierung und eine Zunahme sozialer Ungleichheit, wobei eine Globalisierung von Menschenrechten, Arbeitnehmerrechten, ökologischen Standards oder Demokratie nicht berücksichtigt werde. Hinsichtlich der kulturellen Dimension werden kulturelle und religiöse Gegenbewegungen sowie eine verschärfte ethnische Fragmentierung konstatiert. Vgl. allgemein hierzu: Plate (2003), zur Handlungsfähigkeit der Nationalstaaten im Rahmen der Globalisierung Bernauer (2000), aus soziologischer Perspektive s. Castells (2002, 2003) Triologie zum Informationszeitalter sowie Beck (1986) zur Risikogesellschaft und Beck et al. (1996). 46 Für die Darstellung der drei Perspektiven vgl. Schildberg (2008a:62-64) 47 Majone (2006) 48 Moravcsik (2002)
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unterschiedlichen Argumenten – sind gegen eine weitere Demokratisierung der EU und verteidigen den Status-quo der EU. Sie bestreiten letztlich, dass die EU an einem Demokratie- und Legitimationsdefizit leide und befürchten mit einer Politisierung und Demokratisierung Einbußen an Effektivität und Glaubwürdigkeit, also der europäischen Problemlösungsfähigkeit. Den Kern dieser Argumentation bildet die Annahme, dass die EU ParetoVerbesserungen49 möglich mache, die der einzelne Mitgliedsstaat allein nicht erzielen könnte. Daraus folgt, dass die Delegation von Aufgaben in vornehmlich unpolitischen Bereichen an nicht gewählte Akteure und Experten in dem Maße gerechtfertigt ist, indem die Output-Legitimation der EU erhöht wird. Aus einer Steigerung der Output-Legitimation ginge zwangsläufig auch eine Akzeptanz der europäischen Politik durch die Bürger einher, da niemand von den Entscheidungen benachteiligt würde, was somit einem öffentlichen Interesse entspräche. In dieser Perspektive wird die EU in hohem Maße als eine Art ‚Bürokratie’ konzeptualisiert, die primär das reibungslose Funktionieren des gemeinsamen Marktes sicherstellen soll und sich hauptsächlich mit der Angleichung technischerr Regulierungen beschäftigt. Die Delegation an Experten und nicht gewählte Vertretern rechtfertigt sich über den Wohlfahrtsgewinn, der durch effektive Problemlösungen gesichert wird. Eine zweite Perspektive in der Legitimationsdebatte fokussiert den institutionellen Aufbau der EU und fragt danach, inwieweit das institutionelle System demokratisch bzw. wie die politische Herrschaft institutionalisiert ist. Um legitimiert zu sein müssen die Institutionen demokratischen Qualitätsstandards entsprechen. Legitimationsprobleme ergeben sich in dieser Perspektive vor allem mit der Einführung von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat seit der Einheitlichen Europäischen Akte 1986, sowie im weiteren Verlauf mit der zunehmenden Kompetenzausweitung der EU auf immer weitere Politikfelder50. Mit der Einführung von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat wurde zunächst eine mangelhafte Legitimation über die nationalen Regierungen und Parlamente diagnostiziert, da dadurch mehrheitlich rechtsverbindliche Entscheidungen gegen den Willen einzelner Regierungen getroffen werden konnten, die diese gegen ihren Willen zu implementieren hatten. Darüber hinaus wurde aber auch die intergouvernementale Abstimmungsmethode auf der Basis von Einstimmigkeit in Frage gestellt, da die Regierungen der Mitgliedsstaaten in nationalen Wahlen auf der Grundlage nationaler Themen gewählt würden und insofern über kein europapolitisches Plebiszit verfügen würden. Zudem würden die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, so die Kritik, jeglicher demokratischen Transparenz entbehren51 Auch die Praxis des „blame-shiftings“, wonach nationale Regierungen Verantwortung für bestimmte Entscheidungen auf „Brüssel“ schieben und die eigene Verhandlungsposition aber nicht offen gelegt werden müsse, begünstige letztlich demokratisch fragwürdige Methoden der Verantwortungsverschiebung und Intransparenz. Weitere Legitimationsprobleme werden in der geringen Beteiligung des europäischen Parlaments am Gesetzgebungsproess gesehen. Ferner wird kritisiert, dass die Kommission als Exekutive weder aus dem direkt gewählten europäischen Parlament hervorgehe, noch direkt von den Bürgern gewählt wird. Sie weist nämlich nur eine indirekte Legitimation auf, und zwar über die Ernennung durch
49 Pareto-Verbesserung bedeutet, dass mindestens ein Individuum besser gestellt werden kann, ohne dass zugleich ein anderes Individuum dadurch schlechter gestellt wird. 50 Vgl. hierzu auch Kapitel 6. 51 Holzinger et al. (2005:90-103), vgl. auch Kielmannsegg (2003:53ff)
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2 Die Legitimität der EU
die nationalen Regierungen.52 Als ein weiterer wesentlicher demokratischer Mangel wird das Fehlen eines europäischen Parteiensystems betrachtet.53 Demzufolge wird den europäischen Institutionen ein andauerndes Legitimations- und Demokratiedefizit attestiert, wobei die Behebung dieser Defizite primär über institutionelle Reformen diskutiert wird. Die Forderung nach institutionellen Reformen impliziert zumeist auch eine Forderung nach mehr Partizipationsmöglichkeiten der Bürger, so dass das demokratische Legitimationsdefizit der EU nicht allein auf der Ebene der formal-institutionellen Strukturen angesiedelt wird, sondern genauso in einer mangelnden Anbindung an die europäischen Bürger. In dieser dritten Perspektive werden ebenfalls normative Demokratiemaßstäbe der Beurteilung zugrunde gelegt, allerdings diesmal mit Blick auf eine notwendige Anbindung des politischen Prozesses an die Bürger. Denn in dieser Hinsicht ist eine politische Gemeinschaft nur dann legitimiert, wenn diese aus den Bürgern hervorgehe oder von diesen zumindest unterstützt wird. Demokratie – verstanden im republikanischen Sinne – bedarf demnach nicht nur demokratischer Institutionen und Verfahren, sondern auch eines Volkes (demos), welches sich letztlich durch eine gemeinsame Identität auszeichnet. Politische Macht oder Herrschaft erscheint nur dann gerechtfertigt, wenn das Volk oder besser die Bürger diese als legitim anerkennen. Die politische Gemeinschaft (von Bürgern) mit ihren Institutionen begründet sich in Form einer Übereinstimmung über die Regeln und Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Der Grad an politischer Übereinstimmung verdichtet sich in einer kollektiven Identität, die als Grundlage für die Existenzsicherung und Stabilität des politischen Gemeinwesens angesehen wird. In der zweiten und dritten Perspektive wird der enge Zusammenhang von politischer Legitimität und Demokratie herausgestellt, wobei das demokratische Defizits auf institutioneller Ebene und das Identitätsdefizits auf Bürgerebene (d.h. im Sinne einer mangelnden Anbindung der politischen Institutionen und Prozesse an die europäischen Bürger) letztlich zwei Seiten ein und derselben Medaille darstellen. Diese Arbeit folgt der Annahme, dass der Legitimationsgedanke an die Idee der Demokratie gekoppelt ist und ohne Demokratie/demokratische Prozesse keine ausreichende politische Legitimation erreicht werden kann. Die Frage, in welcher Form und auf welche Weise eine solche jedoch im Rahmen der EU notwendig und möglich ist, soll in den nächsten Abschnitten entlang der Diskussion um eine europäische Identität aufgezeigt werden. 2.2.1
Demokratische Legitimationsprozesse
Im Kontext der europäischen Identitätsdebatte herrschen wiederum zwei unterschiedliche Sichtweisen bezüglich der Beschaffenheit von Legitimationsprozessen vor. Die erste Sichtweise betont, dass Mehrheitsentscheidungen von der überstimmten Minderheit nur dann als legitim angesehen werden, wenn das Individuum davon ausgehen kann, dass jeder Einzelne seine Präferenzen zum Wohle des Gemeinwesens abwägt. Damit wird die Mehrheitsentscheidung als ein Ausdruck des guten Willens der Mitbürger verstanden, so dass der Einzelne oder eben die Minderheit die getroffene Entscheidung als legitim ansehen wird. Scharpf (1999) führt dazu aus: 52 53
Holzinger et al. (2005:91) Mittag (2006)
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„Um die Gehorsamspflicht rein input-orientiert zu begründen, bedarf es also zusätzlicher, und nicht rein formaler Argumente, die das Vertrauen der Minderheit in die Mehrheit – „the people can do wrong“ – begründen könnten. Letztlich erfordert dies die begründete Unterstellung, dass die Präferenzfunktion jedes einzelnen Mitglieds des Gemeinwesens die Wohlfahrt aller Mitglieder als ein Argument enthält. Meine Pflicht, so Claus Offe (1998), zur Akzeptanz der Opfer, die mir im Namen der Allgemeinheit auferlegt werden, setzt mein Vertrauen auf den guten Willen meiner Mitbürger voraus. Soziopsychische Grundlage dieses Vertrauens ist ein „Gemeinsamkeitsglauben“ (Max Weber), der sich auf präexistente geschichtliche, sprachliche, kulturelle oder ethnische Gemeinsamkeiten gründet. Kann diese starke kollektive Identität vorausgesetzt werden, so verliert die Mehrheitsherrschaft in der Tat ihren bedrohlichen Charakter.“54
Scharpf unterscheidet im Bezug auf die EU zwischen zwei unterschiedlichen Legitimationstypen: Output- und Input-Legitimation. Output-Legitimation bezieht sich auf die Ergebnisse und fragt, inwieweit die betriebene Politik effektiv und wohlfahrtssteigernd ist, während Input-Legitimation auf der Frage beruht, inwieweit die getroffenen Entscheidungen dem „Willen des Volkes“ entsprechen. Input-Legitimation ist somit die „Herrschaft durch das Volk“, während Output-Legitimation die „Herrschaft für das Volk“ betont.55 Um den „Willen des Volkes“ ermitteln zu können, bedürfe es des Konsenses, was auf europäischer Ebene nicht gewährleistet werden könne, da die Distanz zwischen den politischen Vertretern und den Bürgern zu groß sei, um tatsächliche Partizipation an den Lösungsfindungen gewährleisten zu können. Demnach könne die EU derzeit nur eine Output-Legitimation erreichen, die lediglich auf gemeinsamen Interessen basiere, aber nicht auf einer gemeinsamen Identität (identitätsgestützte Input-Legitimation). Vor diesem Hintergrund argumentiert er, dass sich die EU, die sich auf kein europäisches Volk stützen könne, auf „unkontroverse“ Politikbereiche beschränken müsse, damit die Entscheidungen von den EUBürgern als legitim angesehen werden können. Die Problematik einer input-orientierten Legitimation der EU deckt sich damit weitgehend mit der Diagnose des demokratischen Defizits der EU, was eine mangelnde Partizipation der Bürger am Prozess der gemeinsamen Lösungsfindung postuliert. Auch wenn Scharpfs Argumentation letztlich die strukturelle Asymmetrie zwischen positiver und negativer Integration der EU im Blick hat56, muss die Vorstellung, dass eine „identitätsgestützte Input-Legitimation“ auf einer Art „Gemeinsamkeitsglauben“ basiert, als durchaus problematisch angesehen werden. Diese erinnert an ein vorpolitisches Verständnis, dass die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Begründung von politischer Legitimation weitgehend ausblendet. Die zweite Sichtweise betont hingegen die Notwendigkeit eines rationalen Legitimationsdiskurses und zieht die Vorstellung einer auf „Gemeinsamkeitsglauben“ basierende „Fügsamkeitsmotivation“ in Zweifel. Cheneval (2005b) verweist darauf, dass InputLegitimation nicht losgelöst vom politischen Prozess betrachtet werden kann, indem er ausführt: „Dass die Fügsamkeitsmotivation aber nicht aus einem Grundkonsens sondern aus einem unvorgreiflichen „Glauben“ an die Gemeinsamkeit hervorgehen soll, ist zu bezweifeln. Es ist dem modernen Legitimationsdiskurs eigen, politische Macht von Menschen über Menschen als grundsätzlich begründungbedürftig zu betrachten. Der vorpolitische Traditionszug der Herr54
Scharpf (1999:18) Scharpf (1999:16) 56 Siehe hierzu Kapitel 5 55
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2 Die Legitimität der EU schaft ist dabei gerade das in Frage Gestellte. Diese Infragestellung ist nicht gegen die Geschichte gerichtet, sondern vollzieht sich auch innerhalb einer kritischen Geschichtswissenschaft (vgl. Kreis). Inputlegitimation einseitig auf einen kulturell bedingten und historisch gewachsenen Gemeinsamkeitsglauben zurückzuführen ist deshalb entweder zirkulär oder stellt an sich eine Verweigerung eines rationalen Legitimationsdiskurses dar. Falls die Wissenschaft auf eine solche Position ausweichen muss, um die demokratische Legitimation der EU in Frage zu stellen und diejenige des Nationalstaates zu behaupten, ist Vorsicht angebracht. Insbesondere die gegen die legitimatorische Infragestellung immunisierte Annahme einer vorpolitischen „Präexistenz“ des Gemeinsamkeitsglaubens unabhängig von funktionalen Prozessen und politischen Strukturen ist inadäquat.“57
Michael Zürn (1998) fügt entsprechend der Input- und Output- Dimension eine dritte prozedurale Dimension (through-put-orientierte Legitimation) hinzu. Diese basiert auf prozeduralen demokratischen Prozessen der kommunikativen Rationalität.58 Zürn argumentiert in diesem Kontext, dass die Anbindung der Bürger als Kollektiv (Demos) an den politischen Prozess und die politischen Institutionen eine unverzichtbare Bedingung für die Herausbildung einer kollektiven politischen Identität darstellt. Dass sich Volkssouveränität und Legitimität eines Staatsvolkes nicht in Form eines „realexistierenden Kollektivsubjekts“ äußert, sondern eben nur auf einer „phänomenalen Struktur der demokratischen, auf allgemeine Beteiligung aller Staatsbürger zurückführbaren Prozeduren“59 basiert, widerspricht der Vorstellung einer präexistenten kollektiven Identität als Vorbedingung einer Input-Legitimation.60 Vielmehr kommt den demokratischen Verfahren und öffentlichen pluralistischen Kommunikationsprozessen entscheidende Bedeutung zu: „Die höchste politische Autorität des Staatsvolks beruht normativ auf einer juridischen Setzung und deskriptiv auf der kommunikativen Feststellung einer kollektiven imaginären Gemeinschaft. Beide konkretisieren sich in demokratischen Verfahren und freien Öffentlichkeiten und haben ohne diese keine legitime Autorität.“61
Mit der These von der EU als einer „Demoi-kratie“62 wird von der Vorstellung Abstand genommen, dass sich ein unitarisches und exklusives europäisches Staatsvolk als Legitimationsgrundlage herausbilden muss. Vielmehr wird darauf verwiesen, dass in einem multilateralen Mehrebenensystem wie der EU eine vertikal und horizontal gekoppelte und differenzierte Volkssouveränität plausibler erscheint.63 57
Cheneval (2005a:6f) Cheneval (2005a:6), vgl. Zürn (1998:236). Die umfassende und kontrovers geführte europäische Legitimationsdebatte kann im Rahmen dieser Arbeit nicht in Gänze wiedergegeben werden und muss folglich mit weiterführenden Literaturverweisen auskommen. In der umfangreichen wissenschaftlichen Literatur wird nicht nur zwischen verschiedenen Legitimationsarten (input, output, substantielle etc.) sondern ebenso abgestufte Legitimationsformen differenziert. Vgl. dazu mit Bezug zum europäischen Integrationsprozess, insbesondere: Cerutti (2003, 2005), Scharpf (1999, 2004), Thalmaier (2005), Wendler (2005), allgemein zum Konzept politischer Legitimität siehe z. B. Westle (1989) 59 Cheneval (2005a:16) 60 Vgl. Scharpf (1999:17f) 61 Cheneval (2005a:17) 62 Nach Nicolaidis (2003, 2004), zit. aus Ceneval (2005a:14). In diesem Zusammenhang wird in der Debatte zumeist auf das Staats- und Demokratiemodell der Schweiz verwiesen (ebd.:17f). 63 Vgl. Cheneval (2005b) 58
2 Die Legitimität der EU
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„Die Frage ist also nicht, ob ein europäischer Demos die nationalen Demoi ersetzen soll und kann, sondern durch welche Prozeduren und Kompetenzen die nationalen Demoi gekoppelt und welche Teilkompetenz eventuell einem überwölbenden, europäischen Demos zugestanden werden soll.“64
Eine vertikale und horizontale Differenzierung von Legitimationsquellen im Rahmen der EU entspricht somit eher der empirischen Wirklichkeit des europäischen Mehrebenensystems. Dennoch verweist Jean-Marc Ferry (2005) ebenso darauf, dass auch wenn eine demokratische EU in dieser Hinsicht kein Einheitsstaat sein muss, um Legitimität zu besitzen, seien dennoch die Verständigungsbereitschaft der politischen Eliten und Bürger, eine gemeinsame politische Kultur sowie das Bewusstsein Teil eines gemeinsamen politischen Projekts zu sein, unerlässlich.65 2.2.2
Das Öffentlichkeitsdefizit der EU
Die aus dem modernen liberaldemokratischen Legitimationsdiskurs abgeleiteten Prämissen für die Herausbildung einer europäischen Identität sind jedoch im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses (bisher) nur teilweise erfüllt, was mitunter auf den europäischen Entstehungsprozess zurückgeführt werden kann, aber auch eine den sui-generis Charakter der EU betreffende Dimension aufweist. Ein wesentliches Moment stellt dabei die Notwendigkeit einer europäischen Öffentlichkeit dar, in deren Rahmen die Bürger ihren Präferenzen Ausdruck verleihen können und EU-Verantwortliche Rechenschaft ablegen müssten. Politische Öffentlichkeiten stellen in modernen Demokratien die Grundlage für die Teilnahme der Bürger am politischen Entscheidungsprozess dar, indem der politische Prozess transparent und eine Auseinandersetzung um unterschiedliche Vorstellungen über die Ausgestaltung des politischen Gemeinwesens vollzogen wird. Tresch und Jochum (2005) definieren Öffentlichkeit in Anlehnung an Neidhardt als ein Kommunikationsforum, „in dem politische Akteure (Sprecher) vor einem Publikum – den Bürgern – politische Auseinandersetzungen zu bestimmten öffentlichen Themen austragen.“66 In modernen Gesellschaften kann ein solcher interaktiver Prozess nicht unmittelbar zwischen Bürgern und Entscheidungsträgern ablaufen, sondern muss weitgehend über die Massenmedien vermittelt werden. Dieser durch die Massenmedien vermittelte Kommunikationsfluss zwischen den politischen Entscheidungsträgern und den Bürgern erfüllt eine doppelte Funktion: Zum einen fördert er die allgemeine Meinungsbildung und Interessenvermittlung, und zum anderen eine Rückbindung der Entscheidungsträger an die öffentliche Meinung bzw. den Willen der Bürger. Öffentlichkeit stellt somit Transparenz durch die Möglichkeit der reziproken Beobachtung zwischen Bürgern und politischen Akteuren dar und sichert die Legitimität des politischen Systems dadurch, dass die Entscheidungsträger über die Präferenzen der Bürger im Bilde sind und dementsprechend ihr Handeln ausrichten können.67 Die These vom Öffentlichkeitsdefizit der EU wird vor dem Hintergrund dieser demokratietheoretischen Annahmen erhoben, so dass der Mangel an Öffentlichkeit die demokra64
Biaggini (2005: 349-375) Ferry (2005: 47-61) 66 Tresch/Jochum (2005:276) 67 Tresch/Jochum (2005:376) 65
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tische Legitimation des politischen Systems und die Herausbildung einer europäischen Identität in Frage stelle. Obgleich weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass die EU als demokratisches politisches System einer europäischen Öffentlichkeit bedürfe, finden sich bei der Frage, wie eine solche europäische Öffentlichkeit aussehen kann/sollte, drei unterschiedliche Positionen. Während erstens, die mangelnde institutionelle Demokratisierung der EU als Ursache für das Öffentlichkeitsdefizit veranschlagt wird und damit einhergehend institutionelle Reformen als notwendig angesehen werden, wird dem zweitens entgegengesetzt, dass für die Demokratisierung der EU zunächst eine Öffentlichkeit gegeben sein müsste, damit solche Reformen überhaupt wirken könnten. Drittens wird das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit auf die Sprachenvielfalt innerhalb der EU zurückgeführt oder mit dem Fehlen europäischer Massenmedien erklärt.68 Nach Gerhards (1993) kann eine europäische Öffentlichkeit hingegen auf zweifache Art gedacht werden, zum einen als eine transnationale, genuin europäische Öffentlichkeit z. B. in Form von länderübergreifenden europäischen Massenmedien oder eben in Form einer Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten auf der Grundlage der bestehenden Mediensysteme. Die zweite Variante sieht in einer Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten das für die EU realistischere Modell, das zugleich aber auch als normativ ausreichend bewertet wird.69 Eine solche Europäisierung nationaler Medien konnte in Ansätzen auch schon empirisch nachgewiesen werden. Christoph O. Meyer (2002) konnte anhand von drei Fallsbeispielen aufzeigen, dass auf der Ebene der Brüsseler Korrespondenten eine direkte Zusammenarbeit der nationalen Journalisten zunimmt und damit einhergehend eine Synchronisation der Brüsseler Berichterstattung stattfindet. Dabei fand er heraus, dass ein erhöhtes öffentliches Interesse an der Kontrolle europäischer Akteure transnationale Debatten über politische Werte befördern kann. Demnach sieht Meyer die öffentliche Kontrolle von supranationalen Institutionen durch die Analyse seiner Fallbeispiele als möglich an, wodurch die oben erwähnten normativen Legitimationsargumente zumindest teilweise gestützt werden.70 Eine weitere Studie von Tresch/Jochum (2005) belegt, dass die Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten im EU-Durchschnitt zwischen 1990 und 2002 tendenziell zugenommen hat, wobei der Europäisierungsgrad insbesondere in den Politikfeldern am höchsten war, die in die supranationale Kompetenz der EU fallen. Allerdings sei ebenso aufgefallen, dass der überwiegende Teil der europäisierten Debatten nach wie vor von nationalen Akteuren geführt würden, während europäische Akteure weitaus geringer in den nationalen Öffentlichkeiten auftreten.71 Diese Studien können belegen, dass die EU-Berichterstattung sowohl in der vertikalen als auch horizontalen Dimension zugenommen hat, dies darf aber letztlich über das weiterhin bestehende Problem eines europäischen Öffentlichkeitsdefizits nicht hinweg täuschen. Fünf defizitäre Aspekte müssen in diesem Kontext Erwähnung finden: Erstens fehlt es der EU an einer ausreichenden Personalisierung, was verhindert, dass sie ein „Gesicht“ in der 68 Tresch/Jochum (2005:376ff). Bezug genommen wird hier auf die Arbeiten von Risse (2002) und Fuchs (2000), die die mangelnde institutionelle Demokratisierung der EU hervorheben und daran anschließend z. B. eine vollständige Parlamentarisierung der EU fordern. Für die zweite Argumentation können Cedermann (2001) als auch Kielmannsegg (2003) genannt werden. Für die dritte Position steht z. B. die Arbeit von Gerhards (1993). 69 Tresch/Jochum (2005:378) beziehen sich hierbei auf mehrere Arbeiten, u. a. von Neidhardt et al. (2000). 70 Ch. Meyer (2002) 71 Tresch/Jochum (2005)
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Öffentlichkeit bekommt. Zweitens kann eine Tendenz der „Entpolitisierung der Politik“ (T. Meyer) beobachtet werden, drittens erweist sich die zum Teil noch vorhandene Intransparenz von Verhandlungen des Ministerrats als hinderlich für eine europäische Berichterstattung. Viertens berichten Korrespondenten aus Brüssel, dass zwar die Nachrichtenfülle über die EU zum Teil erheblich zugenommen habe, eine tiefer gehende Berichterstattung, die die direkten Implikationen von EU-Politiken und nationalen Politiken aufzeigen sowie andere Mitgliedsstaaten der nationalen Öffentlichkeit näher bringen könnten, in den nationalen Stammredaktionen zum Teil aus Platzmangel, zum Teil, da es für nicht medienwirksam gehalten wird, abgelehnt werden. Und fünftens muss zwischen Qualitätsmedien und Boulevardmedien nochmals unterschieden werden, da sich Quantität und Qualität der europäischen Berichterstattung zum Teil erheblich unterscheiden.72 Das Bild einer europäischen Öffentlichkeit bleibt damit ambivalent. Einerseits kann konstatiert werden, dass empirische Studien eine Europäisierungstendenz nationaler Öffentlichkeiten vorfinden und zum Teil eine transnationale Synchronisation Brüsseler Berichterststattung erfolgt. Auf der anderen Seite kann von einer europäischen demokratischen Öffentlichkeit bzw. europäisierten nationalen Öffentlichkeit noch nicht gesprochen werden, so dass die These vom Öffentlichkeitsdefizit nach wie vor Gültigkeit besitzt. Letztlich kann lediglich von einer gewissen europäischen Elitenöffentlichkeit ausgegangen werden, die jedoch am ehesten unter den europäischen und Teilen der nationalen politischen Akteuren, Europawissenschaftlern, einigen Journalisten, Intellektuellen und manchen Erasmus-Studentengruppen existiert. Solche Formen von Elitenöffentlichkeit entsprechen jedoch nicht dem legitimatorischen und identitätsstiftenden Anspruch, der politischer Öffentlichkeit in Demokratien zugeschrieben wird. Insofern stellt das Öffentlichkeitsdefizit der EU ein nach wie vor gewichtiges Hindernis für die Herausbildung einer europäischen Bürgeridentität dar. Dennoch wäre es kurzsichtig, daraus zu schließen, dass es eine solche Öffentlichkeit nicht geben kann, da die empirischen Ergebnisse dafür sprechen, dass - wenn auch kleine - Fortschritte zu verzeichnen sind, die im Rahmen einer weiteren Politisierung und Vertiefung des Integrationsprozesses größer werden können. 2.3 Die Demos-Frage im Rahmen der EU-Debatte Vor dem Hintergrund des konstatierten Demokratie- und Öffentlichkeitsdefizit wurde für die EU zudem als eine „Demokratie ohne Demos“73 bezeichnet. Demnach bedürfe eine funktionsfähige und legitimierte Demokratie eines Demos, eines (Wahl-)Volkes, welches sich selbst als eine politische Einheit interpretiert und kollektiv getroffene Entscheidungen als bindend anerkennt. Während in der Legitimitäts- und Öffentlichkeitsdebatte die Herausbildung einer Identität entweder als Vorbedingung oder als Folge betrachtet wurde, wird in der Debatte um einen europäischen Demos die Beschaffenheit einer Identität selbst problematisiert. Ausgangsfrage ist hierbei, ob es eine Gemeinschaft von Europäern, also ein europäisches Volk gibt, und was diese(s) letztlich ausmacht. Anhand dreier Lesarten wird die Frage nach den konstitutiven Merkmalen eines europäischen Demos jeweils unterschiedlich beantwortet. Zwar gehen alle Ansätze von der Notwendigkeit einer Identifizierung der 72
Vgl. Schildberg (2007b). Hinzu kommen eigene Medienbeobachtungen aus 2002 im Rahmen eines Seminarprojektes an der Ruhr-Universität Bochum. 73 Münch (2001:177)
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Bürger mit der EU aus und betonen, dass eben hierin eine – wie auch immer zu definierende -Gemeinsamkeit der EU-Bürger bestehen sollte. Die Kontroverse dreht sich somit darum, worin eine solche Gemeinsamkeit (Identität) bestehen bzw. wie sie geschaffen werden könnte. 1. 2.
3.
In der ersten (essentialistischen) Lesart konstituiert sich der europäische Demos in Form einer Kultur- bzw. Wertegemeinschaft74. In der zweiten Lesart wird ein Demos analytisch als „unverzichtbares Subjekt von Demokratie“75 verstanden, welches allein durch die Schaffung von Institutionen und der Ausübung legitimer Souveränitätsrechte entstehe. In diesem Verständnis kann bereits der reine Wahlakt zum europäischen Parlament als Ausdruck eines europäischen Demos interpretiert werden. Folglich handelt es sich hierbei um eine sehr „dünne“ oder auch minimalistische Identität. Die dritte (konstruktivistische) Lesart vertritt eine politische Identität, wonach ein Demos erst im Rahmen einer politischen Praxis formal und „real“ geschaffen wird.
2.3.1
Demos als Kulturgemeinschaft
In der essentialistischen Argumentation wird eine Gleichsetzung von Nation und Demos vorgenommen, so dass sich politische und kulturelle Identität im Prinzip überlappen. Die Vorstellung einer europäischen Wertegemeinschaft beruft sich somit auf die Vorstellung, dass kollektive Identitäten auf präexistente geschichtliche, sprachliche, kulturelle oder ethnische Gemeinsamkeiten gegründet sind und unabhängig vom Prozess der Institutionalisierung existieren. Eine kulturelle Identität wird somit zur Vorbedingung für die Herausbildung einer politischen Identität gemacht. Folglich wird für Europa unter dem Begriff der „Wertegemeinschaft“ die Notwendigkeit einer affektiv-kulturellen oder auch „dichten“ Identität gefordert. Während aus einer rein ethno-nationalistischen Perspektive die Herausbildung einer europäischen Identität letztlich unmöglich wird,76 versuchen Verfechter einer Kultur- bzw. Wertegemeinschaft die europäische politische Gegenwart mit einer europäischen Vergangenheit zu verbinden. In Anlehnung an die Konstruktion der Nation als „historische Gemeinschaft“ wird unter Rückgriff auf eine europäische Geschichte die Konstitution der europäischen politischen Gemeinschaft zu untermauern versucht, um dadurch zur Identitätskonstruktion beizutragen. Die Bestimmung dessen, was ‚Europa’ als eine Einheit ausmacht, kann dabei auf recht unterschiedliche Weise geschehen. Eine Möglichkeit besteht in der ideengeschichtlichen Auseinandersetzung mit Europa. Dabei geht es um die „Idee Europa“, also die Vorstellungen davon, was Europa sei und sein soll. Insbesondere Historiker aber auch Soziologen und Politologen haben sich der Frage nach der Entstehung, den Inter-
74
Der Begriff der Wertegemeinschaft wird in der Europäischen Debatte als Gegenmodell zum Begriff des Verfassungspatriotismus verwendet und ist damit häufiger anzutreffen als der Begriff der Kulturgemeinschaft. Diese Gegenüberstellung ist jedoch irreführend, da es sich ebenso beim Verfassungspatriotismus um Werte handelt, diese aber nicht „kulturell“, sondern politisch bestimmt werden. Ich bevorzuge hier den Begriff der Kulturgemeinschaft, da er hervorhebt, dass die Werte kulturell bestimmt werden. 75 Meyer (2004:39) 76 Siehe dazu Kapitel 3.2
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pretationen und Ausgestaltungen der „Idee“ Europa gewidmet77. Hierbei werden auch die kulturellen Deutungs- und Wertesysteme erforscht und nach dem Verhältnis von nationaler und kollektiver Identität gefragt.78 Darunter fallen zunehmend auch Arbeiten über die Bedeutung von Symbolen und „Erinnerungsorten“ wie z. B. Denkmälern, Mythen und Feiertagen etc. als wichtige Elemente für kollektive Identitätsbildungsprozesse.79 Die Bestimmung „Europas“ als Kulturraum propagiert damit die Vorstellung einer gewissen Einheit, die in der europäischen Geschichte vorfindbar sei und damit letztlich nur bewusst gemacht werden müsste. Probleme einer essentialistischen Bestimmung europäischer Identität Bevor auf die zweite und dritte Position, im gewissen Sinne als Gegenpole und Alternativen zur Vorstellung einer kulturell begründeten Identität eingegangen wird, soll anhand verschiedener Kritiken und unter Verweis auf die Diskussion um den Türkeibeitritt die Problematik der essentialistischen Position umrissen werden. An der Türkeidebatte kann mitunter abgelesen werden, inwieweit das Identitätsthema in der wissenschaftlichen aber auch öffentlichen Diskussion in dem Spannungsverhältnis zwischen universellen Werten und liberaldemokratischen Legitimationsbegründungen auf der einen Seite und dem Bedürfnis, das Adjektiv „europäisch“ für die Identitätskonstruktion spezifisch zu definieren, pendelt. Wo es letztlich um die Frage einer Grenzziehung und dessen, was eigentlich „europäisch“ sei, geht, stehen sich die Positionen einer Werte- bzw. Kulturgemeinschaft auf der einen Seite, und des Verfassungspatriotismus als auch einer minimalen Identitätsdefinition diametral gegenüber. In der neueren Forschungsdebatte ist jedoch auch eine Annäherung der beiden Deutungsstränge feststellbar. Die Vertreter einer europäischen Wertegemeinschaft argumentieren schließlich, dass eine europäische Identität nur auf der Grundlage eines historischen Erbes und gemeinsamer kultureller und religiöser Werte entstehen könne. Aus diesem Blickwinkel erscheint der Beitritt eines muslimisch geprägten Landes unverträglich mit einer – angeblichen – europäischen Identität. Dabei blendet jedoch die Vorstellung einer europäischen Identität auf der Grundlage einer „homogenen“ europäischen Kultur und Geschichte die historische Realität Europas weitgehend aus. Drei gewichtige Argumente können hierfür angeführt werden. Einerseits ist die Geschichte Europas selbst bereits durch kulturell-religiöse Spaltungen geprägt: Bei der Suche nach der historischen Bestimmung des kulturellen Europas wird mitunter auf den griechischen Mythos über den „Raub der Europa“ zurückgegriffen oder die „Geburt Europas“ im Mittelalter verankert. Dabei wird auf die römisch-lateinischen Wurzeln des Christentums verwiesen. Diese hatten sich wiederum aus einer „angeeigneten Synthese“ aus dem jüdischen und dem klassisch griechischen Erbe gespeist.80 Eine solche historische Rekonstruktion aus der Mythologie und dem Mittelalter heraus erscheint jedoch für eine moderne Sinnstiftung des heutigen Europas allzu weit entfernt, als dass es für die 77 Stellvertretend für viele können hier die historischen Arbeiten von Niess (2001) und Kaelble (2000, 2002) genannt werden, stellvertretend für soziologische Arbeiten vgl. z. B. Münch (1993), Münkler (1991). 78 Vgl. z. B. Westle (2003), Delhey (2004) 79 Vgl. z. B. Wintle (1996, 2000) 80 Brague (2002:25-33), Balli (2006b)
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Europäer in ihrem Alltag praktische Relevanz erlangen könnte. Das neuzeitliche Europa hingegen ist von zwei tiefen Spaltungen gekennzeichnet: Die erste war die Reformation, die die Einheit des westlichen Christentums aufbrach. Damit einher ging letztlich die Vorstellung von „Toleranz“ und „kultureller Vielfalt“. Zugleich entwickelte sich daraus auch eine gewisse Unfähigkeit, mit der neu gewonnen Pluralität umzugehen. Die zweite Spaltung, Ergebnis eines höchst konfliktreichen Prozesses, mündete schließlich in das europäische „Staatensystem“ und hier insbesondere in die Konstruktion der Nationalstaaten81. Die religiös-kulturelle Vielfalt ging somit einher mit einer Vielfalt der Nationen, die nicht eine homogene europäische Kultur repräsentieren. Im Rahmen moderner europäischer Demokratien sind vor diesem Erfahrungshintergrund keine kulturell-religiösen Werte mehr bestimmend, sondern nur noch politische. Dafür ist die im Zuge der Aufklärung aufgekommene Trennung der religiösen, soziokulturellen und politischen Sphären entscheidend.82 Eine liberale Demokratie als Produkt der Moderne ist folglich nicht mit religiösen und soziokulturellen Identitätsansprüchen vereinbar, da die Moderne im Wesentlichen auf der Vorstellung der Notwendigkeit einer Begründung von unsicherer Einheit aus realer Vielfalt beruht.83 Daran anknüpfend muss die prinzipielle Vorstellung einer politisch-kulturellen Homogenität auch im Rahmen der Nationalstaaten angezweifelt werden. Zwar konnte sich in diesen eine vermeintlich „einheitliche“ nationale Identität herausbilden, dennoch gibt es ebenso empirische Beispiele dafür, dass trotz kultureller Unterschiede und unterschiedlicher sozialer Praktiken eine gemeinsame politische Identität ausgebildet werden kann.84 Darüber hinaus herrschen auch innerhalb des Nationalstaates unterschiedliche Vorstellungen über die spezifischen Formen des Zusammenlebens und die weitere Ausgestaltung des politischen Gemeinwesens vor. Andererseits ist die Vorstellung einer europäischen Identität auf der Grundlage einer „homogenen“ jüdisch-christlichen europäischen Kultur und Geschichte historisch schon deshalb nicht haltbar, weil islamische kulturelle Einflüsse über Jahrhunderte hinweg in Europa nachzuweisen sind, insbesondere in Spanien, aber auch in anderen europäischen Ländern.85 Der Rückgriff auf die jüdisch-christlichen Wurzeln Europas im Rahmen der Türkei-Debatte wird als Argument gegen den Beitritt instrumentalisiert, wobei es weniger um historische Tatsachen geht als vielmehr um eine bewusste politische Abwehrstrategie. Dabei widerspricht dies letztlich auch den realgesellschaftlichen Fakten in europäischen Ländern, wonach 12 Millionen Muslime in Ländern der europäischen Union leben und in diesen Bürgerrechte besitzen.86
81
Vgl. detaillierter zur europäischen Kulturgeschichte Brague (2002), Balli (2006b), Joas (2005). Vgl. u. a. Meyer (2004, 2005a) 83 Meyer (2004:47ff) Meyer unterscheidet demnach drei Ebenen kultureller Identität – die Ebene der Glaubenskulturen, die Ebene soziokultureller Lebensformen und die Ebene der politischen Kultur. Eine politische Identität sei auf der letzten Ebene angesiedelt und mit unterschiedlichen Ausprägungen auf der ersten und zweiten Ebene ohne weiteres vereinbar. Demnach sei nicht eine bestimmte Kultur für die Herausbildung einer europäischen Identität ausschlaggebend, sondern nur die politische. Diese sei die Grundlage für eine politische Identitätsbildung. 84 Meyer nennt Indien als Beispiel für die Herausbildung einer politischen Kultur trotz grundlegender kultureller Heterogenität in religiösen und alltäglichen Praktiken. Meyer (2002a) 85 In diesem Zusammenhang wird zum einen auf die islamischen Einflüsse aus der Zeit der arabischen Herrschaft in Spanien verwiesen, zugleich aber auch auf die jahrhundertealte Überlappung europäischer und islamischer Traditionen in der Türkei verwiesen und nicht zuletzt auf die säkulare Revolution unter Kemal Mustafa Atatürk und die andauernde Orientierung des Landes an Europa. Vgl. Meyer (2004:151) 86 Meyer (2004:145-160) 82
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Kritisch kann sicherlich angemerkt werden, dass die Vorstellung eines Türkeibeitritts bei den Bürgern mitunter auf Ablehnung stößt und damit auch zu einer ablehnenden Haltung gegenüber der EU führen kann, was für einen Identitätsbildungsprozess nicht förderlich scheint. Nach Eurobarometer-Umfragen sind immerhin 55 % der EU-Bürger gegen einen Türkei-Beitritt87. Zudem antworten immer noch 55 % der Befragten, dass die kulturellen Unterschiede zu groß seien, als dass die Türkei in der EU aufgenommen werden solle.88 An erster und zweiter Stelle wurden jedoch politische und ökonomische Argumente betont, die erfüllt sein müssten, damit die Türkei der EU beitreten könne. Dabei wurde die Achtung der Menschenrechte (84 %) an erster Stelle genannt, sowie eine bessere ökonomische Situation der Türkei (76 %) an zweiter. Diese Ansichten decken sich aber weitgehend mit den Bedingungen der Kopenhagener Kriterien. Aus diesem ambivalenten Stimmungsbild seitens der Unionsbürger jedoch stichhaltige Argumente für oder gegen einen Türkeibeitritt ableiten zu wollen, wie es häufig im öffentlichen Diskurs der Fall ist, erscheint wenig fundiert. Insbesondere wenn man von der Notwendigkeit der Begründung politischer Entscheidungen und eines öffentlichen Diskurses auf der Grundlage von gemeinsamen demokratischen Normen ausgeht. Die Problematik einer historischen Bestimmung Europas als Kulturraum und damit als eine einheitliche, kulturell begründete identitätsstiftende Narration über das, was Europa ausmache, erscheint äußerst problematisch, da es wohl die eine europäische Narration nicht geben kann, aber auch die aktuellen politischen Realitäten ausgeblendet werden. Zudem stellt jede Auswahl kultureller Elemente bereits eine politische Entscheidung dar. „Treffender wäre da schon die Fragestellung, dass für die politische Identität Europas die Möglichkeit ungeregelter kultureller Vielfalt wesentlich ist. Die Identität Europas ist eine politische schon darum, da jede Verwendung kultureller Identität oder Differenz zu politischen Zwecken niemals etwas anderes sein kann als eine politische Entscheidung.“89
Ein weiterer Aspekt ist der, dass europäische Identität nicht im Gegensatz zu nationalen und regionalen Identitäten gedacht werden kann. Die These einer starken kulturellen Identität erinnert gerade an funktionalistische Integrationstheorien, die annahmen, dass die von der ökonomischen Integration ausgehenden Spill-Over-Effekte den Integrationsprozess vorantreiben und dabei zu einer Abnahme ethnischer, regionaler und nationaler Besonderheiten führen würden. Damit ginge dann ein Konvergenzprozess zwischen den Kulturen der Mitgliedsstaaten einher, der die vorherrschenden kollektiven Identitäten schwächen und automatisch die Herausbildung eines europäischen „Wir-Gefühls“ befördern würde.90 Eine starke kulturelle europäische Identität stünde somit in Konkurrenz zu den nationalen Identitäten. Diese Annahme wurde jedoch aufgrund der Zählebigkeit nationaler, regionaler und ethnischer Identitäten widerlegt, so dass kollektive Identitäten als „äußerst langlebig und kon87
Eurobarometer 64, S. 159 Eurobarometer 64, S. 161 89 Meyer (2004:233) 90 Westle verweist in diesem Zusammenhang auf die nach wie vor starken regionalen Identitäten in Westeuropa (Nordirland, Schottland und Wales, Baskenland und Katalonien, Flandern und Wallonien sowie Korsika) sowie auf die Re-Ethnisierungen in Osteuropa im Zuge der Transformationsprozesses nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Dabei merkt sie an, dass letztere zwar als Erscheinungen einer nachholenden Modernisierung und Nationenbildung interpretiert werden können, aber vieles dafür spricht, dass sie wie in den westeuropäischen Staaten ein Ausdruck stark verwurzelter und langlebiger Identitäten sind, die nicht einfach „wegdefinierbar“ seien. Westle (2003:116) 88
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textabhängig (re-)aktualisierbar, jedoch nicht als generell wegdefinierbar“91 angesehen werden. Damit ging letztlich die Einsicht einher, dass europäische Identität nicht im Gegensatz zu nationalen und regionalen Identitäten konzeptualisiert werden kann, sondern als komplementär zu betrachten ist.92 Fuchs (1999), wie auch viele andere, kritisierten eine vorschnelle Gleichsetzung von Demos und Nation in der europäischen Identitätsdebatte und gingen von einem Modell multipler Identitäten aus, in dem regionale, nationale und europäische Identität sich nicht ausschließen, sondern vielmehr koexistieren können. Die im Rahmen des Modells multipler Identitäten aufgekommene These der „Vielfalt in Einheit“ als wesentliches europäisches Identitätsmerkmal ist aber ebenfalls umstritten. Denn die Deklaration der „Vielfalt in Einheit“ als Charakteristikum einer europäischen Identität, also auf der Basis von Differenz, wird als unzureichend kritisiert, da dies letztlich ein Merkmal aller hochmodernen Gesellschaften ist. Meyer bringt dies auf dem Punkt, indem er ausführt: „Auch die Allerweltsformel, Europas Kultur finde seine Identität gerade in der Differenz, die Identität als Nichtidentität, als Einheit des Verschiedenen sei ihr Merkmal, führt aus dem Dilemma nicht heraus, denn dergleichen gilt heute in wachsendem Maße überall auf der Welt. Zumeist ist es, beim näheren Hinsehen, denn auch eher ein Beieinander des Verschiedenen als eine Einheit.“93
Nicht zuletzt in der kritischen Auseinandersetzung mit der essentialistischen Bestimmung europäischer Identität wurden alternative Identitätskonzeptionen für Europa formuliert. Als weitgehend konträre Positionen zum Konzept der Wertegemeinschaft sollen die Konzeptionen einer eher „dünnen“ europäischen Identität nun näher betrachtet werden. 2.3.2 Demos als Institutionen Nach der zweiten Lesart wird Demos analytisch als „unverzichtbares Subjekt von Demokratie“94 verstanden, welches allein durch die Schaffung von Institutionen und die Ausübung legitimer Souveränitätsrechte entstehe. So könne bereits der reine Wahlakt zum europäischen Parlament als Ausdruck eines europäischen Demos interpretiert werden. Obgleich dieses Verständnis „formal-logische Aussagekraft“ besitzt, da es die Bedeutung der politischen Institutionen als Bezugsrahmen für Identitätsbildungsprozesse betont, verkennt es dennoch die Tatsache, dass es in der Europäischen Union ein Demokratie- und Öffentlichkeitsdefizit gibt. Die komplexe Struktur der EU als ein dynamisches Mehrebenensystem, die nicht als souveräner Staat für die Bürger in Erscheinung tritt, erfüllt somit nur bedingt die notwendigen Voraussetzungen. Darüber hinaus kann eine derart minimalistische (dünne) europäische Identität, die sich im Wahlakt erschöpft, auch aus sozialpsychologischer 91
Westle (2003:116) Dabei betont Westle, dass diese Re-Ethnisierungsbestrebungen immer gegen den Zentralstaat gerichtet seien und als eine Gegenreaktion auf die Bedingungen der Moderne, der Globalisierung und der Supranationalisierung in Form der EU, manche aber auch in Übereinstimmung mit dem Subsidiaritätsprinzip der EU und den damit verbunden Möglichkeiten regionaler Subventionen entstehen. Daraus folgert Westle, dass das gesamteuropäische Ziel einer Überwindung partikularer regionaler oder nationaler Einheiten, wie es in den Gründungsverträgen der EG verankert war, letztlich auch die Gefahr einer Zersplitterung Europas in viele Regionen führen könne. 92 Vgl. u. a. Westle (2003), Bruter (2005), Meyer (2004), Fuchs (2000) 93 Meyer (2004:233) 94 Meyer (2004:39)
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Sicht angezweifelt werden. Demnach bilden Individuen erst in der Interaktion und im Diskurs eine Gruppen- bzw. kollektive Identität heraus. Der reine Wahlakt zum Europäischen Parlament alle fünf Jahre nach nationalen Wahlverfahren, mit Europa-Wahlkämpfen, die von nationalen Themen dominiert werden, sowie eine äußerst geringe Wahlbeteiligung stehen aus der Sicht der realpolitischen Verhältnisse und institutionellen Bedingungen der EU einer solchen minimalistischen (letztlich libertären) Lesart entgegen. Daraus folgt die dritte Lesart, wonach ein Demos erst im Rahmen einer politischen Praxis formal und „real“ geschaffen wird. 2.3.3 Demos als politische Identität In der dritten Lesart konstituiert sich der Demos formal gesehen im Sinne der zweiten Lesart durch die Schaffung von verbindlichen Institutionen der Entscheidungsfindung. Diese Formalgeltung bedarf jedoch auch einer Realwirkung, um dem normativen Anspruch gerecht zu werden, wonach es sich um „ein seiner Souveränität bewusstes und danach handelndes kollektives Subjekt“95 handelt. Dies kann letztlich nur im Rahmen einer politischen Verständigungsgemeinschaft geschehen. Eine europäische Identität im Rahmen eines Verfassungspatriotismus beruht damit auf einer liberal-demokratischen Konzeption politischer Legitimation, die auf der Verbindung zwischen den Annahmen einer rechtlich-politischen Freiheit und Gleichheit in ihrer Bedeutung sowohl aller im politischen Gemeinwesen als auch der Volkssouveränität beruht. Die Legitimation eines politischen Gemeinwesens ist somit in den Mitgliedern desselben begründet. Die Legitimation und Stabilität hängt somit von der „Verbindung“ zwischen den autoritativen Institutionen und den Bürgern ab. Eine solche Verbindung wird letztlich in Form einer Identifikation der Bürger mit den in der „Verfassung“ niedergelegten Werten und Zielen erreicht, denn erst dadurch erlangt diese ihre Legitimations- und Kohäsionskraft. Damit sich ein solches Bewusstsein der Zugehörigkeit der europäischen Bürger herausbilden kann, bedarf es eines demokratischen Prozesses. Erst in der Interaktion der Staatsbürger und einer europäischen Öffentlichkeit realisiert sich somit die politische Gesellschaft, der europäische Demos. Ergo kann sich eine Bürgeridentität letztlich nur im Rahmen einer gut funktionierenden politischen Öffentlichkeit und aktiven Zivilgesellschaft herausbilden. Jedoch wird weder eine Uniformität der politischen Meinungen und Verständnisse vorausgesetzt, noch besteht die Notwendigkeit, dass letztlich alle Teile der Gesellschaft zu jeder Zeit politisch aktiv werden. Die Akzeptanz der prinzipiellen Möglichkeit, die eigenen politischen Vorstellungen durch Mehrheitsbildung durchsetzen zu können, reicht dabei bereits aus.96 In den bisherigen Ausführungen wurde europäische Identität ausschließlich als Gegenstand der Demokratietheorie betrachtet, in neueren, vorrangig empirischen Studien finden sich aber auch soziologische Zugänge.
95 96
Ebd. Vgl. Meyer (2004:38-47)
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2.4 Alternativkonzeptionen europäischer Identität auf Forschungspraxis Die dichotomische Darstellung einer europäischen Wertegemeinschaft und eines Verfassungspatriotismus muss insoweit relativiert werden, dass zwischen den beiden Positionen auch eine Annäherung zu verzeichnen ist, so z. B. wenn Verfechter einer verfassungspatriotischen Identität eine „Einbeziehung von Geschichte“ als Untermauerung der Verfassungsprinzipien als identitätsförderlich postulieren. „Im Gegensatz zum „Nationalismus“ gilt es weniger, dem Eigenen selbsterbaulich oder selbstgerecht zu gedenken, denn aus bitteren Erfahrungen zu lernen. Geschichte wird also in Gestalt einer (selbst-)kritischen, reflexiven Aneignung der europäischen Vergangenheit relevant, und dieser Auseinandersetzung wird identitätsstiftender Charakter zugesprochen.“97
Neben einer solchen kritischen Vergangenheitsauseinandersetzung wird zudem eine den liberaldemokratischen Prinzipien moderner Verfassungsstaaten verpflichtete europäische Geschichtsschreibung propagiert. Mit dieser „historischen Wende“, so Balli (2006a), habe der Verfassungspatriotismus eine wesentliche Grundprämisse der Position der Wertegemeinschaft übernommen: Und zwar die Notwendigkeit einer „eigenen“ Vergangenheit für das „Selbstbewusstsein und Selbstverständnis der politischen Gemeinschaft“.98 Verfechter kulturorientierter Identitätstheorien in Form einer Wertegemeinschaft haben umgekehrt ebenso eine Annäherung an die Position des Verfassungspatriotismus vollzogen, indem sie zugestehen, dass eine „gemeinsame Vergangenheit“ letztlich nicht determiniert, sondern immer auch umstritten ist. Damit wird eine prinzipielle Offenheit der kulturellen Bestimmung Europas zugestanden, die als eine politische Aufgabe zu verstehen ist und keinem kulturellen Wesen Europas entspringe.99 Insbesondere Cedermann (2001) hat mit seinem Konzept einer „bounded integration“100 eine Alternativkonzeption zwischen Wertegemeinschaft und Verfassungspatriotismus vorgeschlagen, indem er drei aus der Nationalismusforschung bekannte identitätsstiftende Mechanismen wie Bildung, Sprache und Massenmedien aufgreift. Demnach müssten erstens europaweite Massenmedien geschaffen, zweitens das Erlernen von Fremdsprachen gefördert sowie auf die Vielfalt der Amtssprachen verzichtet und drittens, die Bildungspolitik in Europa stärker vergemeinschaftet werden. Die Realisierungschancen eines derart anspruchsvollen Programms sind jedoch in absehbarer Zeit gering, da insbesondere der 97
Balli (2006a:173) Balli (2006a:172ff.). Als die wohl „erstaunlichste Öffnung einer der beiden Positionen“ führt Balli die Stellungnahme Jürgen Habermas’ (2004:51-53) an, indem er ausführt: „Drei Aspekte sollen hier hervorgehoben werden: erstens expliziert Habermas die seiner Ansicht nach für Europa identitätsstiftenden Merkmale/Besonderheiten: „Säkularisierung, Staat vor Markt, Solidarität vor Leistung, Bewusstsein für die Paradoxien des Fortschritts, Abkehr vom Recht des Stärkeren, Friedenorientierung aufgrund geschichtlicher Erfahrung“ (Habermas 2004:51). Die bewusste Aneignung dieser Wertorientierung geschieht zweitens, in der Deutung historischer Erfahrungen, wodurch der Identität die notwendige Tiefe und Stabilität verliehen werde. Drittens geschieht diese Identitätsbildung angesichts von Herausforderungen: die Aufgabe der Herausbildung eines europäischen „Selbstbewusstseins und ein(es) eigenen Profils“ (Habermas 2004:53) stelle sich im Zusammenhang mit der als solcher von Habermas identifizierten Notwendigkeit gemeinsamen politischen Handelns – einer Notwendigkeit angesichts der gegenwärtigen globalen Situation.“ Balli (2006a:173f.), Habermas (2004) 99 Ausführlicher dazu Balli (2006a:172-178). Balli verweist jedoch ebenso darauf, dass diese Annäherung nicht durchgängig ist, sondern auch weiterhin dichotome Positionierungen anzutreffen sind, insbesondere wenn z. B. eine „wertfreie“ Verfassung für die EU propagiert würde. 100 Siehe auch Kapitel 2 98
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Vorschlag einer offiziellen Amtssprache auf enorme nationale Widerstände stoßen würde, was Cedermann auch selber sieht.101 Ebenso waren bisherige europaweite Medienprojekte wie z. B. Euronews von wenig Erfolg gekrönt, so wie eine Einigung auf eine europäische Bildungspolitik in absehbarer Zukunft wenig Aussicht auf Erfolg besitzt.102 Andere Arbeiten betonen die notwendige Unterscheidung zwischen einer europäischen Identität als Ausdruck eines kulturell-geographischen Zugehörigkeitsgefühls einerseits und einer legitimierenden politischen Identität der EU andererseits.103 „The principle burden of this chapter has been that it is wrong to confuse the two separate issues of a European cultural identity in a general sense with a European identity as a political legitimator for a new modern state. Another way of saying the same thing is that one should not confuse Europe with the EU.“104
Obgleich Wintle (2000) die Existenz einer europäischen Identität postuliert, beurteilt er die Chancen einer politisch legitimierenden europäischen Identität wesentlich vorsichtiger. In den Ansätzen einer sich langsam herausbildenden europäischen Bürgergesellschaft sieht er jedoch eine mögliche Grundlage für die Herausbildung einer politischen Identität. So kommt er zu dem Schluss: „In the first place, there is a great deal of European identity in existence, in various forms and various places and in the minds of various groups. It is partial and patchy; much of it is poorly coordinated and some of it is manipulated, but it is certainly there. On the whole, however, it is the sort of cultural identity which can command a benign association or membership of a loose club. The kind of collective identity which provides political legitimacy for a modern state at the European level also exits, but it is much scarcer and even more incomplete. The EU and its predecessors have made some progress with top-down measures to achieve this, and there are signs of a nascent European civil society which might eventually provide essential and complementary bottom-up initiatives. But yet it does not amount to very much.”105.
Empirische Bottom-up-Ansätze Bruter hat in seinem Konzept einer politischen (personalen) Identität die beiden Dimensionen einer „kulturellen“ und einer „staatsbürgerlichen“ (‚civic’) miteinander verbunden. Die kulturelle Komponente definiert er als Zugehörigkeitsgefühl gegenüber einer spezifischen politischen Gruppe auf der Grundlage kultureller, religiöser, ethnischer oder sozialer Ähnlichkeiten und expliziert dabei für eine europäische Identität: „In the European context, cultural identity is simply the sense of closeness some citizens feel to fellow Europeans 101
Vgl. Cedermann (2001:152-174) Cedermann (2001) Eine ähnliche Argumentation findet sich auch bei Kielmansegg (2003), der die Herausbildung einer kollektiven Identität nur im Rahmen einer Kommunikations-, Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft für möglich hält. Da diese Bedingungen jedoch innerhalb der EU nicht gegeben seien, kommt Kielmansegg zu dem Schluss, dass es eine kollektive europäische Identität nicht geben könne und verweist auf eine Strategie der Renationalisierung, die auf eine intergouvernementale Legitimation über den Ministerrat und die Parlamente abhebt. Kielmannsegg (2003:58ff.) 103 Vgl. Wintle (2000), Bruter (2005) 104 Vgl. Wintle (2000:27f.), so auch Bruter (2005:11) 105 Wintle (2000:27) 102
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than to non-Europeans.”106. Die staatsbürgerliche Komponente bezeichnet die Identifikation mit den politischen Strukturen, also den politischen Institutionen, Regeln und Rechten für das politische Zusammenleben.107 Damit löst er die verbreitete dichotome Betrachtung kultureller und politischer Identität auf, indem er diese als zwei gespiegelte Komponenten des Verhältnisses zwischen institutionellen und „menschlichen“ Grundlagen einer politischen Gemeinschaft ansieht. Er vertritt also die Auffassung, dass beide Komponenten in den Köpfen von Menschen gleichzeitig existieren können.108 In seiner umfangreichen Studie über europäische Identität auf individueller Ebene konnte er die progressive Herausbildung einer europäischen Massenidentität109 – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß in den einzelnen Mitgliedsstaaten – in den letzten 30 Jahren nachzeichnen, wobei er die Rolle der Institutionen hervorhebt, die dazu einen erheblichen Beitrag geleistet haben. Darüber hinaus konnte er in Interviews feststellen, dass die Befragten sehr genaue Vorstellungen vom dem hatten, was für sie „europäisch“ und „Europäische Identität“ bedeutet, wobei ihre Antworten stärker die „staatsbürgerliche“ (civic) Dimension betonten, die sich auf die EU als politisches System bezogen. „(…) citizens actually have specific conceptions in mind, particularly a „civic“ conception of their Europeanness, based on relevance of the European Union as a relevant political system that generates some of their rights, duties and symbolic civic attributes. To a lesser extent, they also hold a “cultural” conception of this identity, based on a perceived shared baggage, which may, according to the individual, thought to consist of a variety of historical, cultural, social, or moral attributes.”110
Zudem konnte Bruter, wie auch Westle, empirisch belegen, dass Europäische Identität letztlich nicht als Widerspruch zur nationalen Identität aufgefasst wird und in den Gründerstaaten stärker verankert ist als in den später hinzugekommenen.111 Bruter ging es in seiner Studie jedoch nicht um die Frage einer „kollektiven Identität“ im Sinne einer Bestimmung prinzipiell geteilter europäischer Gemeinsamkeiten, sondern um ein individuelles Gefühl der Zugehörigkeit von Menschen zu Europa und der EU. Im Rahmen von politischen Wertestudien, die nach geteilten politischen Wertevorstellungen unter EU-Bürgern fragen, werden die Chancen einer europäischen Identität vorsichtiger bewertet. Fuchs (2002a) kommt in seiner Studie zu dem Ergebnis, dass die Unterstüt106
Bruter (2005:169) Bruter (2005:169). Die staatsbürgerliche Komponente definiert er als „the perception of belonging to the European Union as an instutional construction and of the status of the European Union as a relevant political system“. 108 Bruter erachtet die Vorstellung, dass Staatsbürgerschaft und Identität zusammenfallen könnten bzw. völlig übereinstimmend sein könnten, als idealistisch. Zudem grenzt Bruter sich von Studien ab, die Identität als eine Art Status (z. B. Staatsbürgerschaft) bestimmen. Demgegenüber macht er geltend, dass politische Identität eine tiefere persönliche und affektive Konstitution aufweise. In diesem Sinne spricht er politischer Identität einen Eigenwert zu und sieht sie nicht als eine Art Unterordnung sozialer Identität an. Bruter verwendet den Identitätsbegriff im Sinne der unter 2. dargestellten Bedeutungsveränderung des Begriffs hin zu einer subjektiven Selbstbeschreibung, die demnach am ehesten auf der subjektiven und persönlichen Ebene erforscht werden muss, auch wenn es sich um eine kollektive Identität handeln soll. Vgl. Bruter (2005:1-19) 109 Massenidentität bezeichnet hierbei lediglich eine affektive persönliche Identifikation vieler mit Europa bzw. der EU. Das Gemeinsame besteht somit dann lediglich darin, dass sich viele mit Europa bzw. der EU identifizieren. Ob diese Identifikationen jedoch auf der Basis geteilter Vorstellungen oder Werte etc. bestehen, wird dabei nicht untersucht. 110 Bruter (2005:166) 111 Vgl. Bruter (2005: 171f.), Westle (2003) 107
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zung des Europäischen Integrationsprozesses weniger von der demokratischen Performanz112 des Systems, als vielmehr von der systemischen, insbesondere der ökonomischen Leistung abhängt. Da jedoch Unterstützung auf der Grundlage systemischer Performanz grundsätzlich fragil ist und in Krisenzeiten wegbrechen kann und damit nicht dem stabilisierenden und legitimierenden Anspruch von „Identität“ entspricht, plädiert er für die Institutionalisierung demokratischer Werte im Rahmen einer Verfassung, die letztlich identitätsstiftend wirken könnten. In Anlehnung an Eastons Modell politischer Unterstützung bedürfe die EU für den weiteren Integrationsprozess und ihre Stabilität einer Unterstützung „um ihrer selbst willen“, also weitgehend abgekoppelt von der systemischen Performanz auf der Grundlage einer Bindung an institutionalisierte demokratische Werte. Daraus leitet Fuchs ab: „Nach unserer Analyse ist es unwahrscheinlich, dass ein Druck zur Verwirklichung einer europäischen Demokratie von den Bürgern selbst ausgeht. Die ganz überwiegende Mehrheit der Bürger der EU weist zwar eine Bindung an demokratische Werte auf, aber diese werden nicht oder nur kaum als ein Bewertungskriterium für die EU herangezogen. Die Option der Einrichtung einer europäischen Demokratie müsste deshalb von den Eliten politisiert werden und für diese Politisierung bilden die Wertprioritäten der Bürger eine mobilisierende Ressource. Inwieweit eine solche Politisierung aber realistisch ist, ist eine andere Frage.“113
Fuchs bleibt insofern skeptisch gegenüber der Realisierbarkeit der notwendigen Voraussetzungen zur Herausbildung einer europäischen Identität. Hierbei verweist er auf die hinzukommenden Schwierigkeiten im Rahmen der Osterweiterung, wobei er davon ausgeht, dass die Verteilungskämpfe zwischen den Mitgliedsstaaten erheblich zunehmen werden, was mit einer Abwendung der Bürger einhergehend könnte, da die EU dann nicht mehr eine Wohlfahrtssteigerung für alle sicherstellen könne. Die Hürden für die Herausbildung einer europäischen Identität, die Fuchs sieht, sind sicherlich nicht von der Hand zu weisen, jedoch könnte die mehrheitliche Bindung von EU-Bürgern an demokratische Werte als Anknüpfungsmaterial dienen. Westle (2003) kommt zu einem ähnlichen Urteil. Obgleich sie von ihren empirischen Ergebnissen ableitet, dass liberale und demokratische Rechte in der Wahrnehmung der Bevölkerungen eher als Merkmale der nationalen Staatsangehörigkeit angesehen als dass sie in Verbindung mit der EU gebracht werden, schlussfolgert sie, dass die vorfindbaren Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten der Befürwortung der demokratischen Staatsform und politischen Grundorientierungen ein „wesentliches Grundlagenmaterial für die politische Vergemeinschaftung bilden.“114 Dafür müsse die EU jedoch stärker als bisher in der politischen Alltagserfahrungen der Bürger als demokratisches Gebilde in Erscheinung treten.115 112
Fuchs legt seiner Studie das Modell der Unterstützung eines politischen Systems nach Easton (1965, 1975) zugrunde. Die demokratische Performanz stellt einen normativen Bewertungsstandard dar, indem er abfragt, inwieweit die Wirklichkeit des politischen Regimes den eigenen normativen Erwartungen entspricht. Welche Erwartungen das sind, hängt letztlich von der Wertebindung der Bürger ab. Nach dem Modell politischer Unterstützung nach Easton ist die höchste Ebene die Systemkultur, die aus den Bindungen der Bürger an demokratische Werte konstituiert wird. Easton nennt diese Unterstützungsform Legitimität auf der Grundlage der diffusen Unterstützung (im Unterschied zur spezifischen, die an den Output gekoppelt ist). Vgl. Fuchs (2002a:31f.), ausführlich zum Modell von Easton s. Westle (1989) 113 Fuchs (2002a:29-56, hier: 52) 114 Westle (2003:146) 115 Ebd.
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2.5 Fazit zur Europäischen Identitätsdebatte Die Diskussion hat zunächst einmal aufzeigen können, dass europäische Identität in einem doppelten Spannungsverhältnis angesiedelt ist: erstens zwischen den Polen Nation und EU und zweitens zwischen den Polen Partikularismus und Universalismus. Für die weitere Auseinandersetzung und Konzeptualisierung von politischer europäischer Identität können hier bereits einige wichtige Erkenntnisse festgehalten werden. Das Konzept einer politischen Projektidentität als eine spezielle Vorstellung von politischer Identität greift diese Punkte im Wesentlichen wieder auf, worauf im dritten Kapitel näher eingegangen wird. Die Forschungsdiskussion über europäische Identität weist eine theoretisch-normative und eine empirische Dimension auf. In der theoretischen Debatte wird die Notwendigkeit zur Herausbildung einer kollektiven europäischen Identität als Legitimationsgrundlage der EU mehrheitlich anerkannt und demokratietheoretisch abgeleitet. Die Chancen, notwendigen Voraussetzungen und Quellen für die Schaffung derselben werden hingegen sehr unterschiedlich bewertet. Insbesondere die dichotome Konzeptualisierung von kollektiver Identität in „essentialistischer“ und „konstruktivistischer“ Perspektive ist die Hintergrundfolie, auf der die theoretisch-normative Debatte geführt wird. Je nach Ansatz werden die Chancen für die Herausbildung einer europäischen Identität, ihr „Umfang“ (dicht vs. dünn) und damit einhergehend die Einschätzungen ihrer Wirkung bzw. Funktionalität unterschiedlich bewertet. Ausgehend vom Konzept nationaler Identitäten, in dem eine weitgehende, wie auch immer zu verstehende Überlappung kultureller und politischer Identität postuliert wird, wird die Entstehung einer analogen europäischen Identität vor dem Hintergrund der kulturellen Vielfalt der EU entweder als unmöglich angesehen oder als kulturell zu bestimmende Identitätspolitik aufgefasst, die klare Grenzen zu setzen habe. Demgegenüber sehen Verfechter einer rein politischen Identität (Staatsbürgeridentität) diese als eine logische Konsequenz und demokratietheoretisch adäquate Form kollektiver Identität im Rahmen hochmoderner Gesellschaften, die zudem weniger Gefahr läuft „aggressive“ Züge anzunehmen, wie es im Namen nationaler Identitäten vor allem im 20. Jahrhundert der Fall war. Dieses Argument wird auch von neueren Forschungsergebnissen gestützt, die im Rahmen der Nationalismusforschung für ethnische im Gegensatz zu demoitischen Identitäten ein höheres Abgrenzungs- und Aggressionspotential aufgezeigt haben.116 Während kulturelle Bestimmungsversuche insbesondere sozialpsychologische Mechanismen der „Abgrenzung“ für Identitätsbildung aufgreifen, argumentieren Verfechter einer Staatsbürgeridentität aus einem normativen Demokratieverständnis heraus. Die dichotome Betrachtung hat die Schwierigkeit, dass sie verkürzt und polarisiert und wichtige empirische Fragen dabei ausblendet. Vertreter diskurstheoretisch-universalistischer Identitätskonzeptionen können letztlich nicht beantworten, ob eine Übereinstimmung in bestimmten demokratischen Werten auch zu einer kollektiven Identität, zum angestrebten Wir-Gefühl führt, und ob eine solche Werteübereinstimmung im Rahmen von Konflikten tragfähig sein wird. Es geht letztlich um die Frage, wie das bestehende Spannungsverhältnis zwischen exklusiv europäischem Partikularismus und universalen normativen Geltungsansprüchen nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch gelöst werden kann, so dass am Ende die sozialpsychologischen Bedingungen für eine kollektive Identitätsbildung und zugleich aber auch demokratietheoretische Ansprüche erfüllt werden. Beide Ansätze müssen sich letztlich der Frage 116
Westle (2003:124)
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der empirischen Realität stellen, da man bisher weder von einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft noch von einer europäischen Kommunikationsgemeinschaft, die beiden Ansätzen als Bedingung zur Identitätsbildung zugrunde liegen, ausgehen kann. Hierbei kann die empirische Perspektive, die zwar ebenfalls gewisse Schwierigkeiten birgt und unterschiedliche Bewertungen erfährt, dennoch weiterhelfen. Neuere empirische Studien können zwar belegen, dass es unter europäischen Bürgern positive Einstellungen zum europäischen Integrationsprozess gibt, jedoch scheinen diese positiven Einstellungen auf Dauer nicht ausreichend für die Stabilität und Legitimation des politischen Projektes, da sie vorwiegend auf den output bezogen bleiben117. Zugleich werden aber auch gemeinsame demokratische Wertorientierungen der Bürger der unterschiedlichen Mitgliedsstaaten konstatiert, die zwar noch nicht unbedingt mit der EU in Verbindung gebracht würden, aber durchaus als eine Grundlage für die Herausbildung einer europäischen Identität dienen könnten.118 Gerhards (2005) hat in seiner Studie zu den kulturellen Unterschieden in der EU die neuen mittel- und osteuropäischen Staaten sowie die Türkei miteinbezogen. Die darin zum Vorschein kommenden Unterschiede im Bereich der politischen Wertorientierungen sah er als mögliche Folge des Modernisierungsrückstandes dieser Länder an, so dass mit dem Aufholen dieses Rückstandes eine grundlegende Konvergenz als möglich erachtet wurde. Dies wird auch von weiteren Forschungsergebnissen gestützt, die eine Angleichungstendenz europäischer Identifikation der Bürger in den alten Mitgliedsstaaten über die Dauer und je nach Zeitpunkt des Beitritts ausmachen konnten.119 Hierbei spielt allerdings eine Reihe von Faktoren eine Rolle, so dass eine monokausale Erklärung zwischen der Dauer der Mitgliedschaft und der Identifikation mit der EU allein nicht ausschlaggebend ist. Dennoch kann nach Bruter festgehalten werden, dass eine – worauf auch immer basierende – europäische Identität mittlerweile von recht vielen Menschen subjektiv empfunden wird und nicht im Widerspruch zur nationalen Identität steht bzw. stehen muss. Die empirischen Ergebnisse zeigen somit auf, dass die theoretische Diskussion um eine europäische Identität eine gewisse empirische Entsprechung findet, jedoch bisher keine Aussagen darüber getroffen werden können, inwieweit es sich um eine transnationale kollektive Identität der Bürger handelt und ob auf der Grundlage geteilter Werte auch ein europäisches transnationales Wir-Bewusstsein erwachsen wird, welches Verteilungskämpfe und andere Konflikte auszuhalten vermag. Die empirischen Ergebnisse konnten aufzeigen, dass die Institutionenbildung und die persönliche Erfahrung zentrale Bedingungen für eine Identifikation des Einzelnen mit der EU darstellen.120 Zudem erscheint es vor dem Hintergrund der spezifischen Konstruktion der EU als ein dynamisches Mehrebenensystem wenig sinnvoll, europäische Identität in Konkurrenz zu nationaler Identität konzeptualisieren zu wollen. Dass eine europäische Identität an die Stelle der nationalen Identität tritt, ist aus heutiger Perspektive und anhand der bisherigen empirischen Ergebnisse sehr unwahrscheinlich, vielmehr sollte sie als komplementär zu dieser betrachtet werden. Dies wiederum lässt die Frage aufkommen, worauf sich eine europäische Identität stützen kann und muss, um eine legitimierende Funktion für das europäische Mehrebenensystem bereitzustellen. Aus der dargestellten Identitätsdebatte lassen sich für die Entwicklung des Konzeptes einer 117
Vgl. Fuchs (2002) Vgl. Westle (2003) 119 So z. B. Bruter (2005: 134-149), Nissen (2004) 120 Vgl. Bruter (2005) 118
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europäischen Projektidentität in Anlehnung an Meyer (2004) im vierten Kapitel vier Erkenntnisse ziehen: Erstens, dass europäische Identität als eine Legitimationsquelle der EU nur als eine politische anzusehen ist. Zweitens, dass diese eine relativ dünne und als komplementär zur nationalen gedacht werden muss. Drittens, dass (politische, institutionalisierte) Werte den inhaltlichen Bezugs- und Verständigungsrahmen liefern und viertens, dass eine europäische Identität bisher erst in Ansätzen vorzufinden ist. Da der Begriff der Identität zentral für diese Untersuchung ist, aber höchst vieldeutig verwendet wird, gilt es sich zunächst bisherige sozialwissenschaftliche Identitätsdefinitionen bewusst zu machen, um auf dieser Grundlage dann ein eigenes, tragfähiges Konzept – unter Berücksichtigung der bisherigen Erkenntnisse aus der EU-Debatte – zu entwickeln. Dieser Aufgabe widmet sich das nun folgende Kapitel.
3 Theorien der Identität: Personale, soziale und kollektive Identitäten
Eine Arbeit, die sich mit Identität auseinandersetzt, unterliegt immer der Schwierigkeit, dass es sich dabei um ein vieldeutiges Konzept handelt, zu dem es eine Fülle von Abhandlungen aus historischer, sozial- oder kulturwissenschaftlicher und zunehmend auch politikwissenschaftlicher Perspektive gibt, wobei die den einzelnen Studien zugrunde gelegten Identitätsbegriffe oftmals ganz unterschiedliche Interpretationen erfahren. So schrieb der Historiker Lutz Niethammer im Jahr 2000 von der „unheimlichen Konjunktur“ eines „Plastikwortes“121 und Hans-Ulrich Wehler charakterisierte „Identität“ ganz ähnlich als ein „amorphe[s], allzeit verwendungsfähige[s] Passepartout-Wort.“122 Was die beiden Historiker hier zum Ausdruck bringen, ist ihr Unbehagen gegenüber einer allzu beliebigen Verwendung von Identitätskonzepten in den Humanwissenschaften. Zunächst werden personale Identitätstheorien vorgestellt und deutlich gemacht, wie der Begriff der Identität im sozialwissenschaftlichen Diskurs einen Bedeutungswandel erfahren hat (3.1.). Daran anschließend werden die unterschiedlichen Betrachtungsweisen des Problems der Identität im Rahmen von Theorien sozialer und kollektiver Identität verdeutlicht. Unter 3.2. wird anhand der Nationalismusforschung aufgezeigt, wie politische Identitäten als eine Art kollektiver Identität zumeist die Hintergrundfolie für die unterschiedlichen Positionen in der europäischen Identitätsdebatte abbilden. Abschließend wird das relativ neue Modell „soziale Identitätskonstruktion“ nach Catsells umrissen und ein Bezug zur europäischen Identitätsdebatte hergestellt. Ausgangsfrage ist dabei, inwieweit diese aus der Nationalismusforschung stammenden Ansätze die Möglichkeit supranationaler Identitätsbildung bewerten. 3.1 Sozialwissenschaftliche Identitätstheorien und ihre Forschungsansätze Andreas Reckwitz (2001) zeigt auf, dass das sozialwissenschaftliche Identitätskonzept seit Mitte der 1970er Jahre einen Bedeutungswandel erfahren hat, was er auf eine veränderte gesellschaftliche Problemlage und Wahrnehmung derselben zurückführt. Demnach sei der „Boom“ des Identitätskonzepts, der sich in einer Vielzahl von Analysen aus soziologischer, aber auch ethnologischer, psychologischer, historischer und interdisziplinärkulturwissenschaftlicher Perspektive123 niederschlage, Ausdruck der Auseinandersetzung mit veränderten politischen und sozio-kulturellen Problemlagen. Dies habe nicht zuletzt zu einer neuen Fragestellung bezüglich des Identitätskonzepts und somit zu einer grundlegen-
121
Niethammer (2000) Wehler (2003) 123 Reckwitz (2001:22ff.) 122
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den neuen Semantik geführt.124 Während in der klassischen philosophischen Tradition „Identität“ als ein Problem der Ontologie und Logik behandelt wurde und somit in Anlehnung an den lateinischen Ursprung des Begriffes (idem = der-, dasselbe) die Frage nach der „Gleichheit zweier Objekte“ oder der „Selbigkeit eines Objektes über die Zeit hinweg“ nach sich zog, befasst sich der aktuelle humanwissenschaftliche und philosophische Identitätsdiskurs mit der Frage des „Selbstverstehens“ von Individuen und Kollektiven. „Identität wird nicht mehr als ein logisches, sondern als ein kulturelles Problem betrachtet, als ein Problem des Sinns, den Individuen und Kollektive ihrem Handeln und sich selbst zuschreiben“125
Dieser Wandel in der sozialwissenschaftlichen Identitätssemantik vollzog sich im Rahmen des so genannten cultural turn sowie vor dem Hintergrund einer aufkommenden Kritik an linearen Modernisierungsmodellen, die die Moderne letztlich als das Produkt eines im späten 18. Jahrhundert beginnenden kontinuierlichen Rationalisierungs- und funktionalen Differenzierungsprozesses begriffen. Im Zuge dieser skeptischen Auseinandersetzung mit den klassischen Modernisierungsvorstellungen wurde die vorherrschende Vorstellung eines Dualismus von Tradition vs. Moderne in Frage gestellt. Dabei ging es darum, gesellschaftliche und strukturelle Veränderungen angemessener erklären zu können, die nun als Phänomene einer Hochmodernen (Wagner 1994), Post- oder reflexiven Moderne (Lyotard 1979 und Beck 1986) beschrieben werden126. Mit der kulturellen Wende (cultural turn) in der Sozialwissenschaft seit den 1980er Jahren wurden soziale Akteure wieder stärker als Subjekte wahrgenommen. Infolgedessen wurde vermehrt nach den subjektiven Sinn- und Weltdeutungsmodellen sowie den Handlungsmodalitäten sozialer Akteure gefragt. Diese Fokussierung auf die sozialen Praktiken beförderte die Annahme, dass in ihnen symbolische Ordnungen zur kognitiven Organisation der sozialen Wirklichkeit zum Tragen kommen127. Damit einher gingen sowohl eine Hermeneutisierung als auch eine Historisierung sozialer Phänomene. Denn „wenn symbolische Codes Handeln und Sozialität organisieren, dann erscheinen jene Codes, auf deren Grundlage sich Handelnde selbst interpretieren – als Individuum oder als Teil eines Kollektivs – für ihre soziale Praktiken von besonderer Bedeutung“.128 Vor dem Hintergrund dieser beiden Entwicklungen, einem realhistorischen Strukturwandel in Form einer immer komplexer werdenden Gesellschaft und einem damit zusammenhängenden Paradigmawechsel im
124
Reckwitz (2001:21ff.) Reckwitz (2001:21) 126 Reckwitz beruft sich hierbei auf Wagners Einteilung in eine klassisch organisierte Moderne und eine Hochmoderne, die den Versuch darstellt, den „scheinbar monolithischen ‚Block’ der ‚Moderne’ historisch-soziologisch ‚aufzubrechen’“ Reckwitz (2001:27). Wagner stelle die „ungleichzeitige Gleichzeitigkeit klassisch-moderner und hochmoderner Sozialitäts- und Kulturformen“ (ebd.) heraus, was insbesondere mit Bezug auf das Identitätsthema folgerichtig erscheint, da es erlaubt, Eigenschaften, die gemeinhin „hochmodernen“ Identitäten zugeschrieben werden, auch in vermeintlich ‚traditionalen’ außereuropäischen Kulturkreisen erklären zu können. Rechwitz (2001:25). Vgl. dazu ferner: Wagner (1995) und Castells (1997, 2002) Im Folgenden rekurriere ich im Anschluss an Reckwitz auf Wagners Begriff der „Hochmoderne“ (seit den 1970er Jahren) als analytische Abgrenzung zur klassisch organisierten Moderne der 1930er bis 1970er Jahre. 127 Wegweisend war hier das Werk von Berger/Luckmann (1972) über die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 128 Reckwitz (2001:24f.) 125
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Zuge des cultural turn, avancierte Identität zu einem Schlüsselkonzept in den Humanwissenschaften. Identität wird jedoch in den jeweiligen humanwissenschaftlichen Forschungsdisziplinen unterschiedlich konzeptionalisiert, wobei die Frage, wessen Identität beleuchtet wird, als ein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal dienen kann. Während personale Identitätstheorien vom Individuum ausgehen, fragen kollektive Identitätstheorien nach der Identität eines Kollektivs oder einer Gruppe in seiner Gesamtheit. 3.1.1 Theorien personaler Identität Ausgangs- und Bezugspunkt von Theorien „personaler Identität“ ist immer das Individuum. In der Sozialwissenschaft erlangte das Konzept personaler Identität im Rahmen interaktionistischer und phänomenologischer soziologischer Theorien breite Resonanz. Grundlegende Theorien stellten dabei die Identitätskonzepte von Erik H. Erikson (1973) und George H. Mead (1934) dar. Erikson entwickelte als erster aus psychoanalytischer Perspektive eine Entwicklungstheorie personaler Identität, wonach (personale) Identität als eine über Kontinuität und Kohärenz beschreibbare Subjektstruktur verstanden wird. „Ich-Identität“ ist somit ein (insbesondere in der Adoleszenzphase erworbenes) „Sich-Selbst-Gleichsein“, welches sich im Rahmen von psycho-sozialen Krisen in der Auseinandersetzung mit den sozialen Erwartungen seiner Umwelt zu bewähren hat. Die primäre Aufgabe des „Ichs“ ist danach eine gelungene Internalisierung sozialer Identitäten, indem es diese in eine persönliche konsistente Form zu bringen und aufrechtzuerhalten vermag.129 Nach Mead, Begründer des symbolischen Interaktionismus, bildet das Individuum seine Identität (Self) durch Interaktions- und Kommunikationsprozesse heraus, wodurch Divergenzen und Konflikte in differenzierten modernen Gesellschaften direkte Auswirkungen auf die Identitätsbildung einer Person haben.130 Die Herausbildung des Self findet in Form eines komplexen Zusammenspiels von Me und I statt, wobei das Me die erlernten, verinnerlichten sozialen Rollenerwartungen gegenüber anderen und sich selbst und das I die spontane und kreative Komponente der Persönlichkeit repräsentiert. Das I als Kern oder „wirkliches Ich“ des Subjekts entwickelt sich im Dialog und in der Auseinandersetzung mit seiner Außenwelt weiter.131 Demnach ist eine wesentliche Entwicklungsaufgabe einer Person im Rahmen ihrer Sozialisation darin zu sehen, ihr ‚Gegenüber’ nicht mehr bloß als Einzelperson zu sehen, sondern in ihm die allgemeinen gesellschaftlichen Normen und Werte zu reflektieren (Prozess der Einbeziehung als „generalisierten Anderen“). Das Self muss permanent versuchen, eine Balance zwischen den sozialen Erwartungen (Me) und dem I herzustellen. Beiden Ansätzen gemein ist die Vorstellung von Identität als einer beständigen Dispositionsstruktur, die es gegenüber den sozialen Erwartungen der Umwelt aufrechtzuerhalten bzw. auszubalancieren gilt. Mead hat jedoch in Abgrenzung zum auf Kohärenz basierenden Identitätsverständnis Erikons Identitätsbildung als ein relativ flexibles Konstrukt aufgefasst. Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft in der Hochmoderne wurde die Vorstellung von Identität als etwas ‚Konstantem’ und ‚mit sich Identischem’ angezweifelt 129
Erikson (1973), Hill/Schnell (1990) Hill/Schnell (1990:3f.), Mead (1973:184ff. und 355ff.), Joas (1980: 132f.) 131 Mikler (2005:219) 130
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und ein Perspektivenwechsel eingeleitet. Die Frage, wie personale Identität aufrechtzuerhalten sei, rückte in den Hintergrund zugunsten der Frage, wie sich Handelnde selbst verstehen. Der Fokus wurde stärker auf die Frage des Sinns gelenkt, welchen sich Individuen (und auch Kollektive) selbst zuschreiben. Hier können zwei Deutungsstränge bezüglich des Identitätskonzepts unterschieden werden, die jeweils unterschiedliche Akzentuierungen vornehmen: das ‚reflexive Selbst’ und das ‚postmoderne Selbst’.132 Die individuelle Selbstbehauptung des Einzelnen und die sozialen Reaktionen darauf verlangen in hochmodernen Gesellschaften eine Identität, die vermehrte soziale Spannungen und Widersprüche auszuhalten vermag.133 Sowohl Krappmann (1973) als auch Keupp (1988) stellen ihre Theorien explizit in einen soziologischen Rahmen, indem sie die gesellschaftlichen Bedingungen für die Identitätsbildung betonen. Krappmann schließt an die Theorie Meads an und betont den kommunikativen Charakter von Identitätsbildung. Identität ist somit „ein ständiges Aushandeln und Interpretieren innerhalb konkreter Interaktionssituationen“134 und sei erst mit dem Aufkommen ausdifferenzierter Gesellschaften entstanden. Identität wird „mit der Ausbildung des (relativ) autonomen bürgerlichen Individuums“ möglich, weil erst mit der historischen Entstehung widersprüchlicher gesellschaftlicher Verhaltenserwartungen das notwendige Ausmaß an Verhaltensspielraum zur personalen Identitätsbildung vorhanden sei.135 Keupp beruft sich in seiner Identitätstheorie maßgeblich auf die Analysen der Soziologen Beck und Giddens über die Bedingungen des Individuums in der „reflexiven Moderne“ und entwirft davon ausgehend das Konzept einer PatchworkIdentität, wonach sich das Individuum in der sich zunehmend enttraditionalisierenden, flexiblen und fragmentierten Gesellschaft „aus vorhandenen Lebensstilen und Sinnelementen [seine] eigenen kleinen lebbaren Konstruktionen“136 bastelt. Trotz des kreativen Bastelcharakters bleibt der Patchwork-Identität aber eine innere Kohärenz erhalten. Meyer (2002) betont in diesem Zusammenhang, dass das Gelingen einer solchen Identitätsbildung prinzipiell möglich ist, in einer offenen Gesellschaft aber von mehreren Faktoren abhängt: „Es mag in mehr als einer Hinsicht eine offene Frage bleiben, ob die Fülle dieser Rollen und Mosaiksteine vom Einzelnen selbst oder von Anderen noch zu einem großen und einheitlichen Bild zusammengefügt werden und ob sie dies überhaupt zulassen. (…) Unter den Bedingungen einer offenen Gesellschaft und damit immer auch widerspruchsvoller sozialer Erwartungen ist für eine stabile Identität nicht der Akt der Identifikation das Entscheidende, sondern bei niemals restloser Übernahme sozialer Erwartungen die Fähigkeit zu Empathie mit anderen Identitäten, Distanz zu den jeweils übernommenen eigenen Rollen und Toleranz gegenüber den Uneindeutigkeiten. Diese Fähigkeiten müssen durch die gesellschaftlichen Verhältnisse ermöglicht sowie vom Einzelnen ausgehalten werden können. Beide Seiten dieses Verhältnisses bedingen und erhalten sich im Falle des Gelingens wechselseitig.“137
Das reflexive Selbst in Anlehnung an die Theorien von Beck, Giddens und Keupp betreibt kontinuierlich Identitätsarbeit, indem es flexibel mit den ihm zur Verfügung stehenden Sinnangeboten umgeht. Es „verfolgt die Veränderungen seines Selbstverstehens und seiner 132
Reckwitz (2001:22ff.) Meyer (2002:41f.), vgl. auch Mikler (2005:219) 134 Hill/Schnell (1990:4) 135 Hill/Schnell (1990:4) 136 Keupp (1988:432) 137 Meyer (2002:42f) 133
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Lebensführung als ein individuelles, durchaus zielgerichtetes, wenn auch fragiles Projekt, indem es diverse kulturelle Codes zu seiner Selbstkonstitution heranzieht“138 Postmoderne Identitätstheorien hingegen sprechen der Persönlichkeitsentwicklung eine kohärente Ausrichtung ab und gehen davon aus, dass im Individuum widersprüchliche Identitäten wirken, die in jeweils unterschiedliche Richtungen drängen. Demnach konstruiert der Einzelne Konzepte von sich selbst auf der Grundlage kulturell geprägter und selektiver Wahrnehmungen, so dass je komplexer und heterogener die Umwelt wird, desto uneinheitlicher die konstruierten Selbstkonzepte des Einzelnen werden. Die Identitäten (multiple selves) des Individuums wechseln je nach Kontext und weisen keine feststehende Struktur mehr auf.139 Mitunter erscheint das Selbst im Rahmen postmoderner Theorien „als ein in unterschiedliche, im Extrem inkommensurable Hintergrundsprachen fragmentiertes Dividuum“140. 3.1.2 Theorien sozialer beziehungsweise kollektiver Identität Im Rahmen der Theorien personaler Identität ist deutlich geworden, dass der Einzelne stets in Auseinandersetzung mit seiner sozialen Umwelt seine eigene Identität entwickelt und aufrechtzuerhalten (Erikson) bzw. auszubalancieren (Mead) hat oder diese in beständiger Identitätsarbeit neu konstituiert (Beck; Keupp). Der Fokus der Betrachtung liegt hierbei primär auf dem Selbst bzw. dem Ich im Identitätsbildungsprozess. Im Rahmen sozialer und kollektiver Identitätstheorien liegt der Fokus der Betrachtung stärker auf der sozialen Umwelt in Form von sozialen Rollen, Gruppen oder kollektiven Vorstellungswelten. Demgemäß lassen sich drei Perspektiven auf das Problem sozialer/kollektiver Identität differenzieren: 1. 2. 3.
Kollektive (oder soziale) Identität als der Teil personaler Identität, der sich auf soziale Rollen und spezifische Positionen in der Gesellschaft bezieht. Kollektive (oder soziale) Identität als ein individuelles Zugehörigkeitsbewusstsein/gefühl zu einer bestimmten Gruppe. Kollektive Identität als die Identität eines Kollektivs, wobei sich das Kollektiv in seiner Gesamtheit durch gewisse Gemeinsamkeiten, Vorstellungen etc. auszeichnet.
Während die erste und zweite Perspektive maßgeblich im Rahmen sozialpsychologischer aber auch soziologischer Theorien verankert sind, entstammt die dritte Betrachtungsweise von Identität vor allem kulturanthropologischer Ansätze und der historischen Nationalismusforschung. Wie oben bereits angesprochen finden sich in der Europäischen Forschungsdiskussion sowohl soziale als auch kollektive Identitätskonzeptionen. Die Unterscheidung zwischen sozialer Identität (im Sinne der ersten beiden Perspektiven) und kollektiver Identität (im Sinne der dritten Perspektive) wird hier zur besseren Verständlichkeit verwendet. In der europäischen Identitätsdebatte wird eine solche Unterscheidung weitgehend vernachlässigt, was zu Verwirrungen führen kann.
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Reckwitz (2001:33) Mikler (2005:219f.) 140 Reckwitz (2001:33) 139
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Die erste Perspektive, maßgeblich beruhend auf sozialpsychologischen und zum Teil soziologischen Fragestellungen, definiert „soziale Identität“ als das Bewusstsein des Individuums über seine soziale Rolle bzw. Position in der Gesellschaft. Stellvertretend können hierfür die Rollentheorien der 1950er und 1960er Jahre genannt werden, die kollektive Identität auf der Basis einer Theorie sozialer Differenzierung als soziale Identität konzeptualisiert haben. Kennzeichnend für diesen Deutungsstrang ist die Annahme, dass Individuen verschiedene Rollen übernehmen und somit je nach Kontext unterschiedliche Verhaltensweisen aufweisen. Talcott Parson (1951), Begründer der strukturfunktionalistischen Richtung, als auch Erving Goffmann (1959), der dem interaktionistischen Zweig zuzurechnen ist (wie Mead), gehen davon aus, dass „soziale Identitäten in der modernen Gesellschaft an die funktional differenzierten Teilsysteme und die dortigen sozialen Rollen gekoppelt sind“141. In der Selbst- und Fremdzuschreibung des Individuums zu einer sozialen Rolle oder einer spezifischen Funktion innerhalb einer ausdifferenzierten Institution kommt die soziale Identität zum Ausdruck. Das Individuum besitzt demnach mehrere soziale Identitäten, die es zu koordinieren hat, d.h. mit den Rollenerwartungen, sozialen Normen und Werten und unterschiedlichen Positionen umgehen zu können. Dies bedeutet jedoch auch, dass kollektive Identität als soziale Identität letztlich nur in Anbindung an die unterschiedlichen Rollen und Funktionen „kollektiv“ erscheint, nicht aber im Sinne einer affektiven oder symbolischen Selbstzuschreibung zu einer Gemeinschaft gedacht wird.142 Die zweite Perspektive lässt sich anhand der Theorie sozialer Identität nach Tajfel und Turner (1986) verdeutlichen. Auf der Grundlage empirischer minimal-group Experimente in seiner Untersuchung mit dem Titel The social identity theory of intergroup behavior wird soziale Identität als der Teil des Selbstkonzepts eines Individuums definiert, das „sich aus seinem Wissen um seine Mitgliedschaft in sozialen Gruppen und aus dem Wert und der emotionalen Bedeutung ableitet, mit der diese Mitgliedschaft besetzt ist“.143 Im Rahmen sozialer Interaktion kategorisiert ein Individuum seine soziale Umwelt nach gemeinsamen Merkmalen. Da jede Person eine Vielzahl – zum Teil widersprüchliche – Merkmale aufweist, hängt es vom jeweiligen Kontext ab, welche Mitgliederkategorie in welcher Situation und unter welchen Bedingungen zum Tragen kommt. Insofern kann eine soziale Identität unter Umständen so lange unbedeutend für eine Person sein, bis sie im Rahmen einer spezifischen Interaktion Relevanz erlangt.144 Tajfel und Turner postulieren in ihrer Theorie vier verschiedene Kontinua, wobei sie zwischen interpersonellem und intergruppalem Verhalten unterscheiden. Das eine Extrem des Kontinuums beinhaltet eine Interaktion zwischen zwei oder mehr Individuen, die durch ihre interpersonelle Beziehung und die individuellen Charakteristika derselben geprägt sind, während das andere Extrem eine Interaktion zwischen zwei oder mehr Individuen oder Gruppen umfasst, die sich ausschließlich aus der jeweiligen Gruppenmitgliedschaft der Beteiligten ergibt und keine persönlichen Beziehungen aufweist. Kollektive Identitäten entstehen damit erst am so genannten ‚intergruppalen Ende’ des Kontinuums und beziehen sich auf bedeutende kategoriale Unterschiede zwischen Gruppen (z. B. Ethnie, Nation, Alter, Klasse, Geschlecht etc.).145 Soziale Identität, als ein individuelles Wissen um eine Zugehörigkeit und die affektive und evaluative Bedeu141
Reckwitz (2001:28), vgl. auch Parson (1951), Goffmann (1977) Reckwitz (2001:28f.) Tajfel (1982:102) 144 Tajfel/Turner (1986:7-24), vgl. auch Mikler (2005:221f) 145 Kohli (2005:114) 142 143
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tung dieser Zugehörigkeit, wird nach Tajfel und Turner über eine Binnendefinition (der Eigengruppe) und eine Außenabgrenzung (zu Fremdgruppen) konstruiert. Die dritte Perspektive kam im Rahmen kulturanthropologischer Ansätze auf, in deren Kontext das Problem kollektiver Identität nicht mehr primär als die Identität eines Individuums in sozialer Interaktion mit einem Kollektiv verstanden wird, sondern vielmehr wortwörtlich als die Identität des Kollektivs in seiner Ganzheit.146 Im kulturtheoretischen Ansatz nach Taylor hängt Identität (bzw. das Selbstverstehen) von historischen kulturellen Codes ab, deren Kollektivität und Kontingenz in der Moderne jedoch weitestgehend unsichtbar sind. Indem diese Codes offen gelegt werden, können historisch und kulturell dichte Kollektividentitäten stabilisiert werden. Postkoloniale und feministische Ansätze verweisen auf „Naturalisierungs-“ bzw. „Essentialisierungsprozesse“ der kulturell-historischen Codes, wodurch der Konstruktionscharakter von kollektiven Identitäten unkenntlich gemacht wird/werden soll. In den Lebensstiltheorien treten an die Stelle klassischer Bezugspunkte kollektiver Identität (z. B. Klasse, Nation) neue Referenzpunkte für Identitäten. Kollektividentitäten entstehen demnach um geteilte Codes der Lebensführung, aus denen heraus dann eine narrative individuelle Identität geschaffen wird. Lebensstile sind im Gegensatz zu Rollen nicht gesellschaftlich determiniert, sondern wählbar. Poststrukturalisten betonen wiederum die Hybridisierung von kollektiven Identitäten.147 Als prinzipielle Gemeinsamkeit kulturanthropologischer Ansätze kann die Frage nach den spezifischen historischen und kulturellen Codes (Lebensstil, Nation, Ethnie, Geschlecht, gutem Leben etc.) gelten, die zur Identitätskonstruktion eines Kollektivs herangezogen werden. Kollektive Identität in dieser Hinsicht findet ihren Niederschlag vor allem in der Nationalismusforschung, in dessen Rahmen sich zwei Deutungsstränge herausgebildet haben. 3.2 Die Nation als „Prototyp“ kollektiver Identität Dem Konzept nationaler Identität als Kategorie kollektiver Identität wurde in der Forschung lange Zeit die größte Aufmerksamkeit zuteil, und es kann in gewisser Hinsicht als „Prototyp“ kollektiver Identität bezeichnet werden.148 In der Nationalismusforschung wird 146
Stachel merkt dazu an: „Ein wenig vereinfacht ließe sich dabei behaupten, dass in der Begriffskoppelung der kollektiven Identität die Identität der Sozialpsychologie und Soziologie, das Kollektive dagegen der Kulturanthropologie entnommen wurde (Stachel 2005:407). Außerdem betont er, dass in der weiteren politisch-ethnischen Auseinandersetzung innerhalb der USA beide Ansätze miteinander verbunden wurden, jedoch eine Reflektion oder Trennung der Bedeutungsebenen nicht vollzogen wurde, was letztlich zu einem „Verlust an begrifflicher und konzeptueller Klarheit“ (ebd.:415) geführt hätte. Ausführlich zur historischen Genese der Identitätsterminologie in den Sozial- und Kulturwissenschaften, s. ebd. 147 Reckwitz (2001), vgl auch Stachel (2005). Obgleich Reckwitz diesen im Rahmen des cultural turn aufgekommenen Identitätskonzeptionen eine methodische Brauchbarkeit für die empirische Analyse kollektiver und personaler Identitäten zuerkennt, sieht er dennoch die Gefahr „einer Dramatisierung der Stabilität von Differenzen sowie im Gegensatz dazu eine Dramatisierung der permanenten Veränderbarkeit von Identitäten.“ Während erstere darin besteht, dass eine „Reifizierung der Differenzen“ kollektiver Identitäten aufgrund essentialistischer Merkmale vorgenommen wird, besteht letztere in einer Überbetonung der Veränderbarkeit von Identitäten und somit letztlich auch in der Inkommensurabilität von Sinnsystemen. Reckwitz (2001:34ff.) 148 Im Zuge des Booms des Identitätskonzepts in den Humanwissenschaften ging auch eine stärkere Auseinandersetzung mit regionalen, ethnischen und kulturellen kollektiven Identitäten einher, was Andreas Reckwitz als Ausdruck des veränderten politisch-kulturellen Problemhaushalts hochmoderner Gesellschaften ansieht. Kollektive Identitätsdebatten kamen insbesondere im Zuge der Immigrationsbewegungen des 20. Jahrhunderts sowie im post-kolonialen und feministischen Umfeld auf. „Kontroversen um kollektive Identitäten werden offenbar überall
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gemeinhin zwischen primordialen und modernen Ansätzen unterschieden, während die ethnische Identitätsforschung begrifflich zwischen primordialists und optionalists trennt.149 In anderen Zusammenhängen findet sich ebenso die Unterscheidung zwischen so genannten ‚harten’ bzw. ‚dichten' und ‚weichen’ bzw. ‚offenen’ Identitäten. Allen diesen Begriffspaaren liegt die Frage nach der Logik von Identitätsbildung150 zugrunde. Die Nation wird dann entweder als ein modernes (modern) oder als ein im gewissen Sinne ursprüngliches bzw. naturwüchsiges (primordiales) Phänomen interpretiert. Während primordiale bzw. harte/dichte nationale Identitäten als etwas Ererbtes bzw. Vorgegebenes und damit als weitgehend stabil angesehen werden, erscheinen offene (optionalist) bzw. weiche Identitäten als form- und veränderbar, konstruiert und kontextabhängig.151 Diese primär theoretischen Sichtweisen davon, wie Identitäten beschaffen sind, was ihre ‚Natur’ ist, kann anhand der divergierenden Vorstellungen von Nationen verdeutlicht werden. Zwei divergierende Vorstellungen der Nation, eine essentialistische und eine konstruktivistische gibt es, wobei als Differenzierungskriterium das Verhältnis von Kultur und Politik fungiert.152 3.2.1
Nationale Identität in essentialistischer Perspektive
Grundsätzlich gehen essentialistische Ansätze von geteilten, objektivierbaren Merkmalen der Mitglieder eines Kollektivs aus, aufgrund derer sich eine kollektive Identität „quasinatürlich“ herausbildet. Darunter werden biologische genauso wie kulturelle Merkmale wie Sprache und Geschichte gefasst.153 In einer solch kulturalistischen Perspektive wird die Nation vom Staat abgetrennt und existiert als eigenständige vorpolitische kulturelle Gemeinschaft, bevor es zur Ausbildung einer politischen Institution, und damit staatlicher politischer Identitäten kommt.154 Aus essentialistischer Perspektive entstehen nationale politische Identitäten relativ automatisch aus dem kulturellen „Rohmaterial“ ethnischer Gruppen. „The essentialist approach is primarily driven by cultural background variables. According to this logic, each ethnic core produces a political identity more or less straightforwardly. In its most elaborated form, essentialist theory allows cultural and political actors to play a mediating role, though they are restricted to articulating a given cultural heritage. Here cultural “primitive units” such as ethnic cores are presumed to exist, and the task of the nationalist entrepreneur is to ‘rediscover’ and transform it into a politically operational identity.”155
Während Essentialisten von der Kontinuität und Objektivierbarkeit kollektiver Identitäten ausgehen, verstehen Konstruktivisten nationale kollektive Identitäten als kontingent. dort relevant, so sich im Nationalstaat potentiell unterschiedliche Herkunftskulturen gegenüberstehen“, was letztlich in fast allen Nationalstaaten der Fall sei. Reckwitz (2001: 23f) Andere kollektive Identitäten, die ebenfalls einen territorialen Bezugspunkt aufweisen, sind lokale, regionale, supranationale oder globale bzw. kosmopolitische Identitäten. 149 So z. B. Gleason (1983), vgl. Stachel (2005:405) 150 Vgl. Cedermann (2001:141) 151 Vgl. Stachel (2005:405), Cedermann (2001:141) 152 Cedermann (2001:141) 153 Vgl. Mikler (2005:223f) 154 Cedermann (2001:146). Als ein wesentlicher Vertreter dieser Position gilt Anthony D. Smith (1981, 1995). 155 Cedermann (2001:142)
3 Theorien der Identität 3.2.2
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Nationale Identität in konstruktivistischer Perspektive
Kollektive Identitäten sind aus konstruktivistischer Sicht veränderbar und Gegenstand eines fortwährenden Aushandlungsprozesses. Ethnische oder nationale Identitäten sind demnach nicht „quasi-natürlich“, sondern eine Erfindung in Form einer spezifischen Interpretation der Geschichte. Die These von der ‚Erfindung der Nation’ (Imagined Communities, Anderson) in Anlehnung an Eric Hobsbawm (Erfindung von Traditionen) und Ernest Gellner (Nationen als modernes Produkt) besagt, dass sich nationale Identitäten auf der Grundlage erfundener Traditionen und Erinnerungen konstitutieren. Dabei wird Nationalismus in Anschluss an Gellner und Hobsbawm als das politische Prinzip verstanden, welches die Deckungsgleichheit von politischen und kulturellen Grenzen postuliert.156 Sie verwerfen die Vorstellung, dass Nationen als natürliche Gebilde anzusehen seien. Vielmehr würde der Nationalismus, der einer Nation vorausgeht, bisweilen Kulturen erfinden und real existierende auch wieder vernichten.157 Gellner dazu: „Die Kulturen, die er [der Nationalismus] zu verteidigen und wiederzubeleben beansprucht, sind häufig seine eigenen Erfindungen oder werden bis zur Unkenntlichkeit modifiziert.“158
Dabei handele es sich aber nicht um reine Willkür, da die nationalen Narrativen einen Sinn ergeben und sowohl mit der Vergangenheit als auch der angestrebten Zukunft vereinbar sein müssen. Benhabib (1999) folgert in diesem Sinne, dass die „kulturellen Fetzen und Flicken […] eine Geschichte erzählen, die einen Sinn ergibt, die einleuchtend und in sich stimmig ist und die Menschen so motiviert, dass sie bereit sind, für sie ihr Leben zu opfern.“159 Im Gegensatz zu den Essentialisten betonen Konstruktivisten die ausschlaggebende Rolle von Politik für die Herausbildung einer nationalen politischen Identität. Sie negieren die essentialistische Sicht, wonach es eine direkte und quasi-natürliche Entwicklung von kulturellen hin zu politischen Einheiten gäbe. Vielmehr betonen sie einen (pro)aktiven Identitätsbildungsprozess, der durch die Auswahl und Manipulation kultureller Symbole herbeigeführt wird. Die Auswahl dessen, was der nationalen Identitätskonstruktion dienlich sein soll, findet demnach nicht auf der Grundlage „tatsächlicher“ bzw. „objektiver“ Gemeinsamkeiten und Unterschiede statt, sondern stellt einen Akt der Entscheidung dar, was letztlich als bedeutsam erachtet wird. Eine maßgebliche Rolle spielen hierbei die politischen Akteure, aber auch andere gesellschaftliche Eliten: „Since cultural systems are inherently multi-dimensional, history does not deliver ready-made packages such as ethnic cores. Instead, intellectuals and political activists select the ethnic cleavages to be mobilized or suppressed, a process that may produce new cultural combinations.”160
So betont auch Cedermann, dass die Konstruktion der Nation nicht völlig beliebig ist, sondern gewissen Einschränkungen unterworfen ist. Demnach unterscheidet er zwei Logiken: 156
Hobsbawm (1991:20) Hobsbawm (1991:21), Gellner (1991:77) Gellner (1991:87) 159 Benhabib (1999:25), zit. nach Mikler (2005:224) 160 Cedermann (2001:142) 157 158
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eine instrumentelle/rationale Logik der Konsequenz („logic of consequence“) und eine soziologische Logik der Angemessenheit („logic of appropriateness“). „Instead of assuming culture to be the starting point, instrumental constructivists begin with political-identity-formation emphasizing the autonomy of political factors (typically driven by external material forces), while treating culture as a mere side-effect of the process. Maximizing their influence, political leaders mobilize the population in question by carefully selecting out the cultural cleavages to be activated. Yet other constructivist approaches complement the instrumental logic with an institutional feedback effect stabilizing the connection between culture and identity formation. (…) This interpretation allows for an ‘ecological’ perspective on identity-formation, which limits the freedom of choice of political entrepreneurs by blocking or deflecting their initiatives. Without ruling out rational agency, such an explanation postulates an institutional ‘lock-in’ effect that traces how identity-formation is affected by the availability of cultural raw material and ethnic boundaries that acquire an autonomous role feeding back into the political process.”161
Während die Verfechter einer rein instrumentellen Logik die Konstruktion nationaler Identität fast ausschließlich durch aktive Identitätspolitik anerkennen, argumentieren Konstruktivisten wie Calhoun (1997), dass nationale Identitätsdiskurse sich nicht auf politische Manipulation oder Staatsbildung reduzieren lassen, sondern immer auch eine unabhängige kulturelle Dimension aufweisen würden. Calhoun präzisiert dies, indem er ausführt: „the development and spread of nationalist discourse (…) appears in cultural arenas not directly defined by state-making projects, and has often informed popular action to reform or resists patterns of state making.“162
Cedermanns Position kann somit als eine Modifizierung der radikal-konstruktivistischen Lesart von Nationen angesehen werden. Demnach sind Nationen immer Konstruktionen, da sie keine ursprünglichen Phänomene darstellen163; zugleich aber auch nicht völlig aus der Luft gegriffene Gebilde, sondern solche, die sich auf gewisse aus der Kultur selektierte Merkmale stützen. Die Debatte innerhalb des Konstruktivismus dreht sich somit darum, inwiefern kulturelle Merkmale ebenso konstitutiv für nationale Identitätsbildungsprozesse sind und den Rahmen für Identitätspolitik einschränken, indem kulturelle und ethnische Merkmale unabhängig in den politischen Prozess zurückwirken und diesen dadurch beeinflussen. Dabei wird angenommen, dass die kulturelle Unterfütterung kollektiver politischer Identitäten diese stabiler bzw. ‚dichter’ machen, da sie dann nicht allein auf rationalen Beweggründen basieren, sondern eine gewisse Überlappung von kultureller und politischer Identität darstellten.
161
Cedermann (2001:142f) Calhoun (1997:11), zit. nach Cedermann (2001:143) 163 Etwas lapidar könnte man sagen, dass Nationen nicht vom Himmel gefallen sind. 162
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3.2.3 Nationale Identität zwischen Essentialismus und Konstruktivismus Nach Cedermann lassen sich vor dem Hintergrund der Frage nach der Möglichkeit supranationaler Identitätsbildungsprozesse vier Positionen entlang zweier Dimensionen unterscheiden. Die eine Dimension verläuft entlang der Logik von Identitätsbildungsprozessen (Essentialismus vs. Konstruktivismus). Die zweite Dimension beruht auf der Frage, inwieweit nationale Identitäten beibehalten bzw. ersetzt werden. Daraus ergeben sich folgende vier Positionen: Ethno-Nationalismus, Pan-Nationalismus, Post-Nationalismus sowie die einer „bounded“ Integration. Abbildung 1:
Four Analytical Perspectives on Supranational Identity-Formation Viability of identity-formation beyond the nation-state:
The logic of identityFormation: Essentialism Constructivism
Retention
Supersession
Ethno-nationalism
Pan-nationalism
Bounded integration
Post-nationalism
Quelle: Cedermann (2001:145)
164
Aus ethno-nationalistischer Perspektive wird die Möglichkeit der Herausbildung einer supranationalen Identität als weitgehend unmöglich angesehen, da sie eine direkte Relation zwischen kulturellen Gruppen und politischen Identitäten voraussetzen. Transnationalen „multikulturellen“ Gebilden wie der EU fehle es demnach an historischer Verwurzelung, so dass eine emotionale, affektive Identifizierung der Massen ausbleiben wird. Nach Smith erfüllt nur der Nationalstaat die notwendigen politischen, funktionalen Bedingungen der Moderne und sei zudem historisch verankert.164 Die von einer Minderheit vertretene pan-nationalistische Perspektive hingegen bejaht die Möglichkeit einer kollektiven Identität jenseits des Nationalstaates. Dabei geht sie davon aus, dass es größere kulturelle Einheiten als den Nationalstaat gibt, die „lediglich“ wiederentdeckt werden müssten. Für die Herausbildung einer europäischen Union wird aus dieser Perspektive die Existenz einer europäischen kulturellen Zivilisation vertreten, die erst durch die Nationalstaatsbildung zerstört wurde und demnach wieder hergestellt, ja wiederbelebt werden kann.165 Der Ansatz einer bounded integration geht ähnlich wie ethno-essentialistische Ansätze von der Resistenz der Nationalstaaten aus, jedoch auf der Basis einer anderen Argumentation. Im Kern besagt diese, dass nationale Identitäten durch explizite Politiken und Mechanismen konstruiert und aufrechterhalten werden und eben nicht eine Verlängerung kultureller Muster darstellen. Im Sinne Andersons (1991) werden moderne Nationen als imagined communities angesehen, die trotz der Tatsache, dass sie erfunden sind, real existierende Formen annehmen, die im höchsten Maße identitätsstiftend wirken, da sie die wesentlichen Bedingungen zur Aufrechterhaltung und Stabilisierung
Führender Vertreter dieser Position ist Anthony D. Smith. Vgl. Cedermann 2001 Vgl. Smith (1995:128f.). Cedermann nennt als maßgeblichen Vertreter dieser Minderheiten-Position Denis de Rougemont (1965). Eine ähnlich kulturalistische Argumentation sieht er bei Samuel Huntington vorliegen, den er wie folgt zitiert: „The European Community rests on the shared foundations of European Culture and Western Christianity (Huntington, 1993:27)“. Cedermann (2001:150).
165
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3 Theorien der Identität von Identität in der modernen Gesellschaft erfüllen. Auch wenn dieser Ansatz die Möglichkeit supranationaler Identität theoretisch anerkennt, werden die Chancen für einen solchen Identitätsbildungsprozess im Hinblick auf die EU sehr skeptisch bewertet.166 Gründe dafür werden u. a. im reziproken Verhältnis von Kultur und Politik angesiedelt und in der Notwendigkeit klarer Grenzen und identitätsaufrechterhaltender Mechanismen und Institutionen, wie sie im Nationalstaat verwirklicht wurden.167 Der post-nationalistische Ansatz ist derjenige, der wie der vorherige die grundsätzliche Möglichkeit einer europäischen Identität anerkennt, im Unterschied dazu jedoch die starke Anziehungskraft (bzw. optimale Beschaffenheit) des Nationalstaates als kollektiven Identifikationsrahmen nicht als Hindernis für die Konstruktion einer politischen europäischen Identität ansieht. Grundlage der Argumentation bildet die Annahme einer (möglichen) Trennung von Politik und Kultur: „(…) this modernist program insists on the primacy of politics as a functional response to expanding material conditions of production. Modern communications created the nation-state, but since technology continues to develop, political organization will keep up by increasing its own scale. Eventually this trend will break the politico-cultural bond of nationalism.”168
Nach Habermas, führender Vertreter dieses Ansatzes (im Rahmen der EU Debatte), kann dieser Prozess der Politisierung bzw. Rationalisierung anhand des Bedeutungswandels des Begriffs der Nation aufgezeigt werden. Dabei zeichnet er nach, wie der Begriff der Nation die Bedeutung einer ethnisch-kulturellen Abstammungsgemeinschaft beinhaltete, sich dann aber ab Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem politischen Begriff, im Sinne der Staatsbürgerschaft, entwickelte. Diese wiederum sei ein konstitutives Merkmal demokratischer Gemeinwesen. Habermas sieht im „Nationalbewusstsein […] eine spezifisch moderne Erscheinung der kulturellen Integration. Das politische Bewusstsein nationaler Zugehörigkeit entsteht aus einer Dynamik, die die Bevölkerung erst ergreifen konnte, als diese durch Prozesse der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierung schon aus ihren ständischen Sozialverbänden herausgerissen, also zugleich mobilisiert und vereinzelt wurde. Der Nationalismus ist eine Bewusstseinsformation, die eine durch Geschichtsschreibung und Reflexion hindurch gefilterte Aneignung kultureller Überlieferungen voraussetzt. Zugleich verbreitet er sich über die Kanäle der Massenkommunikation. Beides verleiht dem Nationalismus künstliche Züge; das gewissermaßen Konstruierte macht ihn von Haus aus für den manipulativen Missbrauch durch politische Eliten anfällig.“169
Demnach sei Nationalismus als politisches Prinzip eine künstliche Bewusstseinsformation, die von seinen ethnisch-kulturellen Anbindungen abgelöst und durch die Bewusstmachung dieser Logik entpolitisiert werden könne. Kultur und Politik seien demnach nicht nur kon166
Siehe ausführlicher dazu Cedermann (2001:150-174) „The continued presence of most of these mechanisms [identity-supporting mechanisms, Anm.d.V.] together with the inertia of the cultural representations residing in interaction habits and people’s minds make supranational identity formation difficult”. Cedermann (2001:152). Gellner hebt hervor: „men are dependent on culture, and that culture requires standardization over quite wide areas, and needs to be maintained and served by centralized agencies (…) it remains difficult to imagine two large, politically viable, interdependence-worthy cultures cohabiting under a single political roof, and trusting a single political center to maintain and service both cultures with perfect or even adequate impartiality. Gellner (1983:121), vgl. Cedermann (2001:152). Siehe auch Kapitel 2 168 Cedermann (2001:147) 169 Habermas (1991:8) 167
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zeptionell zu unterscheiden, sondern zugleich in historischer Perspektive kontingent, so dass auf der Grundlage der rationalen Logik das Politische dem Kulturellen letztlich überlegen wäre.170 Habermas vertritt für die EU das Konzept der Staatsbürgerschaft im Rahmen eines Verfassungspatriotismus. Dabei verteidigt er multikulturelle Gemeinschaftsformen auf der Basis einer geteilten liberalen politischen Kultur. Dazu führt er weiter aus: „Die demokratische Staatsbürgerschaft braucht nicht in der nationalen Identität eines Volkes verwurzelt zu sein, unangesehen der Vielfalt verschiedener kultureller Lebensformen verlangt sie aber die Sozialisation aller Staatsbürger in einer gemeinsamen politischen Kultur.“171
Der post-nationalistische Ansatz trennt damit eine politische von einer kulturellen Identität ab, wobei erstere die legitimatorische Funktion im Rahmen moderner Demokratien unabhängig vom kulturellen Kontext ausreichend zu erfüllen vermag. Die vorliegende Arbeit verortet sich im Kontext konstruktivistischer Lesarten kollektiver Identitäten. Das dieser Untersuchung zu Grunde liegende Konzept einer politischen Projektidentität teilt die Grundprämissen des post-nationalistischen Ansatzes und wird im Folgenden vor dem Hintergrund des spezifischen europäischen Kontextes entwickelt.
170 171
Cedermann (2001:148) Habermas (1991:16)
4 Politische Projektidentität der EU: Konzept und ‚Operationalisierung’
Ein relativ neues Modell der sozialen Konstruktion von (politischer) Identität stellt das Konzept einer Projektidentität dar, dass Manuel Castells (2003) in seiner Triologie des Informationszeitalters entworfen hat. Dabei unterscheidet er drei Formen der sozialen Konstruktion von Identität, wobei im Wesentlichen Machtbeziehungen die Art bzw. Form der Identität prägen. Diese kann nach Castells die Form einer legitimierenden, einer Widerstands- oder einer Projektidentität annehmen. Eine legitimierende Identität „wird durch die herrschenden Institutionen einer Gesellschaft eingeführt, um ihre Herrschaft gegenüber den sozial Handelnden auszuweiten und zu rationalisieren.“172 Widerstandsidentitäten entstehen in Abgrenzung zur legitimierenden Identität der Gesellschaft. Auf der Grundlage eigener Prinzipien, die von der herrschenden Logik nicht berücksichtigt werden oder dieser entgegenstehen, bilden sich diese Widerstandsidentitäten. Projektidentität beschreibt Castells als den Prozess der Schaffung einer neuen Identität im Rahmen eines Projektes, eines Transformationsprozesses, der neue „Subjekte“ hervorbringe. Jedoch sind diese: „Subjekte […] keine Individuen. Selbst dann nicht, wenn sie von und in Individuen geschaffen werden. Sie sind die kollektiven sozialen Akteure, durch die die Individuen in ihrer Erfahrung zu einem ganzheitlichen Sinn gelangen. In diesem Fall besteht der Aufbau von Identität in dem Projekt eines andersartigen Lebens, vielleicht auf der Grundlage einer unterdrückten Identität. Dabei kommt es aber zu einer Ausweitung in die Richtung der Transformation der Gesellschaft als Fortsetzung dieses Identitätsprojektes (…).“173
Nach Castells unterliegen diese drei Identitätstypen einer rotierenden Dynamik. Aus einer Widerstandsidentität kann ein Projekt entstehen, das mit der Zeit in die herrschenden Institutionen übergeht und damit zur legitimierenden Identität der Gesellschaft wird. Im Rahmen seiner Analysen der Netzwerkgesellschaft geht Castells davon aus, dass der Aufbau neuer Identitäten letztlich in Reaktion auf die Bedingungen der reflexiven Moderne (Giddens), als Motor sozialen Wandels fungiert.174 Ein Identitätsprojekt kann als ein praktischer Erfahrungsraum beschrieben werden, in dem sich eine neue, alternative Praxis konstituiert. „Aber das ist genau das, was ein Identitätsprojekt ausmacht: nicht eine utopische Proklamation von Träumen, sondern ein Kampf um Durchsetzung alternativer Formen von wirtschaftlicher Entwicklung, von Stabilität und von Regierungspraxis.“175 172
Castells (2003:10) Castells (2003:12) 174 „(…) behaupte ich aber, dass die Entstehung der Netzwerkgesellschaft die Prozesse des Identitätsaufbaus während jener Periode [der Spätmoderne nach Giddens, A.d.V.] in Frage stellt und so neue Formen sozialen Wandels hervorruft.“ Castells (2003:13) 175 Castells (2003:284) 173
4 Politische Projektidentität der EU
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Unter Berufung auf Castells Typus der Projektidentität hebt Meyer (2004) zwei bedeutende Aspekte für den europäischen Kontext hervor: Zum einen die inhaltliche Bestimmung des Projektes und zum anderen die notwendige Anbindung des Projekts an die Bürger im Rahmen politischen Kultur.176 Während Castells Projektidentität im Rahmen einer höchst vorraussetzungsvollen zivilgesellschaftlichen Mobilisierung gedacht wird, akzentuiert Meyers Version stärker eine prinzipielle politisch-kulturelle Verankerung und geht primär nicht davon aus, dass eine solche Projektidentität die gleiche Bindungskraft und Emotionalität wie zum Beispiel nationale Identitäten entfaltet, sondern zumeist nur punktuell, auf ein bestimmtes politisches Problem ausgerichtet bleibt. Nachfolgend wird die in dieser Arbeit verwendete Konzeption einer europäischen politischen Projektidentität in Anlehnung an Meyer (2004) erläutert und begründet, warum es für den europäischen Kontext geeignet erscheint (4.1.). Anschließend wird auf den konzeptionellen Analyserahmen (4.2) und die einzelnen Komponenten einer politischen Projektidentität (politische Kultur und Skript) eingegangen (4.3.). Abschließend werden das methodische Vorgehen und die Fallauswahl erörtert. (4.3.1 und 4.3.2). 4.1 Wesen und Begründung einer europäischen Projektidentität Das Konzept einer europäischen Projektidentität stützt sich im Prinzip auf eine Kombination aus den von Castells entworfenen Typen der legitimierenden und der Projektidentität. Sie ist durch die Existenz der europäischen Institutionen und den von diesen ausgeübten europäischen Souveränitätsrechten kein reines Projekt (im Castellschen Sinne) mehr, wird aber zugleich im Sinne Meyers als ein dynamischer und offener Prozess begriffen, der immer nur punktuell auf bestimmte politische Inhalte und Probleme ausgerichtet bleibt. Diese Verbindung von einem institutionell vorhandenem Rahmen und einem hochdynamischen und mit weiteren spezifischen Inhalten zu füllendem Projekt bestimmt eine europäische politische Projektidentität. Sie grenzt sich folglich gegenüber der Position der Wertegemeinschaft ab und baut auf den Grundprämissen der liberal-demokratischen Konzeption des Verfassungspatriotismus auf. Darüber hinaus bedeutet eine Projekt-Identität, dass sich Identität bezogen auf ein gemeinsames Projekt und in dessen Praxis entwickelt. Nicht nur durch die Institutionen, sondern vor allem im Prozess konstituiert sich die Europäische Union als ein neuer, zusätzlicher politischer Akteur, dem in vielen Fragen eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung gegenwärtiger globaler, politischer und sozialer Herausforderungen zugesprochen wird. Der europäische Integrationsprozess als wirtschaftliches und politisches Projekt stellt damit den Identifikationsrahmen für die Herausbildung einer neuen (komplementären) politischen Identität dar. Der Identitätsbildungsprozess findet in der praktischen Erfahrung der Verwirklichung des (europäischen) Projektes statt. Projektidentität ist somit kein erworbener Status, sondern immer ein kollektives Vorhaben zur Konstruktion geteilter sozialer und politischer Werte. Kurzum bedeutet dies, dass der politische Wille für ein gemeinsames Europa ausschlaggebend ist. Dieser Konstruktionsprozess findet im Rahmen einer gemeinsamen Praxis statt, die den Werten Bedeutung und Geltung verleihen und zum Auf-
176
Vgl. Meyer (2004:186ff.)
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4 Politische Projektidentität der EU
bau gemeinsamer Institutionen führen kann. Dabei hängen diese Identitätskonstruktionen immer davon ab, von wem und zu welchem Zweck sie konstruiert werden.177 Europäische Identität, verstanden als ein Projekt sowohl der europäischen Bürger als auch der politischen Eliten basiert auf einer politischen Praxis, was den Aufbau und die Nutzung gemeinsamer Institutionen mit einschließt. Dabei ist die Praxis ein Ausdruck geteilter politischer Grundwerte, denen durch die Akteure Bedeutung gegeben wird, was damit eine gewisse Übereinstimmung im Handeln produziert. Meyer betont hierzu: „Politische Projektidentität in diesem Sinne besteht also nicht in gelingender Selbstzuschreibung oder in der Erfahrung von Emotionen der Zugehörigkeit, sondern in einer praktisch vollzogenen kollektiven Handlungswirklichkeit.“178
Für eine politische Projektidentität bedarf es, nach Castells, eines hohen Maßes an zivilgesellschaftlicher Kooperation und dichter Kommunikation (z. B. im Rahmen einer Öffentlichkeit), damit der Praxisbezug gegeben ist. Meyer betont hierbei, dass dies generell als die Bedingungen moderner demokratischer Identität angesehen werden, auch wenn diese letztlich „aus dünnerem politischen Stoff gewebt ist als die empathische Form der zivilgesellschaftlichen realisierten Projektidentität nach Castells.“179 Insofern kann eine europäische Identität nicht die ‚Dichte’ und ‚affektive Leidenschaft’ nationaler Identitäten erreichen, jedoch scheint je nach inhaltlicher Bestimmung der Projektziele eine leidenschaftliche Identifikation möglich. Diese stellt jedoch keinen konstanten Zustand dar, sondern wird vielmehr punktuell und von Fall zu Fall mobilisiert. 180 Das Konzept einer politischen Projektidentität hebt sich damit klar von den Ansätzen ab, die kollektive Identität als ein kulturelles, religiöses oder historisches Erbe konstruieren und festschreiben wollen. Indem das Konzept der Projektidentität den fortwährenden Praxisbezug und die Offenheit des Prozesses betont, ist es nicht rückwärtsgewandt, sondern berücksichtigt die realen Lebensbedingungen hochmoderner Gesellschaften, die durch zunehmende Individualisierung, Enttraditionalisierung und Globalisierungsprozesse geprägt sind. Eine allgemeinverbindlich feststehende Identitätsdefinition, die von der konkreten Erfahrung abgelöst ist, erscheint auch aus sozialpsychologischer Perspektive wenig einleuchtend, denn erst in der Interaktion und Kommunikation bildet sich sowohl personale als auch kollektive Identität heraus. Überträgt man dies auf ein politisches Kollektiv, so bedarf es einer Verknüpfung der politischen Praxis mit politischen Grundwerten und Symbolen, die dadurch zu einer kognitiv erfahrbaren Realität werden. Diese Verknüpfung stellt das politische Projekt dar, welches einen geteilten Sinnzusammenhang konstruiert. 181 Entscheidend bleibt jedoch die Frage nach den Inhalten des Projektes, den Quellen, auf die sich der Prozess einer sozialen Konstruktion stützen kann. In diesem Sinne ist eine europäische politische Identität in hohem Maße von den geteilten politisch-kulturellen Werten der Gemeinschaft abhängig, insoweit diese für die politische Praxis ausschlaggebend sind. Als ein dynamisches Mehrebenensystem werden die Nationalstaaten auch weiterhin eine entscheidende Rolle im politischen Prozess innehaben und die Wahrnehmung der Union durch die 177
Vgl. Castells (2003:8ff.) Meyer (2004:186) 179 Meyer (2004:187) 180 Ebd. 181 Castells (2003:9). Sinn wird hierbei in Anschluss an Castells als eine symbolische Identifikation des Zwecks oder Ziels von Handlungen durch sozial Handelnde definiert. 178
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Bürger prägen. Die Werte, auf die sich die meisten europäischen Bürger einigen könnten, sind nach Castells: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Verteidigung von Wohlfahrtsstaat und gesellschaftlicher Solidarität, stabilen Beschäftigungsverhältnissen und Rechten der Arbeiterinnen und Arbeiter, Sorge um die universellen Menschenrechte und die Not der Vierten Welt, neuer Nachdruck auf Demokratie und ihre Ausweitung auf Bürgerbeteiligung auf lokaler und regionaler Ebene, die Lebenskraft historisch/territorial verwurzelter Kulturen, die häufig in der Sprache zum Ausdruck kommen und die nicht vor der Kultur der realen Virtualität kapitulieren.“182
Auf diesen sozialen und politischen Werten, die in den Kulturen der Mitgliedsstaaten historisch gewachsen und tief verankert sind, könnte sich die europäische Projektidentität stützen. Somit betont Castells einerseits die Bewahrung der kulturellen, ethnischen und religiösen Vielfalt Europas und andererseits die geteilten politischen demokratischen Werte auf der Basis universeller Menschenrechte und eines universellen sozialen Schutzes der Lebensbedingungen. Ausgehend von diesen sozialen und politischen Werten, die in den Kulturen der Mitgliedsstaaten schon verankert sind, erscheint ein europäischer Identitätsformationsprozess durchaus plausibel. Sie liefern das in den Mitgliedsstaaten bereits verankerte politisch-kulturelle Grundlagenmaterial für eine moderne europäische demokratische Identität. 183 Die politische Aufgabenbestimmung und Zielorientierung, die sich aus diesen sozialen und politischen Werten ergeben, lassen sich nach Meyer184 in drei übergreifende Handlungsstränge bündeln. Vorgeschlagen werden drei politische Projektinhalte, die die Identität der EU ausmachen sollten: „Europa als partizipative regionale Demokratie, in der sich informierte Bürger in der Zivilgesellschaft und in den Parteien aktiv an Entscheidungsprozessen beteiligen. Europa als Sozialregion, in der überall die sozialen Grundrechte gesichert sind und die Märkte in einen umfassenden Sozialstaat eingebettet sind. Europa als zivile Weltmacht, für die Krisenprävention und zivile Formen der Konfliktlösung Vorrang vor dem Einsatz militärischer Gewalt haben“185.
In dieser Hinsicht basiert eine europäische politische Identität auf dem Projekt ‚Europa’ mit dem Ziel einer partizipativen Demokratie, gesicherten sozialen Bürgerrechten und einer zivilen Weltmacht. Für den Erfolg des Identitätsprojektes müsste dreierlei geschehen: erstens müssten die Bürger ein Bewusstsein der politischen Verbundenheit im Rahmen dieses Projektes gewinnen, zweitens, eine Klärung der Projektkonturen vorgenommen werden (so z. B. bei der Rolle der EU in der Welt) und damit einhergehend, drittens, eine Ausformulierung der politischen Aufgaben und Handlungsaufträge, die auf die europäische Agenda kommen und zum Teil in den Vertragsdokumenten bereits enthalten sind, stattfinden.186
182
Castells (2003:383) Castells (2003:232-241), vgl. Meyer (2004:187) Meyer (2004:188) 185 Ebd. 186 Ebd. 183 184
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4 Politische Projektidentität der EU
Diese von Meyer vorgeschlagenen Projektinhalte können als Antworten auf die derzeitigen Defizitbeschreibungen der EU gelesen werden. Denn eine partizipative europäische Demokratie würde das Demokratiedefizit weitgehend beheben, ein soziales Europa die strukturelle Asymmetrie aufheben und Europa als zivile Weltmacht eine gemeinsame außenpolitische Linie repräsentieren. Die inhaltliche Projektkonzeption ist zwar sicherlich ehrgeizig, aber als ein längerfristiges Ziel insofern realistisch, da sich die Inhalte im Wesentlichen auf die in den einzelnen politischen Kulturen der Mitgliedsstaaten verankerten politischen Werte und Überzeugungen stützen. Schwieriger erscheint die Frage, wer die ‚Träger’ dieser inhaltlichen Projektkonzeptionen im Rahmen der EU sein könnten. Um diese Inhalte sowohl auf die europäische Ebene aber auch in die nationalen Öffentlichkeiten transportieren zu können, böten sich als ‚Träger’ zu allererst die politischen Akteure der nationalen Ebene, also Regierungen und Parteien, an. Das Konzept einer politischen Projektidentität erscheint im Kontext der europäischen politischen Realität schlüssig, da es auf den Prozesscharakter der EU eingeht und eine europäische Identität vor dem Hintergrund des europäischen institutionellen Rahmens als eine weitgehend noch zu entwerfende konzeptualisiert. Dies entspricht am ehesten dem offenen, multikulturellen und dynamischen Mehrebenencharakter der Europäischen Union, die sich im fortlaufenden Prozess konstituiert und schließlich vom politischen Willen der nationalen Regierungen als auch der Bereitschaft der europäischen Bürger abhängig ist, das europäische Projekt mit zu tragen und sich bestenfalls mit ihm zu identifizieren. Denn nur so kann sich die EU demokratisch legitimiert weiterentwickeln. Ebenso erscheint dieser Entwurf vor dem Hintergrund der Bedingungen „hochmoderner“ offener Gesellschaften, wie sie in unterschiedlichen Akzentuierungen von Beck, Giddens oder Castells beschrieben wurden, weitaus realistischer als die Konstruktion einer vermeintlich kulturell ausgrenzenden Identitätsbestimmung, die letztlich dem realen Charakter europäischer Gesellschaften im 21. Jahrhundert nicht mehr entspricht. Zugleich verliert sich das Konzept nicht in der Inkommensurabilität postmoderner Identitätskonstruktionen, da es die notwendige institutionelle Verankerung des Projektes betont und eine grundlegende Zielgerichtetheit von Identität, insbesondere kollektiver Identitäten, hervorhebt, was letztlich auch aus sozialpsychologischer Sicht plausibler ist (vgl. Kapitel 3). Dennoch bleibt bei aller Plausibilität des Konzepts einer politischen Projektidentität für die EU die Frage nach den realen Rahmenbedingungen, die derzeit vorzufinden sind, offen. Das Vor- bzw. Durchbringen von Projektinhalten, die öffentliche Wahrnehmung der EU sowie die Möglichkeit praxisbezogener Erfahrungen hängen von vielen Faktoren ab: von den Akteurskonstellationen und dem Akteursverhalten (insofern auch vom politischen Willen der Akteure), der institutionellen Architektur der EU und der damit zusammenhängenden Umsetzbarkeit von Politiken sowie von der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit. Das Verhalten der nationalen Regierungen und politischen Akteure auf europäischer Ebene und in der Öffentlichkeit muss als ausschlaggebend dafür angesehen werden, ob das politische Projekt, erstens, (in allen drei inhaltlichen Dimensionen) voran getragen werden kann; und zweitens, welches Bild der Öffentlichkeit vermittelt wird. Beispielhaft hierfür ist die Verfassungskrise der EU, die einmal durch die negativen Referenden ausgelöst, aufgrund von erneut aufgeworfenen Forderungen nationaler Regierungen weiter schwillt und eine Einigung schwieriger erscheinen lässt als je zuvor. Dies nicht zuletzt auch, da Polen erneut auf einen Gottesbezug in der Verfassung beharrt, obgleich dieser in den letzten Verhandlungen nicht durchgesetzt werden konnte und auch diesmal – insbeson-
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dere gegenüber der französischen Position – keine Aussicht auf Erfolg haben wird.187 Das Spannungsverhältnis zwischen europäischen und nationalen Interessen bestimmt den Integrationsprozess wesentlich, was die Vermittlung des europäischen Projekts erheblich erschwert, denn es wird meist nicht als ein gemeinsames Projekt wahrgenommen, sondern oftmals als ein Wettkampf um die Durchsetzung nationaler Interessen. Selbstverständlich wird der politische demokratische Prozess von der Auseinandersetzung um unterschiedliche Positionen und Zielorientierungen getragen, problematisch für das europäische politische Projekt erscheint dabei allerdings, dass eine Auseinandersetzung fast ausschließlich auf der Ebene der politischen und gesellschaftlichen Eliten und dann vertikal (zwischen nationalen und europäischen Interessen) ausgetragen wird. 4.2 Aufbau einer europäischen Projektidentität Europäische politische Projektidentität betont stärker als andere Konzeptionen, die Identität lediglich als ein Zugehörigkeitsgefühl auffassen, die notwendige Identifizierung mit den Zielen und Werten des politischen Projekts. Somit handelt es sich um einen differenzierten theoretischen Identitätsentwurf, der einen analytischen Rahmen für eine Untersuchung europäischer Identität anbietet. Dabei werden sowohl die Top-Down- als auch die Bottomup-Perspektive integriert. Politische Projektidentität stützt sich auf zwei Säulen, wobei die erste Säule die objektive und subjektive Zugehörigkeit zu einer polity (hier die EU) umfasst, während die zweite Säule die notwendige Identifikation mit den Werten und Zielen, also den Inhalten, des politischen Projektes einschließt. Diese analytische Zweiteilung ist notwendig, da die erste Säule, die zunächst einmal nur die objektive Zugehörigkeit als ‚Bürger’ zu einem politischen System, sowie das subjektive Bewusstsein darüber erfasst, noch nichts darüber aussagt, ob sich die Bürger auch mit den Werten und Zielen des politischen Projekts identifizieren bzw. wie diese bewertet werden. Es ist durchaus möglich, einem politischen Gemeinwesen anzugehören und sich darüber auch bewusst zu sein, jedoch die politischen Werte und Ziele desselben nicht zu teilen. Zwar weisen die Werte und Ziele eines solchen politischen Projektes in einem gewissen Maße immer auch Interpretationsspielräume auf und bleiben dadurch zu einem gewissen Grad umstritten, was aber letztlich im Rahmen des politischen demokratischen Prozesses und seiner Fortentwicklung in Form einer Auseinandersetzung über unterschiedliche gesellschaftliche Gestaltungsoptionen notwendig erscheint. Für den demokratischen Prozess bedarf es aber eines gesellschaftlichen Grundkonsenses, auf dem dieser vollzogen wird. Die grundlegende Identifikation der Bürger mit den Werten und Normen als auch mit den groben Entwicklungslinien ist hingegen für die dauerhafte Funktionsfähigkeit und Legitimation eines demokratischen politischen Systems unersetzlich. Ferner konstituiert sich eine politische Projektidentität auf zwei Ebenen, auf der Ebene des Skripts und der Ebene der politischen Kultur. Folglich verbindet der Ansatz die im Rahmen der europäischen Identitätsforschung vorhandenen Ansätze einer Top-Down- und Bottom-up-Perspektive. Hierbei wird die The187
Die Geschichte des europäischen Integrationsprozesses ist voll von solchen Beispielen. Sei es in Form einer ‚Politik des leeren Stuhls’ oder in Form von vertraglichen opt-outs oder populistischer Stimmungsmache gegen Europa. Ein aktuelles Beispiel ist die Weigerung des polnischen Staatspräsidenten den von ihm selber mit ausgehandeltem Lissaboner Reformvertrag nun auch zu unterzeichnen.
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se aufgestellt, dass erst eine politische Identität, die auf beiden Ebenen, der Ebene der Institutionen und der Ebene der politischen Kultur188, verankert ist und weitgehend konvergiert, ihrer legitimatorischen und stabilisierenden Funktion gerecht wird. Interessant ist hierbei vor allem der Übereinstimmungsgedanke, der in gewissem Sinne die ursprüngliche philosophische Bedeutung von Identität als Gleichheit aufgreift (vgl. 3.1). Dabei kann es sich in dieser Hinsicht nie um eine absolute, sondern lediglich um eine relative Identität handeln. Zugleich lehnt das Modell an das konstruktivistische Identitätsverständnis der modernen bzw. hochmodernen Theorien an, da Identität auf den jeweiligen Ebenen als eine Konstruktion eines kollektiven Sinn- und Bedeutungszusammenhanges konzipiert wird.189 Abbildung 2:
Politischen Projektidentität nach Meyer
Quelle: Eigene Darstellung
188 Hierbei muss betont werden, dass nur die politische Kultur als Grundlage der politischen Identitätskonstruktion dient. Zwar kann eine so verstandene politische Identität eine Stütze in der kulturellen Erinnerung finden oder Energien aus Hoffnungen gewinnen, die kulturell begründet, aber politisch noch nicht eingelöst wurden. In letzter Instanz ist sie jedoch immer nur als ein Projekt möglich, das einer geteilten Praxis des Suchens und Beschließens für alle verbindlichen Entscheidungen, also gemeinschaftlichem politischen Handeln entspringt. Erst in der Praxis verbindlichen kollektiven Handelns in der Gegenwart, der man sich in seiner Lebenswirklichkeit nicht entziehen könne, werde eine Identifikation möglich. Von einer kulturellen Identität hingegen kann man sich reflexiv distanzieren. Demnach konstruiert sich nach Meyer über alle kulturellen und sozialen Differenzen hinweg in der täglichen Praxis ein Verständnis der Zusammengehörigkeit und der Zugehörigkeit in politischen Dingen. Politische Projektidentität ist somit das Produkt politischer Konstruktionsleistungen und politischer Öffentlichkeit. Vgl. Meyer (2004:47-63), Cerutti/Rudolph (2001) 189 Die in der europäischen Debatte häufig hervorgebrachte Kritik am Identitätsbegriff und damit einhergehend dessen Ersetzung durch Begriffe wie „Europäisches Selbstverständnis“ (vgl. z. B. Wagner 2006) oder „Zugehörigkeitsgefühl“ wird in dem hier verwendeten Identitätskonzept nach Meyer insoweit entkräftet, als dass beide Begriffe für sich allein nicht die Problematik voll erfassen, sondern lediglich einen Aspekt herausgreifen. Der Identitätsbegriff erscheint vor dem Hintergrund des Übereinstimmungsgedanken als vertretbar und postuliert eine relative Identität zweier Ebenen.
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Europäische Identität als ein (politisches) Projekt muss sich im Wesentlichen auf die in den nationalen politischen Kulturen verankerten Sinnzusammenhänge stützen, nicht nur als inhaltliche Quelle des Projektes selbst, sondern auch, um von den Bürgern als sinnvoll angesehen werden zu können. Zugleich muss sie den nationalen Kontext transzendieren, damit ein solcher europäischer Identifikationsakt von den Bürgern als notwendig bzw. attraktiv erachtet wird. Der Versuch einer bloßen Duplizierung nationaler Identität erscheint vor dem Hintergrund des Fortbestandes der Nationen nur wenig tragfähig. Ersteres kann dadurch erreicht werden, dass bestimmte positive nationale Errungenschaften in das politische europäische Projekt integriert werden, letzteres kann vor dem Hintergrund der neuen globalen und innereuropäischen Herausforderungen vermittelt werden. Deshalb wird hier die These vertreten, dass eine europäische Identität nicht nur einen politischen Erfahrungsprozess, sondern zugleich eine dynamische Weiterentwicklung nationaler (politischer) Identitäten darstellt, indem diese nicht nur integriert, sondern in gewisser Hinsicht auch transzendiert werden müssen.190. 4.3 Untersuchungsdesign Bei der Vorstellung des Modells einer europäischen politischen Projektidentität wurde deutlich, dass sich diese aus zwei Komponenten/Ebenen zusammensetzt: dem Skript und der politischen Kultur. Diese beiden Schlüsselkonzepte werden im Folgenden näher beleuchtet und diskutiert. Die Ebene des Skripts Der Begriff des Skripts191 wird hier als das normative Selbstverständnis der EU konzeptualisiert, welches in den Verträgen verankert ist und zu einem gewissen Grad durch offizielle Deklarationen und Politiken konkretisiert wird. Indem sich die EU auf bestimmte Ziele und Werte verpflichtet, konstruiert sie ihr eigenes Selbstverständnis und spricht sich damit für ein bestimmtes „Projektdesign“ aus.192 Die Skript-Identität der EU umfasst damit den expliziten, aber auch impliziten Inhalt des angestrebten Projektes (Werte, Prinzipien, Ziele und Leitbilder), zugleich aber auch den Rahmen für dessen praktische Umsetzung und Implementierung. Die Institutionalisierung von Werten und Normen in Form von Verfas190
Vor diesem Hintergrund bietet sich das Bild einer Identitäts-Spirale an, in dem die jeweils höhere Ebene die vorherige einschließt und zugleich transzendiert, also neue Aspekte hervorbringt. Auf das Problem einer europäischen Identität übertragen, bedeutet dies, dass wichtige Aspekte der nationalen politischen Kulturen die inhaltliche Ausgangsbasis darstellen und in den Prozess einer neuen Identitätsbildung integriert und zugleich transformiert werden. Dies könnte dann möglicherweise irgendwann in eine transnationale europäische politische Kultur münden, als (sichtbarer) Ausdruck einer genuinen (transnationalen) europäischen Identität 191 Der Begriff des Skripts stammt ursprünglich aus dem World-Polity-Ansatz von John W. Meyer. Dieser betont darin die Bedeutung und Rolle von Institutionen als „kulturelle Regeln“, die bestimmten Handlungen kollektiven Sinn und Wert verleihen und sie in einen größeren Rahmen integrieren. Die sich entwickelnde Weltgesellschaft basiert auf allgemeinen Handlungsmodellen, wie sich Staaten, Organisationen und Individuen als zentrale Akteure der Moderne zu verhalten haben. Die Modelle selbst sind ebenso wie die Weltgesellschaft in der Kultur der Moderne begründet. In diesem Sinne ist das Skript eine Art Drehbuch, welches alle Bereiche politischen und gesellschaftlichen Handelns durchdringt. Vgl. ausführlicher dazu John W. Meyer (2005) 192 Erinnert sei hier an die zweite Analyseebene im Rahmen der Top-Down-Perspektive (Kapitel 2).
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sungen oder Verträgen stellt damit nur einen Aspekt des Skripts dar, ist jedoch die grundlegende Basis für die Ausgestaltung des politischen Projekts. Verfassungen und Institutionen sind demnach nicht allein Systeme von Aggregationsregeln und Steuerungsfunktionen als Ausdruck von Machtinteressen, sondern zugleich Träger von Weltbildern bzw. Ideen.193 Der Begriff des Weltbildes von Max Weber wird nach Hurrelmann (2002) als Oberbegriff für die „kognitiven, ästhetischen und normativen Grundannahmen über die gesellschaftliche Realität, die sich als kollektive Konstruktion auf die Bildung individueller Interessen auswirken“194, definiert. So gesehen wird die RationalChoice-Verfassungstheorie um eine sozialkonstruktivistische Institutionentheorie ergänzt und modifiziert, indem Menschen nicht als ‚atomistische Nutzenmaximierer’ gelten, sondern als in eine institutionelle Ordnung eingebettet, deren soziale Realität eine gesellschaftliche Konstruktion darstellt. Interessen und Vorstellungen sind folglich durch diese soziale Konstruktion geprägt.195. Jachtenfuchs (1999) beschreibt die Veränderung von gesellschaftlichen Vorstellungen über das Zusammenleben als einen komplexen kollektiven Lernprozess, der sowohl als Bottom-up-Prozess als auch als Top-Down-Prozess ablaufen kann. Für das hiesige Thema kann aus diesen Ansätzen gefolgert werden, dass Institutionen und Verfassungen neben ihrer Steuerungs- und Aggregationsfunktion auch eine Integrationsund Symbolfunktion besitzen, indem sie Weltbilder bzw. besser: bestimmte Vorstellungen über das gesellschaftliche Zusammenleben transportieren, die in Form von Werten und Prinzipien allgemein verbindlich institutionalisiert werden. Die in den Verträgen der EU institutionalisierten Ziele, Werte und Leitbilder können demnach als Referenzpunkt für das normative Selbstverständnis der EU dienen. Dieses Selbstverständnis muss jedoch auf der Ebene der politischen Kultur bzw. den politischen Kulturen der Mitgliedsstaaten geteilt werden, damit es dann im politischen Prozess zu einer erfahrbaren kognitiven Realität der Bürger wird. Ein so geteiltes Verständnis der Ziele und Werte des politischen Projektes auf beiden Ebenen muss als Grundvorrausetzung für die Herausbildung einer europäischen politischen Identität angesehen werden. Die Ebene der politischen Kultur Politische Kultur als wertfreier, analytischer Begriff dient ganz allgemein der Verknüpfung von gesellschaftlichen Werte- und Normensystemen mit den institutionellen Bedingungen eines politischen Systems. Diese Verknüpfung ist vor einem demokratietheoretischen Hintergrund von Bedeutung, wonach die Legitimation und Stabilität eines politischen Systems erheblich von seiner Akzeptanz in der Bevölkerung abhängt. Die Anfänge der politischen Kulturforschung gehen auf Gabriel Almond und Sydney Verba in den 1950er Jahren zurück, die politische Kultur als „the particular distribution of patterns of orientation towards political objects among the members of a nation“196 definierten. Politische Kultur bezieht sich demnach auf die subjektive Dimension von Politik und beschreibt ganz allgemein das Verteilungsmuster der Orientierungen der Bürger bezüg-
193
Vgl. Jachtenfuchs (1999) Hurrelmann (2002:10) 195 Ausführlicher dazu Hurrelmann (2002:10f), Berger/Luckmann (1972), vgl. auch Jachtenfuchs (1999:25-54) 196 Almond/Verba (1963:14f), vgl.auch Mikler (2005:177) 194
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lich des politischen Systems als der Summe aller Institutionen.197 In ihrer vergleichenden Fünf-Länder-Studie zur politischen Kultur gingen Almond und Verba vor dem Hintergrund zweier Weltkriege der Frage nach, warum einige junge Demokratien dem Totalitarismus verfielen, während sich andere Systeme mit gleichem institutionellen Design und sozioökonomischen Entwicklungsstand langfristig als Demokratien etablieren konnten. Ausgangshypothese ihrer vergleichenden Länderstudie war, dass für den Bestand bzw. die Stabilität eines demokratischen politischen Systems eine gewisse Kongruenz zwischen den politischen Institutionen und der politischen Kultur vorherrschen müsste. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass wenn die politische Kultur und die politische Ordnung eines Staates längerfristig starke Differenzen aufweisen, dies zu Legitimationskrisen und zur Destabilisierung des Systems führe. 198 Nach Almond und Verba können vier Dimensionen politischer Kultur, auf die sich die Orientierungen der Bürger beziehen, differenziert werden: 1. 2. 3. 4.
System-Dimension (das politische System als Ganzes) Input-Dimension (Erwartungen der Bürger an die eigene Regierung) Output-Dimension (konkrete Umsetzung der Politik als „autoritative Wertallokation“ nach Easton durch Akteure und Strukturen) Identitäts-Dimension (das „Selbst als politischer Akteur“)199
Bei den Orientierungen wird wiederum zwischen Meinungen, Einstellungen und Werten unterschieden, wobei Meinungen als relativ instabil gelten, Einstellungen (z. B. Parteipräferenzen) und Werteüberzeugungen hingegen als dauerhafter angesehen werden.200 Letztlich hängen alle drei Kategorien zusammen, wobei die Werteüberzeugungen als grundlegend erachtet werden und am dauerhaftesten sind.201 Kritik am Ansatz von Almond und Verba richtete sich unter anderem gegen eine Bestimmung politischer Kultur auf der Grundlage von Umfragedaten, die nur einen begrenzten Aussagewert hätten, da sie lediglich punktuell erhobene Einstellungen berücksichtigen könnten. Zudem wurde ihr entwickeltes Idealmodell der „civic culture“ mitunter deshalb 197
Vgl. Andersen/Woyke (2003), Lemma Politische Kultur Auf der Basis einer groß angelegten Umfrage ermittelten Almond/Verba die Einstellungen der Bürger zu ihrem jeweiligen politischen System, so in den USA und Großbritannien (als Modelle stabiler liberal-demokratischer Systeme), der Bundesrepublik (als Vergleichsmodell, in dem demokratische Bewegungen über lange Zeit unterdrückt waren), in Italien (als Modell einer jungen Demokratie in einer vorindustriellen Gesellschaft) und in Mexiko (als ein Staat, in dem demokratische Verfahren und Strukturen zum damaligen Zeitpunkt nur in Städten vorzufinden waren). Im Rahmen ihrer Studie definieren Almond und Verba drei Typen politischer Kultur (pK): die parochiale pK, politische Untertanenkultur und die partizipative pK. Nach einer Zuordnung dieser politischen Kulturtypen steht die parochiale pK gemeinhin für Stammesgesellschaften ohne besondere politische Differenzierung von Strukturen und Positionen. Die Untertanen pK finde sich meist im Rahmen von Monarchien und Diktaturen, während die partizipative liberalen Demokratien zugeordnet wird. Anschließend an ihre Ergebnisse kommen Almond und Verba zu dem Schluss, dass für liberale Demokratien ein Mischtypus aus allen drei Typen am besten sei, den sie „civic culture“ nennen. Diese „Staatsbürgerkultur“ zeichne sich dadurch aus, dass durch die Mischung der drei Typen das politische Engagement aktiver Bürger aber auch eine gewisse Folgebereitschaft gewährleistet sei. Dem Typ der „civic culture“ entsprachen in der Studie am ehesten GB und USA. Vgl. Almond/Verba (1963), s. auch Mikler (2005:177-181) 199 Almond/Verba (1963:13-16) Die Bezeichnungen der Dimensionen sind hier selbst gewählt und somit nicht identisch mit denen von Almond/Verba. 200 Andersen/Woyke (2003), Lemma Politische Kultur 201 Ebd., Almond und Verba unterschieden bei den Orientierungen der Befragten zwischen affektiv (Meinungen), kognitiv (Einstellungen) und evaluativ (Werte). 198
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kritisiert, da es den Bürgern eine allzu passive Rolle zuschriebe und damit letztlich eine Weiterentwicklung der Demokratie eher unwahrscheinlich würde. Trotz der sowohl theoretischen als auch methodischen Kritiken am Modell202, etablierte es neue Maßstäbe in der empirischen politikwissenschaftlichen Forschung und diente als Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung des Ansatzes hin zu einem wichtigen Forschungszweig der Politikwissenschaft. Auf der Grundlage seiner Kritik an der Studie der beiden Amerikaner, entwickelte Karl Rohe (1994) das Konzept der politischen Kultur weiter. Er kritisierte, dass mit der konkreten Abfragung von Einstellungen zum aktuellen politischen System in Form von Umfragen die tiefer liegenden Hintergründe und Weltbilder der politischen Kultur nicht ermittelt werden könnten. Demnach sei politische Kultur mehr als die Summe punktueller Umfrageergebnisse, sondern vielmehr ein kollektives Phänomen, dass als „Sinn- und Bedeutungszusammenhang (…) der in sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen auch einen objektiven Ausdruck gefunden hat.“203 Politische Kultur muss nach Rohe immer wieder aufs Neue von individuellen Trägern vermittelt werden und unterliege somit einem Wandlungsprozess, wobei sie jedoch nicht immer wieder neu erfunden, sondern als ‚politisches Sinnangebot’ für den Einzelnen und als ‚Legitimationsmuster’ für das politische System gesellschaftlich vorgefunden werde.204 Grundlegende Ordnungsvorstellungen, nach denen das politische System beurteilt wird, können sich wandeln, sind aber zugleich nicht so instabil und flüchtig wie Meinungen oder Einstellungen. Ein Einstellungswandel im Rahmen von Umfragedaten kann Ausdruck eines grundsätzlichen politisch-kulturellen Wandels sein, kann aber ebenso ganz unabhängig von politischen Wahrnehmungs- und Beurteilungsmaßstäben, die in der politischen Kultur verankert sind, stattfinden.205 Die Unterscheidung zwischen Einstellungen und Meinungen einerseits und Prinzipien, politischen Weltbildern und Maßstäben andererseits ist konsequent, da man nicht automatisch von ersteren auf letztere und umgekehrt schließen kann. Dennoch muss ebenso davon ausgegangen werden, dass Erfahrungen mit einem politischen System auf die Dauer nicht nur Einstellungen generieren, z. B. im Sinne einer faktischen Befürwortung oder Ablehnung desselben, sondern langfristig prinzipieller Natur werden und damit auch die Ebene der politischen Kultur beeinflussen206. In Weiterentwicklung zu Almond/Verba und anlehnend an Rohe, definiert Meyer (2006b) politische Kultur als denjenigen „Teil der allgemeinen Kultur, der sich direkt auf das Politische richtet, auf die Strukturen und Sachverhalte des Gemeinwesens, auf die Ziele politischen Handelns und auf den politischen 202
. Mikler (2005:180), ausführlicher zur Kritik vgl. Westle (2002:319-337), Rohe (1994:160ff.), Lijphardt (1980) Rohe (1994:164) 204 Rohe (1994:164) 205 Rohe (1994:165). Rohe expliziert dazu: „Einem Einstellungswandel gegenüber einem politischen Regime, wie er von der gängigen Meinungsforschung untersucht wird, kann zweifellos auch ein politisch-kultureller Wandel zugrunde liegen, dann nämlich, wenn sich die grundlegenden Wahrnehmungsmuster und Beurteilungsmaßstäbe verändert haben. Das muß jedoch nicht der Fall sein. Einstellungen gegenüber einem konkreten politischen Regime können sich auch fundamental wandeln, beispielsweise durch eine katastrophale Verschlechterung der vom Regime erbrachten Leistungen, ohne dass sich die in der politischen Kultur gespeicherten politischen Maximen und Beurteilungsmaßstäbe auch nur um ein Jota verändert haben.“ 206 Als Beispiel können hier die Anfangsjahre der Bundesrepublik genannt werden. Die Entwicklung zu einer demokratischen politischen Kultur verlief allmählich vor dem Hintergrund der Erfahrungen und der Erfolge des neuen politischen Systems. 203
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Prozess. Da auch die politische Kultur […] aus der Gesamtheit der kollektiven Werte, Orientierungen, Einstellungen, Kommunikationsgewohnheiten und Sinngebungen einer Gesellschaft besteht, wirkt sie in ausschlaggebender Weise als Motivationskraft und Steuerungszentrum auf das […] politische Handeln ein.“207
Meyer gibt damit eine umfassende Definition von politischer Kultur, die die Verbindung zwischen politischem Bewusstsein und politischem Handeln explizit macht und den Eigenwert politischer Kulturforschung hervorhebt.208 Dabei betont er, dass politische Kultur immer nur indirekt und letztlich nur auf der Grundlage einer systematischen Interpretation von regelmäßigen Handlungsweisen, Symbolen und Ereignissen, Kommunikationsformen und Konflikten erschließbar sei.209 Mit Rohe (1994) hat sich in der politischen Kulturforschung die Unterscheidung zwischen ‚Sozio-Kultur’ und ‚Deutungskultur’ durchgesetzt. Die Sozio-Kultur umfasst die Wertorientierungen, Einstellungen und Meinungen in der Bevölkerung, während die Deutungskultur auf der Ebene der politischen und professionellen Eliten angesiedelt ist, die kulturelle Deutungsmuster im politischen Aushandlungsprozess definieren. Diese können dann für eine gewisse Zeit in die Sozio-Kultur übergehen und dort als eine unbestrittene kulturelle Selbstverständlichkeit akzeptiert werden. Beispielhaft für weitgehend unbestrittene Deutungsmuster im Rahmen der Sozio-Kultur können nach Rohe zum Beispiel der Nationalstaat oder der Wohlfahrtsstaat als Quellen staatlicher Legitimation angeführt werden.210 Grundsätzlich gilt für die Legitimation eines politischen Systems, die sich nicht lediglich zweckrational, sondern prinzipiell wertrational ableitet, dass Deutungskultur und Sozio-Kultur langfristig zueinander passen müssen und nicht dauerhaft im offenen Widerspruch zu einander stehen dürfen. Vom Verhältnis zwischen Sozio- und Deutungskultur hängt es maßgeblich ab, ob sich eine stabile kollektive Identität ausbildet, welche dann die Legitimität und Stabilität des Systems sichert. Idealerweise stützt sich eine kollektive politische Identität auf bestimmte, als positiv bewertete Ausdrucksformen der jeweiligen (aktuellen) politischen Kultur. Allerdings darf dies nicht als ein Automatismus verstanden werden, denn kollektive Identitäten können sich ebenso auf in der Realität nicht vorhandene Gemeinsamkeiten stützen. Dies hängt nicht zuletzt davon ab, inwieweit es der Deutungskultur gelingt, „die […] vorhandene politische Soziokultur zum Bewusstsein ihrer selbst zu bringen“211 207
Meyer (2006b:191) Diese Verbindung zwischen politischem Bewusstsein und politischem Handeln ist durchaus umstritten, manche Forscher kritisieren sie als eine bloße Vermutung, während andere darin lediglich eine Bereitschaft zum Handeln konstatieren. Vgl. Andersen/Woyke (2003), Lemma Politische Kultur 209 Meyer (2006b:192). Eine empirische Analyse politischer Kultur auf der Grundlage dieses anspruchsvollen Konzeptes politischer Kultur wäre höchst vorraussetzungsvoll und bedürfte letztlich ein auf lange Dauer angelegtes umfassendes Forschungsdesign. Dies kann aus arbeitsökonomischen Gründen in dieser Arbeit somit keine Anwendung finden, so dass nur ein kleiner Ausschnitt politischer Kultur tatsächlich beleuchtet werden wird. 210 Rohe (1994:170f), vgl. Mikler (2005:181). Mikler verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass die Soziokultur nicht als eine homogene Einheit von kulturellen Deutungsmustern verstanden werden darf, sondern eher als das Ergebnis eines Zusammenspiels von sozialen Milieus aufgefasst werden muss. Mikler (2005:181), vgl. auch Meyer (2006b:203-207) 211 Rohe verweist aber auch auf ein stetes Spannungsverhältnis zwischen Deutungs- und Soziokultur, denn „Politische Deutungskulturen besitzen, so sehr man ihre Bezogenheit auf politische Soziokulturen betonen muss, stets eine gewisse Eigenlogik (…) Anders als Wissenschaft kann eine (politische) Kultur niemals für alles offen sein. Konstitutiv für sie ist gerade ihre spezifische Selektivität. Politische Kulturen können nicht nur ein Zuviel an 208
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Insofern wird deutlich, dass politische Kultur immer auch ein politisches Produkt darstellt, sich im politischen Prozess herausbildet, und sich im Rahmen desselben auch wieder verändert. Denn politische Kultur muss immer als ein hochdynamischer, mitunter widerspruchsvoller und vor allem „in hohem Maße offener kollektiver Lernprozess“212 verstanden werden. Dieser Lernprozess entfaltet sich erst im reziproken spannungsreichen Verhältnis von Sozio- und Deutungskultur: dies basiert auf einer Wechselwirkung zwischen überlieferten Traditionen und Orientierungen, realen sozialen und politischen Erfahrungen einer Gesellschaft und den öffentlich hervortretenden Interpretationen im Rahmen der Deutungskultur. Als wesentliche Aufgabe der Deutungskultur fordert Rohe (1987), die überlieferte und gelebte politische Sozio-Kultur immer wieder zu thematisieren und dadurch etablierte Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen. Denn nur durch einen solchen Diskurs können letztlich neue Selbstverständlichkeiten entstehen, die dann als Teile einer “erneuerten“ Sozio-Kultur wirksam werden. Im Zuge dieses zentralen Prozesses zwischen Soziound Deutungskultur, im Grunde ein kollektiver Lernprozess, können sich erst neue Denkund Handlungsoptionen eröffnen. Die politische Kultur einer Gesellschaft entscheidet folglich nicht nur mit darüber, was in einer Gesellschaft als legitim und gerecht akzeptiert wird, sondern sie steckt auch den Handlungsrahmen ab, in dem die politischen Akteure agieren. Die politische Kultur ist bestenfalls nicht nur die Grundlage sondern auch das Ziel politischen Handelns.213 Politische Kultur im europäischen Kontext Im Kontext der hiesigen Arbeit stellt sich zunächst die Frage, ob ein nationales Konzept politischer Kultur für die Erklärung europäischer Sachverhalte ohne weiteres Erklärungswert besitzt. Mit Verweis auf den etablierten Befund, dass die EU als ein System-suigeneris zu begreifen und dadurch auch nicht unbedingt mit nationalstaatlichen Konzepten erfassbar sei, muss auch die Untersuchung des Zusammenhangs von politischer Kultur und europäischer Identität den spezifischen EU-Strukturen und damit den Besonderheiten des europäischen politischen Prozesses Rechnung tragen. Folglich kann es sich kaum um eine Untersuchung einer transnationalen europäischen politischen Kultur handeln, sondern muss nach wie vor die Nationalstaaten als Ort politischer Kulturen veranschlagen. Denn in der rechtlich-institutionellen Konstruktion der EU als ein Mehrebenensystem kommt den Mitgliedsstaaten neben der supranationalen und sub-nationalen Ebene konstitutiver Charakter zu. Die Mitgliedsstaaten, vertreten durch die jeweiligen nationalen Regierungen bzw. Minister, wirken maßgeblich bei der Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene mit, da der politische Aushandlungsprozess vorrangig zwischen dem Rat der EU und der Europäischen Kommission unter Einbeziehung bzw. Mitbestimmung des Europäischen Parlamentes (EP) stattfindet.214 Dabei ist der Grad der Vergemeinschaftung je nach Politikfeld unterschiedIdentität besitzen, das ihre Innovationsbereitschaft und Anpassungsfähigkeit beeinträchtigt, sondern auch ein Zuwenig an Identität haben und damit nicht mehr in der Lage sein, die für alle Kultur konstitutiven Selektions-, Vergessens- und Ausklammerungsleistungen zu erbringen.“ Rohe (1994:169) 212 Meyer (2005:143) 213 Vgl. Meyer (2006b:46) 214 Dabei fungiert das EP als Vertretung der europäischen Bürger, während im Rat die Regierungen der Mitgliedsstaaten nationale Interessen geltend machen. Die Interessen der Europäischen Union (i.w.S. eine Ausweitung ihrer Kompetenzen) vertritt am ehesten die Europäische Kommission.
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lich ausgestaltet, so dass die Europäische Union sowohl supranationale als auch intergouvernementale Elemente aufweist. Die drei Tätigkeitsbereiche, die so genannten „drei Säulen“ der Europäischen Union unterscheiden sich sowohl nach dem Grad der Zusammenarbeit als auch den jeweiligen Kompetenzen der Organe. In der ersten Säule, die die Europäischen Gemeinschaften215 umfasst, ist das höchste Maß an Vergemeinschaftung bzw. Supranationalisierung erreicht, wodurch die europäischen Institutionen befugt sind, geltendes Recht für die Mitgliedsstaaten, deren Bürgern sowie juristische Personen (Unternehmen) zu setzen. Die anderen beiden Säulen, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit (PJZ) sind fast ausschließlich intergouvernemental organisiert, d.h. die Mitgliedsstaaten haben keine Kompetenzen an die europäische Ebene übertragen. Exekutivorgan ist hierbei der Rat der Europäischen Union, zusammengesetzt aus den Regierungsvertretern der Mitgliedsstaaten, der in der Regel Entscheidungen einstimmig fällt.216 Für die Rolle der Mitgliedsstaaten in der rechtlichinstitutionellen Konstruktion der EU ergibt sich daraus, dass diese vertikal betrachtet eine der drei konstitutiven Ebenen im europäischen Mehrebenensystem darstellen. Horizontal sind sie in den verschiedenen (in den vergangenen Jahrzehnten immer zahlreicher gewordenen) Politikbereichen je nach Grad der Vergemeinschaftung die zentralen Akteure bzw. für die Implementierung europäischer Politikentscheidungen auf nationaler Ebene verantwortlich. Folglich bleiben sie auch die primären Adressaten europäischer Entscheidungen. Damit einher geht die Verantwortung der Nationalstaaten (und/oder Regionen und Kommunen) für die Implementierung von auf europäischer Ebene getroffenen Politikentscheidungen. Zwar verfügt die Europäische Union mit ihren drei supranationalen Organen (EuGH; Kommission und Parlament) über Kontrollmechanismen, die die Umsetzung europäischer (Rahmen-)Richtlinien und Verordnungen rechtlich durchsetzen können, jedoch verbleibt die Art und Weise der Umsetzung nach wie vor bei den Nationalstaaten. Auch dies räumt letzteren einen gewissen Gestaltungsspielraum ein, der je nach nationalen Gepflogenheiten anders genutzt wird.217 Damit kommt einerseits den nationalen Regierungen nach wie vor eine zentrale Rolle im europäischen Entscheidungsprozess zu. Andererseits wird vielfach kritisiert, dass es sich bei der Europäischen Integration um ein Elitenprojekt handeln würde (s.o.), die Positionen der Vertreter der Mitgliedsstaaten also nicht die Interessen der nationalen Bevölkerungen widerspiegeln würden. Von anderer Seite wird hingegen angeführt, dass die Europäische Union nationalen Politikern teilweise als Sündenbock dient und auf diesem Weg die öffentliche Meinung beeinflusst wird. Alles in allem kann vor dem Hintergrund der spezifischen Konstruktion der Europäischen Union und den konstatierten Mängeln festgestellt werden, dass der nationalen Ebene nicht nur eine zentrale Bedeutung im europäischen Entscheidungsprozess zu kommt sondern auch in der Vermittlung europäischer Inhalte und Politiken in der nationalen öffentlichen Arena. Somit bilden die Nationalstaaten nach wie vor den primären Bezugsrahmen auch für die Herausbildung einer europäischen (Bürger-
215
Diese Säule basiert auf dem EG-Vertrag und dem Euratom-Vertrag. Der EG- und Euratom-Vertrag umfassen maßgeblich den europäischen Binnenmarkt und die so genannten internen Politikfelder, wie zum Beispiel die Wirtschafts- und Währungspolitik, Agrarpolitik, aber auch einzelne Sozial- und Beschäftigungspolitiken, Bildung und Kultur. 216 Die Entscheidungen, die in der zweiten und dritten Säule gefällt werden, sind somit auch nur zum Teil der Rechtsprechung durch den EuGH unterworfen. 217 Vgl. u. a. Falkner et al. (2005)
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)Identität. Aus diesen Gründen erscheint es sinnvoll, einen nationalen und keinen europäischen politischen Kulturbegriff218 für die Untersuchung anzusetzen. 4.3.1
Methodenvorstellung
Wie im dritten Kapitel deutlich wurde, legt die jeweilige Konzeption von Identität eine eigene Methode nahe.219 Angesichts des vielschichtigen hier entwickelten Identitätsverständnisses, dass auf einer Verknüpfung von Bottom-up- und Top-Down-Perspektive beruht, bedarf es einer Kombination unterschiedlicher Methoden. Je nach Analysegegenstand wird auf quantitative oder qualitative Methoden rekurriert. Nachfolgend wird das Verständnis und der prinzipielle methodische Ansatz für jede der drei zu untersuchenden Variabeln (Skript, Sozio- und Deutungskultur) vorgestellt und kurz begründet. Eine detaillierte Erläuterung und Rechtfertigung der einzelnen Methoden werden dem jeweiligen empirischen Kapitel vorweg gestellt. Das europäische Skript wird textanalytisch unter Verwendung der europäischen Verträge rekonstruiert. Dabei werden die in den Verträgen verankerten sozialen Werte und Ziele ebenso wie sämtliche sozial- und beschäftigungspolitischen Aussagen herausgefiltert und vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstandes zur Bestimmung des sozialpolitischen Selbstverständnisses der EU herangezogen. Die Analyse der politischen Kultur wird auf zwei Ebenen vorgenommen: zum einen auf der Ebene der nationalen Deutungskultur politischer Eliten und zum anderen auf der Ebene der nationalen Sozio-Kultur der Bevölkerungen. Sozio-Kultur und Bevölkerungseinstellungen In Anlehnung an den Kern des traditionellen politischen Kulturansatzes nach Almond und Verba findet mit dem Konzept der Sozio-Kultur die subjektive Dimension politischer Prozesse Eingang in die Analyse. Als Sozio-Kultur werden zunächst einmal alle aggregierten Einstellungen, Wertorientierungen und Meinungen in der Bevölkerung in Bezug auf das politische System in seinen drei Dimensionen (polity, politics, policy) verstanden. Den Überzeugungen der Bürger wird neben den objektiven Gegebenheiten eine große Relevanz zugesprochen. Dies basiert auf der Annahme, dass die Legitimität und Überlebensfähigkeit eines politischen Systems hochgradig abhängig ist von positiven Haltungen seiner Bürger ihm gegenüber. Legitim ist ein politisches System dann, wenn sich die in den Institutionen und Prozessen verwirklichten Werte, Prinzipien und Ziele auch in den Einstellungen und Wertorientierungen der Bürger wiederfinden lassen.220 Die Erfassung der Sozio-Kultur wird dabei über repräsentative Umfragedaten vorgenommen, wobei die Urteile der Bürger über bestimmte Objekte (z. B. politische Institutionen und policies) als Repräsentanten des politischen Systems erfasst werden. Weil hier die soziale Dimension politischer Identität im 218
Zudem muss bezweifelt werden, dass es überhaupt eine transnationale europäische politische Kultur gibt. Vgl. Kapitel 3. Personale Identitätstheorien arbeiten zum Beispiel mit (narrativen) Tiefeninterviews, soziale Gruppenidentitäten werden zumeist in Experimenten erforscht, während kollektive Identitäten häufig durch Dokumenten-, Zeitungsanalysen oder im Rahmen der politischen Kulturforschung mit Hilfe von Umfragedaten untersucht werden. 220 Almond/Verba (1963), Pickel/Pickel (2006) 219
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Zentrum steht, werden nur die Umfragen berücksichtigt, in denen die Orientierungen der Bürger zu sozialpolitischen Institutionen erfasst worden sind. Dies sind die ISSP-Umfragen zur Rolle der Regierung („Role of Government“) von 1996 und 2006 sowie Daten aus dem Special Eurobarometer Nr. 251 von 2006. Nationale Deutungskultur und politische Eliten Die politische Sozio-Kultur wird durch politische Eliten beeinflusst, indem diese die in der Bevölkerung vorherrschende Einstellungen, Wertorientierungen und Handlungsgewohnheiten aufgreifen, thematisieren und interpretieren. Die Deutungskultur steht also in einem engen Verhältnis zur Sozio-Kultur und wird als kollektives Ergebnis von Prozessen verstanden, an denen viele mitgewirkt haben. Allgemein gesprochen sind die politischen Eliten die wichtigsten Träger der Deutungskultur, indem sie die Elemente aus der Sozio-Kultur aufgreifen und interpretieren. Der Begriff der politischen Elite beschreibt eine Vielzahl von gesellschaftlichen Akteuren: Journalisten, Intellektuelle, zivilgesellschaftliche Akteure, Wissenschaftler und Politiker. Das primäre Bezugsobjekt des Elitendiskurses sind im Normalfall von Parteien bzw. Politikern angestoßene Debatten und Themen. Aus diesem Grund wird hier ein eng gefasster Begriff politischer Eliten zur Grundlage der Untersuchung gemacht, der sich hauptsächlich auf die Deutungsleistung von Parteien bezieht. Zwar besteht ein prinzipieller Unterschied zwischen politischen Eliten im Sinne individueller Akteure (wie z. B. Politiker etc.) und Parteien als kollektive Akteure. Für die Operationalisierung der politischen Deutungskultur soll hier jedoch angenommen werden, dass die Deutungsangebote der Parteien in Form von Programmen auch von den Einzelpolitikern prinzipiell vertreten werden und damit eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den PolitikerPositionen und denen der Parteien angenommen werden kann.221 Parteiprogramme werden demnach als ein aggregierter Ausdruck der Deutungskultur politischer Eliten verstanden. Dies insbesondere deshalb, weil Parteien gesellschaftliche Interessen und Vorstellungen aufnehmen und in Form von Programmen/Konzepten verdichten und interpretieren. Durch ihre intermediäre Stellung zwischen Staat und Gesellschaft kommt ihnen bei der Vermittlung zwischen sozialen Interessen und staatlichen Institutionen eine gewisse Deutungshoheit zu, nicht zuletzt auch durch ihre Medienpräsenz. Dadurch nehmen die Parteien eine zentrale Rolle im Prozess der politischen Deutung ein, da sie mit ihrer Auswahl und Strukturierung der in der Sozio-Kultur vorfindbaren Orientierungen und Interessen den politischen Handlungs-, Denk- und Diskursrahmen der politischen Kultur maßgeblich prägen. Als ein exemplarischer Ausdruck der politischen Deutungskulturen in einem Land sollen somit die (Wahl-) Programme der jeweils dominierenden Parteien des linken und rechten Parteienspektrums untersucht werden. 4.3.2 Länder- und Parteienauswahl Für die vertiefende Länderanalyse wurden Deutschland, Großbritannien und Polen ausgewählt. Diese Auswahl gründet sich im Wesentlichen darauf, dass die zu untersuchenden Länder möglichst unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Traditionen angehören und ein 221
Parteien werden somit als komplexe Akteure im Sinne Scharpfs (2000) definiert, siehe dazu Kapitel 7.
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hohes Maß an Diversität in ihrem ‚wohlfahrtskulturellen’ und sozialpolitischen Profil aufzuweisen haben. Somit folgt diese Auswahl einem „most different case design“ (BergSchlosser 2003), um vor dem Hintergrund stark divergierender Rahmenbedingungen möglichst verallgemeinerbare Zusammenhänge zwischen den Fällen hinsichtlich europäischer sozialpolitischer Vorstellungen ableiten zu können. Dabei geht es auch darum, kein verzerrtes Bild hinsichtlich der Chancen für die Herausbildung einer europäischen Identität auf der Grundlage besonders ähnlicher Fälle zu zeichnen.222 Unter diesen Rahmenbedingungen wird maßgeblich das jeweilige politische System (parlamentarisch vs. semi-präsidentiell, Zwei-Parteiensystem vs. Mehrparteiensysteme, Föderalismus vs. Unitarismus/Zentralismus) und die sozialstaatlichen Strukturen (liberaler vs. christdemokratischer/osteuropäischer Wohlfahrtsstaat), sowie politisch-kulturelle Aspekte (starker Katholizismus vs. Protestantismus, Fokussierung des Individuums vs. Kollektiv etc.) gefasst. Die spezifischen Rahmenbedingungen eines Untersuchungslandes werden vor der Analyse der Wahlprogramme ausführlich dargestellt. Die Auswahl der Parteien gründet auf zwei Kriterien: Zum einen müssen die ausgewählten Parteien Potential besitzen, (führende) Regierungsparteien zu werden und damit sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene politischen Einfluss ausüben können. Zum anderen sollten die Parteien zugleich die Links-Rechts-Dimension des jeweiligen nationalen Parteiensystems abbilden, nicht zuletzt, weil im Rahmen sozialpolitischer Themen das Rechts-Links-Cleavage ausschlaggebend ist. Für Deutschland wurden demnach die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) als „linke Regierungspartei“ und die Christdemokratische Partei Deutschlands (CDU) als „rechte Regierungspartei“ ausgewählt. In Großbritannien, dass faktisch ein Zwei-Parteiensystem hat, fiel die Auswahl zwangsläufig auf die Labour Party und die Conservative Party. Für Polen hingegen mussten aufgrund des spezifischen Transformationskontextes und der hohen Instabilität des Parteiensystems (zumindest bis 2001) jeweils drei Parteien ausgewählt werden. Die Auswahl der polnischen Parteien wird zu Beginn der Länderanalyse ausführlich dargelegt und begründet. Bei der in der Parteienforschung etablierten Zuordnung von Parteien entlang eines Links-Rechts-Kontinuums werden links beginnend kommunistische Parteien angesiedelt, dann sozialistisch-nationalistische, ferner sozial-liberale, daneben liberale, dann konservative und dann rechte bis ultrarechte Parteien. Diese Einteilung wird entlang wesentlicher politischer Ziele und den dahinter liegenden Wertüberzeugungen der Parteien vorgenommen. Tabelle 1 verdeutlicht die Einteilung der Parteikonzeptionen hinsichtlich gesamtgesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Überzeugungen. Durch die Analyse von parteipolitischen Positionen werden Parteien als nach wie vor zentrale Akteure im politischen Prozess verstanden. Zwei Gründe sprechen dafür: Erstens vermögen bisher nur Parteien einen programmatischen gesamtgesellschaftlichen Kompromiss vor dem Hintergrund einer Vielfalt an sozialen Interessen, Werten, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Gruppen zu entwerfen. Zweitens, spielen Parteien eine zentrale Rolle im Vermittlungsprozess zwischen sozialen Interessen und staatlichen Institutionen. Insofern kann ein reziprokes Verhältnis zwischen den in der Gesellschaft vorherrschenden
222
Polen ist hierbei nochmals von besonderem Interesse, da es als neues, osteuropäisches Mitgliedsland in der EU im Vergleich mit den alten westeuropäischen Mitgliedsstaaten möglicherweise Erkenntnisse hinsichtlich europäischer Konvergenzprozesse liefern kann.
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Vorstellungen und Präferenzen und den von den politischen Parteien vertreten Programmen konstatiert werden.223 Tabelle 1: Parteipolitische Rechts-Links-Dimension Linke Parteien
Rechte Parteien
Gesamtgesellschaftlich: Herstellung bzw. AufrechterhalVerhältnis und Einflussnahme der tung einer klar geordneten, hiepolitischen Akteure in Bezug auf Ziel einer umfassenden gesellrarchischen Gesellschaftsorddie gesellschaftlichen Sozialstrukschaftlichen Gleichheit nung, in der jeder eine klar defituren. nierte Rolle/Position besitzt Ökonomisch: Verhältnis der politischen Akteure zur Wirtschaftsordnung und zur Handlungsleitende Wertpriorität: Handlungsleitende WertprioritäEinflussnahme auf die ökonomiSoziale Gerechtigkeit ten: Freiheit und Eigentum schen Bedingungen Symbole und soziale Gruppen Kulturell: sind die Grundlage jeder gesellVerhältnis der politischen Akteure schaftlichen Differenzierung und zu bestimmten traditionellen der Bestimmung von Zugehörigsozialen Gruppen und Symbolen Orientierung stärker an allgekeiten (Eigenbestimmung vs. wie Familie, Volk/ Minderheiten, meinmenschlichen Qualitäten Fremdbestimmung). Nationale, Kirche/ Religion und deren Prakund Bindungen ethnische, religiöse und familiäre tiken Zugehörigkeiten bilden den Rahmen der gesellschaftlichen Verantwortung des Einzelnen. Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Niewiadomska-Frieling (2005)
223
Zur näheren Begründung siehe 7.1.
5 Europäisches Skript: Das verfasste normative Selbstverständnis der EU
Als normativer Referenzpunkt der empirischen Analyse werden die sozialpolitischen Policy-Ziele, Leitbilder und Konzeptionen, wie sie sich in den europäischen Verträgen darstellen, herangezogen. Den europäischen Verträgen als rechtsverbindliche Vereinbarungen zwischen den Mitgliedsstaaten und der EU wird hierbei – ähnlich einer Verfassung – eine Art Drehbuch-Funktion zuerkannt, indem sie nämlich die prinzipiellen Leitlinien, Ideen und Vorstellungen zur Ausgestaltung des europäischen Integrationsprojektes enthalten. In ihnen manifestiert sich der erzielte Konsens der relevanten europäischen Akteure (insbesondere der Mitgliedsstaaten unter Beteiligung der europäischen Kommission) über die Organisation und zukünftige Ausgestaltung der Europäischen Union, was als sichtbar werdendes europäisches Selbstverständnis begriffen werden kann. Zur Verdeutlichung des Zusammenhanges zwischen der Identitätsthematik und der Debatte um ein Soziales Europa wird im Folgenden eine Kontextualisierung des sozialen Skripts anhand der wesentlichen Positionen bezüglich eines ‚Europäischen Sozialmodells’ bzw. einer ‚europäischen sozialen Dimension’ dargelegt (5.1.). Daran anschließend wird anhand der Verträge das normative Selbstverständnis der EU in Bezug auf die soziale Dimension herausgearbeitet. Dabei geht es darum, aufzuzeigen, was die ‚soziale Dimension’ in ihrer normativen Ausprägung tatsächlich vorzuweisen hat und welches Leitbild, im Sinne einer identitätsstiftenden Charakterisierung des politischen Projektes, sich daraus ableitet lässt (5.2.). Zuletzt erfolgt eine Diskussion und Einordnung (5.4.)des analysierten Leitbildes anhand analytischer Kategorien der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung (Vorstellung Wohlfahrtsstaatsforschung 5.4.1.). Diese Einordnung dient dem späteren Vergleich zwischen Skript und politischer Kultur. 5.1 Die soziale Dimension politischer Identität In der oben dargestellten Debatte um eine europäische politische Identität wurde deutlich, dass kollektiver politischer Identität eine Legitimationsfunktion zukommt und den sozialen Zusammenhalt einer politischen Gemeinschaft, also letztlich ihre Stabilität, sichert. In der Forschungsdiskussion wird gerade mit Blick auf den zunehmenden polity-Charakter der EU die Notwendigkeit der Herausbildung einer politischen Identität als Legitimationsgrundlage betont. Allerdings ergeben sich zum einen aus dem so genannten ‚sui-generis-Charakter’ der EU als auch aus den externen und internen Rahmenbedingungen der Hochmoderne224, dass sich eine europäische politische Identität grundlegend von nationalen Identitäten unterscheidet: Einerseits dadurch, dass eine weitgehende Abkoppelung des Kulturellen vom Politischen notwendig ist und andererseits, weil die europäische Integration einen hochdy224
Vgl. hierzu Kapitel 3
5 Europäisches Skript
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namischen und geographisch nicht determinierten Prozess darstellt. Vor diesem Hintergrund kann europäische Identität, wie oben dargelegt wurde, adäquater als politische Projektidentität konzeptionalisiert werden, wodurch den Kontextbedingungen von Identitätsbildungsprozessen in hochmodernen Gesellschaften225 als auch dem offenen Prozess- und sui-generis-Charakter der EU Rechnung getragen wird. Wenn europäische politische Identität als Projektidentität verstanden wird, stellt sich notwendigerweise die Frage nach der inhaltlichen Bestimmung des Projektes und insofern nach den Quellen der politischen Projektidentität. Als eine inhaltliche Bestimmung des Europäischen Projektes wird in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion die Notwendigkeit eines „Sozialen Europas“ als eine wichtige identitätsstiftende Komponente postuliert. Demnach sei ohne eine angemessene sozialpolitische Flankierung (‚soziale Dimension’) der wirtschaftlichen Integrationsprozesse und/oder ohne die Bewahrung der historisch gewachsenen nationalen Sozialmodelle die Gewinnung der Unterstützung bzw. eine Identifizierung der europäischen Bürger mit dem europäischen Integrationsprojekt kaum zu erwarten.226 So verweisen zum Beispiel Kodré und Leibfried (1999) darauf, dass: „[…] auch für integrationspolitische Überlegungen die soziale Dimension des europäischen Einigungsprozesses wesentlich [ist]. Die schwierige Ratifizierung des Maastrichter Vertrags hat die massiven Akzeptanzprobleme der Europäischen Union (EU) bei der Bevölkerung einiger Mitgliedsstaaten deutlich gemacht: Die EU wird vielfach als bürokratisches und bürgerfernes Gebilde erlebt. Sie wird für viele soziale Probleme in den Mitgliedsstaaten mitverantwortlich gemacht. Ein „europäischer Sozialstaat“ könnte demgegenüber soziale Bürgerrechte schaffen, die sich als ein wesentliches identifikationsstiftendes Element für den europäischen Zusammenschluss auswirken könnten.“227
Auf politischer Bühne war es insbesondere Jacques Delors, der den Begriff des ‚Europäischen Sozialmodells’ Mitte der 1990er Jahre in die Debatte einbrachte und damit herausheben wollte, „was die EU-Europäer über alle Unterschiede hinweg einer europäischen Identität längerfristig zugrunde legen könnten.“228 Die Meinungen darüber, was unter einem solchen „Europäischen Sozialmodell“ zu verstehen sei, gehen allerdings auseinander. Gerade im Rahmen der Debatte um den Vertrag für eine Verfassung von Europa (VVE) wurde das Projekt eines „Sozialen Europas“ von links, aber auch von rechts angegriffen. So argumentierten die Gegner des damaligen Verfassungsvertrages, dass das gegenwärtige Europa aber auch die Neuerungen im Verfassungsvertrag nicht dem Anspruch eines „Sozialen Europas“ entsprechen würden. Einige Vertreter betonten zudem, dass ein soziales Europa weder wünschenswert noch möglich wäre. Die Diskussion ist hochkontrovers, wobei die Frage, inwieweit das Europa der Zukunft „sozial“ sein kann, im Mittelpunkt steht? Zu fragen ist dann jedoch auch, was unter dem Adjektiv „sozial“ zu verstehen ist und was letztlich mit Europa gemeint ist. Denn dabei könnte es sich einmal um ein Europa handeln, welches sich durch gemeinsame Politiken auf europäischer Ebene auszeichnet, oder aber um ein Europa als die Summe national-
225
Vgl. hierzu Kapitel 4 z. B. Kowalsky (1999:32), Mény et al. (1996:10f.), Kodré/Leibfried (1999:290) 227 Kodré/Leibfried (1999:290) 228 Ostner (2000:23) 226
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5 Europäisches Skript
staatlicher Gesellschaften, die sich durch ein gewisses Maß an „sozialen Gemeinsamkeiten“ auszeichnen. Letzteres Verständnis geht meist aus einem Vergleich mit den USA hervor. 5.1.1 Soziales Europa Die Debatte um ein ;Soziales Europa’ und eine ‚soziale Dimension’ der europäischen Integration und europäischer Politiken dreht sich einerseits um die Frage, was die Europäer bereits an Gemeinsamkeiten vorzuweisen haben und andererseits um die Frage, inwieweit auf europäischer Ebene die soziale Dimension (noch) geschaffen bzw. gestärkt werden kann, so dass sich die Europäer damit identifizieren könnten. Dabei durchzieht die Debatte ein Spannungsverhältnis zwischen dem, was bereits vorhanden ist, also nationalstaatliche Institutionen, einem – wie auch immer zu definierenden – europäischen Sozialmodell und den sozialen Werten der Europäer und ‚etwas’, was noch geschaffen werden soll, ein Soziales Europa als zu verwirklichendes Projekt. Die Diskussion um eine soziale Dimension rückte ab Mitte der 1980er Jahre im Rahmen der Debatte über die möglichen Folgen und Auswirkungen, die die schrittweise Implementierung eines europäischen Binnenmarktes mit sich bringen würden, ins Blickfeld der integrationstheoretischen Debatten. Die dabei konstatierte Disparität zwischen den beiden Integrationsdynamiken von positiver und negativer Integration verweist auf den Umstand, dass sich der europäische Integrationsprozess im Rahmen einer strukturellen Dominanz marktschaffender bzw. ökonomischer Integrationsziele (negative Integration) vollzog, während marktkorrigierende Elemente (positive Integration) nicht in gleichem Maße auf die Gemeinschaftsebene verlagert wurden.229 Durch die (freiwillige) Abschaffung von Beschränkungen im freien Marktwettbewerb zwischen den Mitgliedsstaaten der EU ergeben sich Einschränkungen für die Handlungs- und Steuerungsfähigkeiten der Nationalstaaten insbesondere im Bereich der Sozialpolitik, da die nationalen Systeme der Arbeitsbeziehungen unter Druck (Standortwettbewerb) geraten und eine sozialpolitische Abwärtsspirale (social dumpings) als mögliche Folge befürchtet wird. Ein daraus resultierender „halbsouveräner Wohlfahrtsstaat“230 büßt, so die Diagnosen, durch die Vorgaben des Wachstums- und Stabilitätspaktes im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion an Autonomie ein, ohne dass auf europäischer Ebene ein wirksames Korrektiv in Form einer europäischen Sozialpolitik etabliert wurde.231 Vor diesem Hintergrund, dass die Europäische Einigung primär ein markt-liberales Projekt sei, wurde in der Debatte ein Mangel an marktkorrigierenden Mechanismen festgestellt. Dieser Mangel führe letztlich dazu – so die Kritik maßgeblich von Seiten der Linken – dass sich die Bürger mit dem Markt-Europa, wie es bisher wirke, nicht ausreichend identifizieren könnten, sondern gerade Ängste auf Seiten der Bürger geschürt würden. Während Vertreter neoliberaler Positionen bereits ein „Zuviel“ an politischer Integration feststellen und eine Rückkehr zu einer „europäischen Minimalgesellschaft“232 fordern, wird aus dem Spektrum linksideologischer Positionen die prinzipielle Gefahr gesehen, dass ein ungezügelter Markt soziale Integration verhindere. Genschel (1998) macht in diesem Kontext auf 229
Scharpf (1999:47ff.), Wendler (2005:12ff.), Leibfried (1998:60ff.) Leibrfried (1998:10) 231 U. a. Scharpf (1999: 27), Wendler (2005:12ff.), Meyer (2006a) 232 Möschel (1993:23), zitiert nach Genschel (1998:11) 230
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die unterschiedlichen Bewertungsmaßstäbe aufmerksam, die der jeweiligen Betrachtung des bisherigen europäischen Integrationsprozesses zugrunde gelegt werden. „Beurteilen die Rechten die europäische Integration unter dem Gesichtspunkt, was sie zur Zivilisierung des Staates, zur Einhegung hoheitlicher Diskretionsspielräume und zur Durchsetzung wirtschaftlicher Freiheitsrechte beiträgt, so fragen die Linken, was durch die Integration für die Domestizierung des Kapitalismus, die Gewährleistung sozialer Anspruchsrechte und die demokratische Gestaltbarkeit der Gesellschaft gewonnen (oder verloren) wird. Den einen geht es um einen europäischen Markt ohne Binnengrenzen und Wettbewerbsverzerrungen, den anderen darum, diesen Markt unter politische Kontrolle zu bekommen (…)Nach ihrer Vorstellung sollte sich deshalb der Staat nicht darauf beschränken, die institutionellen Voraussetzungen von Märkten zu garantieren, sondern innerhalb gewisser Margen auch Verantwortung für deren Ergebnisse übernehmen und diese gegebenenfalls durch steuernde Eingriffe und umverteilende Maßnahmen korrigieren (Polanyi 1978).“233
Eine demokratietheoretische Betrachtung des bisherigen Europäischen Integrationsprozesses unter der Fragestellung, inwieweit dieser den sozialen Zusammenhalt der nationalen Gesellschaften sichert und ebenso einen Zusammenhalt des Europäischen Gemeinwesen als Ganzes zu fördern vermag, wirft zwangsläufig die Frage nach der sozialpolitischen Gestaltung des Prozesses auf. Unter diesem Blickwinkel übernimmt nämlich gerade Sozialpolitik im weiteren Sinne234, bestimmte Funktionen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken sollen. Argumentativ untermauert wird dies in der wissenschaftlichen Literatur235 mit Verweis auf drei Hauptfunktionen, die sozialpolitischer Gestaltung zugeschrieben werden: Erstens, übernimmt Sozialpolitik die Funktion eines Schutzes vor Marktkräften, indem sie „der menschlichen Arbeit zumindest bis zu einem gewissen Grad den Charakter als „Ware“ zu nehmen [vermag], auf deren Verkauf Menschen zur Sicherung ihrer physischen und sozialen Existenz bedingungslos angewiesen sind. Normativ gedeutet dient Sozialpolitik in diesem Sinne der Verwirklichung eines Mindestmaßes an Verteilungsgerechtigkeit insofern, als durch Umverteilung das physische oder soziokulturelle Existenzminimum eines jeden Menschen gesichert werden soll, unabhängig von dem Güterbündel, dass dieser durch die Aktivität auf (ungeregelten) Märkten erwirtschaften könnte.“236
Eine solche Entkoppelung sozialer Sicherheit vom Arbeitsmarkt, was als Dekommodifizierung bezeichnet wird, kann auf verschiedene Weise erreicht werden. So zum Beispiel durch Eingriffe in den Arbeitsmarkt in Form von Kündigungsschutz, arbeitsrechtlichen Schutzstandards etc. oder durch eine weitgehende Lösung von Sozialleistungsansprüchen an einer
233
Genschel (1998:11) „Sozialpolitik im engeren Sinne (…) bezeichnet die institutionellen, prozessualen und entscheidungsinhaltlichen Dimensionen der gesamtgesellschaftlich verbindlichen Regelung der sozialen Sicherheit (vor allem des Schutzes vor materieller Not, der Sicherung gegen Wechselfälle des Lebens und der Bekämpfung krasser Ungleichheit) durch Staat, Verbände, Betriebe, Familien und Eigenvorsorge. Zur Sozialpolitik im weiteren Sinne zählen zusätzlich die Gestaltung der Arbeitsordnung, mitunter auch die Beschäftigungspolitik und das Bildungswesen ("Wohlfahrtsstaat").“ zit aus: Andersen/Woyke (2003) Lemma Sozialpolitik 235 Hier beziehe ich mich auf die Darstellung von Thalacker (2006:12-18). 236 Thalacker (2006:13) 234
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vorherigen Erwerbstätigkeit, zum Beispiel in Form einer steuerfinanzierten Grundrente für alle Bürger, einer allgemeinen Grundsicherung etc . Zweitens wird Sozialpolitik eine positive Rolle im Rahmen von Modernisierungsprozessen zugeschrieben, indem diese hilft, negative Folgen der Modernisierung abzufedern. So zum Beispiel wenn Menschen im Zuge von Modernisierungsprozessen aus ihren vorherigen sozialen Bindungen herausgelöst werden und durch neue staatlich organisierte oder vermittelte Solidaritätsformen aufgefangen und sozial abgesichert werden. Zudem kann Sozialpolitik eine „Verbesserung der individuellen Anpassungsfähigkeit der von den Veränderungen betroffenen Menschen“ ermöglichen, indem in die Bildung von Humankapital investiert (Bildung, Weiterbildung etc.) wird. Darüber hinaus können sozialpolitische Maßnahmen dahingehend wirken, dass politische und gesellschaftliche Widerstände gegenüber Veränderungsprozessen abgebaut werden, da durch die Gewährleistung eines Auffangnetzes zum Beispiel die (Risiko-)Bereitschaft neue berufliche Wege zu gehen, erhöht werden kann. Drittens werden sozialpolitische Maßnahmen dadurch legitimiert, dass sie die Gewährleistung gesellschaftlicher Teilhaberechte sicherstellen (sollen). Im Rahmen der Theorie der Sozialen Demokratie (Meyer 2005) stellt Sozialpolitik ein entscheidendes politisches Instrumentarium dar, mit dem die Realwirkung von Grundrechten, insbesondere der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen sicher gestellt werden kann. Prinzipielles Ziel von Sozialpolitik ist demnach die Verbesserung der sozialen Verhältnisse, so z. B. indem Marktteilnahme ermöglicht wird. Angesichts dieser der Sozialpolitik zugeschrieben sozialintegrativen Wirkung, wird der europäische Integrationsprozess in seiner bisherigen Ausgestaltung kritisch hinterfragt werden. Nach Genschel (1998) ist die relativ spät einsetzende „linke Europa-Kritik“237 darauf zurückzuführen, dass „das Projekt der europäischen Einigung Konnotationen [besaß], die es für Linke unwiderstehlich machten – Frieden und europäische Selbstbehauptung, Nichtdiskriminierung und internationale Solidarität. Zum anderen wurden die Inkompatibilitäten zwischen europäischer Marktintegration und nationaler Sozialpolitik nicht sofort erkennbar. Der nationale Wohlfahrtsstaat stand während der 60er und 70er Jahre noch in voller Blüte und täuschte damit darüber hinweg, daß sein Fundament bereits unterspült wurde. Schließlich erschien es lange Zeit auch möglich, die durch die Integration auf nationaler Ebene geopferte politische Kontrolle auf höherer europäischer Ebene wiederzugewinnen (Geyer 1993:91). Funktionalistische Theorien erklärten geradezu zur Zwangsläufigkeit, daß dem gemeinsamen europäischen Markt irgendwann die Schaffung eines - wahrscheinlich föderal organisierten - europäischen Sozial- und Interventionsstaates folgen müßte, der dann für Europa als Ganzes leistet, was die Mitgliedstaaten nicht mehr getrennt für ihre jeweiligen Länder zu leisten in der Lage sind. Alles, was sich in dieser Richtung tat oder nicht tat, wurde als Vorspiel der kommenden europäischen Staatlichkeit interpretiert (Streeck 1995a:407409).“
Je länger jedoch die strukturelle Asymmetrie zwischen negativer und positiver Integration sich fortsetzte, umso mehr rückten die Auswirkungen ins Blickfeld. Infolgedessen wurde u. a. konstatiert, dass ein reines ‚Markt-Europa’ die sozialen Arrangements der Nationalstaaten untergrabe. Leibfried (2005) trägt sieben durch den Europäischen Integrationsprozess hervorgerufene Restriktionen staatlicher Autonomie zusammen. Die im Folgenden 237
Genschel (1998:12)
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stark verkürzt wiedergegebenen Einschränkungen entstehen einerseits im Rahmen der von der EU gewährleisteten freien Mobilität von Arbeitnehmern (1-4) und zum anderen angesichts der Dienstleistungsfreiheit und des Europäischen Wettbewerbssystems (5-7): 1. 2. 3. 4. 5.
Die einzelnen Mitgliedsstaaten können ihre Sozialleistungen nicht mehr allein auf die eigenen Bürger begrenzen; und auch nicht mehr darauf insistieren, Rechte und Leistungen nur noch innerhalb ihres eigenen Staatsgebiets zu gewährleisten; sowie nicht mehr vollständig den Wettbewerb mit anderen Anbietern soziale Leistungen auf ihrem Staatsgebiet verhindern. Auch wird ihr ausschließliches Recht die Regelung der Sozialleistungsansprüche von Migranten zu bestimmen, beschnitten und durch die Vertragskonstellation werden die nationalen Wohlfahrtsstaaten in zweifacher Hinsicht „gelenkt“ bzw. gerahmt: „it sets contours for protecting core welfare state components (redistribution, pay-as-you-go etc.); but, when redistribution recedes, it moves the welfare state (in whole or in part) over the borderline into the sphere of “economic action”, thus slowly submerging its activity in a single European “social security” market.”238
6. 7.
Nationale Regierungen können nicht mehr allein entscheiden, wer Sozialleistungen anbietet. Bereits im Gesundheitswesen könne das erste europaweite „turf battle between national welfare states and the EU plus market, as represented by private insurance, producers etc.“239 beobachtet werden, so dass die nationale Autonomie bereits stark eingeschränkt ist.
Mit dem Argument, dass die Nationalstaaten durch die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes an Handlungskompetenz einbüßen, wurde folglich gefragt, inwieweit auf europäischer Ebene die soziale Dimension gestärkt werden müsse, um die verloren gegangene Handlungsfähigkeit zumindest teilweise auf europäischer Ebene wiedererlangen zu können. Dabei übernähme eine solche gestärkte soziale Dimension auf europäischer Ebene zum einen die Funktion, die nationalen Wohlfahrtsstaaten zu schützen, indem ein Unterbietungswettbewerb und Sozialabbau durch gemeinsame Regulierung verhindert werden könnte, und zum anderen bekäme die Europäische Union ein „sozialeres Gesicht“, was die Akzeptanz der Bürger hinsichtlich des Integrationsprozesses steigern würde. Bei diesem zweiten Argument wurde demnach primär aus nationalstaatlicher Perspektive die Gefahr negativer Folgewirkungen des Binnenmarktprojektes diskutiert. Weitere wichtige Aspekte in der Debatte um ein „Soziales Europa“ begründen die externen und internen Herausforderungen der nationalen Wohlfahrtsstaaten, wobei verstärkt nach der Rolle Europas zur Lösung dieser Herausforderungen gefragt wird. Zum einen werden unter den Bedingungen der Globalisierung240 Elemente der nationalen Wohlfahrtsstaaten untergraben, zum anderen sehen sich alle europäischen Wohlfahrtsstaaten Reform238
Leibfried (2005:268) Ebd. 240 Globalisierung hier insbesondere in ihrer amerikanischen-markt-liberalen Lesart. Vgl. dazu die Definition von Globalisierung S. 2 239
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erfordernissen gegenübergestellt, die aus internen gesellschaftspolitischen Veränderungen wie demographischem Wandel, veränderten Erwerbsbiographien und Risiken sozialer Exklusion herrühren. Diese veränderte Problemlage, die sich in der Debatte um die „Krise des Wohlfahrtsstaates“ widerspiegelt241, ließ die Debatte um ein „Soziales Europa“ zur Bewältigung oder zumindest Abfederung dieser Herausforderungen virulent werden. In dem Maße wie es im europäischen Zusammenschluss gelänge diesen internen und externen Herausforderungen gemeinsam zu begegnen, würde Europa nicht mehr maßgeblich als ein liberales und die nationalstaatlichen sozialen Arrangements gefährdendes Projekt wahrgenommen, sondern könnte als ein sozialeres Projekt die Zustimmung der Bürger gewinnen und damit seine Legitimation und Stabilität sichern. Man könnte auch sagen, dass Europa einen zusätzlichen, neuen sichtbaren Mehrwert für die Menschen erlangen sollte, nachdem das primäre Ziel ‚Frieden durch Marktintegration’ zunehmend an Bindungskraft verlöre, da es gerade unter den jüngeren Generationen als eine Selbstverständlichkeit wahrgenommen würde. Damit hängt auch zusammen, dass unter den gewandelten sozio-politischen Bedingungen der Hochmoderne neue Unsicherheiten aufkommen, Identitäten flexibler sind und vom Individuum größere Spannungen auszuhalten verlangt wird (siehe Kapitel 3). Vor dem Hintergrund solcher Anpassungsleistungen und Unsicherheiten erscheint die Vorstellung, dass Europa, welches als eine Art ‚sozialer Schutzraum’ fungiert und soziale Sicherheit und Arbeitsplätze sichert, als ein positives Projekt, welches Identität zu stiften vermag. Zumal wenn der europäische Integrationsprozess selbst als ein Modernisierungsprozess begriffen wird242, stellt sich nicht nur die Frage inwieweit dadurch neue soziale Probleme entstehen, sondern auch wie diese gelöst werden können. Dabei wird davon ausgegangen, dass eine Verankerung bzw. Stärkung von Sozialpolitik auf Europäischer Ebene die – zum Teil durch die wirtschaftspolitische Integration selbst hervorgerufenen – nationalstaatlichen Interventions- und Steuerungsverluste kompensieren kann. Durch eine gemeinsame europäische Sozialpolitik würde neoliberalen Wirkungsmechanismen und einer Aushöhlung nationalstaatlicher Arrangements entgegengewirkt und Sorge dafür getragen, dass im Rahmen der EU ein soziales Gesellschaftsmodell erhalten bleibt. In diesem Zusammenhang wird im Rahmen der Debatte auf ein in Abgrenzung zum amerikanischen Gesellschaftsmodell zu erhaltenes europäisches Gesellschaftsmodell verwiesen. 5.1.2 Ein Europäisches Sozialmodell Wie erwähnt, kam im Rahmen der Diskussion um eine sozialpolitische Flankierung des europäischen Integrationsprozesses das Konzept eines ‚Europäischen Sozialmodells’ (ESM) auf, welches nicht zuletzt eine begriffliche Abstraktion dessen darstellen sollte, was als eine wesentliche Gemeinsamkeit der europäischen Mitgliedsstaaten gelten könne und was es zu bewahren gelte. Eine genaue Bestimmung der konstitutiven Merkmale des europäischen Sozialmodells stößt hingegen auf gewisse Schwierigkeiten. „Jede nähere Bestimmung der konstitutiven Elemente jenes europäischen Sozialmodells hatte bald mit der Schwierigkeit der vielen Abweichungen zu kämpfen: Nicht alle Mitgliedsstaaten der EU setzen gleichermaßen auf Kooperation und Konsens, Solidarität und Subsidiarität; nicht 241 242
Vgl. dazu z. B. Kaufmann (2003a: 160-181) Thalacker (2006)
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alle sorgten ebenso für Nichterwerbstätige wie für Erwerbstätige […] Empirisch ließen sich allein innerhalb EU-Europas wenigstens vier Sozialmodelle unterscheiden. Und jedes dieser Sozialmodelle war spätestens seit Beginn der 1990er Jahre einem wachsenden Veränderungsdruck ausgesetzt. Die Rede vom europäischen Sozialmodell – falls davon überhaupt die Rede war – zielte auf einen beweglichen Punkt, der im Dunkeln lag und nur durch Vergleich mit den USA oder der übrigen Welt an Konturen gewann.“243
Um als ein identitätsstiftendes Leitbild fungieren zu können, ist es demnach entscheidend, inwieweit sich das Europäische Sozialmodell als ein genuines Modell beschreiben lässt, sei es hinsichtlich der realen Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen europäischen Wohlfahrtsstaaten oder eben im Sinne eines normativen Grundmodells, welches dann je spezifische nationale Ausprägungen aufweise.244 Thalacker (2006) identifiziert vier grundlegende Schwierigkeiten bei der eindeutigen Bestimmung eines europäischen Sozialmodellcharakters:
die Vielfalt der Sozialsysteme in Europa der gewählte geographische Bezug, wobei je nachdem welche Staaten in die inhaltliche Definition miteinbezogen werden, die konstitutiven Merkmale variieren können. der Wandel, dem die nationalen Wohlfahrtsstaaten in Europa unterliegen das Problem einer Abgrenzung zu anderen Modellen, die außerhalb Europas vorzufinden sind, da es vielfach empirische Überschneidungen gibt.245
Vor dem Hintergrund dieser definitorischen Schwierigkeiten bestreiten einige Autoren die Existenz eines „Europäischen Sozialmodells“, da die Unterschiede zu groß seien und eine sozialpolitische Harmonisierung weder möglich noch wünschenswert sei. So zum Beispiel Scharpf (2002), der eine Harmonisierung der nationalstaatlichen Sozialpolitiken durch die europäische Ebene ausschließt.246 Vobruba (2001) hält die Diskussion um ein Europäisches Sozialmodell maßgeblich für einen von empirischen und normativen Grundlagen abgehobenen Elitendiskurs, der nicht auf einer Selbstbeschreibung der europäischen Bürger fuße.247 Für die europäischen Bürger wäre nach wie vor der Nationalstaat primärer Bezugspunkt sozialpolitischer Forderungen und politischer Identifikation. Ähnlich argumentiert Streeck (1996) wenn er den Nationalstaat als primären Bezugspunkt sozialpolitischer Erwartungen auf der Grundlage einer nationalen Identität und Solidarität nennt.248 Autoren wie Streeck (1996); Scharpf (1995; 1996a+b) und Schmidt (1997) zum Beispiel befassten sich maßgeblich mit der Frage, warum es nicht gelang, marktkorrigierende (positive Integration) Politiken in gleichem Maße wie marktsschaffende (negative Integration) auf europäischer Ebene zu verankern. Vier Hauptgründe werden in diesem Kontext genannt: Erstens, weil die in den Römischen Verträgen verankerte europäische Konstruktion letztlich einen liberalen Bias aufweise und nur die marktschaffende Integration explizit verankert wurde, so dass sich diese „quasi-automatisch“ unter der Aufsicht der Kommission und des EuGH über Vertragsverletzungsverfahren und Wettbewerbsaufsicht entfalten 243
Ostner (2000:23), ebenfalls bei Thalacker (2006:60) Thalacker (2006:60) 245 Ebd. 246 Siehe hierzu die zusammenfassende Diskussion bei Thalacker (2006:62ff.), vgl. auch Scharpf (2002:50ff.) 247 Ebd., vgl. auch Voruba (2001:88) 248 Ebd., vgl. auch Streeck (1996:303) 244
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konnte. Positive Integrationsvorhaben, die zwar grundsätzlich nicht ausgeschlossen waren, blieben jedoch von Ratsentscheidungen abhängig.249 Zweitens, weil mit der Einheitlichen Europäischen Akte die Rechtsangleichungsmaßnahmen bezüglich des Binnenmarktes auf der Grundlage von Mehrheitsentscheidungen vollzogen werden konnten, während marktkorrigierende Maßnahmen nach wie vor nach dem Prinzip der Einstimmigkeit zustande kommen mussten, was letztlich aufgrund der hohen Konsensanforderungen weit aus schwerer zu erreichen ist.250 Drittens, weil ein Konsens im Rat hinsichtlich positiver Integrationsschritte dadurch erschwert ist, dass die Mitgliedsstaaten sehr unterschiedliche ökonomische Entwicklungsniveaus und institutionelle Strukturen aufweisen. Aufgrund dieser institutionellen und strukturell-ökonomischen Unterschiede würde eine sozialpolitische Harmonisierung für einige Länder – insbesondere ökonomisch schwächere Länder – erhebliche Kosten verursachen, so dass eine Einigung auf soziale Mindeststandards als wenig wahrscheinlich angenommen wird. „Mit Entschädigungen in Form großzügiger Transferzahlungen aus den reichen Ländern können sie dabei kaum rechnen. Dass diese willens und in der Lage wären, für die europäische Sozialunion zu zahlen, was Westdeutschland für die Vereinigung mit Ostdeutschland zahlt, mutet jedenfalls eher unwahrscheinlich an. Daraus folgt: Eine Einigung auf ein einheitlich hohes Regelungs- und Anspruchsniveau ist wegen der damit verbundenen distributiven Effekte schwierig und in vielen Fällen unerreichbar.“251
Hierbei wird ganz deutlich, dass eine sozialpolitische Harmonisierung oder auch nur einzelne regulative Maßnahmen eben immer auch vom politischen Willen der Akteure abhängt, ob diese bereit sind, gewisse Anpassungsleistungen zu zahlen und Macht an die Europäische Ebene abzutreten. Viertens werden die nationalen Pfadabhängigkeiten als ein weiterer Grund für die Schwierigkeit der Implementierung positiver Integrationsschritte auf europäischer Ebene genannt. Aufgrund der je spezifischen und historisch gewachsenen Strukturen der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit, des Gesundheits- und Rentenwesens, der industriellen Beziehungen, im Bildungs- und Erziehungswesen, in der Forschung, in den Massenmedien oder dem Umweltschutz wird gemeinhin angenommen, dass eine Änderung dieser tief verankerten Strukturen und Institutionen letztlich nur im Rahmen so genannter critical junctures erfolgt, ansonsten jedoch eher unwahrscheinlich ist. Demnach stünden die institutionelle und strukturelle Vielfalt der Systeme einem sozialpolitischen Harmonisierungsprozess entgegen. Zudem würden Interessengruppen auf nationaler Ebene sich gegen Harmonisierungstendenzen stellen, da sie ihre Machtposition auf nationaler Ebene nicht gefährden wollen. Als ein in diesem Sinne paradoxes Beispiel können die Gewerkschaften genannt werden, die – obgleich ihnen naturgemäß an einer schnellen sozialpolitischen Harmonisierung hätte gelegen sein müssen, um social dumping zu verhindern –aus Sorge einer Einbuße ihrer nationalen Machtposition „institutionellen Nationalismus“ (Streeck) betrieben haben.252 Jüngste Forschungsergebnisse stützen und erweitern die These des „institutionellen Nationalismus“ dahingehend, dass lediglich die Gewerkschaften, die auf nationaler 249
Scharpf (1996b:113), Schmidt (1997:9ff.), Genschel (1998:16) Streeck (1995:358f), Genschel (1998:16) 251 Genschel (1998:17) nach Scharpf (1996b:120f.) 252 Genschel (1998:17), s. auch Streeck (1995:418) 250
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Ebene an Macht einbüßten, die europäische Ebene als eine neue, nützliche Ebene gewerkschaftlicher Organisation betrachteten (so z. B. der Fall bei französischen und britischen Gewerkschaften), während auf nationaler Ebene nach wie vor starke Gewerkschaften weniger europäische Ambitionen zeigten, wie zum Beispiel die schwedischen, deutschen und österreichischen Gewerkschaften.253 In das Argument der nationalen Pfadabhängigkeiten als Hindernis eines sozialeren Europas spielt letztlich auch die Annahme mit hinein, dass in den Mitgliedsstaaten spezifische nationale politische Kulturen und damit auch unterschiedliche Vorstellungen, Interessen und Perspektiven auf ein „Soziales Europa“ vorherrschen. Diese Vielfalt bzw. Unterschiedlichkeit wird dann als ein weiteres Hindernis hinsichtlich einer Konsensfindungen auf europäischer Ebene bewertet. Dies scheint insofern plausibel, als politische Kulturen den Handlungsspielraum nationaler Akteure mitbestimmen, die schließlich wiedergewählt werden wollen. Allerdings sind politische Kulturen auch keine fortwährend feststehende Größen, sondern durchaus Wandlungsprozessen – wenn auch relativ langsam – unterworfen (siehe Kapitel 4). Unter diesen von den Autoren genannten strukturellen, institutionellen und akteursbezogenen (Rahmen-)Bedingungen wird die Existenz eines bereits vorhandenen (national-historischen) Europäischen Sozialmodells bestritten bzw. die Schaffung eines solchen, im Sinne einer umfassenden sozialpolitischen Harmonisierung auf europäischer Ebene als im Grunde unmöglich angesehen. In der Zusammenschau ist die Kritik am Konzept eines Europäischen Sozialmodells vielfältig. So wird zum einen die Existenz eines Europäischen Sozialmodells bestritten, da nicht eines, sondern vielmehr mehrere Sozialmodelle in Europa empirisch vorfindbar seien. In diesem Kontext wird meist auf die Wohlfahrtsstaatstypologie von Esping-Andersons (1990) Bezug genommen und diese mitunter um weitere Typen erweitert. Diese Vielzahl an Modellen, je nach Betrachtung drei, vier oder fünf werden als Grund dafür angeführt, dass durch die Unterschiedlichkeit bzw. Pfadabhängigkeiten der Modelle diese sich nicht einfach auf die Europäische Ebene transformieren lassen. Des Weiteren wird angezweifelt, ob es so etwas wie einen sozialen Konsens auf europäischer politischer Ebene gibt bzw. geben kann. Damit einher geht auch das Argument, dass die Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten die Schaffung eines Europäischen Sozialmodells, also eine Übertragung sozialpolitischer Kompetenzen auf die EU-Ebene nicht befürworten würden, da alle sozialpolitischen Erwartungen der Bürger nach wie vor auf den Nationalstaat fixiert blieben. Befürworter des Konzeptes eines Europäischen Sozialmodells hingegen sehen trotz dieser genannten Schwierigkeiten ein ausreichendes Maß an Gemeinsamkeiten der europäischen Staaten gegeben, die die Rede von einem Europäischen Sozialmodell rechtfertigen würden. Einige Definitionen der Gemeinsamkeiten sind recht allgemeiner Natur oder weisen einen hohen Grad an Abstraktion auf. Andere Beschreibungen beziehen sich nur auf einen Teilbereich von Sozialpolitik als Ausdruck eines Europäischen Sozialmodells bzw. betrachten nur einen Teil der Mitgliedsstaaten. Nichtsdestotrotz wird dem Konzept eines Europäischen Sozialmodells legitimations- und identitätsstiftender Charakter zugesprochen, entweder indem es ein normatives Leitbild für das europäische Integrationsprojekt liefert oder auf der Basis empirisch beobachtbarer Gemeinsamkeiten als Quelle eines bereits vorhandenen Konsenses hinsichtlich eines sozialen Gesellschaftsmodells betrachtet wird. In diesem Kontext wird europäische Identität zumeist in Abgrenzung zu den USA definiert. Hiernach gründe europäische Identität in der Vorstellung eines sozialen Gesellschaftsmo253
Bieler (2003)
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dells, was sich vom liberalen bzw. libertären254 Gesellschaftsmodell, wie es in den USA vorzufinden ist, prinzipiell unterscheide. Aigner und Guger (2005) definieren das Europäische Gesellschaftsmodell über drei charakteristische Merkmale, die allen europäischen Ländern gemein wären und diese von den Gesellschaftsmodellen Asiens und der USA deutlich unterscheiden lässt. Demnach basiere das Europäische Gesellschaftsmodell:
„auf einer breiten Verantwortung der öffentlichen Hand für soziale Wohlfahrt, die sich neben der Absicherung gegen Armut und Risiken des Lebens wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter und Behinderung auch auf Gesundheitsvorsorge, die Förderung von Familien und das Bildungsangebot bezieht; auf sozialem Dialog, institutionalisierten Arbeitsbeziehungen, Mitbestimmung am Arbeitsplatz und Arbeitsschutz; und auf Leistungen, die in der Regel universellen und inklusiven Charakter haben und über den gesamten Lebenszyklus verteilt allen Gesellschaftsmitgliedern zugute kommen und den sozialen Zusammenhalt stärken.“255
Darüber hinaus verweisen sie darauf, dass die EU im Entwurf über eine Verfassung für Europa256 soziale Grundrechte garantiere, die in den USA und anderen nicht-europäischen Ländern noch umstritten sind.257 Ähnlich sieht Meyer (2005) eine weitgehende Übereinstimmung der europäischer Staaten in der Unterzeichnung (und damit faktischen Anerkennung) des ersten Paktes der UN-Menschenrechtskonvention, in dem die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Grundrechte verankert sind.258 Giddens (2006) verweist explizit darauf, dass das Europäische Sozialmodell nicht als ein einheitliches Konzept verstanden werden darf, sondern eher als eine Mischung aus Werten, Errungenschaften und Bestrebungen, die in der Form und dem Ausmaß der Ausgestaltung variieren. Demnach spricht er von vier Definitionsmerkmalen: 1. 2. 3. 4.
254
„a developed and interventionist state, as measured in terms of level of GDP taken up by taxation; free and compulsory education up to final secondary school level; a robust welfare system that provides effective social protection to some considerable degree for all citizens, but especially for those most in need; the limitation, or containment, of economic and other forms of inequality.”259
Die Unterscheidung zwischen ‚liberal’ und ‚libertär’ bezieht sich hier auf die in der Theorie der Sozialen Demokratie vorgenommenen Ausdifferenzierung liberaler Demokratien in einen „libertären“ Typus, welcher dem amerikanischen Gesellschaftsmodell am nächsten ist, und einen „sozialen“ Typus, wie er am weitesten in den skandinavischen Ländern, allen voran Schweden vorzufinden sei. Meyer (2005, 2006a) 255 Aiginger/Guger (2005:2) 256 Dieser ist zwar in der Zwischenzeit gescheitert, jedoch werden auch im neuen Vertragsentwurf soziale Grundrechte verankert. Siehe dazu ausführlicher unter 4.3. 257 Aiginger/Guger (2005:3) 258 Meyer (2005) Meyer geht es hierbei allerdings nicht um die Definition eines Europäischen Sozialmodells. Er sieht in der Anerkennung dieser Grundrechte ein Merkmal und eine Voraussetzung sozialer Demokratie im Unterschied zum libertären Demokratietypus, wo eben diese Grundrechte im Gegensatz zu den Freiheits- und Bürgerrechten nach wie vor umstritten sind. 259 Giddens et al. (2006:15)
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Falkner (1998) sieht ein Europäisches Sozialmodell dahingehend vorliegen, dass alle Wohlfahrtsstaaten ein hohes Entwicklungsniveau und stärkere Konsensorientierung in kollektiven Arbeitsbeziehungen (im Rahmen der jeweiligen länderspezifischen sozialen Dialoge) als in anderen Regionen der Welt aufweisen würden.260 Ostheim und Zohlnhöfer (2002) ermitteln als Charakteristikum des ESM den Anspruch, Menschen in die Marktbeziehungen wieder einzugliedern, jedoch weniger über harte Aktivierungsmaßnahmen als vielmehr über die Förderung von Fähigkeiten und durch Chancenverbesserung zur Marktteilnahme.261 Auch Eichenhofer (2003) betont die marktintegrative Funktion des ESM indem er das Europäische Sozialmodell als „eine auf Marktfreiheit gründende Wettbewerbsordnung mit ausgebauter öffentlicher Vor- und Fürsorge, auf das auch diejenigen am Markt teilhaben können, die dazu aus eigener Leistung nicht imstande wären“262 beschreibt. Andere Autoren wie Kaeble (2000) und Kohl/Platzer (2003) heben vorrangig auf die supranationale, als eine die nationalstaatlichen Politiken ergänzende, Dimension ab263, während Vaughan-Whitehead (2003) in der gemeinsamen Zielverpflichtung der europäischen Mitgliedsstaaten gegenüber anderen multinationalen Wirtschaftszusammenschlüsse der Welt das entscheidende Abgrenzungskriterium des ESM erkennt.264 Während all diese unterschiedlichen Definition eines Europäischen Soziamodells einerseits recht allgemein geteilte Grundprinzipien in den europäischen Mitgliedsstaaten herausstellen oder eben die europäische Ebene zum Fokus der Betrachtung machen, betont Aust (2000) den normativen Gehalt des Europäisches Sozialmodells, welches als ein normatives Leitbild in Abgrenzung zu den USA verstanden werden sollte. Aust sieht im ESM primär ein begriffliches Gebilde, welches sich über einen Komplex von geteilten Normen definiere.265 In ähnlicher Weise verweist Ferrera (2000) auf ein normatives Grundprinzip, wonach sich die europäischen Staaten selbst verpflichten, ihre Bürger dem Markt gegenüber nicht schutzlos auszusetzen und Maßnahmen gegen ein race to the bottom zu ergreifen.266 Demzufolge wird dem Europäischen Sozialmodell eine Legitimationsfunktion zugeschrieben, die sich „nicht in einer Realitätsbeschreibung erschöpft, sondern ähnlich dem Begriff der ‚Demokratie’ eine permanente normative Verpflichtung darstellt (…).“267 Kowalsky betont ferner, dass die Europäische Gemeinschaft mit der „Herausforderung konfrontiert [sei], eine umfassende, über punktuelle Bemühungen hinausgehende Konzeption sozialer Gerechtigkeit, der gesellschaftlichen Umverteilung, der Verbesserung gesellschaftlicher Lebenslagen, der Teilhabechancen von Individuen und sozialen Gruppen erkennbar werden zu lassen und den politischen Willen zur sozialen Gestaltung.“268 260
Falkner (1998:77), siehe auch Thalacker (2006) Ostheim/Zohlnhöfer (2002:17f.) Eichenhofer (2003:19), zit auch bei Thalacker (2006) 263 Kaelble (2000:46) betont die Arbeitsteilung zwischen der EU-Ebene und der nationalen Ebene, wobei die EU den fairen Wettbewerb und einen regulativen Rahmen setzt, während die nationale Ebene die Vor-und Fürsorge der Menschen bereitstellt. EU-Sozialpolitik springt demnach über all da ein, wo Sozialstaatslücken bestehen würden. Kohl und Platzer (2003:300ff.) heben insbesondere auf das europäische Arbeitsrecht, den sozialen Dialog auf EU-Ebene und die transnationale Interessensvertretung als definierende Merkmale des ESM ab. Vgl. Thalacker (2006) 264 Vaughan-Whitehead (2003:46) bezieht in seine Definition des ESM allerdings nur die westeuropäischen Staaten ohne Großbritannien ein. 265 Aust et al. (2000:12ff.) 266 Ferrera (2000:17), siehe auch Thalacker (2006) 267 Kowalsky (1999:342) 268 Ebd., ebenso zitiert bei Thalacker (2006) 261 262
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Auch die Europäische Kommission selbst verweist auf gemeinsame Werte, die dem Europäischen Sozialmodell zugrunde liegen, so dass die EU-Sozialpolitik als ein wichtiges Politikfeld dargestellt wird, welches zur Verwirklichung dieser Werte beiträgt. Im Weißbuch zur Sozialpolitik von 1994 expliziert die Kommission: „there are a number of shared values which form the basis of the European social model. These include democracy and individual rights, free collective bargaining, the market economy, equality of opportunity for all and social welfare and solidarity. These values -which were encapsulated by the Community Charter of the Fundamental Social Rights of Workers - are held together by the conviction that economic and social progress must go hand in hand, competitiveness and solidarity have both to be taken into account in building a successful Europe for the future. (…) All Member States have reaffirmed their commitment to the social dimension as an indispensable element of building an ever closer Union just as a well developed social system is both necessary and desirable in each individual Member State. European social policy must serve the interests of the Union as a whole and of its entire people, both those in employment and those who are not. There is a widespread agreement that these shared values has to be preserved, even if quite radical changes are required in the way in which they are applied in practice.”269
Die Kommission macht damit das Europäische Sozialmodell, welches auf gemeinsamen Grundwerten basiere, zur Legitimationsgrundlage ihrer Politik. Damit soll das ESM letztlich ein positiv besetztes normatives Leitbild für eine Identifikation mit dem europäischen Projekt und seinen Politiken liefern270. „Der Nutzung des Europäischen Sozialmodells als Legitimationsgrundlage für politisches Handeln liegt die allgemeine, über den Bereich der Sozialpolitik hinausgehende Annahme zugrunde, die EU bedürfe für ihre Politik – mehr als durch die verbreitete Erwartungshaltung der Bürger gleichsam automatisch legitimierten Nationalstaaten – eines positiv besetzten Leitbilds, mit dem sich die Menschen identifizieren können.“271
Es wurde deutlich, dass zwischen dem Europäischen Sozialmodell als normativem Leitbild und der europäischen Sozialpolitik, die als soziale Dimension bezeichnet wird, ein enger Link besteht, jedoch das ESM umfassender gedacht wird. Für eine positive Identifikationsmöglichkeit der Menschen mit dem europäischen Projekt bedürfe es, so Kowalsky (1999) einer stärken Hervorhebung des Zusammenhangs zwischen der sozialen Dimension europäischer Politik und dem normativen Leitbild eines Europäischen Sozialmodells.272 Infolgedessen könnte „die soziale bzw. sozialpolitische Komponente des Integrationsprozesses […] in der europäischen Identitätsbildung einen entscheidenden Stellenwert ein[nehmen].“273 Hier wird der Unterschied – trotz gleichzeitiger enger Verknüpfung – zwischen ESM und ‚sozialer Dimension’ deutlich. Während ersteres primär ein normatives Leitbild dar269
European Commission Com (1994) 333, S. 4 So auch Kaelble (2000:39), Thalacker (2006:68f.), Wendler (2005) Kritiker dieser Sichtweise werfen hingegen die Frage auf, ob eine Legitimation durch das Europäische Sozialmodell nicht vielmehr rhetorischer Natur sei, da die Politiken der EU einen starken neoliberalen Bias habe und im Zuge des Integrationsprozesses in einzelnen Nationalstaaten unter Verweis auf die Erfüllung des Stabilitätspaktes gerade Sozialabbau betrieben wurde. 271 Thalacker (2006:68f.) 272 Kowalsky (1999:32) 273 Ebd. 270
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stellt, welches auf bestimmten geteilten Werten basiert und ein Abgrenzungskriterium zu anderen außereuropäischen Staaten und Regionen darstellt, hebt die soziale Dimension zunächst einmal auf die auf europäischer Ebene vorzufindende Sozialpolitik ab, die einer sozialen Flankierung des Binnenmarktes dienen soll. Die Verbindung zwischen beiden Konzepten liegt darin, dass insbesondere eine Stärkung der europäischen Sozialpolitik dazu verhelfen soll, dem Europäischen Sozialmodell eine wahrnehmbare Substanz zu verleihen. In dieser Lesart stellt die soziale Dimension ein politisches Instrument bzw. eine politische Strategie zur Verwirklichung des normativen sozialen Gesellschaftsmodells dar. Dies impliziert dann aber auch, dass die europäische Sozialpolitik im Sinne des normativen Leitbildes des ESM wirkt (bzw. wirken sollte) oder umgekehrt ausgedrückt, die Werte des Europäischen Sozialmodells die europäische Sozialpolitik leiten (müssten).274 Einige Autoren hingegen betonen, dass eine Identifikation der Bürger mit der EU maßgeblich vom wirtschaftlichen Erfolg abhängt und weniger an bestimmte Werte gebunden sei. Nissen (2004), aber auch Risse (2002) betonen, dass eine Identifikation mit der EU maßgeblich utlitaristischer Natur sei. Dies steht jedoch nicht unbedingt im Widerspruch zu der Behauptung, dass sich auf lange Sicht eine politische europäische Identität nur vor dem Hintergrund eines positiven wertebasierten Leitbildes etabliert. Letztlich erfüllt eine rein utilitaristische Identität nämlich nicht die Kriterien einer demokratischen Legitimation, da sie keine Belastbarkeit in Krisenzeiten aufweist. Vielmehr wird hier erneut deutlich, dass eine europäische Identität als ein Projekt zu begreifen ist, welches bisher noch nicht ausreichend realisiert werden konnte. Abschließend kann festgehalten werden, dass in der Debatte um ein ‚Soziales Europa’ die oben umrissenen ‚Problemidentifikationen’ als etwas gemeinsam Europäisches betrachtet werden, zum einen, da ein ‚Europäisches Sozialmodell’ existiere, welches sich – trotz aller Vielfalt – durch gewisse Gemeinsamkeiten in den historisch gewachsenen institutionellen Arrangements der Nationalstaaten auszeichne und schützens- bzw. erhaltenswert sei. Zum anderen, da die Menschen auch weiterhin in sozialen Gesellschaften leben wollen, soziale Werte und Einstellungen in den nationalen politischen Kulturen tief verwurzelt sind und folglich die Wahrnehmung des europäischen Projektes durch die Bürger prägt. Daraus wird geschlussfolgert, dass nur ein ‚soziales Europa’ in der Lage ist/sein wird, die Identifikation der Menschen mit dem europäischen Projekt zu gewinnen. Vor dem Hintergrund dieser hoch kontrovers geführten Debatte soll an dieser Stelle eine Betrachtung des Skripts klären, welche Art von Sozialpolitik auf europäischer Ebene überhaupt angedacht ist und welche Werte und Prinzipien dieser zugrunde gelegt werden? Kann ein soziales Selbstverständnis bzw. normatives Leitbild auf europäischer Ebene aus den Verträgen abgeleitet werden und wenn ja, was für ein Gesellschaftsmodell kommt darin zum Ausdruck? Zu diesem Zweck wird eine Textanalyse der Verträge von Rom (1957) bis Lissabon (2007) vorgenommen und in deren Rahmen die in den Verträgen zum Ausdruck kommenden sozialen Werte, Ziele, Leitbilder und Politiken herausgearbeitet werden. Dort wo es für ein besseres Verständnis bzw. einer angemessenen Einordnung der Vertragsbestimmungen notwendig erscheint, wird aktuelle Sekundärliteratur in die Analyse miteinbezogen. Die hermeneutische Vorgehensweise bietet sich an, da auf diese Weise eine höhere Flexibilität und Sensibilität bei der Analyse gewährleistet werden kann. Dies erscheint für eine nachvollziehbare Rekonstruktion des normativen Selbstverständnisses aus rechtlichen Verträgen mit zum Teil sehr allgemeinen und dann wieder sehr detaillierten Bestimmungen 274
Thalacker (2006:67)
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unerlässlich. Da mit rein quantitativen Methoden nicht ein gleiches Maß an Informationstiefe und inhaltlicher Transferleistung gewährleistet werden kann. Die Berücksichtigung aller Verträge von 1957 bis 2007 erscheint vor dem Hintergrund der kontinuierlichen, auf einander aufbauenden Vertragsentwicklung sinnvoll und vermag letztlich die zunehmende Bedeutung und Ausdifferenzierung der sozialen Dimension im europäischen Integrationsprozess adäquat zu veranschaulichen.275 5.2 Die soziale Dimension in den Verträgen von Rom (1957) bis Lissabon (2007) Die Rekonstruktion der sozialen Dimension europäischer Identität aus den Verträgen heraus beruht auf der Vorstellung, dass Institutionen „Sinngebilde mit regulierender und orientierender Funktion“276 sind und damit Leitideen vermitteln, die als „Gesamtheit der normativen Ideen eines kollektiven Akteurs in Bezug auf die Ziele und Mittel der Integration“ verstanden werden können (vgl. Kapitel 4).277 Der Terminus des ‚Europäischen Sozialmodells’ wird vor diesem Hintergrund für diese Arbeit als ein politisch definiertes Leitbild des „europäischen Integrationsprojektes“ auf supranationaler Ebene definiert. Eine ganz ähnliche Definition gibt Stephan Aust, wenn er den Terminus des Europäischen Sozialmodells als ein „politisch-ideologisches Konstrukt [beschreibt], das europäische Gemeinsamkeiten definiert und propagiert, die erst noch zu realisieren sind“.278 Zwar findet in den primärrechtlichen Verträgen der Begriff des Europäischen Sozialmodells keine Erwähnung, dennoch kann anhand der grundlegenden Integrationsziele und sozialpolitischen Bestimmungen eine prinzipielle inhaltliche Bestimmung dessen, was von den Mitgliedsstaaten bisher an rechtlich-verbindlichen Zielorientierungen zur Verwirklichung des „Europäischen Sozialmodells“ vereinbart wurde, abgelesen werden. Diese in den Verträgen verankerten Ziele und Werte können folglich als die normative Grundlage für die weitere Ausgestaltung des europäischen Integrationsprojektes betrachtet werden und beschreiben somit das konstitutionalisierte europäische Selbstverständnis, welches als normativer Referenzpunkt für die Herausbildung einer europäischen politischen Bürgeridentität zu betrachten ist. Anhand von vier Entwicklungsphasen sollen die Entwicklungslinien der vertragsinhaltlichen Ausgestaltung der sozialen Dimension auf europäischer Ebene nachgezeichnet werden. Die erste Phase umfasst die Römischen Verträge von 1957 und deren inhaltliche Ausgestaltung, die zweite Phase die Einheitliche Europäische Akte von 1986 bis Maastricht 1992, die dritte Phase den Vertrag von Maastricht 1992 und die vierte Phase die Verträge von Amsterdam (1997) und Nizza (2000). Im Anschluss daran wird ein Vergleich mit dem gescheiterten Entwurf über eine Verfassung für Europa (VVE) erfolgen, der eine qualitative Weiterentwicklung der sozialen Dimension europäischer Identität beinhaltet hätte. Abschließend soll noch ein Blick auf die Einigungen bezüglich eines neuen EU-Vertrages geworfen werden, um zu sehen, welche Tendenz der neue EU-Vertrag hinsichtlich der sozialen Dimension aufzuweisen hat.
275
Über die Vor- und Nachteile qualitativer Methoden vgl. Brüsemeister (2008) Göhler (1994:22) 277 Aust et. al (2002:285), ebenso Wendler (2005) 278 Aust et al. (2002:273) 276
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5.2.1 EWG-Vertrag 1957 Das europäische Integrationsprojekt beinhaltete primär die Deregulierung und Liberalisierung der Wirtschaft mit dem Ziel der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Marktes, so dass in den ersten Verträgen (Pariser Vertrag 1952; Römische Verträge 1957 und Fusionsvertrag 1967) kein nennenswerter sozialpolitischer Auftrag an die Gemeinschaften vorgesehen war. Dennoch wurde in der Präambel des EWG-Vertrages unter den Gemeinschaftszielen bereits neben dem wirtschaftlichen Fortschritt ebenso der soziale Forschritt zum Ziel erklärt, sowie eine „stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen ihrer Völker“ anvisiert.279 Neben der angestrebten Errichtung eines gemeinsamen Marktes und einer Zollunion legte der EWG-Vertrag auch die Grundlage für die weitere Entwicklung gemeinsamer Politiken. Gemäß Artikel 235 konnten neben den ausdrücklich genannten Politiken (Agrarpolitik Art. 38-47; Handelspolitik Art. 110-116; Verkehrspolitik Art. 74-84) weitere entwickelt werden, soweit diese für das Ziel der Schaffung eines gemeinsamen Marktes dienlich sein würden.280 Unter Rückgriff auf diesen Artikel haben sich ab dem Gipfel von Paris 1972 die Politiken in den Bereichen Sozial-, Regional-, Umweltund Industriepolitik entwickelt. Flankierend zur weiteren Ausgestaltung dieser Gemeinschaftspolitiken wurde die Schaffung eines europäischen Sozialfonds eingerichtet, mit dem Ziel der Verbesserung und Hebung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen.281 Zudem umfasst der Artikel 118 des EWG-Vertrags die Förderung einer engen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten in sozialen Fragen, „insbesondere auf dem Gebiet
der Beschäftigung des Arbeitsrechts und der Arbeitsbedingungen der beruflichen Ausbildung und Fortbildung der sozialen Sicherheit der Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten des Gesundheitsschutzes bei der Arbeit des Koalitionsrechts und der Kollektivverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“.
Darüber hinaus wird bereits die gleiche Bezahlung von Männern und Frauen für gleiche Arbeit festgeschrieben (Art. 119 EWG). Der EWG-Vertrag leitete die sozialen und beschäftigungspolitischen Ziele aus den Zielen der Marktöffnung ab, so dass der Sozialpolitik kein eigener Stellenwert im Sinne eines europäischen Politikfeldes zuerkannt wurde. Mit den Römischen Verträgen wurde letztlich ein Scheitern föderaler Europapläne beschlossen und die Methode der sektoralen Integration fortgesetzt mit dem primären Ziel der Schaffung eines Gemeinsamen Marktes. Im Zuge der EWG-Verhandlungen schälte sich ein Integrationsmodell heraus (sektorale 279
Präambel des EWG-Vertrages Rom 1957 Art. 235 EWG-Vertrag: „Erscheint ein Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich, um im Rahmen des gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen, und sind in diesem Vertrag die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen, so erlässt der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments die geeigneten Vorschriften.“ 281 Der Europäische Sozialfonds ist in der EU-Sozialpolitik bis heute das einzig distributive Instrument, der aber kein umfassendes Sozialprogramm darstellt, sondern u. a. als Instrument zur Qualifizierung von Arbeitslosen und von durch Arbeitslosigkeit bedrohte Menschen darstellt. Siehe auch weiter unten. 280
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ökonomische Integration; kein Interventionismus und verteilungspolitische Neutralität)282, in dem die Sozialpolitik einen lediglich von der Marktschaffung abgeleiteten Stellenwert besaß283. Diese Weichenstellung korrespondierte maßgeblich mit den Kräfteverhältnissen der Regierungskonferenz und insbesondere die deutsche Regierung konnte sich mit ihrer Vorstellung einer „sozialpolitischen Enthaltsamkeit“ (Knelangen) der EWG durchsetzen, was angesichts geringer Arbeitslosigkeit und ökonomischer Prosperität plausibel vertreten werden konnte.284 Erst in den 1970er Jahren bekam die soziale Dimension einen Auftrieb, als die Kommission aufgefordert wurde (Pariser Gipfeltreffen 1972) ein sozialpolitisches Aktionsprogramm auszuarbeiten. Ein erster Schwerpunkt dieses Aktionsprogramms lag in der Gleichberechtigung der Geschlechter im Arbeitsleben, was letztendlich zur Verabschiedung mehrerer Gleichberechtigungsrichtlinien in den folgenden Jahren führte. Darüber hinaus gelang eine Einigung auf Richtlinien zu Massenentlassungen, zur Wahrung von Arbeitnehmeransprüchen bei der Veräußerung von Unternehmen sowie zum Schutz der Arbeitnehmer bei Insolvenz des Arbeitgebers. Das von der Kommission vorgelegte Aktionsprogramm stieß jedoch relativ schnell an seine Grenzen, denn das auf Einstimmigkeit basierende und die nationalstaatliche Autonomie wahrende Abstimmungsverfahren im Rat machte die Verhandlungen höchst schwierig – oft nahm die Einigung auf eine dieser Richtlinien mehrere Jahre in Anspruch. Eine Wendemarke für die europäische Sozialpolitik stellte die Einheitliche Europäische Akte (EEA) von 1986 mit dem darin beschlossenen Binnenmarktprogramm dar. Obgleich vertraglich lediglich nur zwei sozialpolitische Artikel betroffen waren, schuf die Akte mit ihrem neuen Art. 118a zum EWGV eine Gemeinschaftskompetenz mit qualifizierter Mehrheitsentscheidung für die Verbesserung der Arbeitsumwelt zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz. Begründet wurde diese Kompetenzübertragung mit dem Binnenmarktziel der Beseitigung von Handelshemmnissen (wodurch dann auch die britische Regierung überzeugt werden konnte, der Akte zuzustimmen). Darüber hinaus erhielt die Kommission den Auftrag, den Dialog der Sozialpartner auf europäischer Ebene zu entwickeln, der auf Wunsch auch zu vertraglichen Beziehungen führen könne (Artikel 118b des Vertrags zur Gründung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)). Die soziale Dimension hatte sich also bis Mitte der 1980er Jahre ausschließlich über eine Marktlogik bzw. Marktrechtfertigung integriert, so dass die Adressaten sozialpolitischer Regelungen ausschließlich Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen waren. Ein ‚Soziales Europa’ als ein gemeinsames politisches Projekt gab es bis dato nicht. 5.2.2 Die Einheitliche Europäische Akte und ihre Folgewirkung Die Einheitliche Europäische Akte285 ergänzte den EWG-Vertrag lediglich durch zwei neue Artikel286, die zunächst inhaltlich keine wesentliche Neuerung darstellten, jedoch durch die 282
Platzer (1999:179ff.) Knelangen (2005:23) 284 Ebd. 285 Die EEA unterzeichneten Belgien, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Spanien, Portugal, Großbritannien und trat am 1. Juli 1987 in Kraft. 286 Dabei handelt es sich um die Artikel 118a und 118b, die wie folgt lauten: „Der EWG-Vertrag wird durch folgende Bestimmungen ergänzt: Artikel 118a: Die Mitgliedsstaaten bemühen sich, die Verbesserungen insbeson283
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Einführung des Abstimmungsverfahrens nach qualifizierter Mehrheit (Art. 100a)287 eine Intensivierung der europäischen Gesetzgebungstätigkeit in den Bereichen Verbesserung der Arbeitsumwelt und Sicherheits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz auslöste. Dies wurde insbesondere durch die rechtlich ungenaue Formulierung des Begriffs der „Arbeitsumwelt“ im Artikel 118a möglich. Diese stammt ursprünglich aus dem Dänischen und ist in den meisten arbeitsrechtlichen Gesetzgebungen der Mitgliedsstaaten unbekannt, so dass neben einer engen auch eine weitere Auslegung im Sinne aller auf den Arbeitsplatz einwirkenden Einflüsse wie Arbeitsorganisation und Arbeitszeit möglich war.288 Damit wurde erstmals eine eigenständige Kompetenzgrundlage für die Verabschiedung von Rechtsakten im sozialpolitischen Bereich gelegt und somit auch ein begrenzter Souveränitätstransfer vollzogen. Sozialpolitik bekam damit den Status eines europäischen Politikfeldes mit einer eigenständigen institutionellen Grundlage.289 Der Artikel 118b legte erstmals den sozialen Dialog auf eine primärrechtliche Grundlage und wies der Kommission eine fördernde Funktion dabei zu. Insofern verrechtlichte der Artikel 118b die vorherige Initiative der Kommission im Rahmen der „Val-Duchesse-Gespräche“ zur Einbindung der Sozialpartner auf europäischer Ebene.290 Als wichtiges Moment in der Vorbereitung als auch in der Folge der Einheitlichen Europäischen Akte war das Aufkommen des Konzeptes eines l’espace social européen, welches von der französischen Regierung 1981 in einem Memorandum entwickelt wurde. In diesem wurde die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der europäischen Beschäftigungs- und Sozialpolitik betont, indem sowohl auf Gemeinschaftsebene als auch zwischen den Mitgliedsstaaten verstärkte Maßnahmen gefordert wurden. Auf europäischer Ebene sollte vor allem die Beschäftigungspolitik gefördert und eine Intensivierung des sozialen Dialogs angestrebt und auf nationaler Ebene eine vermehrte Kooperation im Bereich des sozialen Schutzes anvisiert werden.291 Jacques Delors wollte vor dem Hintergrund dieses Vorschlages das Ziel der Schaffung eines ‚Europäischen Sozialraums’ in die EEA aufnehmen und warb für die Festsetzung von sozialen Mindeststandards. Diese sollten zum einen die Arbeitnehmerinteressen stärken und zum anderen Wettbewerbsnachteile von Mitgliedsdere der Arbeitsumwelt zu fördern, um die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer zu schützen, und setzen sich die Harmonisierung der in diesem Bereich bestehenden Bedingungen bei gleichzeitigem Fortschritt zum Ziel. Als Beitrag zur Verwirklichung des Ziels gemäß Absatz 1 erlässt der Rat auf Vorschlag der Kommission in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses unter Berücksichtigung der in den einzelnen Mitgliedsstaaten bestehenden Bedingungen und technischen Regelungen mit qualifizierter Mehrheit durch Richtlinien Mindestvorschriften, die schrittweise anzuwenden sind. Diese Richtlinien sollen keine verwaltungsmäßigen, finanziellen oder rechtlichen Auflagen vorschreiben, die der Gründung und Entwicklung von Klein- und Mittelbetrieben entgegenstehen. Die aufgrund dieses Artikels erlassenen Bestimmungen hindern die einzelnen Mitgliedsstaaten nicht daran, Maßnahmen zum verstärkten Schutz der Arbeitsbedingungen beizubehalten oder zu treffen, die mit diesem Vertrag vereinbar sind. Artikel 118b: Die Kommission bemüht sich darum, den Dialog zwischen den Sozialpartnern auf europäischer Ebene zu entwickeln, der, wenn diese es für wünschenswert halten, zu vertraglichen Bestimmungen führen kann.“ EEA Artikel 21 287 In der EEA wurde ein neuer Artikel (Art. 100a) eingefügt, der die Annahme von Gesetzen zur Umsetzung des Binnenmarktes (mit einigen Ausnahmen wie z. B. Steuern, Freizügigkeit, Renten und Interessen der Arbeitnehmer) durch qualifizierte Mehrheitsentscheidungen ermöglicht. Für die Sozialpolitik ist dieser insofern relevant, da so auch arbeitsrechtliche Gesetze, die sich auf den Binnenmarkt beziehen, nach diesem Verfahren erlassen werden können. Die Bereiche der Sozialversicherung und des individuellen als auch kollektiven Arbeitsrechts bleiben von der Mehrheitsregelung ausgeschlossen. Vgl. Wendler (2005:66), so auch Schulte (1990:53) 288 Wendler (2005:63ff.) 289 Wendler (2005), Hantrais (2000) 290 Ebd., vgl. auch Balze (1994:188) 291 Wendler (2005:69ff), Vandamme (1985:10)
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staaten mit einem hohen sozialen Schutzniveau abfedern. Die Begründung für die Ausgestaltung der sozialen Dimension auf europäischer Ebene verband er nach wie vor mit den in den Verträgen bereits verankerten Zielen der Gemeinschaft.292 Jedoch fand der Vorschlag Delors’ bei den Verhandlungen zur EEA keine Mehrheit im Rat. Im Zuge der Diskussion um eine soziale Dimension als sozialpolitische Flankierung des Binnenmarktprojektes wurde auf dem Gipfeltreffen in Rhodos 1988 von den Staats- und Regierungschef betont, dass „[d]ie Verwirklichung des Binnenmarktes […] nicht als Selbstzweck verstanden werden [darf].“ 293 Im Anschluss daran arbeitete der Wirtschafts- und Sozialausschuss (WSA) die „Europäische Charta der sozialen Grundrechte“ aus, die sich ursprünglich auf die sozialen Grundrechte aller Unionsbürger beziehen sollte. Bei der Verabschiedung der Sozialcharta durch die Staats- und Regierungschefs (mit Ausnahme von Großbritannien)294 in Straßburg 1989 wurde diese jedoch derart abgeschwächt, dass der Bezugspunkt des Rechts nicht mehr die Unionsbürger waren, sondern nur noch die Arbeitnehmer. So wurde sie dann auch in Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (kurz: Sozialcharta) umbenannt und „somit die Wirksamkeit der Charta […] auf Fragen des Arbeitsmarktes und der Arbeitsbeziehungen“295 begrenzt. Die Sozialcharta stellt keine rechtlich verbindliche Erklärung dar, kann jedoch als „politisches Instrument zur Gewährleistung der Einhaltung bestimmter sozialer Rechte in den Unterzeichnerstaaten“296 betrachtet werden. Ziel war es demnach, den programmatischen Wert der sozialen Grundrechte für die Europäische Gemeinschaft herauszustellen. So wird in der Präambel der Sozialcharta erklärt, „dass den sozialen Fragen im Zuge der Schaffung des europäischen Binnenmarktes die gleiche Bedeutung wie den wirtschaftlichen Fragen beizumessen ist und dass sie daher in ausgewogener Weise weiterzuentwickeln sind.“297 Hiermit wurde der sozialen Dimension erstmals ein eigener, gleichrangiger Stellenwert gegenüber den wirtschaftlichen Fragen eingeräumt, jedoch war dies vorwiegend symbolischer oder programmatischer Art, da die Sozialcharta keine Rechtsverbindlichkeit erlangte und die politische Brisanz, die eine Festlegung auf die sozialen Grundrechte hätte entfalten können, dadurch abgeschwächt wurde, dass die Rolle der Mitgliedsstaaten bei der Gewährleistung dieser sozialen Grundrechte von Arbeitnehmern betont wird. Zudem wurde jedwede weitere Kompetenzausweitung auf Gemeinschaftsebene über die Grundrechte ausgeschlossen. Eher muss die Sozialcharta dahingehend interpretiert werden, dass sie als symbolischer Ausdruck einer Berücksichtigung der sozialen Dimension im Rahmen der Einheitlichen Europäischen Akte fungierte, die Zuständigkeit zur Gewährleistung aber nach wie vor bei den Nationalstaaten verbleibt. Artikel 27 der Sozialcharta lautet demnach: „Für die Gewährleistung der sozialen Grundrechte dieser Charta und die Durchführung der für den reibungslosen Ablauf des Binnenmarktgeschehens notwendigen Sozialmaßnahmen im Rahmen einer Strategie für den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt sind die Mitglieds-
292
Vgl. Europäische Commission (1985) http://europa.eu./scadplus/leg/de/cha/c10107.htm (29.05.2007) 294 Großbritannien unterzeichnete die Sozialcharta 1998 nachdem Tony Blair 1997 an die Regierungsspitze gewählt wurde. 295 Wendler (2005:70) 296 http://www2.fh-fulda.de/CuRs/normenarchiv/internationalrecht/arbeitnehmersozialegrundrechte.htm (09.04.2007), vgl. auch Wendler (2005), Hantrais (1995) 297 Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer, Einleitung, zweiter Absatz 293
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staaten entsprechend den einzelstaatlichen Gepflogenheiten, insbesondere von Rechtsvorschriften und Tarifverträgen zuständig.“298
Für die Gewährleistung der sozialen Grundrechte sind somit die Mitgliedsstaaten zuständig, wobei zugleich die Kommission aufgefordert wird (Art. 28) dem Rat Rechtsakte die in den europäischen Kompetenzbereich fallen, auszuarbeiten und einen jährlichen Bericht über die Umsetzung der Sozialcharta zu verfassen. Zudem wird in der Einleitung als oberste Priorität die Schaffung von Arbeitsplätzen genannt, wobei „die Verwirklichung des Binnenmarktes […] das wirksamste Mittel zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Gewährleistung eines Höchstmaßes an Wohlstand in der Gemeinschaft [ist]. Bei der Verwirklichung des Binnenmarktes ist der Förderung und Errichtung neuer Arbeitsplätze erste Priorität einzuräumen. Die Gemeinschaft hat sich den Herausforderungen der Zukunft hinsichtlich der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit insbesondere unter Berücksichtigung der regionalen Ungleichgewichte zu stellen.“299
Insgesamt umfasst die Sozialcharta zwölf Grundsätze, die das europäische Arbeitsrechtsmodell und die Stellung der Arbeit in den europäischen Gesellschaften präzisieren. Diese umfassen im Wesentlichen: 1. 2.
das Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft; das Recht auf freie Wahl und Ausübung eines Berufes nach den jeweils geltenden Vorschriften für den Beruf; 3. das Recht auf ein gerechtes Arbeitsentgeld, welches mindestens einen angemessenen Lebensstandard erlaubt; 4. einen Anspruch auf einen angemessenen sozialen Schutz gemäß den Gepflogenheiten der einzelnen Länder. Arbeitslose, die nicht wieder in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden konnten und nicht über eigene Unterhaltsmittel verfügen, müssen ausreichende Leistungen empfangen und beziehen können, die der persönlichen Lage angemessen sind; 5. das Recht auf Koalitionsfreiheit und Tarifverhandlungen (Streitkräfte, Polizei und öffentlicher Dienst je nach einzelstaatlichen Bestimmungen davon ausgeschlossen); 6. den dauerhaften Zugang zur Berufsbildung solange ein Arbeitnehmer erwerbstätig ist; 7. die Gewährleistung der Gleichbehandlung von Männern und Frauen und die Verbesserung der Chancengleichheit. Zudem wird betont, dass „auch […] die Maßnahmen auszubauen [sind], die es Männern und Frauen ermöglichen, ihre beruflichen und familiären Pflichten besser miteinander zu verbinden“ (Art. 16); 8. die Weiterentwicklung der Unterrichtung, Anhörung und Mitwirkung der Arbeitnehmer „in geeigneter Weise“ und „unter Berücksichtigung der in den verschiedenen Mitgliedsstaaten herrschenden Gepflogenheiten“ (Art. 17); 9. „zufrieden stellender“ Gesundheitsschutz und Sicherheit in der Arbeitsumwelt (Art. 19); 10. Kinder und Jugendschutz (kein Eintritt ins Arbeitsleben vor dem Ende der Schulpflicht, kein normales Arbeitsverhältnis unter 15 Jahren; Möglichkeit einer beruflichen Grundausbildung gewährleisten etc.); 298 299
Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer, Titel II, Art. 27 Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer, Einleitung, vierter Absatz.
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11. entsprechend den Gegebenheiten der einzelnen Ländern müssen Arbeitnehmern im Ruhestand ausreichende Mittel für einen angemessenen Lebensstandard zur Verfügung gestellt werden und jeder „der das Rentenalter erreicht hat, aber keinen Rentenanspruch besitzt oder über keine sonstigen ausreichenden Unterhaltsmittel verfügt, ausreichende Zuwendungen, Sozialhilfeleistungen und Sachleistungen bei Krankheit erhalten können, die seinen spezifischen Bedürfnissen angemessen sind“ (Art. 25); 12. Anspruch von Behinderten über ergänzende Maßnahmen, die ihre berufliche und soziale Eingliederung befördern (berufliche Bildung, Ergonomie, Zugänglichkeit, Mobilität, Verkehrsmittel und Wohnung je nach Bedarf umfassend). Nach der Verabschiedung der Sozialcharta durch die Mitgliedsstaaten (ohne Großbritannien) ist die Kommission ihrer Aufforderung der Erstellung eines Aktionsprogramms zur Anwendung der Gemeinschaftscharta nachgekommen und legte daraufhin ein umfassendes Programm vor (mit 47 Maßnahmen, wovon 23 verbindliche Rechtsakte angestrebt wurden).300 Jedoch konnten aufgrund der blockierenden Haltung der britischen Regierung nur einige Rechtsakte im Bereich des Arbeitsschutzes umgesetzt werden, da für diese nur eine qualifizierte Mehrheit nötig war.301 Die Sozialcharta und das daran angeschlossene sozialpolitische Aktionsprogramm waren somit die programmatische und inhaltliche Grundlage der (Weiter-) Entwicklung der sozialen Dimension im europäischen Integrationsprozess. Die Bewertung der Sozialcharta fällt jedoch ambivalent aus: Einerseits stellt die Verabschiedung der Sozialcharta eine inhaltliche Wendemarke dar, da die soziale Dimension im Integrationsprozess erstmals als gleichrangig – zumindest symbolisch – zu den wirtschaftlichen Zielen gesetzt wurde. Zudem weist die Betonung sozialer Grundrechte eine klare Aussage über die Werteorientierung der Gemeinschaft auf. Andererseits kann an der Sozialcharta auch abgelesen werden, wie weit die Interessen der Mitgliedsstaaten auseinander gehen und dass eine rechtsverbindliche Verankerung sozialer Grundrechte nicht erreicht wurde, sondern lediglich eine unverbindliche Grundsatzerklärung, beschränkt auf den Kreis der Arbeitnehmer, erzielt werden konnte. Diese Abschwächung spiegelt die politische Brisanz des Inhalts wieder und ist somit ein Ausdruck der unterschiedlichen nationalen Interessen und verankerten Wertevorstellungen in den Unterzeichnerstaaten. Die Verabschiedung der Sozialcharta kann somit einerseits als ein wichtiges programmatisches Dokument zur Betonung des Wertes sozialer Grundrechte gesehen werden, andererseits ist ihr nicht verbindlicher Charakter Ausdruck der divergierenden Haltungen in diesem Bereich und nicht geeignet, eine Rechtsgrundlage für das Einklagen der sozialen Grundrechte von Seiten der Arbeitnehmer herzustellen. Der symbolisch-programmatische Charakter ist insofern wesentlich höher einzustufen als die reale Wirkungsmacht. Der geringe Erfolg bei der anschließenden Umsetzung der Sozialcharta im Rahmen des Aktionsprogramms zeigt erneut die Schwierigkeit einer Einigung in sozialen Fragen auf. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich im Zuge der EEA eine Aufwertung der „sozialen Dimension“ vollzog und der Beginn der sozialen GrundrechteEntwicklung auf europäischer Ebene zu beobachten ist. Europäische Sozialpolitik beginnt mit der EEA zweigleisig zu werden: Neben regulative Sozialpolitik tritt nun noch der Versuch, über soziale Grundrechte (von Arbeitnehmern) die ‚soziale Dimension’ im Integrati300 301
Vgl. Hantrais (1995:11), Geyer (2000:46ff.), Wendler (2005) Siehe die Übersicht bei Wendler (2005:72)
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onsprozess auszuweiten. Im Bereich regulativer Sozialpolitik stellen die zwei neu geschaffenen Artikel (100a und 118a) sowie die Einführung des sozialen Dialogs eine entscheidende Aufwertung dar, da hiermit erstmals eine eigene sozialpolitische Kompetenzgrundlage geschaffen wurde und europäische Sozialpolitik den Status eines eigenen Politikfeldes zuerkannt bekam. Die Sozialcharta steht am Anfang der Entwicklung der Grundrechte Entwicklung auf europäischer Ebene, die zuletzt in der rechstverbindlichen Verabschiedung der Europäischen Grundrechtscharta mündete. Zu Beginn der Entwicklung stellte die Sozialcharta primär einen symbolischen Akt für die Gleichrangigkeit von sozialen und wirtschaftlichen Zielen dar, da sie faktisch keine Rechtsverbindlichkeit besaß und zudem auf ArbeitnehmerInnen beschränkt blieb. Eine inhaltliche Einordnung des sozialpolitischen Selbstverständnisses der EU im Zuge der EEA unterliegt der Schwierigkeit, dass es sich um kein zusammenhängendes kohärentes sozialpolitisches Konzept handelt, sondern lediglich um hochgradig segmentierte sozialpolitische Maßnahmen. Dennoch kann vorsichtig behauptet werden, dass sich bereits eine gewisse programmatische Grundorientierung am Konzept des „aktivierenden Wohlfahrtsstaates“ erkennen lässt, da der Ausbau und die Schaffung von Jobs als primäres Ziel der Sozialpolitik verstanden wird, Berufs- und Weiterbildung einen hohen Stellenwert zugewiesen bekommen und soziale Sicherung gewährleistet werden muss.302. Mit der Entwicklung des sozialen Dialogs orientiert sich die EU zudem an einem korporatistischen Sozialstaatsmodell. 5.2.3 Der Vertrag von Maastricht 1992 Mit dem Vertrag von Maastricht (1992) und dem angehängten Sozialprotokoll findet eine Konkretisierung und Ausweitung der sozialen Dimension statt. Das an den Vertrag angehängte Abkommen über Sozialpolitik präzisiert die sozialpolitische Zielsetzung der Union (ohne Großbritannien) und ermöglicht erstmals, das Europäische Sozialmodell – im Sinne eines normativen Leitbildes – im Selbstverständnis der Union zu definieren. Dieser Forschritt hinsichtlich der inhaltlichen sozialpolitischen Positionierung der EU darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die konkrete Umsetzung der angestrebten Ziele und Maßnahmen des Sozialabkommens aufgrund von immer wieder neu auftretenden Interessendivergenzen zwischen den Mitgliedsstaaten hinterherhinkt, so dass eine sich bereits damals abzeichnende Asymmetrie zwischen normativen Politikzielen und der tatsächlichen Politikimplementation im sozialpolitischen Bereich bei allen gemachten Fortschritten bis heute andauert. In der Präambel des Maastrichter Vertrages werden zunächst die demokratischen Werte und Prinzipien, auf die sich die Europäische Union beruft, genannt: Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit. Zudem wird die Solidarität zwischen den Völkern, die Achtung der unterschiedlichen Kulturen, Tradi302
Art. 10 der Sozialcharta lautet: „Entsprechend den Gegebenheiten der einzelnen Länder hat jeder Arbeitnehmer der Europäischen Gemeinschaft Anspruch auf einen angemessenen sozialen Schutz und muß unabhängig von seiner Stellung und von der Größe des Unternehmens, in dem er arbeitet, Leistungen der sozialen Sicherheit in ausreichender Höhe erhalten, müssen alle, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, weil sie keinen Zugang dazu fanden oder sich nicht wieder eingliedern konnten, und die nicht über Mittel für ihren Unterhalt verfügen, ausreichende Leistungen empfangen und Zuwendungen beziehen können, die ihrer persönlichen Lage angemessen sind.“
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tionen, und Geschichte der Mitgliedsstaaten hervorgehoben. Als entscheidende sozialpolitische Neuerung im Rahmen des Vertrages von Maastricht (1992) ist das dem Vertrag angehängte Abkommen über die Sozialpolitik zu nennen, welches einen „Präzedenzfall politikspezifischer flexibler Integration“303 durch das britische opt-out darstellt. Doch auch im Gemeinschaftsvertrag wird unter den Grundsätzen der Gemeinschaft eine Reihe sozialpolitischer Ziele genannt (Artikel 2 EU-Vertrag) so wie unter den Tätigkeitsbereichen der Gemeinschaft ebenso die Sozialpolitik Erwähnung findet. Die entscheidenden Stellen im Artikel 2 und 3 des EU-Vertrages lauten: „Aufgabe der Gemeinschaft ist es, durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und einer Wirtschafts- und Währungsunion sowie durch die Durchführung der in den Artikeln 3 und 3 a genannten gemeinsamen Politiken oder Maßnahmen eine harmonische und ausgewogene Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, ein beständiges, nichtinflationäres und umweltverträgliches Wachstum, einen hohen Grad an Konvergenz der Wirtschaftsleistungen, ein hohes Beschäftigungsniveau, ein hohes Maß an sozialem Schutz, die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern.“ (Artikel 2) „Die Tätigkeit der Gemeinschaft im Sinne des Artikels 2 umfasst nach Maßgabe dieses Vertrags und der darin vorgesehenen Zeitfolge (…) i) eine Sozialpolitik mit einem Europäischen Sozialfonds; j) die Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts (…) o) einen Beitrag zur Erreichung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus; p) einen Beitrag zu einer qualitativ hochstehenden allgemeinen und beruflichen Bildung sowie zur Entfaltung des Kulturlebens in den Mitgliedstaaten; (…)“304 (Artikel 3)
Im Artikel 2 verpflichtet sich die Union somit auf eine Politik, die den sozialen Zusammenhalt und die Solidarität der Mitgliedstaaten fördert und die Ziele eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz verfolgt. Eine Klärung dessen, was unter einem hohen Maß zu verstehen ist, wird jedoch nicht präzisiert. Zudem werden mit Artikel 8 des EU-Vertrages die Unionsbürgerschaft als komplementär zur nationalen Staatsbürgerschaft aufgenommen und das Ziel einer qualitativ hohen Bildungspolitik formuliert.305 Das an den Vertrag angehängte Sozialabkommen stellt eine qualitative Weiterentwicklung der sozialen Dimension auf europäischer Ebene dar, obgleich die volle rechtsverbindliche Gültigkeit erst mit dessen Einfügung in den Amsterdamer Vertrag 1997 vollzogen wurde. Als gemeinsame Ziele der Unterzeichnerstaaten (ohne Großbritannien) nennt Artikel 1 des Abkommens: „Die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten haben folgende Ziele: die Förderung der Beschäftigung, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, einen angemessenen sozialen Schutz, den sozialen Dialog, die Entwicklung des Arbeitskräftepotentials im Hinblick auf ein 303
Wendler (2005: 76) EU-Vertrag: http://europa.eu.int/eur-lex/de/treaties/dat/EU_treaty.html#0001000001 (30.05.2007) 305 „Artikel 126 (1) Die Gemeinschaft trägt zur Entwicklung einer qualitativ hoch stehenden Bildung dadurch bei, daß sie die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten fördert und die Tätigkeit der Mitgliedstaaten unter strikter Beachtung der Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Lehrinhalte und die Gestaltung des Bildungssystems sowie der Vielfalt ihrer Kulturen und Sprachen erforderlichenfalls unterstützt und ergänzt.“ 304
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dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau und die Bekämpfung von Ausgrenzungen. Zu diesem Zweck führen die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten Maßnahmen durch, die der Vielfalt der einzelstaatlichen Gepflogenheiten, insbesondere in den vertraglichen Beziehungen, sowie der Notwendigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der Gemeinschaft zu erhalten, Rechnung tragen.“ 306
Auf der Grundlage der Ziele ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau, einen angemessenen sozialen Schutzes und die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung innerhalb der EU gewährleisten zu wollen, weist die soziale Dimension der Union eine Orientierung am Leitbild eines ‚aktivierenden Wohlfahrtsstaates’ aus. Insbesondere da Maßnahmen zur Arbeitsmarktaktivierung und Beschäftigung eine zentrale Rolle spielen, die Bildung von Humankapital und die Förderung lebenslangen Lernens einen zentralen Stellenwert einnehmen und das Verständnis von Chancengleichheit als soziale Teilhabemöglichkeit am Arbeitsmarkt vorherrschen307. Nach Artikel 2, Absatz 1 und 2 des Abkommens können in den unten aufgeführten Bereichen Maßnahmen mit qualifizierter Mehrheit und unter Einschluss des Europäischen Parlaments (Verfahren der Zusammenarbeit nach Art. 189c EGV) verabschiedet werden. Hierbei handelt es sich um:
Verbesserung der Arbeitsumwelt zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer, Arbeitsbedingungen, Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer, berufliche Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen, Chancengleichheit von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt und Gleichstellung am Arbeitsplatz.
Mit Einstimmigkeit und nach Anhörung des Parlaments verbleiben folgende Politikbereiche (Art.2, Abs. 3):
306
Soziale Sicherheit und sozialer Schutz, Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsvertrages, Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen, einschließlich der Mitbestimmung, Beschäftigungsbedingungen der Staatsangehörigen dritter Länder, die sich rechtmäßig im Gebiet der Gemeinschaft aufhalten, finanzielle Beiträge zur Förderung der Beschäftigung und zur Schaffung von Arbeitsplätzen.308
Artikel 1 Sozialabkommen 1992, http://europa.eu.int/eurlex/de/treaties/dat/EU_treaty.html#0091000016 (30.05.2007) 307 „Insgesamt gehen damit die "neuen" sozialpolitischen Ziele der Aktivierung und Befähigung nicht nur mit einem partiellen Rückzug des Staates etwa bei der Leistungserbringung einher, sondern auch mit einer Ausweitung staatlicher Steuerungsanforderungen im Sinne der Entwicklung von Formen reflexiver Steuerung und politischen Lernens.“ Dingeldey (2006:6) 308 Sozialabkommen im Rahmen des Vertrages von Maastricht, Vgl. auch Wendler (2005:79), Falkner (1998)
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Eine zusätzliche Errungenschaft im Zuge des Maastrichter Vertrages liegt in der Verwirklichung des sozialen Dialogs auf europäischer Ebene, wobei erstmalig Entscheidungsfindungen durch die EU-Institutionen mit Kollektivverhandlungen zwischen den Interessenverbänden miteinander verbunden wurden. Damit wurden die Sozialpartner an der Mitentscheidung über europäische Gesetzgebungsakte direkt beteiligt309. Zwar weist Wendler (2005) darauf hin, dass die Bilanz aufgrund der enormen Meinungsverschiedenheiten zwischen Arbeitgeber- und Gewerkschaftsseite eher gemischt ausfällt310, dennoch kann festgehalten werden, dass die EU mit der Einbindung des Sozialen Dialogs und der Erprobung seiner Funktionsfähigkeit kooporatistische Sozialstaatselemente verankert und anwendet. In der Zusammenschau wird erneut deutlich, dass sich zwar eine prinzipielle Präzisierung und qualitative Weiterentwicklung der sozialen Dimension konstatieren lässt, sich das sozialpolitische Selbstverständnis der EU jedoch nicht an einem einzelnen Sozialstaatsmodell orientiert, sondern sowohl liberale Elemente (Aktivierungsstrategien, Arbeitsplätze über Wachstum) als auch sozialdemokratische Elemente (Bildung von Humankapital, Chancengleichheit) miteinander verbunden werden. Zudem ist primärer Adressat europäischer Sozialpolitik nach wie vor der europäische Arbeitnehmer. 5.2.4 Verträge von Amsterdam (1997) bis Nizza (2000) Der Amsterdamer Vertrag von 1997 (Änderungsvertrag zum EU-Vertrag 1992) kann als Ausdruck der seit Anfang der 1990er Jahre andauernden Reformdebatte und der institutionell schnell fortschreitenden Gesamtentwicklung der EU gelesen werden. Schließlich wurden innerhalb von 10 Jahren drei Vertragsreformen durchgeführt, wobei auch der Amsterdamer Vertrag lediglich einen Übergangsstatus innehatte. Bezüglich der sozialen Dimension lassen sich mit dem Amsterdamer Vertrag wesentliche Veränderungen konstatieren, die weniger im Sinne der Ausweitung und Vertiefung bestehender Verfahren zu sehen sind, als vielmehr in der vertraglichen inhaltlichen Konkretisierung des europäischen „sozialen“ Selbstverständnisses und in der Einführung eines neuen Ansatzes einer gesetzlich nicht verbindlichen Koordinierung zwischen europäischer Ebene und den Mitgliedsstaaten im Rahmen der Europäischen Beschäftigungsstrategie (EBS). Damit kann der Amsterdamer Vertrag als eine programmatische Konkretisierung sozialpolitischer Ziele gelesen werden und enthält erstmals einen Bezug auf soziale Grundrechte. Zunächst sollen an dieser Stelle die Änderungen zum Vertrag von Maastricht detailliert nachverfolgt werden, wobei recht deutlich wird, wie eine Spezifizierung des Europäischen Selbstverständnisses und damit des inhaltlichen Projektentwurfes vollzogen wurde. 309
Richtlinien, die auf der Grundlage erfolgreicher Sozialpartnerverhandlungen verabschiedet werden konnten waren z. B. eine Richtlinie zum Elternurlaub (RL 96/34/EG), Rahmenabkommen zur Regelung der Teilzeitarbeit (RL 97/81/EG); gescheitert sind hingegen eine Einigung zum Thema Vereinbarkeit flexibler Beschäftigung und sozialer Sicherheit und eine Richtlinie zur Einführung europäischer Betriebsräte. Vgl. Falkner (1998: 129-141), Tabellarische Übersicht bei Wendler (2005:94) 310 Ausschlaggebend sind hierbei die klaren „politischen Meinungsunterschiede zwischen Arbeitgeber- und Gewerkschaftsseite über die Funktion des sozialen Dialogs und den Inhalt der Verhandlungen: während ETUC sich für ein hohes Regulierungsniveau durch rechtlich verbindliche Maßnahmen, eine aktive Beschäftigungsstrategie auf europäischer Ebene und die weitergehende Europäisierung der industriellen Beziehungen einsetzt und damit eine entscheidende Ausweitung des sozialen Dialogs befürwortet, spricht sich die UNICE für eine klare Beschränkung, eine anti-interventionistische und wettbewerbsbezogene Politik und die Begrenzung des sozialen Dialoges auf den Austausch von Meinungen und Positionen aus“ Wendler (2005:94)
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Zum Artikel 1 des EU-Vertrages wird folglich der Bezug zur Europäischen Sozialcharta von 1961 und der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer eingefügt, indem es heißt: „In Bestätigung der Bedeutung, die sie [Vertragsunterzeichner] den sozialen Grundrechten beimessen, wie sie in der am 18. Oktober 1961 in Turin unterzeichneten Europäischen Sozialcharta und in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 festgelegt sind.“311
Die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer wurde oben bereits vorgestellt, der neue Bezug zur Europäischen Sozialcharta von 1961 verdeutlicht nochmals den Stellenwert sozialer Grundwerte für die Union, wobei nicht die Europäische Union als Gesamteinheit der Europäischen Sozialcharta beigetreten ist, jedoch fast alle Mitgliedsstaaten diese unterzeichnet und ratifiziert haben312. Die Europäische Sozialcharta von 1961 garantiert die in der Europäischen Menschrechtskonvention (EMRK) aus dem Jahre 1950 nicht gewährleisteten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Grundrechte und kann damit als das europäische Pendant zum zweiten internationalen UN-Pakt über wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte angesehen werden. Die Europäische Sozialcharta schützt neunzehn grundlegende soziale und wirtschaftliche Grundrechte (z. B. Recht auf Arbeit; Streikrecht; Recht auf Sozialversicherung; Schutz von Müttern und Kindern; Recht auf Schutz der Gesundheit; Recht auf Fürsorge; Recht körperlich, geistig oder seelisch Behinderter auf berufliche Ausbildung sowie auf berufliche und soziale Eingliederung oder Wiedereingliederung). Staaten die die Sozialcharta ratifizieren, verpflichten sich mindestens zehn der neunzehn Artikel der Charta anzuerkennen, wobei mindestens fünf der sieben als fundamental angesehenen Rechte enthalten sein müssen.313 Die Kontrolle über die Einhaltung bzw. Gewährleistung dieser Rechte kann nicht von Einzelpersonen auf internationaler Ebene eingeklagt werden, aber es gibt ein Berichtprüfungsverfahren als Durchsetzungsinstrument, nachdem die Mitgliedsstaaten vom Ministerkomitee des Europarates aufgefordert werden, ihr nationales Recht und ihre Praxis in Übereinstimmung mit der Sozialcharta zu bringen.314 Resümierend kann festgestellt werden, dass die Europäische Union mit ihrem Bezug auf die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer und auf die Europäische Sozialcharta des Europarates 1961/1996 ausdrücklich die Bedeutung der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Grundrechte für die Union hervorhebt und sich somit ihrem normativen Selbstverständnis nach als eine „Soziale Union“ definiert. Allerdings bleibt 311
Vertrag von Amsterdam 1997, Artikel 1 Es gibt einmal die Fassung von 1961 und eine revidierte Fassung von 1961, die den neueren Entwicklungen in den europäischen Gesellschaften Rechnung trägt, so zum Beispiel indem ein Recht auf Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, ein Recht auf unentgeltlichen Primar- und Sekundarunterricht, ein Recht auf Wohnung sowie ein Recht auf Schutz vor Armut und sozialen Ausschluss etc. hinzugefügt wurden. Lediglich Lettland hat die Europäische Sozialcharta nicht unterzeichnet, Tschechien und die Slowakei habe sie unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert. Wenn im Folgenden von der europäischen Sozialcharta gesprochen wird, sind beide Fassungen gemeint. 313 Dies sind 1. Recht auf Arbeit, 2. Koalitionsfreiheit, 3. Recht auf Kollektiverhandlungen, 4. Recht auf soziale Sicherheit, 5. Recht der Familien auf sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz und das Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand 314 Über die Wirkung dieses Durchsetzungsverfahren und mögliche Sanktionsmittel können hier keine Aussagen getroffen werden, dies ist aber für das normative Selbstverständnis der EU in diesem Rahmen auch nicht weiter entscheidend. 312
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sie die institutionelle Implementierung in Form eines individuellen Rechtsanspruches der Unionsbürger schuldig, so dass ein solcher nur nach Maßgabe der nationalstaatlichen Gepflogenheiten erbracht werden kann bzw. wird. Auf das Spannungsverhältnis von normativen Anspruch und institutioneller Implementierung bzw. Rechtsgewährleistung wird weiter unten noch einzugehen sein. Des Weiteren ergänzt der Vertrag von Amsterdam den EUVertrag im Rahmen der Ziele der Union um die Ziele eines hohen Beschäftigungsniveaus (vgl. oben: angehängtes Sozialabkommen zum EU-Vertrag) und die Herbeiführung einer ausgewogenen nachhaltigen Entwicklung sowie die Stärkung und den Schutz der Rechte und Interessen der Unionsbürger.315 Zudem wird angefügt, dass die Grundwerte der Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit sowie die Grundfreiheiten und Menschenrechte von allen Mitgliedsstaaten geteilt würden. Im Artikel 2 des Amsterdamer Vertrages wird die Gleichstellung von Frauen und Männern hinzugefügt und ein hohes Maß an Umweltschutz und die Verbesserung der Umweltqualität hinzugefügt. Der Artikel 2 lautet wie folgt: „Aufgabe der Gemeinschaft ist es , durch die Errichtung eines gemeinsamen Marktes und einer Wirtschafts- und Währungsunion sowie durch die Durchführung der in den Artikeln 3 und 3a genannten gemeinsamen Politiken und Maßnahmen in der ganzen Gemeinschaft eine harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens, ein hohes Beschäftigungsniveau und ein hohes Maß an sozialem Schutz, die Gleichstellung von Männern und Frauen, ein beständiges, nichtinflationäres Wachstum, einen hohen Grad von Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz der Wirtschaftsleitungen, ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität, die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten zu fördern.“
In der Präambel wird zudem unter den Grundsätzen der Gemeinschaft ausgeführt, dass durch einen „umfassenden Zugang zur Bildung und durch ständige Weiterbildung auf einen möglichst hohen Wissensstand“ der Völker hingewirkt werden soll, als auch bereits hier auf die „Förderung der Koordinierung der Beschäftigungspolitik der Mitgliedsstaaten (…) durch die Entwicklung einer koordinierten Beschäftigungsstrategie“ hingewiesen wird.316 Unter dem neuen Titel VI a wird die Methode der europäischen Beschäftigungsstrategie (Koordinierungsverfahren auf Gemeinschaftsebene) mit dem Ziel, ein hohes Beschäftigungsniveau zu erreichen und die Förderung und Qualifizierung, Ausbildung und Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer als auch die Fähigkeit der Arbeitsmärkte auf die Erfordernisse des wirtschaftlichen Wandels reagieren zu können, formuliert. Dabei wird deutlich, dass nicht Arbeitslosigkeit und soziale Probleme, sondern die arbeitsmarktpolitische Bewältigung des wirtschaftlichen Strukturwandels und die Erreichung einer hohen Beschäftigung als gemeinsames Interesse der Mitgliedsstaaten im Vordergrund stehen. Die Gemeinschaftsebene übernimmt dabei eine förderliche oder ergänzende Funktion zur Erreichung dieses Ziels. Obgleich die Union damit nur eine koordinierende Aufgabe übernimmt, wird 315
Artikel B erhält demnach folgende Fassung: „Artikel B: Die Union setzt sich folgende Ziele: Die Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts und eines hohen Beschäftigungsniveaus sowie die Herbeiführung einer ausgewogenen und nachhaltigen Entwicklung, insbesondere durch Schaffung eines Raumes ohne Binnengrenzen, durch Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts und durch Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion, die auf längere Sicht auch eine einheitliche Währung nach Maßgabe dieses Vertrages umfasst (…). Die Stärkung des Schutzes der Rechte und Interessen der Angehörigen ihrer Mitgliedsstaaten durch Einführung der Unionsbürgerschaft“ 316 Vgl. Artikel 1 des Amsterdamer Vertrages (nicht konsolidierte Fassung)
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dennoch durch die primärrechtliche Verankerung deutlich, dass die beschäftigungspolitischen Ziele damit nicht mehr alleinige Aufgabe der Mitgliedsstaaten sind.317 Abbildung 3:
Ziele und Instrumente der europäischen Beschäftigungsstrategie
Ziel/Grundsatz
Instrumente
Instrumente aktivierender Arbeitsmarktpolitik:318 Employability (Beschäftigungsfähigkeit) Fortbildungs- und Vermittlungsmaßnahmen durch die Arbeitsverwal-
tungen und Sozialpartner Anreize für Arbeitslose schaffen eine Arbeit aufzunehmen („ReKommodifizierung“ der EBS) durch Maßnahmen der Qualifizierung und Weiterbildung, z. B. Jugendlichen innerhalb von 6 Monaten und den übrigen innerhalb eines Jahres die Gelegenheit zur Teilnahme an einer Qualifizierungs- oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahme anzubieten Nationale Aktionspläne
Entrepreneurship (Unternehmergeist)
Maßnahmen zur Förderung der Selbstständigkeit Abbau bürokratischer Hürden Steuerliche Anreize Staatliche Programme für die Förderung von Unternehmen Lokale Beschäftigungspakte in Zusammenarbeit mit der Solidarwirtschaft des Dritten Sektors (Nachbarschafts- und Freiwilligenorganisationen).
Adaptability (Anpassungsfähigkeit)
Maßnahmen zur Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen Einführung von „anpassungsfähigeren Formen von Arbeitsverträgen Verstärkte innerbetriebliche Aus- und Fortbildung Investitionen in Humanressourcen
Equal opportunities (Chancengleichheit)
Gleichbehandlung am Arbeitsplatz, „gender mainstreaming“ als Querschnittsaufgabe in allen Tätigkeitsfeldern Bereitstellung von Kindererziehungseinrichtungen Regelungen zum Elternurlaub Maßnahmen zur Förderung der Rückkehr in den Arbeitsmarkt nach einer Berufsunterbrechung Eingliederung behinderter Menschen in das Erwerbsleben
Quelle: Eigene Darstellung auf der Grundlage von Wendler (2005:113f.)
Für die inhaltliche Bestimmung der sozialen Dimension kommt der Beschäftigungspolitik mit dem Vertrag von Amsterdam eine Schlüsselbedeutung zu, wobei „im Mittelpunkt der Beschäftigungsstrategie (…) nicht der Versuch, die Grundausrichtung der europäischen Wirtschafts- und Währungspolitik zu verändern, sondern die von ihr erhofften Wachstumsimpulse beschäftigungsintensiver zu gestalten, in dem vor allem die Qualifizierung, Anpassungsfähigkeit und Chancengleichheit der Einzelnen im Arbeitsmarkt erhöht wird“ 319 steht. 317
Wendler (2005:101ff.) Vgl. neben Wendler auch Aust et al. (2000:24f.), Aust et al. (2002:292), Goetschy (1999:127) 319 Wendler (2005:113), vgl. auch Scharpf (2002a), Schäfer (2002:13), Aust et al. (2000:22ff.) 318
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Nicht eine makro-ökonomische Koordinierung der Wirtschafts- und Haushaltspolitik zur Förderung von Beschäftigung wurde demnach angestrebt, sondern die Einführung einer aktiv koordinierten Arbeitmarktpolitik. Diese sollte folglich als ein Korrektiv der Arbeitsmärkte dienen.320 Die vier Pfeiler der Beschäftigungsstrategie sind nach Wendler (2005) in Abbildung 3 zusammengefasst. Die beiden wesentlichen Neuerungen des Amsterdamer Vertrages sind somit zusammenfassend erstens der neu eingefügte Titel VI a Beschäftigung und zweitens die Einfügung des Maastrichter Sozialabkommens von 1992, welches damit volle Gültigkeit für alle Mitgliedsstaaten erlangt. Die EBS ist zwar eine weiche Koordinierungsmethode, so dass sie kein rechtlich verbindliches Politikinstrument darstellt und folglich keine Sanktionsmöglichkeiten bietet, jedoch kann angenommen werden, dass die vergleichende Bewertung der Mitgliedsstaaten (Ranking) für diese nicht ganz irrelevant ist und davon möglicherweise ein gewisser Druck ausgeht.321 Die Koordinierungsmethode stellt neben der regulativen Sozialpolitik im Bereich des Arbeitsrechts und der Entwicklung sozialer Grundrechte den dritten Ansatz europäischer Sozialpolitik dar. Auf der Tagung des Europäischen Rates in Lissabon (2000) wurde die LuxemburgStrategie in einen umfassenderen Koordinierungsansatz eingebunden. In den Schlussfolgerungen des Rates wurden unter der zentralen Zielsetzung der Wettbewerbsfähigkeit (als dem neuen strategischen Ziel der Gemeinschaft) die bestehenden beschäftigungspolitische Ansätze mit den proklamierten Zielen der Struktur- und Wirtschaftspolitik, zu denen der Übergang in die wissensbasierte Wirtschaft gezählt wird, mit entsprechenden Initiativen im Forschungs-, Ausbildungs- und Unternehmensbereich aufgenommen. Hinzu kommt der sozialpolitische Anspruch, Elemente aktivierender Sozialpolitik mit einer erhöhten Quote qualitativ guter Ausbildung und Beschäftigung einerseits und der Beibehaltung eines hohen Niveaus des sozialen Schutzes andererseits zu verbinden. Die offene Koordinierungsmethode wird daraufhin auf die Bereiche Armut und soziale Exklusion ausgeweitet. In der Schlussfolgerung heißt es dazu u. a.: „Modernisierung des sozialen Schutzes 31. Das europäische Gesellschaftsmodell mit seinen entwickelten Sozialschutzsystemen muß die Umstellung auf die wissensbasierte Wirtschaft unterstützen. Diese Systeme müssen jedoch als Teile eines aktiven Wohlfahrtsstaates angepaßt werden, um sicherzustellen, daß Arbeit sich lohnt und daß die Systeme angesichts einer alternden Bevölkerung auch langfristig aufrechterhalten werden können, um die soziale Integration und die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern und eine gute Gesundheitsfürsorge zu gewährleisten. In dem Bewußtsein, daß diese Aufgabe im Rahmen einer kooperativen Anstrengung besser angegangen werden kann, fordert der Europäische Rat den Rat auf, die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten durch den Austausch von Erfahrungen und bewährten Verfahren mittels verbesserter Informationsnetze, der grundlegenden Instrumente auf diesem Gebiet, zu intensivieren; der hochrangigen Gruppe "Sozialschutz" den Auftrag zu erteilen, diese Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Arbeit des Ausschusses für Wirtschaftspolitik zu unterstützen und, als ihre 320
Ebd. Die Wirksamkeit der weichen Koordinierungsmethoden wird in der wissenschaftlichen Literatur sehr unterschiedlich bewertet. Während einige Autoren dieser durch das Rakning und Peer-Review-Verfahren durchaus Relevanz im Rahmen eines Policy-Learning-Porzesses zuerkennen, zweifeln andere Autoren die Wirksamkeit grundsätzlich an. Vgl. z. B. Wendler (2005), Ostner (2000), Baum-Ceisig/Faber (2005), Heidenreich/Bischoff (2008)
321
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erste Priorität, auf der Grundlage einer Mitteilung der Kommission eine Studie über die Entwicklung des Sozialschutzes in Langzeitperspektive unter besonderer Berücksichtigung der Tragfähigkeit der Altersversorgungssysteme in verschiedenen zeitlichen Abschnitten bis 2020 und, sofern erforderlich, darüber hinaus zu erstellen. Bis Dezember 2000 sollte ein Zwischenbericht vorliegen. Förderung der sozialen Integration 32. Die Zahl der Menschen, die in der Union unterhalb der Armutsgrenze und in sozialer Ausgrenzung leben, kann nicht hingenommen werden. Es muß etwas unternommen werden, um die Beseitigung der Armut entscheidend voranzubringen, indem vom Rat bis Ende des Jahres zu vereinbarende geeignete Ziele gesetzt werden. Die hochrangige Gruppe "Sozialschutz" wird in diese Arbeit einbezogen. Die neue Wissensgesellschaft bietet ein enormes Potential für die Reduzierung der sozialen Ausgrenzung, indem sie die wirtschaftlichen Voraussetzungen für größeren Wohlstand durch mehr Wachstum und Beschäftigung schafft und neue Möglichkeiten der Teilhabe an der Gesellschaft eröffnet. Zugleich birgt sie aber auch die Gefahr, daß der Graben zwischen denen, die Zugang zum neuen Wissen haben, und denen, die davon ausgeschlossen sind, immer breiter wird. Um dies zu vermeiden und das neue Potential zu maximieren, müssen Anstrengungen unternommen werden, um Fertigkeiten zu verbessern, einen breiteren Zugang zum Wissen und zu Lebenschancen zu fördern und die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen: Der beste Schutz gegen soziale Ausgrenzung ist ein Arbeitsplatz. Die Maßnahmen zur Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sollten auf einer Methode der offenen Koordinierung beruhen, bei der nationale Aktionspläne und eine bis Juni 2000 vorzulegende Initiative der Kommission für die Zusammenarbeit auf diesem Gebiet kombiniert werden.“322
In dieser Stellungnahme wird deutlich, dass der wirtschaftspolitische Ansatz der Wettbewerbsfähigkeit mit der EBS und einer Strategie zur Verbesserung der Systeme des sozialen Schutzes zusammengeführt werden soll.323 Die daran anschließende sozialpolitische Agenda von 2000 bis 2006 definierte weit reichende Forderungen in den Bereichen der Beschäftigungs- und Sozialpolitik, jedoch „immer im Zusammenhang mit den Grundprinzipen der Wettbewerbsfähigkeit und des Ziels einer Anpassung der Sozialsysteme in Ablehnung an ein Gesamtkonzept aktivierender, erwerbsbezogener Sozialpolitik.“324 Diese Ausweitung und Weiterentwicklung der nicht-verbindlichen Koordinierungsmethode stellt nach Amsterdam die bis heute wesentliche sozialpolitische Neuerung dar. Durch die Ausweitung der Offenen Methode der Koordinierung (OMK) auf die Bereiche „soziale Exklusion und Armut“ wird der europäischen Ebene ein gewisser Koordinationsspielraum bei der Modernisierung der nationalen Wohlfahrtsstaaten zugewiesen, wobei die europäische Ebene bei der gemeinsamen Festlegung der Leitlinien und der anschließenden Bewertung der Mitgliedsstaaten nicht nur einen Modernisierungsanspruch erhebt, sondern auch eine gewisse inhaltliche Orientierung prägt (aktivierender Wohlfahrtsstaat)325. Eine Bewertung des sozialpolitischen Skripts von Amsterdam muss zwei entscheidende Entwicklungen berücksichtigen. Einerseits ist der Vertrag von Amsterdam als ein wichtiger sozialpolitischer Fortschritt auf europäischer Ebene zu werten, da mit der Aufnahme des Sozialkapitels ins Primärrecht der EU eine rechtliche Verbindlichkeit der bisherigen sozialpolitischen Vereinbarungen für alle bisherigen und zukünftigen Mitgliedsstaaten erreicht, mit der Einführung der EBS zudem eine inhaltliche Konkretisierung des europä322
Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, Lissabon 2000 http://www.europarl.europa.eu/summits/ lis1_de.htm (31.05.2007) Vgl. Wendler (2005:116) 324 Wendler (2005:116), Scharpf (2002a:655), Schäfer (2002:15) 325 Siehe dazu auch weiter unten: Unterkapitel 5.5.2. 323
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ischen sozialpolitischen Selbstverständnisses vorgenommen und erstmals ein primärrechtlicher Bezug auf soziale Gtundrechte verankert wurde. Andererseits stellen die sozialpolitischen Neuerungen keine Ausweitung und Vertiefung bestehender sozialpolitischer Verfahren dar, die eine klare Kompetenzübertragung auf die europäische Ebene nach sich ziehen würden. Vielmehr wurde mit der EBS eine weiche Koordinierungsmethode eingeführt, was letztlich eine Absage einer makro-ökonomischen Koordinierung der Wirtschafts- und Haushaltspolitik zur Förderung von Beschäftigungseffekten gleichkommt und folglich der Weg einer aktiv koordinierten Arbeitsmarktpolitik als Korrektiv der Märkte nicht gewählt wurde. Mit der EBS sollen letztlich die Wachstumsimpulse des Marktes durch Qualifizierung, Anpassungsfähigkeit und Chancengleichheit des Einzelnen am Arbeitsmarkt erhöht werden, Eingriffe in den Markt hingegen werden abgelehnt. Mit der Lissabon-Strategie (2000) wird der wirtschaftspolitische Ansatz der „Wettbewerbsfähigkeit“ zum zentralen Leitkonzept im Selbstverständnis der EU –was sich auch im Bereich der OMK zeigt – so dass ein sozialliberales Konzept aktivierender, erwerbsbezogener Sozialpolitik verfolgt wird. Während der Vertrag von Nizza keine nennenswerten Neuerungen für die soziale Dimension der EU aufweist – es wurden lediglich in einzelnen Bereichen das Prinzip der Mehrheitsentscheidung ausgedehnt (z. B. auf dem Gebiet der Nichtdiskriminierung sowie in einzelnen arbeitsrechtlichen Bereichen)326, so stellt jedoch die feierliche Proklamation der Grundrechtscharta einen wichtigen Forschritt im Bereich der Entwicklung sozialer Grundrechte dar. Ausgangspunkt der Entwicklung sozialer Grundrechte war zunächst einmal der Artikel 6a des Amsterdamer Vertrages, der dem Rat (nach Anhörung des EP) Maßnahmen zur Bekämpfung der grundlegenden Formen von Diskriminierung (aufgrund von Ethnie, Rasse, Religion, Geschlecht, Weltanschauung, Alter, Behinderung, sexueller Orientierung) möglich machte. Daneben gab es die oben bereits dargestellten Verweise auf weitere Grundrechtsbestimmungen, jedoch bis dato kein einheitliches Grundrechtsdokument der EU. Mit der feierlichen Proklamation der Grundrechtscharta auf dem Gipfeltreffen in Nizza 2000 wurden die in den Verträgen bereits festgelegten Bindungen an die Achtung der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und den Grundfreiheiten mit den für die EU relevanten Grundrechtsdokumenten (Europäische Sozialcharta und Gemeinschaftscharta) zusammengefasst und konkretisiert, jedoch nicht in den primärrechtlichen Vertrag von Nizza aufgenommen. Dies wurde erst im Rahmen des Entwurfs über eine Europäische Verfassung (VVE) vollzogen. Somit hat die Proklamation der Grundrechtscharta in Nizza keine rechtliche Verbindlichkeit erlangt. Allgemein untergliedert sich die Grundrechtscharta in sechs Teile: 1. Menschenwürde, 2. Allgemeine Grundfreiheiten, 3. Gleichheitsrechte, 4. soziale Schutzrechte und Schutzbestimmungen, 5. politische Rechte und 6. justizielle Schutzrechte.327 Mit Nizza (2000) gewinnt demnach die „zweite Säule“ europäischer sozi326
Vgl. Treib (2004:10) Vgl. Wendler (2005:128) Unter 1. fallen das Recht auf Leben, Verbot von Folter und Todesstrafe und des reproduktiven Klonens (Artikel II-3 VVE), unter 2. Allgemeine Grundfreiheiten wie Schutz der Privatsphäre sowie Gedanken-, Gewissens-, Religions-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, das Asylrecht nach dem Genfer Abkommen und Schutz vor Abschiebung (Art. II-18 und 19 VVE), Berufsfreiheit mit einem „Recht zu arbeiten“ (Art. II-15) und Ansprüche auf Freizügigkeit und faire Arbeitsbedingungen für Angehörige von Drittstaaten, unter 3. fällt das Diskriminierungsverbot (Art. II-20-26 VVE), und das Recht auf Interessenvertretung durch Arbeitnehmer (Unterrichtung u. Anhörung, Kollektivverhandlungen, Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst Art. II-27-29 VVE), 4. nennt Schutz bei Entlassungen sowie gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen,
327
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alpolitischer Bemühungen, die Sicherung sozialer Grundrechte, einen erneuten Bedeutungszuwachs. In der Zusammenschau stellt vor allem der Vertrag von Amsterdam (1997) mit der Eingliederung des Sozialkapitels und der Verankerung der Koordinierungsmethode im Rahmen der Beschäftigungspolitik einen Höhe- und Wendepunkt in der Entwicklung der sozialen Dimension dar. Einen sozialpolitischen Höhepunkt stellt der Amsterdamer Vertrag nicht nur durch die primärrechtliche Verankerung des Sozialkapitels dar, sondern vor allem auch durch die inhaltliche Konkretisierung des Europäischen „sozialen“ Selbstverständnisses, insbesondere im Rahmen der EBS. Diese repräsentiert zudem einen Wendepunkt in der Entwicklung der sozialen Dimension, da sie eine Ergänzung bzw. letztlich eine Abkehr von der bisherigen Setzung verbindlicher Mindeststandards (hard law) zu einer gesetzlich nicht verbindlichen Koordinierung zwischen Europäischer Ebene und den Mitgliedsstaaten (soft law) bedeutet. Erstmals findet sich auch ein Bezug auf soziale Grundrechte. In Nizza (2000) wurde die Grundrechts-Entwicklung auf europäischer Ebene mit der feierlichen Proklamation der Grundrechtscharta weiter konkretisiert, auch wenn sie noch keine rechtliche Verbindlichkeit erlangte und primär ein symbolischer Akt blieb. 5.2.5 Die soziale Dimension im gescheiterten Verfassungsvertrag Beim Vergleich des Verfassungsvertrages (VVE) mit den vorherigen Verträgen sind zwei wesentliche Neuerungen zu nennen. Erstens wird deutlich, dass durch die Einfügung der Grundrechtscharta der Europäischen Union ein rechtlich-verbindlicher Grundrechtskatalog etabliert werden sollte, was das Selbstverständnis der Union bekräftigt hätte. Zwar wird bei der Beschreibung des Anwendungsbereichs der Grundrechtscharta (Art. II-51 VVE) ausdrücklich festgelegt, dass diese „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ Geltung hat und damit nicht auf Bereiche außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Union ausgedehnt werden darf, also „weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union“ begründet (Abs. 2), dennoch käme ihr eine politische Signalwirkung zu. Es: „wird also die politisch intendierte Funktion der Charta ausdrücklich bekräftigt, die existierenden Grundrechtsbestimmungen sichtbarer zu machen und in eine einheitliche, konkrete Form zu bringen, diese aber nicht zu erweitern oder zu modifizieren. Mit der Formulierung und Verabschiedung der Charta verbindet sich damit primär die Erwartung einer politischen Signalwirkung.“328 Auch wenn im Verfassungsvertrag versucht wurde, mit der Beschränkung des Anwendungsbereichs der Grundrechtscharta einer Zuständigkeitsausweitung der europäischen Ebene entgegenzuwirken, so muss dennoch konstatiert werden, dass nichtsdestotrotz die primärrechtliche Verankerung eine positive Wirkung auf die weitere Entwicklung der sozialen Dimension hätte entfalten können und damit die vorhandene konstitutionelle Asymmetrie zwischen wirtschaftlichen und sozialen Grundprinzipien zugunsten des Sozialen allgemeine soziale Rechte: Zugang zu Leistungen der sozialen Sicherheit, Gewährleistung von Ansprüchen bei Wohnortwechsel innerhalb der EU, Unterstützungsleistungen zur Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung und Armut anzuerkennen und zu achten, Umwelt- und Verbraucherschutz (Art. II-34-38), unter 5. fallen das Wahlund Petitionsrecht, Freizügigkeit und das Recht auf eine gute Verwaltung (Art. II-41 VVE) und 6. ein Recht auf Rechtsbehelf, die Unschuldsvermutung, Verteidigungsrechte, Verbot von Doppelbestrafung sowie Gesetz- und Verhältnismäßigkeit. 328 Wendler (2005:129), vgl. auch Bossi (2001:238-242), de Burca (2003:16)
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auszugleichen bzw. abzumildern vermocht hätte. Treib (2004) sieht in der klaren Aufwertung und primärrechtlichen Verankerung der sozialen Rechte und insbesondere in der horizontalen Sozialklausel329 die Möglichkeit, das Vordringen des Wettbewerbsrechts in den Bereich wohlfahrtsstaatlicher Leistungserbringung aufzuhalten oder abzubremsen. In diesem Sinne sieht Treib „auch bei sonstigen Liberalisierungsschritten […] die Kommission und den EuGH in Zukunft [wenn VVE in Kraft getreten wäre, A.d.V.] sehr viel stärker als bisher dazu gezwungen […], mögliche negative soziale Konsequenzen in ihre Überlegungen einzubeziehen.“330 Während die in der Grundrechtscharta aufgenommenen klassischen Menschenrechte in den nationalen Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten sowie in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)331 verankert sind, stellt die Verankerung sozialer Grundrechte die wesentliche Neuerung dar. Diese sind nicht als „Freiheitsrechte klassifiziert“332, also nicht im Sinne eines Schutzes vor staatlichen Einschränkungen, sondern als Leistungsrechte, aus denen sich prinzipiell individuelle Ansprüche ableiten lassen können, wenn auch mit gewissen Einschränkungen. Das Besondere daran ist, dass diese mitunter in einigen nationalen Verfassungen gar nicht garantiert werden (so z. B. in Österreich oder Großbritannien) oder eben nur einige der genannten sozialen Grundrechte institutionalisiert sind (z. B. in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Luxemburg, Irland, Dänemark und Schweden). Recht umfassende soziale Rechte lassen sich hingegen in den Verfassungen der südeuropäischen Länder, Belgiens, Finnlands und den Mitgliedsstaaten Mittel- und Osteuropas finden.333 Die sozialen Grundrechte des VVE lassen sich in drei Kategorien einordnen: 1. subjektive Rechte, die von den Unionsbürgern individuell eingefordert werden können; 2. subjektive Rechte, die keine Handlungsaufforderung an die EU beinhalten und 3. subjektive Rechte, die eher „symbolisch-deklarativen“ Charakter haben, da sie nur gemäß dem nationalen bzw. europäischen Recht ausgelegt werden dürfen (Abbildung 4). Die Aufnahme der sozialen Rechte stellt somit eine erhebliche Aufwertung dar, auch wenn sie bereits in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (1989) und dem Abkommen des Europarats (1961/1996) formuliert wurden. Insbesondere die Sozialcharta von 1989 hat lediglich den Status einer feierlichen Erklärung ohne rechtlich-verbindlichen Charakter. Auch lassen sich aus den beiden internationalen Abkommen keine subjektiven Ansprüche ableiten. Durch die Aufnahme in den VVE erlangen diese demnach nicht nur eine bessere Sichtbarkeit, sondern auch einen stärkere Bindung, da eine Änderung des VVE nicht nur die Zustimmung aller Regierungen bedurft hätte sondern ebenso einer Ratifikation in allen Mitgliedsstaaten (nationale Parlamente; Referenden)334. Damit wäre eine nachträgliche Änderung des Vertrages äußerst unwahrscheinlich geworden. Auch wäre aus der bisherigen Erfahrung anzunehmen, dass sich der EuGH in seiner Rechtssprechung auf die sozialen Grundrechte berufen hätte und damit über Gerichtsurteile die soziale Dimension hätte gestärkt werden können.
329
Vgl. weiter unten. Dies bezieht sich auf die Artikel III-118 und 119 im VVE. Treib (2004:30) 331 Die EU konnte der EMRK nicht als Gesamtheit beitreten, jedoch haben alle Mitgliedsstaaten die EMRK ratifiziert und auch der EuGH beruft sich in seinen Urteilen darauf. 332 Treib (2004:12) 333 Vgl. Treib (2004:13) 334 Treib (2004:16) 330
5 Europäisches Skript Abbildung 4:
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Reichweiten europäischer sozialer Grundrechte im VVE
I. Subjektive Rechte, in denen eine Handlungsaufforderung an die EU zum Ausdruck kommt – Sicherstellung der Gleichheit von Männern und Frauen in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts, wobei spezifische Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht beibehalten oder neu eingeführt werden können (Art. II-83) – Gewährleistung des rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Schutzes der Familie (Art. II-93, Abs.1) II. Subjektive Rechte ohne Handlungsaufforderung an die EU – Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, insbesondere Recht, Gewerkschaften zu gründen und diesen beizutreten (Art. II-72) – Recht auf Bildung und auf Zugang zur beruflichen Aus- und Weiterbildung (Art. II-74) – Recht zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben (Art. II-75, Abs.1) – Freiheit, in jedem Mitgliedstaat Arbeit zu suchen, zu arbeiten, sich niederzulassen oder Dienstleistungen zu erbringen (Art. II-75, Abs.2) – Anspruch von Nicht-Unionsbürgern auf Arbeitsbedingungen, die denen von Unionsbürgern entsprechen (Art. II-75, Abs.3) – Verbot der Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung (Art. II-81) – Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben und auf Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben (Art. II-85) – Anspruch von Menschen mit Behinderung auf Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit, ihrer sozialen und beruflichen Eingliederung und ihrer Teilnahme am Leben der Gemeinschaft (Art. II-86) – Recht auf Zugang zu einem kostenlosen Arbeitsvermittlungsdienst (Art. II-89) – Anspruch auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen (Art. II-91, Abs.1) – Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub (Art. II-91, Abs.2) – Verbot der Kinderarbeit und Schutz Jugendlicher am Arbeitsplatz (Art. II-92) – Recht auf Schutz vor Kündigung aus Gründen der Mutterschaft, Anspruch auf bezahlten Mutterschaftsurlaub sowie auf Erziehungsurlaub bei Geburt oder Adoption eines Kindes (Art. II-93, Abs.2) – Recht auf eine soziale Unterstützung und eine Unterstützung für die Wohnung, die allen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, ein menschenwürdiges Dasein sicherstellen sollen (Art. II-94, Abs. 3) – Recht auf Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (Art. II-96) Fortsetzung auf der nächsten Seite
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III. Rechte, die nur gemäß den im europäischen und nationalen Recht definierten Bedingungen gelten – Recht auf rechtzeitige Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer im Unternehmen (Art. II-87) – Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen, einschließlich Streiks (Art. II-88) – Recht auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung (Art. II-90) – Recht auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit und zu den sozialen Diensten, die in Fällen wie Mutterschaft, Krankheit, Arbeitsunfall, Pflegebedürftigkeit oder im Alter sowie bei Verlust des Arbeitsplatzes Schutz gewährleisten (Art. II-94, Abs.1) – Anspruch auf Leistungen der sozialen Sicherheit und auf soziale Vergünstigungen (Art. II-94, Abs.2) – Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung (Art. II-95) Quelle: Treib (2004:17)
Die zweite wichtige sozialpolitische Neuerung des VVE kann in den Zielen und Werten der Union abgelesen werden. Bei den Werten der Union (Art. I-2) werden neben den auch in den anderen Verträgen genannten Grundsätzen der Freiheit, Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zudem die Werte der Gleichheit, der Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung genannt. Diese Selbstverpflichtung führt aber dazu, dass Bewerberstaaten alle diese Werte erfüllen müssen und Mitgliedsstaaten, die diese Werte missachten, Sanktionen befürchten müssen (Geldstrafen oder sogar Aussetzung des Stimmrechts im Rat, Vgl. Art. I-58 und I-59 VVE). Die Aufwertung des Sozialen im VVE durchzieht den gesamten Vertrag. Die Steigerung wird im Vergleich mit den anderen Verträgen deutlich, so z. B.: Abbildung 5:
Vertragliche Verankerung der sozialen Dimension im Vergleich
EU-Vertrag (1992)
EU-Vertrag (1997)
„Förderung des wirtEbenfalls Ziel eines schaftlichen und sozialen hohen BeschäftigungsFortschritts und eines niveaus plus „ein hohes hohen BeschäftigungsniMaß an sozialem veaus“ (Artikel 2) Schutz“ und „Gleichstellung von Frauen und Männern“ (Artikel 2)
VVE (2004) n. r. „Die Union strebt die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums an, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität. Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt. Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes. Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten. Die Union wahrt den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes.“ (Artikel I-3)
Quelle: Eigene Darstellung (Hervorhebungen durch die Verfasserin)
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Hervorzuheben ist demnach die Stärkung des beschäftigungspolitischen Ziels (nicht mehr hohes Beschäftigungsniveau sondern Vollbeschäftigung), die Erwähnung einer „sozialen Marktwirtschaft“ (im Gegensatz zu einer „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ in den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza). Mit der Betonung der Bekämpfung sozialer Ausgrenzung, der Förderung von Solidarität zwischen den Generationen und sozialer Gerechtigkeit zeigt sich eine deutliche soziale Zielbestimmung der Union als soziale Union, die in den anderen Verträgen in derart klarer Form nicht vorzufinden ist. Ebenso können die Aufnahme des Umweltschutzes und der Umweltqualität, des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts zwischen den Mitgliedsstaaten und die kulturelle und sprachliche Vielfalt als Aufwertung der sozialen Dimension angeführt werden. Hingegen verweisen nur zwei Artikel auf einen Binnenmarkt „mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb“ und eine nachhaltige wirtschaftpolitische Entwicklung Europas. Darüber hinaus stärkt der VVE im Gegensatz zu den vorherigen Verträgen die soziale Dimension, indem er die Nichtdiskriminierungsklausel sowie bestimmte Sozialklauseln als Querschnittsaufgaben definiert, so dass die Union darauf festgelegt wird, bei allen ihren Tätigkeiten diese Klauseln zu berücksichtigen: 1. „Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen“ (Art. III-118) und 2. „Bei der Festlegung und Durchführung der Politik und der Maßnahmen in den in diesem Teil genannten Bereichen trägt die Union den Erfordernissen im Zusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes, der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie mit einem hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes Rechnung.“ (Art. III-117, unter Teil III Die Politikbereiche und die Arbeitsweise der Union, Titel 1 Allgemein anwendbare Bestimmungen). Damit verpflichtet sich die Union, bei allen ihren Maßnahmen stärker soziale Erwägungen zu berücksichtigen.335 Kleinere Neuerungen des Verfassungsvertrages stellen die nochmalige Hervorhebung der Einbindung der Sozialpartner dar (Art. I-48), diese haben aber im Grunde bereits seit Maastricht eine besondere Stellung zuerkannt bekommen. Treib merkt in diesem Zusammenhang an, dass die Nennung der Sozialpartner unter dem Titel „Das demokratische Leben der Union“ aufgeführt wird, in einem gewissen Spannungsverhältnis zum Grundsatz der parlamentarischen Demokratie stehe und dies auch vom Europäischen Parlament mehrfach kritisiert wurde, weil dadurch seine Rolle geschmälert würde.336 Es könnte aber vielleicht auch einfach ein Ausdruck der politischen Realität der EU sein, deren Funktionsweise die Einbeziehung von Verbänden, Sozialpartnern, externen Organisationen stark befördert und ein breites Netzwerk an nicht-staatlichen Akteuren integriert hat.337 Die letzte kleine Änderung des VVE im Gegensatz zu den vorherigen Verträgen mit Blick auf die soziale Dimension ist die Ausweitung des Mehrheitsentscheidungsverfahrens auf den Be335
Vgl. auch Treib (2004:18) Irreführend ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass im gleichen Vertrag einmal vom Ziel der Vollbeschäftigung die Rede ist, im dritten Teil dann nur noch von der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus. Ebenso findet sich im dritten Teil der Verfassung auch wieder die Formulierung einer offenen Marktwirtschaft. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass der dritte Teil größtenteils aus den alten Verträgen übernommen wurde. Für eine eindeutige rechtliche Auslegung des Vertrages hätte dies möglicherweise problematisch werden können. 336 Vgl. Treib (2004:18f) 337 Dies ist aber nur eine Vermutung vor dem Hintergrund der detaillierten Analyse über die Funktionsweise des EU-Systems von Tömmel (2005).
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reich der sozialen Sicherheit von Wanderarbeitnehmern (Art. III-136), jedoch nur wenn kein Staat durch das Verfahren „wesentliche Aspekte wie den Geltungsbereich, die Kosten oder die Finanzstruktur eines Systems der sozialen Sicherheit“ als verletzt „oder dessen finanzielles Gleichgewicht [als] beeinträchtig[t ansehen] würde.“338 Dieser Überblick macht deutlich, dass der Verfassungsvertrag eine klare Aufwertung und rechtliche Bindung der sozialen Dimension beinhaltet hätte. Der Grundrechtscharta allgemein muss allerdings primär eine symbolisch-deklarative Wirkung zugesprochen werden, da alle die Grundrechte im Wesentlichen in den nicht-verbindlichen internationalen Abkommen (EMRK; Sozialcharta, Gemeinschaftscharta) bereits Erwähnung finden und die EU sich auf diese in den Verträgen bereits vorher Bezug genommen hatte (ab Amsterdam 1997). Aber auch, da die meisten der erwähnten Grundrechte in den nationalen Verfassungstraditionen bereits verankert sind. Lediglich die sozialen Grundwerte, wie gezeigt wurde, stellen im Rahmen des VVE eine Veränderung der prinzipiellen Zielsetzung in Richtung soziale Union dar, da hiermit subjektive Rechte verbunden sind. Zudem hatte sich die Union durch die Sozialschutzklausel darauf verpflichtet, ihre Politiken stärker sozialen Erwägungen zu unterziehen, und erstmals Vollbeschäftigung wie auch soziale Marktwirtschaft als Ziele der Union genannt. 5.2.6 Veränderungen im Rahmen des neuen Grundlagenvertrages Mit dem Scheitern des Verfassungsvertrages in den Referenden in Frankreich und den Niederlanden im Frühjahr 2005 wurde nach einer fast zweijährigen Reflexionsphase die weitere Ratifizierung des Verfassungsvertrages aufgegeben und beschlossen, den zukünftigen Reformprozess über den herkömmlichen Weg einer Vertragsänderung der bisherigen Verträge fortzuführen und auf eine „Neugründung der Union mit konstitutionellem Anspruch“339 zu verzichten. Der neu ausgearbeitete Vertrag von Lissabon, unterzeichnet von den 27 Regierungschefs im Dezember 2007, enthält eine Fülle von Änderungen zum Vertrag über die Europäische Union (EUV) und ändert den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) um. Damit gründet sich die EU erneut auf eine doppelte Vertragsgrundlage. Der Ratifizierungsprozess des Vertrages von Lissabon ist jedoch bis dato noch nicht abgeschlossen, so dass er noch nicht in Kraft ist. Ob dies bis zu den Europawahlen in 2009 noch rechtzeitig gelingt, ist unklar, da die Iren als einziges Volk, das in einem Referendum über den Vertrag abzustimmen hat, den Vertrag bereits mit 53,4 % der abgegebenen Stimmen abgelehnt haben. Der parlamentarische Ratifizierungsprozess in den anderen Mitgliedsstaaten geht jedoch weiter.340 338
VVE Art. III-136, s. auch Treib (2004:19) Schiffauer (2008:1-10). In der vor allem rechtswissenschaftlichen Fachliteratur besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass es sich bei den bisherigen europäischen Verträgen als auch bei dem gesamten Vertragsgebungsprozess um einen Verfassungsprozess handelt, der spätestens seit 1979 mit den ersten freien Wahlen zum Europäischen Parlament begonnen wurde und bis heute anhält. Mit dem Scheitern des Verfassungsvertrages wurde folglich das „’Verfassungs’-projekt“ aufgegeben, jedoch nicht der europäische Verfassungsprozess. Vgl. ebd. S.6 340 So haben zuletzt Italien und Spanien den Reformvertrag ratifiziert, in Schweden ist die Ratifizierung für November angesetzt. Neben den Iren stellen auch Polen, Tschechien und Deutschland noch einen Unsicherheitsfaktor im Ratifizierungsprozess dar, da hier die Vertragsurkunde noch nicht vom Staatspräsidenten unterzeichnet wurde und zum Teil zur Überprüfung bei den nationalen Verfassungsgerichten liegt (so in Deutschland und Tschechien). 339
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Trotz der noch nicht abgeschlossenen Ratifizierung des Lissabon-Vertrages und der Möglichkeit seines Scheiterns soll im Folgenden auf die wesentlichen Neuerungen des Lissabon-Vertrages im Vergleich zum Vertrag von Nizza hinsichtlich der prinzipiellen Wertorientierung als auch der sozialpolitischen Bestimmungen der EU eingegangen werden. Dies lässt sich damit rechtfertigen, dass die wichtigsten „sozialpolitischen“ Bestimmungen und Wertbezüge des Verfassungsvertrages erneut im Vertrag von Lissabon auftauchen und folglich nicht zu den umstrittenen Fragen im europäischen Reformprozess gehören, sondern prinzipiell auf einem Konsens unter den Mitgliedstaaten fußen.341 Dennoch muss diese Darstellung unter Vorbehalt gesehen werden, da erst mit einer Inkraftsetzung des Lissabonner Grundlagenvertrages die prinzipielle Möglichkeit besteht, dass das darin zum Ausdruck kommende europäische Selbstverständnis überhaupt Wirkung im Sinne eines Skriptes (Drehbuches) für die weitere Entwicklung der EU entfalten kann.342 Die für den Kontext der Arbeit wichtigsten Neuerungen des Vertrages von Lissabon im Vergleich zum bis heute gültigen Vertrag von Nizza sind: 1.
Die Neuformulierung der Werte und Ziele der Union in Artikel 2 und 3 (EUV): Die Neuformulierung der Werte und Ziele der Union stimmen größtenteils mit den Formulierungen des gescheiterten Verfassungsvertrages überein. So beruft sich die Union in Artikel 2: „auf die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedsstaaten in einer Gemeinschaft gemein, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz und Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“
Bei den Zielsetzungen sind die Nennung einer „im hohen Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft“ und das Ziel der „Vollbeschäftigung“ im Vergleich zu Nizza hervorzuheben. Zudem wird der Kampf gegen soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen, die Förderung von sozialer Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die GleichDer polnische Staatspräsident weigert sich den Vertrag zu unterschreiben, in Finnland muss noch in einer zweiten Abstimmung über die Änderungen für Åland abgestimmt werden, was aber gelingen sollte. Stand August 2008 341 Ausnahmen sind hierbei Großbritannien und Polen, was aber bei den Länderanalysen noch genauer betrachtet wird. 342 Im Rahmen der EU-Debatten wird dem neuen Vertrag bereits durch seine Form (zwei enorm umfangreiche Verträge in juristischer Terminologie) als auch durch den erneuten Rückgriff auf einen rein parlamentarischen Ratifizierungsprozess (außer in Irland) ein Mangel an Öffentlichkeitswirkung zugeschrieben und als Konsequenz daraus, die z. B. nationalen Verfassungen innewohnende Funktion, eine Art identitätsstiftender „Sinnspeicher“ für die Menschen darzustellen, nicht in gleichem Maße erfüllen könnte wie der VVE. Allerdings ist es sowieso fraglich gewesen, ob der VVE diese Funktion auch tatsächlich erfüllt hätte – letztlich wurde er ja noch nicht einmal angenommen. Hier wird vielmehr die Ansicht vertreten, dass dem politischen Prozess, also der praktischen Erfahrung und öffentlichen Auseinandersetzung über politische Entscheidungen und Verfahren, eine ausschlaggebende Rolle zukommt, damit sich Bürger eines politischen Gemeinwesens mit den Werten und Inhalten desselben identifizieren. In diesem Sinne wird die Hypothese aufgestellt, dass grundsätzlich auch vom neuen Grundlagenvertrag über den politischen Prozess auf lange Sicht eine identitätsstiftende Wirkung ausgehen kann. Allerdings müssen zwei Bedingungen erfüllt werden: Erstens muss eine prinzipielle Wertekompatibilität mit den in den nationalen politischen Kulturen verankerten politischen Werten vorherrschen, damit überhaupt die prinzipielle Offenheit zur politischen Auseinandersetzung über europäische Themen besteht. Und zweitens muss die Wahrnehmung europäischer Entscheidungen und deren Auswirkungen verbessert, die Verantwortlichkeiten der unterschiedlichen Ebenen geklärt und die Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger verdeutlicht werden.
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2.
3.
4.
5 Europäisches Skript stellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und der Schutz von Kinderrechten als Ziele der Union formuliert. Neu ist demnach der Kampf gegen soziale Ausgrenzung, die Förderung von sozialer Gerechtigkeit, Solidarität zwischen den Generationen und der Schutz von Kinderrechten gleich zu Beginn des Vertrages als übergeordnete Unionsziele. Obgleich diese Ziele im Großen und Ganzen nicht neu sind, erlangen sie jedoch eine neue Sichtbarkeit und erhalten eine besondere Stellung als allen Politikfeldern übergeordnete Ziele. Im Gegensatz zum Stand von Nizza wird jedoch nicht mehr von einem „hohen Maß an sozialem Schutz“ gesprochen sondern von der „Förderung sozialer Gerechtigkeit und sozialem Schutz.“ Da eine Definition dessen, was als ein hohes Maß anzusehen ist, nie vollzogen wurde, kann davon ausgegangen werden, dass dieser Abschwächung keine besondere Bedeutung zukommt, zumal die hinzugefügte „Förderung sozialer Gerechtigkeit“ impliziert, dass eine gewisse gesellschaftliche Verhältnismäßigkeit angestrebt werden soll. Die Einführung einer Sozialklausel (Art. 9 AEUV): Eine weitere, ebenfalls aus dem Verfassungsvertrag übernommene sozialpolitische Neuerung ist die Einführung einer horizontal wirkenden Sozialklausel, die die EU-Organe verpflichtet, bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik und Maßnahmen die Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, eines angemessenen sozialen Schutzes, eines hohen Niveaus der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes sowie die Bekämpfung sozialer Ausgrenzung zu berücksichtigen. Diese Sozialklausel stellt damit eine wichtige Aufwertung der europäischen sozialen Dimension dar, da sie letztlich alles Handeln der Union nicht nur auf die wirtschaftspolitischen Ziele, sondern auch auf soziale Ziele verpflichtet, die damit eine klare Aufwertung erfahren. Die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtscharta (Art. 6 EUV): Obgleich die Grundrechtscharta nicht Teil des Vertragstextes ist, sondern diesem nur angehängt wurde, erhält sie ihre volle rechtliche Verbindlichkeit. Wie oben bereits ausführlich dargestellt, ist dies ein entscheidender Schritt zur Verdeutlichung der Werteorientierung der Union und stellt überdies in Einzelfällen sogar eine rechtliche Verbesserung für die Sicherung sozialer Grundrechte von Unionsbürgern dar. Ebenfalls übernommen aus dem Verfassungsvertrag wurden die horizontalen Antidiskriminierungsklausel, Gleichstellungsklausel und Umweltklausel. (s.o. 4.4.5.) Instrument der verstärkten Zusammenarbeit: Eine mögliche Stärkung und Vertiefung der sozialen Dimension der europäischen Integration könnte über die Erleichterung des Instrumentes der verstärkten Zusammenarbeit in Art. 20 (EUV) sowie Art. 326 bis 334 (AEUV) erreicht werden, wenn sich zum Beispiel ein Teil der Mitgliedsstaaten auf eine vertiefte Zusammenarbeit im sozialpolitischen Bereich einigen würde.
Über diese sozialpolitischen Neuerungen hinaus enthält der Grundlagenvertrag einige Neuerungen, die sich positiv auf eine europäische Identitätsbildung der Bürger auswirken könnten. Unter anderem gehören dazu die Einführung eines Präsidenten der Kommission sowie das Amt eines Hohen Vertreters, die der EU ein „Gesicht“ verleihen. Durch das neu eingeführte Recht auf Bürgerbegehren wird den Bürgern und Bürgerinnen der EU erstmals die Möglichkeit gegeben, direkten Einfluss auf die Politikgestaltung in Brüssel zu nehmen (Art. 11). Mit Art. 10 wird ihnen zudem ein Recht auf die Teilnahme am demokratischen Leben der EU eingeräumt und neben dem „sozialen Dialog“ der Tarifparteien nun auch ein „ziviler Dialog“ mit den repräsentativen Verbänden der Zivilgesellschaft vertraglich veran-
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kert. Diese im Vergleich zu Nizza neuen Elemente direkter bzw. partizipativer Demokratie innerhalb der Union zielen auf mehr Transparenz und ein stärkeres europäisches Bürgerbewusstsein, indem Partizipationsmöglichkeiten angeboten werden. Folglich verdeutlicht die Union ihr Selbstverständnis als eine partizipative Demokratie. Durch die stärkere Einbeziehung der nationalen Parlamente (in einem angehängten Protokoll), indem diese alle neuen Gesetzesinitiativen der Kommission direkt weitergeleitet bekommen und im Rahmen eines Frühwarnsystems gegen Verstöße des Subsidiaritätsprinzips „Einspruch“ erheben können, bekommen sie hinsichtlich der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips eine Art Kontrollfunktion zugeschrieben. Ein zu erwartender Nebeneffekt wird dabei sein, dass die nationalen Parlamente sich durch diese neue Rolle stärker als früher mit europäischen Gesetzesinitiativen auseinandersetzen müssen, was zu mehr parlamentarischen Debatten europäischer Themen sowie mehr Beachtung in den nationalen Öffentlichkeiten führen kann. Obgleich der Grundlagenvertrag von Lissabon keine neuen Hoheitsrechte auf die europäische Ebene überträgt und auch auf die wesentlichen identitätsstiftenden Elemente des Verfassungsvertrages verzichtet343, wird dem Vertrag überwiegend eine positive und wichtige Rolle insbesondere für die Sicherstellung der zukünftigen Handlungsfähigkeit der EU zugeschrieben. Wie Schiffauer (2008) aufzeigt, verfügt der Vertrag von Lissabon ebenfalls über eine Reihe verfassungsqualitativer Elemente. 344 Dazu gehören u. a. die Neudefinition der Werte und Ziele der Union, die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtscharta, das Recht auf Bürgerinitiative, die einheitliche Rechtspersönlichkeit der Union, die Austrittsklausel, die Ämter des Hohen Vertreters und des Präsidenten der Kommission, die Regel der doppelten Mehrheit im Rat usw . Ebenso konnte aufgezeigt werden, dass eine Aufwertung der sozialen Dimension im neuen Grundlagenvertrag verankert ist und eine europäische Bürgeridentität fördernde Elemente im Zuge einer Umsetzung des Vertrages Öffentlichkeitswirkung entfalten könnten. Für das Selbstverständnis der Union lassen sich aus dem neuen Vertrag folgende Schlussfolgerungen ziehen: Bereits die schnelle Ausarbeitung und Ratifizierung des Lissaboner Vertrages durch die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten machen deutlich, dass der politische Wille zur Fortsetzung des Reformprozesses nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages prinzipiell vorhanden ist und dieser möglichst vor den Wahlen 2009 abgeschlossen sein soll. Im Großen und Ganzen stellt der Vertrag von Lissabon einen Fortschritt für die zukünftige Handlungsfähigkeit der Union dar, aber auch – und dies hätte nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages durchaus anders sein können – ein Fortschritt vor allem in der Sichtbarmachung des Selbstverständnisses der EU als einer sozialen Union, die sich auf soziale Grundrechte stützt, einem Gleichheitsprinzip verpflichtet ist und eine partizipative Demokratie sein will. In der Sozialpolitik zeugt dieser Vertrag aber auch davon, dass eine Ausweitung sozialpolitischer Kompetenzen auf die europäische Ebene von den Mitgliedsstaaten nicht gewünscht wird und, dass mit dem opt-out Großbritanniens und Polens von der Gültigkeit der Grundrechtscharta über die vorhandenen sozialen Bestimmungen nach wie vor Differenzen bestehen. Die Gleichstellung der sozialen mit den wirtschaftlichen Zielen (Sozialklausel) ist für die weitere integrationspolitische Entwicklung in Richtung einer „sozialen Union“ von wesentlicher Bedeutung, problematisch 343
Als wesentliche identitätsstiftende Merkmale des VVE wurde bereits die Tatsache definiert, dass es sich um einen einzelnen kodifizierten Text handelt, der zumindest in den ersten beiden Teilen an die Tradition nationaler Verfassungen anknüpfte. In diesem Sinne wurde auch die staatliche Terminologie (Verfassung, Außenminister, die Bezeichnungen der Legislativorgane) als identitätsstiftende Elemente angesehen sowie vor allem die Festschreibung der Symbole der Europäischen Union und die im Text ausformulierte Charta der Grundrechte. 344 Vgl. Schiffauer (2008:8ff.)
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bleibt jedoch auch im Vertrag von Lissabon, dass die oftmals vagen Formulierungen (angemessener sozialer Schutz etc.) keine klare Politikausrichtung festlegen und damit ihre reale Wirksamkeit häufig nicht entfalten können. Als ein anderes Beispiel kann angeführt werden, dass sich die EU in ihren Zielen auf eine „soziale Marktwirtschaft“ beruft, bei einer späteren Konkretisierung im AEUV (Artikel 119 und 120) nur noch die Verpflichtung auf eine „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ verankert ist. Hieran werden erneut bestehende Divergenzen sichtbar und, obgleich sich die Union sozialstaatlichen Grundsätzen verpflichtet, legt sie sich letztlich nicht eindeutig auf ein bestimmtes Sozialstaatsmodell fest. 5.3 Fazit zur Entwicklung der sozialen Dimension im Europäischen Integrationsprozess Die soziale Dimension erfährt im europäischen Integrationsprozess von Rom (1957) bis Lissabon (2008) eine konstante Aufwertung sowie Ausdehnung auf immer mehr Politikbereiche. Von der Nichtthematisierung zu Beginn des europäischen Projektes erlangt sie mit den Vertragsreformen ab Mitte der 1980er Jahre (EEA, Maastricht, Amsterdam, Nizza) innerhalb von zwanzig Jahren einen enormen Bedeutungszuwachs, der so weit geht, dass sich mittlerweile kaum eine Stellungsnahme der Kommission oder des Rates finden lässt, wo nicht auf die Bedeutung der sozialen Dimension für den Erfolg des Integrationsprojektes hingewiesen wird. Dies zeigt deutlich, dass die soziale Dimension, im Sinne eines normativen Leitbildes, einen immer bedeutsameren Stellenwert für die Legitimation des Integrationsprozesses von Seiten der politischen Akteure zuerkannt bekam.345 Dem Bedeutungszuwachs der sozialen Dimension im europäischen Diskurs entspricht auch ein faktischer Bedeutungszuwachs auf der Ebene europäischer Realpolitik. Hierbei muss jedoch konstatiert werden, dass in den ersten Jahrzehnten (1960 bis Anfang 1980er Jahre) auf dem Gebiet der Sozialpolitik die Vorstellung vorherrschte, man könne langfristig eine Harmonisierung der Strukturen in den Nationalstaaten erreichen, was letztlich zu einer Art Europäischen Sozialmodells – der Begriff kam in veränderter Bedeutung erst später auf – geführt hätte. Im Zuge der Erweiterung der Union und der damit verbundenen größeren Diversität an Sozialsystemen innerhalb der Gemeinschaft346 wich die Vorstellung einer Harmonierung der Strukturen, dem Anspruch, eine sozialpolitische Konvergenz in den Policy-Zielen herzustellen und den „Weg“ zur Erreichung dieser Ziele den unterschiedlichen Systemen zu überlassen. 345
Im Vergleich zur faktisch erreichten Verankerung von Sozialpolitik auf europäischer Ebene wird die häufige Bezugnahme der politischen Akteure auf die Bedeutung der sozialen Dimension von einigen Wissenschaftlern als reine Rhetorik ohne substanziellen Gehalt abgetan. Demnach handle es sich lediglich um eine legitimationsheischende Strategie der politischen Akteure. Anders ausgedrückt: Der umfangreiche Bezug der politischen Akteure auf die Bedeutung der sozialen Dimension im Integrationsprozess sei demnach eine rhetorische Legitimationsstrategie, um die Zustimmung der Menschen zum im Grunde rein wirtschaftlich ausgerichtetem Integrationsprojekt sicher zu stellen. 346 Die Diversität an verschiedenen Wohlfahrtsstaatsmodellen innerhalb der EU nahm vor allem mit dem Beitritt Großbritannien (1973 liberaler Wohlfahrtsstaat) und Dänemark (sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat)zu. In den 1980er Jahren kamen dann noch die südeuropäischen Länder hinzu. Dies führte dazu, dass eine Einigung auf (harte) sozialpolitische Richtlinien zunehmend schwierig wurde, da es im Interesse jedes einzelnen Mitgliedsstaates lag, entweder das eigene Modell auf europäischer Ebene zu verankern, um die eigenen Anpassungskosten gering zu halten oder eben die europäische Ebene soweit wie möglich herauszuhalten.
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Im Zeitverlauf bildeten sich vier verschiedene sozialpolitische Strategien auf europäischer Ebene heraus: Erstens, eine (harte) regulative Sozialpolitik in Form einer Setzung von allgemein verbindlichen Mindeststandards. Zweitens, eine (weiche) Koordinierungsmethode, die eine Konvergenz der Policy-Ziele anstrebt (EBS, OMK). Drittens, eine sozialpolitische Mindestsicherung über die Gewährleistung von sozialen Grundrechten. Viertens, europäische Sozialpolitik in Form von umverteilenden Ausgabenprogrammen wie zum Beispiel dem europäischen Sozialfonds, der jedoch aufgrund seines geringen Volumens und seiner Ausrichtung (Programme zur Reintegration von Arbeitslosen) nur eine geringe Rolle spielt. Obgleich die Fülle an sozialpolitischen Handlungskompetenzen der EU durchaus umfangreich ist – sie verfügt über Zuständigkeiten im Arbeitsrecht (regulative Sozialpolitik), in der Beschäftigungspolitik sowie bei der Modernisierung des sozialen Schutzes – so variiert das Ausmaß an Kompetenz je nach Bereich erheblich. Vor allem die sensiblen sozialpolitischen Bereiche der sozialen Sicherung (außer für Wanderarbeitnehmer) bleiben von Gemeinschaftsregelungen explizit ausgeschlossen, in anderen sozialpolitischen Bereichen kann im Rat nur einstimmig beschlossen werden, oder die EU-Organe verfügen lediglich über eine unverbindliche Koordinierungskompetenz (Beschäftigung; soziale Exklusion; Armut, Modernisierung der Systeme des sozialen Schutzes). Verbindliche europäische Rechtsvorschriften konnten bisher im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit, des Arbeitsschutzes, der Geschlechtergleichbehandlung und im allgemeinen Arbeitsrecht erlassen werden. Somit stellt sich die europäische Sozialpolitik zunächst einmal als hochgradig segmentiert dar, so dass auch weiterhin die nationale Ebene die „entscheidende Arena der sozialpolitischen Entscheidungsfindung“ bleiben wird.347 Die Entstehung eines europäischen Wohlfahrtstaates wird nach heutigem Stand der Forschung weder als realistisch noch in den meisten Fällen als wünschenswert betrachtet.348 Dennoch zeigt die europäische sozialpolitische Entwicklung deutlich, dass die EU eine zum Nationalstaat relevante ergänzende sozialpolitische Entscheidungsebene darstellt und damit sozialpolitischen Einfluss ausübt:349 Auf der formal-institutionellen Ebene (‚polity’) verfügt die Gemeinschaftsebene nicht nur über Gesetzgebungskompetenzen zur „Marktgestaltung“350 sondern übt sowohl im Rahmen der OMK ergänzende Definitionsmacht bei der Festsetzung von sozialpolitischen Zielen als auch durch die Analysen und Vorschläge in den Länderberichten aus. Zudem werden im Rahmen der OMK ebenfalls Entscheidungsfindungsprozesse (‚politics’) auf die europäische Ebene verlagert. So führen zum Beispiel die Diskussionen zu den Zielsetzungen im Bereich der Beschäftigungs-, Renten- und Armutspolitik im Rahmen der OMK unter Maßgabe des Europäischen Rates zu einem regelmäßigem Austausch zwischen der Kommission, Fachausschüssen und nationalen Verwaltungen.
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Wendler (2005:229), ebenso Kaufmann (2003b), Schmid (2002) Die Gründe dafür sind sicherlich vielfältig, nicht zuletzt hat sich jedoch bisher kein politisch relevanter Ansatz einer umfassenden Supranationalisierung sozialpolitischer Kompetenzen durchsetzen können, was einen europäischen Wohlfahrtsstaat zur Folge hätte. Nicht nur die Diversität der unterschiedlichen nationalstaatlichen Sozialsysteme und die damit verbundenen Kosten einer Umstellung erschwert dies, auch der politische Wille der Staats- und Regierungschefs, dieses für ihre Legitimation wichtige Politikfeld aus der Hand zu geben, muss als gering eingestuft werden. 348 Vgl. Scharpf (2008) 349 Im Folgenden beziehe ich mich auf die Ausführungen von Wendler (2005:229) 350 Falkner (2003:482ff)
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Auf der inhaltlichen Ebene (‚policy’) zeigt sich der europäische Einfluss nicht nur in den sozialpolitischen Gesetzgebungsakten351, sondern auch, indem sie eigene Leitbilder entwickelt und nachweisbare sozialpolitische Veränderungsprozesse von den Nationalstaaten einfordert. Als integrationspolitische Leitidee wurde ab Mitte der 1980er Jahre das Leitbild des Europäischen Sozialmodells (ESM) entwickelt, welches trotz aller Diversität der nationalen Sozialsysteme die gemeinsamen sozialen Werte und Ziele herausstellen sollte. Dabei wurde versucht, mit dem Terminus des Europäischen Sozialmodells einerseits die historisch gewachsenen einzelstaatlichen Sozialmodelle in ihrer Vielgestaltigkeit zu würdigen und als schützenswert herauszustellen, zum anderen wurde mit dem Begriff aber auch ein normativer Anspruch verbunden, der zunächst in der Bedeutung des sozialen Dialogs und der Setzung von Mindeststandards gesehen wurde, mittlerweile aber in der Forderung bzw. Notwendigkeit der „Modernisierung“ (i.S. einer Anpassung) der nationalen sozialstaatlichen Arrangements mündet. Dieses Spannungsverhältnis zwischen etwas, was bereits vorhanden ist und das es zu bewahren gilt, und etwas, was erst noch zu schaffen ist, zeichnet den Begriff des ESM aus und spiegelt insofern auch die Entwicklung der sozialen Dimension wieder. Im Zuge der Binnenmarktintegration und unter Verweis auf sozio-ökonomische Wandlungsprozesse (Globalisierung, Binnenmarkt, demographischer und sozialer Wandel etc.), die sozialpolitische Anpassungsprozesse („Modernisierung“) in den einzelnen Systemen notwendig machten, wurde mit dem Paradigma des „aktivierenden Wohlfahrtsstaates“ versucht, eine auf europäischer Ebene in sich stimmige Sozialpolitik zu konzipieren, die darüber hinaus durch die stetige Aufwertung sozialer Grundrechte untermauert werden soll(te). Jedoch zeigt sich bei genauem Hinsehen, dass dieses Leitbild einerseits dadurch relativiert wird, dass die Europäische Sozialpolitik insbesondere mit der Lissabon-Strategie keine eigene Begründung/Legitimation zuerkannt bekommt, sondern stets unter die Ziele der Marktintegration mit den Schlüsselbegriffen „Wettbewerbsfähigkeit“, „produktiver Faktor“ subsumiert wird. Zum anderen ist die primär an wirtschaftspolitischen Aspekten orientierte Programmatik des „aktivierenden Wohlfahrtsstaates“ im Bereich der EBS und OMK derart flexibel gehalten, dass sie sich als an unterschiedliche sozial- und arbeitsmarktpolitische Kontexte anpassungsfähig erweist, so dass man nicht von einem sich herauskristallisierenden einheitlichen Modell sprechen kann. So werden unter der Leitidee des Europäischen Sozialmodells konkurrierende Elemente gefasst – einerseits stark „rekommodifizierende“ Elemente und andererseits das Festhalten an und der Ausbau sozialer Grundrechte – , was zwar die Annahme der Leitidee aus verschiedenen nationalen Kontexten erleichtert, eine Einordnung bzw. Wirkungsrichtung im Sinne eines Sozialmodells verhindert.352 Insofern macht es wenig Sinn, nach einem verankerten Sozialstaatsmodell auf europäischer Ebene zu suchen. Dennoch kann anhand der Policy-Ziele eine Einordnung anhand analytischer Kategorien der Wohlfahrtsstaatsforschung vorgenommen werden. Durch den Rückgriff auf analytische Kategorien der vergleichenden Politikforschung kann eine Einordnung des EU-Skripts im Sinne einer tendenziellen Ausrichtung an einem oder mehreren Wohlfahrtsstaatsmodellen vorgenommen werden und dieses mit den in den politischen Kulturen der Länder vorhandenen sozial- und gesellschaftspolitischen Wert- und Einstellungsmuster verglichen werden. 351 352
Ende 2002 verfügte die EU über 56 Sozial-Richtlinien. Falkner/Treib (2005:220) Wendler (2005:229ff.)
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5.4 Einordnung des EU-Skripts in Wohlfahrtsstaatstypologien In der Europäischen Forschungsdebatte besteht weitgehender Konsens darüber, dass sich ein Europäischer Wohlfahrtsstaat im Sinne einer „Duplizierung“ nationaler Wohlfahrtsstaatsmodelle nicht entwickeln wird. Vielmehr wird angenommen, dass die nationale Ebene auch weiterhin primärer Bezugsrahmen und Bereitsteller sozialpolitischer Leistungen bleibt und die europäische Ebene zwar eine relevante, jedoch nur eine zum Nationalstaat ergänzende Ebene sozialpolitischer Entscheidungsfindung darstellen wird. Europäische Sozialpolitik ist demnach nicht mit den umfassenden, historisch gewachsenen sozialpolitischen Arrangements der Nationalstaaten vergleichbar. Dennoch soll im Folgenden anhand der Policy-Ziele und Wertorientierungen die normative sozialpolitische Ausrichtung der EU herausgearbeitet werden, indem mit Hilfe von analytischen Kategorien der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung eine Einordnung des EU-Skripts in eine Wohlfahrtsstaatstypologie vorgenommen werden kann. Die Analyse der europäischen Verträge als Ausdruck des europäischen Selbstverständnisses geht, wie oben bereits dargelegt wurde, davon aus, dass nicht nur Institutionen und Akteure, sondern eben auch Ideen und Leitbilder einen wichtigen Einfluss auf politische Prozesse haben. Die Einordnung des EU-Skripts in Kategorien der nationalen Wohlfahrtsstaatsforschung ermöglicht erst eine systematische Erfassung und spätere Vergleichbarkeit des Skripts mit den in den Ländern vorfindbaren Wohlfahrtsstaatsvorstellungen und -konzepten. Anhand der Analyse der EU-Ebene können dann Aussagen darüber abgeleitet werden, welchem Wohlfahrtsstaatsmodell das EU-Skript am nächsten kommt und damit vermutlich auch, welcher Einfluss der europäischen Ebene auf die Sozialpolitik der Mitgliedsstaaten am ehesten zu erwarten ist. Für eine realistische Einordnung der Wirkungsrichtung des EU-Skripts werden bei der Analyse und Zuordnung neben den jeweiligen sozialpolitischen Policy-Zielen auch die dazugehörigen Outputs als Bewertungskriterien miteinbezogen. Dies garantiert nicht nur Aussagen über die normative Ausrichtung der EU treffen zu können, sondern auch über die reale Wirkungsweise und Wahrnehmbarkeit der europäischen Sozialpolitik, was letztlich für die Herausbildung einer europäischen Identität von enormer Wichtigkeit ist. Obgleich im Kontext der Europaforschung stets der sui-generis-Charakter der EU herausgestellt und damit einhergehend konstatiert wird, dass nationalstaatliche Analysekategorien für die Erklärung europäischer Institutionen und Prozesse unzureichend seien, lässt sich der Rückgriff auf analytische Kategorien der vergleichenden (nationalen) Wohlfahrtsstaatsforschung damit rechtfertigen, dass nur dadurch die Anschlussfähigkeit der Ergebnisse an die übrige vergleichende Politikwissenschaft möglich wird. Die in der Europaforschung vorherrschende Tendenz, primär auf Konzepte und Neologismen zu setzen, die explizit für den Europa-Kontext entworfen wurden, führt letztlich dazu, dass sich die (empirische) Europaforschung vom Rest der politikwissenschaftlichen Forschung ablöst. Vor allem Scharpf (2002b) tritt als Kritiker dieser Entwicklung auf und plädiert für die Anwendung und Anpassung analytischer Kategorien der Vergleichenden Politikforschung innerhalb der EU-Forschung: „Zwar passen die Konzepte auf die je untersuchten Fälle, aber angesichts der Heterogenität der untersuchten Sachverhalte ist ein Konsens unter den Europaforschern noch nicht in Sicht […] – ganz zu schweigen von der Akzeptanz unter Politikwissenschaftlern, die an theoretischen Aussagen mit höherem Generalisierungsgrad interessiert sind. Dies ist bedauerlich, weil so die empirische Europaforschung gegen theoretische Kritik immunisiert wird, während die politikwis-
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5 Europäisches Skript senschaftliche Theorie kaum von dem wachsenden Bestand der empirischen Forschung profitiert. (…) Obwohl die europäische politische Ordnung keine genaue Entsprechung anderswo hat, sollte es doch möglich sein, europäische Institutionen und politische Prozesse mit Hilfe von Konzepten und Hypothesen zu analysieren, die auch in der Vergleichenden Politikforschung und in den Internationalen Beziehungen angewandt werden können.“353
Vor diesem Hintergrund ist die Verwendung von analytischen Kategorien der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung nicht nur sinnvoll, sondern für die spätere Zusammenführung der Ergebnisse und deren Rückbindung an das Thema einer europäischen Identität unerlässlich. 5.4.1 Kategorien der Vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung Mit dem Ausbau und der Expansion staatlicher Wohlfahrtssicherung in westlichen Industrieländern nach dem zweiten Weltkrieg bildete sich die komparative Wohlfahrtsstaatsforschung als neuer und zunehmend wichtiger Zweig der Vergleichenden Politikwissenschaft heraus. Unter Verwendung verschiedener Methoden354 wird in diesem Rahmen nach den Entstehungs- und Gestaltungsbedingungen nationaler sozialpolitischer Arrangements (Sozialsysteme) gefragt. Dabei geht es der Wohlfahrtsstaatsforschung355 nicht nur um sozialpolitische Institutionen und Politiken (social policies), sondern ebenso um die jeweiligen sozialpolitischen Auseinandersetzungen (social politics) und Ideen (social ideas) von Wohlfahrtsstaaten.356 Zu den zwei grundlegenden Merkmalen von Wohlfahrtsstaaten zählt Kohl (2000) einerseits die Idee der staatlichen Verantwortung hinsichtlich einer Sicherung der „Wohlfahrt der Bürger, beziehungsweise ihrer sozialen Rechte gegenüber dem Staat“ sowie die „faktische Existenz entsprechender Institutionen und Programme“ andererseits.357 Im Wörterbuch wird der Terminus „Wohlfahrtsstaat“ wie folgt definiert: „Der Begriff <Wohlfahrtsstaat> (welfare state) charakterisiert als deskriptives Konzept einen bestimmten Typus der Staatstätigkeit. Er kennzeichnet Länder, in denen der Staat eine aktive Rolle in der Steuerung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Abläufe übernimmt und einen beträchtlichen Teil seiner Ressourcen sozialpolitischen Zwecken widmet, die der Förderung nach einer größeren Gleichheit der Lebenschancen in den Dimensionen Einkommenssicherung, Gesundheit, Wohnen und Bildung dienen. In der Verwendung des Konzepts (…) schwingt eine Verpflichtung des Staates auf eine umfassende Politik des Ausbaus sozialer Staatsbürgerrechte mit, die sich nicht mit der Sicherung von Konsumchancen begnügt, sondern auch die Förderung von Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung anstrebt und den Abbau ungleicher Teilnahmechancen am gesellschaftlichen und politischen Leben zum Ziel erhebt.“358 353
Scharpf (2002a:38-39). Ähnlich zitiert auch bei Thalacker (2006:115) Vgl. Kaufmann (2003b:17ff.) 355 Während sich im internationalen Forschungskontext der Begriff „Wohlfahrtsstaat“ (welfare state) durchgesetzt hat, findet in der deutschen Diskussion meist der Begriff „Sozialstaat“ Verwendung. Josef Schmid (2000) hingegen unterscheidet zwischen dem Wohlfahrtsstaat als einer „empirischen Kategorie zur Analyse der Aktivitäten moderner Staaten“, während der Begriff „Sozialstaat“ die rechtlich-normative Dimension fokussiere. In dieser Arbeit werden die Begriffe Wohlfahrtsstaat und Sozialstaat in ihren theoretischen und politischen Implikationen synonym verwendet. 356 Vgl. Kaufmann (2003b:16f.) 357 Kohl (2000:115-116) 358 Jens Alber zitiert nach Schmid (2000:3) 354
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Einer der prominentesten Ansätze im Rahmen der institutionell-vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung ist die 1990 erschienene Typologie von Gøsta Esping-Anderson. In seinem Werk „The Three Worlds of Welfare Capitalism“359 entwickelt er drei verschiedene wohlfahrtsstaatliche Modelltypen: den liberalen Wohlfahrtsstaat, den konservativen Wohlfahrtsstaat und den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat. Als Differenzkriterien werden dabei der Grad an Dekommodifizierung360, das Ausmaß an gesellschaftlicher Stratifizierung bzw. Destratifizierung361 sowie das jeweilige Mischungsverhältnis von öffentlicher und privater Vorsorge (public-private-mix) herangezogen. Nach Esping-Anderson ergeben sich daraus die spezifischen Charakteristika des konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatstypus (Tabelle 2). Ohne nun eine ausführliche Beschreibung der drei Typen anhand der Tabelle vorzunehmen, sollen kurz zentrale Unterscheidungsmerkmale der Modelle im Bereich der sozialen Sicherheit und im Bereich arbeitsmarktpolitischer Anpassungsstrategien veranschaulicht werden.362 Im Bereich der sozialen Sicherheit ist die jeweilige Bemessungsgrundlage von Leistungen das entscheidende Differenzkriterium. Während im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat die sozialen Leistungen unabhängig von vorher geleisteten Beträgen bzw. von vorherigem Erwerbseinkommen bemessen werden, hängen in den liberalen und konservativen Wohlfahrtsstaaten die Leistungen der sozialen Sicherheit von geleisteten Beiträgen bzw. dem vorherigen Erwerbseinkommen ab. So wird im liberalen Wohlfahrtsstaat eine individuelle Daseinsvorsorge über den Markt ermöglicht, wobei der Staat vor allem in Form sozial-regulativer Politik aktiv wird und am Markt dadurch Rechtssicherheit herstellt. Soziale Anspruchsrechte sind hingegen nur gering entwickelt und zumeist an Bedürftigkeitsprüfungen gebunden. Damit verbunden ist eine häufige Stigmatisierung von Betroffenen. Im konservativen Wohlfahrtsstaat hingegen wird soziale Sicherheit über nicht marktkonforme Pflichtversicherungen bereitgestellt, wodurch eine starke Anbindung von sozialen Rechten an Klasse und Status besteht. Das sozialdemokratische Modell hingegen ist universalistisch ausgerichtet, indem soziale Anspruchsrechte als soziale Bürgerrechte gewährleistet werden. Dadurch wird eine Stigmatisierung von Betroffenen verhindert. Zudem wird ein hohes Maß an Gleichheit angestrebt und ein umfangreiches Netz an sozialen Dienstleitungen zur Verfügung gestellt. Finanziert wird die soziale Sicherheit aus dem Staatshaushalt (Steuern).
359
Esping-Anderson (1990) Als Dekommodifizierung bezeichnet man die durch Sozialpolitik ermöglichte „Lockerung des Zwangs zur Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit und den Schutz vor Marktkräften und Einkommensausfällen.“ Schmid (2000:4f.) 361 Stratifizierung beschreibt die gesellschaftliche Differenzierung nach sozialen Schichten. Destratifizierung im Konzept von Esping-Anderson lässt sich folglich als die durch Sozialpolitik erreichte Überwindung von gesellschaftlicher Schichtung beschreiben, z. B. in Form einer Universalität von sozialen Rechten und Leistungen. 362 Eine ausführliche Beschreibung der Modelle findet sich im Originalwerk sowie bei Schmid (2000). Das Herausgreifen der beiden Bereiche soziale Sicherheit und arbeitsmarktpolitische Anpassungsstrategien orientiert sich an Thalacker (2006:116-120). 360
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Tabelle 2: Wesentliche Merkmale der drei Wohlfahrtsstaatsmodelle nach EspingAnderson konservativer Wohlfahrtsstaat
liberaler Wohlfahrts- sozialdemokratischer staat Wohlfahrtsstaat
Märkte (für Arbeit, für Institutionen zur BereitFamilie, subsidiäre Soliprivate Versicherungen stellung sozialer Sicherdargemeinschaften etc.) heit
Funktion des Staates
Grundlagen für den Erhalt von Leistungen
Staat
Gewährleistung von Regulierung zur HerstelRechtsansprüchen (z. B. lung von Rechtssicher- Erbringung von TransUnterhaltsrecht, Ausferleistungen heit für privatrechtliche gleich von Defiziten der Verträge Sozialversicherung) Erfüllung privat(frühere) Erwerbstätigrechtlicher Verträge keit, einkommensabhän(z. B. private Renten-/ universeller Rechtsansgige Beiträge, ggf. Status Krankenversicherung), pruch („soziale Grund(Beamte) rechte“) Versicherungsprämien Fürsorge/Sozialhilfe: Bedürftigkeitsprüfung
Arbeitsmarktpolitische Anpassungsstrategie Dominante Ebene der kollektiven Arbeitsbeziehungen Grad der „Dekommodifizierung“ Gesellschaftliche Entwicklungsdynamik
Reduktion des Arbeits- Senkung der Arbeitskos- Ausweitung öffentlicher angebots ten Beschäftigung Branchenebene (MesoKorporatismus in der Tarifpolitik) + betriebliche Ebene (Informations, Anhörungs-, ggf. Mitbestimmungerechte)
Betriebliche Ebene
Makro-Korporatismus, Tripartismus
mittel bis gering
gering
Hoch
Gruppenbildung, Segmentierung
Individualisierung
Homogenisierung
Quelle: Thalacker (2006:116)
Im Bereich der arbeitsmarktpolitischen Anpassungsstrategien unterscheiden sich die drei Modelle von Esping-Anderson in ihren Lösungsstrategien zur Förderung von Beschäftigung. Während liberale Wohlfahrtsstaaten primär auf Flexibilisierung und Deregulierung der Arbeitsmärkte, sozialpolitische Leistungskürzungen oder eine Verschärfung von Anspruchsbedingungen setzen, wird in konservativen Wohlfahrtsstaaten vor allem über eine Verringerung von Erwerbstätigen (z. B. in Form von Frühverrentungen, geringe Frauenerwerbsquoten etc.) agiert. Sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten bevorzugen Umschulungen und den Ausbau des öffentlichen Dienstes (so genannte „welfare state jobs“ z. B. im Bereich Erziehung und Betreuung). Schmid verweist (2000:5) im Zusammenhang der Esping-Anderson Typologie darauf, dass „in die institutionellen Besonderheiten der jeweiligen Modelle […] auch kulturelle Faktoren wie Leitbilder sowie gemeinschaftliche Vorstellungen von Gleichheit und Gerechtigkeit verwoben“ sind. Allerdings werden sie nicht eigens systematisiert, sondern schwingen nur implizit mit.
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An die Typologie von Esping-Anderson hat sich eine breite Diskussion angeschlossen, die in einer Vielzahl von Weiterentwicklungen der ursprünglichen drei Modelle mündete. Dabei handelt sich im Wesentlichen um politisch-ökonomische und institutionelle Problembeschreibungen anhand unterschiedlicher Indikatoren und Dimensionen. Einen guten Überblick dazu bietet der Artikel von Arts und Gelissen (2002)363. Für den Kontext dieser Arbeit sind jedoch die Ergänzungen von Opielka (2004) sowie das Modell von Edeltraud Roller (2002) von besonderem Interesse, da es bei der empirischen Analyse der Wohlfahrtsstaatskonzeptionen und -vorstellungen auf den Ebenen der politischen Sozio- und Deutungskultur nicht um eine Beschreibung der realen politisch-ökonomischen und institutionellen Strukturen und Bedingungen der jeweiligen Wohlfahrtsstaaten geht – diese bilden vielmehr die Hintergrundsfolie der Analyse – als vielmehr um die Identifikation der jeweiligen sozialpolitischen Ideen, Konzepte und Wertorientierungen, die den normativen Rahmen für sozialpolitische Gestaltungsprozesse auf nationaler aber auch auf europäischer Ebene364 liefern. Es geht also nicht darum, sozialpolitische Strukturen und die Implementation bestimmter Politiken zu erklären, sondern die Ideen, Werte und Vorstellungen, die solchen Strukturen und Prozessen vorangehen bzw. diese einrahmen, zu identifizieren und in einem europäischen Zusammenhang zu setzen. So verweist zum Beispiel Opielka (2004) darauf, dass sich Wohlfahrtsregime auch nach ihren unterschiedlichen Konzeptionen sozialer Gerechtigkeit rekonstruieren lassen. Dabei können anhand der Trias Staat, Markt, Gemeinschaft die unterschiedlichen politischen Ideologien samt dazugehörigen Gerechtigkeitskonzeptionen gruppiert werden, je nachdem welchem Steuerungssystem sie den Vorrang einräumen. Während Liberale den Markt bevorzugen und damit primär Leistungsgerechtigkeit zur legitimatorischen Grundlage ihrer Politik erheben, setzen Sozialisten, aber auch Sozialdemokraten zuallererst auf den Staat und damit auf ein Konzept von Verteilungsgerechtigkeit. Konservative hingegen sehen als wichtigstes Steuerungssystem die Gemeinschaft (Familie, Volk, Nation) an und sprechen sich für Bedarfsgerechtigkeit aus. Ein viertes Konzept sozialer Gerechtigkeit ist die Teilhabegerechtigkeit, deren „Referenz […] das Legitimationssystem der Gesellschaft [ist], darin vor allem Menschenrechte und (universalistische) Religionen; ihr politisches Projekt wäre – um einen Begriff von Claus Offe aufzugreifen – der „Garantismus“.“365 Die Leitidee des Garantismus knüpft an Bürger- und Grundrechte an, die jedem Bürger und jeder Bürgerin soziale Teilhabe „garantieren“ sollen. Politische Konzepte wie z. B. die Bürgerversicherung oder die Idee eines Grundeinkommens orientieren sich an dieser Leitidee. Mit Hilfe von zwei Differenzierungskriterien (nach Merkel 2001) entwirft Opielka (2004:49) eine Vier-Felder-Matrix, die die Regimetypen nach ihren Gerechtigkeitskonzeptionen gliedert. Das erste Kriterium bezieht sich auf ein Ausgangaxiom, welches sich in einem Kontinuum von absolut gesetztem Individuum auf der einen Seite und absolut ge-
363
Arts/Gelissen (2002) Wie in der Skript-Analyse aufgezeigt wurde, besitzt die europäische Ebene nur in bestimmten sozialpolitischen Bereichen eine Kompetenz-Kompetenz, in den meisten sozialpolitischen Bereichen hingegen sind es nach wie vor die Nationalstaaten, die nach dem Prinzip der Einstimmigkeit auf europäischer Ebene verhandeln bzw. im Rahmen der OMK die entscheidenden Akteure sind. Da für die nationalen Regierungen, der die nationale politische Kultur den Rahmen liefert, indem über ihre Wiederwahl entschieden wird, muss davon ausgegangen werden, dass auch bei Verhandlungen auf europäischer Ebene die nationale politische Kultur nach wie vor den Handlungsspielraum ihrer Akteure rahmt. 365 Opielka (2004:48) 364
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setzter Gemeinschaft auf der anderen Seite bewegt. Das zweite Kriterium verläuft zwischen „umverteilungsavers“ bis zu „umverteilungssensitiv“.366 Abbildung 6:
Regulative Leitideen sozialer Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat Ausgangsaxiom avers
Umverteilungsposition
sensitiv
Individuum
Gemeinschaft
Liberalismus (Leistungsgerechtigkeit)
Konservatismus (Bedarfsgerechtigkeit)
Sozialdemokratie (Verteilungsgerechtigkeit)
Garantismus (Teilhabegerechtigkeit)
Quelle: Opielka (2004:49)
Mit gewissen Problemen ist sicherlich die Einteilung der sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatskonzeption verbunden, da seit New Labour unter Tony Blair oder auch Gerhard Schröders Agenda 2010 eine stärkere sozialliberale Orientierung innerhalb des Mainstreams der europäischen Sozialdemokratie vorfindbar ist und viele klassische sozialdemokratische Positionen häufig nur noch bei sozialistischen bzw. Parteien links der Sozialdemokratie anzutreffen sind.367 Diese sozialliberale Wende im sozialdemokratischen Lager kann als ein Ergebnis der Debatte um die ‚Krise des Wohlfahrtsstaates’ betrachtet werden und steht folglich im Zusammenhang mit dem seit den 1990er Jahren aufkommenden Diskurs über den „Aktivierenden Staat“. Während Liberale und auch Konservative überwiegend über den Weg von (monetären) Leistungskürzungen und verschärften Anspruchsbedingungen (Pflichten) eine Aktivierung von Arbeitslosen zu erreichen suchen, setzen linke Parteien primär auf eine Aktivierung über Weiterbildungsangebote, Umschulungen, intensivere Betreuungsangebote etc . Darüber hinaus nehmen sie aber auch Anleihen bei liberalen Konzepten, indem sie ebenfalls Pflichten und Bedarfsprüfungen in ihr Aktivierungskonzept integrieren. Dieser Aktivierungsdiskurs ist für die Analyse der Parteiprogramme, aber auch des EU-Skripts von entscheidender Bedeutung, da er im Analysezeitraum (1990-2005) nicht nur in Deutschland sondern auch in Großbritannien und auf europäischer Ebene geführt wird und den wohlfahrtsstaatlichen Diskurs nachhaltig prägt. Opielka hat auf der Grundlage dieses Aktivierungsdiskurses eine Systematisierung der unterschiedlichen Konzeptionen und Ideen in die oben angesprochenen vier welfareregimes vorgenommen (Tabelle 3). Er verweist explizit auf die politisch-kulturellen Faktoren der Wohlfahrtsregime, in dem er die jeweilige Wertematrix, die den komplexen gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen zugrunde liegt, zum Bezugsrahmen der Systematisierung macht.368 Insofern wird der zugrunde liegenden sozialpolitischen Kultur ein erheblicher Stellenwert für die institutionellen Muster und Interessenkonfigurationen eingeräumt – aus ihr beziehen sie sozusagen ihren Sinngehalt. Auch Esping-Anderson hatte bereits auf die komplexen gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen hingewiesen, die den Wohlfahrts-
366
Ebd. S. 49 Opielka (2004:49), Meyer (2005) Vgl. ferner zu dieser Problematik weiter unten, Abschnitt 6.2.4. 368 Opielka (2004:287) 367
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typen zugrunde liegen.369 Diese haben jedoch erst in den letzten zehn Jahren zunehmend wissenschaftliche Beachtung erlangt.370 Tabelle 3: Welfare-regime-typen und Konzeptionen der Aktivierung liberal
sozialdemokratisch
Aktivierungssystem
Markt
Staat
Armutskonzept
welfare regime
konservativ
garantistisch
Gemeinschaft (FaSinn/Legitimation milie, Berufsstand)
Armut
Ungleichheit
Soziale Exklusion
Teilhabedefizienz
Sozialpolitischer Adressat, Subjektbegriff
Produzent / Kunde
Arbeitnehmer / Sozialbürger
Familienperson / Gruppenselbst
Individuum / autonomer Bürger
Aktivierungskonzept
‚Normalisierung’/ ‚workfare’ / Inklu‚aktivierender Staat’ Inklusion durch sion durch Produk/Inklusion durch Familienpolitik, tivismus (ohne erweiterte ‚ArbeiGruppenpolitik soziale Dienstleisterpolitik’ (Minoritäten) tung)
‚Empowerment’ / Inklusion als Grundrecht
Interventionsfokus
monetäre I.
rechtliche I.
pädagogische I.
ökologische I.
Ressourcenfokus
Ökonomische R.
Rechtliche R.
Verhaltens-R., Moral
Handlungskompetenzen, Ethik
Konzeption sozialer Gerechtigkeit
Leistungsgerechtigkeit
Verteilungsgerechtigkeit
Bedarfsgerechtigkeit
Teilhabegerechtigkeit
Quelle: Opielka (2004:90)
Zur Untersuchung der sozialpolitischen Kultur auf der Ebene der Bürger hat vor allem Edeltraud Roller (2000) mit ihrer empirisch angewendeten Typologie zur Analyse von wohlfahrtsstaatlichen Bevölkerungseinstellungen einen wichtigen Beitrag geleistet.371 Sie unterscheidet vier Modelle: ein liberales, ein christdemokratisches, ein sozialdemokratisches und ein sozialistisches. Das liberale Modell zeichnet sich durch eine minimale staatliche Verantwortung für Einkommenssicherheit in Risikofällen (Krankheit, Alter etc.) aus und entspricht damit einem wohlfahrtsstaatlichem Grund- oder Minimalmodell, indem ausschließlich die großen Lebensrisiken staatlich abgesichert werden. Das christdemokratische Modell zeichnet sich durch eine umfassende Staatsverantwortung für die Einkommenssicherheit in Risikofällen, sowie für sozio-ökonomische Chancengleichheit (insbesondere durch Maßnahmen im Bildungsbereich) aus. Im sozialdemokratischen Modell übernimmt der Staat darüber hinaus Verantwortung für die Nivellierung sozio-ökonomischer Ungleichheit (Ergebnisgleichheit) und Vollbeschäftigung.
369
Esping-Anderson (1990:21ff.) Siehe dazu u. a. Rieger/Leibfried (2004), Mau (2003), Merkel (2001), Rothstein (2001) 371 Roller (2000) 370
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Im sozialistischen Modell übernimmt der Staat zusätzlich die Kontrolle von Löhnen und Gehältern und betreibt ökonomische Interventionen.372 Tabelle 4: Wohlfahrtsstaatstypologie nach Roller (2000) Modell
Ausprägung
Für diejenigen, die sich über den Markt nicht selbst versorgen können insbesondere Alte Kranke, Behinderte, Arbeits- und Wohnungslose
Liberales Modell Grundmodell ChristdemokratiGrundmodell+ sches Modell
Staatliche Verantwortung
plus Chancengleichheit
Absicherung von Lebensrisiken und Bildungspolitik
Sozialdemokratisches Modell
Absicherung von Lebensrisiken, plus Vollbeschäftigung Bildungspolitik, Politiken zum Abbau Grundmodell ++ plus Ergebnisgleichheit von Ungleichheiten und Beschäftigungspolitik
Sozialistisches Modell
plus Kontrolle von Absicherung von Lebensrisiken, Löhnen und Gehältern Bildungspolitik, Politiken zum Abbau Grundmodell +++ plus ökonomische Inter- von Ungleichheiten, Beschäftigungsventionen und Lohnpolitik sowie staatliche Marktinterventionen.
Quelle: Eigene Darstellung
Edeltraud Roller bestimmt ihre vier Modelle anhand einer einzigen analytischen Dimension, indem sie das Ausmaß an Dekommodifizierung als Differenzkriterium heranzieht. Diese Fokussierung auf nur eine analytische Dimension hat den Vorteil, dass sich diese Typologie gut für den empirischen Vergleich von Bevölkerungseinstellungen operationalisieren lässt.373 Da Typologien stets vereinfachen und die in der Realität vorfindbare Fülle an Merkmalen nicht eins zu eins abbilden können, stehen den oben beschriebenen Idealtypen in der Realität immer Mischformen gegenüber, in denen Elemente der unterschiedlichen Typen miteinander verbunden werden.374 Für die Betrachtung der europäischen Ebene kommt noch hinzu, dass europäische Sozialpolitik nicht nur keinem eindeutig abgrenzbaren Typus zuzurechnen ist, sondern zudem hochgradig segmentiert ist und nur sozialpolitische Teilbereiche abdeckt. Folglich wird das sozialpolitische EU-Skript anhand seiner einzelnen Elemente untersucht und die tendenzielle Orientierung der enthaltenen Konzepte und Leitideen an einem Idealtypus herausgearbeitet. Eine Untersuchung der einzelnen Elemente hat den Vorteil, dass im Rahmen der Analyse „auch punktuelle Veränderungen einzelner Teilsys-
372
Roller (2000) Die vier Modelle bauen aufeinander auf, indem der Umfang staatlicher Verantwortung ausgedehnt wird. 373 Esping-Anderson zum Beispiel bestimmte seine Modelle anhand von drei analytische Dimensionen (Dekommodifizierung, Stratifizierung, Verhältnis Staat vs. Markt), was sich für den statistischen Vergleich mit Hilfe vorhandener Datensätze als zu komplex erweist. 374 So ist in Großbritannien zum Beispiel ein Gesundheitssystem sozialdemokratischer (universeller) Prägung einerseits und eine liberale, weitgehend deregulierte und flexible Arbeitsmarktordnung andererseits anzutreffen. Vgl. auch Thalacker (2006:120)
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teme […], die sich in der Tendenz auf die Charakterisierung des wohlfahrtsstaatlichen Gesamtsystems eines Landes auswirken“ dargestellt werden können.375 5.4.2 Einordnung des EU-Skripts Eine Einordnung des EU-Skripts hinsichtlich der angestrebten sozialpolitischen Ausgestaltung der Union muss zwei wesentliche europäische „Besonderheiten“ berücksichtigen: einerseits, dass die europäische Ebene nur eine ergänzende sozialpolitische Gestaltungsarena darstellt, so dass für die Verortung des sozialen EU-Skripts mitunter auch darauf geachtet werden muss, welche Haltung die EU zur Ausgestaltung der nationalen Wohlfahrtsstaaten vorsieht. Zum anderen muss zwischen dem normativem Selbstverständnis bzw. den angestrebten Zielen (EU-Skript) und der tatsächlichen sozialpolitischen Politikimplementation auf europäischer Ebene differenziert werden. Somit muss das normative Selbstverständnis zu einem gewissen Grad auch an die realen Bedingungen auf europäischer Ebene für seine Umsetzung rückgekoppelt werden (EU-Kompetenzen, Verhältnis zur Wirtschaftsund Wettbewerbspolitik etc.), um eine angemessene Einschätzung vornehmen zu können, in welche Richtung das EU-Skript eine sozialpolitische Wirkung entfaltet. Eine erste grobe Betrachtung der oben dargestellten Etappen in der Entwicklung der sozialen Dimension lässt deutlich werden, dass bis zur Einheitlichen Europäischen Akte eine im Prinzip liberale Orientierung des EU-Skripts vorgelegen hat, da es sich fast ausschließlich mit der Schaffung des Gemeinsamen Marktes auseinandersetzte und in diesem Kontext vor allem den Abbau von Handelshemmnissen zum primären Ziel der Integration erhob. Sozialpolitik, verstanden als regulative Sozialpolitik, wurde im Großen und Ganzen nur in wenigen, für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes notwendigen Punkten (Sicherheit und Schutz am Arbeitsplatz) behandelt und spielte eine eher unbedeutende Rolle. Dies entspricht – wenn man so will – am ehesten einem liberalen sozialpolitischen Zugang, da vor allem „liberale Wohlfahrtsstaaten“ auf regulative Sozialpolitik zurückgreifen müssen, um Rechtssicherheit für die Marktteilnehmer herzustellen, die für ihre soziale Absicherung primär auf den privatwirtschaftlichen Markt verwiesen werden.376 Mit der Einführung des sozialen Dialogs auf europäischer Ebene sowie dem Beginn der Grundrechtsentwicklung (Sozialcharta, Chancengleichheit und Bildung von Humankapital) im Zuge der Vertragsreformen 1986 und 1992 finden erstmals auch christdemokratische und vor allem sozialdemokratische Elemente Eingang in das EU-Skript. Auch lässt sich erstmals ein sozialpolitisches Leitbild erkennen, welches sich an einem „aktivierenden Wohlfahrtsstaat“ orientiert. Mit der Aufwertung der sozialen Dimension vor allem im Vertrag von Amsterdam (1997) und vor dem Hintergrund der weiteren Entwicklungen (Nizza, VVE, Lissabon) lässt sich das EU-Skript im Sinne der drei oben genannten wohlfahrtsstaatlichen Typologien als eine Mischung aus dem liberalen und dem sozialdemokratischen Modell beschreiben. 375
Thalacker (2006:120) Siehe auch seine Ausführungen zur Kritik der Pfadabhängigkeit und der Möglichkeit von Pfadwechseln (S. 120-126) 376 Diese Konzentration auf die negative Integration (vor allem in den Römischen Verträgen) lässt sich dadurch erklären, dass zum damaligen Zeitpunkt angesichts geringer Arbeitslosigkeit und gut funktionierender Systeme der sozialen Sicherheit (insbesondere in Deutschland) (noch) keine Notwendigkeit für gemeinsame sozialpolitische Maßnahmen gesehen wurde.
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5 Europäisches Skript
Tabelle 5: Tendenzielle Einordnung des EU-Skripts anhand der Wohlfahrtsstaatstypologien Esping-Anderson (1990)
Roller (2000)
Opielka (2004)
Anhand der Ziele: Armutskonzept SozialAktivierungssysGrundlage für Liberal & z. T. demokratisch tem den Erhalt von SozialAktivierungsLeistungen demokratisch konzept
Liberal / Garantistisch
Sozialpolitischer Adressat
Sozialdemokratisch
Gerechtigskeitskonzept
Garantistisch
Staatsfunktion
Tendenzielle Ausrichtung des EU-Skripts Arbeitsmarktpolitische nach: Anpassungsstrategie Arbeitsbeziehungen
Liberal
Liberal Sozialdemokratisch
Konservativ Liberal
Quelle: Eigene Darstellung
Mit Opielka lassen sich auch Elemente des garantistischen Modells erkennen (Grundrechte, Gerechtigkeitskonzeption). Diese als sozialliberal zu charakterisierende Ausrichtung des EU-Skripts kann nun anhand entscheidender Policy-Ziele und den damit verbundenen Konzepten und Instrumenten näher begründet werden. Als sozialdemokratische Elemente des EU-Skripts lässt sich erstens die Einbindung der Sozialpartner auf europäischer Ebene im Rahmen des Sozialen Dialogs kennzeichnen, zweitens die Formulierung von Grundrechten, die neben den klassischen Freiheits- und Bürgerrechten auch soziale Grundrechte umfassen377, drittens wird im Rahmen der EBS die Inklusion in den Arbeitsmarkt maßgeblich durch Qualifizierung und verbesserte Bildung angestrebt. Nach der Typologie von Roller ist das erklärte Ziel der Vollbeschäftigung (mit Betonung der Förderung von Frauenerwerbstätigkeit) ebenfalls charakteristisch für sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten, zudem entspricht das Bekenntnis zu einer „sozialen Marktwirtschaft“ im Lissabon-Vertrag einer sozialdemokratischen Orientierung des EUSkripts.378 Liberale Elemente des sozialpolitischen Skripts sind vor allem im wirtschaftspolitischen Ansatz der Wettbewerbsfähigkeit als primäres Leitkonzept im Rahmen der Lissabon Strategie erkennbar. In diesem Zusammenhang wird vor allem die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte anvisiert, was letztlich zu einer Aufweichung des geschützten Arbeitsmarktes führt und atypische Beschäftigungsverhältnisse befördert, die dem Arbeitnehmer/der Arbeitnehmerin weniger soziale Sicherheit bieten. In diesem Kontext formuliert die EU folglich ein vorrangig aktivierendes, erwerbsbezogenes Konzept von Sozialpolitik, wie es ebenfalls im Rahmen der nach wie vor dominierenden Markt- und Wettbewerbspolitik der EU deutlich wird. Als ein ganz wesentliches sozialpolitisches Ziel der EU ist folglich die 377
Zwar haben diese Grundrechte noch keine rechtliche Verbindlichkeit erlangt, und auch im Falle der Annahme des Lissabon-Vertrages dürfen sie nicht dazu benutzt werden, EU Kompetenzen auszuweiten, nichtsdestotrotz stellen sie aber ein klares Bekenntnis des europäischen Selbstverständnisses dar. Vgl. dazu die Ausführungen unter 5.4.6. 378 Dieses Bekenntnis wird allerdings wieder dadurch relativiert, dass im AEUV dann wieder nur von einer „freien“ bzw. „offenen“ Marktwirtschaft gesprochen wird.
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Schaffung eines integrierten Arbeitsmarktes zu nennen (Desegmentierung des Arbeitsmarktes, Abbau von Diskriminierungen, freier Marktzugang etc.), zu dessen Funktionsfähigkeit flankierende Mindeststandards im Bereich des Arbeitsrechts verabschiedet wurden. Daraus folgt, dass eine soziale Absicherung primär über Beschäftigung und Beschäftigung über Wachstum gewährleistet werden soll. Die Begründungen für sozial- und beschäftigungspolitische Maßnahmen im EU-Skript sind demnach zumeist wirtschaftlicher Art, indem sie zum Erfolg des Binnenmarktes beitragen sollen und in den größeren Kontext der Anpassungsnotwendigkeiten im Rahmen der fortschreitenden Globalisierung verankert werden. Flexibilität als eine arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitische Leitidee des europäischen Aktivierungskonzeptes entspringt ursprünglich einem liberalen Ansatz, da hierbei die Absicherung von Individuen primär über den Markt im Vordergrund steht. Allerdings gibt es wie oben dargestellt wurde unterschiedliche Aktivierungsstrategien, wo sich die EU für eine sozialdemokratische (weiche) Variante ausspricht (über Bildung und Qualifizierung). Das vor diesem Hintergrund verfolgte Flexicurity-Konzept ist somit exemplarisch für die spezifische Verbindung von sozialdemokratischen und liberalen Elemente im sozialpolitischen Skript der EU.379 Im Großen und Ganzen steht der „liberale Teil“ des sozialpolitischen Skripts ganz im Dienste des Binnenmarktprojektes und ist Ausdruck des wirtschaftspolitischen Selbstverständnisses der EU, wonach sie als primäres Ziel die Wettbewerbsfähigkeit unter den Bedingungen der Globalisierung ausgibt. Beschäftigungspolitik erscheint hierbei als die beste Sozialpolitik (ähnlich dem liberalen workfare-Ansatz). Inwieweit eine solche Verkürzung von Sozialpolitik nicht nur als Beleg für die Befürwortung eines eindeutig liberalen Wirtschafts- und Sozialmodells gewertet werden sollte, sondern möglicherweise auch als ein Ausdruck der begrenzten Kompetenzen der europäischen Ebene betrachtet werden muss, da sie nur eine ergänzende Ebene sozialpolitischer Entscheidungsfindung darstellt, bleibt schlussendlich immer auch eine Frage der Betrachtung. Fakt ist, dass auf europäischer Ebene eine Duplizierung des nationalen Wohlfahrtsstaates bis heute ausblieb und auch auf absehbare Zeit keine Realisierungschancen besitzt. Insofern ist für eine Einordnung des europäischen Skripts nicht ganz unerheblich, welche Bedeutung den nationalen Wohlfahrtsstaaten zukommt. Diese sollen im Sinne des Sub379
Problematisch im Rahmen der unternommenen Zuordnung der einzelnen Elemente des EU-Skripts ist sicherlich die Tatsache, dass sich vor allem sozialdemokratische, aber in schwächerer Form auch liberale und christdemokratische sozialpolitische Ziele, Strategien und Instrumente in den letzten zehn Jahren nachhaltig verändert haben, was in der hiesigen Zuordnung keine ausreichende Berücksichtigung finden konnte. In der von Merkel et al. (2006) vorgelegten Darstellung der Entwicklung sozialdemokratischer Ziele und Strategien (Mitte der 1970er Jahre bis Mitte der 1990er Jahre) wird dieser Wandel nachgezeichnet und anhand der empirischen Befunde eine Differenzierung sozialdemokratischer Politiken vorgenommen. Dabei wird zwischen traditionellen, modernisierten und liberalisierten Merkmalen sozialdemokratischer Ziele und Strategien unterschieden (Vgl. Merkel et al. 2006:383f). Dieser Ausdifferenzierung folgend würde das EU-Skript am ehesten einem modernisierten sozialdemokratischen Typus entsprechen. Der oben vorgeschlagenen Einordnung des EU-Skripts in sozialdemokratische und liberale Elemente liegt hingegen ein eher statisches Analyseraster wohlfahrtsstaatlicher Kategorien zu Grunde, dass die Entwicklungstendenzen insbesondere sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaats-konzeptionen nicht im Einzelnen abzubilden vermag. Diese vereinfachende Vorgehensweise musste gewählt werden, da eine weitere Ausdifferenzierung der unterschiedlichen Modelle – z. B. in Analogie zu Merkel et al. (2006) – letztlich zu einer zu starken Ausdifferenzierung innerhalb der vier Modelle geführt hätte, so dass beim späteren Vergleich mit den politischen Deutungs- und Soziokulturen keine angemessene Vergleichsgrundlage vorliegen würde. Denn eine Ausdifferenzierung des sozialdemokratischen Modells hätte auch eine weitere Ausdifferenzierung des liberalen und christdemokratischen Modells nach sich gezogen, was der Klarheit und der Darstellung der positionellen Verschiebungen über einen längeren Zeitraum hinweg abträglich gewesen wäre.
132
5 Europäisches Skript
sidaritätsprinzips, dessen Einhaltung seit Maastricht eingeklagt werden kann, die soziale Absicherung – wenn auch auf unterschiedlichen Wegen – gewährleisten. Diese Gewährleistungsverpflichtung von Seiten der Nationalstaaten sagt jedoch noch nichts über die Höhe und das Ausmaß an sozialen Leistungen aus, so dass es sich dabei sowohl um ein Grundmodell handeln kann als auch um ein umfassendes (universelles) Modell. Inhaltliche Anhaltspunkte dazu, welche Entwicklungen im Zuge der Modernisierung der nationalen Wohlfahrtsstaaten von der europäischen Ebene begrüßt werden, können anhand der Kommissions-Bewertungen im Rahmen der OMK abgeleitet werden. Diese Bewertungen können zu einem gewissen Grad als ein Ausdruck dafür herangezogen werden, welches Modell bzw. welche Elemente – wenn auch auf nationaler Ebene – im Selbstverständnis der EU zukunftsweisend sind. So ist es zum Beispiel verwunderlich, dass obwohl in der wissenschaftlichen Literatur überwiegend eine liberale Orientierung der EU im Sinne der welfare regimes konstatiert wird, in den Länderbewertungen aber sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten am besten abschneiden.380 Darüber hinaus müssten dann die Wohlfahrtsstaaten, die am ehesten das liberale Modell repräsentieren und damit dem von der EU befürworteten Modell am nächsten kommen, letztlich den bisherigen Integrationsprozess voll unterstützen. So ist aber kaum erklärbar, warum ein primär liberaler Wohlfahrtsstaat wie Großbritannien bisher die größten Schwierigkeiten mit der sozialen Dimension europäischer Integration hatte, wenn diese doch letztlich einem liberalen Modell folgt. Bei der Kommissions-Bewertung der Länderfortschritte im Rahmen des LissabonProzesses werden zwar einerseits liberale Elemente, wie Arbeitsmarktflexibilisierung und Aktivierungsstrategien, die zu einer Reintegration in den Arbeitsmarkt führen, befürwortet und positiv bewertet, zugleich wird aber auch gefragt, inwieweit Armutsgefährdung verhindert und was an qualifikations- und bildungspolitischen Maßnahmen zur Verfügung gestellt wird. Hierbei wird deutlich, dass eben nicht einfach ein liberales Modell favorisiert wird, welches Gefahr läuft, eine so genannte working poor hervorzubringen, sondern bei aller Flexibilisierung und Liberalisierung zugle381ich ein hohes Maß an sozialer Sicherheit sowie gesellschaftlicher Chancengleichheit durch Bildungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten verwirklicht werden soll.382 Zur Verdeutlichung sei auf eine Studie des World Economic Forums (2006) verwiesen, in der anhand der Bewertungsindikatoren der LissabonStrategie ein Ranking der Länder vorgenommen wurde. Dieses zeigt auf, dass Länder wie Dänemark, Finnland und Schweden auf den ersten Plätzen rangieren.
380
Stellvertretend für viele Thalacker (2006), Streeck (1998), Scharpf (2008), Gerhards (2004) World Economic Forum (2006:5) Die Kommission selbst nimmt ein solches Länderranking nicht vor, sondern veröffentlicht lediglich die Indikatoren und die nationalen Bewertung zu den Länderreformfortschritten. Sie will somit nicht in Verbindung mit „Naming-and-Shaming“ Methoden gebracht werden. 382 Vgl. die Leitlinien der Kommission im Rahmen der Lissabon Strategie unter http://ec.europa.eu/ growthandjobs/national-dimension/index_de.htm (10.10.2008), sowie die Analysen der Kommission zu den nationalen Reformprogrammen http://ec.europa.eu/growthandjobs/european-dimension/200712-annual-progressreport/index_de.htm (10.10.2008) 381
5 Europäisches Skript Abbildung 7:
133
Bewertung der EU-Mitgliedsstaaten anhand der Lissabon-Indikatoren 2006 Gesamt
Social Inclusion
Dänemark
1
1
Finnland
2
2
Schweden
3
3
Niederlande
4
4
Deutschland
5
10
Großbritannien
6
9
Österreich
7
8
Luxemburg
8
5
Frankreich
9
15
Belgien
10
6
Irland
11
7
Estland
12
12
Portugal
13
17
Tschechische Republik
14
11
Spanien
15
23
Slowenien
16
19
Ungarn
17
16
Slowakische Republik
18
18
Malta
19
13
Litauen
20
20
Zypern
21
14
Lettland
22
21
Griechenland
23
22
Italien
24
24
Polen
25
25
Quelle: World Economic Forum (2006:6)
Der Teilindikator Social Inclusion misst erstens die Leistungsfähigkeit der nationalen Systeme, Menschen wieder in Arbeit zu bringen, zweitens die Bildungs- und Qualifikationsförderung und drittens die Modernisierung der sozialen Sicherheit (Armutsgefährdung, Einkommensunterschiede etc.) misst. Dabei fällt auf, dass erneut die skandinavischen Länder sowie die Niederlande höchste Platzierungen erreichen, da sie einen flexiblen Arbeitsmarkt mit guten Reintegrationsquoten, Qualifizierungsangeboten und sozialer Absicherung verbinden, während Großbritannien zwar auch ein hohes Maß an Beschäftigung aufzuwei-
134
5 Europäisches Skript
sen hat, aber gleichzeitig bei sozialer Exklusion schlecht abschneidet, so dass es nur auf Platz 9 des Rankings kommt.383 Vor diesem Hintergrund scheint eine Einordnung des europäischen sozialpolitischen Skripts als sozialliberal zutreffender, als von einem rein liberalen Modell zu sprechen. Die liberale Lesart berücksichtig zwar stärker die nach wie vor vorhandene Asymmetrie zwischen negativer und positiver Integration, wonach die EU im Rahmen der negativen Integration nach wie vor mehr Gestaltungsmacht (hard law Kompetenzen) besitzt als auf dem Gebiet positiver Integration, verkennt aber die mögliche normative Wirkung, die von Seiten der europäischen Ebene im Rahmen der OMK ausgehen kann. Demnach beruft sich die EU ihrem Selbstverständnis nach auf ein modernisiertes Sozialmodell, welches neben liberalen Elementen ebenfalls sozialdemokratische Elemente verteidigt. Unter dem Begriff des „Europäischen Sozialmodells“ wird eine sozialliberale Modernisierung der nationalen Wohlfahrtsstaaten verstanden. Allerdings muss das EU-Skript vor dem Hintergrund der konstatierten Asymmetrie und Einschränkungen derzeit [noch] als liberal-sozial bezeichnet werden. Die normative Orientierung kann zwar als sozial-liberal gelten, die reale Wirkungsrichtung der bisherigen politischen Entscheidungen hat aufgrund der anhaltenden Asymmetrie zwischen positiver und negativer Integration eine stärker liberale Ausprägung. Für den bisherigen Stand der Integration (Vertrag von Nizza) erscheint somit die Einordnung als liberal-sozial angemessen, wobei die soziale Ausrichtung mit dem Vertrag von Lissabon eine Aufwertung erfahren würde, was letztlich einer sozialliberalen Gewichtung des Skripts entspräche.384 Die Einordnung des EU-Skripts als „liberal-sozial“ hat den Vorteil, nicht nur den normativen Anspruch der EU in der Formulierung ihrer Zielsetzungen, sondern auch die bisher vorhandene Sozialpolitik und ihre Wirkungsrichtung zu berücksichtigen – umso mehr, da die europäische Ebene sozialpolitisch nur in den Bereichen Arbeitschutz, Arbeitnehmerrechte und Gleichstellung Möglichkeiten zur Umsetzung allgemein verbindlicher Richtlinien besitzt (hard law), im Bereich Beschäftigungspolitik, Modernisierung der nationalen Sozialsysteme und Bekämpfung sozialer Exklusion hingegen nur in Form von Empfehlungen, Vorschlägen und Ideen wirken kann. Aus dieser strukturellen Konstellation ergibt sich zwangsläufig eine Asymmetrie in der europäischen Politikwirkung, da europäische Politik wie auch ihre Rechtssprechung letztlich immer nur auf der Grundlage dieser asymmetrischen Kompetenzzuweisungen stattfinden kann.385 Trotz einer dominanten Marktorientierung, die sich auch im Rahmen der Beschäftigungspolitik wieder finden lässt und als liberal zu apostrophieren ist, zeigt sich in der Formulierung der Unions-Ziele und sozialpolitischen Leitkonzepte der EU eine Orientierung 383
Diese Bewertung des World Economic Forums – illustriert am Beispiel Großbritanniens – ist plausibel, da in der Bewertung der nationalen Reformfortschritte der Kommission vom Dezember 2006 Großbritannien große Defizite im Bereich der sozialen Inklusion attestiert werden. Vgl. dazu European Commisson (APR) (2006:33) 384 Die vorgenommenen Differenzierungen zwischen liberal-sozial als Status quo und sozialliberal unter Berücksichtigung des Lissabon-Vertrages ist der Tatsache geschuldet, dass sich die EU in einem permanenten Wandlungsprozess befindet und derzeit in einem Zwischenstadium zwischen zwei Skript-Versionen verweilt. 385 Beispielhaft sind hier die Gerichtsurteile des Europäischen Gerichthofes zur Aushebelung des Streikrechtes im Laval-Urteil und zur Außerkraftsetzung von Tarifvereinbarungen in den Fällen Viking und Rosdorf, die deutlich machen, dass nationale soziale Rechte von Seiten des übergeordneten EU-Rechts ausgehebelt werden. Solche Urteile werden auf der Grundlage des europäischen Rechts im Rahmen der Verträge gefällt, so dass den vier Freiheiten Vorrang vor sozialen nationalen Bestimmungen eingeräumt wurde, siehe dazu Höpner (2008). Eine Ratifizierung des Lissabonner Vertrages könnte in solchen Fällen ein Fortschritt dahingehend darstellen, dass Urteile des EuGH in Zukunft die sozialen Belange stärker berücksichtigen können und müssen.
5 Europäisches Skript
135
an (modernen) sozialdemokratischen Konzepten und Strategien. Inwieweit diese normative Ausrichtung ebenfalls reale Wirkungskraft entwickelt, hängt von der Bereitschaft der Mitgliedsstaaten ab, diese Konzepte und Ideen auch umzusetzen. Dabei ist der nationale Handlungsrahmen, der durch die jeweilige politische Kultur geprägt wird, von entscheidender Bedeutung, da die nationalen Regierungen nur dann ein Interesse an deren Umsetzung haben, wenn diese von den Bevölkerungen auch akzeptiert und unterstützt werden. Um von einer „sozialen Dimension europäischer Identität“ sprechen zu können, müsste also in den politischen Kulturen der Mitgliedsstaaten ähnliche Wertvorstellungen und Konzeptionen befürwortet werden und der europäische Bezug zum Erhalt bzw. Ausbau erkennbar werden. Dann (erst) bestünde die Chance, dass das „Europäische Sozialmodell“ eine identitätsstiftende Wirkung entfaltet.
6 Sozio-Kultur: Wohlfahrtsstaatliche Vorstellungen in den Bevölkerungen einzelner europäischer Gesellschaften
Um eine realistische Einschätzung des europäischen Skripts nicht nur seinem normativen Selbstverständnis nach, sondern auch hinsichtlich seiner Wirkungsweise abgeben zu können, die einen entscheidenden Einfluss auf die Wahrnehmung der EU durch die Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten hat, musste bei der Analyse des EU-Skripts und dessen Einordnung anhand von analytischen Kategorien der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung zwischen der normativen Ausrichtung einerseits und den bisher vorhandenen (sozial-)politischen Gestaltungskompetenzen und der Realwirkung europäischer Politik andererseits differenziert werden. 6.1 Wohlfahrtstaatliche Kultur der Länder Wie unter 4.3. erörtert, beschreibt politische Sozio-Kultur das aggregierte Spektrum an Wertorientierungen, Einstellungen und Meinungen, das in einer Bevölkerung hinsichtlich des politischen Systems in seinen drei Dimensionen zum Ausdruck kommt. Die Frage, inwieweit das EU-Skript in seiner sozialen Dimension durch die vorhandenen wohlfahrtsstaatlichen Einstellungen im Rahmen nationaler Sozio-Kulturen getragen wird, soll im Folgenden auf der Grundlage von repräsentativen Bevölkerungsumfragen des International Social Survey Programmes (ISSP) und des Special Eurobarometers 251/2006 beantwortet werden. Dabei knüpft die Untersuchung methodisch als auch theoretisch an die Arbeit von Jürgen Gerhards über die „Kulturellen Unterschiede in der Europäischen Union“ aus dem Jahre 2005 an, stützt sich dabei aber nicht nur auf die Daten von 1996, sondern kann mit den ISSP-Daten von 2006 einen Vergleich zwischen diesen beiden Zeitpunkten vornehmen.386 Dieser Vergleich ist insofern interessant, als zwischen den beiden Erhebungszeiträumen der Diskurs um die Krise des Sozialstaates aus den Elitekreisen herausgetreten war, die allgemeine politische Öffentlichkeit erreichte und zudem wichtige wohlfahrtsstaatliche Reformen in den meisten europäischen Ländern vollzogen wurden. Zugleich ist dies der Zeitraum, in dem eine Neuorientierung vor allem vieler sozialdemokratischer Parteien in Europa zu beobachten ist, also genau der Parteien, die sich traditionell am stärksten über ihre wohlfahrtsstaatlichen Politiken und Konzeptionen profilieren konnten.387 Hinzu kommt, dass den Einstellungen der Bevölkerungen hinsichtlich des Wohlfahrtsstaates im Allgemeinen ein hoher Grad an Persistenz zugeschrieben wird, so dass mögliche Differenzen in den Umfrageergebnissen zwischen 1996 und 2006 durchaus auf grundlegende Ein386
Gerhards (2005), vgl. dazu auch die Anmerkungen unter 2.2. Nicht zuletzt wird auch aufgrund dieser ideologischen Positionsverschiebungen (sozialdemokratischer aber auch christdemokratischer bzw. konservativer Parteien) in den Parteiensystemen Europas das Aufkommen/ bzw. der Erfolg mehr oder weniger extremistischer Parteien am linken und am rechten Rand seit Mitte der 1990er Jahren erklärt. Ein prominentes Beispiel ist dabei die Entwicklung der Partei ‚Die Linke’ in Deutschland.
387
6 Sozio-Kultur
137
stellungsänderungen verweisen könnten.388 Natürlich ist eine Erhebung lediglich an zwei Zeitpunkten über einen Zeitraum von zehn Jahren nicht als optimal anzusehen – eine z. B. jährliche Erhebung könnte die Wahrscheinlichkeit von zufälligen Ergebnisschwankungen wesentlich vermindern –; dennoch scheint die Gefahr kurzfristig beeinflusster Umfrageergebnisse in Anbetracht tief verwurzelter Grundüberzeugungen weniger gegeben, wie es bei Wohlfahrtsstaatsvorstellungen angenommen werden kann389. Deshalb können die Daten durchaus Aussagekraft für sich beanspruchen. Darüber hinaus liefern die Daten aber vor allem ein relativ aktuelles Bild der Orientierungen im Rahmen der politischen Wohlfahrtsstaatskulturen, was insbesondere für den Vergleich mit dem EU-Skript von hoher Relevanz ist. Die folgende Untersuchung baut sowohl auf Gerhards (2005) wie auch auf der Typologie von Edeltraud Roller (siehe 5.4.1) auf. Eingang in die Analyse finden zunächst alle EUMitgliedsstaaten, die in den ISSP Datensätzen von 1996 und 2006 berücksichtigt wurden, wobei ein besonderer Fokus auf die drei Untersuchungsländer Deutschland, Polen und Großbritannien gelegt wird. 6.2 Wohlfahrtsstaatliche Ideen in EU-Staaten (Einstellungsanalyse) Um einen ersten Zugang zu den Wohlfahrtsstaatseinstellungen der Bürger zu ebnen, wird zunächst untersucht, inwieweit eine staatliche Risikoabsicherung, als wesentliches Charakteristikum von Wohlfahrtsstaaten, von den Bürgern befürwortet wird. Im Sinne Rollers Grundmodell geht es also um die Frage, inwieweit eine staatliche Unterstützung für diejenigen Gruppen (Arbeitslose, Kranke, Behinderte, Alte und Wohnungslose), die sich nicht selbst über den Markt versorgen können, gewährleistet sein soll. Ob ein solches Grundmodell unterstützt wird, lässt sich im ISSP Datensatz mit den folgenden vier Fragen operationalisieren: „Der Staat sollte (auf jeden Fall) verantwortlich sein für a) die gesundheitliche Versorgung von Kranken, b) einen angemessenen Lebensstandard von Alten, c) eine angemessene Wohnung für solche Menschen, die sich selber keine leisten können und d) einen angemessenen Lebensstandard von Arbeitslosen.“390
Die Ergebnisse (Tabelle 6) machen zunächst einmal deutlich, dass ein solches Grundmodell in allen Ländern auf hohe Zustimmungswerte stößt. Bei der gesundheitlichen Versorgung liegt die Zustimmung der Befragten 1996 mit Ausnahme Frankreichs (88 %) zwischen 96 % und 99 %, 2006 liegen alle Werte im 90 %-Bereich. Für beide Zeitpunkte ergibt sich im Länderdurchschnitt eine Zustimmung von rund 97 %. Ähnlich verhält es sich bei der Rentenfrage, wo 1996 und 2006 der durchschnittliche Zustimmungswert ebenfalls bei rund 97 % liegt. Die staatliche Unterstützung für Wohnungen erzielt dafür bereits etwas geringere Zustimmungswerte, ist aber mit durchschnittlich 86 % (1996) und 84 % (2006) ebenfalls 388
So verweist zum Beispiel Rohe darauf, dass der Wohlfahrtsstaat als Quelle staatlicher Legitimation im Rahmen der Sozio-Kulturen als weitgehend unbestrittenes Deutungsmuster verankert sei. Rohe (1994:170f.). 389 Vgl. u. a. Rohe (1994), Kaufmann (2003a) 390 Als Antworten standen zur Auswahl, der Staat sollte „auf jeden Fall verantwortlich“, „verantwortlich“, „nicht verantwortlich“ und „auf keinen Fall verantwortlich“ sein. Dargestellt werden nur die beiden affirmativen Antworten, die zu einer Kategorie zusammengeführt wurden. Vgl. ISSP Codebooks Role of Government III (1996) und Role of Government IV (2006) unter: http://www.issp.org/
138
6 Sozio-Kultur
als relativ hoch zu bewerten. Interessant wird es hingegen bei der Frage einer staatlichen Unterstützung für Arbeitslose. Während 1996 der Länderdurchschnitt noch 80 % beträgt, sinkt er 2006 auf rund 75 % ab. Auch ist die Varianz zwischen den Ländern wesentlich höher als bei den drei vorherigen Fragen, wobei bereits bei der Wohnungsunterstützung stärkere Länderunterschiede zu verzeichnen sind. Tabelle 6: Der Staat sollte verantwortliche sein für … Gesundheitliche Angemessenen LeWohnungen für Angemessenen LeVersorgung der bensstandard für Alte Einkommensschwa- bensstandard für Kranken che Arbeitslose 1996 2006 2006- 1996 1996 Dänemark
99.11
2006 2006- 1996 1996
2006 2006- 1996 2006 20061996 1996
97.45
82.3
80.76
DeutschlandOst
99.08 97.33 -1.75 98.35 96.15 -2.2 91.13 85.94 -5.19 91.6 79.72 -11.88
DeutschlandWest
96.6 95.56 -1.04 96.04 93.45 -2.59 77.89 73.48 -4.41 80.4 66.67 -13.73
Finnland
98.87
96.88
87.35
88.72 92.38 3.66 92.41 93.51 1.1
Großbritannien
98.56 98.99 0.43 98.14 97.44 -0.7 88.64 85.91 -2.73 78.68 57.35 -21.33
Irland
99.09 99.5 0.41 99.09
Italien
98.64
Niederlande Portugal
86.84 87.04
85.74
Frankreich
0.2 80.88 70.24 -10.64
99.7 0.61 93.87 96.34 2.47 91.5 81.78 -9.72
97.99
88.09
75.1
99.06
96.55
82.89
98.57
98.68
94.99
69.36 91.7
Schweden
96.22 93.64 -2.58 97.67 96.97 -0.7 81.78 79.38 -2.4
Spanien
99.23 97.75 -1.48 98.94 99.48 0.54 98.03 95.78 -2.25 93.86 92.75 -1.11 97.79
79.94
90.3 83.44 -6.86
Bulgarien
97.19
Lettland
98.72 95.79 -2.93 99.53
87.61
Polen
97.91 98.83 0.92 98.53 98.83 0.3
Slowenien
97.18 97.99 0.81 96.37 96.39 0.02 90.77 93.02 2.25 86.39 82.82 -3.57
Tschechische Republik
96.78 95.9 -0.88 96.6
Ungarn
99.26 99.5 0.24 98.25
Länderdurchschnitt
97,37 97,42 -0,71 97,55 97,05 0,70 86,35 84,97 -3,87 80,55 75,40 -9,61
97.7 -1.83 85.69 82.23 -3.46 82.62 64.94 -17.68 90.52 91.71 1.19 81.21 81.63 0.42
94.67 -1.93 79.71 64.92 -14.79 44.66 48.4 99
0.75 76.06 76.26
3.74
0.2 62.83 69.16 6.33
Quelle: Eigene Darstellung
So variieren die Zustimmungswerte hinsichtlich der Arbeitslosenunterstützung zwischen 44 % (1996) bzw. 48 % (2006) in Tschechien und rund 93 % (1996) bzw. 92 % (1996) in Spanien. Auffällig ist hierbei auch, dass außer in den drei osteuropäischen Ländern (Polen, Tschechien und Ungarn) im Vergleich zu 2006 die Zustimmungswerte in allen Ländern
6 Sozio-Kultur
139
abgenommen haben, und dies zum Teil mit erheblichen Verlusten zwischen 10 und 21 Prozentpunkten. In Großbritannien erreicht der Zustimmungsrückgang hinsichtlich einer staatlichen Verantwortung für Arbeitslose mit rund 21 Prozentpunkten seinen höchsten Wert, aber auch in Deutschland (Ost und West) liegt der Rückgang zwischen rund 12 und 14 Prozentpunkten. Etwas geringere Werte weisen Frankreich und Irland auf, so dass von den alten Mitgliedsstaaten lediglich Schweden und Spanien mit rund sechs und einem Prozentpunkt(e) die geringsten Zustimmungsverluste zu 1996 aufweisen. Bei den neuen EU-Mitgliedsländern ist das Bild gemischter. Während in Lettland ein Rückgang von rund 18 Prozentpunkten und in Slowenien von rund 4 Punkten zu konstatieren ist, sind in den anderen drei Ländern unwesentliche (z. B. Polen mit 0.42 Prozentpunkten) bis geringe Zuwächse (4 bis 6 Punkten in Ungarn und Tschechien) zu verzeichnen. Erstaunlich ist, dass sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland die Zustimmung zu einer staatlichen Unterstützung von Arbeitslosen unter einer konservativen bzw. christdemokratisch-liberalen Regierung (1996) höher war, als unter einer sozialdemokratischen Regierung in Großbritannien und einer großen Koalition in Deutschland, allerdings nach vorherigen sieben Jahren sozialdemokratischer Regierungszeit (2006). Ob hier ein signifikanter Zusammenhang besteht, lässt sich mit Hilfe der Daten nicht sagen. Eine Vermutung wäre, dass hier eine Art PendelschlagLogik vorliegt, wonach unter einer langjährigen eher (mitte-)rechten Regierung die Einstellungen der Bürger stärker nach links rücken und nach langjährigen (mitte-)linken Regierungen wieder stärker nach rechts ausschlagen. Eine andere Vermutung legt nahe, dass sich der liberale Diskurs der 1990er Jahre in der geringeren Unterstützung für Arbeitslose in den Einstellungen der Menschen niederschlägt. Dafür spricht, dass die Zustimmungsraten auch im Länderdurchschnitt insgesamt rückläufig sind. Allerdings verbleiben diese Annahmen im spekulativen Bereich und bedürften einer weiteren, systematischen Untersuchung über einen längeren Zeitraum hinweg. Anhand dieser ersten Ergebnisse wurde deutlich, dass prinzipiell ein Grundkonsens in den untersuchten EU-Ländern hinsichtlich einer staatlichen Verantwortung für Gesundheit, Rente, Wohnung und Arbeitslosigkeit vorherrscht, wobei insbesondere im Bereich der Arbeitslosigkeit die Zustimmung im Vergleich zu 1996 abgenommen hat, mit einem Länderdurchschnittswert von rund 75 % jedoch nach wie vor als hoch einzuschätzen ist. Dieser Konsens muss letztlich als eine prinzipielle Werteübereinstimmung betrachtet werden (als Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität, die staatlich organisiert sein soll), da über Umfang und Art der Ausgestaltung der staatlichen Verantwortung in den genannten Bereichen nichts ausgesagt wird. Im nächsten Schritt werden in Anlehnung an die Typologie von Edeltraud Roller vier Wohlfahrtsstaatsmodelle unterschieden und gefragt, wie hoch die Unterstützung für die einzelnen Modelle in den einzelnen Ländern ausfällt. Es wird zwischen einem liberalen, einem christdemokratischen, einem sozialdemokratischen und einem sozialistischen (besser etatistischen) Wohlfahrtsstaat unterschieden.391 Dabei wird eine eigene Operationalisierung, abweichend von Roller und Gerhards aus dem Jahre 1996 gewählt: einmal, um alle vier Modelle (und nicht nur drei wie bei Gerhards) mit Hilfe der ISSP-Daten abbilden zu kön391
Die Bezeichnung „sozialistisches Wohlfahrtsstaatsmodell“ ist insofern problematisch, als damit eine wesentlich umfassendere staatliche Kontrolle als auch eine Verstaatlichung von Produktionsmitteln verbunden ist, was mit der hier vorgenommenen Operationalisierung nicht erfasst werden kann und soll. Folglich wird im Unterschied zu Roller der Begriff „etatistisch“ verwendet.
140
6 Sozio-Kultur
nen und zum anderen, um die zeitliche Vergleichbarkeit der Daten über die analoge Operationalisierung 1996 und 2006 sicherzustellen. Daraus folgt für die vier Modelle: 1.
2.
3.
4.
Wenn Befragte einer staatlichen Verantwortung für mindestens zwei von drei Aufgaben zustimmen, die eine Einkommenssicherheit im Falle von Krankheit, Alter oder Arbeitslosigkeit zum Ziel haben, alle anderen staatlichen Aufgaben aber ablehnen, werden sie als Befürworter eines liberalen Modells klassifiziert. Als Befürworter eines christdemokratischen Wohlfahrtsstaates werden diejenigen Befragten klassifiziert, die zusätzlich zur Risikoabsicherung von den vier folgenden Fragen hinsichtlich einer staatlichen Verantwortung für einen ‚Abbau von Einkommensunterschieden’, für ‚Vollbeschäftigung’, für eine ‚Unterstützung niedergehender Industrien’ oder für eine ‚Verkürzung der Arbeitszeit’ höchstens eine mit ‚ja’ und eine mit ‚weder noch’ (die anderen beiden Fragen dann mit ‚nein’) oder mit drei mit ‚weder noch’ (und eine mit ‚nein’) beantworten. Anhänger eines sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates sind alle diejenigen, die zusätzlich zur Risikoabsicherung von den restlichen vier Fragen mindestens zweimal mit ‚ja’ antworten, worunter jedoch mindestens einer der Fragen zu Umverteilung und zur Arbeit fallen muss. Die restlichen zwei Fragen müssen folglich mit ‚nein’ beantwortet sein. Wenn Befragte neben der Risikoabsicherung des liberalen Modells von den vier anderen Fragen mindestens drei mit ‚ja’ beantworten und darunter beide Wirtschaftsfragen fallen, werden sie als Befürworter eines etatistischen (sozialistischen) Wohlfahrtsstaatsmodells klassifiziert.
Abbildung 8: Bereich
Soziale Sicherheit
Operationalisierung der Wohlfahrtsstaatsmodelle ‚Staatliche Verantwortung für …’
Risikoabsicherung (Gesundheit, Alter, Wohnung, Arbeitslosigkeit)
Abbau von EinUmkommensverteilung unterschieden Arbeit
Vollbeschäftigung
Unterstützung niedergehender Industrie durch Wirtschaft den Staat Verkürzung der Arbeitszeit durch den Staat
Kein Ws Liberal
ChristSozialEtatistisch demokratisch demokratisch (sozialistisch)
Mindestens Mindestens 2 ‚nein’ 2 von 3 mit von 3 mit ‚ja’ ‚ja’ nicht relevant
‚nein’
nicht relevant
‚nein’
nicht relevant
‚nein’
nicht relevant
‚nein’
Mindestens 2 Mindestens 2 von 3 mit ‚ja’ von 3 mit ‚ja’
Höchstens 1,5* (einmal ‚ja’ und Insgesamt einmal ‚weder mindestens zweimal ‚ja’, noch’ oder aber nicht für dreimal ‚weder beide Wirtnoch’) schafts-fragen
Quelle: Eigene Darstellung * Kodierung der Antworten: Ja = 1; Weder noch = 0,5; Nein = 0
Insgesamt mindestens dreimal ‚ja’ und beide Wirtschaftsfragen ‚ja’
6 Sozio-Kultur
141
Als Gegner eines Wohlfahrtsstaates werden alle Befragten gewertet, die sämtliche Fragen zur Risikoabsicherung (Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit) mit ‚nein’ beantworten, alle weiteren möglichen Antwortkombinationen werden als nicht klassifizierbar eingestuft. Die Befunde für 1996 zeigen, dass in allen vier Aggregatkategorien das sozialdemokratische Modell die höchsten Zustimmungswerte erfährt. Im Länderdurchschnitt 1996 erreicht das sozialdemokratische Modell eine Zustimmungsrate von 46 %, gefolgt vom etatistischen Modell mit rund 36 % und dem christdemokratischen Modell mit rund 11 %. Die mit Abstand geringste Unterstützung erhält das liberale Modell mit nur 2,6 %. Generell spielt das liberale Modell somit auf der Ebene der unterschiedlichen Sozio-Kulturen kaum eine Rolle, das christdemokratische lediglich eine geringe, während das sozialdemokratische und das etatistische Modell zusammen eine Zustimmungsquote von rund 82 % auf sich vereinen können. Dabei fällt auch auf, dass die Varianz zwischen den Ländern beim sozialdemokratischen und etatistischen Modell erheblich zunimmt. Während beim liberalen Modell der Abstand zwischen dem niedrigsten Zustimmungswert und dem höchsten rund 7 Prozentpunkte beträgt, weist er beim christdemokratischen bereits rund 18 Prozentpunkte auf, beim Sozialdemokratischen rund 24 und beim etatistischen rund 41 Prozentpunkte. Folglich finden sich die stärksten Ländervarianzen in der Aggregatskategorie des etatistischen Modells, wie z. B. in Tschechien, wo lediglich 14,22 Prozent als Befürworter eines etatistischen Modells klassifiziert werden können, während in Ost-Deutschland der Zustimmungswert 55,49 Prozent beträgt. Beim sozialdemokratischen Modell liegt die Zustimmungsvarianz auf Länderebene zwischen rund 37 % am unteren Ende und rund 59 % am oberen. Hier könnte angenommen werden, dass die Varianzen innerhalb der Modelle ein Zeichen für den Einfluss nationaler Spezifika ist. Es fällt auf, dass im liberalen Modell die Varianz stets sehr gering ist, so dass diese Homogenität innerhalb des liberalen Modells darauf hinweist, dass liberale Orientierungen – maßgeblich vor dem Hintergrund der hier vorgenommen Operationalisierung – eine klare, in allen Ländern ähnliche Interpretation erfahren. Im Gegensatz dazu weisen die anspruchsvoller werdenden Modelle eines christdemokratischen, sozialdemokratischen und etatistischen Wohlfahrtsstaates höhere Schwankungen bei den Zustimmungswerten auf, da sie möglicherweise stärker von nationalen Kontextfaktoren (politisches System, politische Kultur und politische Geschichte) beeinflusst werden, was in der vorgenommenen Operationalisierung nicht berücksichtig werden konnte. Zudem kann angenommen werden, dass eine Differenzierung zwischen den drei Modellen im Gegensatz zu einem relativ klaren liberalen Minimalbekenntnis zu diesen Varianzen führt. Ein Vergleich der drei Untersuchungsländer Deutschland (Ost + West), Polen und Großbritannien zeigt die relativen Varianzen der mehrheitlichen Zustimmungsraten. So favorisieren in Großbritannien rund 75 % der Befragten eine umfangreiche staatliche Verantwortung, die nach den vier Aggregatskategorien dem sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Modell entspräche. Ein ähnliches Ergebnis mit rund 76 % lässt sich für Deutschland West konstatieren, während in Polen und Deutschland-Ost die Zustimmungswerte für die beiden Modelle zusammen fast 90 % ergeben, was sich wahrscheinlich am ehesten historisch begründen ließe.392 Mit Ausnahme von Deutschland-Ost wird in allen drei Län392
Allerdings würde eine Begründung der hohen Zustimmung des sozialdemokratischen und sozialistischen Modells, die auf die sozialistische Vergangenheit der Länder abhebt, letztlich bei den Ergebnissen Tschechiens nicht mehr tragen. 1996 ist Tschechien das Land mit der höchsten Zustimmungsrate für das liberale Modell und der geringsten für das sozialistische Modell. Vgl. Tabelle 7.
142
6 Sozio-Kultur
dern das sozialdemokratische Modell dem sozialistischen vorgezogen. Generell lassen sich keine Ländercluster erkennen, die sich nach dem etablierten Wohlfahrtsstaatstyp richten. So kristallisieren sich zum Beispiel weder für die fünf osteuropäischen Länder, noch für die beiden südeuropäischen Länder besondere Übereinstimmungen heraus. Tabelle 7: Wohlfahrtsstaatliche Einstellungen 1996 (Angaben in Prozent) Land
Kein WS
Liberal
Christdem.
Sozialdem.
Etatistisch
n. k.
EU 15 Deutschland-West
1,05
3,09
14,66
44,42
31,66
5,00
Deutschland-Ost
0,00
0,40
4,65
36,8
55,49
3,00
Italien
0,00
2,32
8,37
35,69
49,09
4,54
Frankreich
2,55
3,51
10,36
34,5
41,35
8,00
Großbritannien
0,48
3,50
16,53
48,61
26,78
4,1
Irland
0,32
1,60
12,9
43,39
39,34
2,45
Schweden
0,57
4,53
16,53
40,89
33,43
4,00
Spanien
0,05
0,39
3,75
47,44
47,35
1,00
Mittelwert EU 15
0,63
2,42
10,97
41,47
40,56
4,01
EU-Beitritt 2004 Polen
0,87
0,99
7,06
54,15
35,19
1,73
Tschechische Republik
1,98
7,46
21,45
51,75
14,22
3,15
Slowenien
0,53
0,63
5,69
44,78
45,73
2,63
Ungarn
0,30
2,40
8,93
57,09
29,26
2,00
Lettland
0,18
3,09
15,9
59,45
20,05
1,00
Bulgarien
0,65
4,01
15,29
48,16
29,83
2,06
Mittelwert Beitritt
0,75
3,10
12,39
52,56
29,05
2,10
Länderdurchschnitt gesamt
0,66
2,56
11,15
46,00
36,21
3,00
Quelle: ISSP 1996, eigene Berechnung
Zehn Jahre später stellen sich die Daten ähnlich dar, was für die Kontinuität der wohlfahrtsstaatlichen Ideen in der Europäischen Union sprechen kann, allerdings lassen sich auf der Ebene der einzelnen Länder durchaus gewichtige Verschiebungen erkennen. Im Länderdurchschnitt ist auch 2006 die Zustimmung mit 47,44 % für das sozialdemokratische Modell am Höchsten, gefolgt vom etatistischen mit 31,38 %. Für ein christdemokratisches Modell sprechen sich im Schnitt 13,47 % der Befragten aus und für ein liberales Modell 3,19 %. Die Varianzen zwischen den Ländern je nach Modell sind vom liberalen zum sozialistischen Modell zwar im Prinzip erneut aufsteigend, jedoch mit dem Unterschied, dass die Varianzen innerhalb des sozialdemokratischen und des sozialistischen Modells erheblich abnehmen. So liegt der höchste Länderzustimmungswert im sozialdemokratischen Modell bei 54,8 % und der niedrigste bei 40,34 %; beim sozialistischen Modell variieren die Länderergebnisse zwischen 16,69 % und 50,21 %. Beim christdemokratischen steigt die
6 Sozio-Kultur
143
Varianz im Vergleich zu 1996 leicht an (von ca. 18 auf 22 Prozentpunkte), während sie beim liberalen Modell relativ stabil auf niedrigem Niveau (7 bzw. 8 Prozentpunkte) verbleibt. Tabelle 8: Zustimmungsraten in europäischen Bevölkerungen zu den Wohlfahrtsstaatsmodellen (Angaben in Prozent) Land
kein WS
Liberal
Christdem.
Sozialdem.
Etatistisch
n. k.
EU 15 Deutschland-West
1,63
5,25
17,97
42,01
26,02
7,12
Deutschland-Ost
1,08
1,29
8,19
52,37
33,41
3,66
Niederlande
0,49
6,43
24,97
48,21
16,69
3,21
Frankreich
1,86
3,66
16,62
50,13
20,88
6,85
Großbritannien
0,27
4,44
19,25
49,53
22,07
4,44
Irland
0,12
2,81
14,74
54,27
26,67
1,40
Dänemark
0,18
8,14
26,09
40,81
20,75
4,03
Spanien
0,14
0,89
5,61
41,05
50,21
2,10
Portugal
0,13
0,13
4,12
49,84
44,62
1,16
Finnland
0,74
2,64
18,5
49,58
25,48
3,07
Schweden
1,21
6,47
17,8
40,34
29,32
4,85
Durchschnitt EU 15
0,71
3,83
15,81
47,10
28,74
3,81
EU-Beitritt 2004 Polen
0,68
1,85
7,71
46,24
42,83
0,68
Tschechische Republik
1,6
6,78
20,54
48,45
16,85
5,78
Ungarn
0,00
0,66
7,83
54,80
35,39
1,32
Slowenien
0,55
0,44
5,19
48,34
43,60
1,88
Lettland
0,25
1,99
11,55
54,29
27,33
4,60
Durchschnitt Beitritt
0,62
2,34
10,56
50,42
33,20
2,85
Länderdurchschnitt gesamt
0,66
3,19
13,47
47,44
31,83
3,42
Quelle: ISSP 2006, eigene Berechnung
Im Vergleich zu 1996 gibt es die höchsten Verschiebungen zwischen dem sozialdemokratischen und dem etatistischen Modell, wobei das sozialdemokratische zumeist an Zustimmung gewinnt, während die für das etatistische zurückgeht (siehe Ostdeutschland, Frankreich und Irland). Im Länderdurchschnitt verliert das etatistische Modell rund 4,38 Prozentpunkte, während die drei anderen Modelle um diesen Anteil hinzugewinnen, was letzlich eine leichte Rechtsverschiebung in den Einstellungen der Bürger zu 1996 bedeutet. In den drei Untersuchungsländern fällt auf, dass vor allem in Ostdeutschland die Differenz zu 1996 beim etatistischen Modell rund 22 Prozentpunkte beträgt, so dass die Zustimmungsrate zum sozialdemokratischen Modell um fast 16 Prozentpunkte und zum christdemokratischen um 3,54 Prozentpunkte zunimmt. In Westdeutschland liegt die Differenz zu 1996
144
6 Sozio-Kultur
beim sozialdemokratischen Modell bei minus 2,41 Prozentpunkten, beim etatistischen bei minus 5,64 Prozentpunkten, während das christdemokratische mit 3,3 Prozentpunkten und das liberale mit 2,16 Prozentpunkte hinzugewinnen. Demnach kann sowohl für Ost- als auch in geringerem Maße für West-Deutschland eine leichte Einstellungsverschiebung hin zu weniger Staatsverantwortung verzeichnet werden. Dieses „weniger an Staatsverantwortung“ lässt sich – betrachtet man die Operationalisierung der beiden Modelle – vor allem im Wirtschaftsbereich festmachen, da weniger Befragte beide Wirtschaftsfragen mit ‚ja’ beantworteten. In Großbritannien lassen sich keine großen Veränderungen zu 1996 feststellen. Während das etatistische Modell rund 4,7 Prozentpunkte an Zustimmung verliert, gewinnen das sozialdemokratische und das liberale je circa einen Prozentpunkte hinzu und das christdemokratische rund 2,7 Prozentpunkte. In Polen findet eine umgekehrte Verschiebung vom sozialdemokratischen hin zum etatistischen Modell um rund 7,6 Prozentpunkte statt. Tabelle 9: Einstellungsdifferenzen von 2006 zu 1996 (Angaben in Prozent) Land
kein ws
Christdem.
liberal
Sozialdem.
etatistisch
n. k.
2006 2006- 2006 2006- 2006 2006- 2006 2006- 2006 2006- 2006 20061996 1996 1996 1996 1996 1996 Tschechische Republik
1.60 -0.38 6.78 -0.68 20.54 -0.91 48.45 -3.30 16.85 2.63
5.78
Dänemark
0.18
4.03
DeutschlandOst
1.08
1.08
1.29
0.89
3.54 52.37 15.57 33.41 -22.08 3.66
0.99
DeutschlandWest
1.63
0.58
5.25
2.16 17.97 3.31 42.01 -2.41 26.02 -5.64 7.12
1.99
Spanien
0.14
0.09
0.89
0.50
1.08
Finnland
0.74
Frankreich
1.86 -0.69 3.66
0.15 16.62 6.26 50.13 15.63 20.88 -20.47 6.85 -0.88
Großbritannien
0.27 -0.21 4.44
0.94 19.25 2.72 49.53 0.92 22.07 -4.71 4.44
Ungarn
0.00 -0.30 0.66 -1.74 7.83
Irland
0.12 -0.20 2.81
1.21 14.74 1.84 54.27 10.88 26.67 -12.67 1.40 -1.05
Lettland
0.25
-1.1 11.55 -4.35 54.29 -5.16 27.33 7.28
Niederlande
0.49
Polen
0.68 -0.19 1.85
Portugal
0.13
8.14
26.09
2.64
0.07
1.99
8.19
5.61
40.81
1.86 41.05 -6.39 50.21 2.86
18.50
6.43
24.97 0.86
0.13
7.71 4.12
1.94
17.8
20.75
49.58
-1.1
25.48
54.8 -2.29 35.39 6.13
48.21
16.69
0.65 46.24 -7.91 42.83 7.64 49.84
Schweden
1.21
0.64
6.47
Slowenien
0.55
0.02
0.44 -0.19 5.19 -0.50 48.34 3.56
Total
0.66
0.00
3.19
44.62
2.10 3.07
0.34
1.32 -0.71 4.60
3.27
3.21 0.68 -1.05 1.16
1.27 40.34 -0.55 29.32 -4.11 4.85
0.79
43.6 -2.13 1.88 -0.75
0.63 13.47 2.32 47.44 1.20 31.83 -4.38 3.42
Quelle: ISSP 1996, ISSP 2006, eigene Berechnungen
2.63
0.23
6 Sozio-Kultur
145
Bei einer Betrachtung der Mittelwerte getrennt nach neuen und alten EU-Mitgliedststaaten fällt auf, dass die konstatierte Rechtsverschiebung nur bei den alten Mitgliedsstaaten zu Buche schlägt, während in den neuen Mitgliedsstaaten die Zustimmungsverluste vor allem beim christdemokratischen und sozialdemokratischen Modell in die Befürwortung des etatistischen Modells münden, was einer leichten Linksverschiebung im wohlfahrtsstaatlichen Einstellungsmuster gleichkommt. Tabelle 10: Mittelwerte nach neuen und alten EU-Mitgliedsstaaten untergliedert Jahr
k.Ws.
liberal
Christdem.
Sozial dem.
etatis.
n.k.
Mittwelwert EU 15
1996
0,63
2,42
10,97
41,47
40,56
4,01
Mittwelwert EU 15
2006
0,71
3,83
15,81
47,10
28,74
3,81
Mittwelwert EU-Beitritt
1996
0,75
3,10
12,39
52,56
29,05
2,10
Mittwelwert EU-Beitritt
2006
0,62
2,34
10,56
50,42
33,20
2,85
Quelle: ISSP 1996, ISSP 2006, eigene Berechnungen
Vor diesem Hintergrund kann vermutet werden, dass der in den westeuropäischen Ländern geführte Diskurs über die Krise des Sozialstaates sich in der leichten Rechtsverschiebung der Einstellungen widerspiegelt. In den osteuropäischen Ländern wurde zwar ebenfalls über die Finanzierbarkeit des Sozialstaates im Zuge der Transformation diskutiert, jedoch vor dem Hintergrund eines kompletten Systemwechsels. In diesem Sinne kann angenommen werden, dass sich die Erfahrungen mit einer liberalen Demokratie auf die Einstellungen der Menschen ausgewirkt haben und die leichte Linksverschiebung in den Einstellungen als Reaktion auf den schnellen Wandel (vor allem die Folgen der ökonomischen „Schocktherapie“) und den daraus resultierenden neuen Unsicherheiten interpretiert werden kann. Über diese Interpretationsansätze hinaus soll im Folgenden eine Regressionsanalyse zur Erklärung der bisherigen Befunde herangezogen werden. Jürgen Gerhards (2005) hatte im Rahmen seines Untersuchungsdesigns, das an die Studie von Roller (2000) angelehnt ist, die Vermutung aufgestellt, dass bei den Bürgern der Europäischen Union ein abnehmender Trend in der Unterstützung eines starken Sozialstaates angenommen werden könne: „In allen Ländern der EU ist eine heftige Debatte über die Nicht-Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme entfacht und in allen Ländern hat – auch unter sozialdemokratischen Regierungen – eine Reduzierung staatlicher Leistungen stattgefunden. Wir vermuten, dass diese Entwicklungen nicht ohne Folgen für die Einstellungen der Bürger geblieben sind“393. Diese Vermutung konnte im Rahmen dieser Arbeit bestätigt werden, da das etatistische Staatsmodell als einziges eine kleiner werdende Anhängerschaft (s.o.) vorzuweisen hat. Allerdings sind hier deutliche Unterschiede zwischen den Ländern zu beobachten. Dies wirft die Frage auf, welche Faktoren diese Unterschiede erklären können. Im Gegensatz zur Untersuchung von Gerhards (2005) soll also nicht die Unterstützung für Alte, Kranke und Arbeitslose erklärt werden, sondern hier ist die abhängige Variable die Unterstützung für die unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen. Bei der Auswahl der unabhängigen Variablen erscheint jedoch eine ähnliche Vorgehensweise wie bei Gerhards (ebd.) angebracht: Die unabhängigen Variablen, also jene Faktoren, mit denen die oben beschriebenen Unterschie393
Gerhards (2005:190f.)
146
6 Sozio-Kultur
de erklärt werden sollen, lassen sich in Individualvariablen und Makrokontexte aufteilen. Die Makrokontexte sind wie bei Gerhards Modernisierungsgrad und staatliche Sozialausgaben. Der Modernisierungsgrad wird über den Human Development Index (HDI) operationalisiert. Die zu Grunde liegende Annahme ist, dass eine Solidaritätsorientierung, die über Verwandte und Freunde hinausgeht, mit dem Grad der Modernisierung eines Landes zunehmen wird. Eine auf fremde Personengruppen gerichtete Solidarität ist eine abstrakte Form der Empathie, die nur in modernen Gesellschaften anzutreffen ist, in denen elementare Bildung, Inklusion und Partizipation den Normalfall darstellen.394 Der HDI als Indikator für den Modernisierungsgrad eines Landes berücksichtigt neben dem Pro-KopfBruttosozialprodukt die Lebenserwartung (als Indikator für Gesundheitsfürsorge, Ernährung und Hygiene) sowie die Alphabetisierungs- und Einschulungsrate (als Indikatoren für den Bildungsstand). Die zweite Makrovariable ist die Sozialausgabenquote, also der Anteil der Ausgaben für soziale Belange gemessen an allen Staatsausgaben. Hierbei geht es um den Einfluss des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements auf die Einstellungen der Bürger: Es kann plausibel angenommen werden, dass das Ausmaß sozialstaatlicher Aktivität „[…] die Einstellungen der Bürger in der Weise beeinflusst, dass diese das System unterstützen, in dem sie selbst leben.“395 Allerdings gilt auch die umgekehrte Vermutung, nach der die Einstellungen der Bürger – zumindest in Demokratien – die Entscheidungen der Politiker und damit auch das Ausmaß sozialstaatlicher Aktivität beeinflussen. Die Sozialausgabenquote als Indikator ist lediglich ein „Proxy“, um das sozialstaatliche Engagement der Länder abzubilden. Die Alternative wäre eine Zuordnung der Länder zu unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen. Allerdings ist eine solche Zuordnung nicht für alle Länder des ISSP-Survey verfügbar. Zum anderen muss auch eine Typologie notwendigerweise von zahlreichen Länderspezifika abstrahieren. Die Verwendung der Sozialausgaben dient also – wie die Daten des HDI – als empirischer Fingerzeig, der grundsätzliche Unterschiede zwischen den Länder abbilden soll und keinesfalls den Anspruch erhebt, komplexe Begebenheiten detailliert nachzuzeichnen. Auf der Ebene der Individualvariablen werden wie in Gerhards Untersuchung Alter, Beschäftigungsstatus und Konfession berücksichtigt. Zusätzlich wird der Einfluss der Variablen „subjektive Schichtzugehörigkeit“ und „Parteineigung“ geprüft. Der Einfluss der Parteineigung auf das präferierte Staatsmodell ist dabei am offensichtlichsten: Es ist davon auszugehen, dass die Neigung zu linken Parteien mit der Befürwortung eines sozialdemokratischen oder etatistischen Wohlfahrtsstaates zusammenhängt. Ebenso sollte die Neigung zu christdemokratischen oder konservativen Parteien mit der Befürwortung eines entsprechenden Sozialstaatsmodells einhergehen. Auch die Berücksichtigung der individuellen Merkmale „Alter“ (gemessen am Alter in Jahren), „Beschäftigungsstatus“ (in Beschäftigung vs. arbeitslos) und „subjektive Schichtzugehörigkeit“ (sechs Kategorien, siehe unten) gründet sich sowohl auf intuitiv nachvollziehbare wie auch vielfach empirisch nachgewiesene Zusammenhänge: Menschen, die eher von staatlichen Maßnahmen profitieren, sollten einen aktiven Sozialstaat auch eher unterstützen als jene Menschen, die von diesen Maßnahmen nicht profitieren, sie aber z.T. durch Steuern finanzieren müssen. Angehörige unterer Klassen, Alte und Arbeitslose sollten also eher einen umfassenden Sozialstaat befürworten als Angehörige der Oberschicht, junge Menschen und Berufstätige. Eine ähnliche Ar394 395
Ebd., s. auch Lerner (1979) Gerhards (2005:196)
6 Sozio-Kultur
147
gumentation lässt sich im Hinblick auf die Geschlechtervariable vornehmen: Frauen sind einem größeren Risiko ausgesetzt, staatliche Sozialleistungen in Anspruch nehmen zu müssen. Besonders augenfällig gilt dies für allein erziehende Mütter, die im Zuge einer Kombination von Gleichstellungs- und Aktivierungslogik Mutter und gleichzeitig auch Ernährerin sein sollen.396 Doch auch ohne die Aktivierungstendenzen in der Beschäftigungspolitik kann davon ausgegangen werden, dass Frauen einen umfassenden Sozialstaat in der Tendenz stärker befürworten sollten als Männer. Sie leisten einen deutlich größeren Anteil an der Pflege der älteren Generation, als dies bei Männern der Fall ist und sind in der Folge von einem größeren Armutsrisiko betroffen.397 Einen Einfluss der Konfession auf die individuellen Einstellungen zu vermuten, kann auf den ersten Blick nicht überraschen: Die „protestantische Arbeitsethik“ Max Webers ist nur das prominenteste Beispiel aus den Sozialwissenschaften. Im Hinblick auf die Einstellungen zum Wohlfahrtstaat muss man jedoch feststellen, dass es vergleichsweise wenige Untersuchungen gibt, die sich diesem Zusammenhang ausführlich gewidmet haben und hierbei auf den Unterschied zwischen Protestantismus und Katholizismus eingehen398. Philip Manow stellt in dieser Hinsicht eine begrüßenswerte Ausnahme dar und wartet mit der These auf, „[…] dass der Protestantismus – anders als in der Literatur immer wieder argumentiert wird (Kersbergen 1995; Huber, Ragin und Stephens 1993; Esping-Andersen 1990; Lagner 1998) – einen eigenständigen und nicht zu vernachlässigenden Beitrag zur Wohlfahrtsstaatsentwicklung in den Ländern Europas (und auch darüber hinaus in den USA und den Ländern des Commonwealth) geleistet hat, selbst wenn dieser Beitrag mittelbar und zum Teil negativ gewesen ist. Negativ in dem Sinne, dass vor allem die freikirchlichen Sekten und reformierten Strömungen des Protestantismus unter Betonung von gemeinschaftlicher Selbsthilfe, strikter Trennung von Staat und Kirche, innerweltlicher Askese und prudentia eine stark anti-staatliche Programmatik entwickelt haben, die sich vielfach verzögernd auf die Sozialstaatsentwicklung ausgewirkt hat.“399 Es lässt sich also annehmen, dass sich auf der Individualebene Katholizismus eher positiv, Protestantismus hingegen negativ auf die Unterstützung eines starken Staates auswirken sollte. Im Weiteren wird in einer multivariaten Regression untersucht, ob sich diese Hypothesen bestätigen lassen. Insbesondere die Individualmerkmale erweisen sich als erklärungskräftig. So haben sowohl der Beschäftigungsstatus wie auch die Geschlechtervariable zu beiden Untersuchungszeitpunkten einen signifikanten und positiven Einfluss auf die Unterstützung eines umfassenden Sozialstaates. Auch die einzelnen Kategorien der subjektiven Schichtzugehörigkeit erweisen sich als bedeutsam – interessanterweise nimmt die Bedeutung der Klassenzugehörigkeit im Zeitverlauf sogar zu. Ausgehend von der „Mittelklasse“ als Referenzkategorie ist festzustellen, dass 1996 nur die Unterklasse und die Arbeiterklasse den Zuspruch für eine aktive Rolle des Staates erhöhen. Der Unterschied zwischen „Mittelklasse“ und „unterer Mittelklasse“ ist nicht signifikant. Im Jahr 2006 wirkt sich auch diese Differenz statistisch positiv auf die Befürwortung einer größeren Rolle des Staates aus. Umgekehrt verhält es sich mit der „oberen Mittelklasse“: im Vergleich zur Mittelklasse wollen diejenigen, die sich der „oberer Mittelklasse“ angehörig fühlen, eine weniger große Reichweite
396
Saraceno (2008:249) Wakabayashi/Donato (2006), siehe auch Watson/Mears (1999) 398 Siehe aber z. B. Manow (2002), Kaufmann (1988), Heidenheimer (1983) 399 Manow (2002:208) 397
148
6 Sozio-Kultur
staatlicher Eingriffe. Für Angehörige der Oberschicht gilt in der Tendenz das gleiche, allerdings sind die Ergebnisse hier nicht mehr statistisch signifikant. Tabelle 11: Ergebnisse der multivariaten Regressionsanalyse zu Erklärung der Wohlfahrtsstaatsmodelle 1996
2006
Modernisierung (HDI)
-0,012
(0,74)
,004
(0,36)
Sozialausgaben
0,072***
(4,00)
-0,059***
(5,01)
Geschlecht
0,131***
(11,54)
,090***
(10,26)
Alter
0,042***
(3,72)
-,008
(0,92)
0,045***
(4,71)
,046***
(6,05)
0,060*** 0,149*** -0,022 -0,116*** -0,016
(5,63) (12,46) (1,75) (8,30) (1,19)
,045*** ,091*** ,088*** -,069*** -,018
(5,62) (9,91) (8,69) (6,61) (-1,65)
Religion c) Katholiken Protestanten Sonstige
0,092*** -0,006 0,011
(6,02) (0,43) (0,93)
,118*** ,014 ,010
(10,02) (1,16) (1,10)
Parteineigung d) dezidiert Links Mitte-Links Mitte-Rechts dezidiert Rechts Sonstiges Keine Präferenz
0,080*** 0,133*** -0,103*** 0,016 -0,010 0,066***
(7,06) (7,39) (5,63) (1,20) (0,72) (3,97)
,110*** ,106*** -,136*** -,003 ,016 ,011
(11,97) (9,59) (11,30) (0,33) (1,68) (1,10)
R²
0,131
+a)
Beschäftigung
+
Subjektive Schichtzugehörigkeit b) Unterklasse Arbeiterklasse Untere Mittelklasse Obere Mittelklasse Oberklasse
0,123
Anmerkungen: OLS-Regressionen, ungewichtet, robuste Standardfehler, standardisierte Beta-Koeffizienten, Betrag der t-Werte in Klammern *: p<0,05; **: p<0,01; ***: p<0,001. + die Verwendung standardisierter Regressionskoeffizienten bei dichotomen Variablen ist nicht zulässig. Auf die inhaltliche Interpretation der Koeffizienten dieser Variablen wird deswegen verzichtet. Vernachlässigt man die dichotomen Variablen bei der Regressionsanalyse, verändern sich die übrigen Koeffizienten nur marginal. a) Referenzkategorie für Geschlecht ist „männlich“ b) Referenzkategorie für die Schichtzugehörigkeit ist „Mittelklasse“ c) Referenzkategorie für die Konfessionsvariable sind „Konfessionslose“ d) Referenzkategorie für die Parteineigung ist „Zentrum/Liberal“
Ebenso eindeutig ist der Einfluss der individuellen Parteineigung. Wenig überraschend befürworten Anhänger von Mitte-Links-Parteien und von dezidiert linken Parteien eine stärkere Rolle des Staates als Anhänger von Parteien aus dem politischen Zentrum. Und
6 Sozio-Kultur
149
Anhänger von Parteien rechts der Mitte befürworten in signifikanter Art und Weise ein zurückhaltenderes Sozialstaatskonzept. Für Anhänger dezidiert rechter Parteien hingegen ist keine besondere Sozialstaatspräferenz festzustellen. Dies unterstützt die These, dass sich die ideologischen Positionen extrem rechter und extrem linker Parteien in mancher Hinsicht ähnlicher sind, als die zwischen extremen rechten und gemäßigten konservativen Parteien. Zudem sind die Anhänger extrem rechter Parteien überproportional Männer mit vergleichsweise geringer Bildung – also ein Personenkreis, der auch selbst möglicherweise auf staatliche Unterstützung angewiesen sein könnte und auf den deswegen allzu liberale Staatskonzepte keine besonders starke Anziehungskraft entfalten können. Einen ebenfalls unveränderten Einfluss auf die Positionen zum Ausmaß staatlicher Eingriffe hat die Konfession. Interessanterweise hat jedoch nur der Katholizismus einen signifikanten Effekt: Im Vergleich zu Konfessionslosen sind Katholiken starke Befürworter eines starken Sozialstaates. Vergleicht man die Positionen von Konfessionslosen und Protestanten, lässt sich hingegen ebenso wenig ein Unterschied ausmachen, wie zwischen Konfessionslosen und den Anhängern anderer Religionen. Eine „bremsende“ Wirkung des Protestantismus ist mithin nicht festzustellen, sehr wohl aber die den Staatseingriff befördernde Wirkung des Katholizismus.400 Das Alter ist dagegen das einzige Individualmerkmal, dem kein konsistenter Einfluss bescheinigt werden kann. 1996 gilt der vermutete Zusammenhang, nachdem mit zunehmendem Alter auch die Unterstützung eines aktiven Staates zunimmt. Dieser Zusammenhang ist jedoch 2006 nicht mehr vorhanden. Ein möglicher Grund könnte darin liegen, dass im Zuge der Diskussion um die „Krise des Sozialstaates“ und die damit verbundenen Sozialstaatsreformen in vielen europäischen Ländern einerseits, und hohe Arbeitslosenzahlen andererseits nun auch jüngere Menschen mehr Unsicherheiten wahrnehmen und sich eher für einen starken Sozialstaat aussprechen. Bis auf diese Ausnahme der Altersvariable kann den Individualmerkmalen also eine Einflussrichtung nachgewiesen werden, die weitgehend konform mit den theoretischen Erwartungen geht. Weit weniger eindeutig und konsistent sind die Ergebnisse der Makrokontexte. Die Sozialausgaben haben zu beiden Zeitpunkten einen signifikanten Effekt – allerdings in unterschiedlicher Richtung. 1996 ist das Niveau der Sozialausgaben positiv (wenn auch schwach) mit der Befürwortung eines aktiven Staates verbunden, 2006 gehen höhere Sozialausgaben hingegen mit einer sinkenden Befürwortung weit reichender Staatseingriffe einher. Möglicherweise zeigt sich hier erneut ein Effekt des SozialstaatsDiskurses, der in den neunziger Jahren primär im Rahmen der Deutungskultur geführt wurde, allerdings noch keinen Niederschlag in der Sozio-Kultur gefunden hatte.401 Folgt man diesem Argument, sind im Jahr 2006 die Deutungen im Rahmen dieses Diskurses (wie z. B. die notwendige Reduktion von Sozialausgaben zum Erhalt der Sozialsysteme) in der SozioKultur übernommen worden. Der Modernisierungsgrad gemessen über den HDI leistet im Gegensatz zur Studie von Gerhards (2004) keinen signifikanten Beitrag zur Erklärung der wohlfahrtsstaatlichen Ein400
Würde man die unterschiedlichen Strömungen innerhalb des Protestantismus bei der Untersuchung berücksichtigen, ließe sich jedoch möglicherweise der von Manow (2002) behauptete Einfluss freikirchlicher und reformierter Strömungen feststellen. 401 Rohe (1987) verweist auf eine zeitliche Diskrepanz zwischen Deutungs- und Soziokultur. So können die Deutungsangebote im Rahmen der Deutungskultur, erst dann als vollständig durchgesetzt angesehen werden, wenn sie in die Sozio-Kultur absinken und teilweise zu Selbstverständlichkeiten bzw. bewusst aus dem Diskurs ausgeschlossen werden.
150
6 Sozio-Kultur
stellungen. Es ist davon auszugehen, dass aufgrund der geringen Unterschiede im HDI der untersuchten Länder dieser sich nicht zur systematischen Erklärung der unterschiedlichen Unterstützung von Wohlfahrtsmodellen auf Länderebene eignet. Die Länder der Europäischen Union mögen auch 2006 noch einen unterschiedlichen Modernisierungsgrad aufweisen – mit Indikatoren wie Schuleinweisungsquote und Lebenserwartung ist dies aber nicht mehr abzubilden. Es bedürfte also eines viel feineren Indikators, um die möglicherweise noch vorhandenen Unterschiede in den Blick zu nehmen. Anhand der Regressionsanalyse wurde demnach deutlich, dass auf der Indiviualebene im Wesentlichen die Betroffenheit einer Person einen Einfluss darauf ausübt, ob sie für einen umfassenden Sozialstaat ist oder nicht. Darüber hinaus stellten sich Katholizismus sowie eine linke Parteineigung als positive Einflussfaktoren heraus. 6.3 Vergleichsanalyse mit dem EU-Skript Bei einer rein quantitativen Untersuchung müsste das EU-Skript in Anlehnung an die entworfenen Modelle (nach Roller) dem sozialdemokratischen Typus zugeordnet werden. Denn die EU spricht sich für eine Absicherung der großen Lebensrisiken aus, was letztlich dem liberalen Grundmodell gleichkommt, darüber hinaus wird jedoch noch Vollbeschäftigung in Verbindung mit einer aktiven Beschäftigungspolitik zum Ziel erklärt und mehr Chancengleichheit anvisiert. Staatliche Eingriffe in den Markt lehnt die EU hingegen, aufgrund möglicher wettbewerbsverzerrender Wirkungen, ab.402 Die eigene Analyse hat jedoch aufgezeigt, dass es sich beim EU-Skript um eine zum Teil relativ heterogene Mischung liberaler und sozialdemokratischer Elemente handelt. Hieraus wurde abgeleitet, dass der derzeitige Status quo des sozialpolitischen Skripts als ‚liberal-sozial’ zu bewerten ist und mit einer Durchsetzung des Lissabon-Vertrages, der die soziale Dimension stärkt, als sozialliberal eingestuft werden kann. Da in den nationalen Sozio-Kulturen die wohlfahrtsstaatlichen Vorstellungen der Bürger mehrheitlich einem sozialdemokratischen Modell entsprechen und zum Teil noch darüber hinausgehen (etatistisches Modell), zeigt sich eine recht hohe Übereinstimmung zwischen den sozialdemokratischen Zielen und Werten, die die EU in ihrem sozialpolitischen Skript verankert hat, und den wohlfahrtsstaatlichen Vorstellungen einer (statistischen) Mehrheit der europäischen Bürger. Die liberale Ausrichtung des EU-Skripts erfährt auf der Grundlage der Befunde nur wenig Unterstützung bei den europäischen Bürgern. 1996 gingen die Vorstellungen der Bürger noch in größerer Zahl über die sozialdemokratische Orientierung hinaus (vgl. Unterstützung für das etatistische Modell). Für 2006 kann somit eine leicht und für Deutschland sogar eine nicht unwesentliche Annäherung zwischen EU- und Bürgervorstellungen konstatiert werden. Legt man diese Befunde zu Grunde, ließen sich Unterstützung für und „Hoffnungen“ der Bürger auf die EU damit erklären, dass offenkundige Parallelen zwischen den SozioKulturen und dem Skript in den sozialdemokratischen Belangen vorhanden sind. Zugleich könnte aber auch erklärt werden, warum immer wieder Skepsis und Ablehnung in den Bevölkerungen gegenüber dem europäischen Projekt auftauchen (z. B. negative Referenden).
402
Als aktuelles Beispiel kann hier der Konflikt zwischen der EU Wettbewerbsaufsicht und der deutschen Bundesregierung im Fall von VW genannt werden.
6 Sozio-Kultur
151
Wenn die liberalen Elemente403 des EU-Skripts in den Vordergrund rücken bzw. stärker gewichtet werden, widerspricht dies nämlich den Einstellungen einer Mehrzahl von EUBürgern. Hieraus entstehen zwangsläufig viele weitere Fragen. Den für das Thema der Arbeit wohl entscheidenden Aspekten soll im Folgenden nachgegangen werden. Erstens, bedeuten die Ergebnisse auch, dass die Bürger einen Europäischen Sozialstaat befürworten würden? Und zweitens, wie kann trotz der relativen Identität zwischen EU-Skript und den wohlfahrtsstaatlichen Ideen der Bürger erklärt werden, dass dem Projekt eines „Sozialen Europas“ in der Europaforschung so geringe Chancen eingeräumt werden? Zur Beantwortung der ersten Frage wird ein weiterer Datensatz herangezogen, der die Unterstützung für einen europäischen Sozialstaat misst. Eine Beantwortung der zweiten Frage kann erst im abschließenden Fazit auf der Basis der Analyse der parteipolitischen Deutungskulturen der Länder getätigt werden. 6.4 Ein europäischer Sozialstaat als Desiderat der Bürger? Die bisherige Analyse zu den wohlfahrtsstaatlichen Einstellungen der Bürger hat zwei wesentliche Erkenntnisse zutage treten lassen. Zum einen, dass der Großteil der europäischen Bürger für einen starken Sozialstaat in Form eines sozialdemokratischen oder gar etatistischen Modells ist, und zum anderen, dass die wohlfahrtsstaatlichen Vorstellungen der Bürger mit den sozialdemokratischen Elementen des europäischen Skripts weitgehend kompatibel sind und mitunter sogar noch darüber hinausgehen. So kann durch diese positive Korrelation zwischen dem EU-Skript und den wohlfahrtsstaatlichen Einstellungen der Bürger eine partielle (relative) Identität zwischen diesen beiden Ebenen konstatiert werden, was aber nicht zwangsläufig auch einen kausalen Zusammenhang bedeuten muss. Zudem finden die liberalen Elemente des EU-Skripts keine positive Entsprechung in den nationalen Sozio-Kulturen. Zwar besitzt die Annahme, dass sich die Übereinstimmung zwischen den wohlfahrtsstaatlichen Vorstellungen auf der Ebene der Sozio-Kultur und den sozialdemokratischen Elementen im EU-Skript positiv auf die Unterstützung für das europäische Projekt auswirkt, Plausibilitätswert; jedoch konnte mit den bisherigen Befunden noch keine Aussage darüber getroffen werden, ob sich die wohlfahrtsstaatlichen Vorstellungen gleichsam auf die europäische Ebene beziehen. Schließlich lässt sich in der Sozialstaats- wie auch Europa-Forschung häufig das Argument finden, dass der Nationalstaat primärer Bezugspunkt sozialpolitischer Vorstellungen und Wünsche der Bürger sei und letztlich auch bleiben werde, was einer Weiterentwicklung der sozialen Dimension im europäischen Integrationsprozess entgegenstünde.404 Im Folgenden sollen Eurobarometer-Daten405 hinzugezogen werden, die nach den Vorstellungen hinsichtlich einer stärkeren sozialpolitischen Ausgestaltung der europäischen Ebene fragen. Zuerst wurde zu diesem Zwecke eine Frage über europäische Entscheidungskompetenz in folgenden vier Bereichen ausgewählt:
403
So zum Beispiel wenn vor allem Wettbewerb, Aktivierungsmaßnahmen stärker gewichtet werden oder Gerichtsurteile des EuGH nationale soziale Rechte einschränken wie in den Fällen Laval, Viking und Rosdorf etc. Vgl. dazu Höpner (2008), Scharpf (2008) 404 Siehe ausführlicher sowie die Literatur dazu unter 5.3. 405 Special Eurobarometer 251, Welle 65.1, Erhebungszeitraum Februar/März 2006
152 a. b. c. d.
6 Sozio-Kultur Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Schutz sozialer Rechte, Sicherung des Wirtschaftswachstums, Gleichbehandlung von Frauen und Männern.
Die Befragten konnten demnach sagen, ob sie für mehr, weniger oder gleich bleibende Entscheidungskompetenzen auf europäischer Ebene in diesen Bereichen sind. Die tabellarisch zusammengefassten Ergebnisse zeigen auf, dass sich in allen vier Bereichen im Durchschnitt eine (knappe) Mehrheit der Befragten für mehr europäische Entscheidungskompetenzen ausspricht. In der jeweils letzten Spalte wird zudem die Beurteilung der Befragten hinsichtlich der bisherigen Leistungen im jeweiligen Bereich dargestellt. Anhand der Umfrageergebnisse zeigt sich, dass die Bewertung der bisherigen Leistung der EU in einem Bereich letztlich nicht ausschlaggebend dafür ist, ob mehr oder weniger europäische Entscheidungskompetenzen befürwortet werden. Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass bei den Befragten grundlegendere Vorstellungen und Überzeugungen mit Blick auf die Ausgestaltung und die zukünftige Rolle der EU zum Tragen kommen. Bei einer näheren Betrachtung der drei Untersuchungsländer fällt auf, dass Polen und Ostdeutschland, also zwei ehemals sozialistische Länder, ähnliche und von den drei Untersuchungsländern die höchsten Werte aufweisen. Gefolgt werden sie von Westdeutschland mit zum Teil nur ein paar Prozentpunkten geringerer Zustimmung zu mehr EU-Kompetenzen. In Großbritannien ist eine Mehrheit gegen mehr europäische Kompetenzen bei der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, der Sicherung sozialer Rechte und hinsichtlich einer makroökonomischen Steuerung. Lediglich bei der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, ein Bereich in dem die EU bereits umfassende Rechtssprechung betreibt, will ungefähr jeder zweite Brite mehr europäische Kompetenzen406. Ferner lassen sich drei Ländercluster erkennen. In den skandinavischensozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten zeigen sich ähnlich niedrige Zustimmungswerte (zwischen 30 und 40 %) bezüglich der drei Bereiche soziale Rechte, Arbeitslosigkeit und Wirtschaftswachstum wie es auch in den beiden liberalen Wohlfahrtsstaaten unter den alten Mitgliedsstaaten, Großbritannien und Irland, der Fall ist. Deutlich wird hierbei ebenso, dass von den alten Mitgliedsländern die kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaaten überwiegend christdemokratischer Prägung einer Ausweitung supranationaler europäischer Kompetenzen positiver gegenüber stehen als die liberalen und sozialdemokratischen Typen. Daher kann vermutet werden, dass sowohl Bürger liberaler als auch sozialdemokratischer Sozialstaaten am meisten um einen Verlust nationaler Errungenschaften fürchten, da sie im Vergleich zu den kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaaten – wenn auch mit sehr unterschiedlichen Strategien und in unterschiedlichen Bereichen – relativ gut aufgestellt sind. Christdemokratisch-konservativen Wohlfahrtsstaaten werden hingegen die größten Anpassungsschwierigkeiten bei der Bewältigung der sozialen und ökonomischen Herausforderungen im Zuge der sozio-ökonomischen Wandlungsprozesse nachgesagt, so dass hier möglicherweise diese „Schwerfälligkeit“ im Rahmen sozialpolitischer Anpassungsprozesse mehr Bürger eine stärkere sozialpolitische Kompetenz der EU befürworten lässt. Die neuen 406
Spekulativ betrachtet, könnten die generell hohen Zustimmungswerte für mehr europäische Kompetenzen bei der Gleichbehandlung von Männern und Frauen ein mögliches Indiz dafür sein, dass wenn die EU auf einem Gebiet schon umfassende Kompetenzen über einen längeren Zeitraum besitzt, eine Kompetenzausweitung grundsätzlich eher befürwortet wird als in neuen Bereichen.
6 Sozio-Kultur
153
Mitgliedsländer dagegen weisen von allen Ländern im Schnitt die höchsten Zustimmungsraten auf, was sicherlich mit der Hoffnung auf eine soziale Verbesserung im Sinne einer westeuropäischen Angleichung erklärt werden kann. Tabelle 12: Europäische Entscheidungskompetenz im Kampf gegen Arbeitslosigkeit (Angaben in Prozent) Land
Keine Weiß nicht / Veränderung k.A.
Bewertung der EUa
Mehr EU
Weniger EU
Belgien
65
27
6
Dänemark
34
53
9
4
4,9
Deutschland (West)
53
37
8
2
3,2
2
4,3
Deutschland (Ost)
65
30
4
1
2,5
Griechenland
62
33
5
0
3,4
Spanien
57
19
9
15
5,6
Finnland
38
57
4
2
4,2
Frankreich
49
40
6
5
3,8
Irland
42
28
19
10
6,4
Italien
54
33
7
6
4,4
Luxemburg
71
21
5
4
3,9
Niederlande
50
34
13
4
5,3
Österreich
46
41
7
7
3,2
Portugal
73
14
2
11
4,2
Schweden
36
56
5
4
4,0
Großbritannien
24
62
6
8
5,3
Nordirland
25
53
8
15
5,9
Zypern
67
27
2
5
4,4
Tschechische Republik
54
37
5
4
4,0
Estland
31
59
2
8
5,7
Ungarn
68
13
10
8
4,0
Lettland
53
38
2
6
4,9
Litauen
40
47
2
11
6,2
Malta
55
36
1
7
4,8
Polen
66
29
1
4
4,0
Slowakei
74
21
2
3
4,2
Slowenien
54
38
4
4
4,4
Insgesamt
52
37
6
6
4,5
Quelle: Special Eurobarometer 251/65.1, eigene Berechnung a Bewertung der Leistung der EU auf einer 10-Punkteskala: 1 = überhaupt nicht zufrieden, 10 = sehr zufrieden.
154
6 Sozio-Kultur
Tabelle 13: Europäische Entscheidungskompetenz zum Schutz sozialer Rechte (in Prozent) Land
Keine Weiß nicht / Bewertung der Veränderung k.A. EUa
Mehr EU
Weniger EU
Belgien
67
24
7
2
5,0
Dänemark
36
53
8
3
5,5
Deutschland (West)
59
30
9
2
4,8
Deutschland (Ost)
60
30
8
1
4,3
Griechenland
67
26
7
1
4,7
Spanien
59
17
9
15
6,0
Finnland
40
54
4
1
4,9
Frankreich
51
38
6
5
4,8
Irland
51
25
13
11
6,6
Italien
66
22
7
5
5,3
Luxemburg
72
19
6
3
5,0
Niederlande
54
31
11
4
5,8
Österreich
41
44
9
6
4,4
Portugal
71
14
2
13
5,4
Schweden
31
60
5
4
5,0
Großbritannien
32
53
7
8
5,8
Nordirland
38
38
9
15
6,5
Zypern
84
12
1
3
6,1
Tschechische Republik
59
34
4
3
5,3
Estland
41
50
1
9
5,8
Ungarn
66
13
12
8
4,8
Lettland
57
33
2
7
5,2
Litauen
43
44
1
12
6,5
Malta
57
31
2
10
6,2
Polen
62
31
1
6
4,8
Slowakei
70
21
5
4
4,8
Slowenien
52
38
6
4
4,8
Insgesamt
55
33
6
6
5,3
Quelle: Special Eurobarometer 251/65.1, eigene Berechnung a Bewertung der Leistung der EU auf einer 10-Punkteskala: 1 = überhaupt nicht zufrieden, 10 = sehr zufrieden.
6 Sozio-Kultur
155
Tabelle 14: Europäische Entscheidungskompetenz zur Sicherung des Wirtschaftswachstums (in Prozent) Land
Keine Weiß nicht / Veränderung k.A.
Bewertung der EUa
Mehr EU
Weniger EU
Belgien
72
18
7
2
5,4
Dänemark
55
33
8
4
6,3
Deutschland (West)
60
29
8
3
4,6
Deutschland (Ost)
64
29
5
2
4,3
Griechenland
67
28
5
0
4,1
Spanien
61
15
8
16
6,2
Finnland
53
41
5
1
5,4
Frankreich
60
29
4
7
5,1
Irland
55
22
13
10
6,8
Italien
67
22
6
5
5,2
Luxemburg
72
16
8
5
5,3
Niederlande
60
23
14
4
5,8
Österreich
52
34
8
7
4,9
Portugal
72
14
2
12
5,2
Schweden
46
43
5
6
5,2
Großbritannien
35
49
6
10
5,9
Nordirland
41
31
9
18
6,6
Zypern
82
13
1
4
5,9
Tschechische Republik
61
33
3
3
5,5
Estland
42
44
2
12
6,5
Ungarn
73
13
6
8
4,8
Lettland
61
29
1
9
5,6
Litauen
53
31
2
14
6,9
Malta
63
25
1
11
6,1
Polen
68
24
1
7
5,4
Slowakei
73
21
3
3
4,9
Slowenien
61
32
4
4
5,4
Insgesamt
60
28
5
7
5,5
Quelle: Special Eurobarometer 251/65.1, eigene Berechnung a Bewertung der Leistung der EU auf einer 10-Punkteskala: 1 = überhaupt nicht zufrieden, 10 = sehr zufrieden.
156
6 Sozio-Kultur
Tabelle 15: Entscheidungskompetenz der EU zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen (in Prozent) Land
Keine Weiß nicht / Veränderung k.A.
Bewertung der EUa
Mehr EU
Weniger EU
Belgien
80
9
10
1
5,9
Dänemark
61
27
8
3
5,8
Deutschland (West)
63
18
17
2
6,1
Deutschland (Ost)
63
22
14
1
5,8
Griechenland
65
24
10
0
5,9
Spanien
62
15
9
14
6,2
Finnland
64
26
8
2
5,8
Frankreich
75
15
5
5
5,5
Irland
56
19
15
10
6,7
Italien
71
16
8
5
5,9
Luxemburg
76
11
12
2
5,5
Niederlande
74
9
16
1
6,3
Österreich
51
26
16
7
5,3
Portugal
69
14
4
12
6,1
Schweden
69
24
3
3
4,8
Großbritannien
52
34
8
6
6,2
Nordirland
58
18
12
11
6,4
Zypern
82
11
4
4
7,1
Tschechische Republik
64
24
11
2
6,1
Estland
43
39
6
13
6,8
Ungarn
53
14
24
9
5,8
Lettland
52
28
9
11
6,7
Litauen
45
37
3
16
7,4
Malta
64
20
6
11
7,5
Polen
66
23
5
7
6,5
Slowakei
64
22
11
3
5,5
Slowenien
61
25
10
4
6,3
Insgesamt
63
22
10
6
6,1
Quelle: Special Eurobarometer 251/65.1, eigene Berechnung a Bewertung der Leistung der EU auf einer 10-Punkteskala: 1 = überhaupt nicht zufrieden, 10 = sehr zufrieden.
Nachdem aufgezeigt wurde, dass im Schnitt über die Hälfte der befragten europäischen Bürger für mehr EU-Kompetenzen in wichtigen sozialpolitischen Fragen sind, kann anhand der Eurobarometer-Daten des Weiteren untersucht werden, inwieweit eine Vereinheitli-
6 Sozio-Kultur
157
chung der Sozialsysteme gewünscht wird und welchen Stellenwert ein europäisches Sozialsystem für die Befragten zur Herausbildung einer Europäischen Bürgeridentität besitzt. Tabelle 16: Befürworter und Gegner einer Vereinheitlichung der Sozialsysteme innerhalb der EU (in Prozent) Land
dafür
dagegen
weiß nicht
Belgien
73
25
2
Dänemark
54
43
3
Deutschland (West)
50
44
6
Deutschland (Ost)
60
36
4
Griechenland
80
18
3
Spanien
60
17
22
Finnland
47
50
3
Frankreich
60
34
6
Irland
48
34
18
Italien
66
19
16
Luxemburg
51
45
5
Niederlande
64
33
3
Österreich
48
42
11
Portugal
65
9
26
Schweden
63
31
5
Großbritannien
47
45
8
Nordirland
59
27
14
Zypern
74
15
11
Tschechische Republik
71
22
7
Estland
77
11
12
Ungarn
79
11
10
Lettland
81
11
8
Litauen
59
17
24
Malta
55
26
19
Polen
86
8
6
Slowakei
80
12
8
Slowenien
68
24
8
Insgesamt
64
26
10
Quelle: Special Eurobarometer 251/65.1, eigene Berechnung
Auf die Frage „Heute ist jedes Mitgliedsland der Europäischen Union für sein eigenes Sozialsystem verantwortlich. Inwieweit wären Sie für oder gegen eine Vereinheitlichung der Sozialsysteme innerhalb der Europäischen Union?“ reagiert im Schnitt eine große
158
6 Sozio-Kultur
Mehrheit positiv, so dass zusammengenommen 64 % der Befragten mit „voll und ganz dafür“ oder mit „eher dafür“ geantwortet haben, und lediglich 26 % haben sich gegen eine Harmonisierung der Sozialsysteme ausgesprochen. Tabelle 17: Häufigkeit der Antwort „Ein europäisches Sozialsystem“ auf die Frage, was das Gefühl verstärken würde, ein europäischer Bürger zu sein (Platzierung innerhalb von 10 Antwortmöglichkeiten) Land
Platzierung
Estland
1
Finnland
1
Frankreich
1
Griechenland
1
Italien
1
Lettland
1
Litauen
1
Nordirland
1
Österreich
1
Polen
1
Portugal
1
Schweden
1
Slowakei
1
Slowenien
1
Tschechische Republik
1
Ungarn
1
Zypern
1
Belgien
2
Dänemark
2
Deutschland (Ost)
2
Deutschland (West)
2
Großbritannien
2
Malta
2
Niederlande
2
Spanien
2
Irland
3
Luxemburg
3
Quelle: Special Eurobarometer 251/65.1, eigene Berechnung
Im Unterschied zu den vorherigen Fragen fällt auf, dass sich erstens in Großbritannien fast jeder zweite (47 %) für eine solche Harmonisierung ausgesprochen hat, und dass sie zwei-
6 Sozio-Kultur
159
tens in Polen mit 86 % den höchsten Zustimmungswert erreicht. In Westdeutschland ist (nur) jeder Zweite für eine solche Harmonisierung, während in Ost-Deutschland die Zustimmung noch um 10 Prozent höher liegt. Diese relativ positiven Ergebnisse hinsichtlich der sozialen Dimension im europäischen Integrationsprozess werden durch die nächste Frage erneut gestützt. Auf die Frage „Was aus dieser Liste würde Ihr Gefühl verstärken, ein europäischer Bürger zu sein?“ durften von zehn verschiedenen Antworten zwei ausgewählt werden, u. a. „ein europäisches Sozialsystem“. Die angeführte Tabelle zeigt, an welcher Stelle die Antwort ein „europäisches Sozialsystem“ als identitätsstiftendes Merkmal unter allen Befragten und allen Antworten eines Landes rangierte. In fast allen Ländern (Ausnahmen Luxemburg und Irland) rangiert ein „europäisches Sozialsystem“ als identitätsstiftendes Merkmal unter den vorgegebenen Antwortmöglichkeiten an erster oder zweiter Stelle, was die Bedeutung einer sozialen Ausrichtung der EU für die Herausbildung einer europäischen Bürgeridentität auch aus der Perspektive der Bürger deutlich macht. Bei einer genaueren Betrachtung von drei Untersuchungsländern differenzieren sich die Befunde noch weiter aus; die konstatierte Bedeutung eines europäischen Sozialsystems für die Herausbildung einer europäischen Identität bleibt jedoch in der Tendenz gültig. Tabelle 18: Platzierung der Antworten auf die Frage, was das Gefühl verstärken würde, ein europäischer Bürger zu sein Deutsch- Deutsch- Großland land britannien (West) (Ost)
Polen
Insgesamt
„In dem Mitgliedsstaat, in dem Sie leben, bei allen Wahlen teilnehmen zu können“
5
4
5
2
3
„Ein europäisches Sozialsystem“
2
2
2
1
1
„Ein Präsident der Europäischen Union, der von den Bürgern in den Mitgliedsstaaten direkt gewählt wird“
4
5
6
5
4
„Das Ersetzen der nationalen Einkommenssteuer durch eine europäische Einkommenssteuer“
7
6
7
4
5
„Eine europäische Verfassung“
1
1
4
3
2
„Ein europäisches Olympia-Team“
8
8
9
8
10
Spontan: nichts davon
3
3
3
7
6
Spontan: ich möchte kein europäischer Bürger sein
6
7
1
9
8
Spontan: sonstige
9
10
10
10
9
Weiß nicht / Keine Angabe
10
9
8
6
7
Quelle: Special Eurobarometer 251/65.1, eigene Berechnung
In West- und Ost-Deutschland haben die Menschen fast identisch geantwortet, und nach einer europäischen Verfassung wird ein europäisches Sozialsystem als ein identitätsstiftendes Element genannt. Es fällt lediglich auf, dass in Ostdeutschland demokratische Wahlen
160
6 Sozio-Kultur
einen leicht höheren Stellenwert zugeordnet bekommen als in Westdeutschland. Da in Polen Wahlen nach der Befürwortung eines europäischen Sozialsystems gleich als zweit einflussreichstes Element für eine Bürgeridentität genannt wird, lässt sich davon ausgehen, dass durch die historische Erfahrung autoritärer Regime noch ein stärkeres Bewusstsein für den Stellenwert einer demokratischen Wahl erhalten hat. In Großbritannien relativiert sich der zweite Platz der Bedeutung eines europäischen Sozialsystems dadurch, dass als erste Antwort eine prinzipielle Ablehnung einer europäischen Zugehörigkeit genannt wurde. Hier zeigt sich die tiefe Europaskepsis der Briten erstmals deutlich, allerdings scheint es auch so zu sein, dass zumindest ein Teil derjenigen, die an erster Stelle eine europäische Bürgeridentität abgelehnt haben, zumindest an zweiter Stelle für ein „europäisches Sozialsystem“ sind, letzteres vielleicht in dem Sinne, dass wenn sie sich schon als europäischer Bürger fühlen müssten, dies am ehesten durch ein europäisches Sozialsystem erreicht werden könnte. In einer logistischen Regressionsanalyse wird im Folgenden geprüft, ob sich ähnlich signifikante Einflüsse zur Erklärung der Einstellungen auf Individualebene und Länderebene wie bei den ISSP-Daten ausmachen lassen. Da im Eurobarometer-Datensatz nicht alle Individualmerkmale wie im ISSP-Datensatz erfasst wurden, kann vor allem die religiöse Zugehörigkeit nicht als Erklärungsvariable untersucht werden. Modifizierungen ergeben sich bei der Statusvariable, die diesmal nicht auf einer Selbsteinschätzung der Befragten, sondern auf dem jeweils ausgeübten Beruf basiert. Hinzugekommen ist eine Bildungsvariable, die sich am Alter orientiert, mit dem die Schule/Ausbildung endete. Die beiden Makrokontexte HDI und Sozialausgaben üben im Falle der Europafragen beide einen signifikanten Einfluss aus. Zunächst einmal zeigt sich, dass sich ein hoher Modernisierungsgrad sowohl negativ auf die Unterstützung einer Ausweitung der sozialen EUKompetenzen auswirkt als auch hinsichtlich der Befürwortung eines europäischen Sozialsystems als ein identitätsförderliches Element. Zugleich erweist sich aber auch, dass hohe Sozialausgaben (gemessen in % am BIP) einen positiven Einfluss auf die Befürwortung einer Ausweitung der EU-Kompetenzen auf den Gebieten Arbeitslosigkeit, Wirtschaftswachstum und Gleichstellung und in sehr leichter Form auch bei der Befürwortung eines europäischen Sozialsystems haben. Dies mutet zunächst einmal paradox an, da in der Regel angenommen werden kann, dass je höher der Modernisierungsgrad eines Landes ist, umso höher auch die Sozialausgaben sind. In multiplen Regressionsmodellen jedoch geben die Regressionskoeffizienten den um die übrigen unabhängigen Variablen bereinigten Einfluss auf die abhängige Variabel wieder. Anschaulicher formuliert bedeutet dies: Nähme man an, alle Länder hätten bei allen anderen Variablen gleiche Werte (z. B. den gleichen HDI etc.), dann würden sich höhere Sozialausgaben positiv auf die EU-Einstellungen hinsichtlich einer sozialpolitischen Kompetenzausweitung auswirken.407 Ferner zeigt sich, dass die Geschlechtervariable einen umgekehrten Einfluss im Vergleich zu den nationalen Sozialstaatseinstellungen besitzt: Hier sind Frauen eher gegen eine Ausweitung sozialpolitischer Kompetenzen auf der EU-Ebene. Ein höherer Bildungsgrad wirkt sich hingegen positiv aus. In diese Richtung geht auch das Erklärungspotential der Berufsvariablen, wonach bei Arbeitern (im Verhältnis zur Referenzkategorie) die Wahrscheinlichkeit einer Ablehnung der abgefragten EU-Maßnahmen signifikant ansteigt. 407
Umgekehrt hieße dies auch, wenn alle Länder gleich hohe Sozialausgaben (etc.) hätten, würde sich der Modernisierungsgrad negativ auswirken. Hierbei spricht man auch davon, dass die anderen Variablen „unter Kontrolle“ gehalten werden.
6 Sozio-Kultur
161
Tabelle 19: Kurzdarstellung der signifikanten Einflüsse auf die EU-Einstellungen der Bürger Europäisches EUEUEUEUSozialsystem Kompetenz: Kompetenz: Kompetenz: Kompetenz: für Identität Arbeitslosig- Soziale Rechte Wirtschafts- Gleichstellung keit wachstum Modernisierung (HDI)
-***
-***
Sozialausgaben
+
+***
Geschlecht a)
-*
-
-*** -*
-***
-*
+***
+***
-***
Alter b) 15-24
+*
40-54
+ -
> 54
-*
-***
-***
Bildung c) 16-19 > 20 Beruf / Status
+
+*
+
+**
+*
+*
-**
-***
d)
Arbeiter
-***
-**
Führungskraft
-* +
Parteineigung e) dezidiert links links rechts
-
Dezidiert rechts Sonstiges Keine Präferenz
-
-**
-* -***
-*
-
-
-**
-***
-*
-*
-***
-**
Anmerkungen: Logistische Regressionen, ungewichtet, robuste Standardfehler, +/-: Vorzeichen des Koeffizienten, nur Koeffizienten angegeben mit p<0,1; *: p<0,05; **: p<0,01; ***: p<0,001. a) Referenzkategorie für das Geschlecht ist „männlich“ b) Referenzkategorie für das Alter sind 25-39-jährige c) Referenzkategorie für die Bildungsvariable (Alter, mit dem die Schule/Ausbildung endete) sind „15 Jahre und jünger“ d) Referenzkategorie für Beruf / Status sind Angestellte, Beamte, Facharbeiter e) Referenzkategorie für die Parteineigung ist „Zentrum/Liberal“
Bei der Parteienvariable zeigen nur die Kategorien „Keine Präferenz“ und „Sonstige“ einen signifikanten Erklärungswert. Vorausgesetzt es handelt sich nicht um ein statistisches Artefakt, könnte angenommen werden, dass sich unter diesen Kategorien entweder eher politikferne Bevölkerungsgruppen („Keine Präferenz“) oder Anhänger irgendwelcher Splitterparteien („Sonstige“) verbergen, was den negativen Korrelationszusammenhang erklären
162
6 Sozio-Kultur
könnte. Bei politikfernen Bevölkerungsgruppen könnte angenommen werden, dass sie über wenig europäische Berührungspunkte (im Sinne von Wissen, Interesse) verfügen und damit eine eher euroskeptische Haltung einhergeht. Bei Splitterparteien trifft man tendenziell eher nationale Orientierungen an oder die Fokussierung auf ein bestimmtes Thema, wobei ebenfalls angenommen werden kann, dass dies eher eine euroskeptische Haltung oder ein Desinteresse an Europa befördert. Aufgrund dieser Befunde wird deutlich, dass das für die Unterstützung der Wohlfahrtsstaatsmodelle plausible Betroffenheitsargument im EU-Kontext keine Erklärungskraft besitzt. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass gerade durch diese Betroffenheit (Ältere, Frauen, geringer beruflicher Status und niedriger Bildungsstand) Ängste gegenüber der EU aufkommen. Offenkundig lassen sich nationale Sozialstaatspräferenzen nicht einfach auf die EU übertragen: Die Merkmale, die auf nationaler Ebene mit dem Zuspruch für einen sozialdemokratischen oder etatistischen Wohlfahrtsstaatstyp einhergehen, führen eher zu einer Ablehnung weiterer sozialpolitischer Kompetenzen für die EU. Die Unterstützer nationaler Sozialstaatlichkeit und die Unterstützer europäischer Sozialstaatlichkeit rekrutieren sich also aus sehr unterschiedlichen Personengruppen. 6.5 Fazit zur Sozio-Kultur Die Eurobarometer-Befunde belegen, dass im Großen und Ganzen eine (knappe) Mehrheit der europäischen Bürger einer Stärkung der europäischen sozialen Dimension positiv gegenüber steht und diese auch als ein wesentliches Element für die Herausbildung einer europäischen Bürgeridentität betrachtet. Hierbei lassen sich allerdings bisweilen starke nationale Unterschiede feststellen – was die Notwendigkeit einer genaueren Betrachtung der nationalen Ebene nahe legt, wie sie in dieser Arbeit vorgenommen wird. Vor dem Hintergrund der bisherigen wissenschaftlichen Annahmen und dem eher nachrangigen Stellenwert der sozialen Dimension in der europäischen Gesamtentwicklung handelt es sich in jedem Fall um erstaunlich hohe Zustimmungswerte. Gleichzeitig konnte gezeigt werden, dass in den meisten nationalen Sozio-Kulturen soziale Werte und Überzeugungen – in Verbindung mit einer staatlichen Verantwortung dafür – einen hohen Stellenwert einnehmen. Diese sozialen Werte- und Einstellungsmuster könnten demnach als ein positiver Anknüpfungspunkt zur Thematisierung europäischer sozialpolitischer Ambitionen genutzt werden. Da immerhin in fast allen Ländern ein europäisches Sozialsystem als förderlich für die Herausbildung einer europäischen Identität erachtet wurde, liegt in einer positiven Vermittlung eines sozialen Europaprojektes durchaus eine Chance für eine (soziale) europäische Identität. Es wurde jedoch ebenfalls festgestellt, dass im europäischen Kontext andere Wirkungsfaktoren eine Rolle spielen als auf nationaler Ebene: Die stärksten Unterstützer für einen ausgebauten Sozialstaat sind nicht notwendigerweise auch die stärksten Unterstützer einer Ausweitung sozialpolitischer Kompetenzen der EU. Möglicherweise spielen die Ängste vor Globalisierung und Europäisierung hier eine besondere Rolle Der liberale Aspekt des EU-Skripts könnte so gesehen insbesondere diejenigen abschrecken, die auf nationaler Ebene die Unterstützer eines sozialdemokratischen oder etatistischen Modells sind. In diesem Kontext wären vor allem die sozialdemokratischen Parteien gefragt, die sich traditionell als Partei der Arbeiter und „kleinen Leute“ definieren, die eher eine skeptische Haltung hinsichtlich eines „Mehr“ an sozialem Europa aufwiesen.
6 Sozio-Kultur
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Inwieweit sich diese Ergebnisse positiv auf eine Unterstützung des europäischen politischen Projektes auswirken könnten, hängt letztlich davon ab, inwieweit diese Spannungen zwischen dem EU-Skript und den Sozio-Kulturen der Länder auch in den Deutungskulturen, insbesondere bei den politischen Parteien, thematisiert werden.408 Denn, wie bereits oben zum Verhältnis von Sozio- und Deutungskultur ausgeführt wurde, liegt die entscheidende Aufgabe der Parteien darin, die bestehende politische Sozio-Kultur immer wieder zum Thema zu machen und dadurch etablierte Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen. Nur durch einen solchen Diskurs können neue, alternative Selbstverständlichkeiten entstehen, die dann als Teile einer “erneuerten“ Sozio-Kultur wirksam werden. Erst im Zuge dieses zentralen Prozesses zwischen Sozio- und Deutungskultur werden neue Denk- und Handlungsoptionen im Rahmen einer politischen Kultur eröffnet. Und da die politische Kultur letztlich den Handlungsrahmen für die politischen Akteure darstellt, hängen die politischen Handlungsoptionen der Akteure auch davon ab, inwieweit Sozio- und Deutungskultur sich gegenseitig (positiv) befruchten.409
408
Politische Parteien sind hierbei wichtige Akteure, die sowohl unmittelbar auf nationaler Ebene als auch mittelbar auf europäischer Ebene agieren (z. B. über die Regierungen, die EP-Fraktionen etc.). 409 Vgl. hierzu das Verhältnis von Sozio- und Deutungskultur nach Rohe (1987), in dieser Arbeit in Kapitel 2
7 Deutungskultur: Parteien als Träger und ‚Interpreten’ politischer Kultur
Um einen Einblick in die Deutungskulturen der drei ausgewählten Länder zu bekommen, werden die Wahlprogramme der jeweils dominanten Parteien im jeweiligen Parteiensystem zwischen 1990 und 2005 untersucht. Dafür soll jedoch zunächst geklärt werden, in welchem Verhältnis politische Parteien zur Gesellschaft stehen, um daraus ableiten zu können, inwieweit Parteien bzw. ihre Programmatiken im Kontext politischer Kulturanalysen Erklärungswert zugeschrieben werden können. Dies ist nicht nur für die anstehende Analyse unerlässlich, sondern bedarf insbesondere vor dem Hintergrund der schon seit den 1990er Jahren währenden Debatte um die Krise der Parteien einer besonderen Begründung. In der Parteienforschung wird unter dem Schlagwort der Parteienkrise eine kontroverse Debatte über die Bedeutung bzw. den Bedeutungsverlust von politischen Parteien geführt. Dabei werden so unterschiedliche Phänomene wie der Mitgliederschwund der Parteien, die zunehmende „Mediatisierung“ von Politik, der Aufschwung populistischer Parteien am rechten und linken Rand der Parteiensysteme, Verfilzung und Spendenskandale, die Überalterung der Parteien und der Rückgang der Stammwählerschaften als Ausdruck einer grundsätzlichen Krise der Parteien in hochmodernen Gesellschaften angeführt. Mit Verweis auf die Politikverdrossenheit der Bürger und die Dominanz der Medien wird den Parteien gar der Niedergang prophezeit, zum Teil werden sie aber auch als obsolet gebrandmarkt oder ihnen werden - in abgeschwächter Form – gewisse Funktionsdefizite bescheinigt.410 Diesem Abgesang auf die Bedeutung politischer Parteien schließt sich diese Arbeit nicht an. Vielmehr wird argumentiert, dass die Parteien – trotz der sichtbaren Veränderungsprozesse und den mitunter daraus resultierenden Problemen – nach wie vor eine herausragende Stellung im intermediären Bereich zwischen Staat und Gesellschaft einnehmen und damit sowohl als Produkt als auch Produzent politischer Kultur konzeptionalisiert werden können. Hierfür soll zuerst ein kurzer Überblick darüber gegeben werden, was politische Parteien darstellen und welche Aufgaben ihnen in einem politischen System zukommen. Dabei soll es zunächst um eine allgemeine Darstellung gehen, die die unterschiedliche Funktionsgewichtung von Parteien je nach Systemtyp (parlamentarisch, semi-präsidientiell oder präsidentiell) vorerst ausklammert.411 Anschließend soll das Verhältnis von Parteien und Gesellschaft anhand zentraler Aspekte dargelegt und vor dem Hintergrund der konstatierten gesellschaftspolitischen Wandlungsprozesse diskutiert werden. Beabsichtigt wird, dadurch aufzuzeigen, dass trotz veränderter Kontextbedingungen „Parties do matter.“412 Mit Blick
410
In differenzierteren Auseinandersetzungen wird nur die Zukunftsfähigkeit des Modells der Mitgliederpartei aufgrund der sinkenden Mitgliederzahlen und der daraus resultierenden Finanzierungsprobleme kritisch hinterfragt und damit ein Problem konstatiert, aber nicht die These erhoben, dass politische Parteien obsolet würden. 411 Solche Spezifizierungen werden erst im Kontext des Untersuchungslandes eingehender thematisiert. 412 Ausführlicher dazu weiter unten. Eine Reihe von Aufsätzen und Analysen halten die These des Niedergangs der Parteien für übereilt und weisen in ihren Studien nach, dass Parteien nach wie vor – je nach Forschungsfrage – von
7 Deutungskultur
165
auf die Operationalisierung der politischen Deutungskultur anhand politischer Programme wird abschließend die Bedeutung und der Erklärungswert von diesen beleuchtet und das genaue Analyseverfahren der „sozialen Dimension“ beschrieben. 7.1 Politische Parteien in Demokratien Im Rahmen der Parteienforschung413 werden Parteien prinzipiell als wesentlicher Bestandteil moderner Massendemokratien anerkannt, da sie als zentrales Bindeglied zwischen den staatlichen Institutionen und der Gesellschaft fungieren.414 Somit wird politischen Parteien nicht nur ein entscheidender Einfluss auf das politische Geschehen zugewiesen, auch werden sie als die primäre intermediäre Instanz zwischen Staat und Gesellschaft betrachtet, die beim politischen Willensbildungsprozess mitwirkt. Zudem wird ihnen eine umfassende Präsenz und Mitwirkung im als auch an den Schnittstellen des politischen Systems bescheinigt. Parteien wirken nicht nur im Parlament und in der Regierung einer modernen Demokratie; sie sind sowohl auf regionaler und kommunaler Ebene entscheidende politische Akteure als auch an anderen „politikferneren“ Schnittstellen des politischen Systems, wie z. B. in der Verwaltung, der Rechtssprechung oder Wirtschaft, anzutreffen.415 Darüber hinaus agieren politische Parteien auch auf europäischer Ebene und üben politischen Einfluss aus, sei es im Rahmen ihrer Arbeit im europäischen Parlament, sei es über die nationalen Parlamente, die seit dem Vertrag von Lissabon eine Aufwertung ihrer Rolle im Europäischen System zuerkannt bekamen. Diese umfassende Präsenz von Parteien hat zu einer Fülle von Definitionen und Funktionsbeschreibungen geführt, die als Grundlage der Parteienanalysen herangezogen werden. Die Vielzahl von Parteidefinitionen heben jeweils unterschiedliche Aspekte hervor. Während einige Autoren die programmatische Dimension politischer Parteien betonen, stellen andere das Streben nach Macht in den Vordergrund. Für erstere lassen sich die Definitionen von Edmund Burke aus dem Jahre 1970 wie auch die von Besson und Jasper (1990) anführen. Nach Burke sind Parteien „a body of men united for promoting by their joint endeavors the national interest upon particular principle in which they all agreed“416 Schumpeter (1950) betrachtet hingegen den Wettbewerb um Macht als das zentrale Charakteristikum politischer Parteien: “A party is not…a group of men who intend to promote public welfare upon some principle on which they are all agreed ..A party is a group whose members propose to act in concert in the competitive struggle for political power.” 417
Sowohl Programmatik als auch Machterwerb sind jedoch wesentliche Kennzeichen politischer Parteien. Alan Ware (1996) bringt in seiner Definition beide Aspekte zusammen: Bedeutung sind. Als Beispiele können hier der Aufsatz von Beyme (1981), Ray (1999) sowie die Untersuchung von Sinclair (1998) oder die Publikation von Burnell (2004). 413 Hierunter fallen natürlich nicht die Vertreter der These, dass das Ende der Parteien gekommen sei. 414 Sartori (1976:25) 415 Niewiadomska-Frieling (2005:27), ebenso Lenk/Traunmüller (1999:345) 416 Burke (1975:113) 417 Schumpeter (1950:283)
166
7 Deutungskultur „A political party is an institution that (a) seeks influence in a state, often by attempting to occupy positions in government, and (b) usually consists of more than a single interest in the society and so to some degree attempts to ‘aggregate interests’.”418
Umfassendere Definitionen versuchen weitere zentrale Eigenschaften politischer Parteien zu integrieren. Nach Manfred G. Schmidt (1995) steht der Begriff ‚Partei’ für: „(...) organisierte Zusammenschlüsse gleichgesinnter Staatsbürger zur Förderung gemeinsamer politischer Anliegen in Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen über öffentliche Angelegenheiten, vor allem durch Meinungsäußerung, direkte oder indirekte Einflussnahme auf die Regierungspolitik, Ämtererwerb (...) und politische Gestaltung (...).“419
Von Alemann (2000) geht in seiner Definition noch weiter, indem er auch auf die Rückwirkungen seitens der Parteien auf die Gesellschaft und das gesamte politische System verweist: “Parteien sind auf Dauer angelegte, freiwillige Organisationen, die politische Partizipation für Wähler und Mitglieder anbieten, diese in politischen Einfluss transformieren, indem sie politisches Personal selektieren, was wiederum zur politischen Integration und zur Sozialisation beiträgt und zur Selbstregulierung führen kann, um damit die gesamte Legitimation des politischen Systems zu befördern.“
Diese Fülle an unterschiedlichen Begriffsdefinitionen liegt einerseits in den unterschiedlichen (normativen) Demokratieverständnissen begründet, die als Ausgangspunkt der Betrachtung herangezogen werden. Andererseits erlangen je nach Perspektive bestimmte Aspekte besondere Beachtung. Nach Wiesendahl (1980) lassen sich drei idealtypische Paradigmen in der Parteienforschung unterscheiden:420 7.1.1
Parteien und politisches System
Das erste Parteienparadigma, das Integrationsparadigma, fragt nach der Integrationsleistung von politischen Parteien für die Stabilität bzw. Systemerhaltung von Demokratien. Parteien stellen somit das stabilitäts- und persistenzerhaltende Bindeglied zwischen dem politisch-administrativen Bereich und der gesellschaftlichen Umwelt dar. „Auf der einen Seite regulieren die Parteien Konflikte, filtern und bündeln die Forderungen der Bürger an das System und präsentieren sie in systemfunktionaler Form. Auf der anderen Seite vermitteln sie bindende politische Entscheidungen und stellen durch Mobilisierung und Sicherung von Massenrückhalt Systemanerkennung und Systemunterstützung sicher.“421
Die maßgeblichen Funktionen von Parteien liegen in der Integration von partikularen Interessen und der Verhinderung von systemgefährdenden Konflikten. Geleistet wird dies, in418
Ware (1996:5) Schmidt (1995²:696) Im Folgenden beziehe ich mich auf die gelungene Zusammenfassung von Niewiadomska-Frieling (2005:2833), vgl. Wiesendahl (1980:100-212) 421 Niewiadomska-Frieling (2005:28) 419 420
7 Deutungskultur
167
dem Parteien im Sinne eines Filters Alternativen und Komplexität reduzieren, als „Prellbock oder Puffer“ fungieren und Unterstützung für das politische System mobilisieren. Sie dienen der Legitimation, Innovation und (gesellschaftlichen) Integration des politischen Systems. Das zweite Paradigma, das Konkurrenzparadigma, beruft sich maßgeblich auf die Ökonomische Theorie der Politik (Schumpeter 1950; Downs 1968) und konzeptualisiert Demokratie als ein Marktmodell mit demokratischer Elitenherrschaft. Politische Parteien werden hierbei nicht als Ganzes in den Blickwinkel genommen, sondern nach Nützlichkeitserwägungen agierende und auf Machtgewinnung ausgerichtete Parteieliten stehen in Konkurrenz um die größtmögliche Zahl an (Wähler-)Stimmen. Welche Interessen eine Partei (bzw. die Parteielite) vertritt, unterliegt einem strategischen Kalkül und kann als eine Art Tauschgeschäft betrachtet werden. Gegen Stimmen (oder Geld) bietet eine Partei die Vertretung bestimmter Interessen an. Demnach geht es Parteien nicht primär um den Erhalt der demokratischen Ordnung, sondern diese sichert vielmehr den ordnungspolitischen Rahmen für den Wettbewerb der Parteien um Stimmen ab. Folglich kommt Parteien die Funktion der Stimmenmaximierung und der „Interessensvermarktung“ zu. Dadurch wird der Parteielite ihr Ziel der Machterlangung bzw. des Machterhalts theoretisch ermöglicht und durch die Konkurrenzsituation zugleich „eine optimale Versorgung des politischen Gütermarktes“422 sichergestellt. Das dritte Paradigma ist das Transmissionsparadigma. Dieses sieht Parteien primär als Vertreter verschiedener Bevölkerungsgruppen. Parteien nehmen folglich die Anliegen und Wünsche von Bevölkerungsgruppen auf, artikulieren diese und tragen sie unverändert auf die politische Bühne. In der Theorietradition des Republikanismus mit dem Postulat der Volkssouveränität können politische Institutionen und Prozesse letztlich nur eine vom Volk abgeleitet Legitimation beanspruchen. Politische Parteien sind daher die notwendigen Transmissionsriemen im politischen Prozess moderner Massendemokratien. Politische Parteien sind damit primär auf die Gesellschaft bezogen und übernehmen Aufgaben wie Willensbildung, Mobilisierung, Organisation und Interessenvertretung. Einige Vertreter des Transmissionsparadigmas schreiben politischen Parteien auch eine Systemerhaltungsfunktion zu.423 Während also das Integrationsparadigma das politische System als Bezugsrahmen für die Analysen von politischen Parteien zugrunde legt, ist dieser im Konkurrenzparadigma vor allem das Parteiensystem und im Transmissionsparadigma primär die Gesellschaft bzw. gesellschaftliche Gruppen. Anders systematisiert könnte man auch eine Unterteilung danach vornehmen, welcher Betrachtungsfokus zugrunde gelegt wird. Einmal werden politische Parteien eher in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft untersucht, ein anderes Mal wird primär auf die Staatsfunktionen von politischen Parteien abgehoben. Aus der paradigmatischen Zuordnung der zahlreichen Funktionskataloge politischer Parteien nach Wiesendahl (1980) kann mit Steffani (1988)424 noch eine weitere Funktion hinzugefügt werden, wonach Parteien ebenso als Interessenvertreter in eigener Sache und als Karrierevehikel fungieren. Diese Ergänzung scheint insofern interessant, als auch im Rahmen des Konkurrenzparadigmas Parteien nicht ihre eigenen Interessen vertreten, sondern im Interesse des „politischen Marktes“ bzw. ihrer Wähler handeln. Demnach würden die konkurrierenden Parteien 422
Niewiadomska-Frieling (2005:32), vgl. auch Wiesendahl (1980:212) Ebd. 424 Steffani (1988). Angelehnt an die Ausführungen von von Alemann (1992:91) 423
168
7 Deutungskultur
den „politischen Markt“ mit einem breiten Spektrum „kundenfreundlicher Produkte“ bestücken, so dass Wohlfahrt, kollektives Glück wie auch Marktharmonie erreicht würden.425 Steffani ging hingegen von den Parteien „selbst“ bzw. als sozialen Organisationen aus und rückte damit die „eigenen“ möglichen Motive von Parteien ins Blickfeld der Parteienforschung.426 Somit können in Anschluss an Wiesendahl (1980) und Steffani (1988) vier Hauptfunktionen politischer Parteien, die jeweils im Mittelpunkt eines Bereiches der Parteienforschung stehen, abgeleitet werden. Diese sind: Transmission, Herrschaft, Legitimation und Rekrutierung. Hinter diesen Funktionsbeschreibungen stehen jeweils verschiedene Konzeptualisierungen politischer Parteien und damit einhergehend unterschiedliche Bezugsrahmen bzw. Kontextualisierungen. Bis hier wurde bereits deutlich, dass Parteien sowohl eine staatliche als auch eine gesellschaftliche Dimension besitzen. Abbildung 9:
Paradigmen der Parteienforschung
Dimension
Primärer Bezugsrahmen Zugeordnete Parteifunktion Parteikonzeption: Politische Parteien als…
staatlich (i.e.S. Staatsorgane)
staatlich (i.w.S. politisches System)
gesellschaftlich
gesellschaftlich
Parteiensystem
Politisches System
Partei
Bevölkerungsgruppen
Herrschaft
Legitimation
Rekrutierung
Transmission
Interessengruppen Demokratische Herrschaftsin eigener Sache Legitimationsverinstrument und als Vermittler mittler für verbindbzw. Instrument der liche Entscheidun- politischen Führungspersonals Macht-ausübung gen (Karrierevehikel)
Ausdruck sozialer Kräfte und ideologischer/ programmatischer Ziele und Forderungen
Ungefähre Entsprechung bei Wiesendahl (1980)
Konkurrenzparadigma
Integrationsparadigma
k.A.
Transmissionsparadigma
Ungefähre Entsprechung bei von Alemann (1992)
Herrschaft
Legitimation
Rekrutierung
Responsivität
Quelle: Eigene Darstellung auf der Grundlage von Steffani (1988) bzw. von Alemann (1992:90f) und Wiesendahl (1980)
Die gesellschaftliche Dimension beruht auf einem komplexen Wechselverhältnis von Parteien und Gesellschaft, welches sich anhand von drei – in der Parteienforschung allgemein anerkannten Grundaussagen – umreißen lässt: Erstens, Parteien gehen aus der Gesellschaft hervor. Die Parteienforschung fragt, wie Parteien entstehen und wie sie ihre Wähler und Mitglieder rekrutieren. Zweitens, Parteien wirken bei der politischen Willensbildung mit. Dabei geht es insbesondere darum, welche Rolle Parteien im politischen Willensbildungsprozess spielen und in welchem Verhältnis sie zu anderen Akteuren und Organisationen (Verbände, Medien) stehen. Drittens, Parteien nehmen gesellschaftliche Problemlagen auf 425 426
Niewiadomska-Frieling (2005:32), vgl. auch Wiesendahl (1980:212) Von Alemann (1992:90)
7 Deutungskultur
169
und bieten Lösungen an. Hierunter fällt die Frage nach der Responsivität von Parteien, also inwieweit diese für die Belange und Bedürfnisse der Bevölkerung offen und in der Lage sind, gesamtgesellschaftliche Lösungen anzubieten. Ulrich von Alemann (1992) spitzt diese drei Aussagen auf die Begriffe Rekrutierung, Konkurrenz und Responsivität zu. Da das Verhältnis von Parteien und Gesellschaft kein statisches ist, müssen bei einer Betrachtung die sozioökonomischen Wandlungsprozesse, denen eine Gesellschaft ausgesetzt ist, als beschreibende oder erklärende Faktoren mit einbezogen werden. Diese analytische Systematisierung politischer Parteifunktionen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass politische Parteien in der Realität prinzipiell alle vier Funktionen ausfüllen und es im Einzelfall mitunter schwer auszumachen ist, welche Motive/Funktionen in welchem Mischungsverhältnis ausschlaggebend sind. So kann davon ausgegangen werden, dass Parteien sowohl als Vertreter gesellschaftlicher Gruppeninteressieren auftreten und agieren, zugleich aber auch eigene Interessen verfolgen. Als politisches Machtinstrument dienen sie der Vermittlung demokratischer Legitimation, sind aber auch Vermittler politischen Führungspersonals und damit ein Karrierevehikel für einzelne Politiker. Insofern spielt auch die Frage eine Rolle, wie politische Parteien konzeptualisiert werden, ob sie in ihrer Kollektivität oder als Zusammenschluss individueller Akteure und Eliten betrachtet werden. So ist es durchaus plausibel, dass ein Einzelner die Partei primär als Karrierevehikel sieht, die Partei in ihrer Kollektivität jedoch nach wie vor bestimmte Bevölkerungsinteressen repräsentiert und durchzusetzen sucht. Andererseits kann die Partei als kollektiver Akteur strategisch agieren und die Stimmenmaximierung den Interessen der Allgemeinheit überordnen, während ein einzelner Politiker gleichzeitig aus politischer Überzeugung handeln kann. Letztlich muss also davon ausgegangen werden, dass politische Parteien alle von Wiesendahl aufgeführten Funktionen und Kriterien prinzipiell erfüllen (können) – und im logischen Umkehrschluss diese eben auch nicht erfüllen können. Gleichwohl ist es plausibel anzunehmen, dass Parteien dauerhaft nur dann eine gesellschaftspolitische Rolle spielen, wenn sie - bis zu einem gewissen Grad – die Anbindung an die Bevölkerung nicht verlieren, da sie sonst Gefahr laufen, nicht (wieder-)gewählt zu werden. Parteien werden im Folgenden als komplexe Akteure im Sinne von Scharpf (2000)427 begriffen, die gesellschaftspolitischen Leitbildern (Idealen) folgen und Wertorientierungen transportieren. Dass immer auch utilitaristische Motive im Spiel sein können, die auf Machtsicherung oder individuelle Karrierechancen abzielen, widerspricht dieser Annahme nicht. Im Kontext politischer Kultur ist es jedoch sinnvoll, das Verhältnis der Parteien zur Gesellschaft näher zu beleuchten. Orientierung bieten hierbei die beiden gesellschaftlichen Dimensionen politischer Parteienfunktionen (Transmission und Rekrutierung) sowie die Frage nach der Responsivität politischer Parteien. Die staatliche Dimension im engeren Sinne, wonach Parteien vor allem als Herrschaftsinstrumente konzeptualisiert werden und als Organe der Machtausübung fungieren, ist für den Kontext dieser Arbeit nachrangig und kann somit (zunächst) unberücksichtigt bleiben. 427
Nach Scharpf (2000:101ff.) zeichnen sich komplexe Akteure in einer ersten Minimaldefinition dadurch aus, dass „die beteiligten Individuen die Absicht haben, ein gemeinsames Produkt zu schaffen oder ein gemeinsames Ziel zu erreichen.“ Im Weiteren unterscheidet er zwischen „kollektiven“ und „korporativen“ Akteuren, wobei ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal darin veranschlagt wird, inwieweit ein komplexer Akteur unabhängig von den Präferenzen der Mitglieder entscheiden kann. Kollektive Akteure sind demnach von den Mitgliederpräferenzen abhängig, während kooperative Akteure weitgehend unabhängig von möglichen Mitgliedern agieren können. Parteien werden folglich als kooperative Akteure konzeptualisiert.
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7.1.2 Parteien und Gesellschaft: Responsivität als wechselseitige Beeinflussung Um den Zusammenhang zwischen politischer Kultur (insonderheit der Deutungskultur) und den politischen Parteien besser verständlich machen zu können, bedarf es einer grundlegenden Klärung des prinzipiellen Verhältnisses, in dem politischen Parteien zur Gesellschaft stehen. Politische Parteien werden oftmals trotz ihrer intermediären Stellung zwischen Gesellschaft und staatlichen Institutionen eher letzteren zugeordnet, da es vielen Untersuchungen um den Einfluss von Parteien auf den politischen Prozess geht und seltener darum, inwieweit diese die politische Kultur eines Landes reflektieren und prägen. Insbesondere in der Wohlfahrtsstaatsforschung kann festgestellt werden, dass die Rolle politischer Parteien primär mit Blick auf ihre „Staatsfunktionen“ betrachtet werden, namentlich ihre politischen Steuerungs- und Koordinationsleistungen und ihre Fähigkeit, Regierungen zu bilden bzw. Interessen durchzusetzen. Der Fokus liegt damit stärker auf der Leistungsfähigkeit politischer Parteien, wobei diese Leistungsfähigkeit maßgeblich am politischen Output gemessen wird. Aus demokratietheoretischer Perspektive ist es aber von ebenso großer Relevanz, inwieweit Parteien ihre „Gesellschaftsfunktionen“ (Aggregation und Integration von Interessen, gesellschaftliche Willensbildung, Repräsentation von gesellschaftlichen Werten und Normen, Responsivität) erfüllen und damit ihrer „Input-Rolle“428 als Repräsentanten gesellschaftlicher Interessen und Bedürfnisse gerecht werden.429 Die Erkenntnis, dass Parteien aus der Gesellschaft hervorgehen, wird von unterschiedlichen Theorierichtungen – u. a. mit Verweis auf die Kontextbedingungen in hochmodernen Gesellschaften – jeweils anders interpretiert. Drei dieser Interpretationen sollen hier kurz angesprochen und vorgestellt werden, die Cleavage-Theorie, das Milieumodell sowie die ökonomische Theorie, um eine differenzierte Einschätzung der gesellschaftlichen Anbindung zeichnen zu können.430 Aus makro-soziologischer Perspektive waren es maßgeblich Seymour M. Lipset und Stein Rokkan (1967) die eine umfassende Theorie der Entstehung politischer Parteien vorlegten, wonach Parteien sozialstrukturelle Konfliktlagen (cleavages) der Gesellschaft abbilden. Diese cleavages resultierten zum einen aus historischen Konflikten zwischen Zentrum und Peripherie, Stadt und Land sowie Kirche und Staat, und zum anderen aus dem im Zuge der Industrialisierung hinzukommenden Konflikt zwischen Arbeit und Kapital. Lipset und Rokkan konnten anhand dieser vier Konfliktlinien die je spezifischen Parteikonfigurationen
428
Als Input-Rolle der Parteien wird hier die Erfüllung ihrer Gesellschaftsfunktionen verstanden und nicht die Art und Weise, wie Parteien ihre Inhalte und Ziele im politischen Prozess durchzusetzen versuchen. 429 Parteien könnten in diesem Kontext auch als „gesellschaftliche Akteure“ definiert werden, wobei dies natürlich eine analytische und damit eine künstliche Unterscheidung zur allgemein anerkannten Charakterisierung von Parteien als politische Akteure bleibt. Eine solche Differenzierung kann vorerst sinnvoll erscheinen, um die gesellschaftliche Dimension politischer Parteien hervorzuheben. Letztlich muss man jedoch sagen, dass politische Parteien primär politische Akteure sind, da sie nicht nur an der Schnittstelle zwischen politischen Institutionen und Gesellschaft fungieren, sondern vor allem in den politischen Institutionen agieren. Auch ihre Zielausrichtung politischer Machterlangung und politischer Gestaltung in den Staatsinstitutionen spricht für ihre Charakterisierung als politische Akteure im Unterschied zu anderen gesellschaftlichen Akteuren (Verbände, NGO’s etc.). Dennoch läuft eine solche Perspektive auch Gefahr, die gesellschaftliche Dimension politischer Parteien zwar zu postulieren aber ihr keine weitere Beachtung zu schenken. 430 Im Folgenden beziehe ich mich maßgeblich auf die Systematisierung und Ausführungen von Ulrich von Alemann (1992:89-130). Ergänzungen und neuere Forschungsergebnisse werden gesondert gekennzeichnet.
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in westeuropäischen Ländern erklären.431 Diese Konfliktlinien, wie es am Beispiel der Bundesrepublik in den 1960er Jahren aufgezeigt werden kann432, überlappten sich im Zuge sozialstruktureller Wandlungsprozesse zu einer rechts-links-Achse (s. Abbildungen). In den 1970er Jahren manifestierte sich in den westlichen Gesellschaften ein Wertewandel (Ingelhardt 1989), der das parteipolitische Rechts-Links-Schema um eine neue Konfliktlinie ergänzte, die sich entlang materialistischer vs. postmaterialistischer Werte zeigte. Abbildung 10: Veränderungen der Konfliktlinien am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland
Die frühe Cleavage-Theorie von Lipset und Rokkan verwies auf die Bedeutung sozialstruktureller Faktoren für Parteien. Demnach bilden die politischen Parteien Allianzen mit bestimmten Bevölkerungsgruppen, sie integrieren und artikulieren deren Interessen. Hiermit kann der klassische Stammwähler bzw. die dauerhafte Mitgliedschaft gut erklärt werden. Obgleich eine Abnahme von Stammwählerschaften zu beobachten ist, spielen gesellschaftliche Konfliktlinien nach wir vor eine Rolle bei der Erklärung von Parteiidentifikationen, Wählerverhalten und Parteipositionen. So kommt auch Ulrich von Alemann zu dem Schluss, dass 431
Da sie ebenso feststellten, dass sich die westeuropäischen Parteiensysteme seit den 1920er Jahren nicht wesentlich verändert hatten, kamen sie zu dem Schluss, dass die Hauptkonfliktlinien eingefroren waren, was sich aber im Zuge der weiteren Entwicklungen (Wertewandel, Wandlungstendenzen in den Sozialstrukturen etc.) nicht aufrechterhalten ließ und zu Veränderungen in Parteiensystemen, insbesondere der BRD, führte. Vgl. ebd. 432 Siehe dazu die Ausführungen von von Alemann (1992:95-99)
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7 Deutungskultur „[a]uch wenn die Bedeutung von gesellschaftlichen Konfliktlinien (cleavages) sich wandelt – einige sind in den letzten Jahrzehnten in ihrer Bedeutung abgeschwächt, andere, besonders die zwischen ökonomischem Wachstum und ökologischer Verantwortung, neu entstanden – [...] sozialstrukturelle Faktoren weiterhin bedeutsame Unterscheidungsmerkmale bei den Parteien [bleiben].“433
Auf der meso- und mikrosoziologischen Ebene wurde im Rahmen der Milieuforschung auch die Rekrutierung von Parteimitgliedern und Wählern aus politisch-sozialen Milieus heraus erklärt. Für Deutschland hatte zunächst Rainer M. Lepsius vier traditionelle sozialmoralische Milieus (katholisch; konservativ-protestantisch, protestantisch-bürgerlich und sozialdemokratisch) zur Zeit der Weimarer Republik unterschieden.434 Doch ähnlich wie bei der Cleavage-Theorie wirkten sich sozio-ökonomische Wandlungsprozesse (z. B. hohe Mobilität der Gesellschaft; Kommerzialisierung der Freizeit; Entstehung der Konsumgesellschaft; Vereinheitlichung von Bildung und Ausbildung; Bedeutung der Massenmedien, insbesondere des Fernsehens im Alltagsleben etc.) auf die traditionellen sozialmoralischen Milieus aus, was zu einem Aufweichungs- und Ausdifferenzierungsprozess der Milieus führte und damit auch die enge Anbindung der Parteien an ihre traditionellen Milieus lockerte und teilweise auflöste.435 Gleichwohl bleiben die Parteien voneinander unterscheidbar: „Trotz der Erosion traditioneller Parteimilieus bleiben (klar) identifizierbare Fremdbilder der anderen Parteien und Eigenbilder der eigenen Gruppe (klar) unterscheidbar […]. Anstelle der traditionellen Milieus treten neue Netzwerke der Kommunikation und der politischen (Sub-) Kultur, wie dies besonders bei der jungen Partei der GRÜNEN überdeutlich zutage tritt. Die Verankerung im Milieu der neuen sozialen Bewegungen wie Frauengruppen, Friedensbewegungen, Alternativökonomie, Ökologiebewegung, Bürgerinitiativen, Dritte-Welt-Aktionsgruppen usw. ist lange nicht (mehr) so eng und komplikationslos, wie viele meinen, aber der enge Kontakt zur „Alternativkultur“ bzw. zur „Szene“ ist unstreitig und wird erst recht deutlich, wenn man die Schwierigkeiten der anderen Parteien damit vergleicht, hier mit den GRÜNEN gleichzuziehen.“436
Dieser in allen hochmodernen Demokratien beobachtbare Erosionsprozess „alter“ Milieus geht einher mit innergesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozessen und der Entstehung neuer Milieus, Lebensstile oder Sub-Kulturen. Diese sind demnach auch nicht mehr wie die traditionellen Milieus dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen „gemeinsam agiert oder zumindest kommuniziert wird“437, sondern dass sie eher durch gemeinsame Einstellungen und übereinstimmende Wertorientierungen geprägt sind, wobei ein Kontakt innerhalb dieser Milieus nicht notwendigerweise gegeben sein muss.
433
Von Alemann (1992:99) So für Deutschland: Lepsius (1966), SINUS (1984), beide kurz vorgestellt bei von Alemann (1992:99-107) 435 Während der klassische Milieubegriff anhand von religiösen oder weltanschaulichen Normen und soziodemografischen Merkmalen (Bildungsabschluss, Beruf, Einkommen und Alter) politische Einstellung und Verhalten zu messen vermochte, zeigten sich im Zuge der sozio-ökonomischen Wandlungsprozesse hin zu einer hochmodernen individualisierten Dienstleistungsgesellschaft diese Kategorien nur noch als bedingt erklärungsfähig, da sie die neu entstandenen „Milieus“ bzw. politischen (Sub-)Kulturen oder Lebensstile nicht einzuordnen vermochten. Vgl. Meyer (2006²:203) 436 Von Alemann (1992:101) 437 Von Alemann (1992:103) 434
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Zur Erfassung dieser inneren gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozesse wurden von den sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituten Sigma (Mannheim) und Sinus (Heidelberg) Milieumodelle anhand empirischer Untersuchungen zu den realen Einstellungen, Interessen, Werte- und Handlungsorientierungen der Menschen entworfen. Dazu wurden neun bis zehn solcher sozialen Milieus bzw. Lebensstile in Deutschland unterschieden, wobei die Anzahl wie auch die Bezeichnungen der einzelnen Milieus bzw. Lebensstile von Zeit zu Zeit aktualisiert und erweitert werden.438 Abbildung 11: Sinus-Milieumodell für Deutschland (2007)
Quelle: Sinusmilieumodell auf http://www.sinus-sociovision.de (12.08.2008)
Ein Milieu ist demnach eine gesellschaftliche Großgruppe „mit ähnlichen Lebensauffassungen und Lebensweisen, die auch die grundlegenden Einstellungen zur politischen Welt einbezieht.“439 Als Grundlage dieser Systematisierung wurde ein umfangreiches Spektrum von privaten, ästhetischen, sozialen und politischen Einstellungen und Verhaltensweisen in repräsentativen Umfragen erhoben. Dabei handelte es sich unter anderem um: „Lebensziele, Einstellungen zur Arbeit und Leistung, zur Familie und Partnerschaft, das Freizeit- und Kommunikationsverhalten, Wunsch- und Leitbilder, den Lebensstil, die ästhetischen Grundbedürfnisse (Alltagsästhetik), die Stilwelten und vor allem das politische Interesse und Engagement, die Systemzufriedenheit sowie die Wahrnehmung und Verarbeitung gesellschaftlicher Probleme wie technologischer Wandel, Umwelt, Sicherheit, Wirtschafts- und Sozialpolitik.“ 440 438
Da es mittlerweile eine Reihe von unterschiedlichen Milieutypologien (wie z. B. die Milieumodell vom Sinusund Sigma-Forschungsinstitut, die Lebensstiltypologie von Gluchowski (1987), die Wählertypologie von INFAS 1987) gibt, wird hier nur ein Modell exemplarisch zur Klärung des Verhältnisses von Parteien und Gesellschaft herangezogen. 439 Meyer (2006²:204) 440 Ebd.
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Das Verhältnis der politischen Parteien zur Gesellschaft ist maßgeblich von den in den unterschiedlichen Milieus vorfindbaren Grundorientierungen und Einstellungen geprägt. Von diesen hängt es ab, aus welchem Milieu eine Partei Unterstützung für ihre Programme bekommen kann. Zugleich wirken die Unterstützungsmilieus aber auch auf die Grundwerteinterpretationen, den Kommunikationsstil sowie die Auswahl an Politiken und Symbolik der Parteien zurück.441 Untersuchungen über die Parteianhängerschaften anhand von Milieutypologien zeigten deutliche Verschiebungen der traditionellen Milieuanbindungen der Parteien auf sowie eine generelle Auflösungstendenz der alten „sozial-moralischen“ Milieus, was einhergeht mit einem Schrumpfen der Stammwählerschaften der Parteien.442 Vielmehr kann eine Überlagerung alter und neuer gesellschaftlicher Spannungslinien im Rahmen der Parteiidentifikationen der einzelnen Milieus bzw. Gruppen festgestellt werden, was auf die Rekrutierungsleistung der Parteien wesentlichen Einfluss haben kann.443 So wurde bereits in der Studie von Peter Gluchowski (1987) deutlich, dass die SPD eine sehr viel heterogenere Anhängerschaft aufweist als die CDU oder die Grünen, was die Sozialdemokraten vor die Schwierigkeit stellt, die aus sehr verschiedenen Milieus kommenden Anhänger mit ihren unterschiedlichen Vorstellungen und Interessen zu integrieren und diesen ein überzeugendes politisches Programm anzubieten, was sie unterstützen möchten. Andernfalls wird sich die SPD schwer tun, Mehrheiten zu erlangen, die eine Regierungsführung ermöglichen.444 Folgerichtig resümiert Meyer: „So erklärt sich ein erheblicher Teil des politischen Prozesses und der Erfolge und Misserfolge inhaltlicher Politiken in der Gegenwart auch aus der sozio-kulturellen Milieustruktur und ihrer Dynamik.“445
Eine dritte Perspektive auf das gewandelte Verhältnis von Parteien und Gesellschaft liefert die ökonomische Theorie der Politik, die Parteien – wie oben bei den paradigmatischen Ansätzen bereits angerissen – primär als Organisationen zur Stimmenmaximierung auf der Basis eines rationalen Kosten-Nutzen-Kalküls definiert. Parteien wie auch Wähler würden nicht (mehr) aus politischen Überzeugungen oder Wertorientierungen heraus agieren, sondern die Parteien allein mit dem Ziel der Stimmenmaximierung und die Wähler mit dem Ziel der individuellen Nutzenmaximierung.446 Im Lichte der ökonomischen Theorie wurde vor dem Hintergrund der Erosion traditioneller sozialstruktureller Parteibindungen und einem gesteigerten Wohlstand („nivellierte Mittelstandsgesellschaft“447) eine zunehmende 441
Ebd. Vgl. von Alemann (1992:106) 443 Vgl. hierzu die Studie von Gluchkowski (1987) 444 Vgl. Gluchkowski (1987:28ff), von Alemann (1992:105), Meyer (2006²:207) 445 Meyer (2006²:207) 446 Downs (1968), der Begründer der ökonomischen Theorie der Politik, formulierte folglich: „1. Politische Parteien – und von diesen getragene Regierungen – handeln in einer Demokratie ausschließlich aus dem Beweggrund, die Regierungsmacht zu erreichen, auszuüben und zu behalten, ihr Handeln ist deshalb durch das Streben nach Stimmenmaximierung bei Wahlen bestimmt – zu ihrem eigenen Vorteil der Erlangung von Prestige, Status und Einkommen und nicht aus altruistischen oder humanitären Motiven der Mehrung der Wohlfahrt aller oder eines bestimmten Teils. 2. Die Bürger in so regierten Demokratien verhalten sich rational und sind ebenfalls in ihrer politischen Aktivität, besonders beim Wahlakt, nur durch die Maximierung ihres individuellen privaten Nutzens motiviert.“ Downs (1968:289), zit. nach von Alemann (1992:108) 447 Unter dem Schlagwort der nivellierten Mittelstandgesellschaft verbirgt sich die These, dass mit dem gesteigerten Wohlstand auch eine weitgehende Annäherung der politischen Meinungen der Mehrheit der Bevölkerung stattgefunden hat. „Unter den Vorrausetzung, dass in einer entideologisierten und nivellierten Mittelstandsgesell442
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Entideologisierung und Entpolitisierung der Wählerschaft postuliert, die letztlich zur Entstehung eines neuen Parteitypus, der so genannten catch-all-party448 geführt habe bzw. auf dem Weg dorthin seien. Als sichtbare Ausdrücke solcher Entwicklungstendenzen – bei denen die dominanten Parteien nicht mehr eine bestimmte Klasse oder Schicht repräsentierten – wurde z. B. die Entwicklung in Deutschland gewertet, wo sich die beiden dominanten Parteien als „Volksparteien“ etablierten. Die dabei konstatierte inhaltliche Annäherung von CDU und SPD (insbesondere während der großen Koalition 1966-69) ließ somit die Vermutung aufkommen, dass die politische Polarisierung immer weiter abnehmen werde (Entideologisierung) und die Parteien zu reinen Stimmen maximierenden Wahlmaschinen würden. Zwar kann für Deutschland konstatiert werden, dass die programmatische Diskrepanz zwischen CDU und SPD geringer geworden ist, dass auch in die deutschen Wahlkämpfe ausgeprägte Anleihen amerikanischer Wahlkampfstrategien der Stimmenmaximierung (die stärker über Persönlichkeit denn über Inhalte und Werte gehen) Einzug gehalten haben. Daraus jedoch zu schließen, dass die Parteien entideologisiert und reine Maschinen zur Stimmenmaximierung geworden wären sowie das Parteiensystem als auch die Gesellschaft völlig entpolarisiert seien, hält letztlich empirischen Befunden nicht stand.449 Dieser kurze Abriss anhand der unterschiedlichen Erklärungsansätze in der Parteienforschung macht deutlich, dass das Verhältnis von Parteien und Gesellschaft vielschichtig, zudem Veränderungen und Wandlungsprozessen unterworfen und letztlich reziproker Natur ist. „Das komplizierte Geflecht der Beziehungen zwischen Parteien und Gesellschaft ist also nicht auf einen einzigen Bezugspunkt zu reduzieren. Auf der Basis von sozialstrukturellen Konfliktlinien (cleavages) bestimmen durchaus noch kommunikative sozialpolitische Milieus die Parteirealität. (…) Strategien der Stimmenmaximierung gehören dabei zur Austauschlogik in Wahlkämpfen. Politik kann aber deshalb nicht allein auf Stimmenmaximierung reduziert werden, da sie sonst den Kern der „polis“, die Interaktion und kollektive Interessenwahrnehmung im Gemeinwesen, verlieren würde.“450
Die gesellschaftlichen Sozialstrukturen, sozialpolitischen Milieus und Interessen stecken den gesellschaftlichen Rahmen ab, in dem sich die politischen Parteien bewegen. Er entspricht in gewisser Hinsicht der (politischen) Sozio-Kultur eines Landes. Die gesellschaftlischaft die politischen Meinungen etwa normal verteilt sind – d.h., dass eine glockenförmige Kurve links niedrig beginnt, zur Mitte aufsteigt und nach rechts wieder niedrig ausläuft - , werden sich zwei große Parteien bilden, die im wesentlichen um die Wähle der Mitte konkurrieren.“ von Alemann (1992:108) 448 Nach Kirchheimer zu so genannten „Allerweltsparteien“, s. von Alemann (1992:107f.) 449 Siehe dazu im Detail: von Alemann (1992:107ff) Aber bereits die prinzipielle Grundaussage der ökonomischen Theorie, wonach Menschen ausschließlich rational kalkulierende Wesen zur eigenen Nutzenmaximierung darstellen, erscheint in vielerlei Hinsicht zu kurz zu greifen. So könnte gefragt werden, wie die große Heterogenität der SPD-Wähler zu erklären ist, da sie auch viele „aufstiegsorientierte, junge“ Wähler an sich binden kann, die eher einen persönlichen Nutzen aus der Wahl der CDU oder FDP ziehen könnten. Die SPD vermag diese – so kann hier vermutet werden – gerade an sich binden, da sie es schafft einen weitgehend überzeugenden Gerechtigkeitsdiskurs zu führen. Sicherlich kann aus der Sicht der ökonomischen Theorie argumentiert werden, dass dies dennoch einen Eigennutzen für die Personen darstellt, da diese dann möglicherweise soziale Anerkennung für ihre Haltung bekommen können. Jedoch kann damit nicht ausreichend erklärt werden, warum kleine Parteien gewählt werden. Auch könnte gefragt werden, warum soziale Anerkennung überhaupt einen Wert an sich darstellt bzw. wie eine solche Wertebindung entsteht. Die Grundannahmen der ökonomischen Theorie beinhalten einen ergänzenden Erklärungswert zu anderen Theorien, ein absoluter Erklärungsanspruch muss sich letztlich der Kritik der Eindimensionalität stellen. 450 Von Alemann (1992:109)
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chen Sozialstrukturen und sozialpolitischen Milieus wie auch die gesellschaftlichen Interessen prägen und reflektieren die in der Gesellschaft vorhandenen Werte- und Einstellungsmuster. Die politische Sozio-Kultur bedarf im politischen Willensbildungsprozess jedoch gewisser Deutungsangebote451 (z. B. politischer Programme), die um die Zustimmung der Mehrheit der Bürger in einem Gemeinwesen konkurrieren. Dieser Prozess der Interpretation und Deutung (politische Deutungskultur) beruht maßgeblich auf einer Komplexitätsreduktion und gleichzeitigen Abstraktionsleistung der Soziokultur im Rahmen einer politischen Öffentlichkeit. Parteien spielen in diesem Prozess eine entscheidende Rolle, auch wenn sie sich diese Rolle mit anderen Organisationen und Akteuren im intermediären Bereich teilen. Dabei handelt es sich vor allem um organisierte Interessen im weiteren Sinne452 und um die Medien, die ebenfalls im politischen Willensbildungsprozess eine wichtige Rolle einnehmen. Das Verhältnis von Parteien und organisierten Interessen kann von Konkurrenz oder Kooperation geprägt sein. Während Großverbände, wie z. B. Gewerkschaften, zum Teil erheblich mehr Personal aufweisen, können diese auch einen zum Teil wesentlich intensiveren Kontakt zu den Bürgern herstellen. Zwar würden die verklausulierten Wahlempfehlungen der Verbände keinen ausschlaggebenden Faktor bei der Wahlentscheidung der Mitglieder darstellen, so von Alemann (1992). Dies sei schon aufgrund der zum Teil gleichzeitigen Mitgliedschaften einzelner wenig wahrscheinlich. Dennoch zeige sich die nach wie vor bestehende Konkurrenz vor allem darin, dass die Großverbände zu „selbstbewussten Kooperationspartnern des Staates“ geworden sind und damit die „Rolle des Bittstellers in der Lobby des Parlaments“ weitgehend abgelegt hätten und mitunter versuchen, gezielt an den Parteien vorbei Einfluss auf die Regierung auszuüben.453 Andererseits zeige sich aber ebenso, dass die organisierten Interessen mit den Parteien im Rahmen ihrer sozialpolitischen Milieus eng miteinander in Verbindung stehen. So würden die Parteien die ihnen nahestehenden Organisationen mitunter als „politische Vorfeldorganisationen“ begreifen. Traditionellerweise zählen bei den meisten europäischen sozialdemokratischen/sozialistischen Parteien die Gewerkschaften dazu454, jedoch finden sich auch andere Verbände und Vereine darunter. In Deutschland sind dies für die SPD z. B. noch die Arbeiterwohlfahrt, der Mieterbund, viele Genossenschaften oder die Jugendorganisation der „Falken“. Bei der CDU sind dies traditionellerweise Teile des konfessionellen Verbandswesens, Bauern- und Flüchtlingsverbände oder die Mittelstandvereinigungen.455 Auch bei 451
Deutungsangebote im Rahmen der politischen Öffentlichkeit werden selbstverständlich nicht allein durch Parteien vorgenommen, sondern ebenso durch die Medien, Intellektuelle, Forschung etc. Jedoch kann man sagen, dass die Parteien, neben den Medien, eine nach wie vor herausragende Position im Meinungsbildungsprozess einer politischen Öffentlichkeit innehaben. Zum Verhältnis von Medien und Parteien siehe weiter unten. 452 Von Alemann definiert organisierte Interessen als „freiwillig gebildete soziale Einheiten mit bestimmten Zielen und arbeitsteiliger Gliederung, die individuelle, materielle und ideelle Interessen ihrer Mitglieder im Sinne von Bedürfnissen, Nutzen und Rechtfertigungen zu verwirklichen suchen“. von Alemann (1992:114). Dies ist eine weite Begriffsdefinition, die neben Verbänden und Lobbys auch das gesamte Spektrum an Vereinswesen, Bürgerinitiativen und sozialen Bewegungen umfasst, vgl. Ebd. 453 Von Alemann (1992:115) 454 Hierbei beziehe ich mich lediglich auf eine prinzipielle Verbindung zwischen Gewerkschaften und sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Parteien, die bei genauer Betrachtung einzelner Länder sehr unterschiedlicher Art sein kann. So war zum Beispiel die Labour-Party in Großbritannien zunächst der politische Arm der Gewerkschaften, während in Deutschland die Entstehung von Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien formal als unabhängig beschrieben werden kann. 455 Von Alemann (1992:116)
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den in den 1980er Jahren aufkommenden sozialen Bewegungen kann ein „komplexes Arbeitsteilungs- und Austauschverhältnis“ mit den Parteien konstatiert werden.456 7.1.3 Parteien und Medien Eine zunehmend wichtige Rolle im politischen Willensbildungsprozess kommt den Massenmedien zu. In modernen Demokratien wird Politik hauptsächlich über die Massenmedien vermittelt. Parteien nutzen die Medien, um ihre Inhalte an die Bürger zu vermitteln, während die Medien selbst die Informationen benötigen, diese aber auch bewerten und kommentieren. In dem die Medien eine Selektion von (politischen) Themen und Ereignisse – nach so genannten Medienfiltern – vornehmen, üben sie bereits einen wichtigen Einfluss auf die (politische) Öffentlichkeit aus. Die Parteien versuchen wiederum, im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit Informationen, Themen und (symbolische) Auftritte zu steuern. Letztlich muss von einem hochkomplexen Beziehungsgeflecht zwischen den Parteien und den Massenmedien ausgegangen werden, wobei die gegenseitige Abhängigkeit in den hochmodernen Informationsgesellschaften stark zugenommen hat und zum Teil erhebliche Folgen für die politische Deutungskultur und ganz allgemein für die politische Öffentlichkeit zeitigt. Grundsätzlich lassen sich mit von Alemann (1997) vier (idealtypische) Erklärungsmodelle hinsichtlich des Verhältnisses von Parteien und Medien unterscheiden: Top-Down-Modell Im Top-Down-Modell geht der Vermittlungsprozess politischer Inhalte und Entscheidungen prinzipiell von den Parteien und den Regierungen aus. Diese bestimmen die politische Agenda und beeinflussen durch ihr Tun die reale Welt. Durch die Beobachtung der Reaktionen wird dann die (tages-)politische Agenda gestaltet und diese an die Medien weitergegeben. Letztere vermitteln die Informationen wiederum dem breiteren Publikum, der Öffentlichkeit. In diesem Modell kommt den politischen Akteuren in den Parteien und Regierungen eine dominante Rolle zu, da sie die politisch Handelnden darstellen und damit den Kommunikationsprozess von oben nach unten steuern. Die Medien sind dabei im Wesentlichen nur Mittler im politischen Kommunikationsprozess zwischen den politischen Akteuren und dem Publikum. Mediokratie Im Mediokratie-Modell spielen die Medien hingegen eine eigene, die Öffentlichkeit, aber auch die politischen Akteure beeinflussende Rolle, wodurch sie schlussendlich in die Lage versetzt werden, auch die politische Agenda zu beeinflussen. Dabei nehmen die Massenmedien die Wirkungen und Reaktionen politischer Entscheidungen der realen Welt auf und spiegeln diese sowohl auf die Politik wie auch auf das Publikum zurück. Mit der immensen 456
Ebd.
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Expansion der Massenmedien (Printmedien, Fernsehen, Rundfunk und Internet) ging nicht nur eine zunehmende „Visualisierung der Politik“457 einher. Auch die Geschwindigkeit, mit der Informationen vermittelt werden, hat sich drastisch erhöht. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf den politischen Willensbildungsprozess bzw. auf das Verhältnis zwischen den politischen Akteuren und den Medien. Meyer (1998)458 zum Beispiel beschreibt das gewandelte Verhältnis als eine „Kolonisierung der Politik durch die Medien“, wonach die Medien auf der Grundlage ihrer eigenen Logik die politische Agenda beeinflussen und Politik unterschiedliche Formen rein „symbolischer Politik“ annimmt. Die Politiker unterwerfen sich zunehmend der Medienlogik, um überhaupt einen Platz in der Medienberichterstattung zu bekommen. Auch greifen die Medien in innerparteiliche Kommunikationsprozesse ein, indem sie Informationen bereits verbreiten, die noch nicht von der Basis diskutiert werden konnten.459 „Doch nicht nur die Parteien, die bisher eine demokratisch fundierte Zentralstellung im politischen Prozess einnahmen, geraten in der mediendemokratischen Konstellation an den Rand des Geschehens. Der Konflikt zwischen der langsamen politischen Prozesszeit und der schnellen medialen Reaktions- und Inszenierungszeit bringt selbst den Parlamentarismus in Bedrängnis. Auch der Anteil des intermediären Systems der Vereine, Verbände und Initiativen am "großen politischen System" geht zurück. Der diskursive Austausch der beteiligten Akteure entfällt dann weitgehend zugunsten einer Abfolge der je für sich stehenden momentanen Ereignisse, gesetzt von politischen Spitzenrepräsentanten und ihren Beratern.“460
Im Mediokratie-Modell nehmen die Medien eine derart bestimmende Rolle ein, dass daraus Legitimationsprobleme der Demokratie resultieren, da der Bürger im politischen Willensbildungsprozess zum Zuschauer degradiert wird und der deliberative öffentliche Diskurs oftmals kurzlebigem „Politainment“ (Dörner) nachgeordnet wird. Bottom-up Das Bottom-up-Modell misst im Gegensatz zum Top-Down-Modell dem Publikum (d.h. den Bürgern) die dominante Rolle im politischen Willensbildungsprozess zu. Aus klassischer demokratietheoretischer Sicht verläuft der Prozess demnach von unten (Publikum) über die Medien (Sprachrohr) hin zu den politischen Akteuren (Parteien und Regierungen). Aus dieser Perspektive wird die politische Agenda maßgeblich vom eigentlichen Souverän, dem Volk, bestimmt. Das Bottom-up-Modell ist weitgehend ein normatives Modell, welches den idealtypischen Fall demokratischer Willensbildung darstellt. Dabei haben die beiden anderen Modelle bereits angedeutet, dass sich die Realität anders darstellen kann. Dennoch wird in kritischer Betrachtung der beiden erstgenannten Modelle und unter Verweis auf einzelne Phänomene dem Bottom-up-Modell ein gewisser Erklärungswert beige457
Bernd Guggenberger, zit. nach von Alemann (1997) Meyer (1998) 459 Als ein Beispiel kann hier der Entschluss über die Agenda 2010 gewertet werden, wobei es wahrscheinlich eher ein Versäumnis, wenn nicht gar eine Strategie, der Parteispitze war, (k)einen angemessenen parteiinternen Kommunikationsprozess vorab durchzuführen. Eine Vielzahl an Parteiaustritten, die die SPD im Zuge der HartzReformen zu verzeichnen hatte, wird u. a. auf diese verfehlte Vermittlungsleistung der Parteispitze zurückgeführt. 460 Meyer (2002:11f) 458
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messen. So wird zum Beispiel darauf verwiesen, dass mit der Privatisierung des Rundfunks auch eine Kunden- bzw. Zuschauerorientierung zu beobachten sei. Eine Ausrichtung an den Bedürfnissen der Zielgruppen räume dem Publikum einen wichtigen Einfluss auf die Inhalte und Formate der Medien (anhand der Quoten) ein. Darüber hinaus würde der Einfluss des Fernsehens von Politikern und PR-Agenturen oftmals überschätzt, da für die meisten Menschen Politik eine recht marginale Rolle im Alltagsleben spiele. Politische Überzeugungen seien vielmehr durch persönliche Ereignisse und interpersonale Kommunikation geprägt. Diejenigen hingegen, die viel fernsehen würden, stammten großteils aus unterprivilegierten Schichten und gehörten damit zu dem Teil der Bevölkerung, der am unpolitischsten sei.461 Demgegenüber seien Demokratisierungstendenzen im Hörfunk beobachtbar, insbesondere bei den Lokalradios. Durch die einfache Herstellung von Broschüren, Mitteilungsblättern etc. sei es auch den Bürgerinitiativen, Selbsthilfegruppen und Stadtteilgruppen möglich, ein breiteres Publikum zu erreichen und damit „Gegenöffentlichkeiten von unten“ herzustellen.462 Zudem sieht der Bottom-up-Anstaz im Internet eine aussichtsreiche Plattform zur Herstellung von „Gegenöffentlichkeiten“ oder zur Entwicklung von grassroots-Bewegunge. In diesem Zusammenhang werden zum Beispiel die Protestaktionen um Brent Spa, die Erfolge von NGO’s bei dem Umweltgipfel in Rio oder die Sozialkonferenz in Kopenhagen genannt. Allerdings konnte bei diesen Beispielen auch eine enge Zusammenarbeit mit den etablierten Medien beobachtet werden. Insofern können zwar neue Entwicklungstendenzen konstatiert werden, die Frage bleibt aber, ob es sich dabei um wirkliche Gegenöffentlichkeiten von unten handelt. Nach Alemann handelt es sich demnach auch eher um eine neue Form von Kooperation zwischen den etablierten Medien, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Politikern, die sich öffentlichkeitswirksamen Ereignissen gerne anschließen würden– sei es aus Gründen der Medienöffentlichkeit, sei es aus Überzeugung. Der Impuls bei solchen Ereignissen kommt im Sinne des Bottom-up-Ansatzes zunächst von unten, die Verbreitung allerdings findet über die Massenmedien statt, wobei sich in diesem Kontext dann auch Politiker zu positionieren suchen. Welche Chancen das Internet hinsichtlich direktdemokratischer Beteiligungsformen, der Schaffung von Gegenöffentlichkeiten etc. noch bieten wird, soll hier nicht eingeschätzt werden. In dem Maße, in dem der Bottom-up-Ansatz eine stärkere Differenzierung bei der Bewertung des Einflusses der Massenmedien einfordert und eben auch andere Tendenzen politischer Öffentlichkeiten aufzeigt, wird er als eine kritische Ergänzung zum Mediokratie-Modell aufgefasst.463 Biotop Dieses Modell postuliert eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen den politischen Akteuren und den Medien. Beide Seiten ziehen aus diesem engen Beziehungsgeflecht ihren Nutzen und stellen damit die politische Kommunikation sicher. Während der Journalist darauf angewiesen ist, dass Politiker sich bereit erklären, ihm Informationen, Interviews etc. zu geben und ihm dadurch auch einen Informationsvorsprung gegenüber anderen Journalisten verschaffen, profitieren die politischen Akteure von der Möglichkeit, ihre Themen und Positionen der Öffentlichkeit so präsentieren zu können oder an Informationen über 461
Von Alemann (1997), vgl. auch Jarren/Donges (2002) Ebd. 463 Ebd. 462
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Konkurrenten zu gelangen. Alemann verweist aber auch darauf, dass dabei immer auch die Gefahr eines von Abhängigkeit geprägten Verhältnisses bestünde. Er spricht hierbei von „Verhandlungsnetzwerken“, wobei die strategische Lancierung von Themen und die Inszenierung von Politik der öffentlichen Information und Kontrolle nachgeordnet würde. Insofern erinnert das Biotop-Modell an das Mediokratie-Modell nach Meyer (1998), wonach aus demokratietheoretischer Perspektive als problematisch gelten muss, wenn die Funktionen einer demokratischen Öffentlichkeit (vgl. Kapitel 4), wie z. B. Kontrolle und eine sachorientierte Vermittlung politischer Inhalte, Gefahr laufen, nicht mehr erfüllt zu werden. Die vier dargestellten Modelle machen vor allem deutlich, dass Parteien bei der politischen Willensbildung keine Monopolstellung innehaben, sondern in einem engen Beziehungsgeflecht mit Medien und organisierten Interessen stehen. Insbesondere die Rolle der Massenmedien hat einen erheblichen Bedeutungszuwachs erfahren, was sich sowohl auf die interne wie auch auf die öffentliche politische Kommunikation der Parteien auswirkt. Dies hat wiederum Auswirkungen auf die politische Kultur eines Landes, sowohl auf der Ebene der Sozio- als auch der Deutungskultur. So prägen die Art und Weise praktizierter politischer Kommunikation, die Selektion der Themen wie auch ihre Darstellungsweise die kollektive Wahrnehmung von Politik. In den Kommunikationswissenschaften wurde hierfür der Begriff priming eingeführt, der wie folgt definiert wird: „By calling attention to some matters while ignoring others, television news influences the standards by which governments, presidents, policies, and candidates for public office are judged. Priming refers to changes in the standard that people use to make political evaluations.”464
Solche Priming-Effekte465 konnten im Rahmen von empirischen Exprimenten vielfach nachgewiesen werden, jedoch dürfen sie sicherlich nicht im Sinne einer Manipulationsmacht überschätzt werden, da ebenso nachgewiesen werden konnte, dass die Massenmedien nicht die einzigen Quellen für die politische Meinungsbildung darstellen (zudem kommt in diesem Zusammenhang den Printmedien eine stärkere Bedeutung zu als dem Fernsehen), sondern ebenso persönliche Gespräche, das politische (Vor-)Wissen als auch die grundsätzliche Wertebindung von Menschen. Diese letztgenannten Faktoren bestimmen maßgeblich, inwieweit priming bzw. ganz allgemein Framing-Effekte politische Einstellungen und Wertorientierungen im Rahmen der politischen öffentlichen Kommunikation beeinflussen.466
464
Iyengar/Kinder zit. nach: Druckmann (2005:114) Chong/Druckmann begreifen priming wie auch framing als weitgehend identische Prozesse, so dass die beiden Begriffe synonym verwendet werden können, um Begriffskonfusionen zu vermeiden. „In our view, the psychological model of framing presented above can be generalized to priming by assuming that each Vi constitutes a separate issue dimension or image […] used to evaluate a politician. When mass communication places attention on an issue, we expect that issue will receive greater weight via changes in its accessibility and applicability. If this is correct, then framing effects and what communication scholars have called priming effects share common processes, and the two terms can be used interchangeable.” Chong/Druckman (2007a:115). Auf das Konzept framing werde ich weiter unten noch ausführlicher eingehen und dabei im Sinne von Chong und Druckmann priming- und framing-Effekte als einen im Prinzip identischen Prozess im Rahmen politischer Kommunikation auffassen, da es hier um das grundsätzliche Verhältnis von politischer Kommunikation und Einstellungen geht. 466 Einen guten Überblick über den aktuellen Forschungsstand auf der Grundlage von Framing-Theorien liefert der Aufsatz von Chong und Druckman (2007a:115f.). 465
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Auf der Ebene der Deutungskultur sind die wesentlichen Auswirkungen im Vermittlungsprozess von politischen Inhalten anzusiedeln. So wird durch die Selektion von Nachrichten und durch ihre Aufbereitung von Seiten der Medien Einfluss drauf genommen, was im Rahmen der politischen Öffentlichkeit rezipiert wird. Die konstatierte Verkürzung von politischen Inhalten durch die Massenmedien aber auch von Politikern (Stichwort: symbolische Politik) insbesondere beim Fernsehen, kann sich demnach problematisch auf die Rolle einer demokratischen Öffentlichkeit auswirken. Im Verhältnis politischer Parteien zur Gesellschaft bedeutet Responsivität somit zunächst einmal die Rückkoppelung politischen Handelns von Repräsentanten (Regierungen, Abgeordnete, Parteien etc.) an die Interessen der von ihnen Repräsentierten.467 Der aus der amerikanischen Demokratietheorie von Amitai Etzioni (1968) stammende Begriff formuliert den normativen Anspruch, dass demokratische Repräsentation eine Übereinstimmung von Wählerpräferenzen und politischen Entscheidungen bedeutet. Um dies sicherzustellen zu können, müssen die politischen Akteure (Repräsentanten) empfänglich und aufnahmefähig hinsichtlich der in der Gesellschaft vorfindbaren Präferenzen sein und diese verantwortlich in politische Entscheidungen umsetzen. Eine wesentliche Aufgabe politischer Parteien als Repräsentanten ihrer Wähler und Mitglieder besteht demzufolge darin, für die Interessen und Bedürfnisse ihrer Anhänger und Wähler sensibel zu sein und diese aufzunehmen. Idealtypisch zeigt sich die Responsivität politischer Parteien in einer weitgehenden Übereinstimmung zwischen den Präferenzen der Wähler einerseits und den politischen Entscheidungen bzw. Positionen der Parteien andererseits. Zudem beinhaltet der Begriff, und darauf verweist insbesondere von Alemann (1992:121), auch ein „Antworten“ auf die Interessen und Bedürfnisse, die aus der Gesellschaft hervorgehen. „In dem Begriff steckt zunächst das Antworten, das Eingehen auf Bedürfnisse, die von der Gesellschaft artikuliert werden. Responsivität – als normative Forderung auf die Parteien angewandt – meint deshalb: Parteien gehen nicht nur aus der Gesellschaft hervor und wirken bei der politischen Willensbildung mit, sondern sie wirken auch auf die Gesellschaft zurück. Sie sollen offen für sozialen und politischen Wandel sein und Antworten auf neue Problemstellungen geben können. Mangelende Responsivität hingegen bedroht die Parteien mit der Strafe potentieller Wählerverluste“468
Es erscheint demnach sinnvoll, Responsivität nicht nur als Produkt, im Sinne einer prinzipiellen Übereinstimmung zwischen den Wählerpräferenzen und dem politischen Output, zu betrachten, sondern ebenso als einen Prozess wechselseitiger Beeinflussung. Während Responsivität als Produkt sich in Form einer Kongruenz zwischen Bürgerinteressen und politischen Positionen der politischen Akteure bzw. der politischen Entscheidungen (outputs) darstellt, ist die prozesshafte Dimension von Responsivität – im Sinne einer Vorbedingung für responsive Positionen und Entscheidungen – maßgeblich auf der Ebene der politischen Kommunikation469 und im Kontakt mit gesellschaftlichen Gruppen angesiedelt. Wie dieser Prozess in seiner ganzen Komplexität abläuft, welche Faktoren entscheidend sind, kann hier nicht beschrieben werden und findet auch in der wissenschaft-
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Nach Uppendahl (1981:127) Von Alemann (1992:120f.) 469 Detaillierter dazu, insbesondere den Politikvermittlungsquellen zwischen Parteien und Gesellschaft, siehe von Alemann (1992:121ff.) 468
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lichen Diskussion keine endgültige Bestimmung. Kielhorn (2001:259)470 stellt dahingehend fest: „(…) ein einfaches Kausalmodell wäre zwar denkbar: Kommunikation in Form gesellschaftlicher Kontakte führt zur Einbeziehung der Meinungen und Interessen bestimmter sozialer Gruppen, dies wiederum findet seinen Niederschlag in den Einstellungen der Parlamentarier, was letztlich in entsprechenden Outputs und Outcomes resultiert. Doch scheinen die diversen Wechselbeziehung vielschichtiger und weniger ‚linear‘ zu sein, weshalb hier sicherlich noch weiterer Forschungsbedarf zur Klärung dieser responsivitätstheoretischen Probleme gesehen werden kann (…).“
Auch wenn die einzelnen Prozesse und Kausalzusammenhänge, die zur Responsivität von Parteien führen, noch nicht entschlüsselt sind, so konnte in der Parteienforschung bereits nachgewiesen werden, dass sich Parteien der Gesellschaft gegenüber responsiv verhalten, also Bedürfnisse und Interessen, die aus der Gesellschaft hervorgehen, aufnehmen und durch ihre Lösungsangebote und politisches Handeln letztlich auch wieder auf die Gesellschaft zurückwirken471, so zum Beispiel, wenn durch politische Entscheidungen neue Realitäten geschaffen werden, oder indem durch framing die öffentliche politische Meinung beeinflusst wird (s.u.). Parteien und politische Kommunikation Aus der Diskussion der Konzepte wurde deutlich, dass politische Parteien in einem komplexen interdependenten Beziehungsverhältnis zur Gesellschaft stehen. Sie gehen einerseits aus der Gesellschaft hervor, wirken aber ebenso auf diese wieder zurück. Bei der Mitwirkung im politischen Willensbildungsprozess besitzen sie zwar kein Alleinstellungsmerkmal, da auch andere Akteure und Organisationen im intermediären Bereich auf den politischen Willensbildungsprozess Einfluss ausüben. Doch entgegen allen Niedergangsprognosen spielen Parteien im politischen Willensbildungsprozess nach wie vor eine führende Rolle und prägen entscheidend die politische Deutungskultur einer Gesellschaft: Zum einen sind Parteien die einzigen Akteure/Organisationen, die ein direktes Bindeglied zwischen den politischen Institutionen und der Gesellschaft darstellen, da sie auf beiden „Ebenen“ agieren. Diese „Zwitterstellung“ politischer Parteien, sowohl gesellschaftlicher als auch politischer Akteur zu sein, ist letztlich ihr Alleinstellungsmerkmal, welches ihnen eine herausragende Position gegenüber anderen Interessenorganisationen und letztlich auch gegenüber den Medien beschert. Denn nur politische Parteien vermögen einen programmatischen gesamtgesellschaftlichen Kompromiss vor dem Hintergrund einer Vielfalt an sozialen Interessen, Werten, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Gruppen zu entwerfen 470
Kielhorn, Achim (2001) Kielhorn (2001:270-276). Kielhorn kann in seiner Analyse aufzeigen, dass „Abgeordnete, die sich als ParteiVertreter verstehen, […] in ihren politischen Positionen näher am Partei-Wähler [sind], während Abgeordnete mit einem Nation-Focus in ihrer Position dem Median-Wähler näher stehen. Parlamentarier, bei denen der RollenFokus auf dem Wahlkreis liegt, befinden sich in ihren Ansichten zu den gemessenen drei Sachfragen zwischen Partei-Vertreter und Wahlkreis-Vertreter: sie sind näher am Median-Wähler als der Partei-Vertreter und näher am Partei-Wähler als der Nation-Vertreter.“ So wies er in seiner Arbeit nach, dass Abgeordnete sich in ihren Haltungen zu politischen Sachfragen an den durch sie repräsentierten Wählern orientieren, was letztlich die Responsivitätsthese stützt. Kielhorn (2001: 274)
471
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und diesen in den politischen Prozess einzubringen. Indem politische Parteien sowohl Lösungsvorschläge für gesellschaftliche Probleme entwickeln (und z. T. auch umsetzen) als auch grundlegende normative Orientierungen hinsichtlich eines zukünftigen Gesellschaftskonzeptes bieten, nehmen sie eine zentrale Position im Rahmen der politischen Deutungskultur ein. Auch wenn sie keine Deutungshoheit für sich beanspruchen können, da ebenso die Medien wie auch andere gesellschaftliche Eliten (wie z. B. Wissenschaftler, Intellektuelle, Wirtschaftsvertreter oder die Kirche) Deutungsangebote liefern, prägen sie entscheidend den politischen öffentlichen Diskurs. Dies kann schon allein daran festgemacht werden, dass sich die öffentliche politische Auseinandersetzung häufig an den von Parteien entworfenen Deutungsanboten „abarbeitet“, d.h. Parteipositionen, Policy-Entwürfe und politische Entscheidungen zur Grundlage der Auseinandersetzung macht. Folglich kommt der (partei-)politischen Elite eine wichtige Rolle im Rahmen nationaler Deutungskulturen zu. Hinsichtlich des Einflusses von (politischen) Eliten auf die politischen Einstellungen und Orientierungen der Bevölkerung gibt es mittlerweile eine Vielzahl an Untersuchungen. In der aktuellen politikwissenschaftlichen Forschung wird dieser Einfluss – meist im Sinne eines Top-Down-Modells – auf der Grundlage der Framing-Theorie untersucht. Grundaussage ist dabei, dass frames politische Einstellungen472 beeinflussen, wobei unter frames die „Einrahmung“ (in gewisser Hinsicht eine Kontextualisierung, Fokussierung oder grundlegende Konzeptionalisierung)473 eines Themas verstanden wird. Dieser „Rahmen“ wirkt sich dann auf die Einstellungen von Menschen aus und kann auch zu Einstellungsänderungen führen – was als so genannter framing effect definiert wird.474 Chong und Druckmann (2007a:104) führen dazu aus: „The major premise of framing theory is that an issue can be viewed from a variety of perspectives and be constructed as having implications for multiple values or considerations. Framing refers to the process by which people develop a particular conceptualization of an issue or reorient their thinking about an issue.”475
Framing im Rahmen politischer Kommunikationsprozesse sollte jedoch nicht einseitig als manipulative Strategie politischer Eliten auf die Einstellungen der Wähler interpretiert werden, auch wenn man diese Art von Framing-Effekten nicht leugnen kann. Jedoch ver472
Druckmann/Lupia (2000:7) definieren „Einstellungen” folgendermaßen: „Preferences over classes of objects are rankings that derived from evaluations, where evaluations depend on beliefs, and beliefs are the result of interaction between individuals and their surrounding“. 473 Eine genaue Übersetzung des englischen Begriffs ins Deutsche ist nur mit Einschränkungen möglich, so dass in der Fachliteratur der englische Begriff verwendet wird. Frames dienen im weitesten Sinne der Organisation und Strukturierung von Bedeutungen. Entman (1993:52) umschreibt es wie folgt: „[t]o frame is to select some aspects of a perceived reality and make them more salient in a communicating text, in such a way as to promote a particular problem definition, causal interpretation, moral evaluation, and/or treatment recommendation.” Vgl. Entman (1993) Einen Überblick über unterschiedliche Zugänge zum frame-Konzept bietet der Artikel von Fisher (1997). 474 Ein framing effect tritt dann auf, wenn ein Sprecher durch die Betonung bestimmter potentiell relevanter Aspekte eines Themas den Fokus der Zuhörer bei ihrer Meinungsbildung auf eben diese Aspekte lenkt und diese dadurch ihre Einstellung ändern. 475 Chong/Druckmann (2007a:120). Ferner verweisen die Autoren darauf, dass: „Framing can be constructed in both positive and negative terms. It can be viewed as a strategy to manipulate and deceive individuals, or it can refer more neutrally to a learning process in which people acquire common beliefs, as in coordination of people around a social norm. […] In the social movement literature, individuals overcome collective action problems by developing shared frames about their predicament and agreeing on the best course of action.” (S. 120)
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weisen Druckmann und Chong (2007a) darauf, dass für die öffentliche Meinungsbildung framing effects einen natürlichen Prozess der Meinungs- und Einstellungsfindung darstellen. „Framing effects are also intrinsic to the formations of attitudes and opinions. Public opinion formation involves the selective acceptance and rejection of competing frames that contain information about candidates and issues. Discussion and debate over the appropriate frames for conceptualizing an issue lead ultimately to common perceptions and judgements about consequences of a policy. Framing effects are a liability only if individuals never develop a basis of discriminating among frames and remain constantly vulnerable to changing representations of issues. […] Stable attitudes can reflect sophisticated reasoning or dogmatism and inflexibility. Hence, both excessive instability and excessive stability of public opinion can be liabilities in a democracy.”476
Zum einen haben Frame-Analysen aufzeigen können, wie politische Eliten die öffentliche Meinungsbildung beeinflussen. In diesem Zusammenhang wurde aber ebenso deutlich, dass solche Framing-Effekte von anderen Faktoren begünstigt bzw. verhindert werden. So wirkt sich eine starke Wertebindung von Personen eher hinderlich auf Framing-Effekte aus, während eine geringe Wertebindung mehr Erfolg verspricht. Darüber hinaus kann der demokratische Wettbewerb um Argumente Framing-Effekte mindern, da durch die Darstellung unterschiedlicher Argumente eher ein Abwägungsprozess beim Individuum stattfindet. Zudem konnte nachgewiesen werden, dass die Qualität von frames entscheidender für die Einflussnahme ist als ihre Verbreitungshäufigkeit.477 Zum anderen decken die verwendeten frames die Perspektive auf, die auf ein Thema gerichtet und welche Bedeutung ihm beigemessen wird. Dabei sind frames – gerade wenn sie überzeugen wollen wie im Rahmen politischer Kommunikationsprozesse – nicht loslösbar vom kulturellen Kontext. Im Rahmen der politischen Kommunikation sind sie somit auch ein Ausdruck der politischen Kultur. Beim Versuch, Themen, Probleme oder Objekte zu framen, greifen politische Eliten wie auch alle anderen Personen auf ein kulturelles Repertoire zurück, welches u. a. aus Wissen, Erinnerungen, historischen Erzählungen, Weltsichten, sozialen und politischen Praktiken etc. besteht. Die Frage wie ein Thema „gerahmt“ wird, steht in enger Beziehung zum jeweiligen politisch-kulturellen Kontext, der die Hintergrundfolie darstellt. Die Betrachtung von frames in Bezug auf ein Thema kann somit dazu dienen, die vorfindbaren Einstellungen und Sichtweisen zu einem Thema besser zu 476
Ebd. Beide Extreme sind für eine Demokratie problematisch, denn wenn die Einstellungen der Menschen derart instabil sind, ist einer Manipulation der öffentlichen Meinung Tür und Tor geöffnet und eine Kompromissfindung auf der Grundlage begründeter Argumente kaum wahrscheinlich. Wenn die Einstellungen der Menschen jedoch unveränderbar wären, könnte die Politik wohl kaum Unterstützung für notwendige politische Anpassungen an gesellschaftliche Realitäten bekommen, was letztlich die Legitimation des politischen Systems und seine Funktionsfähigkeit (politics) Gefährden würde. 477 Vgl. Chong/Druckmann (2007b:26) „Two important psychological factors that affect the magnitude of framing effects are people’s value priorities and their motivation to think about politics. Individuals who are highly motivated expend more cognitive effort to determine whether a frame is applicable to an issue. They are therefore more likely to discriminate between available frames and dismiss weak arguments. People’s value priorities were a significant predictor of their policy preferences across framing conditions. Our experiments showed that framing can cause people’s opinions to deviate from their values, but contrary to previous theoretical claims, not any frame will move opinions simply by repeating its message. Both experiments showed that framing effects depended more on individual evaluations of the quality of frames than on the frequency with which they are receives. […] Competing frames tend to motivate individuals to deliberate on the merits of alternative interpretations.”
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erklären und zugleich nationale Unterschiede zu verstehen, da der Inhalt der frames vom jeweiligen kulturellen Hintergrund geprägt ist. Die Konzeptualisierungen von politischen Themen besitzen somit auch einen hohen Aussagewert über die politische Kultur, was anhand der verwendeten frames abgelesen werden kann.478 7.2 Methodisches Vorgehen Politische Parteien bieten frames an, indem sie Themen und Probleme auf eine bestimmte Art und Weise darstellen. Sie entwickeln spezifische Konzepte und Interpretationen zu gesellschaftlichen Fragen und prägen durch ihre Deutungsangebote der gesellschaftlichen Realität die politische Kultur eines Landes. Eine Verknüpfung zwischen parteipolitischen Frames479 und der politischen Kultur wird im Folgenden über die Analyse von Parteiprogrammen hergestellt. Die Analyse der Policy-Positionen von Parteien ist ein klassisches Feld der politikwissenschaftlichen Forschung und die Vorgehensweisen zur Erfassung solcher Parteipositionen sind sehr unterschiedlich. Im Großen und Ganzen lassen sich vier methodische Zugänge ausmachen, die Parteipositionen entweder anhand von Elitenstudien oder Expertenbefragungen, anhand von Partei- und Wahlprogrammen oder Bevölkerungsumfragen ermitteln. Jeder dieser Ansätze hat seine spezifischen Stärken und Schwächen. Eliteuntersuchungen nehmen auf der Grundlage von Abstimmungsverhalten (roll-call-data)480 oder anhand von Interviews politischer Eliten (z. B. von Parlamentariern) eine Parteieneinordnung vor.481 Diese Methodiken fanden bisher immer nur innerhalb eines politischen Systems Anwendung, so dass sie in der vergleichenden Parteienforschung relativ selten sind. Dies liegt darin begründet, dass es bisher kaum vergleichendes Datenmaterial gibt. Demgegenüber finden Experteninterviews wesentlich größere Verbreitung im Rahmen der vergleichenden Parteienforschung. Während einige Autoren insbesondere die geringere Subjektivität von Experten als positiv für die Erhebung von Parteipositionen loben, weist Mair (2001.19) auf die Schwierigkeit hin, dass „insights [that expert judgments] offer are necessarily limited and contingent”.482 Eine Generierung von Parteipositionen anhand von Bevölkerungsumfragen ist insofern von Vorteil, da dadurch eine Einordnung der Parteien anhand der von den Bevölkerungen wahrgenommenen Positionierung (zum Beispiel in einem Rechts-Links-Schema) nachvollziehbar ist. Allerdings ist nicht klar auszumachen, was die Befragten unter den für Politikwissenschaftler geläufigen Begriffen „rechts“ und „links“ tatsächlich verstehen. Der letzte und in der vergleichenden Parteienforschung wohl auch prominenteste methodische Zugang zur Einordnung von Parteipositionen ist die Analyse von Partei- und Wahlprogrammen. Bei diesem Ansatz wird davon ausgegangen, dass 478 Medrano (2003). Wenn frames auf nationale politische Kulturen verweisen, wie Medrano aufzeigen kann, so könnte im Umkehrschluss zumindest theoretisch angenommen werden, dass ähnliche Konzeptualisierungen von Themen in unterschiedlichen Ländern auf Ähnlichkeiten bzw. prinzipielle Übereinstimmungen in den politischen Kulturen hindeuten. 479 Unter parteipolitischen Frames wird hier der spezifische Blick einer Partei auf ein Thema verstanden, also ihre jeweilige Position und Interpretation. 480 Vgl. Hix/Lord (1997) 481 Vgl. Mair (2001) 482 Mair (2001:25) kommt sogar zu dem Schluss, dass: “Expert judgments are [...] not really an alternative to [...] other approaches; instead, they reflect a crude synthesis of these other approaches [i.e. past coalition behavior, party programs and ideology, mass and elite perceptions], filtered through the perceptions of well-read and intelligent observers. They are less an alternative than a short-cut”.
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Partei- und Wahlprogramme relevante Informationen über die Positionierung von Parteien in einem Policy-Bereich beinhalten. Insbesondere im Rahmen des Comparative Manifesto Project (CMP) wurde eine große Menge an Daten seit 1945 zu den jeweiligen Positionen von Parteien gesammelt. Dieses umfangreiche Datenmaterial, welches zudem ständig aktualisiert wird, ist in der vergleichenden Parteienforschung bisher einzigartig. Forscher untersuchen die Programme und ordnen zentrale Aussagen einer von 56 Kategorien zu. Diese Kategorien wurden wiederum einer Rechts-Links-Skala zugeordnet.483 Trotz der Vorzüge dieses umfangreichen Datenmaterials für die vergleichende Forschung gibt es auch einige methodische Probleme, die in der Forschungsliteratur vielfach diskutiert werden.484 Als einen entscheidenden Nachteil sehen Benoit und Laver (2006:99ff) mögliche Messfehler: „when evaluating the difference between estimated positions of two parties (or the same party at two points in time), we have no way of knowing, systematically, whether these positions are ‘the same’ or ‘different’.” Dies führen die Autoren maßgeblich darauf zurück, dass bei der Codierung der Parteiprogramme keine Überprüfung von Fehleinordnungen vorgenommen wird. „It is impossible, in the CMP data to distinguish measurement error from ‘real’ underlying change in the policy positions under investigation.“485 Ein weiterer Kritikpunkt am CMP-Datenmaterial bezieht sich auf die vorgefertigte und bisher unveränderte Rechts-Links-Skala, die in gewisser Hinsicht als überholt angesehen wird. Sie spiegle vielmehr im Durchschnitt den programmatischen Stand von 1965 wieder, so dass neue Themen wie Umweltpolitik nicht in der Skala berücksichtigt werden.486 Diese Arbeit schließt sich theoretisch der CMP-Forschung an, die Wahlprogramme als aussagekräftige Quellen zur Ermittlung von Parteipositionen ansieht. Nach Klingemann (1989:99) gewinnen und sichern Parteien ihre politische Identität durch ihre Programmatik.487 Im Rahmen ihrer Wahlprogramme formulieren diese Stellungnahmen zu politischen Fragen, zeigen politischen Handlungsbedarf auf und formulieren ihre Ziele, was als Leitfaden für die kommende Legislaturperiode dient. Veränderungen in den Parteiprogrammen können auch als Abbild des veränderten Problemhaushaltes eines Landes angesehen werden. Darin wird die Wechselwirkung zwischen öffentlichem Interesse und Parteiprogrammatik sichtbar. Dies ist einleuchtend, da eine Partei nur dann eine Chance hat, gewählt zu werden, wenn sie die Bürger davon überzeugen kann, dass sie sich für die Lösung der aktuellen Probleme einsetzt.488 Von den Parteien wird erwartet, dass sie ihre Versprechungen während der Legislaturperiode einlösen. Insbesondere Regierungsparteien müssen davon ausgehen, dass ihre Politik unter Rückbezug auf ihre gemachten Wahlaussagen und prinzipiellen Ziele beurteilt wird.489 Im Rahmen des CMP-Forschungsprogramms konnte plausibel belegt werden, dass Wahlprogramme von Parteien nicht bloß strategische Dokumente zum Gewinnen von Wahlen sind, die keinen Aussagewert für die reale Politikgestaltung hätten490 sondern mit den 483
Budge et al. (2001) Vgl. dazu u. a. Benoit/Laver (2006), Gabel/Huber (2000), Franzmann/Kaiser (2006), Pelizzo (2003) 485 Benoit/Laver (2006:102) 486 Ebd. S. 104. Darüber hinaus werden technische Probleme angesprochen wie leere Kategorien oder fehlende Parteien, was beim Rechnen mit dem Datenmaterial zu verzerrten Ergebnissen führen könne. 487 Klingemann (1989) 488 Klingemann (1989:110). 489 Bei Koalitionsregierungen herrscht eine besondere Logik vor, da den kleineren Parteien mitunter ein ihrem Wähleranteil überproportionaler Einfluss bei der Politikgestaltung zukommt. Vgl. Hofferbert/Klingemann/Volkens (1995:321-333) 490 Vertreter dieser Position sind maßgeblich im Rahmen der Ökonomischen Theorie von Politik anzutreffen. 484
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tatsächlichen Politikentscheidungen von (Regierungs-)Parteien im Großen und Ganzen übereinstimmen. Wahlprogramme besitzen einen hohen Aussagewert, da sie die politische Identität, die Werte einer Partei widerspiegeln, responsiv gegenüber dem gesellschaftlichen Problemhaushalt sind (Interpretations- und Lösungsangebote als Ausdruck der Deutungskultur bieten), an die Wähler und weitgehend auch an die realen Policy-Entscheidungen rückgekoppelt sind. Indem diese Arbeit Wahlprogramme zur primären Quelle der Deutungskultur macht, verbindet sie die in der Parteienforschung gemachten Erkenntnisse über die Relevanz von Wahlprogrammen mit dem Konzept der politischen Kultur. Dafür bedarf es einer dem Forschungsdesign angemessenen Methodik: Über eine qualitative Inhaltsanalyse der Wahlprogramme kann eine höhere Sensibilität gegenüber frames wie auch Änderungen in den Policy-Positionen gewährleistet werden als es mit vorkodierten computergestütztem Datenmaterial möglich wäre. Eine größere Flexibilität im Umgang mit den in den Wahlprogrammen gemachten Aussagen erfüllt zwei wesentliche Zwecke: Zum einen können durch eine Betrachtung der Aussagen im Gesamtkontext des Programms, die (unterschiedlichen) inhaltlichen Gewichtungen und ggf. dahinter liegenden Vorstellungen der Parteien besser herausgearbeitet werden. Dies ist insbesondere mit Blick auf die deutschen Parteien von Vorteil, da sowohl SPD als auch CDU/CSU als „Sozialstaatsparteien“491 auftreten. Zum anderen ist ein solch hermeneutischer Zugang für die Verknüpfung mit dem Konzept der politischen Kultur unerlässlich, da es nicht lediglich um eine Einordnung der Parteiprogrammatik in eine Rechts-Links-Skala gehen soll, sondern der jeweilige Blick (hier so genannte frames) einer Partei auf ein Thema von Bedeutung ist.492 Für die Analyse der Wahlprogramme werden drei „frames“493 ausgewählt: der Sozialstaatsframe, der nationale Gesellschaftsframe und der europäische frame, wobei frame in diesem Kontext lediglich als eine Art „Bezugsrahmen“ betrachtet wird. Anhand der Wahlprogramme sollen die spezifischen Interpretationen des Sozialstaates, des nationalen Gesellschaftsmodells und der EU (insoweit sie einen Bezug zum Sozialstaat aufweisen), herausgearbeitet werden. Dabei wird angenommen, dass die in den Wahlprogrammen zum Vorschein kommenden parteipolitischen Perspektiven auf den Sozialstaat in einem engen Verhältnis zum Nationalstaats- und Europakonzept (bzw. der EU) stehen und diese sich somit zu einem gewissen Grad gegenseitig bedingen.494 Insofern ist die Dreiteilung analytischer Natur und 491
Manfred G. Schmidt definiert sowohl CDU/CSU als auch die SPD als Sozialstaatsparteien, da „beide Parteien […] die Sozialpolitik grundsätzlich als unverzichtbaren Wesensbestandteil der Daseinsvorsorge als Vorraussetzung innenpolitischer Stabilität und Gefahrenabwehr [werten]. Beide sind in diesem Sinne Sozialstaatsparteien, dass sie sich dem Anliegen des Schutzes gegen Not, der Hilfe für Schwächere und der Eindämmung krasser gesellschaftlicher Unterschiede verschrieben haben.“ Schmidt (1998:168) 492 Zudem ist für den späteren Vergleich mit dem EU-Skript die flexiblere Handhabung mit den Wahlprogrammen wichtig. Wahlprogramme machen wesentlich spezifischere Aussagen, als diese zum Beispiel im EU-Skript als „Quasi-Verfassung“ zu finden sind. Durch die flexiblere Herangehensweise kann sichergestellt werden, dass die Parteienaussagen in einen größeren Kontext verankert werden, woraus sich ein sozialpolitisches Leitbild abzeichnet. 493 Diese Arbeit versteht sich jedoch nicht als eine Frame-Analyse, wie sie z. B. vom Begründer Erving Goffmann (1977) vorgeschlagen wurde. Darüber hinaus ist es schwierig, die Vielzahl an methodischen Zugängen der FrameAnalyse auf einen Nenner zu bringen, so dass „frames“ lediglich als eine hilfreiche analytische Kategorie zur Strukturierung des empirischen Materials im Rahmen der qualitativen Inhaltsanalyse der Wahlprogramme verwendet werden. 494 So haben Marks und Hooghe (2003:1) in ihrer Untersuchung über den Zusammenhang von nationaler Identität und Unterstützung für die Europäische Union herausgefunden, dass je stärker die Anbindung an die eigene Nation ist, umso stärker auch die Unterstützung für die Europäische Integration ist.494 Zugleich zeigt die Studie aber auch,
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dient maßgeblich der Strukturierung der Inhaltsanalyse. In welcher Weise diese frames miteinander verbunden sind oder ob sie möglicherweise miteinander kollidieren, soll die Analyse der parteipolitischen Positionen aufdecken. Zudem wird davon ausgegangen, dass die drei frames einen zunehmenden Abstraktionsgrad aufweisen. Das würde bedeuten, dass der Mikroframe (Sozialstaat) sehr konkrete Policy-Positionen der Parteien beinhaltet, während die Aussagen zum Gesellschaftskonzept bereits allgemeiner und zu Europa noch abstrakter gehalten sind. Dies spiegelt sich auch im Analyseraster wieder: Abbildung 12: Parteipolitische Frames Politische Deutungskultur Europäischer Frame Nationaler Frame Mikroframes sozialdemokratisch
liberal
sozialistisch
konservativchristdemokratisch
Quelle: Eigene Darstellung
Der sozialstaatliche Mikroframe wird anhand von sozialpolitischen Positionen im weiteren Sinne, also Aussagen zur sozialen Sicherung, Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik untersucht.495 Eine solche Untergliederung des sozialstaatlichen Mikroframes macht aus zwei Gründen Sinn: Zum einen, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass eine Partei zwangsläufig ein kohärentes, im Sinne der Wohlfahrtsstaatstypologie stringentes, sozialpolitisches Programm verfolgt. Wahrscheinlich ist vielmehr, dass unterschiedliche Elemente der Idealtypen je nach Politikfeld miteinander kombiniert werden. Eine Zuordnung zu einem (idealen) Sozialstaatstyp kann dann anhand der jeweiligen Elemente vorgenommen dass diejenigen, die eine exklusive nationale Identität für sich reklamieren, d.h. sich nur mit ihrem eigenen Land identifizieren, wesentlich euroskeptischer eingestellt sind als Befragte, die eine „multiple“ Identität, also eine nationale wie auch europäische Identität aufweisen. “(…) we conclude that perceptions of national identity are by far most powerful in structuring views on European integration. We find that the particular perception of national identity matters, as well as how identity is mobilized in national contexts. Thus, while strong national identity is consistent with support for European integration, exclusive national identity is a powerful brake on support. The effect of exclusive national identity varies across countries. It is strongest in countries where referenda on European integration have taken place. Referenda exacerbate conflicts within and among elites and empower singleissue anti-European protest movements, and this mobilizes exclusive national identity in an anti-European direction.” Aufgrund des engen Verhältnisses von Parteien und Gesellschaft kann dieser Zusammenhang im weitesten Sinne auch für die parteipolitischen Positionen angenommen werden. 495 Allerdings können auch beim sozialstaatlichen Mikroframe steuerpolitische Ziele der Parteien Berücksichtigung finden, wenn diese z. B. ausschlaggebend für die Sozialstaatskonzeption (z. B. im Rahmen der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik) der jeweiligen Partei sind. Insofern stellen die ausgewählten Politikfelder im jeweiligen Analyseraster immer nur einen Orientierungsrahmen dar, der im Einzelfall leicht variieren kann.
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werden. Das Mischungsverhältnis, welches sich am Ende daraus ergibt, lässt eine tendenzielle Ausrichtung der Partei erkennen. Zum anderen kann eine solche Analyse die graduellen Veränderungen von Parteipositionen besser ausmachen und verhindert eine allzu grobe Verallgemeinerung, wenn es zum Vergleich mit dem segmentierten sozialpolitischen Skript der EU kommt. Die folgende Tabelle gibt den Orientierungsrahmen für die Zuordnung der parteipolitischen Positionen mit Blick auf den Sozialstaat. Tabelle 20: Sozialpolitische Mikroframes zur sozialen Sicherung
Soziale Sicherung
Politikfeld Indikatoren
Risikoabsicherung über:
Sozialistisch (Etatistisch)
Dienstleistungen Universeller Zugang
Sozialdemokratisch (Garantistisch)
Konservativ/Christdemokratisch
Pflichtversicheru Dienstleistungen + ngssysteme Sozialversicherung Nicht Universeller marktkonforme Rechtsanspruch Versicherungen mit Sozialleistungen z.T.Pflichtcharakter unabhängig von (Mitglieder, keine vorher geleisteten, Kunden) erwerbsabhängigen nach ErwerbseinBeiträgen kommen
staatliche Dienstleitungen (Aufbau; Ausbau oder Erhalt Zentrale Ausbau staatlicher sozialer Leistungen) Dienstleistungen Maßnahmen: staatliche Investitionen in Sozialsysteme
Liberal
Private Vorsorge Individuelle Versicherungen Marktkonform Beitrags- bzw. Erwerbseinkommen orientiert
BedürftigkeitsPrüfungen Privatvorsorge Zielgenauere Soziale Sicherheit Bereitstellung von als Ausdruck der Sozialtransfers individuellen Leis Notwendigkeit von tung mehr Wettbewerb Notwendigkeit Mix von privaten von Abbau sozialer Leistungen und staatlichen Leistungen
Quelle: Eigene Darstellung
Die mitunter idealtypische Zuordnung der Elemente nach parteipolitischen Sozialstaatskonzeptionen ist an die in Kapitel 5.4.1 dargestellten Typologien der Wohlfahrtsstaatsforschung496 angelehnt. Der Nachteil von Idealtypen ist, dass in der Realität immer nur Mischformen existieren, so dass als Unterscheidungskriterium letztlich der Grad der Annäherung an einen Typus für die Einordnung entscheidend ist. Allerdings kann eine vergleichende Analyse nur dann systematisch durchgeführt werden, wenn sie ein gewisses Maß an Verallgemeinerung und Abstraktion in Kauf nimmt. Auf einen weiteren Aspekt muss hingewiesen werden: Die vier parteipolitischen Sozialstaatskonzeptionen versuchen den Status quo abzubilden und besitzen keinen zeitlichen Verallgemeinerungsanspruch, weil Typologien letztlich immer auch – sicherlich zeitversetzt – mit realen, dauerhaften Veränderungen mitwachsen müssen, da sonst der Erkenntniswert gering ist. Dieses Problem kann anhand der Untergliederung zwischen dem „sozialistischen“ und dem „sozialdemokratischen“ Sozialstaatskonzept verdeutlicht werden. So ist die Bezeichnung sozialistisch in gewisser 496
Dabei wurden insbesondere die Typologien von Esping-Anderson (1990), Roller (2002) und die Ergänzungen von Opielka (2004) berücksichtigt.
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Hinsicht problematisch, da der Begriff häufig mit den historischen Erfahrungen sozialistischer Regime verbunden wird und damit sehr weit reichende Vorstellungen staatlicher gesellschaftlicher Kontrolle, ökonomischer Planwirtschaft und der Vergesellschaftung von Produktionsmitteln einhergehen. Da sich jedoch in vielen europäischen Ländern Parteien selbst als „sozialistisch“ bezeichnen und darunter in der Regel keine totale ökonomische und gesellschaftliche Kontrolle des Staates verstehen sondern zumeist auf der demokratischen Grundlage des jeweiligen Nationalstaates argumentieren und für eine umfassende Verantwortung des Staates z. B. für die soziale Absicherung der Menschen wie auch bestimmter lebenswichtiger Güter (z. B. Wasser, Gas, Strom) eintreten, wird in der Typologie eher der derzeitige europäische Mainstream berücksichtigt. Tabelle 21: Sozialpolitische Mikroframes in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik Politikfeld Indikatoren
Sozialistisch (Etatistisch)
Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik
Konservativ/Christdemokratisch
Liberal
Arbeitsplätze regulation
Primär über Bildung Primär über Wach(+ hohe Ausgleichs- Primär über Anreize stum zahlungen)
„aktivierender Aktivierungs- Staat“, Inklusion durch erweiterte konzept497 „Arbeiterpolitik“
„aktivierender Staat“ „Normalisierung“ Inklusion durch Empowerrment; Inklusion als Grund- Familienpolitik / Gruppenpolitik recht; soziale Dienstleistungen
„workfare“ Inklusion über Produktivismus (ohne soziale Dienstleistungen)
Adressat:
Arbeitnehmer
Individuum
Produzent
Subjekt:
Sozialbürger
Autonomer Bürger Gruppenselbst
RechtePflichten Verhältnis
Betonung von Betonung von Rechte und Pflichten Pflichte und Rechte Pflichten Rechten (Umschulungen etc.) (Familienpolitik) (Arbeitsmarktdere(Arbeitsmarktregul.) gul.)
Primär über Staats-
Gewerkschaften
Lohnpolitik
Stärkung von Gewerkschaften, Schwächung des Kapitals: Ausbau von Arbeitnehmerrechten
Staatlich
Quelle: Eigene Darstellung
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Sozialdemokratisch (Garantistisch)
In Anlehnung an Opielka (2004:90)
Familienperson
Kunde
Gleichgewicht von Pro Gewerkschaften Arbeitgebern und Positive Bezug- Arbeitnehmern nahme auf Gewerk- Weder positive schaften: noch negative Pro Arbeitnehmer- Aussagen über rechte (Sicherung Gewerkschaften: oder Ausbau) Gewerkschaften sollen eher zurückhaltend sein
Marginalisierung von Gewerkschaften: Aussagen über den Machtmissbrauch von Gewerkschaften Streiks als Schädigung der Wirtschaft
Tarifautonomie + staatliche Mindestlöhne
Individuelle Verhandlungen
Tarifautonomie
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Dabei fällt auf, dass der sozialistische Typus in dieser Untersuchung traditionell sozialdemokratische Elemente beinhaltet (wie z. B. Fokussierung auf Arbeitnehmer, Stärkung der Gewerkschaften etc.), während der sozialdemokratische Typus die Entwicklungstendenzen europäischer sozialdemokratischer Parteien seit den 1990er Jahren aufnimmt (z. B. stärkere Fokussierung des Individuums, Rechte und Pflichten, aktivierender Staat, stärkere Inklusion durch Bildung etc.)498 und damit die Modernisierungstendenzen vieler sozialdemokratischer Parteien, in denen sich auch allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen spiegeln (z. B. Individualisierungsprozesse, Krise des Sozialstaats etc.). Insofern wurde versucht, zeitgemäße Idealtypen parteipolitischer Sozialstaatskonzeptionen zu entwerfen. Der nationalstaatliche Frame beleuchtet das jeweils umfassendere Gesellschaftskonzept499 einer Partei, insofern dies einen sozialstaatlichen Bezug hat. Dabei werden Aussagen aus den Wahlprogrammen herausgefiltert, die die parteipolitischen Positionen hinsichtlich des favorisierten Solidaritätskonzeptes, des Wirtschaftsmodells und des dominanten Gerechtigkeitsverständnisses andeuten. Eindeutige Aussagen zu abstrakten Solidaritätsund Gerechtigkeitskonzeptionen lassen sich nur selten in Wahlprogrammen finden, häufig können diese nur mit Hilfe von konkreten Policy-Aussagen in unterschiedlichen Politikfeldern abgeleitet werden. Hierfür geben neben der Sozialpolitik (sozialstaatlicher Mikroframe) insbesondere auch die Wirtschaftspolitik (mit Steuer- und Finanzpolitik) und die Bildungspolitik gute Anhaltspunkte. Dies ist wichtig, da die Wahlprogrammatiken vom etablierten Sozialmodell ausgehen und dieses damit nicht umfassend beschreiben sondern primär den Veränderungsbedarf formulieren. Insofern können für die Erfassung des Solidaritätskonzeptes oder des Gerechtigkeitskonzeptes auch Aussagen über die Familienpolitik bzw. Bildungspolitik Bedeutung erlangen. Daneben spielt die Betonung bzw. Gewichtung bestimmter gesellschaftlicher Werte eine Rolle, in manchen Fällen wird auch ein explizites Gesellschaftsmodell genannt (z. B. Teilhabegesellschaft). Die wirtschaftspolitische Dimension ist insofern auch eine wichtige Quelle für die sozialstaatliche Positionsbestimmung einer Partei, da hieraus ersichtlich wird, welches Marktmodell bevorzugt wird oder welche arbeitsmarktpolitischen Anpassungsstrategien verfolgt werden. Orientierung für die Bestimmung des favorisierten Wirtschaftsmodells bieten dabei die in den Programmen gemachten Policy-Aussagen. Für eine Freie Marktwirtschaft sind dies z. B. (positive) Aussagen zur Überlegenheit von individuellem Unternehmertum über Staats- und Kontrollsysteme; zur Lohn- und Steuerpolitik als Mittel zum Ankurbeln des Wirtschaftswachstums (insbesondere Steuersenkungen); zur Schaffung von finanziellen und anderen Anreizen für Wirtschaft und Unternehmen, gegen Protektionismus und für freien Handel und zur Förderung von Unternehmensgründungen. Für die Soziale Marktwirtschaft können positive Aussagen über die Notwendigkeit von Marktregulation (um die Privatwirtschaft zu fördern), über den Schutz von Verbraucherrechten und kleinen Unternehmen, über Korporatismus,
498
Dies entspricht einer zumindest normativen Orientierung am garantistischen Modell nach Offe (1990), vgl Opielka (2004). Unter Gesellschaftskonzept wird hier das jeweilige zum Ausdruck kommende Wirtschafts- und Sozialmodell gefasst, welches sich anhand von Aussagen aus den verschiedenen Politikbereichen zusammensetzt. Darunter fallen z. B. Aussagen über die Wirtschafts- und Steuerpolitik, über die Rolle von Familie und Zivilgesellschaft sowie die spezifische Gewichtung gesellschaftlicher Werte (wie z. B. Freiheit, Solidarität, Eigenverantwortung, Chancengleichheit, Eigentum, Wettbewerb, soziale Sicherheit, Leistung etc). Das Gesellschaftskonzept vermittelt somit die jeweilige Vorstellung über die Bedingungen des sozialen Zusammenhalts (Gerechtigkeits-Konzeptionen und Wertebezüge).
499
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Tarifautonomie und Quotenregeln, die Förderung des Wettbewerbs, über nachhaltige Wirtschaftsplanung und die Rolle der Regierung dabei herangezogen werden. Tabelle 22: Nationaler Gesellschaftsframe Sozialistisch
Sozialdemokratisch Konservativ/ Christdemokratisch
Gesellschaftli- staatlich gewähr- als Rechtsanspruch (primär durch Staat che Solidarität leistet aber auch durch Zivilgesellschaft) - Rolle Familie gering
gering
Liberal
durch Staat, Familie, individuell, Charity karitative Einrichtungen (christliche Nächstenliebe) gering hoch
Dominantes Gerechtigkeitskonzept
Verteilungs-/ Ergebnisgerechtigkeit
Chancen- / Teilhabe- Bedarfsgerechtigkeit Leistungsgerechtiggerechtigkeit keit
Bildung
Gesamtschulen (Angleichung/ Nivellierung)
Gemeinschaftsschulen Differenziertes Schul- Privatschulen system, Betonung von Betonung von LeisBegabte fordern, tungs- und ElitenBenachteiligte fördern Elitenförderung förderung
ÆGleichheitsprin- Æ Chancenprinzip ip Wirtschaft - Prioritäten
Vollbeschäftigung
- WirtschaftsPlanwirtschaft modell
Æ Statusprinzip
Æ Leistungsprinzip
1. Vollbeschäftigung 1. Wirtschaftswach- Wirtschaftswachstum 2. Wirtschaftswach- stum 2. Vollbeschäftigung stum Soziale Marktwirtschaft
Soziale Marktwirtschaft
Freie Marktwirtschaft
Quelle: Eigene Darstellung
Diese Beispiele sollen nur einen Eindruck vermitteln, wie eine Positionsbeschreibung der Parteien anhand ihrer Wahlaussagen vollzogen wird. Dabei können sich Aussagen durchaus widersprechen bzw. Elemente aus den unterschiedlichen idealtypischen Modellen miteinander verknüpfen. Über den Zeitvergleich und durch die Einbeziehung der gesellschaftspolitischen Dimension können so tendenzielle Einordnungen vorgenommen werden. Für die Untersuchung des europäischen frames werden die Aussagen zu Europa herangezogen, die das jeweilige parteipolitische Europakonzept aufzeigen. Von Interesse sind dabei Aussagen darüber, wie auf die EU Bezug genommen wird, also welche Werte und Attribute ihr zugeschrieben werden und welche Form der zukünftigen Ausgestaltung, insbesondere mit Blick auf eine europäische Sozialpolitik, anvisiert wird. Eine parteipolitische Typologie hinsichtlich der Europapositionen ist mit gewissen Schwierigkeiten verbunden, da Europa als relativ „neues“ Thema nicht durch die gängigen Konfliktlinien der Parteien strukturiert ist. Eijk und Franklin (1996:370) verwiesen schon früh darauf, dass:
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193
„[the] party system in European countries arose long before the process of European Unification began (…). The questions, however, which currently are of central importance in the politics of the European Union cut across the divisions between national parties, with minorities even within nominally pro-European parties being often vociferously opposed to all things European.”500
Die theoretisch angenommene Interdependenz der drei frames kann somit hinsichtlich des Europathemas nur vorläufiger Natur sein, da das Europathema möglicherweise quer zu den anderen Parteipositionen liegt bzw. der nationale Kontext ausschlaggebend ist.501 Abbildung 13: Parteipositionen zum Europäischen Integrationsprozess
Ideologische Ausrichtung der Partei
links rechts
Form der Integration Negative Positive Integration Integration + + -
Quelle: Eigene Darstellung
Des Weiteren spielen die im Vergleich mit Nationalstaaten schnellen und umfassenden Veränderungen im europäischen Integrationsprozess – als ein Indiz dafür sind die Erweiterungsrunden wie auch die schnelle Abfolge neuer Verträge in den letzten 15 Jahren zu sehen – eine wesentliche Rolle für die parteipolitischen Europapositionen. Diese werden vor dem Hintergrund des jeweiligen Integrationsstandes formuliert, so dass angenommen werden kann, dass die Dominanz negativer Integration bei Mitte-Rechts Parteien in Relation zu Mitte-Links Parteien stärkere pro-europäische Positionen hervorrief. In dem Maße, in dem die EU vermehrt positive Integrationsschritte vornahm, stellten sich die Positionierungen der Parteien genau umgekehrt dar. Demnach müssten Mitte-Links-Parteien in Relation zu Mitte-Rechts-Parteien deutlichere pro-europäische Positionen einnehmen. Daraus ließe sich folgendes Schema ableiten: Für die Analyse wird hier zunächst angenommen, dass der Blick der Parteien auf den Sozialstaat und das dazugehörige Gesellschaftskonzept auch die Parteipositionen zu Europa determinieren. Demnach ergibt sich für den aktuellen Integrationsstand das in Tabelle 23 folgende grobe Raster. Diese Analyse der Wahlprogramme wird in den jeweiligen diskursiven Zeitkontext gestellt und bei Bedarf mit Wahlkampfanalysen und Medienberichten angereichert, so dass das „deutungskulturelle Bild“ zum jeweiligen Zeitpunkt an Schärfe gewinnt. Zudem erlaubt eine solche zeit- und themenorientierte Vorgehensweise, mögliche Veränderungen in den Parteipositionen aufzuzeigen. Erkenntnisleitende Fragen für die Analyse der Wahlprogramme pro Land sind in einem ersten Schritt: 1.
500
Welche spezifischen sozialpolitischen, gesellschaftspolitischen und europapolitischen Konzeptionen sind in den Wahlprogrammen formuliert?
Eijk/Franklin (1996) Vgl. Marks/Hooghe (2003). Eine Ausnahme ist hierbei Polen, da während des Transformationsprozesses das EU-Thema zum Teil eine erhebliche Bedeutung erlangte und somit auch die Konfliktlinien des Parteiensystems mitstrukturierte. Siehe den Abschnitt zu Polen in Kapitel 6.5. 501
194 2. 3. 4.
7 Deutungskultur In welchem Verhältnis stehen diese drei frames zueinander? Bauen diese aufeinander auf oder kollidieren sie miteinander? Verändern sich die parteipolitischen Programmatiken in den jeweiligen Dimensionen im Untersuchungszeitraum? Können Konvergenzen festgestellt werden? Welche inhaltlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind zwischen den Parteien eines Landes festzustellen? Was lässt sich daraus für die politische Deutungskultur ableiten?
In einem zweiten Schritt werden dann die Länderanalysen miteinander verglichen. Maßgebliche Fragestellungen sind hierbei: 5. 6. 7.
Gibt es ähnliche sozialpolitische Konzeptionen und Entwicklungstendenzen in den einzelnen Ländern? Sind die Unterschiede national bedingt oder lässt sich ein transnationales LinksRechts-Schema erkennen? Gibt es Konvergenzprozesse oder eine starke Fragmentierung hinsichtlich der „wohlfahrtsstaatlichen“ Deutungskulturen?
In einem letzten Schritt werden diese Ergebnisse aus den einzelnen Ländern in Beziehung zum EU-Skript gesetzt und überprüft, inwieweit das sozialpolitische Leitbild der EU von den in den Ländern untersuchten „wohlfahrtsstaatlichen“ Sozio- und Deutungskulturen gestützt wird. Anhand dieser Ergebnisse werden dann Schlussfolgerungen für das Problem einer Europäischen Identität formuliert. Tabelle 23: Europäischer Frame
Europabezug
Fokus
Sozialistisch
Sozialdemokratisch
Konservativ / Christdemokratisch
Liberal
Skeptisch National
Positiv International
Positiv National
Skeptisch International
Sozial
Sozial
Kulturell
Ökonomisch
Gewünschte Supranational oder 1. Supranational 1. Intergourverne- Intergourvernemental National Ausgestaltung 2. Intergourverne- mental. 2. Supranational mental Finalität
Soziales Europa oder ReNationslisierung
Soziales Europa
Europa der Nationen
Markteuropa
Schlagwörter Nationaler Protek- Kompetenzauswei- Wahrung nationaler Freihandelszone, tionismus oder tung (Demokratisie- Souveränität, Kom- Kompetenzrückbau transnationale rung; Marktregula- petenzbeschränStärkung der Artion) kung beitnehmer Quelle: Eigene Darstellung
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7.3 Deutschland 7.3.1 Politische Institutionen und sozialstaatliche Strukturen Seit 1949 ist die Bundesrepublik Deutschland eine parlamentarische Demokratie. Der vom Bundestag gewählte Bundeskanzler ist der Regierungschef. Der Bundespräsident als formales Staatsoberhaupt erfüllt im Wesentlichen repräsentative Aufgaben. Neben dem Parlamentarismus ist der Föderalismus kennzeichnend für das politische System Deutschlands. Der Bundesrat als Vertretungsorgan der Länder auf Bundesebene besitzt ein im internationalen Vergleich außergewöhnlich starkes Mitspracherecht. Peter Katzenstein (1987) spricht deshalb vom „semi-souveränen Staat“, Fritz Scharpf (1985) von der „Politikverflechtungsfalle“. Die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 hat die Zahl der Bundesländer von elf auf 16 ansteigen lassen. Insbesondere durch die große ökonomische Heterogenität zwischen den Bundesländern sind die Chancen für eine gemeinsame Position der Länder gegenüber dem Bund gesunken. Dies ist einer der Gründe für einen Machtzuwachs auf Bundesebene, wie ihn z. B. Manfred Schmidt für die 1990er Jahre konstatiert (Schmidt 2002). Die Wiedervereinigung hatte jedoch nicht nur Konsequenzen für die wirtschaftlichen Unterschiede innerhalb Deutschlands, auch das Parteiensystem änderte sich nachhaltig. Traditionell existieren zwei politische Lager in Deutschland: das Mitte-Rechts-Lager wird von der CDU/CSU repräsentiert, das Mitte-Links-Lager von der SPD. Die Liberalen (FDP) waren bis in die 1980er Jahre hinein als einzig relevante dritte Partei auf Bundesebene der „Königsmacher“. Seit den 1980er Jahren sind die Grünen (Bündnis90/Grüne) auf Bundesebene als vierte Kraft im Bundestag hinzugekommen und waren von 1998 bis 2005 mit der SPD erstmals in der Regierungsverantwortung. Damit sind seit 1982 auch die kleineren Parteien den beiden politischen Lagern zuzuordnen: die FDP hat sich „als wirtschaftspolitische Klientelpartei“ relativ fest an die Union gebunden502, die Grünen sind der „natürliche“ Ansprechpartner der SPD. Durch die Wiedervereinigung ist auf Länderebene die PDS als fünfte Partei hinzugekommen. Trotz des Charakters einer ostdeutschen Regionalpartei ist sie seit 1990 ebenfalls im Bundestag vertreten und hat seitdem beständig an Sitzen hinzugewonnen503. Trotz der seit 1953 existierenden Fünfprozenthürde im Wahlgesetz (eine Partei muss bundesweit 5 % der Zweitstimmen erhalten oder drei Direktmandate über die Erstimmen erzielen, um in den Bundestag einziehen zu können) ist also eine gewisse Zersplitterung des Parteiensystems zu beobachten. Die seit der deutschen Einheit 656 Abgeordneten (ab 2005:598) des Bundestages werden zur Hälfte über Direktmandate in 328 (seit 2005:299) Einerwahlkreisen nach einfachem Mehrheitswahlrecht bestimmt. Die andere Hälfte wird über Landeslisten der Parteien proportional nach dem jeweiligen Stimmanteil an der Zweitstimme bestellt, was einem Verhältniswahlrecht entspricht. Die sozialstrukturellen Unterschiede zwischen den Wählern der Parteien sind in den vergangenen Jahrzehnten zwar schwächer geworden, es lassen sich jedoch noch immer einige Grundtendenzen ausmachen. So wird die SPD überdurchschnittlich von Arbeitern (und Arbeitslosen) gewählt – bei gewerkschaftlich engagierten Arbeitnehmern ist der An502
Ismayr (2003:466) Durch die Fusion mit der von ehemaligen SPD-Mitgliedern und Gewerkschaftern gegründeten WASG (Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit) und Umbenennung in „Die Linke“ im Jahr 2008 ist die vormals nur in ostdeutschen Bundesländern vertretene Partei auch in westdeutsche Landtage eingezogen. Diese Entwicklung liegt jedoch außerhalb des Untersuchungszeitraums der vorliegenden Arbeit.
503
196
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teil der SPD-Wähler besonders hoch. Selbstständige, Landwirte und Rentner bevorzugen hingegen die Unionsparteien.504 Auch die konfessionellen Unterschiede sind noch nicht völlig verschwunden: katholische Arbeitnehmer wählen überdurchschnittlich häufig die CDU/CSU. Die in den Wählerorientierungen zum Ausdruck kommenden ökonomischen, sozialpolitischen und konfessionellen Unterschiede sind in der Programmatik der beiden großen Parteien europapolitisch geringer ausgeprägt. Seit der von Adenauer betrieben und von der SPD kritisierten Westintegration der Bundesrepublik505, die sich unter anderem im Nato-Beitritt (1995) und dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1951/52) und zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft (1957) zeigte, ist in den letzten beiden Jahrzehnten ein weitgehend proeuropäischer Grundkonsens der im Bundestag vertretenen Parteien auszumachen.506 Der Parteienwettbewerb findet vor dem Hintergrund eines kontinentaleuropäischen Sozialversicherungsstaates statt. Er hat seinen Ursprung in den Sozialversicherungsgesetzen Bismarcks und kann damit auf eine der längsten Traditionen Europas zurückblicken: Bereits 1883 wurde die Krankenversicherung eingeführt, 1884 die Unfallversicherung und 1889 die Alters- und Invalidenversicherung.507 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Sozialstaatsprinzip sogar im Grundgesetz verankert: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ (Artikel 2, Abs. 1 GG). Diese Formulierung gibt keine konkrete Ausgestaltung des Sozialstaats vor, weitergehende soziale Rechte wie das Recht auf Arbeit oder auf Wohnung kennt die deutsche Verfassung nicht. Der Sozialversicherungsgedanke als zentrales Konstruktionsprinzip hat bis heute Bestand. Der deutsche Sozialstaat hat dadurch die typischen Eigenschaften, die Gøsta Esping-Andersen den meisten christdemokratisch geprägten kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaaten im Vergleich zu den sozialdemokratisch-skandinavischen oder liberal-angelsächsischen Systemen zuschreibt (Esping-Andersen 1990): Die Einkommensunterschiede sind geringer als in liberalen Wohlfahrtsstaaten und höher als in sozialdemokratischen, die Leistungen sind vornehmlich monetärer Natur, der Fokus liegt eher auf Statussicherung und weniger auf Umverteilung. Beispielhaft hierfür war die Arbeitslosenversicherung: Arbeitslose mit Kindern erhielten bis 2005 67 % des vorherigen Nettolohns. Nach einem Jahr endete die Bezugsdauer, im Anschluss an das Arbeitslosengeld wurde die Arbeitslosenhilfe gezahlt, die unbefristet 57 % des vorherigen Netto-Lohns betrug. Auch die staatliche Rentenversicherung – ebenfalls wie die Arbeitslosenversicherung paritätisch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert – hat durch die Koppelung an die individuell geleisteten Beiträge eine starke statuserhaltende Komponente. Das Gesundheitssystem stand – sowohl durch die Alterung der Gesellschaft wie auch durch den technologischen Fortschritt – ebenfalls unter zunehmendem Finanzierungsdruck. Die gesetzliche Gesundheitsversicherung wird ebenfalls paritätisch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern über Beiträge finanziert (seit 1995 schließt die gesetzliche Krankenversicherung zudem eine Pflegeversicherung ein). Organisatorisch sind hierfür über 1200 Kranken504
Vgl. Ismayr (2003) Unter umgekehrten Vorzeichen wandelte sich Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre die Ostpolitik der Bundesrepublik. Hier war es die SPD unter Willy Brandt, die durch Verträge mit der Sowjetunion, Polen und der Tschechoslowakei den außenpolitischen Handlungsspielraum neu gestaltete. Die CDU/CSU-FDP Regierung setzte diesen Kurs nach 1982 jedoch ebenso fort, wie die SPD-FDP Regierung die Westintegration beibehalten hatte. 506 Lediglich die Partei „Die Linke“ gibt sich im Vergleich zu den anderen Parteien gelegentlich EU-kritisch. 507 Vgl. Schmid (2002) 505
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kassen zuständig. Neben den gesetzlichen Krankenkassen existieren private Krankenversicherungen. Dieses fragmentierte System war immer wieder Gegenstand von Reformbestrebungen, zu weit reichenden Veränderungen ist es jedoch nicht gekommen. 7.3.2 Zeithistorischer Kontext 1990 bis 2005 Die ersten gesamtdeutschen Wahlen 1990 fanden unter dem euphorischen Eindruck der Deutschen Einheit 1989 statt, so dass erst mit den Bundestagswahlen 1994 eine Normalisierung im politischen Wettbewerb zurückehrte. Zwar beherrschte das Thema der Deutschen Einheit nach wie vor die politische Agenda, doch war der Blick nüchterner und kritischer geworden. Mit dem Ausbleiben der „blühenden Landschaften“ (Kohl 1989) rückten zwischen 1990 und 1994 die Probleme der Deutschen Einheit stärker ins Zentrum der politischen Öffentlichkeit. Im Westen waren es vor allem die aus der Einheit erwachsenden Kosten, die sich in höheren Steuern und Abgaben niederschlugen, während im Osten die hohe Arbeitslosigkeit im Zuge der Sanierung der Großbetriebe die Menschen bewegte und den politischen Diskurs bestimmte.508 Vor dem Hintergrund der Rezession 1992/1993 wurden Wirtschaftsaufschwung und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu zentralen Themen in der Öffentlichkeit der 1990er Jahre. Mit der sozialpolitischen Angleichung zwischen den beiden deutschen Staaten (festgeschrieben im Einigungsvertrag von 1990) sollten die westdeutschen Institutionen der Sozialpolitik möglichst schnell auf die neuen Bundesländer übertragen werden. Die Kosten dieser Angleichung übernahmen weitgehend der Bund und die Sozialversicherungen. Nicht zuletzt aufgrund dieser finanziellen Belastungen im Rahmen der Wiedervereinigung509 war die Diskussion um die Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland voll entfacht. In der Folge bestand die Sozialpolitik in den 1990er Jahren im Wesentlichen aus Reformdebatten. Reformen fanden nur vereinzelt in der Renten-, Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik statt, wie z. B. die Rentenreform 1992, das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) von 1992 und die in dessen Folge eingeführte Pflegversicherung als fünfte Säule des deutschen Sozialversicherungssystems, sowie das 1995 geschlossene Bündnis für Arbeit. Ferner stellte der Regierungswechsel zur rot-grünen Koalition nach sechzehnjähriger CDU/CSU-FDP-Koalition eine politische Zäsur dar, die auch sozialpolitisch im Rahmen der Agenda 2010-Politik der Schröder-Regierung ihren Ausdruck fand. Eine der Reformen der neuen Bundesregierung war die nach dem Arbeitsminister Walter Riester benannte Rentenreform, mit der 2001 die Finanzierbarkeit des umlagenfinanzierten Rentensystems dadurch gesichert werden sollte, dass Kürzungen der gesetzlichen Rentenversicherung mit dem Aufbau einer staatlich geförderten privaten Altersvorsorge verbunden wurden. Ausgegangen war die Reform von einer negativen Prognose hinsichtlich der demographischen Entwicklung, wonach sich bis 2040 das Verhältnis zwischen Rentnern und Erwerbstätigen von 1:4 auf 1:2 verschlechtern sollte.510 Neben demographischen Herausforderungen beherrschte insbesondere die hohe Arbeitslosigkeit 508
Vgl. Jung/Roth (1994:3-15) So stieg z. B. die Sozialleistungsquote von rund 29 auf 34 % (des BIP)an, auch als Folge der durch die Einführung der Marktwirtschaft entstandenen Massenarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern. Vgl. Pilz (2004:124f) 510 Pilz (2004:128). Direkt nach dem Regierungswechsel hatte die Schröder-Regierung zunächst die Senkung des Rentenniveaus auf 64 % und die Einführung eines so genannten „demographischen Faktors“ wieder rückgängig gemacht. 509
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den öffentlichen (sozialpolitischen) Diskurs Ende der 1990er Jahre.511 In einer Titelgeschichte des Spiegels „Die blockierte Republik“ (2002) hieß es dazu: „Sinkende Beschäftigungszahlen führen zu steigenden Sozialabgaben, die wiederum fast automatisch zu sinkender Beschäftigung führen (…). Notwendig ist nichts weniger als ein Systemwechsel: Nur durch die weitestgehende Reduzierung der Lohnnebenkosten kann sich der Arbeitsmarkt wieder entfalten. Länder, die ihren Sozialstaat nicht über Beiträge finanzieren, erzielen deutlich bessere Resultate. In Dänemark, Schweden und Norwegen ist die Arbeitslosigkeit 30 bis 50 Prozent geringer, bei einer spürbar höheren Beschäftigungsquote.“512
Als Reaktion auf die anhaltende Massenarbeitslosigkeit in Deutschland setzte sich ein neues arbeitsmarktpolitisches Leitbild durch, welches die stärkere Verantwortung der Arbeitssuchenden betonte und von ihnen mehr Flexibilität einforderte. Demnach stand nicht mehr die Anhebung des Beschäftigungsniveaus im Vordergrund der arbeitmarktpolitischen Bemühungen, sondern die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitlosen. „Die Betonung verstärkter Eigenverantwortung schlug sich auch in verschärften Zumutbarkeitsregeln bei der Annahme einer Beschäftigung und in der Rücknahme von Leistungen nieder.“513 In diesem Kontext wurden in der zweiten rot-grünen Legislaturperiode (2002 bis 2005) die Hartz-Reformen durchgeführt (benannt nach dem Vorsitzenden der Kommission für „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, Peter Hartz). Damit bekam das neue Leitbild einen gesetzlichen Unterbau (Hartz I-IV Gesetze), das Prinzip „Fördern und Fordern“ wurde im deutschen Sozialversicherungssystem verankert. In der öffentlichen Diskussion sind die Hartz-Reformen bis heute stark umstritten, der Verlust an SPD-Mitgliederzahlen wie auch der Regierungsführung (seit 2005 Große Koalition unter Führung von Angela Merkel) oder der allmähliche Aufstieg der Partei „Die Linke“ in westdeutschen Bundesländern werden in Verbindung mit der rot-grünen Reformpolitik gebracht. Positiv bewertet wird hingegen, dass die rot-grüne Koalition den Mut aufbrachte, umfassende Reformen mit den damit verbundenen Verschärfungen einzuführen und damit den lang anhaltenden Reformstau unter der CDU/CSU-FDP Koalition gebrochen habe. Weitere wichtige gesellschaftspolitische Themen, die in diesen Zeitraum fallen, waren z. B. das schlechte Abschneiden Deutschlands im Rahmen der ersten PISA-Studie514, die Diskussion um eine mangelnde Integration von Ausländern („Parallelgesellschaften“) oder den Ausstieg aus der Atomenergie. Die Deutungsangebote der Parteien zwischen 1990 und 2005 müssen vor dem Hintergrund dieser die öffentliche Diskussion bestimmenden sozio-ökonomischen Herausforderungen betrachtet werden.
511
Der in allen entwickelten Industrienationen zu beobachtende Rückgang der Beschäftigung im industriellen Sektor wurde in Deutschland nicht durch den Dienstleistungssektor kompensiert. Die starke Belastung des Faktors Arbeit durch die Abwälzung eines großen Teils der Kosten der deutschen Einheit auf die Sozialversicherungen hat diesen Trend noch verschärft. Manow/Seils (2000:300) Die Umwälzungen in der Ökonomie der ostdeutschen Bundesländer spielten jedoch die wichtigste Rolle bei den hohen Arbeitslosenzahlen der 1990er Jahre. 512 Der Spiegel, Heft 39/2002, zit. nach Pilz (2004:133) 513 Pilz (2004:138) 514 Programme for International Student Assessment (PISA)
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7.3.3 Analyse der parteipolitischen Frames zwischen 1990 und 2005 Sozialstaatlicher Mikroframe 1994 Sowohl CDU/CSU als auch SPD formulieren in ihren Wahlprogrammen von 1994 das Ziel der Vollbeschäftigung und bekennen sich zu gesellschaftlicher Solidarität und sozialer Gerechtigkeit als fundamentalen Bestandteilen der Gesellschaftsordnung. Hierbei wird ein grundsätzlicher Konsens der beiden Parteien hinsichtlich der staatlichen Verantwortung für soziale Sicherheit deutlich. Dabei lassen sich sehr ähnliche Formulierungen der Parteien ausmachen. In der Präambel des CDU/CSU-Programms heißt es: „Als Anwalt des Gemeinwohls und der Bürgerrechte sorgt er [der Staat] für den notwendigen Ausgleich zwischen den Interessen des einzelnen und denen der Gemeinschaft. Wo Menschen in Not geraten, hilft er. Er gibt den Schwachen, die keine Lobby haben, eine Stimme und trägt dafür Sorge, dass die Welt für jetzige und künftige Generationen lebenswert bleibt.“515
Auch im SPD-Wahlprogramm wird die Solidarität zwischen Schwachen und Starken als unverzichtbares Gut des gesellschaftlichen Zusammenhalts formuliert.516 Die von den Sozialdemokraten im Falle einer Regierungsübernahme anvisierte Reformpolitik wird auf die Formel „Arbeit für alle“, „soziale Rechte für alle“ und „eine gesunde Umwelt für alle“ gebracht. Die SPD spricht sich für einen „stabilen und leistungsfähigen Sozialstaat“517 aus und ganz ähnlich formuliert die CDU als eine der wichtigsten zukünftigen Aufgaben, dass „das Netz der sozialen Sicherheit leistungsfähig bleibt.“518 Diese prinzipielle Übereinstimmung der beiden großen Volksparteien hinsichtlich der staatlichen Verantwortung für die Gewährleistung von sozialer Sicherheit lässt sich auf den in Deutschland seit der Nachkriegszeit verankerten „sozialstaatlichen Konsens“ zurückführen. „Sowohl die politischen Eliten als auch bei den Bürgern war die Zustimmung zur staatlichen Verantwortung für soziale Sicherheit außergewöhnlich hoch. So wurde der Ausbau des Sozialstaates in der Nachkriegszeit von beiden großen Volksparteien, der CDU und der SPD vorangetrieben. Sie werden deshalb auch als „Sozialstaatsparteien“ [Manfred G. Schmidt] bezeichnet.“519 Mit der Debatte um die „Krise des Sozialstaates“520 stand jedoch das Ausmaß der Bereitstellung sozialstaatlicher Leistungen immer wieder zur Diskussion, was im Laufe der 1990er Jahre in eine weitgehende Übereinstimmung der politischen Eliten über die Notwendigkeit sozialstaatlicher Reformen mündete. Durch eine Reform des Sozialstaates erhoffte man sich, das Problem der Arbeitslosigkeit anzugehen und die staatlich gewährleisteten sozialen Leistungen wie Rente, Sozialhilfe und Krankenversorgung auch für zukünftige
515
CDU/CSU Bundestagswahlprogramm von 1994, S.1 [im Folgenden: CDU BTWP (1994) abgekürzt] „Dafür will ich die Starken zur Solidarität mit den Schwachen gewinnen – Zusammenhalt ist eine Sache aller, nicht nur der Schwächeren untereinander.“ SPD-Bundestagswahlprogramm (1994:2) [im Folgenden: SPD BTWP (1994) abgekürzt] 517 SPD BTWP (1994:38) 518 CDU BTWP (1994:1) 519 Roller (2002:1), vgl. ferner dazu Kapitel 5 520 Diese basiert maßgeblich auf Finanzierungsproblemen des Sozialstaates, erstmals ausgelöst durch den Wirtschaftseinbruch 1973/1974, später dann durch andauernde Arbeitslosigkeit, demografischen Wandel sowie die Kosten der deutschen Einheit. Vgl. Roller (2002) 516
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Generationen sicher gestalten zu können. Somit wird 1994 die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit von den Parteien als dringlichstes Problem definiert. CDU/CSU streben die Schaffung von Arbeitsplätzen primär über Wirtschaftswachstum, eine höhere Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt und den Abbau von staatlicher Regulierung und die Privatisierung von staatlichen Diensten an. Durch eine Entlastung von Arbeitskosten (Senkung der Lohnnebenkosten) sollen „Investitions- und Innovationsspielräume“ für Unternehmen erweitert werden. Dabei wird die Forderung an die Gewerkschaften formuliert, eine zurückhaltende und differenzierte Tarifpolitik zu betreiben sowie tarifliche Öffnungsklauseln und niedrige Einstiegstarife zu ermöglichen.521 Des Weiteren sollen mehr Arbeitsplätze im privaten Bereich (Pflege-, Familien- und Haushaltshilfen) durch steuerliche Anreize erzielt werden. CDU/CSU verbinden ihre „moderne Arbeitsmarktpolitik“ auch mit einem verbesserten Bildungs- und Qualifikationsstand, mit der Begründung, dass dies den Interessen der Wirtschaft Rechnung trage. Dafür fordern sie eine Verkürzung der Ausbildungs- und Studienzeiten und wollen Leistungseliten fördern. Die SPD setzt für dasselbe Ziel der Vollbeschäftigung primär auf mehr private und staatliche Investitionen. Sie hebt hervor, dass Arbeit ein Recht für alle darstellt und will im Rahmen einer „aktiven Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik“ durch „umweltgerechtes Wachstum“, Fördermaßnahmen und einer Ausweitung des öffentlich geförderten Arbeitsmarktes (Lohnkostenzuschüsse) die Wiedereingliederung von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt sicherstellen. Unternehmensinvestitionen sollen durch günstige Abschreibungsbedingungen und Investitionszulagen gefördert werden. Zudem setzt sie sich für eine Ausweitung von Arbeitnehmer- und Mitbestimmungsrechten in neuen Branchen (Produktions- und Informationstechnologie) ein, fordert eine Novellierung des Arbeitsschutzrechtes für „mehr Arbeitsschutz“, „bessere Gesundheitsvorsorge“ und „humanere Arbeitsbedingungen“. Zugleich spricht sie sich – wie auch CDU/CSU – für eine flexiblere Arbeitszeitgestaltung aus, versteht darunter jedoch die Möglichkeit einer Verkürzung von Arbeitszeiten, Altersteilrente und Vorruhestandsregelungen.522 Eine Entbürokratisierung von Genehmigungsverfahren soll Existenzgründungen erleichtern. Ähnlich wie die CDU/CSU verweist auch die SPD auf die Bedeutung von qualitativ hochwertigen Bildungs- und Ausbildungsangeboten, verweist aber nicht auf die Interessen der Wirtschaft, sondern zunächst auf die Interessen derjenigen Menschen, die dadurch eine Chance am Arbeitsmarkt bekämen. Beschäftigung ist für die SPD stets sozialversicherungspflichtig; sozialversicherungsfreie Jobs seien lediglich bei Ferienarbeit von Schülern und Studenten sinnvoll.523 Auf dem Gebiet der sozialen Sicherung plädiert die CDU/CSU für einen „Umbau“ des Sozialstaates: „Sozialstaat umbauen statt Solidargemeinschaft überfordern“524. Als Begründung für die Notwendigkeit des Umbaus werden der demographische und gesellschaftliche Wandel genannt, wodurch „traditionelle Besitzstände vorbehaltlos auf den Prüfstand zu stellen und gegebenenfalls neue Prioritäten zu setzen“ sind. Zugleich soll das „Niveau der sozialen Sicherung erhalten“ werden.525. Dies soll maßgeblich durch Einsparungen, Leistungsprüfungen und mehr Eigenverantwortung erreicht werden. Anvisierte Maßnahmen von CDU/CSU sind demnach: Erstens eine ständige Prüfung der Notwendigkeit einzelner 521
CDU BTWP (1994:13) SPD BTWP (1994:14-16) SPD BTWP (1994:16) 524 CDU BTWP (1994:38) 525 Ebd. 522 523
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Leistungen (insbesondere im Arbeitslosenbereich) und eine „maßvolle Absenkung“ sowie Befristungen von Lohnersatzleistungen. Zweitens eine Stärkung von Eigenvorsorge im Gesundheitswesen526 wie auch in der Altervorsorge durch z. B. tarifvertragliche Vermögenspolitik. Und drittens Anreize, die Sozialhilfeempfänger zur Aufnahme auch von niedrig bezahlter Arbeit motivieren sollen. Anreize sollen vor allem von einer Absenkung der Leistungen ausgehen, die dann durch niedrig bezahlte Arbeit kompensiert werden können. Dazu heißt es im Programm: „Wir müssen das System und die Praxis der Gewährung von Sozialleistungen so gestalten, dass Eigenverantwortung und Leistungsbereitschaft der Menschen ausreichend angeregt werden. Wenn Sozialleistungen höher sind als Nettolöhne, dann fehlt der Anreiz, sich reguläre Arbeit zu suchen. […] Eine Möglichkeit ist, die Sozialhilfe bei denen, für die eine mögliche Erwerbstätigkeit zumutbar ist, abzusenken und sein erzieltes Einkommen dafür nur teilweise auf die Sozialhilfe anzurechnen.“527
Der „Umbau des Sozialstaates“ stellt jedoch nicht die Absicherung der großen Lebensrisiken wie Alter, Invalidität, Unfall, Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Arbeitslosigkeit durch die Sozialversicherungen in Frage. Prinzipiell befürwortet die CDU/CSU das bestehende System der umlagefinanzierten Pflichtversicherungen (Arbeitslosen- und Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung528), plädiert aber für eine Absenkung gewisser Leistungen und einen höheren Anteil an Privatvorsorge. Die SPD setzt in ihrem Wahlprogramm unter dem Kapitel „Ein stabiler und leistungsfähiger Sozialstaat“ andere sozialpolitische Schwerpunkte als die CDU/CSU. Sie stellt ihre sozialpolitische Programmatik in einen anderen Begründungskontext, indem sie nicht neue Herausforderungen und Anpassungszwänge für den Sozialstaat identifiziert, sondern die prinzipielle Bedeutung von sozialer Sicherheit für Demokratie, Freiheit, inneren Frieden und Menschenwürde betont. Um den Sozialstaat stabil und intakt zu halten, werden Maßnahmen vorgestellt, die primär auf eine Verbesserung von sozialen Leistungen und gesellschaftlichen Verhältnissen abzielen und die staatliche Verantwortung für die Gewährleistung sozialer Sicherheit hervorgehoben. So spricht sich die SPD gegen eine Differenzierung in Form von Wahl-, Regel- und Zusatzleistungen im Gesundheitswesen aus, gegen Privatisierung und für die volle Übernahme aller Leistungen durch die gesetzlichen Krankenversicherungen. Krankheitsfrüherkennung und Gesundheitsvorsorge werden als Leitlinien der Gesundheitspolitik ausgegeben.529 Im Bereich der Renten bejaht sie ebenfalls das Prinzip einer beitragsbezogenen Rentenversicherung. Ebenso wie die CDU/CSU will sie die Berücksichtigung von Pflege- und Kindererziehungszeiten bei den Rentenansprüchen verbessern. Auf lange Sicht strebt sie jedoch die Einführung einer sozialen Grundsicherung an, maßgeblich um Altersarmut zu verhindern.
526
Dazu heißt es: „Die solidarisch abzusichernden Risiken müssen neu gewichtet werden, der Eigenvorsorge wollen wir einen höheren Stellenwert geben. Dies darf allerdings nicht dazu führen, dass der Solidarausgleich zu Lasten von Geringverdienern und Familien reduziert wird. Eine „Zwei-Klassen-Medizin“ lehnen CDU und CSU ab.“ CDU BTWP (1994:40) 527 CDU BTWP (1994:15) 528 Die Pflegeversicherung wurde von CDU/CSU 1994 eingeführt, in Kraft gesetzt ab dem 1.1.1995. 529 SPD BTWP (1994:45f.)
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7 Deutungskultur „Wichtige Aufgaben einer sozialdemokratisch geführten Regierung werden Abbau und Vermeidung von Altersarmut durch eine soziale Grundsicherung sein, ebenso wie die Durchsetzung von mehr Rentengerechtigkeit zwischen Männern und Frauen.“530
Darüber hinaus wird eine Erhöhung des Kindergeldes und regelmäßige Anpassung desselben wie auch der Bedarfssätze und Bafög-Freibeträge an die realen Lebenshaltungskosten gefordert. Intendiert ist auch eine Offensive für mehr Ausbildungsplätze. Am Kindergeld kann beispielhaft die spezifische Gerechtigkeitskonzeption aufgezeigt werden, die beide Parteien zu Grunde legen. Laut SPD muss: „[d]em Staat […] jedes Kind gleich viel wert sein. Deshalb wollen wir eine kräftige Erhöhung des Kindergeldes auf monatlich 250 DM für jedes Kind. Das ist ein erster entscheidender Schritt zu einem gerechten Kinderleistungsausgleich. Dadurch wird sich vor allem die Lage der Familien mit kleinen und mittleren Einkommen spürbar verbessern.“531
CDU/CSU befürworten hingegen eine stärkere Differenzierung der Transferleistungen indem sie eine „stärkere Ausrichtung der Transferleistungen für die Familien auf Einkommen und Kinderzahl“ fordert, so dass die Leistungen umso höher sind, „je geringer das Einkommen und je größer die Kinderzahl in der Familie ist.“532 Während CDU/CSU ihrer Kindergeldpolitik ein bedarfsorientiertes Gerechtigkeitskonzept zu Grunde legen, stellt der Begründungzusammenhang der SPD auf ein Gleichheits- bzw. Ergebnisgerechtigkeitskonzept ab. „Ergebnis“ bezieht sich hierbei auf die gleiche Summe der finanziellen Transferzahlung und nicht auf das über die Transferleistungen erzielte Endergebnis. Das Sozialstaatskonzept von CDU/CSU lässt sich 1994 somit zwischen dem konservativ-christdemokratischen und dem liberalen Leitbild ansiedeln. In der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik werden die liberalen Tendenzen besonders deutlich, so zum Beispiel wenn Arbeitsplätze primär über Wachstum und Deregulierung des Arbeitsmarktes geschaffen werden sollen. Ihre Aktivierungsstrategie ist sowohl konservativ-christdemokratisch als auch liberal. Einerseits wird Beschäftigungspolitik mit Familienpolitik verbunden, wenn zum Beispiel durch steuerliche Anreize für Familien eine Beschäftigungsausweitung im privaten Bereich vollzogen werden soll, zum anderen findet sich in der Forderung, Arbeitslosen ,die arbeiten können, eine „zumutbare“ Arbeit auch im Niedriglohnsektor anzunehmen, eine deutliche Orientierung an der Formel „from welfare to workfare“. Anreizstrukturen für mehr Beschäftigung wollen CDU/CSU einerseits über finanzielle Erleichterungen der Unternehmen herstellen (Arbeitskosten senken) und andererseits über abgesenkte Transferleistungen für Arbeitslose. Es findet sich also sowohl eine konservativchristdemokratische als auch liberale Orientierung. Indikatoren für erstere lassen sich vor allem an der Betonung der besonderen Stellung von Familie erkennen533, Indikatoren für 530
SPD BTWP (1994:33) Auf Seite 47 wird konkretisiert: “Längerfristig streben wir auf dem Weg einer umfassenden Reform der sozialen Sicherungssysteme erste Schritte zur Einführung einer bedarfsgerechten sozialen Grundsicherung an.“ 531 SPD BTWP (1994:39) 532 CDU BTWP (1994:33) 533 CDU BTWP (1994:31-33) „Leitbild von CSU und CDU ist eine Gesellschaft des Gemeinsinns mit der Familie im Mittelpunkt.“ Die Familie bildet den Kern unserer Gesellschaft. Sie entspricht einem Grundbedürfnis der Menschen.“ Auch lehnen CDU/CSU eine rechtliche Gleichstellung von Ehen mit nicht-ehelichen Partnerschaften ab.
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letztere finden sich vor allem in Formulierungen, die einen „schlanken Staat“534 propagieren, mehr „Eigenverantwortung“ sowie als grundlegende gesellschaftliche Tugenden „Fleiß, Verantwortungsbewusstsein, Leistungsbereitschaft und Kreativität“ und „Risikobereitschaft“535 einfordern. Im Bereich der Sozialpolitik kann das Programm von CDU/CSU maßgeblich als konservativ-christdemokratisch bezeichnet werden. Zwar wird mehr Privatvorsorge angestrebt, das System der Pflichtversicherungen jedoch nicht in Frage stellt. Vielmehr spricht sich die Partei für einen stärkeren Mix von staatlichen und privaten Leistungen und bedarfsorientierte Transferzahlungen aus. Auch die bedarfsorientierte Differenzierung im Rahmen von Transferleistungen spricht dafür. Das erweiterte Sozialstaatskonzept der SPD lässt sich 1994 weitgehend als sozialdemokratisch beschreiben, wobei sich ebenfalls einzelne Elemente dem sozialistischen (bzw. klassisch sozialdemokratischen536) Typus zuschreiben lassen. Dies zeigt sich zum Beispiel, wenn das Programm einen starken Bezug auf Arbeitnehmer („Leistungsträger der Gesellschaft“537) aufweist, die Forderung nach einem Ausbau von Arbeitnehmerrechten hervorhebt und das Abzielen einzelner Maßnahmen primär auf Ergebnis- bzw. Verteilungsgerechtigkeit zurückgeführt werden kann.538 Dem sozialdemokratischen Leitbild entspricht vor allem das Bestreben zur Einführung einer sozialen Grundsicherung, die Betonung sozialer Rechte und Ausbildungsförderung als Mittel zur Chancenherstellung. Zudem scheint die SPD dem Staat eine stärkere Rolle im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik einzuräumen, so zum Beispiel, wenn sie im Gegensatz zur CDU/CSU keine allgemeinen finanzielle Anreize für Unternehmen durch Senkung von Lohnkosten proklamiert, sondern betont, Investitionen von Unternehmen kontrolliert z. B. über Abschreibungsmöglichkeiten fördern zu wollen.539 Allerdings nennt die SPD ebenfalls an einer Stelle ihres Programms die Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten als probates Mittel zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Hier wird dennoch eine unterschiedliche Gewichtung der beiden Parteien deutlich, auch wenn sie zum Teil ähnliche Maßnahmen vorschlagen. Während CDU/CSU die Senkung von Lohnnebenkosten als einen wesentlichen Aspekt ihrer Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik hervorhebt und mehrmals nennt540, findet man diese Äußerung bei der SPD lediglich einmal im Programm.541 Diese unterschiedliche Prioritätensetzung von Werten der beiden Parteien zeigt sich auch bei der Begründung für die jeweilige Sozialpolitik, wo CDU/CSU einen Umbau des Sozialstaates mit wirtschaftlichen Bedürfnissen verbindet, während die SPD Werte wie Demokratie, innerer Frieden und Menschenwürde für einen „leistungsfähigen Sozialstaat“ ins Feld führt. Trotz des prinzipiellen sozialstaatlichen Konsenses der beiden Parteien lassen sich eine stärker liberal-konservative Orientierung bei CDU/CSU und eine sozialdemokratische, mitunter „sozialistische“ Orientierung bei der SPD konstatieren, was einer klassischen Links-Rechts Polarisierung im Rahmen der parteipolitischen Deutungskultur entspricht.
534
CDU BTWP (1994: 10f.) CDU BTWP (1994: 12) Zur Problematik der Bezeichnung „sozialistisch“ siehe weiter oben unter Kapitel 5.4. 537 SPD BTWP (1994:1) 538 Z. B. beim Kindergeld. Das Bestreben der SPD einer Senkung von Lohn- und Einkommenssteuer mittlerer und niedriger Einkommen zielt auf eine gewisse Verteilungsgerechtigkeit. Vgl. dazu: SPD BTWP (1994:11) 539 Vgl. SPD BTWP (1994: 18) 540 Vgl. CDU BTWP (1994) S. 10, S. 13, S. 16 541 SPD BTWP (1994:61) 535 536
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Nationaler Gesellschaftsframe 1994 Die SPD entwirft in ihrem Programm das Bild einer „sozialen und ökologischen Gesellschaft“.542 Umweltpolitik soll als Querschnittsaufgabe staatlichen Handelns definiert werden und helfen, die „soziale Marktwirtschaft in eine ökologische und soziale Marktwirtschaft“543 weiterzuentwickeln. Dazu sollen u. a. umweltfreundliche Energie und Technologien gefördert, der Schienenverkehr und Personennahverkehr ausgebaut, Naturschutzgesetze erlassen und eine ökologische Agrarwirtschaft angestrebt werden.544 Die Verknüpfung von ökologischen und sozialen Aspekten basiert auf dem Gedanken, dass durch die Schaffung ökologischer Zukunftsmärkte neue Arbeitsplätze entstehen, wodurch die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft gestärkt wird (im Sinne einer Vorreiterrolle Deutschlands) und die natürlichen Ressourcen wie auch die Gesundheit der Menschen geschützt werden. Zudem spricht sich die SPD für Änderungen des Grundgesetzes aus, die mehr Bürgerbeteiligung ermöglichen (Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid) und Schutz gegen Diskriminierung545 bieten sollen. Ebenfalls tritt sie für eine Politik ein, die die Integration von Ausländern fördert und deren Benachteiligung in der Gesellschaft abbaut.546 Im Programm der SPD ist der Bezug zu „sozialer Gerechtigkeit“ stark ausgeprägt und somit als Schlüsselwert zu interpretieren.547 Dabei versteht sie „soziale Gerechtigkeit“ primär als Verteilungs- und Chancengerechtigkeit. So zum Beispiel, wenn sie für ein vereinfachtes Steuerrecht plädiert, da es gerechter sei, oder eine Finanzpolitik anstrebt, die „soziale Ungerechtigkeit“ beseitigt. Ebenso, wenn sie die Lohn- und Einkommensteuer nur für kleinere und mittlere Einkommen senken und den Solidaritätszuschlag durch eine „sozial gerechte Ergänzungsabgabe“ ersetzen oder die deutsche Einheit „durch soziale und menschliche Gerechtigkeit“ gestalten und gleiche Chancen herstellen will. Das von der SPD angestrebte Gesellschaftskonzept 1994 ist somit maßgeblich das einer offenen, kulturell vielfältigen Gesellschaft, die allen Bürgern Chancen sichert. Dem Staat kommt dabei die entscheidende Rolle zu, indem er Rechte sichert, ausbaut und regulierend/umverteilend eingreift. CDU/CSU steht für eine „Gesellschaft des Gemeinsinns mit der Familie als Mittelpunkt“548. Dabei betont sie die entscheidende Rolle von Familien für die Kindererziehung und der Religion für die Vermittlung von Wertorientierungen. Zugleich spricht sie sich für mehr Gleichberechtigung von Frauen und Männern aus und gegen Diskriminierung von Behinderten und Ausländern.549 Eine automatische Staatsbürgerschaft für in Deutschland geborene Kinder von Immigranten lehnt sie hingegen ab und fordert die Möglichkeit von Ausweisungen im Falle eines Missbrauchs des „Gastrechts“. Es wird darauf verwiesen, 542
SPD BTWP (1004:26) Ebd. 544 SPD BTWP (1994:26-35) 545 Schutz von Behinderten, Homosexuellen, von ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten, von Frauen und Kindern. 546 Durch die Einführung des Kommunalwahlrechts, eine automatische Staatsangehörigkeit für in Deutschland geborene Ausländer und gleiche Aus- und Weiterbildungschancen von Immigrantenkindern. SPD BTW (1994:58f.) 547 Weitere häufig genannte Werte sind: Freiheit, Frieden, Sicherheit, Stabilität. Wettbewerb wird hier nicht als ein Wert betrachtet, sondern als ein Mittel zur Herstellung von z. B. Stabilität und Sicherheit. 548 CDU BTWP (1994:31), ebenfalls auf Seite 1. Dementsprechend sollen Familien steuerlich entlastet werden, die verfassungsrechtliche Sonderstellung der Ehe erhalten bleiben und ein Kindergartenplatzrecht ab 3 Jahren eingeführt werden. 549 CDU BTWP (1994:31ff.) 543
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dass Deutschland „kein Einwanderungsland“ sei.550 Hierbei wird deutlich, dass CDU/CSU zwar wie die SPD gegen jede Form von Diskriminierung ist, ihr Gesellschaftskonzept jedoch „geschlossener“ wirkt. So wird der Integrationsbegriff nicht positiv im Sinne der Schaffung von Anreizen für eine Integration definiert, sondern primär negativ im Sinne einer Schaffung von Abwehrmechanismen gegenüber nicht „integrierten“ Ausländern: „Wir setzen uns für ein friedliches Zusammenleben von Deutschen und Ausländern ein. Wir werden nicht dulden, dass politische Auseinandersetzungen von ausländischen Organisationen in Deutschland gewalttätig geführt werden. Gerade auch im Interesse der bei uns lebenden Ausländer werden wir dafür sorgen, dass diejenigen die ihr Gastrecht missbrauchen, unser Land schnellstmöglich verlassen. Wir werden dafür eintreten, dass alle Fälle von Landfriedensbruch als zwingende Ausweisungsgründe im Ausländergesetz verankert werden.“551
In Fragen der Wirtschaftsordnung beruft sich die CDU/CSU auf die Fundamente der sozialen Marktwirtschaft, die jedoch um eine ökologische Dimension erweitert werden soll. Dabei gehen die Christdemokraten allerdings nicht so weit wie die SPD, indem sie zwar Umweltqualitätsziele formulieren aber nicht verbindlich festlegen wollen. Unter dem Motto „Ökologisch wirtschaften statt Wirtschaft strangulieren“ heben sie die Notwendigkeit eines langsamen Anpassungsprozesses an umweltpolitische Ziele hervor. Folglich sind sie gegen „überzogene“ umweltpolitische Anforderungen und befürworten nachdrücklich einen Energiemix, wobei die erneuerbaren Energien eine unter verschiedenen Optionen darstellen.552 Natur und Umwelt werden hierbei als Teil der Schöpfung und somit als schützenswert betrachtet, wobei jedoch Eigeninitiative und Eigeninteresse an Umweltschutz als maßgebliche Quellen für einen schonenden Umgang mit Natur und Umwelt verstanden werden und weniger staatliche Auflagen. Hieran wird bereits ein wesentliches Element des Selbstverständnisses christdemokratischer Politik im Programm von 1994 deutlich, was ebenso in den dominanten Wertebezügen und einigen politikfeldspezifischen Maßnahmen deutlich zum Tragen kommt. Im Programm von CDU/CSU treten vor allem Werte wie Freiheit, Leistung und Eigenverantwortung in den Vordergrund der Argumentation. Zwar werden ebenso Solidarität, Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit als grundlegende Werte des Gesellschaftsmodells ausgegeben, jedoch dominieren im Programm die Bezüge zu erstgenannten Werten. So wird zum Beispiel in der Steuerpolitik die Abschaffung leistungsschädlicher Progressionssprünge gefordert und allgemein eine wachstumsorientierte, leistungsgerechte, familien- und mittelstandsfreundliche Steuerpolitik angeboten.553 Ebenso sollen wirtschaftspolitisch mehr Freiräume für mehr Eigeninitiative und Risikobereitschaft geschaffen werden, wie auch in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik die Prinzipien der Eigenverantwortung, Flexibilität und Leistungsbereitschaft akzentuiert werden. Dem Staat kommt insofern primär eine marktermöglichende Rolle zu. Dementsprechend favorisieren die Christdemokraten einen „schlanken Staat“ und präsentieren ein umfangreiches Privati550
Ebd. S. 43 CDU/CSU spielen in diesem Zusammenhang mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die kurdische PKK in Deutschland an, die 1993 und 1994 immer wieder mit gewalttätigen Ausschreitungen und einem großen Propagandafeldzug von sich Reden machte. Allerdings nehmen CDU/CSU in ihrem Programm keinen expliziten Bezug auf die Problematik, sondern vollziehen eine grundsätzliche Positionierung für eine Verschärfung des Ausländergesetzes. CDU BTWP (1994:43f.) 552 CDU BTWP (1994:26f.) 553 CDU BTWP (1994:16f.) 551
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sierungs- und Deregulierungsprogramm.554 Hierbei lässt sich eine Orientierung am Prinzip der Leistungsgerechtigkeit erkennen. Diese liberalen Tendenzen werden mit klassischen konservativen Elementen (wie der besonderen Rolle der Familie, christlichen Wertbezügen und einem eher restriktiven Integrationsbegriff) verbunden. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Parteien liegt im jeweiligen Blick auf die Staatsrolle. Während die SPD für einen „starken Staat“ eintritt, der durch sein Handeln bzw. Tätigwerden den Bürgern erst Chancen ermöglicht, will die CDU einen „schlanken Staat“, der dadurch, dass er sich zurückzieht, den Bürgern Handlungsspielräume gewährt. Auch hier lässt sich zwischen den Parteien eine klassische Links-RechtsDifferenzierung in den Positionen konstatieren, so dass die Gesellschaftsframes der Parteien im Großen und Ganzen auf ihren Sozialstaatsframes aufbauen bzw. in einer inhaltlichen Kontinuität stehen. Bei CDU/CSU kann lediglich eine stärkere Orientierung an liberalen Elementen und Konzepten im Rahmen des Gesellschaftskonzeptes im Vergleich mit ihrer Sozialstaatskonzeption festgestellt werden. Europäischer Frame 1994 Das nationale Gesellschaftskonzept der SPD spiegelt sich auch weitgehend in ihrem Europakonzept, wenn sie für die Schaffung eines europäischen Umwelt- und Sozialraums plädiert.555 Aus sozialdemokratischer Perspektive erscheint die EU vor allem als neue und notwendige Handlungsebene zur Schaffung von Wohlstand und Arbeitsplätzen, so dass die Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit und die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit als europäischer Gesamtplan zu verwirklichen sei und die Absicherung der sozialen Dimension betont wird: „Wir begrüßen deshalb die Vorschläge der Kommission zur Überwindung von Rezession und Massenarbeitslosigkeit in Europa. Wir werden uns dafür einsetzen, dass ein europäischer Gesamtplan zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit und zur dauerhaften Wiederherstellung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit bei gleichzeitiger Absicherung der sozialen Dimension umgehend verwirklicht wird.“556
Konkret fordert die SPD die Einsetzung von europäischen Betriebsräten557 und eine gemeinsame europäische Politik in Fragen der Gleichstellung, auf dem Gebiet der Kriminalitäts- und Rechtsextremismusbekämpfung sowie in der Einwanderungspolitik. Den mittelund osteuropäischen Ländern soll eine „europäische Perspektive“ geboten werden, die europäischen Kooperationsangebote sollen jedoch nicht allein bündnis- und sicherheitspolitisch motiviert sein, sondern ebenso ökonomische, ökologische, soziale Politikbereiche sowie institutionelle Fragen umfassen.558 554
Darunter fallen eine Privatisierung von Post, Telekommunikation, Bahn und Abfallwirtschaft sowie Veräußerungen bundeseigener Liegenschaften. Auch eine stärkere Zusammenarbeit von Polizei und privaten Sicherheitsunternehmen wird angestrebt sowie ein umfassender Bürokratieabbau und ein flexibler und leistungsorientierter öffentlicher Dienst etc. Vgl. CDU BTWP (1994) 555 SPD BTWP (1994:74) 556 SPD BTWP (1994:10) 557 Am 22. September 1994 wurde eine europäische Betriebsratrichtlinie [94/45/EG] erlassen. Das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie wurde im Oktober 1996 in Deutschland erlassen. 558 SPD BTWP (1994:76).
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Ferner wird eine weitere Vertiefung und Demokratisierung der EU gefordert, so soll insbesondere mit dem Verweis auf eine Erweiterung die Handlungsfähigkeit der EU durch institutionelle Reformen sichergestellt werden. Das Parlament soll aus sozialdemokratischer Sicht weitere Kontroll- und Mitbestimmungsrechte bekommen sowie ein Initiativrecht erhalten. Damit setzt sich die SPD weitgehend für ein starkes und handlungsfähiges Europa ein, präzisiert dabei jedoch, dass das Subsidiaritätsprinzip eine hohe Bedeutung zur Verhinderung der Aushöhlung föderaler Strukturen in Deutschland (insbesondere der kommunalen Selbstverwaltung) aufweise. Die SPD favorisiert somit ein weitgehend demokratisches und soziales Europa, spricht sich für gewisse Kompetenzausweitungen auf der supranationalen Ebene aus und verbindet mit Europa eine neue politische Handlungsebene, die über Friedenssicherung hinaus Wohlstand und den Kampf gegen Massenarbeitslosigkeit befördern soll. CDU/CSU wollen die bisher erreichte politische und wirtschaftliche Integration insbesondere durch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, eine gemeinsame Asylpolitik und eine gemeinsame Innen- und Justizpolitik erweitern. Hinsichtlich der sozialen Dimension sprechen sich die Christdemokraten für neue Impulse in Form einer Verankerung von sozialen Mindestbedingungen in den Ländern der Gemeinschaft aus. Dies soll einen Schutz gegen Sozialdumping liefern, um deutsche Sozialstandards erhalten zu können. Dabei soll es sich jedoch nicht um eine weitgehende europäische Harmonisierung handeln, sondern die Vielfalt von unterschiedlichen Sozialsystemen soll aufrechterhalten bleiben.559 Des Weiteren sollen wettbewerbsverzerrende Regelungen, die Deutschland beim Zugang zum gemeinsamen Markt benachteiligen, abgebaut560 und Föderalismus und Subsidiarität als Ordnungsprinzipien durchgesetzt werden. Hierfür könne auch eine Rückverlagerung von europäischen Kompetenzen nötig sein. Europa soll nur die Kompetenzen bekommen, die auf nationaler oder regionaler Ebene nicht besser gelöst werden können, so dass eine klare Kompetenztrennung von CDU/CSU befürwortet wird. Auf institutioneller Ebene soll das Europäische Parlament mehr Rechte bekommen. Die Europakonzeptionen von SPD und CDU/CSU sind in weiten Teilen identisch so setzen sich beide Parteien für ein starkes und handlungsfähiges Europa im Sinne des Subsidaritätsprinzips ein, langfristig für die Osterweiterung, für eine gemeinsame Währung und für eine gemeinsame europäische Asyl-, Außen- und Sicherheitspolitik sowie eine transnationale Kriminalitätsbekämpfung (Innen- und Rechtspolitik). Die SPD gewichtet jedoch die soziale Dimension stärker als die CDU/CSU, während diese wirtschaftspolitische Vorteile der Integration hervorhebt. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass CDU/CSU negative Integrationsschritte auf europäischer Ebene eher befürworten als positive, während bei der SPD die positive Integration als ein wichtiges Element ihrer Europapolitik erscheint (Arbeitsmarktpolitik, europäische Betriebsräte). Die wesentliche Differenz der beiden Parteipositionen liegt jedoch in der unterschiedlichen Bewertung dessen, was der Nationalstaat noch leisten kann. Offenkundig bewerten CDU/CSU die Problemlösungsfähigkeit des Nationalstaates höher als die SPD, während diese der EU eine entscheidende Rolle bei der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit, für die Sicherung des Wohlstandes und von Mitbestimmungsrechten einräumt. Während sich der Europaframe der Sozialdemokraten weitestgehend kohärent zu den beiden vorherigen frames verhält, fällt bei CDU/CSU auf, dass 559
CDU BTWP (1994:52) CDU BTWP (1994:21) Hierbei bezieht sich die CDU/CSU auf Konkurrenz aus Niedriglohnländern im Bereich von „Verkehrsunternehmen“ (wahrscheinlich ist vor allem die Autoindustrie gemeint).
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sie ihre programmatische Europaposition weniger ideologisch-parteipolitisch untermauert sondern stärker nationale Begründungen heranzieht, so dass sie zwar im Sinne ihrer konservativ-liberalen Orientierung die wirtschaftspolitischen Vorteile der Integration betont, zugleich bezieht sie aber im nationalen Interesse auch eher sozialdemokratische Positionen, wenn sie für soziale Mindeststandards in Europa plädiert. Von einer Kollision zwischen den christdemokratischen frames kann hier sicherlich nicht gesprochen werden, jedoch wird deutlich, dass das Europathema weniger über bestimmte (parteipolitische) Werte als vielmehr über nationale Interessen aufgezogen wird. Sozialstaatlicher Mikroframe 1998 Im Rahmen der arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitischen Ziele beider Parteien steht 1998 vor allem der Abbau von Arbeitslosigkeit im Vordergrund. Im – relativ kompakten – Wahlprogramm561 der CDU/CSU werden dabei überwiegend dieselben Ziele wie im Programm von 1994 formuliert und weitgehend für eine Fortsetzung ihrer bisherigen Politiken geworben. Eine Fortsetzung der Reformpolitik soll dem primären Ziel von „mehr Beschäftigung“ dienen. Um dieses zu erreichen, streben CDU/CSU einerseits eine „große Steuerreform“ an und anderseits eine weitere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Primär sollen Arbeitsplätze über die Fortführung der Reformpolitik, also über Privatisierung und Deregulierung und damit letztlich über Wachstum entstehen. Im Rahmen der Steuerreform sollen die Gewinne von Unternehmen geringer besteuert werden, in der Hoffnung, dass durch diese Entlastung die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes verbessert, Investitionen erhöht und damit auch mehr Arbeitsplätze entstehen werden. Darüber hinaus sollen wie schon 1994 flexiblere Arbeitszeiten, ein Abbau von Überstunden und die Forderung einer angemessenen Tarifpolitik als flankierende Maßnahmen wirksam werden. Von den Tarifparteien wird erwartet, sich auch weiterhin in „Bescheidenheit“ zu üben, eine „beschäftigungsorientierte“ Lohnpolitik zu betreiben, einfache Anforderungsprofile anzubieten, mehr leistungs- und erfolgsorientierte Gehaltskomponenten einzuführen, als auch Einstiegstarife und Eingliederungsverträge zu nutzen.562 Von staatlicher Seite sollen weitere Anreize zur Arbeitsaufnahme geschaffen werden, zum Beispiel indem die Aufnahme von Niedriglohnarbeit durch staatliche Zuschüsse (Kombi-Lohn-Modell) gefördert wird oder indem Langzeitarbeitslosen, denen keine Arbeit vermittelt werden kann, eine Beschäftigung auf gemeinnütziger Basis verschafft werden soll.563 Darüber hinaus schreiben CDU/CSU im 1998er Wahlprogramm Bildung als Mittel zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit einen höheren Stellenwert zu als noch 1994. So wird zum Beispiel darauf verwiesen, dass eine solide Berufsausbildung der beste Schutz gegen Arbeitslosigkeit sei. Weiter heißt es: „Damit auch leistungsschwächere Menschen eine Chance am Arbeitsmarkt behalten, bedarf es eines geeigneten Bildungsangebotes und einer insgesamt größeren Differenzierung im Bil561
Das Wahlprogramm von CDU/CSU ist 1998 mit 33 Seiten Umfang relativ kurz, die Wahlprogramme 1994, 2002 und 2005 von CDU/CSU als auch SPD umfassen sonst zwischen mindestens 42 und maximal 70 Seiten. Die Kürze des Wahlprogramms von 1998 liegt möglicherweise darin begründet, dass CDU/CSU größtenteils eine Fortsetzung ihrer bisherigen Politik propagieren und deshalb keine Notwendigkeit einer ausführlicheren Darstellung ihrer programmatischen Ziele sahen. 562 CDU BTWP (1998:6) 563 CDU BTWP (1998:6)
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dungssystem. Dazu zählen auch zweijährige Ausbildungsgänge. CDU und CSU wollen neue Ausbildungsberufe mit überwiegend praktischer Qualifikation schaffen.“564
Darüber hinaus erfährt die Missbrauchsbekämpfung von sozialen Leistungen besondere Betonung und wird unter das Motto gestellt: „Wer Leistungen der Gemeinschaft fordert, muss auch zu Gegenleistungen bereit sein.“565 CDU/CSU folgen 1998 erneut einem liberalen arbeitsmarktpolitischen Leitbild, indem sie das Prinzip „Fordern“ betonen und primär auf „Rekommodifizierung“ setzen. Letztlich impliziert dies eine „harte“ Aktivierungsstrategie“, die eine Reintegration in den Arbeitsmarkt von Langzeitarbeitslosen beispielsweise durch Leistungskürzungen sicher stellen sollen, was jedoch in dieser Deutlichkeit nicht genannt wird. Sozialpolitische Maßnahmen nehmen im Programm von CDU/CSU 1998 keine zentrale Position ein, was sich daran erkennen lässt, dass der „Sozialstaat“ weit hinten im Programm angesiedelt ist und sich die Ausführungen auf etwas mehr als eine Seite beschränken. Hierbei wird maßgeblich die Fortsetzung des Sozialstaatsumbaus anvisiert und ihre angefangene Reformpolitik, die auf mehr Eigenvorsorge (Rente) und Eigenverantwortung (Gesundheit) setzt und am Leitbild einer „Partnerschaft und Solidarität der Generationen“ ausgerichtet sein soll, erneuert. In diesem Zusammenhang treten sie auch für eine „weitere Stärkung der zentralen Rolle der Familie für den Generationenvertrag“566 ein. Im Unterschied zu 1994 ist eine stärkere Rechtfertigung gegenüber dem vermeintlichen Vorwurf des Sozialabbaus zu erkennen, indem CDU/CSU herausstellen, dass es sich um einen „Sozialstaatsumbau“ und dessen „Fortentwicklung“, nicht aber um dessen Abbau handelt, und dass keine Verschlechterung bei der Gesundheitsversorgung eintreten sowie ein „umfassender sozialer Schutz“ aufrecht erhalten wird.567 Die arbeitmarktpolitische Programmatik der SPD von 1998 setzt andere Prioritäten als CDU/CSU, indem sie Bildung im Kampf gegen Massenarbeitslosigkeit eine Schlüsselstellung einräumt und damit primär eine sozialdemokratische Arbeitsmarktstrategie verfolgt. Dabei strebt die SPD eine Verdoppelung der Investitionen in Bildung und Forschung in einem Zeitraum von fünf Jahren an und betont, dass Weiterbildung als vierte Säule im Bildungssystem etabliert werden soll. Damit setzen sich die Sozialdemokraten für eine Umsetzung des Konzepts vom „lebenslangen Lernen“ als notwendige Anpassungsleistung der Menschen an die sich rasch wandelnden Bedingungen hochmoderner Gesellschaften ein. So betont die SPD auch, dass die Förderung von Humankapital zukünftig bedeutender sein wird als die Förderung von Sachkapital.568 Im Großen und Ganzen legt die SPD ein umfassendes arbeitsmarktpolitisches Programm auf der Grundlage eines Bündnisses für „Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit“ vor, welches anhand der drei Schlüsselbegriffe Qualifizierung, Flexibilisierung und Anreizpolitik umrissen werden kann. Als Qualifizierungsmaßnahmen sind einerseits die Investitionen in Bildung und Forschung im Sinne einer längerfristigen präventiven Politik zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit zu nennen, andererseits sollen zur Reintegration von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt Qualifizierungsmaßnahmen finanziert werden. Hierbei schließt sich die beschäftigungs- und arbeitsmarktpolitische Programmatik der SPD 1998 an ein sozialdemokratisches Leitbild an, welches auf lange 564
CDU BTWP (1998:7) CDU BTWP (1998:7) CDU BTWP (1998:21) 567 CDU BTWP (1998:21) 568 SPD BTWP (1998:9) 565 566
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Sicht auf „Empowerment“ durch Investitionen in Bildung und Zukunftstechnologien setzt und über die Setzung wirtschaftlicher Rahmenbedingungen Wachstum fördern will. Vorrangiges Ziel beider Parteien ist es, Arbeitslose so schnell wie möglich wieder in den Arbeitsmarkt zu reintegrieren, dadurch finanzielle Mittel bei der Arbeitslosenhilfe einzusparen und diese zur „Finanzierung von Qualifizierung und Arbeit“ zu verwenden.569 Unter die favorisierten Flexibilisierungsmaßnahmen am Arbeitsmarkt fallen bei der SPD im Wesentlichen die gleichen Maßnahmen, die auch CDU/CSU anvisieren, wie z. B. flexiblere Arbeitszeiten, mehr Teilzeitarbeit, der Abbau von Überstunden und flexible Lösungen im Rahmen der Lohnpolitik. So unterstützt die SPD Reformbestrebungen der Tarifvertragsparteien, die im Rahmen von Flächentarifverträgen flexible Lösungen ermöglichen, um den unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten und Bedingungen bestimmter Unternehmen und Branchen besser gerecht werden zu können. Insofern setzt sich auch die SPD für eine beschäftigungsorientierte Tarifpolitik ein, allerdings fügt sie hinzu, dass diese „im Rahmen der Produktivitätssteigerung für ausreichende Kaufkraft“ sorgen soll.570 Im Vergleich mit CDU/CSU fällt auf, dass die SPD trotz der Notwendigkeit von Flexibilisierungsmaßnahmen auf die Wahrung der Tarifautonomie pocht, ein klares Bekenntnis zum Instrument des Flächentarifvertrages abgibt und die Chancengleichheit der Tarifvertragsparteien durch eine Neufassung des §146 des Sozialgesetzbuches (III) sichern will. Das Verständnis dessen, was an Flexibilisierung notwendig ist, variiert folglich zwischen den Parteien. Bei CDU/CSU fehlt ein klares Bekenntnis zum Instrument des Flächentarifvertrages, was vermuten lässt, dass CDU/CSU ein höheres Maß an Flexibilisierung befürworten würden als die SPD. Zudem mahnt die CDU/CSU die Tarifparteien (und damit vermutlich hauptsächlich die Gewerkschaftsseite) zu mehr Bescheidenheit, während die SPD die gleiche Forderung nach einer beschäftigungsorientierten Lohnpolitik mit der Notwendigkeit des Erhaltes an Kaufkraft verbindet. CDU/CSU fokussieren mit ihrer Begründung primär die Interessen der Unternehmer, während in der sozialdemokratischen Begründung die Interessen der Arbeitnehmer stärker berücksichtigt werden. Als drittes Maßnahmenfeld der sozialdemokratischen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik sind die Anreize zu nennen. Darunter fallen die anvisierten Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Unternehmen in der Hoffnung, dass dadurch das Wirtschaftswachstum verbessert wird und die Unternehmen mehr Arbeitsplätze bereitstellen. Zum anderen will die SPD Anreize zur Schaffung und zur Annahme von Arbeitsplätzen durch eine staatliche Subventionierung von Arbeit liefern. Wie CDU/CSU betonen auch die Sozialdemokraten somit, dass Arbeitslose so schnell wie möglich in den Arbeitsmarkt reintegriert werden sollen und plädieren ebenfalls für mehr Arbeitsplätze für Geringqualifizierte, was über eine Senkung der Sozialversicherungsbeiträge bewerkstelligt werden soll. Darüber hinaus beruft sich die SPD auf den Schutz und den weiteren Ausbau von Arbeitnehmerrechten, indem sie „den Ausbau der Mitbestimmung am Arbeitsplatz und im Betrieb, die Sicherung und Weiterentwicklung der qualifizierten Mitbestimmung in den Unternehmen und den Ausbau von Mitbestimmungsrechten in Europa“ fordert sowie die Entscheidungen der CDU/CSU und FDP im Rahmen des Kündigungsschutzes, beim 569
SPD BTWP (1998:10-13) So plant die SPD mit eingesparten Geldern bei der Arbeitslosigkeit die Schaffung von Arbeitsplätzen insbesondere im Niedriglohnbereich durch eine Senkung von Sozialbeiträgen zu fördern, so dass auch Geringqualifizierte eine Chance auf einen Arbeitsplatz bekommen. Vgl. Seite 13. 570 SPD BTWP (1998:10)
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Schlechtwettergeld und im Rahmen der Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall korrigieren will.571 Die Sozialstaatskonzeption der SPD steht in direktem Zusammenhang mit der Arbeitslosenproblematik. Unter dem Motto „Arbeit statt Sozialhilfe“ wird Massenarbeitslosigkeit als ein zentrales Problem für die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme definiert und vor diesem Hintergrund die Notwendigkeit einer Neubestimmung des Verhältnisses von Solidarität und Individualität formuliert. Der Sozialstaat wird von der SPD als Grundvoraussetzung für die Veränderungsbereitschaft der Bürger beschrieben, da dieser erst die Sicherheit gäbe, die die Menschen für Veränderungen bereit mache.572 Hierbei verweist die SPD auf einen funktionsfähigen und modernen Sozialstaat, dessen Ziel es sei, die Eigenverantwortung und Eigeninitiative der Menschen zu befördern. Dadurch würden neue Freiräume für die Menschen geschaffen. Folglich betont die SPD, dass es in einer Gesellschaft nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten gibt. Vor diesem Hintergrund wird die Möglichkeit einer Kürzung der Sozialhilfe genannt, wenn ein Sozialhilfeempfänger, ohne wichtigen Grund Arbeitsangebote ablehne. Die hier zum Ausdruck kommenden – als notwendig erachteten – Einschnitte im etablierten Sozialsystem finden sich auch in der Forderung einer nicht näher explizierten Strukturreform wieder, die die „Zielgenauigkeit und Wirtschaftlichkeit der sozialen Sicherungssysteme […] verbessern“ soll.573 In der Rentenpolitik entwirft die SPD ein Reformprogramm, welches eine Stabilisierung des Rentensystems sicherstellen soll. Dabei bekennt sie sich jedoch zum Prinzip der Beitrags- und leistungsbezogenen Rente und will vor dem Hintergrund der veränderten sozioökonomischen Bedingungen (gebrochene Erwerbsbiographien etc.) eine Rentenversicherungspflicht für alle Erwerbstätigen einführen. Langfristig soll das Modell einer Versicherungspflicht aller Bürger geprüft werden. So spricht sich die SPD erneut für die Einführung einer Grundsicherung aus. Auch im Gesundheitswesen werden Reformen angestrebt, die sicherstellen sollen, „dass der Leistungskatalog der Krankenkassen alle medizinisch notwendigen Gesundheitsleistungen enthält.“574 Medizinisch fragwürdige Leistungen müssten jedoch aus dem Leistungskatalog gestrichen werden, um die Kosten zu senken und die Qualität zu verbessern. Damit will die SPD allen den gleichen Leistungskatalog an gesundheitlicher Versorgung zu teil werden lassen, jedoch soll der Umfang an enthaltenen Leistungen verringert werden. Bezüglich der von CDU/CSU und FDP eingeführten Zuzahlungen im Gesundheitswesen will die SPD eine Überprüfung vornehmen, diese für chronisch Kranke und ältere Patienten abschaffen und beim Zahnersatz Leistungen für Jugendliche wieder einführen. In der sozialpolitischen Programmatik der SPD wird unter Verweis auf eine notwendige Modernisierung des Sozialstaates eine Annäherung an die Positionen der CDU/CSU 571
SPD BTWP (1998:12) CDU/CSU hatten das Schlechtwettergeld 1996 durch ein Winterausfallgesetz ersetzt. 1999 führten SPD und Gründe das Schlechtwettergeld wieder ein. Die Regierung Kohl hatte den Kündigungsschutz 1996 derart gelockert, dass Kleinbetriebe mit bis zu zehn Mitarbeitern von den Bestimmungen des Gesetzes ganz ausgenommen wurden. Nach dem Regierungswechsel im Herbst 1998 stellte die rot-grüne Koalition mit einer ihrer ersten Entscheidungen den vollen Kündigungsschutz (für Betriebe mit mehr als fünf Mitarbeitern) wieder her. Die Kürzung von Lohnfortzahlung (auf 80 %) im Krankheitsfall wurden ebenfalls 1996 von der Regierung Kohl beschlossen, woraufhin eine Welle von Demonstrationen losgetreten wurde Insbesondere bei DaimlerBenz gingen rund 200.000 Arbeitnehmer auf die Straße. Diese von der Regierung angestrebte Kürzung der Lohnfortzahlung – auf Druck der Unternehmer – löste in der Regierungskoalition eine heftige Kontroverse aus, die dann im beschlossenen Kompromiss mündete. 572 SPD BTWP (1998:21) 573 SPD BTWP (1998:16) 574 SPD BTWP (1998:23)
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deutlich, so vor allem wenn die SPD Eigeninitiative, Eigenverantwortung und mehr Freiheit für die Menschen betont. Die sozialpolitische Programmatik von CDU/CSU in ihrem Programm von 1998 ist in weiten Teilen identisch mit der von 1994. Sie plädieren für den weiteren Umbau des Sozialstaates im Sinne einer „Fortentwicklung“ der begonnenen Reformen. Dementsprechend präsentieren CDU/CSU wenig an sozialpolitischen Bestrebungen, sondern betonen die Erfolge ihrer bisherigen Politik (Rentenreform, Einführung der Pflegeversicherung und eine bedarfsorientierte medizinische Versorgung). In der Zusammenschau der Sozialstaatskonzeptionen von CDU/ CSU einerseits und SPD andererseits fällt auf, dass bei den konkreten Politikmaßnahmen eine gewisse relative Annäherung zwischen den beiden Parteien zu erkennen ist und eine weitgehende Übereinstimmung hinsichtlich einer notwendigen Reformierung des Sozialstaates herrscht. Auch in der Gewichtung der Werte gibt es eine leichte Annäherung, da die SPD in ihrem 1998er Programm erstmals Werte wie Eigenverantwortung, Eigeninitiative und Freiheit stärker im sozialpolitischen Kontext hervorhebt. Das von den Parteien vorgenommene Framing macht jedoch deutlich, dass das Verständnis über die Rolle des Sozialstaates prinzipielle Unterschiede aufweist. Dies wird insbesondere anhand der (normativen) Begründungen, die der jeweiligen Sozialtstaatskonzeption zugrunde gelegt werden, sichtbar. So beschreibt die SPD den Sozialstaat als eine zentrale Bedingung für die sozio-ökonomische Modernisierung, was die Notwendigkeit der Reformen begründet, während CDU/CSU den Sozialstaat eher als Hemmschuh für die Modernisierung sehen und damit ihren Sozialstaatsumbau (bzw. -abbau) begründen. CDU/CSU orientieren sich in ihrer Sozialstaatskonzeption an einem liberal-konservativen Leitbild, wobei die liberale Schlagseite etwas stärker gewichtet zu sein scheint als noch 1994. Die Konzeption der SPD kann als sozial-liberal bezeichnet werden. Damit weist sie eine Positionsverschiebung in ihrer Programmatik von 1994 auf, die eine stärkere Hinwendung zum aktivierenden Staat aufzeigt und dabei hinsichtlich einzelner Strategien Anleihen beim liberalen Modell macht. Diese graduelle (Rechts)Verschiebung im Kurs der SPD wird auch mit der Selbstbeschreibung als „neue Mitte“ untermauert.575 Ausdruck dieser neuen Mitteposition ist sicherlich auch, dass neben dem Schlüsselwert „soziale Gerechtigkeit“ vor allem Begriffe wie Leistung, Leistungsfähigkeit und -bereitschaft deutlich hervortreten, sowie „Eigenverantwortung“ insbesondere mit Blick auf den Sozialstaat stärker als 1994 betont wird. Weitere hervorzuhebende Schlagworte sind Innovation und Modernisierung, die ebenfalls den Willen und die Notwendigkeit zur Erneuerung unterstreichen. Die Annäherung der beiden Parteien ist also vor allem der Bewegung der SPD nach Rechts geschuldet. Nationaler Gesellschaftsframe 1998 Unter der Überschrift „Sozialer Zusammenhalt – Gesellschaft des Miteinanders – Freundschaft der Generationen“ treten CDU/CSU für eine freiheitliche und pluralistische Gesellschaft ein. Hierbei wird wieder die Rolle der Familie, der Kirche und der Schulen als wertevermittelnde Institutionen betont. Zudem befürworten CDU/CSU ein „stärkeres soziales 575
Mit diesem Slogan entwirft die SPD eine „Vision für ein modernes und gerechtes Deutschland“. Für die Realisierung stützt sie sich dabei auf die „Leistungsträger“ der Gesellschaft und den „Leistungswillen“ der Menschen, wobei die Definition der Leistungsträger vom motivierten Arbeitnehmer über Handwerker und Erzieher bis hin zu Managern, Unternehmern und Wissenschaftlern reicht.
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Miteinander“, wofür Verantwortungsbereitschaft, Gemeinsinn und Nächstenliebe als „gemeinschaftsstiftende und -erhaltende Werte“ entscheidend seien.576 CDU/CSU berufen sich maßgeblich auf Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit als wesentliches Fundament für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dabei wird hervorgehoben, dass der Einzelne für sich selbst aber auch für seine Mitmenschen Verantwortung übernehmen muss. Weiter heißt es: „Die Freiheit des Einzelnen verwirklicht und bewährt sich in der Zuwendung zum Nächsten und in der Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens“.577 Gesellschaftliche Solidarität, so lässt sich ablesen, basiert damit in weiten Teilen auf einem christlichen Verständnis der Nächstenliebe und der moralischen Verpflichtung sich selbst und der Gesellschaft gegenüber, Eigenverantwortung zu übernehmen. Gesellschaftliche Solidarität wird in dieser Perspektive primär zu einer individuellen Aufgabe bzw. freiwilligen Leistung. Das angestrebte Gesellschaftskonzept der SPD wird in dem Programm von 1998 als „moderne Teilhabegesellschaft“ bezeichnet, „in der alle ihren gerechten Anteil erhalten am gemeinsam erarbeiteten Wohlstand.“578 Ferner wird „der Staat als Partner in der freien Bürgergesellschaft“ bezeichnet, wobei seine primäre Aufgabe im Schutz der Grund- und Bürgerrechte liegt, zugleich aber den Bürgern soviel Freiraum wie möglich gibt. Auch die SPD betont mit dem Nachbarschaftsgedanken die solidarische Eigeninitiative von Bürgern, die den Staat entlasten und kostengünstiger seien. Beide Parteien betonen für den Zusammenhalt der Gesellschaft die Rolle der „Zivilgesellschaft“ als wichtige, ja notwendige Ergänzung zum Staat. Die Begründungen sind hingegen unterschiedlich. So nennen CDU/CSU die christliche Nächstenliebe als zentrale Motivation für ehrenamtliches Engagement, während die SPD den Wunsch der Bürger nach mehr Eigenverantwortung sowie die schnellere und kostengünstigere Art und Weise von Hilfe betonen. Die Sozialdemokraten sehen zwar den Staat prinzipiell in der Pflicht, jedoch könne er sich zurückziehen, da es gewünscht werde und den Reformnotwendigkeiten Rechnung trage. Die CDU/CSU muss einen staatlichen Rückzug gar nicht erst besonders begründen, da sie von vornherein die Rolle des Staates im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik eher als gering definiert. Die Bildungspolitik stellen beide Parteien als wichtiges Mittel zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit dar. Dabei behandelt die CDU/CSU Bildung ausschließlich unter der Prämisse der Arbeitslosenbekämpfung und spricht sich für ein differenziertes Bildungssystem aus. In der Befürwortung von mehr Differenzierung im Bildungssystem scheint die Vorstellung mitzuschwingen, dass die Unterschiede in der Leistungsfähigkeit von Menschen letztlich nicht auf strukturelle (sozio-ökonomische) Rahmenbedingungen zurückzuführen sind, sondern allein auf individuelle Faktoren (z. B. Begabung) zurückgehen. Demnach müsste Politik primär Angebote bieten, die sich am Spektrum der individuellen Veranlagungen orientieren und nicht strukturelle Ursachen bekämpfen. Hierin kann eine Orientierung an den Prinzipien Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit im Bildungssystem abgelesen werden, was letztlich einem klassischen konservativen Verständnis von Status-Erhalt entspricht.579 576
CDU BTWP (1998:19) CDU BTWP (1998:19) 578 SPD BTWP (1998:6) 579 Weitere Maßnahmen von CDU/CSU sind ein schnellerer Berufseinstieg durch kürzere Erstausbildungszeiten, insgesamt die Allgemeinbildung zu verbessern, eine stärkere Vergleichbarkeit von Schulabschlüssen herzustellen, und den Umgang mit Medien, wirtschaftliche Zusammenhänge und Fremdsprachen im Unterricht zu fördern. Die Leistungsfähigkeit der Hochschulen soll dadurch verbessert werden, dass mehr Wettbewerb, eine leistungsorientierte Finanzierung und Spezialisierungsmöglichkeiten von Hochschulen gewährleistet werden sollen. 577
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Die SPD problematisiert Bildung ebenfalls als langfristiges Mittel zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit, geht aber in ihrem Programm auch auf die Bedeutung von Bildung für Chancengerechtigkeit und Teilhabe ein, was einer sozialdemokratischen Ausrichtung in der Bildungspolitik entspricht. Dabei formuliert sie als Ziele: „mehr Leistung und mehr Chancengleichheit, die Gleichwertigkeit aller Bildungsgänge und das Prinzip Förderung statt Auslese. Wir wollen weniger Bürokratie, dafür mehr Effizienz und mehr Wettbewerb. Weniger Regulierung, dafür mehr Flexibilität, mehr Durchlässigkeit und mehr Praxisbezug.“580
Diese Beispiele machen die relativen Unterschiede der Parteien deutlich, sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch viele Übereinstimmungen gibt. Dies zeigt sich zum Beispiel in der Definition der vorrangigen gesellschaftlichen Probleme (Arbeitslosigkeit, Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit) und der Einsicht in die Notwendigkeit von Sozialstaatsreformen vor dem Hintergrund der sozio-ökonomischen Herausforderungen (demografischer Wandel, Europäisierung, Globalisierung etc.). Es fällt auf, dass die Programmatik der CDU/CSU 1998 weitgehend eine Duplizierung ihrer Programmatik von 1994 darstellt und somit häufig mit dem Verweis der Fortführung der begonnenen Reformpolitik auskommt. Dies spiegelt sich auch in der relativen Kürze des gesamten Programms wider. Die primäre Ausrichtung der Gesellschaftskonzeption der CDU/CSU lässt sich aufgrund der starken Rolle des christlich basierten Solidaritätsbegriffs als konservativ bezeichnen. Die Ausrichtung der SPD ist uneindeutiger, einerseits finden sich liberal-konservative Elemente, wenn der Rückzug des Staates, mehr Wettbewerb und Flexibilisierung propagiert werden. Andererseits finden sich ebenso sozialdemokratisch-garantistische Elemente, wenn für mehr Chancengleichheit, für mehr demokratische Beteiligungsrechte oder die Gleichstellung von Minderheiten und die bessere Einbindung der Zivilgesellschaft im Rahmen einer Teilhabegesellschaft geworben wird.581 Die tendenzielle Ausrichtung ließe sich damit am ehesten als sozial-liberal bestimmen. Europäischer Frame 1998 Der Blick auf Europa und die europäische Einigung ist bei den Sozialdemokraten eng verbunden mit dem Blick auf die zukünftigen Herausforderungen auf der nationalen Ebene. Dies wird insbesondere daran ersichtlich, dass die europäische Dimension im Grunde das gesamte Wahlprogramm durchzieht und nicht nur im Kapitel zur Außenpolitik erörtert wird. Bereits im ersten Teil des Programms, wo es um die sozialdemokratische „Vision für Deutschland“ geht, wird explizit ein „europäisches Deutschland“ entworfen, das als „Motor der europäischen Einigung“ auftritt und sich durch Frieden, Freiheit und internationale Solidarität auszeichnet.582 Der positive Bezug auf Europa setzt sich fort, wenn die SPD im Rahmen ihrer wirtschaftspolitischen Programmatik davon spricht, die „Chancen der Globalisierung und der europäischen Einigung“ nutzen zu wollen. Der europäische Integrationsprozess wird hier als Chance begriffen und als eine neue Gestaltungsebene bei internationa580
SPD BTWP (1998:31) Dementsprechend spricht sie sich gegen Studiengebühren sowie eine Bafög-Reform aus mit der Begründung „allen“ die gleichen Chancen zu ermöglichen. 581 SPD BTWP (1998:38ff.) 582 SPD BTWP (1998:6)
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len, aber vor allem auch bei nationalen Herausforderungen. Somit schafft „[d]ie europäische Einigung […] neue Gestaltungsmöglichkeiten für neuen Wohlstand und neue Arbeit.“583 Konkret bedeutet dies für die SPD den europaweiten Ausbau von Mitbestimmungsrechten und zudem die Verhinderung von Sozialdumping durch europäische Regelungen.584 Weitere positive Bezüge auf die Europäische Kommission bzw. eine europäische Zusammenarbeit finden sich im Rahmen der Aufbaumaßnahmen für Ostdeutschland, bei der Landwirtschaftspolitik, bei der Umweltpolitik sowie der Innenpolitik hinsichtlich einer grenzüberschreitenden Kriminalitätsbekämpfung.585 Die EU wird als Garant für Frieden, Freiheit, Sicherheit und soziale Stabilität vorgestellt und dessen Sozialmodell als ein Modell für Demokratie, Menschenrechte, Arbeitnehmerrechte sowie eine soziale und ökologische Marktwirtschaft begriffen. Folglich wird die soziale Dimension als ein wesentliches Identitätsmerkmal der europäischen Staaten betrachtet, für dessen Erhalt und Weiterentwicklung der EU eine wichtige Rolle zukommt. Dies lässt sich vor allem an den europapolitischen Zielen erkennen: ein europäischer Beschäftigungspakt, eine europäische Koordinierung der nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitiken, gemeinsame verbindliche Regelungen gegen Steuer- und Sozialdumping (Mindestbesteuerung; gleicher Lohn für gleiche Arbeit etc.), eine bessere europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet von Forschung und Entwicklung sowie in der Asyl- und Flüchtlingspolitik. Darüber hinaus fordert die SPD die Einführung des Euros und eine Charta der europäischen Grundrechte. Auf institutioneller Ebene sollen Reformen angestoßen werden, so dass zum Beispiel im Rat mehr Mehrheitsentscheidungen getroffen oder die Mitspracherechte des Europäischen Parlaments gestärkt werden. Zugleich spricht sich die SPD für ein Europa der Regionen aus, welches bürgernäher sei und eine Überregulierung und Zentralisierung verhindere.586 Im Programm der CDU/CSU spielen die europäischen Bezüge eine weitaus geringere Rolle, jedoch betonen die Christdemokraten ebenfalls, dass sie die europäische Einigung voranbringen wollen. Dies wird damit begründet, dass die Europäische Einigung eine „historisch einmalige Chance [sei], eine dauerhafte Friedensordnung in einem freien und stabilen Europa“ herzustellen.587 Dieses Europa wird als ein „Europa der Nationen und Regionen“ konzeptionalisiert. Dementsprechend wird im Programm eine explizite Absage an einen „zentralistischen europäischen Bundesstaat“ formuliert, gegen ein „sozialistisches Europa der Umverteilung“ polemisiert und Stellung gegen die Pläne der Sozialdemokraten hinsichtlich eines Beschäftigungsprogramms und europaweiter sozialer Standards mit der Begründung bezogen, dass eine solche „europäische Transferunion“ nicht bezahlbar sei und zu Lasten Deutschlands ginge. Als Aufgaben, die auf europäischer Ebene gemeinsam gelöst werden sollen, nennen CDU/CSU: eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die Bekämpfung internationaler Kriminalität, die Bewältigung weltweiter Asylund Flüchtlingsströme sowie eine gemeinsame Umweltpolitik. Dabei wird betont, dass auf europäischer Ebene nur solche Aufgaben behandelt werden sollen, die nur europäisch besser gelöst werden können. Hinsichtlich der europäischen Institutionen werden zum Beispiel
583
SPD BTWP (1998:8) SPD BTWP (1998:12f.) Vgl. SPD BTWP (1998:18, 19, 20, 35, 36, 42) 586 SPD BTWP (1998: 43f.) 587 CDU BTWP (1998:28) 584 585
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die Notwendigkeit einer stärkeren Kontrolle der Kommission sowie eine Stärkung des Europäischen Parlaments gefordert. Der christdemokratische Blick auf Europa ist im Großen und Ganzen von starken Negativdefinitionen geprägt, in denen die Sorge zum Ausdruck kommt, dass der Integrationsprozess zu weit gehen könnte. Eine positive Bestimmung dessen, was Europa bzw. die EU im Verhältnis zum Nationalstaat leisten soll, wird nur in der Beschreibung der Aufgaben deutlich. Während die SPD die EU als eine Chance und neue Gestaltungsebene begreift und ein „Soziales Europa“ als Ausdruck europäischer Identität versteht, zeichnen CDU/CSU ein Europabild, welches die Gefahr einer zu weit gehenden Integration suggeriert. Für CDU/CSU bedarf der Nationalstaat dieser europäischen Gestaltungsebene nur in wenigen Bereichen, während für die SPD der Nationalstaat bestimmte Probleme eben nicht mehr allein zu lösen vermag. Die starke Abwehrhaltung von CDU/CSU könnte möglicherweise darauf zurückzuführen sein, dass zum damaligen Zeitpunkt die sozialdemokratisch geführten Regierungen in Europa in der Überzahl waren (und damit auch die Mehrheit im Rat stellten), so dass die Befürchtungen einer zu weitgehenden Integration insbesondere vor dem Hintergrund der Verabschiedung des Sozialkapitels durch Großbritannien 1997 einer stärkeren Polarisierung Vorschub leistete. Die Europakonzeptionen der beiden Parteien erscheinen in der 1998er Programmatik als der am schärfsten divergierende frame. Interessanterweise kann für CDU/CSU 1998 erneut konstatiert werden, dass die drei frames im Wesentlichen aufeinander aufbauen und auch zu 1994 im Großen und Ganzen keine größeren Positionsverschiebungen ergeben. In der Programmatik der SPD ist hingegen eine relative Rechtsverschiebung im Sozialstaatsframe zu beobachten und eine deutliche Aufwertung des Europaframes mit starker Betonung der sozialen Dimension zu konstatieren. Im Vergleich zu 1994 orientiert sich die SPD 1998 insbesondere in ihrem Sozialstaats- und Gesellschaftsframe stärker an liberalen Konzepten (relative Rechtsverschiebung der Programmatik), nur mit Blick auf Europa findet nicht nur eine Aufwertung, sondern auch eine Linksverschiebung statt, indem die soziale Dimension des Integrationsprozesses hervorgehoben wird. Die nationale Rechtsverschiebung bei gleichzeitiger europapolitischer Linksverschiebung scheint einem gewissen Übertragungswillen zur Problemlösung auf die europäische Ebene zu folgen, was letztlich aus der Interpretation dessen, was der Nationalstaat noch ohne Unterstützung selbst leisten kann, entspringt. Die sozialdemokratische Mehrheit im Rat hat möglicherweise Hoffnungen auf eine stärkere sozialpolitische Ausrichtung des Integrationsprozesses bestärkt. Auch der starke europäische Diskurs über eine Aufwertung der sozialen Dimension der späten 1990er Jahren könnte hierbei eine Rolle gespielt haben. Sozialstaatlicher Mikroframe 2002 Im Jahr 2002, nach der ersten Legislaturperiode der rot-grünen Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder sind in der Auswahl der Politikinstrumente in der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik der beiden Parteien im Vergleich zu 1998 weitere neue Übereinstimmungen zu verzeichnen. So zum Beispiel, wenn beide Parteien eine Steuerreform propagieren, um mehr Beschäftigung über eine Ankurbelung des Wirtschaftswachstums zu erreichen, oder wenn beide Parteien Qualifizierung als präventive Maßnahme gegen Arbeitslosigkeit herausstellen. Ebenso plädieren beide Parteien für eine Reform der
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Arbeits- und Sozialhilfe im Sinne einer „Zusammenlegung“ (CDU) bzw. „engen Verzahnung“ (SPD) und wollen Arbeitsanreize zum Beispiel über staatliche Ausgleichszahlungen, Sozialversicherungszuschüsse (SPD) bzw. -verringerung (CDU), Kindergeldzuschläge und flexiblere Arbeitszeitmöglichkeiten schaffen.588 Sowohl CDU/CSU als auch SPD verfolgen in ihren Programmen das Ziel der Vollbeschäftigung über eine Kombination von primär steuerpolitischen Maßnahmen zur Wachstumssteigerung und einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, die neben staatlichen „Brücken“ zur Reintegration in den Arbeitsmarkt vor allem auch auf Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen setzt. Jedoch lassen sich trotz dieser auf den ersten Blick hohen Überseinstimmungen auch Unterschiede erkennen, so zum Beispiel in der Gewichtung bzw. Berücksichtigung einzelner Themen oder der Begründung einzelner Maßnahmen. Zwar darf dies von den Parteien vorgenommene framing der Themen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die von beiden Parteien anvisierten Maßnahmen letztlich auch in einer relativen Annäherung der realen Politik mündeten, würden sie umgesetzt, allerdings kann anhand einzelner Interpretationsangebote und den dahinter liegenden Wertbezügen aufgezeigt werden, dass nach wie vor auch prinzipielle Unterschiede zwischen den Parteien bestehen. Unterschiede zwischen den Programmatiken von SPD und CDU im Rahmen der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik lassen sich bei Fragen von Arbeitnehmerrechten und Gewerkschaftspolitik und auch in der relativen Gewichtung von einzelnen Maßnahmen, wie z. B. bei der Qualifizierung oder beim Prinzip des „Forderns und Förderns“, erkennen. CDU/CSU geben als Leitsätze für mehr Beschäftigung „Arbeitslose fördern und fordern – Arbeitsmarkt entriegeln – Arbeitnehmer und Unternehmen entlasten“ aus, wodurch bereits die primäre Stoßrichtung ihrer Politik deutlich wird. Unter Fördern wird hier zweierlei verstanden: einerseits Arbeitslosen eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu bieten, indem generell mehr Arbeitsplätze geschaffen werden und andererseits eine individuelle Förderung bzw. Befähigung von Arbeitslosen, indem diesen eine intensive Betreuung (Jobcenter und Eingliederungsverträge)589 sowie Weiterbildungsangebote angeboten werden. Erstere Maßnahmen nehmen in dem Programm jedoch eine Vorrangstellung ein und umfassen alle Maßnahmen zur Entriegelung des Arbeitsmarktes, was maßgeblich Veränderungen bzw. Einschnitte bei Arbeitnehmerrechten bedeutet, wie zum Beispiel eine Abschaffung des Rechtsanspruches auf Teilzeitbeschäftigung oder eine Umgehung von Kündigungsschutzrechten durch individuelle Abfindungsvereinbarungen. Leitgedanke dieser Politik ist es: „den Arbeitsnehmern und ihren Familien Sicherheit und den Betrieben mehr Flexibilität zu geben, um Krisenzeiten überstehen zu können. Deshalb werden wir für ein modernes Arbeitsrecht sorgen, das zu möglichst vielen Einstellungen führen und so neue Beschäftigungschancen eröffnen wird. Wir brauchen eine neue Balance zwischen Flexibilität und Sicherheit. Dazu gehört, 588
Siehe zu den genannten Punkten: CDU BTWP (2002) S. 5 Steuerreform, S. 9-11 Anreize und Qualifizierung, S.11 Reform von Arbeits- und Sozialhilfe. SPD BTWP (2002) S. 24 Steuerreform, S. 26-29 Anreize, Qualifizierung und Reform der Arbeits- und Sozialhilfe. 589 Mit dieser maßgeblich aus Großbritannien stammenden aktiven Arbeitsmarktpolitik soll erreicht werden, dass jeder arbeitslose Erwerbsfähige durch eine intensive individuelle Betreuung so schnell wie möglich wieder in den Arbeitsmarkt reintegriert werden kann. „Dazu gehört, dass jedem Antragsteller ein persönlicher Ansprechpartner zur Seite gestellt wird. Voraussetzung dafür ist eine Verringerung der Relation von Beratern bzw. Fallmanagern zu betreuten Arbeitsuchenden. […] Die Verbindlichkeit der Anstrengungen auf beiden Seiten wird durch Abschluss von Eingliederungsvereinbarungen erhöht, die jeweils nach sechs Monaten erneuert werden. In diesen wird festgelegt, welche Eingliederungsleistungen der Arbeitsuchende erhält, aber auch, welche Eigenbemühungen er selber zu erbringen hat. […].“ Koch/Walwei (2005)
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7 Deutungskultur dass wir eine flexiblere Personalpolitik durch verbesserte Rahmenbedingungen für Zeitarbeit und die vertragliche Befristung von Arbeitsverhältnissen ermöglichen.“590
Durch weniger Rechtsansprüche und mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt würden somit mehr Arbeitsplätze geschaffen, auch wenn diese weniger „sicher“ sind. Die Sicherheit resultiert dabei aus dem Umstand, dass durch das Mehrangebot an Stellen und die höhere Fluktuation am Arbeitsmarkt die Chancen des Einzelnen eine Arbeit bzw. eine neue Stelle zu finden, steigen. Weitere Maßnahmen sind die bereits oben genannten Kombi-Löhne, Senkung der Sozialversicherungsbeiträge für mehr Beschäftigung im Dienstleistungssektor, etc. Im Rahmen der genannten individuellen Fördermaßnahmen auf der Grundlage von so genannten Job Centern und Eingliederungsverträgen betonen CDU/CSU die Pflichten stärker als die Rechte, wenn es heißt: „Weil wir die Arbeitssuchenden und Arbeitsfähigen intensiv fördern, darf die Allgemeinheit auch etwas von ihnen fordern. Wir halten es für zumutbar, dass der arbeitsfähige Empfänger von Sozialtransfers zuerst nachprüfbar zeigt, dass er sich wirklich ernsthaft um Arbeit bemüht hat. Für erwerbsfähige Arbeitslosen- und Sozialhilfebezieher werden wir die finanzielle Unterstützung an die Pflicht binden, an Weiterbildungsmaßnahmen teilzunehmen, sich auf andere Weise für eine Rückkehr in den Arbeitsmarkt zu qualifizieren oder gemeinnützige Arbeit zu leisten.“591
Der arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitische frame von CDU/CSU folgt in weiten Teilen dem liberalen Modell, wonach Wachstumsförderung und Deregulierung des Arbeitsmarktes als notwendige Mittel zur Lösung der Arbeitslosigkeit dargestellt werden und vor diesem Hintergrund auch eine „harte Aktivierung“ mit der Betonung von Pflichten und möglichen Leistungskürzungen als angemessen begründet wird. Die gleichzeitige Ankündigung von Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen erscheint hierbei als eine vom liberalen Kurs eher abweichende Strategie (sozialdemokratischer Tendenz), die jedoch eher als ergänzende Maßnahme erscheint. Die Begründung ihrer Politik wird vor dem Hintergrund eines europäischen Vergleichs abgegeben, wonach Deutschland in Europa „Nachzügler“ sei.592 Dies Konkurrenz- und Wettbewerbsargument durchzieht das gesamte Programm von CDU/CSU und soll als Begründung für die anvisierten Maßnahmen dienen. Im direkten Gegensatz zur CDU/CSU setzt sich die SPD für den Schutz und weiteren Ausbau von Arbeitnehmerrechten ein. Sie argumentiert genau entgegengesetzt, wenn sie ausführt, dass: „[a]uch unter den Bedingungen zunehmender Globalisierung sind informierte und mit Rechten ausgestattete Arbeitnehmer Garanten für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Erfolg. Im Gegensatz dazu gefährden Sozialdumping und der Abbau von Arbeitnehmerrechten nicht nur den sozialen Frieden, sondern auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit.“593
Während CDU/CSU eine Aufweichung von einzelnen Arbeitnehmerrechten mit der Notwendigkeit einer verbesserten Wettbewerbsfähigkeit begründen, verwendet die SPD das
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CDU BTWP (2002:9f.) CDU BTWP (2002:11) 592 CDU BTWP (2002:8) 593 SPD BTWP (2002:28f.) 591
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gleiche Argument für den Erhalt und den Ausbau von Arbeitnehmerrechten.594 Ein weiterer Unterschied zur CDU/CSU liegt in der Gewichtung von Weiterbildungsmaßnahmen und Qualifizierung. Wie die CDU/CSU befürwortet die SPD eine aktive Arbeitsmarktpolitik mit Eingliederungsverträgen. Dabei verweist sie jedoch weniger auf die so genannten Pflichten als viel mehr darauf, dass diese Maßnahme auch als ein präventives Element wirken könne. So heißt es bei der SPD in der entsprechenden Passage: „ Das seit dem 1.1.2002 gültige Job-AQTIV-Gesetz ist eine strukturelle Neuerung. Es setzt auf Prävention und auf zielgerichtete Vermittlung. Vor dem Hintergrund von 1,2 Mio. offenen Stellen ist eine breit angelegte nachhaltige Vermittlungsoffensive als beschäftigungspolitischer Impulsgeber gefordert. Das Gesetz muss nun konsequent angewendet werden: Vermittlung muss möglichst beginnen, bevor Arbeitslosigkeit eingetreten ist. Das kann weiterführende Qualifizierung erfordern. Und es muss zwischen Arbeitnehmer und Bundesanstalt für Arbeit früh eine Vereinbarung zur Wiedereingliederung getroffen werden, die für beide Seiten verbindlich ist.“595
Zwei weitere Schwerpunkte der sozialdemokratischen Programmatik sind Qualifizierungsmaßnahmen und „intelligente Arbeitszeitmodelle“. Die SPD führt die Notwendigkeit von Bildung, Weiterbildungs- und Qualifikationsmaßnahmen wesentlich breiter aus als CDU/CSU und begründet eine breite Offensive in diesem Bereich einerseits mit dem Fachkräftemangel und andererseits als Schutz vor Arbeitslosigkeit.596 Zudem kommt „Arbeitszeitmodellen“ eine wichtige Stellung im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik der SPD zu. Darunter fallen der Abbau von Überstunden, Teilzeitbeschäftigung oder die Einführung von Langfrist-Arbeitszeitkonten. Darüber hinaus ist der größere Begründungszusammenhang der angestrebten Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik interessant, da die SPD von der Notwendigkeit einer „sozialen Balance zwischen wirtschaftlichen Notwendigkeiten und den Sicherheitsbedürfnissen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ spricht (die CDU spricht von einer „neuen Balance zwischen Flexibilität und Sicherheit“), dann aber von „Stillen Reserven“ des Arbeitsmarktes, die zunächst ausgeschöpft werden müssen (Frauenerwerbstätigkeit steigern und Renteneintrittsalter gemäß gesetzlicher Altersgrenze umsetzen). Überspitzt kann man sagen, dass CDU/CSU ihre Maßnahmen vor einer „Drohkulisse“ des Verlustes an internationaler Wettbewerbsfähigkeit präsentieren, während die SPD mitunter das hoffnungsvolle Bild eines bisher nicht voll ausgeschöpften Arbeitsmarktes zeichnet. Hier scheint die Logik von Regierungsprogramm vs. Oppositionsprogramm deutlich hervorzutreten, wonach Regierungsparteien geneigt sind, ein positives Bild ihrer bisherigen Anstrengungen zu zeichnen und daran anknüpfend weitere Maßnahmen als die Fortführung ihrer Politik zu propagieren, während Oppositionsparteien versuchen, die bisherige Politik der Regierung als untauglich auszuweisen. Im Bereich der sozialen Sicherungssysteme fordern CDU/CSU mehr Eigenverantwortung bzw. mehr Eigenvorsorge der Bürger und sprechen sich für mehr Wettbewerb und 594
Darüber hinaus betont die SPD in einem Kapitel Qualität von Arbeit als einen wichtigen Erfolgsschlüssel, worunter sie den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer wie auch die Verbesserung der betrieblichen Organisation und Abläufe fasst. Ferner gibt sie erneut ein klares Bekenntnis zur Tarifautonomie und zum Flächentarifvertrag ab. Dabei wird betont, dass jede Form der Flexibilisierung nur im Rahmen von Tarifverträgen befürwortet wird. Vgl. SPD BTWP (2002:23, 29) 595 SPD BTWP (2002:26) 596 Vgl. SPD BTWP (2002:27), ferner S. 29-33
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Flexibilität aus.597 Demnach soll im Gesundheitssystem eine Abdeckung medizinisch notwendiger Leistungen unabhängig von Alter, Krankheit, Familienstand und Einkommen nach wie vor sicher gestellt werden, darüber hinaus jedoch Wahltarife eingeführt werden, wonach jeder Versicherte individuell den Umfang der Leistungen bestimmen kann. Zudem soll die Gesundheitsvorsorge durch Anreize unterstützt werden. Gesundheitspolitisch orientieren sich CDU/CSU 2002 an einem liberalen Wettbewerbskonzept, wonach mehr Konkurrenz im Gesundheitssystem nicht nur die strukturellen Defizite beheben, sondern auch die Qualität der Gesundheitsversorgung verbessern würde.598 In der Rentenpolitik wird am Prinzip der gesetzlichen Rentenversicherung als primäre Versorgungsquelle festgehalten, jedoch soll das Gewicht von betrieblicher Rentenversicherung und privater Vorsorge (weiter) erhöht werden. Als wesentliche Maßnahmen werden hierfür die Beseitigung der Frühverrentung, längere Lebensarbeitszeiten, kürzere Ausbildungszeiten und ein früherer Berufseintritt, eine Flexibilisierung des Betriebsrentengesetzes als auch die Anrechnung von Kindererziehungszeiten genannt. Generell wollen CDU/CSU, dass im Bereich der sozialen Sicherungssysteme mit einer neuen „Balance von Eigenverantwortung, privater Risikovorsorge und Solidarität die Ausgabendynamik gedrosselt“ wird. Begründet wird dies mit der Notwendigkeit, im internationalen Vergleich bei „Investitionen und klugen Köpfen“ wettbewerbsfähig zu bleiben. Neben klassisch konservativ-christdemokratischen Elementen, wie z. B. der Verteidigung der Ehe als „Lebens- und Fürsorgegemeinschaft“ und der Familie als „Grundlage für die Solidarität in unserer Gesellschaft“, orientiert sich das Sozialstaatskonzept von CDU/CSU zu weiten Teilen an einem liberalen Modell. Das von der CDU/CSU vorgenommene framing des Sozialstaates basiert im Wesentlichen darauf, dass „weniger Sozialstaat“ und mehr Eigenverantwortung als eine positive Aktivierungsstrategie der Bürger und eine Rückgabe von Freiheit verstanden wird. Umgekehrt suggeriert dies auch, dass die Bürger „passiv“ und „unfrei“ wären. In diesem Sinne werden z. B. die Beiträge zur Sozialversicherung als „Bremsklotz“ der wirtschaftlichen Dynamik dargestellt, eine Absage an einen „bevormundenden Versorgerstaat“ erteilt, „Wettbewerb statt Einheitsversorgung“ gefordert und die Maxime „Geringverdiener besser als Leistungsempfänger“ proklamiert.599 Der Sozialstaat wird zwar einerseits als prinzipieller Schutz für Notlagen konzeptionalisiert, aber alles darüber Hinausgehende eher als ein Hemmschuh für die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und des Bürgers begriffen. Das Sozialstaatskonzept der SPD läuft unter dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe stärken“ und veranschlagt wie CDU/CSU eine notwendige Übernahme von mehr Eigenverantwortung von Unterstützungsempfängern. Die Sozialhilfe soll zu einer „aktivierenden, fallbezogenen Dienstleistung“ entwickelt werden, wobei eine Wahrung des sozialstaatlichen Existenzminimums gewährleistet bleiben soll.600 Bei der Reform der Hilfe zum Lebensunterhalt werden folgende sozialpolitische Ziele von den Sozialdemokraten formuliert: 597
„die finanziellen Leistungen transparenter und bedarfsgerecht weiterentwickeln, die Selbstverantwortung des Hilfeempfängers stärken und Verwaltung vereinfachen, die aktivierenden Instrumente und Leistungen der Sozialhilfe verbessern,
CDU BTWP (2002: 35) CDU BTWP (2002:35) 599 CDU BTWP (2002:6, 13, 26) 600 SPD BTWP (2002:44) 598
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die Integration in den Arbeitsmarkt verbessern, Länder und Kommunen bei der Verwaltungsmodernisierung wirksam unterstützen.“601
Das den Sozialstaat leitende Prinzip ist für die SPD „Fördern und Fordern“, wobei hervorgehoben wird, dass Sozialhilfeempfängern eine zweite und dritte Chance zugesichert werden müsse. In der Rentenpolitik soll neben der gesetzlichen Rente mit der kapitalgedeckten und staatlich geförderten privaten oder betrieblichen Rentenversicherung ein zusätzliches Einkommen im Alter geschaffen werden. Im Bereich der Rente kann seit 1998 eine Annäherung der SPD an die Positionen von CDU/CSU konstatiert werden, die eine zusätzliche Privatvorsorge neben der gesetzlichen Rente bereits 1994 propagierten. Im Gesundheitswesen spricht sich die SPD gegen Grund- und Wahlleistungen aus und will einen vom Einkommen unabhängigen Anspruch medizinischer Versorgung sicherstellen. Zugleich sagt sie aber auch, dass innerhalb der solidarischen Ordnung mehr Wettbewerb notwendig sei. Somit tritt die SPD wie auch die CDU/CSU für mehr Wettbewerb602 im Gesundheitswesen ein. Während sich die Sozialdemokraten jedoch für eine stärkere „Angebotkonkurrenz“ im Sinne eines (regulierten) Wettbewerbs zwischen den Leistungsanbietern einsetzt, wollen CDU/CSU unter dem Schlagwort der „Eigenverantwortung“ die Wahlfreiheit der Versicherten verstärken und dadurch eine Privatisierung der Gesundheitsfinanzierung befördern. „Wettbewerb“ kann im deutschen gesundheitspolitischen Reformdiskurs als eine Art „Leitmotiv“ bezeichnet werden. Generell ist mit der Forderung nach mehr Wettbewerb die Hoffnung verbunden, dass dadurch mehr Effizienz erreicht würde, geringere Kosten und weniger Bürokratieaufwand anfallen und letztlich eine bessere Bedarfsgerechtigkeit erzielt würde.603 Das Wettbewerbskonzept der SPD zielt stärker auf den Erhalt des solidarischen Systems und nimmt als Adressat seiner Politik das Kollektiv. Auch bleibt dem Staat eine regulierende Rolle erhalten, während das Konzept der CDU/CSU einen stärker privatisierten Gesundheitsmarkt fordert und damit letztlich einen Rückzug des Staates aus dem Gesundheitswesen anstrebt. Die Sozialstaatskonzeptionen beider Parteien werden erneut vor dem Hintergrund von „Reformzwängen“ präsentiert, wobei durch die Formeln „mehr Eigenverantwortung und Eigenvorsorge“, „Hilfe zur Selbsthilfe“, „Aktivierung“; „Fördern und Fordern“ und „mehr Wettbewerb“ usw. der Um- und Abbau von Sozialleistungen so dargestellt wird, dass es ein Gewinn an persönlicher Freiheit und Chancen sei und dadurch mehr Bedarfsgerechtigkeit erzielt würde. Hierbei ist in der Rhetorik eine Annäherung beider Parteien zu verzeichnen und beide Parteien rücken tendenziell mehr nach rechts. CDU/CSU orientieren sich am liberalen Modell, wonach der Staat eine Art Grundmodell sozialer Sicherheit gewährleistet (Arbeitslosen- und Sozialhilfe, Gesundheit, Rente), alles was jedoch darüber hinausgeht, wird dem Einzelnen überlassen. Das Sozialstaatskonzept der SPD hingegen weist eine stärkere Heterogenität als das von CDU/CSU auf, so können neben (traditionellen wie auch modernen) sozialdemokratischen Elementen (Arbeitnehmerrechte, Qualifizierung) viele liberale Elemente (mehr Privatvorsorge z. B. in der Rente, Betonung von Pflichten, Flexibi-
601
SPD BTWP (2002:45) Vgl. Mosebach (2006) 603 Vgl. Mosebach (2006:902) 602
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lierung etc.) identifiziert werden, so dass die Sozialstaatskonzeption der SPD 2002 am ehesten als sozialliberal zu bezeichnen ist. Nationaler Gesellschaftsframe 2002 Die programmatischen Schlüsselbegriffe 2002 sind „Leistung und Sicherheit“ (CDU) einerseits und „Erneuerung und Zusammenhalt“ (SPD) andererseits. Das Gesellschaftskonzept von CDU/CSU impliziert zunächst einmal „Leistung“ und „Wettbewerb“ als wichtige gesellschaftliche Prinzipien. Leistung wird demnach als „der erste Schlüssel für die Zukunft“604 betrachtet, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit – die als durchgängiger Begründungzusammenhang im Bereich der Wirtschafts-, Steuer-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik auftaucht – Deutschlands sicherzustellen. „Die Deutschen sind bereit, etwas zu leisten – für sich und für andere. Wir sorgen dafür, dass sich die Leistungsbereitschaft der schweigenden Mehrheit – von der Krankenschwester bis zum Unternehmer, von der Existenzgründerin bis zum Streifenpolizist – wieder entfalten kann und gerecht honoriert wird (…).“605
Hieran wird deutlich, dass CDU/CSU primär auf Leistungsgerechtigkeit setzen und damit hervorheben, dass jeder seinen Beitrag (Eigenverantwortung) für die Gesellschaft zu leisten hat. Dies wird auch in der Bildungspolitik bestätigt, wonach ein differenzierendes Bildungssystem der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit gerecht werden würde. Zudem wird die Förderung von Hochbegabten erwähnt.606 CDU/CSU betonen die „Mitverantwortung und Solidarität der Bürger“607. Dadurch soll eine „menschliche Gesellschaft“ entstehen, die sich durch ein „christliches Menschenbild“ auszeichnet, die besondere Stellung der Familie als auch die „Schöpfung“ bewahrt und für Gleichberechtigung, Toleranz und Integration von „Fremden“608 eintritt. Hierbei wollen CDU/CSU die Integration von Ausländern fördern, verweisen aber auch ausdrücklich darauf, dass dies an Bedingungen geknüpft ist und eine „multikulturelle Einwanderungsgesellschaft“ abgelehnt wird.609 Neben dem Leistungsund Wettbewerbsprinzip wird vor allem die „Nation“ als gesellschaftlicher Bezugspunkt akzentuiert, was in den anderen Programmen nicht in dem Maße festzustellen war. Im Kapitel „Identität Deutschlands bewahren“ treten CDU/CSU für ein „positives Verhältnis zur Nation“ ein, welches eine Grundlage für eine gute Zukunftsgestaltung sei. Die in diesem Kapitel behandelten Politiken sind die Kultur-, Asyl- und Integrationspolitik, was deutlich macht, dass CDU/CSU einen kulturellen Identitätsbegriff ihrem Nationenverständnis zugrunde legen. Bereits zu Beginn des Programms ist die Rede von einem „aufgeklärten Patriotismus“ auf dem der Einsatz [von CDU/CSU] für Deutschland gründet. Ebenso heißt es: 604
CDU BTWP (2002:4) Sicherheit wird folglich als „der zweite Schlüssel für die Zukunft“ ausgegeben. Darauf wird weiter unten eingegangen. CDU BTWP (2002:4) Somit sollen z. B. Geringverdiener mehr bekommen als Leistungsempfänger. 606 Vgl. CDU BTWP (2002:15) Die Förderung von Benachteiligten hingegen bleibt unerwähnt. 607 CDU BTWP (2002:26) Folglich betonen sie die Bedeutung bürgerlichen- und ehrenamtlichen Engagements. 608 CDU BTWP (2002:28) Im Original heißt es unter dem Titel ein ‚Menschliches Deutschland gestalten’: „Nicht der bevormundende Versorgungsstaat ist unser Leitbild, sondern der Staat, der auf die Mitverantwortung und Solidarität der Bürger baut, der den Menschen dient und der Fremden die Chance bietet, sich zu integrieren.“ 609 CDU BTWP (2002:52) 605
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„Wir bekennen uns zur Vielfalt unseres Landes und zu Deutschland als Vaterland. Heimat gibt Halt. Heimat – das sind menschliche Beziehungen und kulturelle Traditionen, die wir schützen und bewahren. Sie sind die Quelle von Zusammengehörigkeitsgefühl und Selbstbewusstsein. (...) Zusammen werden wir Deutschland wieder zu einer starken und leistungsfähigen Nation machen, die fest in Europa verwurzelt ist und zugleich ihre nationalen Interessen zu vertreten weiß.“610
Das Gesellschaftskonzept der CDU/CSU pendelt in gewisser Hinsicht zwischen zwei Polen: einerseits zeichnet sie das Bild einer hochmodernen, individualisierten Leistungsgesellschaft, andererseits wird unter Verweis auf konservative Werte und Strukturen die Vorstellung einer traditionsbewussten Kulturnation umrissen. Beide Pole haben jeweils eine nach innen und eine nach außen gerichtete politische Dimension: Nach innen soll die Leistungsgesellschaft über den Weg von mehr Wettbewerb und Leistung aktivierend wirken und zu wirtschaftlicher Prosperität führen, nach außen ist sie notwendig, damit Deutschland auf globaler Ebene wettbewerbsfähig bleibt. Die „Kulturnation“ soll nach innen gerichtet den gesellschaftlichen Zusammenhalt und demokratische Stabilität sicherstellen und nach außen als eine Art „kulturelle Grenze“ wirken, die die Souveränität des Nationalstaates begründet. Der Rahmen des Gesellschaftskonzeptes erscheint somit liberal als auch konservativnational. Die SPD-Programmatik mit dem Leitmotiv „Erneuerung und Zusammenhalt“ versieht ihr Gesellschaftskonzept nicht mit einem explizit „nationalen“ Rahmen, sondern betont in wesentlich stärkerem Maße die europäische Dimension, die das gesamte Programm durchzieht. Dieser trans- bzw. internationale Rahmen des SPD-Programms fällt auch dadurch auf, dass sich bereits das erste Kapitel mit „Deutschlands Rolle in Europa und der Welt“ befasst. So betonen die Sozialdemokraten zum Beispiel, dass sie eine „lebendige Demokratie ermöglichen [wollen], mit einer freien und offenen Kultur.“611 Auch die Sozialdemokraten setzen sich für eine aktive Bürgergesellschaft ein, in der bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt eine wichtige Rolle spielen und die Gesellschaft menschlicher macht. Zuvor betont sie die notwendige aktive Partizipation der Bürger in einer Demokratie. Für das Ziel der kulturellen Offenheit will die SPD den Dialog der Kulturen im Rahmen ihrer Kulturpolitik befördern, die Integration von Zuwanderern erleichtern (Staatsbürgerrecht für in Deutschland geborene Kinder) und die Rechte von Minderheiten stärken. Dabei verbindet die SPD die nationale Kultur mit einer europäischen Identität. Dazu kann man lesen: „[E]in wirtschaftlich und politisch geeintes Europa wäre ein Torso ohne kulturelle Identifikation. Eine der Demokratie verhaftete Zivilgesellschaft setzt historisches Bewusstsein, aber auch Offenheit für Neues, die Pflege kultureller Traditionen und gleichzeitig die Bereitschaft zu Veränderung voraus. (…)Und wir kümmern uns um die Rolle der Kultur in der europäischen Dimension. Sie muss kulturell begründetes nationales Bewusstsein mit europäischer Identität verbinden.“612
Während CDU/CSU eine nationale Kulturidentität verteidigen, strebt die SPD eine Verbindung von nationaler und europäischer Identität an. CDU/CSU machen keine Aussagen zum Verhältnis von nationaler und europäischer Identität und es wirkt fast so, als müsse die 610
CDU BTWP (2002:3) SPD BTWP (2002:7) 612 SPD BTWP (2002:68f.) 611
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nationale Kulturidentität geschützt werden, was dann auch mit Blick auf Europa der Fall sein würde. Die Sozialdemokraten sehen hingegen nationale und europäische Identität als komplementär an, was ihre programmatisch starke europäische Anbindung in dem Programm nochmals unterstreicht. Mit dem bereits oben erwähnten Begriff des „Zusammenhalts“ thematisiert die SPD das Verhältnis von Staat und Gesellschaft insoweit, dass der Staat den Rahmen in Form von Rechtsgarantien (für Arbeitnehmer, homosexuelle Ehen, Behinderte, Minderheiten und die Staatsbürgerschaftsrechte) sicherstellt, innerhalb dessen sich dann eine vitale Bürgergesellschaft entfalten könne. Folglich entwirft die SPD das Bild des Staates als „Lenker“, der Grundlagen liefert und Leitlinien bestimme, aber zugleich die Eigenverantwortung der Menschen stärken wolle und die Zivilgesellschaft fördere. Dabei wird einerseits betont, dass die Ansprüche, die den Staat überfordern, zurückgenommen werden müssen, andererseits aber auch gegen eine „Ideologie der totalen Entstaatlichung“ Position bezogen wird. Unter dem Begriff der Erneuerung subsumiert die SPD ihr Modell der sozialen und ökologischen Marktwirtschaft, indem die soziale Dimension zunehmend europäisch und die ökologische Dimension – wie bereits 1998 – als Querschnittsaufgabe konzeptionalisiert werden. Modernisierung wird hierbei als die notwendige Anpassung an die gewandelten sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen (national und international) verstanden, um die Zukunft gestalten zu können. Das Gesellschaftskonzept wird überwiegend mit Teilhabeund Chancengerechtigkeit begründet.613 Zur Verwirklichung kommt dem Staat eine wichtige Rolle dahingehend zu, dass er die Menschen stärker fordern darf, Aktivierungsstrategien mit möglichen Sanktionen einsetzt und Ansprüche an den Staat (z. B. im Bereich der sozialen Sicherungssysteme) zurückgenommen werden müssen. Bei der SPD fällt somit auf, dass das Gesellschaftskonzept sich wesentlich stärker am sozialdemokratischen Modell orientiert als zum Beispiel ihre sozialpolitische Programmatik, die durchaus liberale Tendenzen aufweist und teilweise sogar Sozialstaatsabbau propagiert. Für die SPD ist somit ein gewisser programmatischer Spagat zwischen einem als notwendig erachteten Sozialstaatsumbau – sicherlich mit befördert durch den neoliberalen Diskurs der 1990er Jahre – und einer anhaltenden Verpflichtungshaltung gegenüber einem traditionellen sozialdemokratischen Gesellschaftsentwurf zu beobachten. Während sie im Rahmen ihrer Sozialstaatskonzeption liberal-konservative Aktivierungsstrategien („Fordern“, „Ansprüche an den Staat zurücknehmen“, Leistungen kürzen, etc.) in den Vordergrund rücken, was letztlich auch Auswirkungen auf das gesamte gesellschaftliche Klima und die ihr zugrunde liegenden Werte hätte, werden im Rahmen des Gesellschaftsframe nach wie vor sozialdemokratische Werte wie Solidarität, Teilhabe- und Chancengerechtigkeit als wesentliches Fundament formuliert. Zwar kann zum Beispiel im Vergleich zu 1994 in der Gesellschaftskonzeption eine Veränderung dahingehend festgestellt werden, dass die Rolle des Staates weniger und die Rolle der Zivilgesellschaft stärker betont wird und folglich mehr Eigeninitiative und -verantwortung gefördert werden sollen, aber eine Abkehr von dem Verständnis einer prinzipiell staatlichen Verantwortung für Bildung, für gleiche Rechte, Chancen und gesellschaftliche Solidarität wird nicht vollzogen, sondern im Gegenteil besonders betont. Interessant ist hierbei die neue Rolle Europas, die einen wichtigen 613
SPD BTWP (2002:25, 29) So zum Beispiel, wenn sie Rechte als grundlegendes Mittel zur Herstellung von Chancen nennt (s.o.), im Rahmen ihrer Bildungspolitik für mehr Durchlässigkeit plädiert (S. 29f.) oder die Ungleichheit in der Verteilung von Einkommens- und Lebenschancen als eine wesentliche Herausforderung definiert (S. 25)
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Stellenwert in der sozialdemokratischen Programmatik von 2002 einnimmt. Zugespitzt betrachtet, könnte die Europäische Ebene in gewissem Sinn als der Kitt zwischen dem eher liberalen Sozialstaatsframe und dem eher sozialdemokratischen Gesellschaftsframe interpretiert werden. Europäischer Frame 2002 Wie bereits erwähnt, nimmt Europa im sozialdemokratischen Programm der SPD von 2002 eine deutlich präsentere und umfassendere Stellung ein als in den Programmen von 1994 und 1998, obgleich die spezifischen Europabezüge im Wesentlichen bereits in den Programmen von 1998 und zum Teil auch schon 1994 anzutreffen waren. Das Europakonzept 2002 erscheint auf den ersten Blick wie eine Synthese aus dem 1994er Programm (Soziales Europa) und dem 1998er Programm (Europa und Globalisierung). So wird Europa einerseits mit der Idee und der Tradition der sozialen Marktwirtschaft und des Sozialstaates in Verbindung gebracht. Zum anderen wird die EU als Chance begriffen, d.h. als die politische Handlungsebene, auf der die negativen Auswirkungen der Globalisierung wirkungsvoll bekämpft werden können. Auf den zweiten Blick findet sich jedoch noch eine inhaltliche Präzisierung dessen, was die Sozialdemokraten mit dem Europäischen Sozialmodell verbinden und welche Rolle Europa zukünftig für die Bewältigung von Problemen übernehmen sollte. Im Endeffekt sehen die Sozialdemokraten die EU als eine Antwort auf die Globalisierung und sprechen sich entschieden für ein Voranbringen des Integrationsprozesses aus. Dabei betonen sie vor allem die Notwendigkeit einer Bewahrung und Weiterentwicklung des „europäischen Sozialstaatsmodells“. Dieses zeichne sich dadurch aus, dass es Leistungswilligkeit und Eigenverantwortung mit gesellschaftlichen Zusammenhalt und Solidarität verbinde: „die in Not geraten, können sich auf die Gemeinschaft verlassen.“614 Ferner spricht sich die SPD für die Erweiterung der Union aus, da dies Arbeitsplätze bringen würde. Sensible beschäftigungspolitische Bereiche sollten jedoch mit Übergangsfristen geregelt werden. Als genuin sozialdemokratische Anliegen werden die Europäische Verfassung und die EU-Grundrechtscharta genannt. Auf institutioneller Ebene werden Reformen befürwortet, die dazu führen, dass klare Verantwortungszuschreibungen zwischen den Ebenen (EU, Nation, Region) möglich werden. Hier wird wieder auf die Bedeutung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips verwiesen (vgl. 1998). „Europa“ kommt im Programm eine zentrale Rolle zu, indem es als wichtiger Akteur für eine gerechte Weltordnung und als Antwort auf die Globalisierung und damit für die Lösung zukünftiger Probleme stilisiert wird. Zum anderen wird es als der „Ort“ betrachtet, an dem über den Erhalt und die Weiterentwicklung des Sozialstaates in Europa entschieden wird. Überhaupt wird „das Zusammenwachsen Europas in der Europäischen Union [als] weltweit eine der hoffungsvollsten Entwicklungen überhaupt“ bezeichnet.615 Damit wird der europäische Integrationsprozess vor allem mit einem relativ abstrakten „Hoffnungsprinzip“ verbunden: mit der Hoffnung, dass die Lösung anstehender Zukunftsfragen europäisch besser gelingen kann als im nationalen Alleingang, und dass die EU zum „Rettungsanker“ im stürmischen Meer der Globalisierung wird. Wie oben bereits angedeutet, scheint es, als diene die EU auch als eine Art „Projektionsfläche“, die hilft, die Kluft zwischen einem 614 615
SPD BTWP (2002:17) SPD BTWP (2002:16)
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stark normativ aufgeladenen sozialdemokratischen Gesellschaftskonzept einerseits und der politischen Realität (und Praxis) andererseits abzumildern, so dass keine sichtbare Kollision zwischen Anspruch und tatsächlicher Politik (z. B. Sozialabbau) entsteht. Der europäische frame würde demnach den Kitt bzw. das Bindeglied zwischen dem Gesellschafts- und dem Sozialstaatsframe darstellen. Im Kontrast dazu steht der Europaframe von CDU/CSU, die zwar ebenfalls für den europäischen Integrationsprozess werben, die Rolle Europas für Frieden und Freiheit hervorheben und dies als das „wertvollste Erbe des 20 Jahrhunderts“ beschreiben. Im Folgenden finden sich jedoch überwiegend Anmerkungen zum Verlust des Gewichtes Deutschlands in der Union, was der Regierung Schröder angelastet wird616, sowie Ausführungen zum Stabilitätspakt, zur europäischen Strukturpolitik, zur Osterweiterung, zu deutschen Heimatvertriebenen, zur Stellung der deutschen Sprache in der Union und zu den institutionellen Reformen.617 Diese Themenauflistung verdeutlicht bereits, dass CDU/CSU andere Schwerpunkte setzen und stärker Probleme, die mit der „EU“ verbunden sind, thematisieren. Zwar taucht die EU hier auch als Problemlöser auf, wenn zum Beispiel die in der Union geltender Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit als „ein Schritt hin zur Verwirklichung des Rechts auf die Heimat auch der deutschen Vertriebenen“ gewertet wird. Doch wird die EU damit wie schon 1998 primär aus einer „deutschen Perspektive“ gesehen. Darüber hinaus treten CDU/CSU wie die SPD für die Osterweiterung, die Verfassung und die Grundrechtscharta ein. Ebenfalls plädieren sie für die strenge Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und wollen eine klare Kompetenzabgrenzung zwischen der europäischen und nationalen Ebene, wobei jedoch das Verständnis der Parteien hinsichtlich dessen, was der Nationalstaat noch leisten kann und dessen, was die EU regeln soll, wie schon 1998 erheblich divergieren. So begründen CDU/CSU mit der Osterweiterung eine Aufgabenbeschränkung der EU auf die Bereiche: Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, den Binnenmarkt, die gemeinsame Währung, den wirtschaftlichen Wettbewerb und eine einheitliche Außenvertretung sowie Verbraucherschutz. Also all jene Bereiche, die das Funktionieren des einheitlichen Marktes sicherstellen. Dabei verweisen die Christdemokraten ausdrücklich darauf, dass sie soziale Sicherheit auf nationaler bzw. regionaler Ebene verbleiben müsse. „Die nationale oder regionale Ebene behält auf Dauer die Zuständigkeit für alle Politikbereiche, die mit den gewachsenen Traditionen in Zivilisation, Kultur und „Zivilgesellschaft“ besonders eng verbunden sind. Dazu gehören insbesondere der innere Staatsaufbau und die kommunale Selbstverwaltung, die soziale Sicherheit und die Familienstrukturen.“618
Europa wird von CDU/CSU zwischen Markt und Nation verankert, so dass sich auch hier wieder die Verbindung zwischen dem liberalen und dem konservativen Modell zeigt. Das prinzipielle „Ja“ zur EU folgt maßgeblich wirtschaftspolitischen Gründen, wird jedoch durch nationale Aspekte eingeschränkt, so dass Europa nicht in einem radikalen Sinne als ein reines Markteuropa konzeptionalisiert wird, sondern stets auch auf Europa als (kulturelle) Wertegemeinschaft verwiesen wird. Der nationale Souveränitätsgedanke hindert CDU/CSU hingegen nicht daran, auch Mehrheitsentscheidungen auf europäischer Ebene zu 616
CDU BTWP (2002:54) Siehe dazu im Detail CDU BTWP (2002:55f.) 618 SPD BTWP (2002:56) 617
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befürworten, sofern eine klare Kompetenzabgrenzung zwischen den Ebenen vollzogen wurde, oder sich für eine europäische Grundrechtscharta auszusprechen. Somit verankern CDU/CSU ihr primär wirtschafts- und außenpolitisches Europakonzept in einem „nationalen“ Begründungskontext, so dass ein „Zuviel“ an europäischer Integration kulturelle Eigenheiten, aber auch wirtschaftliche und soziale Errungenschaften gefährden könnte. Ein zu wenig an europäischer Integration wird von CDU/CSU aber ebenso wenig befürwortet, so dass sie sich durchaus für weitere Integrationsschritte wie die Grundrechtscharta oder eine Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen aussprechen. Sicherlich nicht nur deshalb, da Deutschland als größtes europäisches Mitgliedsland eine durchaus starke Position innerhalb der Union besitzt und somit keine Befürchtungen haben müsste, nationale Interessen nicht mehr verteidigen zu können, sondern wohl vor allem aufgrund eines deutschen historischen Bewusstseins, dass eine pro-europäische und eine pro-demokratische Haltung geradezu voraussetzt. Und auch die Parteigeschichte der Christdemokraten mit Konrad Adenauer ist tief mit dem Europagedanken verbunden. Die Konzeption von CDU/CSU lässt sich demnach am ehesten auf die Formel eines „Europas der Nationen“ bringen, da darin der Erhalt nationaler Souveränität und die Fokussierung auf ein wirtschafts- und außenpolitisches Europakonzept enthalten ist, sich aber zugleich nicht auf ein reines liberales Markteuropa beschränkt, sondern ebenso die Bedeutung europäischer Gemeinsamkeiten, demokratischer und kultureller Werte betont. Es fällt auf, dass sich im Europakonzept zu 1994 bzw. vor allem zu 1998 der CDU/CSU wenig verändert hat und sie die wirtschaftlichen und außenpolitischen Aspekte der Integration in den Vordergrund stellen und dem Nationalstaat nach wie vor hohe Handlungsfähigkeit bescheinigen, so dass in ihrem Verständnis ein „Europa der Nationen“ das Gleichgewicht zwischen Integration und nationaler Souveränität am ehesten berücksichtigt. Die SPD hingegen interpretiert die Fähigkeit des Nationalstaates, die anstehenden Probleme lösen zu können, als weitaus geringer ein als CDU/CSU, so dass sie die europäische Ebene als neue Handlungsebene für viele Politikbereiche in Betracht zieht. Während CDU/CSU die Ebenen stärker voneinander trennen wollen und wenige entscheidende Politikfelder (Wirtschaft, Außen- und Sicherheitspolitik etc.) auf der supranationalen Ebene ansiedeln wollen, plädieren die Sozialdemokraten für eine Einbeziehung weiterer Politikfelder (Beschäftigung, Soziales, Umwelt) auf der europäischen Ebene. In der SPDProgrammatik lässt sich von 1994 bis 2002 eine wesentliche programmatische Europäisierung (im Sinne einer Ausweitung und Aufwertung der Europathematik) erkennen. Wie bereits erwähnt, scheint das Europathema bei der SPD auch eine gewisse Kluft zwischen dem Sozialstaats- und dem Gesellschaftskonzept überwinden zu sollen, während bei der CDU/CSU keine grundlegenden Veränderungen beobachtbar sind. Interessant ist jedoch, dass auf der Ebene der Sozialstaatsframes zwischen den Parteien eine Annäherung zu verzeichnen ist, während über den Gesellschaftsframe hin zum Europaframe die programmatischen Divergenzen zwischen den Parteien hingegen zunehmen. Sozialstaatlicher Mikroframe 2005 Die sozialpolitische Programmatik der SPD von 2005 ist ganz im Kontext der Agenda 2010 angesiedelt, die „die richtige politische Antwort auf globales Wirtschaften und das Älter-
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werden unserer Gesellschaft“ sei.619 Die Agenda 2010 – ein Konzept zur Reformierung des deutschen Systems sozialer Sicherheit und des Arbeitsmarktes – wird nicht nur als eine notwendige, sondern auch als eine erfolgreiche Anpassungsleistung an die gewandelten sozio-ökonomischen Bedingungen620 dargestellt. Ziel der Sozialdemokraten sei eine „Soziale Demokratie“, die den Herausforderungen und Realitäten der Zeit gewachsen ist. Dafür bedürfe es vor allem der Schaffung von Arbeit, da diese den Lebensunterhalt sichere, Selbstverwirklichung sicherstelle, Wohlstand schaffe und Teilhabe an der Gesellschaft ermögliche.621 Hierbei betont die SPD jedoch, dass die Schaffung von Arbeitsplätzen zu allererst eine Aufgabe der Unternehmen sei und der Staat nur die Rahmenbedingungen so setzen könne, dass die Unternehmen wettbewerbsfähig sind und dadurch mehr Arbeitsplätze zur Verfügung stellen. Diese „angebotspolitischen Maßnahmen“ setzen somit in erster Linie auf den Markt für die Schaffung von Arbeitsplätzen, indem über eine Anreizpolitik die Unternehmen zu Investitionen ermutigt werden, was neue Beschäftigung bringe. So heißt es im Programm zum Beispiel: „Die Schaffung neuer Arbeitsplätze ist vorrangig die Aufgabe der Unternehmen. Wir sorgen dafür, dass sie wettbewerbsfähig sind, was Steuern und Abgaben angeht. Wir haben mit unserer Gesetzgebung die Lohnnebenkosten (Renten- und Krankenversicherung) gesenkt. Die Unternehmen sind in der Pflicht.“622
Als ein weiterer essentieller und abzuschließender Reformschritt wird der Umbau der Bundesanstalt für Arbeit (BA) zu einem „modernen Dienstleister am Arbeitsmarkt“ ausgeführt. Dabei geht es vor allem um eine schnelle und effektive Reintegration in den Arbeitsmarkt von Arbeitssuchenden und Sozialhilfeempfängern. Letztere werden durch eine Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe (Hartz IV) in die Fördermaßnahmen für Arbeitssuchende eingegliedert.623 Unter den konkreten beschäftigungspolitischen Maßnahmen werden Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen, ein Ausbildungspakt für junge und alte Menschen und Lohnkostenzuschüsse für ältere Arbeitnehmer genannt. Der Boom von MiniJobs und Ich-AGs führt die Liste an und wird als Erfolgsweg gewertet, der weiter ausgebaut werden müsse. Neben den Fördermaßnahmen wird das Prinzip des Forderns betont, wenn es heißt: „Wer trotz Hilfen und Förderung nicht den angestrebten Arbeitsplatz findet, muss auch bereit sein, eine andere Arbeit anzunehmen. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass Deutschland bei hoher Arbeitslosigkeit in bestimmten Berufen in hohem Maß auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – oft saisonal – aus dem Ausland angewiesen ist.“ 624
Hierbei kann durchaus von einer Verschärfung der Aktivierungsstrategie hin zu einer „harten Aktivierung“ gesprochen werden, was in dieser Klarheit erstmals (seit 1994) in der 619
SPD BTWP (2005:5) Darunter fallen z. B. der zunehmende internationale wirtschaftliche Wettbewerb im Rahmen der Globalisierung (Entwicklung hin zu einer wissensbasierten Dienstleistungsökonomie), die veränderten Produktionstechniken im Zuge neuer Technologien und damit auch die veränderten Arbeitsbedingungen, der demographische Wandel. 621 SPD BTWP (2005:18) 622 SPD BTWP (2005:18) 623 Zudem wird betont, dass Sozialhilfeempfänger dadurch auch kranken- und pflegeversichert sind und die Möglichkeit bekommen, eine Alterssicherung aufzubauen (5€/ Monat). SPD BTWP (2005:19) 624 SPD BTWP (2005:20) 620
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sozialdemokratischen Programmatik zu finden ist. Generell setzt die SPD jedoch sowohl auf harte als auch weiche Aktivierung, indem sie einerseits mit den Hartz-Reformen Leistungskürzungen bei der Arbeitslosenunterstützung vornimmt und das Zumutbarkeitsprinzip für die Arbeitsaufnahme verschärft, andererseits aber auch weiterhin auf Qualifizierung, Fort- und Weiterbildung als beschäftigungspolitisches Mittel im Sinne einer weichen Aktivierung setzt.625 Allerdings wird bei der Darstellung der beschäftigungspolitischen Maßnahmen der harten Aktivierung mehr Platz eingeräumt, die bildungspolitischen Maßnahmen werden erst in einem späteren Kapitel ausgeführt. Im Bereich der Lohnpolitik wird die lohnpolitische Zurückhaltung der vorhergehenden Jahre gewürdigt, nun aber die Beteiligung der Arbeitnehmer am wirtschaftlichen Erfolg in den Vordergrund gerückt: „In den zurückliegenden Jahren haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland erhebliche Opfer gebracht und einen Beitrag zur Stärkung der deutschen Wirtschaft geleistet. Um Arbeitsplätze nicht zu gefährden und die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Unternehmen zu sichern, haben Gewerkschaften und Belegschaften Erhöhungen der Arbeitszeit akzeptiert, flexiblen Arbeitszeitmodellen zugestimmt und sich mit sehr moderaten Lohn- und Gehaltserhöhungen begnügt. Das war notwendig und es hat sich gelohnt. Aber generell muss gelten: Die Beschäftigten haben einen Anspruch auf eine gerechte Beteiligung am wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmen und Branchen. Gute Arbeit muss gerecht entlohnt werden. Jeder Mensch muss die Möglichkeit zur Teilhabe an einer sozial abgesicherten und Existenzsichernden Erwerbsarbeit haben.“626
Die Tarifvertragsparteien werden zudem aufgefordert, bundesweit einheitliche tarifliche Mindestlöhne einzuführen. Wenn dies nicht geschehe, würde die Regierung tätig werden, dies vor allem aufgrund der Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes. Auch will die SPD mit Hilfe einer Taskforce gegen Sozial- und Lohndumping vorgehen, wozu auch die Ablehnung des Herkunftslandprinzips im Rahmen der europäischen Dienstleistungsrichtlinie zählt.627 Darüber hinaus wird der Erhalt wichtiger Arbeitnehmerrechte garantiert, wie der Kündigungsschutz, faire Befristungsregeln, das Recht auf die Wahl einer betrieblichen Interessenvertretung sowie ein moderner Arbeitsschutz und ein klares Bekenntnis zum Modell der Mitbestimmung und der Tarifautonomie abgegeben. Die beschäftigungspolitische Einordnung der SPD lässt sich im 2005er Programm am Besten mit dem Konzept des „Dritten Weges“ fassen628, das eine Verbindung von sozialdemokratischen (nach dem Analyseraster auch sozialistischen) einerseits und von liberalen Elementen andererseits vorsieht, was sich vor allem in der Verbindung von Rechten und Pflichten ausdrückt. Sozialpolitisch (i.e.S.) stehen die Renten- und die Gesundheitspolitik im Vordergrund. In der Rentenpolitik soll die gesetzliche Rentenversicherung die „wichtigste Säule“ bleiben, zugleich sollen betriebliche und private Altersversorgung weiter gestärkt werden. Eine 625
Diese Kürzungen werden zwar nicht im Programm ausdrücklich genannt - es wird lediglich auch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe verwiesen -, doch steht hinter diesen Reformen der Gedanke einer notwendigen Veränderung bei den Bezugsbedingungen von Transferleistungen, die letztlich einer „harten Aktivierungspolitik“ entsprechen. Für die Bedeutung von Bildung als wichtige Ressource, um Chancen am Arbeitsmarkt zu haben, s. SPD BTWP (2005:.21f.) 626 SPD BTWP (2005:23) 627 Ebd. 628 Vgl. Giddens (1999)
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Kürzung der Renten wird abgelehnt und das Eintrittsalter soll möglichst dem gesetzlichen Alter von 65 entsprechen.629 Ferner wird eine Verbindung der sozialen und der privaten Pflegeversicherung angestrebt hin zu einer Pflege-Bürgerversicherung, so dass alle Bürger an der Finanzierung der Pflegeversicherung teilnehmen. In der Gesundheitspolitik bekennt sich die SPD zum solidarischen Gesundheitssystem, wobei sie Solidarität als wechselseitige „Rücksichtnahme“ beschreibt, so dass diejenigen, die Hilfe brauchen, auch welche bekommen. Dabei müsse jedoch auch auf diejenigen Rücksicht genommen werden, „die die Hilfe finanzieren und garantieren“.630 Die Gesundheitsreform habe die gesetzliche Krankenversicherung zukunftsfähig gemacht und als nächster Schritt müsse die Sicherung der langfristigen Finanzierung begonnen werden. Folglich soll die Krankenversicherung zu einer Bürgerversicherung weiterentwickelt werden, wobei jedoch das Nebeneinander von gesetzlichen und privaten Kassen beibehalten wird. Dies, so die Begründung, sichere den gesellschaftlichen Zusammenhalt und sei gerechter, da jeder Bürger seiner Leistungsfähigkeit entsprechend an der Finanzierung beteiligt sei und seinem Bedarf entsprechen medizinisch versorgt würde. Mit dem Slogan „Arbeit hat Vorfahrt“631 präsentieren CDU/CSU ihren programmatischen Schwerpunkt in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik. Dabei soll mehr Beschäftigung fast ausschließlich über Wirtschaftswachstum erreicht werden, indem ein günstiges Unternehmensklima geschaffen wird. Eingerahmt wird dies mit dem Satz: „Sozial ist, was Arbeit schafft“632, wonach anschließend die Innovationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, die Förderung von Spitzenforschung und Exzellenzinitativen als auch die Senkung von Lohnnebenkosten sowie die Flexibilisierung und Deregulierung des Arbeitsmarktes thematisiert werden. Als primäre Herausforderung wird dabei der verschärfte internationale Wettbewerb angegeben, bei dem Deutschland Konkurrenz aus Osteuropa, China und Indien zu fürchten hätte. Ein flexibler Arbeitsmarkt wird damit auch als eine neue Chance für Arbeitnehmer verstanden, so dass als Maßnahmen genannt werden: weniger Regulierung, längere Arbeitszeiten, ein flexibler Kündigungsschutz, eine „Ausweitung“ des Günstigkeitsprinzips im Tarifvertragsgesetz633, die Möglichkeit, mehrere befristete Beschäftigungsverhältnisse hintereinander einzugehen, die Senkung der Lohnnebenkosten und des Arbeitslosenversicherungsbeitrages (dafür aber Anhebung der Mehrwertsteuer), die Möglichkeit der Ausweitung von Teilzeitbeschäftigung, des Einsatzes von Kombi-LohnModellen sowie die Abschaffung der Ich-AG. Im Rahmen der Arbeitslosenversicherung wird die Beitragsbezogenheit unterstrichen, da es gerechter sei, dass derjenige, der länger einzahle, auch mehr raus bekomme.634 CDU/CSU stimmen im Wesentlichen den Hartz IV Reformen zu und wollen lediglich die Umsetzung optimieren. Erneut sprechen sich die Christdemokraten gegen Mindestlöhne aus. Mit Blick auf die Sozialpartnerschaft wird von 629
Mit Optimismus heißt es dazu„Wenn die Wirtschaft wächst, Einkommen und Beschäftigung steigen, werden auch in Zukunft die Rentnerinnen und Rentner daran teilhaben.“ SPD BTWP (2005:36) SPD BTWP (2005:36) 631 CDU BTWP (2005:8) 632 CDU BTWP (2005:11) 633 CDU/CSU wollen ermöglichen, dass vom Tarifvertrag abweichende Vereinbarungen zur Arbeitsplatzsicherung oder zum Beschäftigungsaufbau zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber mit einer Zustimmung des Betriebsrates und 2/3 der Belegschaft möglich ist. Prinzipiell kann in solchen Vereinbarungen eine Aufweichung der Tarifautonomie gesehen werden. Mitunter können solche Vereinbarungen für den individuellen Arbeitnehmer ein Vorteil sein (da er dann nicht den Arbeitsplatz verliert), kollektiv betrachtet schwächen sie jedoch die Stellung der Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber. 634 CDU BTWP (2005:13f.) 630
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einer „Erneuerung und rechtliche[n] Weiterentwicklung“ gesprochen. Darunter wird eine „neue Balance von Flexibilität und Sicherheit“ verstanden, „beispielsweise durch befristete Einstellung von Arbeitsteams für spezielle Produkt- und Verfahrensentwicklungen, wobei die Mitarbeiter aufgabenbezogen am Gewinn beteiligt werden.“635 In der Programmatik von CDU/CSU wird die Verfolgung einer liberalen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik deutlich. Dem Staat kommt es lediglich zu, günstige Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu schaffen. Der Begründungsrahmen, wonach Deutschland im internationalen Vergleich wieder eine bessere Position einnehmen müsse, zeigt ebenfalls, dass das Denken primär durch Leistungs- und Konkurrenzdenken geprägt ist. Der positive Bezug auf die Hartz IV-Reformen lässt vor dem Hintergrund der anderen Aussagen vermuten, dass hier vor allem die Verschärfung der Bezugsbedingungen und die schnelle Reintegration befürwortet werden. Die Verbindung dieser Maßnahmen mit einem Ausbau von Weiterbildungs, Fort- und Qualifizierungsmaßnahmen wird von CDU/CSU scheinbar nicht mit vollzogen, da im Programm keine Rede von Investitionen in die Qualifizierung der Arbeitssuchenden ist. Dies verwundert, hatten CDU/CSU doch im 2002er Programm noch Bildung als wichtige Quelle zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit betont. In ihrem Programm von 2005 rutschen CDU/CSU im Bereich der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik weiter nach rechts, so dass eine eindeutige liberale Ausrichtung zu konstatieren ist. Nur die Betonung eines Festhaltens an der Beitragsbezogenheit in der Arbeitslosenversicherung ist typisch für konservativ-chrisdemokratische Wohlfahrtsstaaten wie Deutschland.636 Mit Blick auf den Sozialstaat – im engeren Sinne – sprechen sich CDU/CSU für „Schutz und Sicherheit vor großen Lebensrisiken“637 aus, was zunächst einmal an ein liberales sozialstaatliches Grundmodell erinnert. Ähnlich wird in der Gesundheitspolitik argumentiert, „was medizinisch notwendig ist, muss im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung für alle Versicherten – unabhängig von Alter, Gesundheitszustand oder finanzieller Leistungsfähigkeit – erbracht werden.“638 Dabei wird das Modell der „solidarischen Gesundheitsprämie“ als Lösung der gesundheitspolitischen Reformnotwendigkeit angeboten. Dies sichert eine solidarisch finanzierte Grundversorgung, alles darüber Hinausgehende wird dann im Rahmen von Zusatzleistungen individuell abgesichert. Hier wird erneut das unterschiedliche Wettbewerbsverständnis von CDU/CSU und SPD im Rahmen einer gesundheitspolitischen Zukunftskonzeption deutlich (vgl. sozialstaatlicher Mikroframe 2002). Im Bereich der Rentenpolitik wollen CDU/CSU wie SPD die private und betriebliche Altersvorsorge stärken. Zudem soll das Renteneintrittalter auf lange Sicht erhöht werden. Darüber hinaus gibt es keine nennenswerten sozialpolitischen Äußerungen im Programm von CDU/CSU 2005, da hier Arbeitsmarktpolitik als die beste Sozialpolitik präsentiert wird („Sozial ist, was Arbeit schafft“). Eingerahmt werden solche Aussagen damit, dass der Staat sich auf seine Kernaufgaben konzentrieren sollte.639 Damit einher geht die Forderung nach mehr Eigenverantwortung und Eigeninitiative.640 635
CDU BTWP (2005:17) Das Festhalten am etablierten System ist aber weder für CDU noch SPD verwunderlich, wäre ein Pfadwechsel doch mit großen finanziellen Belastungen und Risiken verbunden und sicherlich auch schwer politisch vermittelbar, sofern kein starker äußerer Problemdruck dafür herrscht ( z. B. im Rahmen so genannter critical junctures, vgl. weiter oben) 637 CDU BTWP (2005:10) 638 CDU BTWP (2005:30) 639 Die Kernaufgaben werden zwar nicht explizit benannt, jedoch lassen anhand des Programms insbesondere der Bereich der Inneren Sicherheit, der Außenpolitik und der Steuer- und Finanzpolitik ableiten. Letzteres vor allem, 636
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Beide Parteien, sowohl CDU/CSU als auch SPD, setzen bei ihren Deutungsangeboten hinsichtlich der gesellschaftlichen Probleme von Arbeitslosigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und der Reformierung der sozialen Sicherungssysteme mehr als zuvor auf liberale Konzepte. Während die SPD diese jedoch mit sozialdemokratischen Politikstrategien verbindet, geben CDU/CSU eine konsequent „neoliberale“ Interpretation für die Lösung der anstehenden Aufgaben. Vor dem Hintergrund der durchgeführten Hartz-Reformen, wird deutlich, dass die SPD in ihrem Programm von 2005, welches ja zwei Jahre nach der Verabschiedung der Agenda 2010 herauskam, die Veränderungen ihrer Politik eher vage umschreibt als deutlich anspricht. Vergleicht man das Programm mit der Agenda 2010-Rede von Bundeskanzler Schröder (2003), wird ersichtlich, dass sich die SPD schwer tut, sozialpolitische Einschnitte auch im Wahlprogramm deutlich zu benennen. Lediglich einmal wird klar formuliert, dass Arbeitssuchende die Pflicht haben, nach einer gewissen Zeit auch eine nicht gewünschte Beschäftigung anzunehmen. Ansonsten durchzieht das Programm ein gewisser Spannungsbogen zwischen traditionellen Wertbezügen und sozialdemokratischem Anspruch einerseits und den als notwendig erachteten Veränderungen und Einschnitten andererseits. Vergleicht man die Positionen von CDU/CSU und SPD, wird deutlich, dass bei der SPD ein latenter Wertekonflikt schwelt, der zwischen den Polen Solidarität und Gleichheit einerseits und Wettbewerb und Eigenverantwortung andererseits verankert werden kann. So lässt sich erneut gewissermaßen ein Spannungsverhältnis im Sozialstaatsframe der Sozialdemokraten erkennen, wenn sie ihren sozialdemokratischen Anspruch mit der als notwendig erachteten Reformierung der Sozialsysteme und den damit verbundenen Einschnitten in Einklang zu verbringen suchen. Bei den Christdemokraten hingegen wird kein Wertekonflikt spürbar, sie präsentieren ihr liberales Programm ohne Umschweife. Nationaler Gesellschaftsframe 2005 Der von CDU/CSU präsentierte Gesellschaftsframe entspricht in weiten Teilen dem christdemokratischen Modell, so zum Beispiel wenn die Familie gegenüber anderen Formen des Zusammenlebens besonders hervorgehoben wird und der Schutz der Ehe als ein besonderes Anliegen der Partei Erwähnung findet.641 Dabei wird auch der Familie bei der Gewährung von gleichen Bildungschancen für alle Kinder eine wichtige Rolle eingeräumt, wenn es heißt: „Gleiche Bildungschancen für alle Kinder verlangen ein familienfreundliches Klima in unserer Gesellschaft, das Eltern bei der frühkindlichen Erziehung stärkt und ermutigt.“642
Die Unterstützung von Familien soll primär über monetäre (steuerliche) Erleichterungen (Erhöhung von Grundfreibetrag, Kindergrundfreibetrag, Kinderbonus auf Rente etc.) erreicht werden. Darüber hinaus soll zudem ein Ausbau der Kinderbetreuungsplätze vorgenommen werden, um eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen. um einen attraktiven Unternehmensstandort zu sichern, was Wachstum sichere. Wirtschaftswachstum kommt in dem Programm eine absolute Schlüsselstellung bei der Lösung der Zukunftsuafgaben zu. Vgl. CDU BTWP (2005:8) 640 Vgl. CDU BTWP (2005:8) 641 CDU BTWP (2005:27) 642 CDU BTWP (2005:27)
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Mit dem Slogan: „Zuwanderung begrenzen, Integration stärken“ verfolgen CDU/CSU ein Integrationskonzept, dass eher einer geschlossenen Gesellschaft entspricht, die nicht nur die Rechtsordnung zur Grundlage für die Integration macht, sondern auch eine gewisses Ausmaß an kultureller Assimilation erwartet. Als staatliche Maßnahmen werden einmal eine Verschärfung des Zuwanderungsgesetzes dahingehend anvisiert, dass „Zuwanderung in den Arbeitsmarkt nur auf Mangelberufe und auf Ausländer begrenz[t] [wird], die in Deutschland Spitzenleistungen in Wissenschaft und Forschung, Wirtschaft und Kultur beitragen können.“643 Des Weiteren sollen Integrationskurse rechtlich verpflichtend werden. Die Integrationsproblematik von CDU/CSU wird so geframed, dass vor allem die Verantwortung der Immigranten sich in die Gesellschaft zu integrieren herausgestellt wird, von deutscher Seite sollte folglich primär über das Prinzip „Fordern“ und „Begrenzen“ agiert werden. Das Gesellschaftskonzept von CDU/CSU beruft sich überwiegend auf eher konservative Werte wie Sicherheit, Verlässlichkeit und Gemeinschaft. Ebenso geben CDU/CSU ein Bekenntnis zum christlichen Menschenbild, sprechen vom „Vaterland“ Deutschland als Kulturnation und heben die Bedeutung der kulturellen Identität erneut hervor. Zum Beispiel heißt es zu Beginn des Programms: „Wir wollen ein Deutschland, in dem die Menschen füreinander einstehen und jeder sich darauf verlassen kann, dass eine starke Gemeinschaft Schutz und Sicherheit vor großen Lebensrisiken und vor inneren und äußeren Gefahren bietet. Wir wollen, dass die Menschen wieder stolz auf ihr Vaterland sein können.“
Im Gegensatz dazu treten im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik (i.w.S.) stärker die liberalen Werte wie Freiheit, Eigenverantwortung und Leistung in den Vordergrund. Dies lässt sich auch an der Rolle des Staates nachvollziehen, dem in gesellschaftlichen Fragen (Innere Sicherheit, Kriminalitätsbekämpfung) eine starke Rolle eingeräumt wird, in Wirtschafts- und Sozialpolitik eher eine geringe Rolle zugewiesen wird, so zum Beispiel indem der Staat den Markt ermöglichen aber nicht weiter in ihn eingreifen soll oder in der Sozialpolitik zwar die Grundsicherung solidarisch für alle gewährleistet bleiben, aber darüber hinaus die Eigenverantwortung gestärkt werden soll. Die SPD benennt ihr Gesellschaftskonzept als eine offene Teilhabegesellschaft. Teilhabechancen werden dabei primär über Bildung definiert, so dass sich die SPD für mehr Chancengerechtigkeit bei der Bildung einsetzt, indem sie gleiche Bildungschancen für alle Kinder herstellen, die frühkindliche Erziehung fördern, das Angebot an Ganztagsschulen ausbauen und das Erststudium ohne Studiengebühren sichern wollen. Wie die CDU/CSU spricht sich auch die SPD für eine bessere Unterstützung der Familien aus, dabei setzt sie jedoch weniger auf indirekte Maßnahmen (Steuererleichterungen), sondern stärker auf die direkten monetären Transfers (Elterngeld) oder die Einrichtung von Eltern-Kind-Zentren. Bei der Beschreibung der „offenen Gesellschaft“ hat sich die Position der Sozialdemokraten jedoch im Gegensatz zu 2002 etwas verändert, indem sie nun auch stärker steuernde und begrenzende Maßnahmen betont als zuvor. Auch hebt sie die Notwendigkeit des Erlernens der deutschen Sprache – insbesondere für Immigrantenkinder hervor –, setzt sich für islamischen Religionsunterricht ein (in deutscher Sprache), für die Gleichberechtigung von
643
CDU BTWP (2005:39)
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Mann und Frau und gegen Zwangsheirat.644 Sie spricht also ganz ähnliche Themen an wie die CDU, deutlich wird dabei jedoch, dass sie die Rolle des Staates und der Gesellschaft zur Integration der Ausländer hervorhebt, also das Fördern stärker betont als das Fordern. An diesen Beispielen wird deutlich, dass das Gesellschaftskonzept der SPD primär ein politisch-rechtliches und weniger ein kulturelles ist und dem Staat nach wie vor eine wichtige regulierende und aktivierende Funktion zuerkannt wird. Gesellschaftliche Solidarität wird dabei primär als Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit auf der Grundlage eines umfassenden Gleichheitsanspruchs konzipiert. In den Gesellschaftsframes der beiden Parteien kommt erneut die klassische Links-Rechts-Differenzierung zwischen konservativ (CDU/CSU) und sozialliberal/garantistisch (SPD) zum Vorschein. Europäischer Frame 2005 Das Europa-Framing der beiden Parteien weist 2005 keine besonderen Positionsverschiebungen der Parteien auf, so dass hier nur auf ein paar wesentliche Unterschiede zu 2002 und 1998 eingegangen werden soll. Bei der SPD fällt vor allem auf, dass Europa in der Gesamtprogrammatik nicht mehr den Stellenwert einnimmt wie 1998 und vor allem 2002. Was die Gründe dafür sein können, kann hier nur vermutet werden. So könnten die schwierigen Verhandlungen im Rahmen von Nizza als auch die bevorstehende Osterweiterung zu einer gewissen Ernüchterung bei den europapolitischen Hoffnungen der Sozialdemokraten geführt haben. Zudem war im Rahmen der Agenda 2010 nicht nur die öffentliche Kritik an der rot-grünen Koalition gestiegen, sondern auch die Partei in eine schwere Krise geraten, so dass vermutet werden kann, dass vor diesem Hintergrund nationalen Fragen ein höherer Stellenwert eingeräumt wurde. So firmiert Europa wieder hauptsächlich am Ende des Programms, unmittelbar vor weiteren Erörterungen zur Außenpolitik. Inhaltlich ist ein erneutes klares Bekenntnis zu einem Europa vorhanden, dass sich auf die Werte Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Gleichberechtigung stützt. Zudem sprechen sie sich für den Verfassungsvertrag aus, der als eine „in Menschenrechten gründende, demokratisch legitimierte[…] Grundlage für die zukünftige Arbeit“ der Union stehe. Trotz der Abstimmungsniederlagen in Frankreich und den Niederlanden sprechen sich die Sozialdemokraten für diesen Verfassungsvertrag aus, da dieser den demokratischen Charakter und die Arbeitsfähigkeit der Union stärke.645 Darüber hinaus wird der Erhalt des europäischen Gesellschafts- und Sozialmodells als die Sicherung von „Teilhabe am Haben und Sagen in einer Gesellschaft und am gemeinsam erarbeiteten Wohlstand“646 gefordert. Das Europäische Gesellschafts- und Sozialmodell zeichnet sich nach der Definition der SPD durch eine aktive Rolle des Sozialstaates aus, der einen freien Zugang zu öffentlichen Gütern bietet. Insofern geht es primär um den Erhalt der nationalen Sozialstaaten in einem gemeinsamen Europa, wobei dafür eine abgestimmte wirtschafts- und beschäftigungspolitische Initiative notwendig sei. Darüber hinaus spricht sich die SPD für eine Erweiterung um Rumänien, Bulgarien und die Türkei aus, wobei dies
644
Zudem wird die Rolle der Frau und ihre Integration ins Arbeitsleben als wichtiger Bestandteil im „interreligiösen Dialog“ betont. 645 SPD BTWP (2005:40) 646 Ebd.
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vor allem damit begründet wird, dass die EU als ein verlässlicher Partner zu seinen Beitrittszusagen stehen müsse.647 Auch CDU/CSU geben wieder ein klares Bekenntnis zu Europa als Schlüssel zu Frieden, Freiheit und Wohlstand ab. Mit Europa verbinden sie jedoch auch Zentralismus und zu viele Kompetenzen auf supranationaler Ebene, die wieder zurückgeholt werden sollen.648 CDU/CSU sehen den Verfassungsvertrag als gescheitert an und wollen zumindest die Grundrechtscharta, die Kompetenzabgrenzung, die Einbeziehung der nationalen Parlamente wie auch die Bestimmungen zur Außenpolitik retten. Hieran wird deutlich, dass CDU/CSU nach wie vor für ein „Europa der Nationen“ plädieren und vor allem eine Beschränkung und Kontrolle europäischer Politik verfolgen. Der kulturelle Nationenbezug wird z. B. in der Ablehnung einer Türkei-Mitgliedschaft erneut deutlich, da ein Beitritt der Türkei in eine Überforderung der Integrationsfähigkeit der Europäischen Union münden würde. Dies scheint paradox, da zuvor für weniger Integration (Rücknahme von Kompetenzen, Stärkung der nationalen Ebene) geworben wurde. Hier kann angenommen werden, dass mit der Integrationsfähigkeit insbesondere eine kulturelle Überforderung gemeint ist. Hinsichtlich der Aufnahme weiterer Länder wird vor allem auf die Beitrittsreife als ausschlaggebendes Merkmal für die Zustimmung verwiesen. Erwähnung findet auch die Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland im Rahmen der EU sowie die Auffassung, dass Europäische Identität nicht in Abgrenzung, sondern nur in Partnerschaft zu den USA gedacht werden kann. Europäische Integration in der Vorstellung von CDU/CSU sollte demnach einen gemeinsamen Markt, gemeinsame kulturelle und politische Werte umfassen und primär intergouvernemental ausgestaltet sein. Während sich bei CDU/CSU in der Europakonzeption nichts Wesentliches ändert, kann für die SPD festgehalten werden, dass sie sich weniger Europa-euphorisch in ihrem 2005er Programm zeigt als noch 2002. Inhaltlich rückt die SPD kaum von ihren bisherigen europäischen Positionen ab, allerdings präzisiert sie ihr Verständnis des europäischen Sozialmodells dahingehend, dass sie es primär im Sinne einer Reformierung der nationalen Systeme begreift, welche – so schwingt es mit – als wesentliches europäisches Identitätsmerkmal bewahrt und zukunftsfest gemacht werden müssen. Während in der Programmatik von 1998 und 2002 das Verhältnis von europäischer und nationaler Ebene zur Bewahrung bzw. Schaffung des Europäischen Sozialmodells weitgehend unpräzisiert bleibt und der Anschein entsteht, die europäische Ebene würde als „neuer Ort“ für die Sicherstellung sozialer Errungenschaften an Bedeutung gewinnen, findet sich im Programm von 2005 eine stärkere Fokussierung auf die nationale Ebene als Ort und Garant des Europäischen Sozialmodells. Dies könnte einerseits mit den nationalen Auseinandersetzungen um die Agenda 2010 zusammenhängen, andererseits könnte auch die auf europäischer Ebene Ende der 1990er Jahren eingetretene Ernüchterung hinsichtlich einer weiteren sozialpolitischen Ausgestaltung der EU aufgrund der geringen Einigungsfähigkeit und der Hinwendung zu weichen Steuerungsmethoden mit nationalem Fokus dazu beigetragen haben.
647
Vgl. SPD BTWP (2005:40f.) Die EU-Kompetenzen sollen sich auf das Notwendigste beschränken, wobei das Subsidiaritätsprinzip als Maßstab dienen soll. CDU BTWP (2005:40). Was jedoch besser auf nationaler und was auf supranationaler Ebene geleistet werden kann, wird diesmal nicht näher genannt.
648
236
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7.3.4 Bilanz Deutschland In der Zusammenschau der Parteien und der Frames über den Unterschungszeitraum hinweg können bei beiden Parteien tendenzielle Positionsverschiebung beobachtet werden, wobei auffällt, dass diese bei der SPD wesentlich deutlicher zu erkennen sind als bei der CDU, insbesondere im Rahmen ihrer Sozialstaatsframes. Tabelle 24: Wohlfahrtsstaatliche Parteiorientierungen in Deutschland 1994-2005 Frame Partei 1994
Sozialstaat SPD
CDU/CSU
Gesellschaft SPD
CDU/CSU
Europa SPD
CDU/CSU
SozialKonservativKonservativ SozialSozialdemokraSozialKonservativ- demokratisch (gering Libedemokratischdemokratisch tisch (gering Liberal (gering Etatisral) Etatistisch National) tisch) LiberalKonservativ
Konservativ SozialSozialliberal- (gering sozi- demokratisch KonservativGarantistisch aldemokra- (stärker als National tisch) 1994)
1998
Sozialliberal
2002
SozialSozialKonservativ- demokratisch Liberal (gering demokratischKonservativLiberal- /International Sozialliberal Konservativ) Garantistisch / National National (stärker als Europäisch 1994 &1998)
2005
Sozialliberal (stärkere liberale Ausprägung als 2002)
Liberal
SozialSozialLiberalKonservativdemokratisch demokratisch- KonservativNational(gering NaGarantistisch National Liberal tional)
Quelle: Eigene Darstellung
Inhaltlich manifestiert sich dies in der Hinwendung zum Konzept eines aktivierenden Wohlfahrtsstaates, welches vor allem eine arbeitszentrierte Sozialpolitik verfolgt, indem eine höhere Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt akzeptiert und eine primär angebotsorientierte Wirtschaftspolitik betrieben wird sowie Bedürftigkeitsprüfungen eine stärkere Rolle einnehmen. In diesen Punkten haben sich die Sozialdemokraten den Positionen der Christdemokraten angenähert. Zugleich lassen sich aber auch anhaltende Unterschiede zwischen den Parteien konstatieren, die insbesondere im jeweiligen Aktivierungskonzept erkennbar sind. So betont die SPD stärker die Rolle von Bildung und Qualifizierung im Rahmen ihrer Beschäftigungspolitik, während die Christdemokraten vor allem monetäre Anreize für Unternehmen und Leistungskürzungen für Anspruchsberechtigten fordern. CDU/CSU berufen sich folglich stärker auf Konzeptionen von Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit und befürworten z. B. ein höheres Maß an Flexibilität und Deregulierung, während die SPD eher Chancen- und Teilhabegerechtigkeit zur Grundlage ihrer Politik macht und insofern stärker auf ein Flexicurity-Konzept setzt. Die Sozialstaatsframes beider Parteien müssen vor dem Hintergrund der Debatten um die Krise des Sozialstaates gelesen werden. Dabei wird die Modernisierung des Sozialstaates als entscheidende politische Herausforderung gedeutet, für die die Parteien, wenn auch ähnliche, so aber zumindest – wie aufgezeigt werden konnte
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– unterschiedlich akzentuierte Interpretationsangebote liefern. Dabei fällt zwischen den beiden Parteien eine große Nähe in den übergeordneten Wertbezügen auf (soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Sozialstaatskonsens, etc.), was zunächst einmal darauf hindeutet, dass die deutsche politische Deutungskultur in wesentlichen Grundfragen einen hohen Konsens vorzuweisen hat (mehr zum Beispiel als in Großbritannien, s. u.). Ebenfalls fällt auf, dass bei CDU/CSU zwischen den Frames und über den Zeitraum hinweg ein relativ hohes Maß an Kohärenz in ihren Positionen festzustellen ist, während es bei den Sozialdemokraten gewisse Spannungslinien zwischen ihren Frames gibt. Beispielhaft sind dafür die aufgezeigten Spannungen zwischen dem Gesellschafts- und Sozialstaatskonzept, aber auch die Verlagerung von sozialen Ansprüchen auf die europäische Ebene. Es scheint so, als ob die von beiden Parteien identifizierten Problemlagen (Globalisierung, Arbeitslosigkeit, Sozialstaatreform) eine größere Herausforderung an die Mitte-Links-Partei darstellen, da deren Politiken und Begründungen höheren normativen Ansprüchen gerecht werden müssen, so dass es zu Spannungen zwischen normativem Anspruch (z. B. Gleichheit) und pragmatischer Politik kommt. Interessanterweise spielt Europa hier für die Sozialdemokraten eine wichtige Rolle, indem es nämlich die national nicht zu lösenden Probleme bzw. vorzunehmenden Einschnitte kompensieren soll. Die Sozialdemokraten interpretieren damit die Handlungs- und Problemlösungsfähigkeit des Nationalstaates anders als die Christdemokraten. Während CDU/CSU z. B. im Rahmen ihrer Beschäftigungspolitiken mehr Verantwortung dem Individuum zu schreiben (mehr Eigenverantwortung, mehr Leistungsbereitschaft) und damit die Verantwortung des Staates eingrenzen wollen, sehen die Sozialdemokraten nach wie vor die Verantwortung des „Staates“ gegeben und verlagern die Problemlösung auf eine höhere Ebene. Hier zeigen beide Parteien ein prinzipiell unterschiedliches Verständnis davon, was der Nationalstaat leisten soll bzw. noch leisten kann. 7.4 Großbritannien 7.4.1 Politische Institutionen und sozialstaatliche Strukturen Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland – so die vollständige Bezeichnung des größten europäischen Inselstaates – ist die älteste parlamentarische Demokratie. Das politische System besitzt eine denkbar klare Grundstruktur: „a government supported by the majority party in the House of Commons can do anything“.649 Es gibt keine geschriebene Verfassung, der Unterschied zwischen einfacher Gesetzgebung und verfassungsändernder Gesetzgebung mit besonderen Mehrheiten existiert somit nicht. Es handelt sich um einen Einheitsstaat, eine vertikale Gewaltenteilung ist nicht vorgesehen.650 Dieses Prinzip der Parlamentssouveränität ist also das genaue Gegenteil des Subsidiaritätsgedankens, der z. B. in Deutschland ein wichtiges Element des Föderalismus darstellt. Die Tradition der Parlamentssouveränität widerspricht jedoch ebenso Kompetenzverlagerungen „nach oben“ auf die europäische Ebene.651 649
Budge (2002:31) Seit 1997 hat die Labour-Regierung jedoch einige Maßnahmen unternommen, um den Zentralisierungsgrad zu schwächen und insbesondere den Parlamenten in Schottland und Nordirland mehr Rechte zuzusprechen (siehe z. B. Bogdanor 2001). 651 Sturm (2004:227) 650
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Das Prinzip der Parlamentssouveränität findet seine institutionelle Übersetzung in zwei Kammern, dem direkt gewählten Unterhaus (House of Commons) und dem aus ernannten Mitgliedern bestehenden Oberhaus (House of Lords). Das Oberhaus besitzt seit 1949 nur noch ein aufschiebendes Veto von einem Jahr, so dass die wesentliche Aufgabe dieser Kammer in der Beratung gesehen werden kann. Das nach relativem Mehrheitswahlrecht in Einerwahlkreisen bestellte Unterhaus ist damit die entscheidende Kammer. Durch das Mehrheitswahlrecht existiert in Großbritannien faktisch ein Zweiparteiensystem, obschon sich in den einzelnen Wahlkreisen deutlich mehr als nur die Kandidaten zweier Parteien um den Parlamentssitz bewerben (2001 waren es durchschnittlich fünf Kandidaten pro Wahlkreis).652 Auch im Parlament sind nicht nur die Parlamentarier der Konservativen, der Labour Party und der Liberalen vertreten. 1992 gab es insgesamt acht, 1997 zehn und 2001 neun im Parlament vertretene Parteien. Durch das Wahlsystem hatte jedoch keine Partei außer den Conservatives und Labour in der Nachkriegszeit eine ernsthafte Chance, eine Regierungsmehrheit im Parlament zu erreichen: „It is therefore with the mainstream parties – Labour and Conservatives above all – that we ought to be concerned when we discuss the normal workings of politics in the United Kingdom.“653 Diese Vormachtstellung und Konkurrenz der beiden großen Parteien spiegelt auch den dominierenden Cleavage der britischen Gesellschaft wider: Arbeit vs. Kapitel oder in einem Wort ausgedrückt: Klasse.654 Die Conservative Party versteht sich als Vertreterin der Mittel- und Oberschicht, die Labour Party als Anwalt der Arbeiter- und Mittelklasse. Europapolitische Themen spielen dementsprechend eine eher untergeordnete Rolle. Während die Labour Party die euroskeptische Position der siebziger und frühen achtziger Jahre in den neunziger Jahren zugunsten einer gemäßigt europafreundlichen Position aufgab, war bei den Conservatives das Gegenteil zu beobachten: Hier hat sich die frühe integrationsfreundliche Haltung zu einer dezidiert euroskeptischen Position verändert. Steuer- und Schulpolitik waren neben dem Gesundheitssystem NHS (National Health Service) in den vergangenen Wahlen die zentralen Wahlkampfthemen. Im sozialpolitischen Bereich spielte das NHS eine besondere Rolle, die in seiner Geschichte und seinen Konstruktionsprinzipen begründet ist. Die Grundzüge des gegenwärtigen britischen Wohlfahrtstaates gehen auf den Beveridge-Report zurück. Dieser vom Politikwissenschaftler, Ökonomen und Politiker William Beveridge 1942 im Auftrag der damaligen Regierung verfasste Report sollte die Grundzüge des britischen Sozialsystems für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg umreißen. Kernbestandteil des Berichtes war ein steuerfinanziertes universalistisches Gesundheitssystem. Grundsätzlich sollten alle Sozialleistungen so ausgestaltet sein, dass sie einen minimalen Lebensstandard sicherten und keinen Rückgriff auf weitere staatliche Leistungen oder Almosen mehr nötig machten. Die Labour-Regierung setzte diesen Bericht ab 1945 in wesentlichen Teilen um. Das staatliche Gesundheitssystem NHS (National Health Service) bildet seitdem den identitätsstiftenden Kern des Sozialsystems: die Leistungen sind vergleichsweise umfassend und kostenlos. Durch unzureichende Investitionen und steigende Anforderungen (durch Alterung der Gesellschaft und technischen Fortschritt) häuften sich jedoch in den 90er Jahren die Probleme: Die Wartezeiten nahmen drastisch zu und die Qualität der Versorgung wurde zunehmend bemängelt. Im Gegensatz zum Gesundheitssys652
Vgl. Sturm (2004:241) Budge (2002:25f.) 654 Budge (2002:18) 653
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tem sind die Leistungen der Arbeitslosenversicherung bescheidener, sie liegen nur knapp über der Sozialhilfe und werden im Wesentlichen als Einheitssatz ausgezahlt (bis 1981 gab es eine einkommensabhängige Komponente). Am Aufbau der Arbeitslosenversicherung ist der liberale Grundgedanke deutlich zu erkennen: entlohnte Arbeit ist die wesentliche Einkommensquelle. Versiegt diese Quelle, wird vom Staat eine Grundsicherung bezahlt. Diese ist jedoch in der Höhe zu begrenzen, um sowohl die Kosten für die Allgemeinheit gering zu halten wie auch Anreize zur Wiederaufnahme von bezahlter Arbeit wirksam werden zu lassen. Die staatliche Altersvorsorge besteht aus einer Grundsicherung und einer einkommensabhängigen Säule, letztere war jedoch in den vergangenen 25 Jahren immer wieder Gegenstand offener und verdeckter Kürzungsmaßnahmen.655 In den Jahren der ThatcherRegierung wurden die Anreize zum opt-out – also dem Austreten aus der gesetzlichen und Eintreten in eine private Rentenversicherung – sukzessiv ausgebaut. 7.4.2 Zeithistorischer Kontext 1990 bis 2005 Die Deutungsangebote der beiden britischen Parteien, die sie in ihren Programmen geben, werden nicht nur verständlicher, wenn sie vor dem geschichtlichen Kontext – dem Erbe der Thatcher-Regierung – verortet werden, sondern auch der spätere Ländervergleich kann nur dann Aussagekraft für sich beanspruchen, wenn das jeweilige politische System wie auch der jeweilige Status quo, von dem aus die Deutungsangebote der Parteien vorgenommen werden, bei der Analyse Berücksichtigung finden. Das Jahr 1990 leitete eine politische Wende in der Geschichte Großbritanniens ein, markierte es doch das Jahr, in dem Margaret Thatcher von ihrem Amt als Premierministerin und Parteivorsitzende der Conservative Party zurücktrat. Fünfzehn Jahre lang stand die als „Eiserne Lady“ bekannte Premierministerin an der Spitze Großbritanniens. Mit ihrem politischen Stil und vor allem durch ihre (neo-)liberale Wirtschaftspolitik hatte sie einen eigenen -ismus geschaffen, den Thatcherismus, der die Politik Großbritanniens nachhaltig prägen sollte. Der Thatcherismus der 1980er Jahre war vor allem durch eine Politik der Privatisierung, der Beschränkung der Macht der Gewerkschaften, niedrige Steuern, die Einschränkung sozialer Leistungen und eine weitreichende wirtschaftliche Deregulierung gekennzeichnet. Diese primär angebotsorientierte liberale Wirtschaftspolitik, die ideologisch der freien Marktwirtschaft den Vorzug vor der sozialen Marktwirtschaft einräumte, konnte zunächst Erfolge verbuchen und den wirtschaftlichen Abwärtstrend der 1970er Jahre umkehren. Butler und Kavanagh (1992) sehen in der Politik von Thatcher eine Art Austreibung der Geister der 1970er Jahre und bilanzieren auf der Positivseite: „There were significant social changes in the 1980s; some would have happened in any event but many were assisted by Thatcher governments. They include greater prosperity for the majority in work, an impressive growth in private home owner ship and self-employment, and a steady shift of jobs from manufacturing to services (...). The 1980s belonged so clearly to the Conservative Party that some commentators claimed that Britain had one-party government.”656
655
Vgl. Pierson (1996) Butler/Kavanagh (1992:2, 4). One-party-government, dass in Großbritannien der Normalzustand ist, hat hier eher die Bedeutung eines ‚one-party-system’.
656
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Begleitet wurden diese Veränderungen von einem politischen Diskurs, der die Abhängigkeit vom Wohlfahrtsstaat (welfare state dependency) anprangerte, die Eigenverantwortung der Menschen zum Grundprinzip erhob, in den Gewerkschaften die Ursachen allen Übels sah und die Autorität des Zentralstaates nach innen und die der Nation nach außen (EU) vehement verteidigte. Der Versuch der umfassenden Durchsetzung von Marktprinzipien hingegen war nur teilweise von Erfolg gekrönt und mit den Problemen wuchs auch die Kritik an der Regierung.657 Vor dem Hintergrund von Inflation sowie hohen Zins- und Hypothekensätzen sank die Unterstützung für die Thatcher-Regierung Ende der 1980er Jahre. Aber vor allem, so Butler und Kavanagh, hatte die Regierung es nicht vermocht, die Köpfe und Herzen der Menschen mit ihrer Politik zu erobern. „Polls suggested that on the whole the British wanted a society in which the state provided welfare rather than leaving individuals to look after themselves; they preferred a managed economy rather than a free market one. Most people appeared to be relatively happy about their personal circumstances but unhappy about the state of the nation, particularly in the public sector. By large majorities they said they would prefer more state spending on public services, even if it involved higher rates of tax.”658
Der Thatcherismus war in dieser Hinsicht also an seine Grenze gestoßen, was die Conservative Party dazu veranlasste, sich von ihrer langjährigen Vorsitzenden und Premierministerin zu trennen. Ein Sieg von Labour bei den Wahlen von 1992 schien plötzlich eine reale Möglichkeit zu sein. Der Nachfolger John Major brachte einen neuen Stil mit, der verhandelnder, ruhiger und integrativer war. Major versuchte einerseits auf die Erfolge der Thatcher-Ära aufzubauen und zugleich eine eigene Agenda zu setzen, die auf die Unzufriedenheit der Menschen im öffentlichen Sektor einging. Das Erbe der Thatcher-Regierung bildete also die Hintergrundfolie der britischen Parteienprogrammatiken in den 1990er Jahren. In Fragen des Wohlfahrtsstaates hieß dies vor allem, dass unter der Regierung Thatcher (19791990) die Bedeutung des privaten Sektors im Bereich der Wohlfahrtsleistungen erheblich zugenommen hatte, so dass von einer weitgehenden „Vermarktlichung“ von Wohlfahrtsleistungen gesprochen werden kann.659 Das bedeutete, dass zum einen besonders auf private Vorsorgeleistungen (z. B. private Krankenversicherung, Sparen für die Rente etc.) gesetzt wurde und zum anderen die öffentlich finanzierten Leistungen an private oder freiwillige Wohlfahrtsanbieter abgetreten wurden. „Die so ausgestaltete Sozialpolitik förderte eine Vermischung des öffentlichen und privaten Sektors auf dem Gebiet der Wohlfahrt. Dies beinhaltete auch neue Formen der Wohlfahrtsstaatsorganisation: Märkte für öffentliche Dienstleitungen, dezentralisierte Systeme, multiple Netzwerke von Wohlfahrtsanbietern und neue Rollen für kommerzielle und freiwillige Anbieter. Insbesondere im Gesundheitsbereich wurden ‚Quasi-Märkte’ eingeführt.“660
Zudem wurden Leistungen mit Verweis auf das Ziel der Kostenkontrolle immer weiter zurückgefahren, wobei zunehmende soziale Ungleichheiten in Kauf genommen wurden. Kritisiert wurde auch an die Stellung der kommunalen Verwaltung als erste Bereitstel657
Siehe detaillierter Butler/Kavanagh (1992:10ff.) Butler/Kavanagh (1992:4) 659 Vgl. Mitton (2008:264) 660 Mitton (2008:264) 658
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lungsbehörde für Sozialfürsorge (insbesondere hinsichtlich Sozialleistungen, Bildung, Wohnungsbau) laut, was dann in der Einführung eines kundenorientierten „New Public Management“ im öffentlichen Dienst mündete.661 Das nach 1945 eingerichtete BeverdigeModell wurde somit seit den 1980er Jahren einem umfassenden Wandel unterzogen, der sich vor allem durch eine zunehmende Vermarktlichung der Wohlfahrt und den Abbau von Leistungen auszeichnete. Die Kehrseite des neoliberalen Kurses von „Monetarismus, Privatisierung, Deregulierung des Arbeitsmarktes und [einer] radikalen Begrenzung des Einflusses der Gewerkschaften“ schlug sich vor allem in einem Anstieg der Einkommensunterschiede nieder wie auch in einer starken Unterfinanzierung der öffentlichen Schulen, Krankenhäuser und Eisenbahnen.662 Ein berühmtes Zitat vom Maggie Thatcher aus dem Jahr 1987 bringt ihre Haltung hinsichtlich der Verantwortung des Staates und der Eigenverantwortung der Bürger auf den Punkt. In dem Interview nimmt sie Bezug auf die Erwartungshaltung von Menschen, der Staat müsse ihre Probleme lösen. “I think we have gone through a period when too many children and people have been given to understand" I have a problem, it is the Government's job to cope with it!" or "I have a problem, I will go and get a grant to cope with it!" "I am homeless, the Government must house me!" and so they are casting their problems at society and who is society? There's no such thing. There are individual men and women and there are families. And no government can do anything except through people, and people must look after themselves first. It is our duty to look after ourselves and then, also, to look after our neighbours."663
Die sozialstaatlichen Deutungsangebote der Parteien (insbesondere 1992 und 1997) sind vor dem Hintergrund dieses hier skizzierten Status quo des britischen Wohlfahrtsstaates zu Beginn der 1990er Jahre zu sehen664 Mit dem Regierungsantritt der Labour-Party unter Blair 1997 wurde kein sozialpolitischer Reformbruch vollzogen, vielmehr ging es Blair darum, in Form eines „Dritten Weges“ an der „Partnerschaft mir dem privaten Sektor“665 festzuhalten und sein sozialpolitisches Reformvorhaben daran anzuknüpfen. Neben der Regulierung des öffentlichen Sektors ging es ihm dabei vor allem um eine stärkere Aktivierung von Leistungsempfängern. Der Wandel der Partei von „Old“ zu „New Labour” ist auch ein Resultat der Wahlen von 1992, bei denen es nach Umfragewerten zunächst so schien, als könne Labour diese für sich gewinnen. Nachdem jedoch John Major trotz aller Prognosen die Wahl für sich entschied666, wurde der innerparteiliche Wandel zunächst unter John Smith und ab 1994 unter Tony Blair mit Nachdruck vollzogen.667 Programmatisch rückte die Partei dabei stärker in die Mitte, was sich in der Neufassung der Clause IV 1995 widerspiegelte, die von da an 661
Ebd. Petring (2006:119) 663 Interview am 23 September 1987, veröffentlicht am 31.10.1987 in Woman's Own. Dieses Zitat ähnelt einem Zitat des libertären Philosophen Robert Nozick. 664 So müssen z. B. Forderungen von Labour nach Aufstockung sozialer Leistungen oder gegen die Privatisierung vor dem Hintergrund eines in vielen Bereichen minimalen Wohlfahrtsstaates betrachtet werden. Das Mehr an Wohlfahrtsstaat, was Labour dann fordert, bedeutet nicht automatisch eine Orientierung an einem sozialdemokratischen Modell. 665 Mitton (2008:264) 666 Labour erreichte 34,4 % und die Konservativen gewannen mit 41,9 % der abgegebenen Stimmen. Vgl. Butler/ Kavanagh (1992:285) 667 Organisatorisch emanzipierte sich die Partei weitgehend von den Gewerkschaften und die Parteiführung erlangte einen Kontroll- und Machtzuwachs. Siehe dazu Petring (2006:119f.) 662
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kein Bekenntnis zur Verstaatlichung von Produktionsmitteln mehr enthielt und nicht mehr Umverteilung als primären Schlüssel für Gerechtigkeit postulierte, sondern das Prinzip der Chancengleichheit zum Maßstab der zukünftigen Politik erhob.668 Inwieweit der Dritte Weg der britischen Labour Party auch eine neue politische Philosophie oder eben nur eine pragmatische Strategie des Machbaren beinhaltete, wird kontrovers diskutiert. Im Wahlprogramm 1997 wird eher die pragmatische Interpretation bestätigt, wenn es heißt: „New Labour is a Party of ideas and ideals but not of outdated ideology. What counts is what works. The objectives are radical. The means will be modern.”669
Die Hintergrundfolie des politischen Diskurses in Großbritannien in den 1990er Jahren setzt sich maßgeblich aus dem Erbe der Thatcher-Regierung und dem „Transformationsprozess“ von Old zu New Labour zusammen. Während in Deutschland der sozialpolitische Diskurs (i.w.S.) sich vor allem mit dem Problem der Arbeitslosigkeit und der Zukunftssicherung des Sozialstaates auseinandersetzte, sind in Großbritannien – zumindest ab Mitte der 1990er Jahre – Armut (soziale Exklusion) sowie die Reformierung des Gesundheitssystems die bestimmenden sozialpolitischen Themen. 7.4.3 Analyse der parteipolitischen frames zwischen 1990 und 2005 Sozialstaatlicher Mikroframe 1992 Mit dem Slogan „The best future for Britain“ entwerfen die britischen Konservativen 1992 ein Programm, welches sich weitgehend am Thaterchismus orientiert und sich als „committed to the principle of choice, ownership, responsibility and opportunity, committed to low inflation and low taxes, comitted to better quality and value in our public services, committed to strong defence“ darstellt.670 Im Bereich der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik setzen die Tories primär auf den freien Markt, der Arbeitsplätze zur Verfügung stellt. Insofern ist Beschäftigungspolitik vor allem Wirtschaftspolitik. Als beschäftigungspolitische Maßnahme von Seiten der Regierung wird die Einrichtung der so genannten „Training and Enterprise Councils“671 (TECs) genannt, die u. a. die Organisation öffentlich finanzierter Trainingsprogramme für z. B. Arbeitslose und Jugendliche übernahmen. Primäre Aufgabe der TECs war es, die lokale Wirtschaft zu fördern und Investitionen zu akquirieren. Ferner verweisen die Konservativen vor allem auf die „Gefahren“, die eine mögliche Labour-Regierung mit sich bringen würde. Dazu zählen sie z. B. die Annahme der Europäischen Sozialcharta, eine Rücknahme des staatlichen Konfiszierungsrechts von Gewerkschaftseigentum, die Legalisierung von Sympathiestreiks oder die Rücknahme der Möglichkeit Streikende zu entlas-
668
Petring (2006:120) Labour Party Wahlprogramm (1997:1), im Folgenden LPWP abgekürzt 670 Conservative Party Wahlprogramm (1992:65), im Folgenden CPWP abgekürzt 671 Zur Definiton: “TECs (…) were government-funded bodies which aimed to foster local economic growth and development, and encourage investment. They helped businesses set up, grow and evolve, provided training and support for the unemployed and funded vocational qualifications. They also tried to co-ordinate educational provision to the future needs of local industry.” http://www.statistics.gov.uk/geography/teclec.asp (09.06.2008) 669
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sen.672 Die Tories sprechen sich somit gegen Kollektivrechte aus und betonen, dass sie unter Arbeitnehmerrechten nur diejenigen anerkennen, die den individuellen Status und die individuellen Möglichkeiten des Arbeitnehmers verbessern helfen. Ihre arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitische (wie auch bildungspolitische) Position fassen die Konservativen wie folgt zusammen: „We will continue to expand higher education and training. We will reinforce the rights of individual in the world of work and break down artificial barriers to advancement. By extending opportunity and arming people with the power to choose, we will give valuable freedoms and a powerful spur to achievement.”673
Das beschäftigungspolitische Verständnis der Tories lässt sich somit maßgeblich mit dem liberalen Konzept des “workfare” beschreiben, wonach eine Integration in den Arbeitsmarkt primär über Wirtschaftswachstum angestrebt wird. Die Regierung übernimmt dabei die Aufgabe, gute wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu setzen, so dass neue Arbeitsplätze entstehen können. Soziale Dienstleistungen im Sinne einer staatlichen Unterstützung für eine Reintegration in den Arbeitsmarkt sollen auf besonders bedürftige Gruppen (z. B. Langzeitarbeitslose) fokussiert und gewerkschaftliche Kollektivrechte abgelehnt werden, so wie generell die Macht der Gewerkschaften weiter eingedämmt werden soll. Im sozialpolitischen Bereich wollen die Tories das System der Sozialversicherung verbessern und modernisieren, indem sie die Unterstützung auf die Bedürftigsten fokussieren wollen. Als positive Leistung ihrer Regierungszeit heben sie die größere Flexibilität und Einfachheit der Leistungsstruktur hervor und betonen, dass das vorherige System zu viele Barrieren beinhaltete, die nun abgebaut seien. Primäres Ziel ist es demnach, „to provide those on social security with better incentives to earn, and gain more independence“.674 In der Rentenpolitik bekennen sich die Konservativen zur staatlichen Grundrente als Basisprinzip des Rentensystems, wollen aber ebenso die private und betriebliche Vorsorge ausbauen und Rentnern ermöglichen, einen Job zur individuellen Aufstockung ihrer Rente annehmen zu können. Der sozialpolitische Schwerpunkt liegt bei der Gesundheitspolitik, was mitunter darauf zurückzuführen ist, dass das staatliche Gesundheitssystem in Großbritannien als eine der größten Errungenschaften der Nachkriegszeit betrachtet wird und damit eine hohe Legitimität bei der Bevölkerung genießt. Dieses am Prinzip der Gleichheit orientierte Gesundheitssystem stellt für jeden Briten bei Bedarf eine kostenlose gesundheitliche medizinische Versorgung sicher. Finanziert wird das System zum überwiegenden Teil aus Steuergeldern und Sozialversicherungsbeiträgen. Das konservative Bekenntnis zum National Health System (NHS) lautet 1992: „Conservatives believe we have responsibility one for another. We will continue to care for those in need and work to establish a society that is generous, as well as prosperous. Our health, care and social security systems are fundamental to government responsibilities; and we believe strongly in fostering voluntary services too.”675
672
CPWP (1992:28) CPWP (1992:24) 674 CPWP (1992:40) 675 CPWP (1992:37) 673
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Hier wird deutlich, dass die Tories das National Health System prinzipiell bejahen, jedoch auch deutlich machen, dass zugleich ehrenamtliche Dienste ebenfalls gefördert werden sollen. 1990 hatten die Konservativen mit National Health Service & Community Care Act den Grundstein für mehr Wettbewerb im britischen Gesundheitssystem gelegt, wodurch sie eine Art gesundheitspolitischen „Binnenmarkt“ geschaffen hatten.676 Auch in der sozialpolitischen Ausrichtung (i.e.S.) der konservativen Programmatik von 1992 lässt sich eine Orientierung am liberalen Wohlfahrtsstaatstypus erkennen, indem vornehmlich ein staatlich gewährleistetes Minimalmodell an sozialer Sicherung angestrebt und die Bedeutung individueller Vorsorge als wichtiger Baustein der Sozialpolitik postuliert wird. Im gesundheitspolitischen Bereich wird zwar nicht das Grundprinzip des universellen und kostenlosen Zugangs des Bürgers zur medizinischen Versorgung in Frage gestellt, was im Grunde einer sozialdemokratischen Position gleichkommt, dafür sollte aber das System selbst an Marktprinzipien ausgerichtet und Wettbewerb als neues gesundheitspolitischen Prinzip verankert werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Programmatik der Tories nicht nur im arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitischen Bereich sondern auch in der Sozialpolitik im Großen und Ganzen als liberal bezeichnen. Bei den Wahlen von 1992 trat die Labour Party mit ihrem Vorsitzenden Neil Kinnock an und erhoffte sich aufgrund guter Umfragewerte bis kurz vor den Wahlen einen Sieg, der jedoch ausblieb. Beschäftigungs- und arbeitsmarktpolitisch legt Labour im Vergleich zu den Konservativen ein recht umfassendes Programm vor, welches unterschiedliche Maßnahmen beinhaltet: Es sollen spezielle Arbeits- und Trainingsprogramme für Arbeitslose angeboten werden677, zudem wird ein „Investitionsprogramm“ für Arbeitnehmer und gute Arbeitsbedingungen formuliert und drittens will sich Labour für eine gemeinsame Strategie gegen Arbeitslosigkeit auf europäischer Ebene stark machen. Folglich betont Labour, dass der Schlüssel für eine moderne erfolgreiche Wirtschaft in gut ausgebildeten Arbeitkräften und guten Arbeitsbedingungen liege. „Britains’s future must be high skill, high wage and high tech. Two things are needed: a training revolution to modernise people’s skills, and rights for employees to fair treatment at work.”678
Konkret soll Arbeitslosen eine Palette von Trainings- und Arbeitsmöglichkeiten angeboten werden, mit der Zielvorgabe dass jedem, der länger als sechs Monate arbeitslos ist ein Job oder ein Trainingsangebot offeriert werden kann. Zur besseren Qualifizierung von Arbeitnehmern sollen mittlere und große Unternehmen auf Weiterbildungsmaßnahmen verpflich-
676
Auf der Grundlage des 1990 verabschiedeten “National Health Service and Community Care Act” wurde der Gesundheitsmarkt (internal market) bis 1993 in Großbritannien stufenweise umgesetzt, wodurch mehr Wettbewerb entstehen und die Effizienz des Gesundheitssystems gesteigert werden sollte. Auch die Wahlmöglichkeit der Patienten und die Qualität der Leistungen sollten sich verbessern. Tatsächlich kam es jedoch zu einer Kostenexplosion, zu hohen Verwaltungskosten, Versorgungslücken und einer Ungleichbehandlung von Patienten (Lippek 2004). Andere Autoren betonen, dass der angestrebte internal market nie wirklich erreicht wurde, da „ein Markt auf dem sich ein Nachfrager und ein Anbieter gegenüberstehen […] eben im eigentlichen Sinne kein Markt [ist].“ Geer (2006:498) 677 Dazu heißt es: „Housing investment will generate jobs. We will also establish a work programme combining three days a week for the unemployed – paid to proper rate – with two days’ training and job seeking. This will benefit the community and ensure unemployed people are offered a range of employment and training opportunities.” LPWP (1992:5) 678 LPWP (1992:10)
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tet werden, um ihren Beitrag zur lokalen und nationalen Weiterbildungsoffensive zu leisten. Dazu heißt es: „Training will be a real partnership between government and industry, not an excuse to shift all the burden onto employers.“679
Hieran ist zu erkennen, welche Rolle Labour der Regierung bei der Arbeitslosenbekämpfung zuerkennt. Zwar machen sie deutlich, dass wirtschaftlicher Aufschwung entscheidend für die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Wettbewerbsfähigkeit von Großbritannien ist, doch sehen sie im Unterschied zu den Konservativen die Verantwortung der Regierung darin, Qualifizierungs- und Aktivierungsprogramme auch umzusetzen und es nicht den Unternehmen allein zu überlassen, solche Programme ins Leben zu rufen. Der Staat soll demnach eine fördernde und koordinierende Funktion im Sinne einer aktiven Arbeitsmarktpolitik übernehmen. Deutliche Unterschiede zur Conservative Party ergeben sich auch hinsichtlich der Betonung von Arbeitnehmerrechten und bei der Gewerkschaftspolitik. Zwar betont Labour, dass keine Rückkehr zur Gewerkschaftsgesetzgebung der 1970er Jahre vollzogen werden soll, sie sich aber für „a fair framework of law for both employers and unions“ einsetzen werde. Hinsichtlich Picketing, Solidaritäts- und politischer Streiks will Labour die Regelungen der Konservativen, maßgeblich die geheime Urabstimmung vor Streiks, beibehalten.680 Individuelle Arbeitnehmer sollen jedoch in keinerlei Weise schlechter gestellt sein als Arbeitnehmer im restlichen Europa. Dies verbindet sich mit der Absicht der britischen Sozialdemokraten, der europäischen Sozialcharta beitreten zu wollen. Folglich sprechen sie sich für einen umfassenden Arbeitnehmerschutz am Arbeitsplatz aus, gegen Antidiskrimminierung, für die gleiche Rechtslage von Arbeitnehmern, die Vollzeit, Teilzeit, Übergangsweise oder dauerhaft angestellt sind und für das Beratungs- und Informationsrecht von Arbeitnehmern. Hauptargument für die Übernahme der Europäischen Sozialbestimmungen ist für Labour, dass britische Arbeitnehmer nicht schlechter gestellt sein sollen als Arbeitnehmer im übrigen Europa. Darüber hinaus will Labour einen Mindestlohn einführen, um die Praxis von Armutslöhnen („scandal of poverty pay“) zu beenden und kollektive Unternehmensbeteiligungsformen für Arbeitnehmer etablieren.681 Beschäftigungs- und arbeitsmarktpolitisch unterscheidet sich Labour von den Konzeptionen der Tories, indem sie sich zumindest für einige der unter Thatcher abgeschafften Arbeitnehmerrechte einsetzen will, prinzipiell eine positive Haltung gegenüber den Gewerkschaften einnehmen, auch wenn sie nicht zum gleichen engen Nexus der Nachkriegszeit zurückkehren und keine Kollektivrechte erneut etablieren wollen. Zudem sprechen sie sich bereits 1992 für eine stärkere Aktivierung von Arbeitslosen aus und für mehr Chancengerechtigkeit, die über mehr Bildung erreicht werden soll. All diese Punkte sprechen bereits für eine sozial-liberale Konzeption der britischen Sozialdemokraten. Sozialpolitisch will Labour ein umfassendes Investitionsprogramm umsetzen, insbesondere ins staatliche NHS System soll eine Milliarde Pfund fließen, darüber hinaus will sie die 679
LPWP (1992:19) Diese Beibehaltung ist auch auf die Erfahrungen mit den Gewerkschaften der 1970er Jahre zurückzuführen, wo in den Streiks von 1978/79 die Ursache für die Niederlage bei den Parlamentswahlen gesehen wird („winter of discontent“), was in der Folge dazu führte, dass die Labour Party eine größere Unabhängigkeit von den Gewerkschaften anstrebte und gewisse Regelungen der Konservativen nicht rückgängig machen wollte. Siehe ferner dazu: Schmid/Schroeder (2001) 681 LPWP (1992:11) 680
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staatliche Rente und das Kindergeld anheben sowie Geringverdiener von Steuern befreien. Diese Politik ist primär als Armutsbekämpfungsmaßnahme konzipiert, was als ein wesentliches Ziel der Labour-Programmatik im Rahmen ihres „National Recovery Programms“ genannt wird. In Schulen sowie in die Aus- und Weiterbildung soll ebenfalls investiert werden (600 Millionen Pfund in Schulen und 300 Millionen in Aus- und Weiterbildung) und die Wiederinstandsetzung von Wohnungen bzw. der Bau neuer Wohnungen angegangen werden (maßgeblich zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit). Die Kinderbetreuungsangebote sollen ausgebaut werden und Ehepartner selbst wählen, wie sie ihre Einnahmen steuerlich aufteilen wollen. Insbesondere hinsichtlich des NHS betont Labour, dass ein „interner Gesundheitsmarkt“ abgelehnt wird und die Privatisierung gestoppt werden soll. Vielmehr wollen sie das NHS als freien öffentlichen Service wiederherstellen und modernisieren, darüber hinaus soll die Gesundheitsvorsorge im Rahmen einer Nationalen Gesundheitsinitiative gefördert werden. Labour formuliert das Ziel: „They [the envisaged policies] are fundamental to improving the quality and quantity of provision in health and social services, and to combating poverty. We have absolute commitment to a high-quality National Health Service, free at time of need and not fractured and weakened by underfunding and a commercialised contract system. We will get on with fulfilling that commitment from the moment of our election – by strengthening and modernising the NHS, by extending care in the community and by establishing the National Health Initiative to prevent illness.”682
Im Großen und Ganzen präsentieren die britischen Sozialdemokraten ein umfangreiches Investitionsprogramm, was letztlich einem Sozialaufbau (im Sinne einer quantitativen und qualitativen Verbesserung sozialer Leistungen) gleich kommt. Dabei legen sie ihrer Politik primär das Verständnis von Chancengerechtigkeit zugrunde, bei deren Herstellung dem Staat eine entscheidende Rolle zukommt. Eine Einordnung der Sozialstaatskonzeption der Labour-Party ist insofern problematisch, als sie vor dem Hintergrund des britischen Wohlfahrtsstaates zum damaligen Zeitpunkt betrachtet werden muss. Das enorme Investitionsprogramm legt den Schluss einer sozialdemokratischen Konzeption nahe, allerdings würde mit den genannten Maßnahmen noch kein sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat entstehen, da hierfür letztlich umfassendere Reformen notwendig wären. Labour strebt zunächst einmal Verbesserungen im bestehenden System durch die Erhöhung einzelner sozialer Leistungen oder einer Ausweitung des Empfängerkreises an. Im Sinne des Analyserasters entspricht dies am ehesten sozialdemokratischer Strategien und Konzeptionen, so dass hier die normative Orientierung zunächst noch als sozialdemokratisch bezeichnet wird, zumal im Programm die Art und Weise der Umsetzung nicht weiter ausgeführt ist. Wie im weiteren Verlauf noch aufzuzeigen sein wird, muss die prinzipielle Orientierung von Labour eher als sozialliberal im Sinne einer Mischung aus liberalen und sozialdemokratischen Elementen gewertet werden, da Labour an der konservativen Praxis der Bedürftigkeitsprüfungen festhält, diese noch weiter ausbaut, im sozialpolitischen Rahmen primär auf monetäre Leistungen in Form von Steuergutschriften setzt und nur in Einzelfällen auf soziale Dienstleistungen zurückgreift.683
682 683
LPWP (1992:2) Vgl. dazu: Annesley (2006)
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Nationaler Gesellschaftsframe 1994 Mit dem Slogan „It’s time to get Britain working again“ formuliert Labour die Notwendigkeit, das Land aus dem „Winterschlaf“ zu befreien und einen Frühling mit aufgehenden „roten Rosen“ herbeizuführen.684 Mit diesem Anspruch präsentiert sie ein umfangreiches National Recovery Programm, welches als ein Investitionsprogramm konzipiert ist.685 Der Anspruch der nationalen „Reconstruction“ wird unter Verweis auf von Labour verinnerlichte Werte angetrieben. Als Kern ihrer Überzeugung wird der Glaube an die individuelle Freiheit genannt, woraus eine Politik resultiere, die: „First, that for liberty to have real meaning the standards of community provision must be high and access to that provision must be wide. Second, that those rights of the individual must, like all others in a free society, belong to all men and women of every age, class and ethnic origin and be balanced by responsibilities of fair contribution and law-abiding conduct. Third, that for rights and responsibilities to be exercised fully and fairly, government in Britain as in other industrialised democracies, must work to build prosperity by properly supporting research, innovation, the improvement of skills, the infrastructure and long-term industrial development.”686
Durch diese Wertorientierung würde Großbritannien zu einem Land, das wettbewerbsfähiger, kreativer und sicherer vor Verbrechen, Aggressionen und Umweltschäden sei. Begründet wird dies einerseits mir dem Versagen der Konservativen, die das Land in die Rezession geführt hätten, und andererseits mit dem Druck, der vom europäischen und globalen Wirtschaftswettbewerb ausgehe.687 Das Gesellschaftskonzept, welches Labour in ihrem Programm präsentiert, ist am Individuum ausgerichtet und tritt für eine offene, demokratische Gesellschaft ein, in der auf der Grundlage von gleichen Bürgerrechten niemand diskriminiert werden darf. Dafür will Labour die Antidiskriminierungsgesetzgebung verschärfen (vor allem hinsichtlich Rassendiskriminierungen) und das Staatsbürgerrecht für alle in Großbritannien geborenen Kinder wiederherstellen.688 Der Gleichheitsgrundsatz spiegelt sich auch in anderen Politikbereichen wider, mal als Chancengleichheit und mal als Verteilungsgleichheit – erstere z. B. in der Bildungspolitik, wenn allen Kindern eine kostenlose Schulausbildung ermöglicht werden soll und letztere z. B. in der Steuerpolitik, wenn Familien und Geringverdiener steuerlich entlastet werden sollen und ein neuer Höchststeuersatz von 50 % für jährliche Einzeleinkommen über 40.000 Pfund angestrebt wird. Der Begriff 684
Dem Programm von Labour ist ein Gedicht von Arian Henri vorangestellt, in dem unter Verwendung der Jahreszeitenmetapher Winter und Frühling ein Wechsel beschworen wird. Am Ende heißt es: “As the last cardboard boxes are swept away beneath busy bridges, the cold blue landscape of winter suddenly alive with bright red roses“. Symbol der britischen Labour Party (wie auch allgemein der internationalen sozialistischen/sozialdemokratischen Bewegung (SI) und anderer sozialistischer Parteien in Europa) ist eine rote Rose. LPWP (1992:1) 685 Dazu heißt es im Programm: „Recovery must be based on investment, for only investment will create lasting prosperity. Today millions of people fear losing their job, their home or their business. The new Labour governemnt’s National Recovery Programme will start to remove that fear with immediate action on investment, jobs and training. It will combat recession now and build sustained and sustainable recovery for the future.” LPWP (1992:4) 686 LPWP (1992:2) 687 Vgl. LPWP (1992:2f.) 688 LPWP (1992:23)
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der Fairness, den Labour hier vorwiegend verwendet, ist weitgehend äquivalent zum Begriff der sozialen Gerechtigkeit, wie er in Deutschland in den politischen Diskussion verwandt wird („fair taxes“, „fair citizenship law“, „fair share of jobs“). Das Gesellschaftskonzept weist eine sozialdemokratische, an Gleichheit ausgerichtete Orientierung auf, wobei der Staat den klaren Auftrag hat, Bürgerrechte (und hierbei insbesondere wirtschaftliche und soziale Rechte) sicherzustellen und dafür Sorge zu tragen, dass diese auch in Anspruch genommen werden können. Die britische Besonderheit liegt hierbei jedoch vor allem in der Betonung von Individualrechten, denen im Vergleich mit klassisch sozialdemokratischen Kollektivrechten ein höherer Stellenwert eingeräumt wird. In dieser Hinsicht scheint die normative Orientierung des Gesellschaftskonzeptes eher einem garantistischen Wohlfahrtsstaatsmodell zu entsprechen, indem maßgeblich durch die Verankerung von Individualrechten soziale Teilhabe und Absicherung gewährleistet werden soll. In ihrer 1992er Programmatik entwerfen die Tories einen nationalen Gesellschaftsframe, der maßgeblich Eigenverantwortung, Wahlfreiheit und Eigentum betont. „A government committed to the principles of choice, ownership, responsibility and opportunity, committed to low inflation and low taxes, committed to better quality and value in our public services, committed to strong defences.“689
Sowohl Labour als auch Tory berufen sich letztlich auf die individuelle Freiheit als primären Orientierungswert ihrer Politiken, interpretieren jedoch die Rolle der Regierung zur Gewährleistung bzw. Herstellung dieser Freiheit in wesentlichen Punkten unterschiedlich. Für die britischen Konservativen ist eine freie Markwirtschaft die Grundlage für eine freie Gesellschaft, in der jeder prinzipiell die Chance hat zu Wohlstand zu gelangen. Der Staat muss demnach günstige Rahmenbedingungen für den Markt schaffen, damit der Standort für Unternehmen attraktiv ist (z. B. durch geringe Steuern, wenig Regulierung, flexible Beschäftigungsmöglichkeiten, schwache Gewerkschaften etc.). Unter solchen Bedingungen liegt es dann in der Eigenverantwortung des Einzelnen sein Leben zu gestalten, wobei jedoch diejenigen vom Staat Unterstützung bekommen sollen, die dies nicht schaffen. Die Programmatik der britischen Konservativen betont diese Grundeinstellung in ihrem Vorwort, wenn sie formulieren: “This Manifesto is about making our country respected and secure, and helping you achieve a better, safer and more prosperous future. For I believe – strongly – that you, and not the Government, should be in charge of your life. That’s what Conservatism stands for. That principle underlies all the policies in this Manifesto.”690
Folglich definieren sie ihr Gesellschaftsmodell als das einer “responsible society (…) in which government doesn’t try to take responsibility away from people“.691 Die wesentlichen Aufgaben der Regierung werden damit auf vier Bereiche beschränkt: 689
Außen- und Sicherheitspolitik Unterstützung für die Menschen, die sich nicht selbst helfen können Kriminalitätsbekämpfung
CPWP (1992:65) CPWP (1992:1) 691 CPWP (1992:1) 690
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Erhalt der britischen Währung
Die Definition der Aufgabenbereiche der Regierung lässt erkennen, dass die Tories analog zum Sozialstaatskonzept ein liberales Gesellschaftskonzept verfolgen. Dem entspricht auch ihre Forderung nach mehr zivilgesellschaftlichem Engagement und der erklärte Wille, zukünftig ehrenamtliches Engagement noch weiter zu fördern. So soll durch das Entstehen eines Netzwerkes von Charity-Vereinen und Freiwilligen-Gruppen dem „erfolgreichen“ Beispiel des „Neighbourhood Watch“ gefolgt werden.692 Ebenso lässt sich die Citizen’s Charter (1991) einordnen, eine politische Initiative zur Reformierung des öffentlichen Sektors unter John Major mit dem Ziel, die öffentlichen Dienstleistungen zu verbessern und die Rechte der Bürger zu stärken. Zur Erreichung der Verbesserung wird erneut auf mehr „choice“ und mehr Wettbewerb gesetzt, zudem werden die Bürger als „Kunden“ (customer) konzeptionalisiert.693 Der Kundenbegriff entstammt primär einem ökonomischen Kontext und suggeriert letztlich ein Marktverhältnis zwischen dem Anbieter und dem Adressaten öffentlicher Dienstleistungen. Eher konservative Elemente finden sich bei den Tories, wenn sie die nationale Identität, so z. B. wenn Großbritannien in einer gefährlichen Welt geschützt werden soll, oder die zentrale Rolle, die Großbritannien im Rahmen von EU, Nato, Vereinten Nationen und dem Commonwealth einnimmt, beschworen wird.694 In der Bildungspolitik postulieren die Tories mehr Chancengleichheit unter der Überschrift „Opportunity for all“. Hier sollen die Standards in Bildung und Ausbildung angehoben und die Zusammenarbeit mit den Eltern verstärkt werden: „We believe in partnership with parents, choice in schools and a good grounding in the basic skills all children need to make a success of their lives.“695
Die von den Konservativen propagierte „Chancengleichheit“ ist jedoch nur auf das prinzipielle Ziel einer guten Grundausbildung beschränkt, da durch den hohen Differenzierungsgrad der Schulformen, insbesondere durch die Konkurrenz von privaten und öffentlichen Schulen, eher eine Orientierung am gesellschaftlichen Status sowie am Wettbewerbsprinzip zum Tragen kommt. Die Betonung einer stärkeren Einbeziehung der Eltern muss vor dem Hintergrund der konservativen Strategie Thatchers, gegen das „Bildungsestablishment“ vorzugehen, interpretiert werden, welches aus der Sicht der Konservativen als „linkslastig“ galt und zudem „höchst fragwürdige ‚progressive’ oder ‚kinderorientierte’ Lernmethoden“ anwenden würde. Dennoch behielten sich die Konservativen vor, durch die Zentralisierung von Curricula und Lernstandards eine Ergebniskontrolle und die vergleichende Bewertung der Schulen vorzunehmen.696 Während Labour 1994 eine Gesellschaftskonzeption präsentiert, die sich normativ am ehesten an einem garantistischen Modell orientiert, ist die Ausrichtung der Konservativen an erster Stelle als liberal zu werten und an zweiter Stelle als konservativ. Deutlich wird hierbei auch, dass die Gesellschaftsframes der Parteien im Prinzip auf dem jeweiligen Sozialstaatsframe aufbauen und zwischen den Parteien eine klare Links-Rechts-Differenzierung erkennbar ist. 692
CPWP (1992:43) CPWP (1992:19) CPWP (1992:1, 4) 695 CPWP (1992:24) 696 Wisby (2006:299) 693 694
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Europäischer Frame 1994 Der Blick auf Europa ist bei den Tories stark national geprägt und zeigt ganz im Sinne ihrer liberalen Werteausrichtung primär ihr Interesse an einem Europa als Freihandelszone. Dabei wird keine generelle Ablehnung gegenüber der EU formuliert – interessant ist hierbei, wie die britischen Konservativen sich als pro-europäische Partei beschreiben und die Rolle Großbritanniens als entscheidend für die Entstehung des europäischen Binnenmarktprogramms bezeichnen.697 Vielmehr soll Großbritannien eine führende Rolle in Europa übernehmen und mögliche Fehlentwicklungen verhindern. Darunter zählen die Konservativen vor allem das Sozialkapitel. Dazu heißt es: „To industry’s relief, we shunned the jobdestroying European Social Chapter.“698 Das Programm spricht sich gegen jedwede Kompetenzausweitung auf europäischer Ebene aus und entwirft für die britische Ratspräsidentschaft 1992 die Vision einer “outward looking Community based on free enterprise.”699 Als europapolitische Ziele formulieren sie die Vollendung des gemeinsamen Marktes und die Hereinnahme von sieben EFTA-Ländern in den Markt sowie die Bekämpfung jeglicher Form von „illegalen“ Handelsbarrieren. Die Konservativen lehnen somit eine europäische politische Union ab und streben eine europäische Freihandelszone an. Deutlich wird in der Programmatik der Tories vor allem, dass sie für Großbritannien eine Führungsrolle innerhalb Europas beanspruchen und die Zusammenarbeit auf die Bereiche des Binnenmarktes, der Kriminalitätsbekämpfung und der Außenpolitik beschränken wollen. Immer wieder wird die Verteidigung der nationalen Interessen beschworen, so z. B. wenn es heißt: „We will continue to resist changes to the Treaty of Rome that would damage British business“ oder „we will redouble our efforts to reform the Common Agriculture Policy (CAP) and will stoutly defend the interests of British farmers and consumers.“700 Die Ablehnung einer Änderung der römischen Verträge bringt das Interesse der Konservativen an der Beibehaltung einer ausschließlich negativen Integration zum Ausdruck und zeigt die vornehmlich wirtschaftlichen Interessen der Tories an Europa. Ein solches Markteuropa entspricht einer eindeutig liberalen Europakonzeption. Labours Europakonzeption ist im Vergleich mit den Konservativen vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie sich für die Annahme des Sozialkapitels ausspricht: „We will opt in to the Social Chapter of the new European treaty and introduce employment standards common in successful economies, including the best health and safety legislation.”701
Zudem befürworten die britischen Sozialdemokraten europaweite Politiken zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und wollen eine aktive Rolle bei den Verhandlungen zur Wirtschafts- und Währungsunion spielen, um britische Interessen geltend machen zu können.702 697
So heißt es im Programm auf Seite 8: „The Conservatives have been the party of Britain in Europe for 30 years. We have argued when argument was necessary, but we have not wavered nor changed our views. We have ensured that Britain is at the heart of Europe, a strong and respected partner. We have played a decisive part in the development of the Community over the past decade. It was a British initiative which launched the Single Market programme and our insistence which reformed the Community’s finances.” 698 CPWP (1992:28) 699 CPWP (1992:8) 700 CPWP (1992:8) 701 LPWP (1992:10) 702 Hier wird gefordert, dass die gewählten Finanzminister ein effektives Gegengewicht zur Zentralbank einnehmen können. Zudem soll der Sitz der EZB in GB angesiedelt sein. Vgl. LPWP (1992:25)
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Obgleich auch Labour die britischen Interessen betont und argumentiert, dass ein stärkeres Einbringen in die Politiken der EU dazu dient, diese auch besser vertreten zu können, ist ihr prinzipieller Bezug zur EU nicht wie bei den Konservativen über Konkurrenz konstruiert, sondern stärker affirmativ. Dies zeigt sich, wenn die europäischen Gemeinschaftsregelungen als positiver Orientierungsmaßstab angeführt werden um „Britain into line with better provisions elsewhere in the European Community“ zu bringen (insbesondere beim Arbeitnehmerschutz).703 Darüber hinaus sprechen sich die britischen Sozialdemokraten für die Erweiterung der EU aus (Österreich, Schweden und Zentral- und Osteuropa), für ein Europa der Regionen (schottische Vertretung in Brüssel) und eine Neuorganisation der Agrarpolitik mit dem Verweis, dass Einsparungen besser zur Finanzierung anderer Gemeinschaftsprojekte eingesetzt werden könnten. Was für Projekte gemeint sein könnten, wird nicht ersichtlich, jedoch enthält diese Aussage zumindest eine Befürwortung europäischer Umverteilungspolitik/Strukturpolitik. Dies wird auch an anderen Stellen deutlich, wenn sie sich für die Unterstützung von ärmeren Ländern aussprechen, die durch den Gemeinsamen Markt Nachteile erleiden. Dabei ist jedoch anzumerken, dass Großbritannien durch seine Nettozahlerposition und aufgrund seines im Vergleich mit den anderen Mitgliedsstaaten kleinen Agrarsektors nur wenig Unterstützung aus dem größten Topf des EU-Haushaltes, dem Agrarfonds, erhält. Dies hat immer wieder das Bemühen der Briten motiviert, entweder einen „Britenrabatt“ (Thatcher) auszuhandeln oder wie hier im Labour Programm, die Agrarausgaben zu verringern, und dafür andere Projekte zu fördern, von denen auch Großbritannien profitieren würde. Labours Europakonzeption 1992 kann als ein „Soziales Nationen-Europa“ gelesen werden.704 Hier ist die Frontstellung zu den Konservativen deutlich zu erkennen, insbesondere zur konfrontativen und skeptischen Europapolitik unter Thatcher und Major. Sozialstaatlicher Mikroframe 1997 Mit ihrem Programm von 1997 schaffte es Labour, die Konservativen nach 17-jähriger Regierungszeit aus dem Amt zu drängen und damit den lang ersehnten politischen Wechsel herbeizuführen. Dies gelang Labour nicht zuletzt aufgrund der Reformierung der eigenen Partei seit Mitte der 1980er Jahre, aber auch wegen der zunehmenden Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den realen und vermeintlichen Auswirkungen der langjährigen konservativen Politik. Hier soll jedoch nicht eine generelle Beschreibung und Bewertung des – zumeist als beispiellos angesehenen – umfassenden Reformprozesses von Labour zu New Labour unter Tony Blair vorgenommen werden, da dies in der Forschung bereits vielfach zu finden ist705, sondern es sollen in Analogie zur bisherigen Vorgehensweise die spezifischen normativen Konzeptionen unter Berücksichtigung möglicher Verschiebungen gegenüber 1992 anhand des Parteiprogramms nachgezeichnet werden. Unter den beiden Überschriften „New Labour because Britain deserves better“ und „Britain will be better with 703
LPWP (1992:10) Weiter oben heißt es auch: „But our individual employees are entitled to be treated at least as fairly as their colleagues in Europe.” 704 Ausgangspunkt der jeweiligen Europakonzeptionen ist dabei immer der aktuelle europäische Integrationsstand, so dass es sich stets um temporäre Aussagen handeln kann. Dies wird daran deutlich, dass für die Labour Party ein „Soziales Europa“ mit dem Beitritt zum Sozialkapitel weitgehend erreicht wurde, so dass sich dann keine weiteren sozialpolitischen Forderungen anschließen. 705 U. a. Giddens (1999), Schmidt (2000), Merkel et al. (2006)
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new Labour“706 präsentiert sich die Labour Party mit ihrem politischen Erneuerungsanspruch, wonach sie eine Politik der Mitte zwischen Links und Rechts anstrebt, den so genannten dritten Weg. „In each area of policy a new distinctive approach has been mapped out, one that differs from the old left and the Conservative right. This is why New Labour is new.“
Auf der Basis eines pragmatischen Politikansatzes („what counts is what works“; „ideas and ideals but no outdated ideology“707) soll eine umfassende politische und wirtschaftliche Erneuerung des Landes eingeleitet werden. Die Modernisierung des britischen Wohlfahrtstaates ist hierbei ein wesentlicher Eckpfeiler ihrer Programmatik sowie ihres erstmals präsentierten „from welfare to work“ Programms. Dabei geht es um eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die allen eine Beschäftigungsmöglichkeit anbieten soll und letztlich als das beste Mittel zur Verhinderung von Armut angesehen wird.708 Dabei wird vor allem auch auf die Pflicht von Arbeitslosen verwiesen, sich um Arbeit zu bemühen. „The unemployed have a responsibility to take up the opportunity of training places or work, but these must be real opportunities.“709
Mit den echten Chancen/Möglichkeiten spielt Labour auf das Workfareprogramm der Tories an, von dem sie sich insofern distanzieren, als sie seine Erfolgsbilanz (nur ein Person von zehn in Arbeit gebracht zu haben) negativ bewerten und hier eine Verbesserung erreichen wollen. Unter Labour soll jeder Arbeitslose unter 25 Jahren, der länger als sechs Monate arbeitslos ist, einen Job oder ein Qualifizierungsangebot erhalten. Erreicht werden soll dies durch einen „pro-aktiven“, kundenorientierten und personalisierten Arbeitsvermittlungsservice. Die Finanzierung des arbeitsmarktpolitischen Programms soll mit Hilfe einer neuen Steuer – der so genannte windfall levy, eine Art Gewinnabschöpfungssteuer der privatisierten Versorgungsunternehmen – sichergestellt werden. Die arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitische Programmatik von Labour lässt sich anhand von vier Schlüsselforderungen zusammenfassen, wonach: 1. 2. 3. 4.
es eines weitgehend flexiblen Arbeitsmarktes bedarf, Rechte und Pflichten nicht voneinander trennbar sind, die Einführung eines Mindestlohns und der Ausbau von Arbeitnehmerrechten vorangetrieben werden müssen und Bildungschancen und verbesserte Qualifikationen für alle erreicht werden sollen.
In Fortführung der konservativen Politik spricht sich die Labour Party für den flexiblen Arbeitsmarkt aus, betont dabei jedoch, dass Flexibilität allein, nicht genug sei, sondern es einer „flexibility plus“ bedürfe, die sich durch sieben zusätzliche Elemente auszeichne. Darunter fallen u. a. bessere Qualifikationen und höhere Ausbildungsstandards in Schulen und Colleges, Mindestlohn und Mindeststandards fairer Behandlung, ein „imaginative wel706
LPWP (1997:1) LPWP (1997:1) 708 Vgl. LPWP (1997:16) 709 LPWP (1997:16) 707
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fare-to-work-programme“, ökonomische Stabilität etc.710 Die arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitische Programmatik von Labour verbindet auf spezifische Weise das Konzept von Chancengerechtigkeit mit Elementen von Leistungsgerechtigkeit – und wählt insofern tatsächlich einen mittleren Weg zwischen liberalen und sozialdemokratischen Ansätzen. In dieser Hinsicht muss eine gewisse Annäherung zwischen Labour und Conservatives verzeichnet werden, die sich insbesondere darin zeigt, dass die liberale Ausrichtung der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik in vielen Punkten fortgesetzt wird (Beibehaltung vieler Anti-Gewerkschaftsgesetzte (vgl. 1992), welfare-to-work-programme, flexibler Arbeitsmarkt, Fokussierung auf Reintegration in den Arbeitsmarkt etc.). Dennoch finden sich in der Betonung der Sicherung von (individuellen) Arbeitnehmerrechten, der Einführung des Mindestlohns etc. auch sozialdemokratische Elemente wieder. In der Sozialpolitik im engeren Sinne kommt einer Orientierung am sozialdemokratischen Wohlfahrtsmodell mehr Gewicht zu, so z. B. wenn sie das NHS als frei zugänglichen und kostenlosen sozialen Dienst wiederherstellen wollen. Dazu heißt es: „Our fundamental purpose is simple but hugely important: to restore the NHS as a public service working co-operatively for patients, not a commercial business driven by competition.”711
In der Rentenpolitik sowie bei der Pflege und im Bereich der Wohnungsbaupolitik setzt Labour auf eine „Partnerschaft“ zwischen staatlicher und privater Vorsorge bzw. Versorgung. „Instead of privatisation, we propose a partnership between public and private provision, and a balance between income sourced from tax and invested savings. The basic state pension will be retained as the foundation of pension provision. It will be increased at least in line with prices. We will examine means of delivering more automatic help to the poorest pensioners – one million of whom do not even receive the Income Support which is their present entitlement.”712
Einen besonderen Stellenwert nimmt die Armutsbekämpfung ein. Dies liegt vor allem darin begründet, dass die Armutsgefährdungsquote in Großbritannien im Vergleich zu anderen EU-Ländern überdurchschnittlich hoch ist und Armut damit ein großes gesellschaftliches Problem darstellt.713 Eine eindeutige Einordnung des sozialpolitischen Profils der Labour-Partei erscheint deshalb schwierig, da sie zwar für den Erhalt und zum Teil sogar den Ausbau sozialer Sicherung bzw. sozialer Dienstleistungen (z. B. NHS) eintritt und sich damit primär an einem sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatsmodell orientiert. Zugleich muss aber berücksichtigt werden, dass das Niveau sozialer Sicherung (z. B. Rente) bei allem angestrebten Aufbau aufgrund der Ausgangslage als eher gering einzustufen ist. Vieles von dem, was von Labour als eine Art „Sozialstaatsaufbau“ beworben wird, wenn sie sich gegen eine weitere Privatisierung im Bereich sozialer Sicherung (Renten, Pflege etc.) aussprechen und stattdessen einen Mix fordern, (z. B. ein Mix aus privater und staatlicher Rente), würde in 710
Vgl. LPWP (1997:13) LPWP (1997:20) 712 LPWP (1992:27) 713 Für 1994-1997 gibt Eurostat die Armutsgefährdungsquote im Vereinigten Königreich mit 22 % an. In Deutschland liegt diese im gleichen Zeitraum bei 15 %, zudem ist in Deutschland die Armut eher vorübergehend und nicht dauerhaft. 711
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Deutschland als Sozialtstaatsabbau erscheinen. Dennoch kann eine prinzipielle Orientierung von Labour an sozialdemokratischen Konzepten und Strategien (Gesundheitspolitik, Rolle von Bildung, Mindestlohn etc.) konstatiert werden. Im Vergleich zu 1992 rückt Labour programmatisch etwas mehr nach Rechts (im Bereich Rente, Sozialwohnungen, Workfare und bei der stärkeren Betonung von Pflichten etc.), wobei die politische Mitte in Großbritannien vor dem Hintergrund der Thatcher-Jahre ohnehin weiter rechts angesiedelt ist als in Deutschland. Das Sozialstaatskonzept der Conservative Party ist in weiten Teilen identisch mit dem von 1992. In der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik postulieren sie ebenfalls ein „from Welfare to work“ Programm, welches zielgerichtete Hilfe in Form von Trainings und Anreizen zur Reintegration in den Arbeitsmarkt umfasst. Im Programm heißt es dazu: „We will always help those in genuine need: in return, the unemployed have a responsibility to look for work and accept a reasonable offer. That belief underpins our new Jobseeker’s Allowance which ensures that no-one can refuse reasonable work opportunities and remain on benefit.”714
Die anvisierten Maßnahmen für eine Reintegration in den Arbeitsmarkt umfassen Unterstützung bei der Jobfindung, Anreize für Arbeitgeber Leute einzustellen, und wenn kein Job gefunden werden kann, verpflichtende Gemeindearbeit im privaten oder ehrenamtlichen Sektor. Hierbei wird letztlich auch der Unterschied zu Labour deutlich: während die Tories eine ausschließlich “harte“ Aktivierungsstrategie vertreten, die die Verantwortung primär bei den Arbeitslosen verankert, setzt Labour zusätzlich auf „weiche“ Aktivierungsformen, indem sie der Bildungspolitik eine zentrale Rolle zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit zuschreiben. Zwar spricht auch Labour von Pflichten, geht jedoch nicht so weit – zumindest in ihrem Programm – ehrenamtliche Arbeit zu einer Verpflichtung zu erheben und setzt generell weniger auf Arbeitgeber-Anreize und dafür mehr auf Investitionen in Humankapital (Qualifizierungsmaßnahmen, Bildung etc.). Der konservativen Programmatik liegt zu allererst ein Verständnis von Leistungsgerechtigkeit zugrunde, so dass ein Anspruch auf Unterstützung nur in Form von Gegenleistungen gewährt werden soll. Hierbei wird erneut deutlich, dass die individuelle Freiheit einen primären Bezugswert darstellt, so dass Arbeitslosigkeit durchaus als eigenes Verschulden betrachtet wird und somit ein Recht auf Sozialleistungen mit der Pflicht zur Arbeitsaufnahme einhergeht. Sozialpolitisch (i.e.S.) streben die Konservativen eine „Transformation“ des Rentensystems an, wonach die private Rente die primäre Sicherheit im Alter darstellen und durch die staatliche Rente lediglich unterstützt werden soll. Zudem soll ein neuer rechtlicher Rahmen für Sozialdienste verabschiedet werden mit dem Ziel, unnötige Leistungen zu streichen und dadurch eine bessere Fokussierung auf die Bedürftigsten zu gewährleisten. Bei chronischer Pflegbedürftigkeit sollen sich soziale Dienste und Familien die Arbeit teilen. Diese Beispiele machen bereits deutlich, dass im Verständnis der Tories primär die Menschen selbst dafür verantwortlich sind, sich durch Eigenvorsorge sozial abzusichern.715 Gesellschaftliche Solidarität ist demnach nicht eine Aufgabe des Staates, sondern eine gesellschaftliche Selbstverpflichtung, insbesondere im familiären Rahmen. Der Staat sieht 714
CPWP (1997:8) Diese Passage erinnert erneut an das berühmt gewordene Zitat von Maggie Thatcher: "And, you know, there's no such thing as society.“ Vgl. Kapitel 7.4.2.
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sich nur für die Bedürftigsten zuständig und soll ansonsten Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass die Menschen selbstverantwortlich für ihre soziale Sicherheit sorgen können (z. B. durch geringe Steuern). Die Konservativen sprechen auch von einer Verbesserung des sozialen Sicherungssystems, was durch die konsequente Bekämpfung von Missbrauch (z. B. durch Kontrolle und Inspektionen der Gemeinden) sowie durch einen Mix aus privaten und öffentlichen Anbietern erreicht werden könne. In allen Bereichen, sei es bei der Rente, Pflege, im Gesundheitswesen und im sozialen Wohnungsbauwesen, setzen sich die Konservativen für eine Kombination aus privater und staatlicher Versorgung ein. „People in need can rely on our continuing support. To ensure that taxpayers are willing to go on paying for that support, we have shaped a social security system we can afford, taking steadily declining share of our national income. We are doing this by focusing benefits on those most in need, helping people off welfare and into work, and curbing welfare fraud. These policies are underpinned by our measures to help families help themselves.”716
Unter den Schlagworten „Eigenverantwortung”, „Eigentum als Sicherheit“ entwerfen die Tories einen primär liberalen Wohlfahrtsstaat, in dem lediglich ein Minimum an sozialer Sicherheit vom Staat für die Bedürftigsten sicher gestellt wird und ansonsten private Vorsorgemöglichkeiten greifen müssen. Als konservatives Element kommt die Betonung der Rolle der Familie hinzu, die als primärer Ort für Stabilität und Sicherheit genannt wird. Die Sozialstaatskonzeption der Tories von 1997 ist eine Weiterführung ihrer Programmatik von 1992, wobei sie noch stärker auf Privatisierung und individuelle Vorsorge (z. B. Rente, Gesundheit) setzen als zuvor. Nationaler Gesellschaftsframe 1997 Das nationale Gesellschaftskonzept der Conservative Party findet seinen größeren Begründungskontext in den Herausforderungen, denen sich die britische Gesellschaft aufgrund einer „härteren und unsicheren Welt“, einem freien globalen Markt und wachsenden Industriemächten im Osten stellen müsse. Ferner zählen zu den neuen Herausforderungen der gesellschaftliche Wandel (Wertewandel, soziale Strukturen) und die Anpassungsnotwendigkeiten durch das Ende des Kommunismus in Europa. Sie konstatieren ein Scheitern des europäischen Sozialmodells, womit wahrscheinlich die kontinentalen Wohlfahrtsstaaten gemeint sind, sowie eine generelle Gefährdung des Nationalstaats. Bezeichnend ist hierbei, dass die Konservativen Großbritannien nicht als Teil des Europäischen Sozialmodells betrachten, sondern die Trennung im Sinne eines „Us and Them“ zwischen dem Kontinent und der britischen Insel kultivieren. Vor dem Hintergrund der gezeichneten „düsteren“ Rahmenbedingungen wird von den Tories ein Gesellschaftskonzept entworfen, welches sich durch eine ausgeprägte nationale und wirtschaftliche Dimension auszeichnet. Dabei schwebt ihnen Großbritannien als ein starker, international konkurrenzfähiger Nationalstaat mit freier Marktwirtschaft vor. Sie wollen Großbritannien zum „Enterprise Center of Europe“ machen (durch niedrige Steuern, Deregulierung und Privatisierung) und formulieren eine Vision 2020 mit dem Ziel „nothing less than a tariff trade across the globe by the year
716
CPWP (1997:15)
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2020.“717 Vor dem Hintergrund einer freien Marktwirtschaft wird somit auch für einen schwachen Staat geworben und stets die Eigenständigkeit und Eigenverantwortung der Menschen betont. So heißt es zur Rolle des Staates: „Everyone else wants to learn from our vision of a smaller state doing fewer things and doing them better.“718 Zudem wird die Bedeutung der Familie betont, die vor zu viel staatlicher Einmischung geschützt werden müsse: “The family is the most important institution in our lives. It offers security and stability in a fastchanging world. But the family is undermined if government takes decisions which families ought to take for themselves. Self-reliance underpins freedom and choice.”719
Eine primäre Orientierung am Konzept der Leistungsgerechtigkeit wird vor allem im Bereich der Bildungspolitik deutlich, wo ebenfalls mehr Auswahl und höhere Standards und strengere Leistungstest in allen Altersstufen eingeführt werden sollen. Gefordert wird auch, dass sich die Schulen ihre Schüler selbst aussuchen, Lehrer mehr Rechte gegenüber störenden Kindern eingeräumt bekommen und generell mehr Wettbewerb unter den Schulen herrschen müsse, so dass prinzipiell eine stärkere Differenzierung zwischen guten und schlechten Schulen in Kauf genommen wird. Als integrative Maßnahme zur Anhebung der Bildung in Großbritannien nennen die Konservativen die Notwendigkeit von „lifetime learning“, worunter sie ein Modell von Lernkrediten verstehen, dass Jugendlichen zwischen 14 und 21 Jahren die Möglichkeit eröffnen soll, einen höheren Bildungsabschluss anzustreben. Die Conservative Party strebt „a safe and civil society“ an, in der die zentralen Werte und Prinzipien Freiheit, Eigentum und Eigenverantwortung, wie auch Auswahl (choice), Wettbewerb und Leistung sind, so dass gesellschaftlicher Zusammenhalt und Solidarität in erster Linie zu einer Aufgabe der „Gesellschaft“ bzw. der Menschen selbst werden und erst in zweiter Linie in den Verantwortungsbereich des Staates gehören. Dieser ist lediglich dafür zuständig, günstige Rahmenbedingungen für den Markt zu schaffen, innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten und den Menschen durch niedrige Steuern und wenig Regulierung Freiräume für Eigenversorgung einzuräumen. In der normativen Gesellschaftskonzeption der Tories hat sich zwischen 1992 und 1997 somit keine wesentliche inhaltliche Veränderung vollzogen, lediglich kann konstatiert werden, dass sie ihre liberale Position schärfen und deutlicher ausführen. Labour formuliert den Wunsch nach einem „Britain that is a strong nation, with shared values and purpose, where merit comes before privilege, run for the many and not the few, strong and sure of itself at home and abroad.”720 Zu den Werten expliziert Labour weiter unten: “the equal worth to all, with no one cast aside, fairness and justice within strong communities.”721 Von dieser Werteorientierung ausgehend entwirft die britische Labour-Party das Konzept einer Teilhabegesellschaft:
717
CPWP (1997:9) CPWP (1997:24) CPWP (1997:10) 720 LPWP (1997:1) 721 LPWP (1997:3) 718 719
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„An independent and creative voluntary sector, committed to voluntary activity as an expression of citizenship, is central to our vision of a stakeholder society.“722
Das präsentierte Gesellschaftskonzept zeichnet sich einerseits durch die Gewährleistung von Rechten und andererseits durch einen umfangreichen (und z.T. freien) Bildungszugang sowie eine starke Zivilgesellschaft als Ausdruck eines gelebten Staatsbürgerverständnisses aus. Die Absicht der Sozialdemokraten, eine Sicherung von Grundrechten vorzunehmen, ist deshalb von besonderer Bedeutung, da es in Großbritannien keinen gesetzlichen Grundrechtekatalog gibt, so dass diese Absichtsbekundung als ein erster Schritt zur Etablierung eines solchen Grundrechtekatalogs gewertet werden kann.723 Die Berufung auf das Stakeholder-Konzept, welches im Prinzip eine sozialorientierte Marktwirtschaft entwirft, schien Labour „die Möglichkeit zu bieten, dass reformorientierte britische Regierungen trotz der Herausforderungen der Globalisierung sozialdemokratische Strategien verfolgen konnten.“724 Der zweite wesentliche Pfeiler ihres Gesellschaftskonzepts ist die Bildungspolitik, die Labour ganz oben auf ihre politische Agenda setzt. Dabei wird diese Prioritätensetzung nicht nur mit der Bedeutung für das Individuum begründet sondern als Notwendigkeit, um den wirtschaftlichen Bedürfnissen der Nation auch zukünftig gerecht werden zu können. Folglich streben die britischen Sozialdemokraten bildungspolitische Reformen an: mehr Investitionen, kleinere Klassen, technische Ausstattung der Schulen, Qualitätssteigerung durch individuelle Förderung, Kindergartenplätze für alle 4-Jährigen, keine Aufteilung mit 11 Jahren etc. Doch es geht Labour im Sinne einer Teilhabegesellschaft auch darum, die Partizipation und Eigenverantwortung der Bürger zu aktivieren, was sich gesellschaftspolitisch z. B. in der Forderung eines stärkeren Engagements der Eltern für ihre Kinder ausdrückt oder in den anvisierten Verfassungsreformen, die mehr Bürgerbeteiligung ermöglichen sollen. Hier zeigt sich die Kontinuität zur Arbeitsmarktpolitik, wonach von den Betroffenen ebenfalls mehr Engagement (Pflichten) eingefordert wird und die Regierung im Bereich der Wirtschaftspolitik unternehmerisches Handeln nicht stören soll. Hieran kann ein spezifisches Verständnis des Verhältnisses von Staat, Markt und Gesellschaft abgelesen werden, welches zunächst einmal durch die „Autonomie“ der drei Sphären gekennzeichnet zu sein scheint. So soll z. B. staatliche Regulierung lediglich dort vorgenommen werden, wo Wettbewerb kein sinnvolles Prinzip darstellt (z. B. Wasserversorgung), nach dem Motto „Wettbewerb wo möglich, Regulation wo nötig.“725 Das von Labour anvisierte Gesellschaftskonzept kann ebenfalls in Kontinuität zur Programmatik des Drittens Wegs im sozial- und beschäftigungspolitischen Bereich gesehen werden, indem Labour linke (sozialdemokratisch-garantistische) Konzeptionen wie Chancengleichheit und Schaffung eines Grundrechtekatalogs mit eher liberalen Elementen wie geringe staatliche Regulation, mehr Wettbewerb und Eigenverantwortung kombiniert. Im Vergleich zu 1992 lässt sich nur eine geringe 722
LPWP (1997:32) Zwar würde aufgrund der fehlenden geschriebenen Verfassung ein solcher faktisch wenig Rechtssicherheit bieten, da jede neue gesetzliche Entscheidung das vorherige Grundrecht wieder aufzuheben vermag. Jedoch könnte ein Grundrechtskatalog dennoch Wirkung entfalten, da damit die Grundrechte formuliert würden und eine stärkere Kontrolle von Seiten der Presse und der Öffentlichkeit hinsichtlich ihrer Einhaltung ermöglicht würde, vgl. Weber (2006). 724 Ludlam (2006) 725 LPWP (1997:13f.) 723
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Aufwertung liberaler Elemente im Rahmen des Gesellschaftskonzepts erkennen, die grundlegende Ausrichtung stimmt mit 1992 überein, so dass die klare Differenzierung zwischen den Konservativen und Labour ebenfalls bestehen bleibt. Europäischer Frame 1997 Die Europakonzeption von Labour ist in den wesentlichen Punkten mit der von 1992 identisch, es lässt sich jedoch eine stärkere Betonung der nationalen Interessen erkennen, sowie eine eindeutigere Positionierung hinsichtlich der Finalität des Integrationsprozesses ablesen. Auffällig ist ebenfalls eine veränderte Kontextualisierung der Befürwortung der Sozialcharta, so dass Labours Europakonzept 1997 eher einem “Markt-Europa der Nationen” als einem „sozialen“ Europakonzept entspricht: „Our Vision of Europe is of an alliance of independent nations choosing to co-operate to achieve the goals they cannot achieve alone. We oppose a European federal superstate.”
Hier rückt Labour den Charakter der EU als einer internationalen Organisation in den Vordergrund indem betont wird, dass die unabhängigen Nationalstaaten nur eine Kooperation in ausgewählten Bereichen eingehen, in denen sie sich Vorteile versprechen. Es wird mit keinem Wort auf gemeinsame Normen oder Werte abgehoben oder der Integrationsprozess in einem größeren historischen Zusammenhang gestellt. Die Begründungen für ihre Europaposition sind entweder pragmatischer Natur oder beziehen sich auf einen „nationalen Führungsanspruch.“ Bereits das Europakapitel beginnt mit „We will give Britain leadership in Europe“ um dann weiter auszuführen: „With a new Labour government, Britain will be strong in defence, resolute in standing up for its own interests, an advocate of human rights and democracy the world over, a reliable and powerful ally in the international institutions of which we are a member and will be leader in Europe.“
Dieser Führungsanspruch durchzieht die europapolitische Programmatik und soll die Notwendigkeit eines stärkeren europapolitischen Engagements begründen. Konkrete europapolitische Ziele sind für Labour die schnelle Vollendung des Binnenmarktes, die Erweiterung der Union um die mittel- und osteuropäischen Staaten, eine Reform der GAP, institutionelle Reformen, Beibehaltung des nationalen Vetos in Angelegenheiten von besonderem nationalem Interesse (d.h. Aufrechterhaltung des Luxemburger Kompromisses) und die Annahme des Sozialkapitels des Maastricht-Vertrages. Dabei wird betont, dass das Sozialkapitel nicht für die Harmonisierung der sozialen Sicherheit bzw. der Steuerwesens benutzt werden könne und auch keine Jobs koste.726 Während Labour 1994 die Annahme des Sozialkapitels vor allem damit begründete, dass dadurch eine qualitative Verbesserung für Arbeitnehmer 726
Im Original heißt es: “An ‘empty’ chair at the negotiating table is disastrous for Britain. The Social Chapter is a framework under which legislative measures can be agreed. Only two measures have been agreed – consultations for employees of large Europe-wide companies and entitlement to unpaid parental leave. Successful companies already work closely with their workforces. The Social Chapter cannot be used to force the harmonisation of social security or tax legislation and it does not cost jobs. We will use our participation to promote employability and flexibility, not high social cost.” LPWP (1997:39)
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in Großbritannien erzielt würde und sie dadurch in Europa nicht mehr schlechter gestellt wären, versucht die 1997er Argumentation maßgeblich die Bedeutung des Sozialkapitels als eher gering zu veranschlagen und als strategische Option zu betrachten, um mehr Einfluss innerhalb der EU zu besitzen. Labour scheint mit dieser Art des Framings in der Bevölkerung vorhandenen Ängsten gegenüber der EU im Allgemeinen und dem Sozialkapitel im Besonderen entgegenwirken zu wollen. Vor dem Hintergrund der gemachten Aussagen zum Sozialkapitel und dem Europakonzept 1992 muss für 1997 eine Verschiebung in Richtung „Markteuropa“ sowie eine stärkere Hervorhebung der nationalen Dimension im Europakontext konstatiert werden. Trotz des Willens das Sozialkapitel anzunehmen, tritt eine tendenziell liberal-nationale Argumentation zum Vorschein. Die europapolitische Position der Tories entspricht weitgehend ihrer Position von 1992, es werden die nationalen Interessen betont und gegen ein föderales Europa Stellung bezogen. Dabei sticht hervor, dass die Konservativen ihre europapolitische Position maßgeblich dadurch zu legitimieren suchen, dass sie es gewesen wären, die Großbritannien in der Vergangenheit vor schädigendem europäischen Einfluss und nationalem Souveränititätsverlusts bewahrt hätten (z. B. im Falle des Briten-Rabatts oder beim Sozialkapitel). Das Sozialkapitel wird als Gefahr für die britische Wirtschaft betrachtet und als Einfallstor, um britischen Unternehmen die hohen Sozialabgaben des „Europäischen Sozialmodells“ überzustülpen. Die Warnung der Konservativen vor einer Übernahme des Sozialkapitels verdeutlicht, dass sie zwar die Existenz eines Europäischen Sozialmodells anerkennen – allerdings nur als Abgrenzung der Wohlfahrtsstaaten auf dem Kontinent gegenüber dem eigenen Modell. Die Tories verfolgen ein Europakonzept, dass sich die EU lediglich als eine Freihandelszone souveräner Nationalstaaten wünscht, so dass damit ein erster Schritt hin zur Verwirklichung ihrer Vision einer globalen Freihandelszone (s. o. Vision 2020) getan würde. Als politisches und kulturelles Bezugssystem der Gesellschaft soll der Nationalstaat erhalten bleiben, da dieser sich durch seine kulturelle Verwurzelung als Garant für Stabilität und Sicherheit bewährt habe. Die Konservativen zeichnen sich in ihrer Programmatik durch die Verbindung von transnationalem Wirtschaftsliberalismus mit politisch-kulturellem Nationalismus aus: “We believe that in an uncertain, competitive world, the nation state is a rock of security. A nation’s common heritage, culture, values and outlook are a precious source of stability. Nationhood gives people a sense of belonging. The government has a positive vision for the European Union as a partnership of nations. We want to be in Europe but not run by Europe. (…) We want to see the rest of Europe follow the same deregulated, enterprise policies that have transformed our economic prospects in Britain.”727
Die nationale Brille, mit der die Tories auf Europa blicken, führt zu der Forderung, dass alle europäischen Staaten dem britischen Wirtschaftsmodell folgen sollen. Konkret richten sich die Konservativen gegen eine Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen sowie gegen jegliche Form der Kompetenzausweitung auf europäischer Ebene (z. B. für das EP). Vielmehr fordern sie, dass die EU weniger Kompetenzen haben, und diese dafür aber besser wahrnehmen sollte. Sie sprechen sich für die Erweiterung der EU aus, gegen die Arbeitszeitrichtlinie bzw. ein neues Beschäftigungskapitel, eine Ausweitung von europäischen Bürgerrechten etc. Als positive Ziele nennen sie die Vollendung des Binnenmarktes, die 727
CPWP (1997:39)
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Reform des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) und eine Stärkung der Rolle der nationalen Parlamente. Engere intergouvernementale Zusammenarbeit soll hingegen in Bereichen von gemeinsamem Interesse vorangetrieben werden. Darunter fallen Verteidigungs- und Außenpolitik sowie der Kampf gegen internationale Kriminalität und Drogen. Die euroskeptische Haltung der Tories spiegelt sich vor allem darin wider, dass die EU stets als eine Gefahr betrachtet wird und sich ihre Konzeption von Europa maßgeblich über negative Aussagen definiert. Dies zeigt im Wesentlichen auf, dass den britischen Konservativen die Integrationstiefe der EU im Jahr 1997 bereits zu weit geht. Im Vergleich zu 1992 fällt auf, dass die skeptische Haltung gegenüber dem Integrationsprozess noch weiter zugenommen hat, was in der Kontextualisierung (Negativbezüge) und der Spezifizierung des Europakonzeptes (Freihandelszone) deutlich wird. Ein Aspekt, der diese Verschärfung der konservativen Position begünstigt, ist sicherlich in der zwischenzeitlichen Ausgestaltung und Weiterentwicklung der EU zu sehen. Hier kann vermutet werden. Je weiter die Integration fortschreitet (im Sinne einer politischen Vertiefung), desto stärker wird die Opposition der britischen Konservativen. Sozialstaatlicher Mikroframe 2001 Die britischen Sozialdemokraten formulieren in ihrem 2001er Programm erneut das Ziel eines modernen, aktiven Wohlfahrtsstaates, dessen Aufgabe es ist: „to promote work for those who can, security for those who cannot, and rewards for those who save, volunteer, learn or train.“728 Als primäres Ziel des Wohlfahrtstaates wird folglich die Reintegration in den Arbeitsmarkt genannt, wobei betont wird, dass es sich dabei um unterhaltssichernde Arbeit handeln soll. Labour betont im 2001er Programm mit besonderem Nachdruck die Bedeutung von „Arbeit“ für den Einzelnen wie auch für die Gesellschaft, so dass das Ziel der Vollbeschäftigung ganz oben auf ihrer politischen Agenda rangiert. “Employment is not just the foundation of affordable welfare, it is the best anti-poverty, anticrime and pro-family policy yet invented. After years of mass unemployment, full employment is now on the agenda.”729
Um dieses Ziel zu erreichen, will Labour ihre aktive Arbeitsmarktpolitik noch weiter ausbauen und verbessern, zugleich sollen aber auch die Ansprüche an die „claimants“, die Antragssteller steigen, wie folgende Formulierungen verdeutlichen: „those who can work should be in work or in contact with the labour market”, “New principle of ‘employment first’, with rights and responsibilities at every stage. The contract is simple: quality opportunities for real responsibility” und “increased responsibilities for claimants”.730 Labour betont die Pflichten der Arbeitssuchenden stärker als zuvor und zugleich, dass die Qualifizierung der Arbeitslosen verbessert werden müsse, wozu individuelle Lernkonten eingerichtet werden sollen. Labour formuliert letztlich den Anspruch: 728
LPWP (2001:24) Zwar hat Labour schon 1997 das Ziel „Arbeit für alle“ ausgegeben, allerdings wirkt die 2001er Forderung nach Vollbeschäftigung, wobei ausgeführt wird, was Labour unter „Vollbeschäftigung“ versteht, genauer und deutlicher,, was ihre Verbindlichkeit erhöht und damit auch ihre programmatische Bedeutung. LPWP (2001:24) 730 LPWP (2001:26) 729
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„Our ambition is for everyone to have the opportunity to train, in a partnership of employers, employees and government, each giving time and/or money to raise standards of skills in the UK.”731
Hier wird bereits angedeutet, dass Bildung und Ausbildung auch weiterhin eine Priorität im Sozialstaatskonzept von Labour ist, um Inklusion und Chancengerechtigkeit zu verbessern. Folglich präsentieren die britischen Sozialdemokraten ein umfangreiches Bildungsprogramm, welches Investitionen vorsieht aber auch individuelle Förderprogramme etc. vorschlägt.732 Als weiterer wichtiger sozialpolitischer Handlungsbedarf wird die Qualitätssteigerung im NHS formuliert und ein umfangreiches Investitionsprogramm (7 Milliarden Pfund) versprochen. Das Grundprinzip des freien Zugangs soll gewahrt bleiben, das NHS wird sogar als Bestandteil der britischen Identität betrachtet: „For over 50 years the NHS has been part and parcel of what it means to be British, if you fall ill, the NHS is there. Its foundations – tax-based funding and care according to need – remain as valid today as ever.”733
Neue programmatische Schwerpunkte setzt Labour mit der Einführung des Child Trust Fund734 und der Präsentation ihrer Strategien zur Bekämpfung sozialer Exklusion. Hieran wird deutlich, dass sich Labour zur Rolle des Staates, der Bereitstellung von Chancen und zur Notwendigkeit gesellschaftlicher Solidarität bekennt. Angeleitet sind die sozialpolitischen Reformen von der Idee der „Hilfe zur Selbsthilfe“, was dem Konzept eines aktivierenden Wohlfahrtsstaates entspricht und damit in der Linie ihrer bisherigen sozialliberalen Ausrichtung verbleibt.735 Das von den Tories präsentierte Sozialstaatskonzept ist wie in den vorherigen Programmen am Leitbild eines liberalen Marktstaates orientiert, so dass sie einen „schlankeren Staat“ fordern und stärker die Eigenverantwortung der Menschen betonen. Im Bereich der Beschäftigungspolitik erklären sie den sozialdemokratischen New Deal für gescheitert und stellen als bessere Alternative das Konzept Britain works vor. Dies umfasst Anreize für Arbeitgeber, Arbeitnehmer zu behalten, Aktivierungsmaßnahmen, eine Reintegration in den Arbeitsmarkt von Alleinerziehenden sobald das Kind elf Jahre alt ist sowie eine strenge Missbrauchsbekämpfung von Sozialleistungen. Mit dem Slogan: „Can work, must work“ verfolgen sie eine „harte“ Aktivierungsstrategie und betonen den Entzug von Unterstützung bei Arbeitsverweigerung. Eine Reintegration in den Arbeitsmarkt soll zudem noch schneller als unter Labour erreicht werden. 731
LPWP (2001:10) Vgl. LPWP (2001:18f.) 733 LPWP (2001:20) 734 Der Child Trust Fund wurde 2005 in Großbritannien von Labour eingeführt. Dabei bekommt jedes Baby 250 beziehungsweise aus armen Familien 500 Pfund zur Geburt, eine weitere Zahlung von 250 bzw. 500 £ mit Vollendung des siebten Lebensjahres vom Staat. Das Geld wird angelegt, ist steuerfrei und kann nur von dem Kind selbst mit Vollendung des 18. Lebensjahr mit Zinsen entgegen genommen werden. Es steht dem Kind damit dann zur freien Verfügung, Eltern oder Verwandte können während der Laufzeit des CTF bis max. 1200 £ jährlich zuzahlen, haben jedoch keinerlei Möglichkeiten Geld wieder abzuheben. Vgl. http://www.childtrustfund.gov.uk/ (01.09.2008) 735 „Our welfare state is underpinned by clear values – we help you to help yourself, we invest in children, we support our pensioners, we insist that no community be written off, and we minimise fraud and error. Our reforms will build a strong and inclusive society. LPWP (2001:29) 732
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Ihre Haltung zum Wohlfahrtsstaat bringen die Tories in dem Satz „Welfare without the state“736 zum Ausdruck und folgen damit auch weiterhin dem Konzept eines residualen Wohlfahrtsstaates. Konsequenterweise präsentieren sie eine Liste von sozialpolitischen Sparmaßnahmen und setzen sich das Ziel im Bereich der sozialen Sicherheit 2,5 Milliarden Pfund einzusparen.737 Ein „großzügiger“ Wohlfahrtsstaat produziert aus der Sicht der Konservativen Abhängigkeiten, so dass es einer Politik bedürfe, die die Eigenverantwortung der Menschen stärke und durch die Bekämpfung von Missbrauch solche Abhängigkeiten verhindere. Dazu heißt es im Programm: „We will reform welfare to reduce dependency and create a national anti-benefit fraud squad with new powers.”738
Folglich nimmt in der Programmatik der Conservative Party die Stärkung der Familien und der Ehe sowie ehrenamtlichen und zivilgesellschaftlichen Engagements eine wichtige Rolle ein, da dadurch gesellschaftliche Eigenverantwortung gestärkt wird und der Staat sich zurückziehen kann. Hier wird recht klar das britische Ideal von civility formuliert, wonach private Problemlösungen – insbesondere im sozialpolitischen Bereich – staatlichen vorgezogen werden. “A strong society rests on responsible individuals and families. They need to be able to turn to straightforward, reliable help when times are bad. But that should not become dependence on the state when times are good.”739
Das Sozialstaatskonzept von Labour weist wieder einzelne liberale Tendenzen auf, so zum Beispiel bei der Beschäftigungspolitik, wo insbesondere die Pflichten der Anspruchsberechtigen stärker als 1997 betont werden, überwiegend liegt aber eine sozialdemokratischgarantistische Orientierung vor, so z. B. wenn der Child Trust Fund eingerichtet werden soll und mehr Investitionen in Bildung versprochen werden. Sowohl Labour als auch die Tories vertreten in ihren Programmen eine angebotsorientierte Arbeitsmarktpolitik, der wesentliche Unterschied ist dabei jedoch, dass Labour hierbei stärker in Humankapital investiert. Bei den britischen Konservativen hat sich an der prinzipiell liberalen Ausrichtung gegenüber 1997 nichts geändert. Nationaler Gesellschaftsframe 2001 Das oben bereits beschriebene Konzept von „Zivilgesellschaft“ macht deutlich, dass für die Conservative Party Werte und Prinzipien wie Freiheit, Eigentum, Eigenverantwortung, Wettbewerb und ein im Großen und Ganzen schlanker Staat Vorrang genießen. Ihre Gesellschaftskonzeption ist prinzipiell am Individuum ausgerichtet und postuliert Vertrauen in die Menschen, die – so schwingt es dabei unweigerlich mit – keiner staatlichen Bevormundung bedürfen. Sie bezeichnen sich selbst als „a Conservative Party that trusts people instead of 736
CPWP (2001:22) Eine Ausnahme bildet hier das NHS, welches durch Investitionen in Krankenhäuser gestärkt werden soll, und auch die Renten sollen angehoben werden. CPWP (2001:13ff.) 738 CPWP (2001:11) 739 CPW (2001:22) 737
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government“ und wollen „handing back to individuals and families the ability to shape their own lives and communities.“740 Ihre Politiken zielen erneut auf die Eigenverantwortung der Menschen, betonen die individuelle Auswahlmöglichkeiten und Freiheit. Zu dieser am freien Individuum ausgerichteten Konzeption gehört für die Tories Toleranz hinsichtlich der religiösen, sexuellen und ethnischen Eigenschaften von Menschen. Ihre angestrebten Politiken folgen diesem Bild, indem für geringe Steuern, Deregulierung und Privatisierung in der Wirtschaftspolitik und mehr Auswahlmöglichkeiten der Eltern bei der Auswahl der Schule geworben wird.741 Die Tories begründen diese Politiken, indem sie sie als vernünftig und auf einem gesunden Menschenverstand beruhend beschreiben. Diesen „common sense“ der britischen Gesellschaft, der durch die Labour-Regierung unterminiert wird, wollen sie wieder herstellen. Labours normative Gesellschaftskonzeption betont im Unterschied zu den Konservativen den Wert der Gleichheit, worunter sie vor allem Chancengleichheit verstehen. “My passion is to continue the modernisation of Britain in favour of hard-working families, so that all our children, wherever they live, whatever their background, have an equal chance to benefit from the opportunities our country has to offer and to share in its wealth.”742
An diese Vorstellung einer besseren Gesellschaft, die sich durch weniger soziale Unterschiede („more equal“) und mehr Wohlstand („more prosperous“) auszeichne, knüpfen die britischen Sozialdemokraten eine Art „Agenda 2010“ an, wonach sie folgende zehn Ziele formulieren:
„Long-term stability Rising living standards for all Expanded higher education as we raise standards in secondary schools A healthier nation with fast treatment, free at the point of use Full employment in every region Opportunity for all children, security for all pensioners A modern criminal justice system Strong and accountable local government British ideas leading a reformed and enlarged Europe Global poverty and climate change tackled”
Labour entwirft im Programm von 2001 damit zwar in wesentlichen Punkten erneut das Konzept einer Teilhabegesellschaft, wobei jedoch der Begriff selbst nicht mehr erwähnt wird. Dies verweist bereits auf eine leichte Kursänderung dahingehend, dass eine stärkere Fokussierung auf die langfristige ökonomische Entwicklung (Punkt eins der Liste) und die Verbesserung sozialer Dienstleistungen angestrebt wird. Der Begriff der StakeholderSociety wurde hingegen fallengelassen, da er wohlmöglich durch den Bezug zum Stakeholder-Kapitalismus zu hohe Erwartungen hätte wecken können (insbesondere auf Seiten der 740
CPWP (2001:1ff.) CPWP (2001:8ff.) Umweltpolitik spielt bei der Vorstellung wie die britische Gesellschaft gestaltet werden soll, keine zentrale Rolle. Hier plädieren sie für Atomkraftwerke und die Abschaffung des Climate Change Levy Package der Labour-Regierung 742 LPWP (2001:3) 741
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Arbeitnehmer).743 Interessant ist, dass Labour in der Bildungspolitik insbesondere die Erhöhung der Standards betont, jedoch strukturelle Fragen weitgehend außer Acht lässt, was eher dem differenzierenden Ansatz der Konservativen entspricht. Allerdings verbindet Labour diese konservative Orientierung mit sozialdemokratischen Strategien zur Bekämpfung von sozialer Exklusion (s. o.) und zur Herstellung von mehr Chancengerechtigkeit. Ebenfalls spricht sich Labour für die Herstellung von mehr Teilhabemöglichkeiten aus, indem eine stärkere gesellschaftliche Einbindung von Behinderten erreicht werden soll. Entscheidend hierbei ist, dass Labour über den Weg von Bürger- und Anspruchsrechten egalitäre Teilhabemöglichkeiten sicherzustellen versucht. Als Beispiele können die angestrebte gesetzliche Verankerung voller Bürgerrechte für Behinderte sowie so genannte Opferrechte genannt werden, ebenso die angestrebte Einführung eines Mindesteinkommens für Behinderte oder die geplante Kindergartenplatzgarantie für Kinder ab drei Jahren bzw. die Sure Start Centers für Kinder aus sozial schwachen Gegenden.744 In diesem Kontext wird erneut deutlich, dass Labour die staatliche Verantwortung zur Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Herstellung von gleichen Chancen als wesentlich höher veranschlagt als die britischen Konservativen, die die Kernfunktionen des Staates in der Herstellung innerer und äußerer Sicherheit sowie der Schaffung von unternehmerfreundlichen Wirtschaftsbedingungen sehen. Allerdings muss an dieser Stelle auch betont werden, dass Labour größtenteils auf monetäre Leistungen wie Steuergutschriften setzt. Im Wesentlichen haben sich die Gesellschaftskonzeptionen der Parteien im Vergleich zu den vorherigen Programmen nicht verändert, lediglich einzelne Akzentuierungen fallen auf, etwa wenn die Conservative Party Toleranz gegenüber Minderheiten betont oder die britischen Sozialdemokraten das Konzept einer „Teilhabegesellschaft“ weiter präzisieren, so dass der Inklusionscharakter und das Ziel der Chancengerechtigkeit deutlicher hervortreten als in den vorherigen Programmen. Bei den Tories zeigt sich dadurch der liberale Charakter ihrer Gesellschaftskonzeption stärker als zuvor, bei Labour wird durch die Präzisierung einiger Konzepte und Programme eine stärker garantistisch-sozialdemokratische normative Orientierung deutlich, die aber vor dem Hintergrund einer primär angebotsorientierten Wirtschaftspolitik interpretiert werden muss. Europäischer Frame 2001 Der Blick der britischen Sozialdemokraten ist erneut stark national geprägt, was jedoch nicht dazu führt, dass eine Ablehnung der EU formuliert wird, sondern ganz im Gegenteil die Chancen, die dabei für Großbritannien erwachsen können, in den Vordergrund rücken. Die grundsätzliche Bejahung eines stärkeren Engagements innerhalb der EU basiert dabei auf der Überzeugung, dadurch die eigene Konzeption eines Markteuropas besser durchsetzen zu können. Die Europäische Union wird folglich primär als Wirtschafts- und Sicherheitsgemeinschaft aufgefasst. “Europe is changing. Economic reform is under way in the European Union, with over two million new jobs created last year. Many new members are going to join the EU. Co-operation is 743
Ludlam (2006:468) LPWP (2001:18) Fünfhundert solcher Center sollen für Kinder in sozial schwachen Gegenden eingerichtet werden mit dem Ziel die frühkindliche Entwicklung der benachteiligten Kinder zu verbessern. 744
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being extended in defence and security policy. A new way of conducting EU business has been born – comparing best practice to share the benefits of diversity in order to reduce over-reliance on centralised regulation. We face a very simple question. Do we want to be part of the change, influencing its direction? Or do we want to opt out? We have spent 50 years on the margins; it is time to make the most of our membership.”745
Anknüpfend an das Postulat, stärkeren Einfluss nehmen zu wollen, spricht Labour von Vorteilen für Großbritannien, die sich z. B. im gemeinsamen Markt beobachten lassen, der mehr Auswahl und geringere Preise hervorbringe. Im Rahmen der angesprochenen ökonomischen Reform will Labour eine Führungsrolle einnehmen und auch die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sieht Labour am besten europaweit in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern angegangen. Eine weitere Abgabe von Souveränitätsrechten lehnt sie jedoch ab, ebenso die Idee von den „United States of Europe“ oder einheitliche europäische Steuern. Labour plädiert für die Beibehaltung der nationalen Vetorechte, für intergouvernementale Kooperation, die Erweiterung der Union und eine Stärkung der Rolle der nationalen Parlamente. Die Labour Party fügt ferner an, dass ein stärkeres Engagement in Europa nicht im Widerspruch zu den traditionellen transatlantischen Beziehungen stünde.746 Hieran wird deutlich, dass Labour in gewisser Hinsicht eine europapolitische Annäherung an die Position der Tories vornimmt, so wenn die EU maßgeblich als Wirtschafts- und Sicherheitsunion mit souveränen Nationalstaaten konzeptualisiert und eine weltweite Freihandelszone angestrebt wird. Im Unterschied zu den Konservativen framed Labour die EU jedoch positiv und sieht sie nicht als Gefahr für nationale Interessen, sondern eher als neue Handlungsebene, auf der die britischen Interessen effektiver vertreten werden können. Die Veränderung der Europakonzeption von Labour über die Zeit könnte einerseits mit der Regierungsrolle der Partei seit 1997 zusammenhängen, so dass sie als Regierungspartei die nationalen Interessen stärker berücksichtigen muss, will sie bei der gesamten britischen Bevölkerung punkten. Eine weitere mögliche Erklärung ist, dass mit der Annahme des Sozialkapitels für Labour bereits das Maximum an sozialpolitischen europäischen Kompetenzen erreicht ist, so dass nun andere Aspekte des Europäischen Integrationsprozesses in den Vordergrund rücken (Sicherheit, Vollendung des Binnenmarktes, Erweiterung etc.). Die Conservative Party betont ähnlich wie Labour die nationalen Interessen Großbritanniens, die in Europa stärker zur Geltung gebracht werden sollen, und verfolgt weitgehend ein Europa, welches sich als eine Freihandelszone souveräner Staaten darstellt. Mit dem Slogan: „In Europe, not run by Europe“ bekräftigt sie zwar erneut die prinzipielle Bejahung der europäischen Mitgliedschaft, machen aber zugleich deutlich, dass sie eine Führungsrolle anstrebt, um den Integrationsprozess so zu beeinflussen, wie es ihren Vorstellungen entspricht. Neu ist bei der europapolitischen Position der Tories erstmals die starke Fürsprache für das Konzept eines „flexiblen Europas“. So heißt es zu Beginn: “Labour has lost confidence in our ability to govern ourselves. (…) The next Conservative Government will secure our independence and use Britain’s great strength to help create a flexible Europe of nations, to maintain the Atlantic Alliance and to develop the role of the Commonwealth.”747 745
LPWP (2001:38) LPWP (2001:39) 747 CPWP (2001:19) 746
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Weiter unten wird die Vorstellung eines flexiblen Europas weiter expliziert und mündet in die Vorstellung eines „Network-Europas“: “The European Union has, with the prospect of enlargement, reached a fork in the road. Down one route lies a fully integrated superstate with nation states and the national veto disappearing. The Government is taking us down this route. The alternative is a Europe of nations coming together in different combinations for different purposes and to differing extents. In other words, a network Europe. If Britain leads the debate, we can make this alternative a reality.”748
Somit lehnen die Tories jede Form einer vertieften politischen Integration ab und begreifen die EU als ein loses, ökonomisches Zweckbündnis. Ebenfalls sprechen sie sich gegen jede weitere Machtverlagerung an die supranationale Ebene aus und wollen das nationale Vetorecht beibehalten. Ferner fordern sie – wie Labour auch – eine schnelle Erweiterung der EU. Dabei kann unterstellt werden, dass sie dies einerseits befürworten, weil sie damit neue Märkte erschließen, zum anderen aber auch, weil dadurch möglicherweise eine Vertiefung der Integration erschwert wird. Neben der positiven Haltung zur Erweiterung befürworten sie die Möglichkeit einer engeren Zusammenarbeit einzelner Staaten – allerdings nur, wenn es Großbritannien nicht schade – sowie die schnelle Vollendung des Binnenmarktes. Dabei mahnen sie erneut strenge Wettbewerbsregeln an. Alles darüber Hinausgehende wird von den Konservativen als Gefahr für die nationale Souveränität strikt abgelehnt, so betonen sie z. B. auch, dass sie keine europäische Armee außerhalb der Nato akzeptieren wollen und dass das große Ziel nach wie vor a global free trade by 2020 ist.749 Die Europakonzeptionen der beiden britischen Parteien unterscheiden sich erstmals nicht grundsätzlich sondern nur in einzelnen Aspekten. Beide Parteien betonen die nationale Souveränität und wollen eine Führungsrolle in Europa übernehmen, um die Union nach ihren Vorstellungen zu einem Markteuropa zu wandeln. Während Labour hierfür vor allem die Erweiterung voranbringen und das nationale Vetorecht aufrechterhalten will, gehen die Konservativen noch darüber hinaus, indem sie durch mehr Flexibilität eine für alle verbindliche politische Union verhindern wollen und einen eher strategischen, von nationalen Interessen geleiteten Blick auf die EU wünschen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Labour und den Tories ist jedoch nach wie vor der Umfang dessen, womit die europäische Ebene nationale Politik sinnvoll ergänzen sollte. Während bei den Tories stets das Bestreben nach weniger EU-Einmischung mitschwingt und letztlich auch ein Kompetenzrückbau angestrebt werden soll, sieht Labour die EU nicht nur in der Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik als wichtige Ebene, sondern auch in der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit als wichtigen Partner an. Insofern variiert das Verständnis des Subsidiaritätsprinzips beider Parteien, so dass Labour – bei aller nationalen Rhetorik – zu mehr europäischer Kooperation bereit zu sein scheint. Beide Parteien sehen die EU jedoch nicht durch geteilte europäische Werte sondern vornehmlich durch wirtschaftliche Interessen definiert.
748 749
Ebd. CPWP (2001:18)
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Sozialstaatlicher Mikroframe 2005 Die Sozialstaatskonzeption, die Labour im Programm von 2005 präsentiert, stimmt größtenteils mit der Konzeption aus den vorherigen Programmen (1997 und 2001) überein. Erneut wirbt die Partei für Vollbeschäftigung und einen aktivierenden Wohlfahrtsstaat, heben die Erfolge der New Deals und der Job Center Plus hervor und will auch weiterhin auf die Befähigung von Menschen durch Aus- und Weiterbildungsprogramme setzen. In der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik bekennt sich Labour zu mehr Arbeitnehmerrechten und neuen Möglichkeiten für Gewerkschaften, ihre Mitglieder zu vertreten. Moderne, wachsende Gewerkschaften seien ein wichtiger Teil der Gesellschaft, indem sie den Arbeitnehmern Schutz und Rat böten, so das Programm. Dabei wird betont, dass die Gewerkschaften eine positive Rolle bei der Entwicklung eines modernen Modells der Sozialpartnerschaft gespielt hätten, was unter dem Namen Warwick Agreement firmiert. Diese Vereinbarung kann als Beispiel für Labours gewerkschaftsfreundliche Politik herangezogen werden: Auf einem National Policy Forum 2004 in Warwick hat Labour mit den Gewerkschaften einen für die Wahlen 2005 erstellten umfangreichen Katalog an beschäftigungspolitischen Maßnahmen vereinbart. Zentrale Aspekte waren u. a. weitere Bemühungen zur Abschaffung der „Zwei-Klassen-Beschäftigung“, eine Zusage von Seiten der LabourRegierung zur Unterstützung der EU-Zeitarbeitsrichtlinie, eine Weiterbildungsoffensive und der Schutz von gewerkschaftlichen Interessen bei Privatisierungen, insbesondere hinsichtlich der Betriebsrenten.750 Das Warwick-Agreement hat aber letztlich nicht die gewerkschaftlichen Kollektivrechte sondern nur Individualrechte für Arbeitnehmer verbessert. Durch dieses Agreement zwischen der Labour Party und den Gewerkschaften und der darin enthaltenen Fülle an Zielen und Maßnahmen konnten die Gewerkschaften im Wahlkampf wesentlich dezidierter die Labour-Party unterstützen, was vor dem Hintergrund der Querelen um den Einsatz im Irak-Krieg ohne Abkommen wesentlich schwieriger für die Gewerkschaften gewesen wäre.751 Sozialpolitisch will Labour vor allem das NHS weiter verbessern, indem die Ausgaben gemessen an 1997 bis 2008 verdreifacht werden sollen. Die Patienten sollen durch personalisierte Pflege-Konten (social care) mehr Möglichkeiten der Mitbestimmung erhalten. In der Rentenpolitik wollen die britischen Sozialdemokraten Altersarmut stärker bekämpfen und die Lebensqualität alter Menschen verbessern, indem sie universelle Leistungen anbieten. Darunter fallen z. B. die Staatsrente, Heizölkostenzuschuss, Gemeindesteuernachlass, kostenlose TV-Lizenzen. Zudem soll die Arbeitslosigkeit von Über-50-Jährigen im Rahmen eines New Deals (Programm 50+) vermindert werden. Das sozialpolitische framing im Programm von 2005 zeichnet sich im Wesentlichen dadurch aus, dass der „Aktivierungston“ milder wirkt und allgemein der Blick auf den Sozialstaat weniger von der „DritterWeg-Rethorik“ geprägt ist. So könnte vor allem die Hervorhebung der positiven Rolle der Gewerkschaften aber auch die Ankündigung weiterer Investitionen ins NHS als eine vorsichtige Rückbesinnung auf Old Labour-Positionen interpretiert werden. Diese Wirkung wird dadurch unterstrichen, dass die Gewichtung sozialer Gerechtigkeit in der Programmatik von 2005 stärker hervortritt als in den anderen beiden Programmatiken. Im Prinzip folgt Labour auch hier wieder einer „Sowohl-als-auch-Rhetorik“: sowohl ökonomische Dynamik 750
Ludlam (2006). Siehe auch die Vereinbarungen im Original unter: http://www.unionstogether. org.uk/articles/employment.html (06.08.2008). 751 Ludlam (2006:475)
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und Flexibilität als auch soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Während im Programm von 2005 das Ziel sozialer Gerechtigkeit explizit an mehreren Stellen erwähnt wird, findet sich dieser ausdrückliche Bezug in den anderen Programmen seltener und 1992 überhaupt nicht.752 Die britischen Conservatives formulieren in ihrem Programm von 2005 keine beschäftigungs- und arbeitsmarktpolitischen Ziele oder Maßnahmen. Durch die Nichtthematisierung tritt das liberale Verständnis der Tories, wonach Wirtschaftspolitik die beste Beschäftigungspolitik ist, deutlicher denn je zum Vorschein. Arbeitsplätze werden allein über Wachstum geschaffen bzw. gesichert. Folglich werden im Programm von 2005 lediglich steuer- und wirtschaftspolitische Maßnahmen veranschlagt (Deregulierung und Steuersenkungen), die sich positiv auf das Wirtschaftswachstum auswirken sollen. Ganz ihrem (neo)liberalen Verständnis entsprechend, firmiert die Rentenpolitik unter dem Kapitel der Finanz- und Steuerpolitik. Hierbei werden von den Konservativen auch die wesentlichen Aufgaben des Staates genannt. Eine umfassende Sozialstaatskonzeption lässt sich in der Programmatik 2005 nicht ausmachen, vielmehr konzentrieren sich die Tories auf einzelne sozialpolitische Aspekte wie das NHS, die Rentenpolitik oder Bildung als Prävention von Armut. Primär ist eine prosperierende Wirtschaft, die den Garanten für Arbeit und Wohlstand darstellt. Für die Konservativen lässt sich „sozialpolitische“ Programmatik somit nur im Rahmen der Steuer- und Wirtschaftspolitik denken, da diese ausschlaggebend dafür ist, ob das Wachstum hoch und damit gleichzeitig der Bedarf an Sozialpolitik gering ist. Steuer- und Wirtschaftspolitik ist in den Augen der britischen Konservativen folglich die beste Sozialpolitik. Dementsprechend werden die Umrisse eines residualen Wohlfahrtsstaates gezeichnet. Lediglich im Rahmen der Gesundheitspolitik bekennen sich die Konservativen zu staatlicher Verantwortung derart, dass sie eine Erhöhung des NHS-Budget um 34 Milliarden Pfund im ersten Regierungsjahr ankündigen. Dies ist mehr als Labour vorsieht. Allerdings geht es ihnen auch hier wieder darum, dass durch mehr Dezentralisierung die Eigenverantwortung auf lokaler Ebene und die Auswahl der Patienten erhöht werden sollen. Im Bereich der Rentenpolitik postulieren sie eine Erhöhung der staatlichen Grundrente und werben damit, dass die besonderen Leistungen für Rentner (Heizkostenzuschüsse, freie Fernsehlizenzen und geringere Gemeindesteuern) beibehalten werden sollen. Zudem sollen Eigenersparnisse gefördert werden, in dem so genannte Lifetime Savings Account eingerichtet werden, die vom Staat aufgestockt werden. Das Minimalframing der britischen Konservativen zeigt einerseits im Vergleich zu den vorherigen Programmen, dass sie insbesondere in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik im Grunde keine eigenständige Programmatik haben, sondern sich primär über eine wirtschaftsfreundliche Steuerpolitik profilieren wollen. Es kann also eine gewisse Zuspitzung ihrer liberalen Positionen im Vergleich mit den vorherigen Programmen konstatiert werden, zugleich – so scheint es – wollen die Konservativen sich zumindest punktuell im Bereich der Renten und des Gesundheitswesen als Partei darstellen, die sozialpolitische Absicherung auch weiterhin gewährleisten will (Rente) und z. T. verbessert (NHS). Im Großen und Ganzen verfolgen die Tories damit auch weiterhin ein wohlfahrtsstaatliches 752
Eine einfache Auszählung der Nennungen von „social justice“ ergab: 1992 null Nennungen, 1997 vier Nennungen, 2001 drei Nennungen und 2005 sieben Nennungen. Eine Suche nach dem Begriff „equality“ brachte ähnliche Ergebnisse: (1992 = einmal equality; 2001 = zweimal equality und dreimal inequality; 1997 = zweimal inequality und 2005 = zehnmal equality)
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Minimalmodell für die Bedürftigsten (also diejenigen, die sich nicht über den Markt absichern können wie z. B. Alte und Kranke) der Gesellschaft. Nationaler Gesellschaftsframe 2005 Die Tories machen in ihrem Programm von 2005 eine Anspielung auf die Gesellschaftskonzeption der USA, indem sie den „British Dream“753 ausrufen und dazu weiter ausführen: „We will govern on behalf of the forgotten majority and their values, the people who make up the backbone of our country: people, who work hard, save to buy their first home, take responsibility for their families. People, who do the right thing, should be rewarded, not punished.”754
Diese Parteinahme für die angebliche gesellschaftliche Mehrheit ist eine Weiterführung ihres sozialpolitischen Minimalframes, wo bereits deutlich wurde, dass die Tories primär die „Leistungsträger“ der Gesellschaft fokussieren und diese für ihre Politik gewinnen wollen. Einen wichtigen Stellenwert nehmen ebenfalls Familien in der konservativen Programmatik ein. Diese sollen durch Steuerentlastungen und flexible Kinderbetreuungsangebote unterstützt werden. Dabei geht es den Konservativen jedoch wieder um Eigenverantwortung und Eigenvorsorge, die die Familien bzw. der Einzelne übernehmen soll: „We believe in giving more power to individuals, families and communities.”755 Zu Erwähnen ist in der Programmatik von 2005 die starke Hervorhebung der Rolle von Bildung für den späteren Erfolg im Leben. Um besseren Unterricht zu gewährleisten, will die Conservative Party zusätzliche Investitionen in Höhe von 15 Milliarden Pfund in den Jahren 2009 und 2010 in das Schulwesen fließen lassen. Zudem treten die Konservativen für mehr Disziplin in der Schule ein und wollen Lehrern mehr Rechte geben, auffällige Kinder an so genannte „Turnaround Schools“ zu überweisen.756 Ferner wollen sie den Lehrern, Schuldirektoren und Eltern mehr „Freiheiten“ ermöglichen, so dass z. B. die Direktoren ihre finanzielle Mittel an den Schulen selbst verwalten, Eltern die Schule frei wählen dürfen und Lehrer über den Verbleib im Unterricht bzw. an der Schule entscheiden können. Die Tories setzen dabei auf konservative Werte wie Leistung und Disziplin, die belohnt werden sollen. Damit verfolgen sie letztlich keinen integrativen Ansatz, sondern unterstützen Selektion und Auslese. Zugleich sprechen sich die Konservativen – im Unterschied zu Labour – gegen staatlich festgesetzte Studiengebühren aus und wollen den Unis mehr Freiräume geben. Auf lange Sicht soll eine finanzielle Unabhängigkeit der Universitäten über universitätseigene Stiftungen angestrebt werden. Es ist eine große Kontinuität in den Gesellschaftskonzeptionen der Tories zwischen 1992 und 2005 zu erkennen, die sich allem voran an den Werten der individuellen Freiheit und des Eigentums orientieren und somit ihre Positionen Eigenverantwortung, Wettbewerb und „choice“ zu obersten Leitprinzipien erheben. Dabei folgen sie einem primär liberalen Subsidiaritätsverständnis, in dem der Staat nur da einzugreifen hat, wo die gesellschaftliche 753
CPWP (2005:1) Ebd. CPWP (2005:21) 756 „Instead of disrupting the education of others, difficult pupils will be given the chance to get their lives back on track in special Turnaround Schools”. CPWP (2005:8) 754 755
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Ebene (Individuen, Familien, Charity-Verbände etc.) sich nicht selbst organisieren kann. Die Verantwortung des Staates wird somit auf wenige, Rahmenbedingungen schaffende Funktionen beschränkt. Wie oben bereits angedeutet, betont Labour im Programm von 2005 vor allem die Rolle der Regierung zur Herstellung von Chancengleichheit und Sicherheit.757 Vor diesem Hintergrund skizziert sie ihren gesellschaftspolitischen Anspruch, der sich maßgeblich am Grundwert der Gleichheit orientiert, wobei es primär um Chancengleichheit geht. So heißt es bei Labour: „Our ideals are undimmed: extend opportunity to all, demand responsibility from all, secure justice for all.”758
Die britischen Sozialdemokraten werben für eine klassenlose Gesellschaft, die dem Einzelnen bessere Zukunftschancen eröffnen würde. Auch in der Bildungspolitik wird dieser primär integrative gesellschaftspolitische Zugang von Labour deutlich, so wenn sie z. B. individuelle Förderprogramme für Kinder mit Lernproblemen anbieten will, ohne jedoch einer Selektion das Wort zu reden. Im Großen und Ganzen soll durch die Befähigung von Menschen (empowerment) diesen die Möglichkeit zur Eigenverantwortung und zur Anpassung an die wissensbasierte Ökonomie eröffnet werden. Hier wird deutlich, dass Labour einerseits konsequent den Gedanken der individuellen Freiheit als Ausgangspunkt ihrer Politik nimmt, aber das Schaffen der prinzipiellen Möglichkeit zur Wahrnehmung dieser Freiheit als eine Aufgabe des Staates definiert. In gewisser Hinsicht ist jedoch fragwürdig, wie das postulierte Gleichheitsprinzip mit dem Wettbewerbs- und Leistungsprinzip in der Wirtschafts- und Steuerpolitik zusammenpasst, da Labour hier den Kurs der Liberalisierung und Deregulierung, geringer Steuern und Einsparungen im öffentlichen Dienst – den sie letztlich von den Konservativen übernahm – weitgehend beibehalten wollen. Übergeordneter Begründungszusammenhang ihrer Politiken stellt der Wettbewerb unter den Bedingungen der Globalisierung und den daraus resultierenden Anpassungsbedingungen dar. Auf das Konzept der Teilhabegesellschaft wird in der Programmatik von 2005 nicht mehr eingegangen, allerdings wird die Einführung des Child Trust Fund als erfolgreiches Mittel zur Herstellung von Chancengerechtigkeit bewertet. In seiner normativen Ausrichtung lässt sich das Gesellschaftskonzept von Labour als garantistisch-sozialdemokratisch bezeichnen, da es Chancengleichheit zum Leitprinzip erhebt und insbesondere im Bildungsbereich einen Schwerpunkt setzt.759 Europäischer Frame 2005 Die sozialdemokratische Europakonzeption von 2005 entspricht im Großen und Ganzen einer Mischung aus den Positionen in den beiden vorherigen Programmen. Einerseits ist der Blick stark national geprägt, so dass jedes Engagement in Europa damit begründet wird, 757
„Our case rests on one idea more than any other – that it is the duty of Government to provide opportunity and security for all in a changing world.“ LPWP Preface (2005:5) LPWP (2005:9) 759 Allerdings verweist die Betonung von individueller Freiheit vor Solidarität, der Bezug zur Eigenverantwortung und die grundsätzliche Ausrichtung am Individuum nach dem Analyseraster auf liberale Tendenzen. 758
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dass dies im nationalen Interesse sei: „Making Europe work better for Britain“.760 Auch verweist Labour erneut darauf, dass Großbritannien sich eine Führungsposition in Europa inne hat und dadurch die nationalen Interessen besser einbringen kann. Andererseits wird der EU-Mitgliedschaft aber auch prinzipiell eine positive Rolle bei der Schaffung von Arbeitsplätzen und Wohlstand, beim Handel, der Förderung von Umweltstandards, sozialer Sicherheit und internationalem Durchsetzungsvermögen zuerkannt, was Labour dazu veranlasst „stolz“ auf die Mitgliedschaft zu sein. Diese Positivliste lässt Labour auch für den Verfassungsvertrag werben, der Europa effektiver machen würde. Allerdings wird hierbei auch betont, dass Großbritannien die Kontrolle über nationale Schlüsselinteressen behalte (Außenpolitik, Steuern, soziale Sicherheit und Verteidigung) und die nationalen Parlamente und Regierungen in EU-Angelegenheiten gestärkt würden. Das „Ja“ zum Verfassungsvertrag im Referendum soll demnach Großbritannien den Platz einer Führungsnation sichern.761 Dieses zwar positive aber auch primär funktionale Verhältnis zur EU lässt sich ebenfalls am Begründungszusammenhang erkennen, wonach im Zeitalter von Globalisierung die europäische Kooperation in einigen Bereichen als notwendig erachtet wird. Ein Wertebezug lässt sich hingegen nicht finden. Ferner wird auf die Gefahr eines Regierungswechsels hingewiesen, da die britischen Konservativen die Annahme des Sozialkapitels wieder rückgängig machen und damit Großbritannien sowohl innerhalb der EU als auch weltweit marginalisieren würden.762 Der Blick der Conservative Party auf Europa hat sich 2005 nicht geändert. Erneut wirbt sie für ein flexibleres, dereguliertes Markteuropa. Sie plädiert für ein opt-out beim Sozialkapitel, spricht sich gegen die „job-destroying employment legislation“763 aus, lehnt sowohl den Verfassungsvertrag als auch die Einführung des Euro strikt ab. Somit wollen sich die Tories dafür einsetzen, dass Europa liberaler, flexibler und größer wird. Sie sprechen sich klar für eine Erweiterung der Union aus und sehen darin nur einen ersten Schritt hin zum globalen Handel, wenn sie sagen: „We value Britains’s membership of the European Union, but our horizons extend much further.“764 Ihre europapolitische Position sehen die Konservativen dadurch begründet, dass damit die nationalen Interessen Großbritanniens gewahrt würden und dass sie der bedeutsamen Stellung Großbritannien im internationalen System gerecht wird: „Britain plays a unique role in the world. We are the only nation that is one of the five permanent members of the United Nations Security Council, a net contributor to the European Union, a member of the G8, at the centre of the commonwealth family of nations and a leading member of the NATO, (…) And our relations with the European Union have been mismanaged in a way which threatens not just British interests, but the capacity of the continent to adapt flexibly to the future.”765
Obgleich die britischen Konservativen in vielen Punkten ein „anderes Europa“ wollen als Labour, begründen beide Parteien ihre europapolitische Programmatik damit, dass durch 760
An anderer Stelle wird die Einführung des Euro nur dann anvisiert, wenn dies ohne Zweifel den nationalen wirtschaftlichen Interessen förderlich ist. 761 LPWP (2005:83f.) 762 „The alternative is to go back to the Tories with their record of cuts in aid and defence and their policies of tearing up the Social Chapter, and marginalising Britain in Europe and the world.” LPWP (2005:91) 763 CPWP (2005:4) 764 CPWP (2005:27) 765 CPWP (2005:25f.)
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europapolitische Einmischung die nationalen Interessen Großbritanniens am besten gewahrt werden könnten. Die Wahrung der britischen Interessen hängt demnach wieder mit der Einschätzung dessen zusammen, was der Nationalstaat noch alleine zu lösen im Stande ist und wo eine europäische Kooperation notwendig erscheint. Während die Konservativen den Nationalstaat prinzipiell für souverän und handlungsfähig halten und lediglich im wirtschaftspolitischen Bereich eine Freihandelszone schaffen wollen, wird für Labour eine transnationale Kooperation überall da notwendig, wo durch die Schaffung des europäischen Binnenmarktes neue Rahmenbedingungen entstanden sind. Folglich können für Labour z. B. wirtschaftspolitische Fragen wie die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit oder außenpolitische Fragen besser in Kooperation mit den anderen europäischen Staaten gelöst werden. Das konservative Europakonzept beinhaltet erneut vornehmlich liberal-nationale Tendenzen, während Labours Europakonzept sozialliberal-nationale Tendenzen aufweist. Zudem weist das Europakonzept der Tories von 1992 bis 2005 keine wesentlichen Veränderungen auf, während bei Labour nach der Regierungsübernahme ein stärker nationaler Blickwinkel und eine geringere Betonung sozialer Aspekte beobachtet werden kann. 7.4.4 Bilanz Großbritannien Die Betrachtung der in den drei Bereichen präsentierten Deutungsangebote der britischen Parteien zwischen 1992 und 2005 zeigt, dass die Konservativen, aber mit gewissen Einschränkungen auch Labour, eine hohe Kohärenz zwischen den Frames und über die Zeit hinweg aufweisen. Insbesondere bei den Konservativen fällt auf, dass sie weder zwischen den einzelnen normativen Konzeptionen noch über den Zeitraum hinweg große Positionsveränderungen vornehmen. Ihre Deutungsangebote und Problemlösungsstrategien sind an erster Stelle liberal und an zweiter Stelle als konservativ zu bewerten. Die liberale Orientierung der Tories kommt vor allem in ihrer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik zum Ausdruck, die auf Deregulierung des Marktes, Privatisierung der öffentlichen Dienste und eine „harte“ Aktivierung im Rahmen der Beschäftigungspolitik setzt. In der Sozialpolitik wie auch im Gesellschaftskonzept der Tories kommt ihre Werteorientierung deutlich zum Vorschein, wenn sie Eigenverantwortung, Wahlfreiheit und Leistung betonen und die Rolle des Staates in dieser Hinsicht primär auf die Ermöglichung eines Marktes beschränken. Dabei wird in gewisser Weise der Wohlfahrtsstaat in Frage gestellt, denn er soll sich auf die Bedürftigsten und Ärmsten beschränken, die sich über den Markt nicht selbst versorgen können, was sich auf Kranke und Alte und für einen gewissen Zeitraum auch Arbeitslose eingrenzen lässt. An vielen Stellen klingt Misstrauen gegenüber Leistungsbeziehern mit. Damit plädieren die Konservativen für einen minimalen Wohlfahrtsstaat. Interessanterweise halten sie aber dennoch am staatlichen NHS fest und wollen es nicht abschaffen, sondern lediglich mehr Wettbewerb verankern. Ihre sozial- und gesellschaftspolitischen Deutungsangebote übertragen die Konservativen auch auf Europa, indem sie eine Freihandelszone zwischen souveränen Nationalstaaten schaffen wollen. Damit wird Europa nicht als ein politisches Projekt wahrgenommen, sondern lediglich als ein strategisches Unterfangen, welches die Wettbewerbsfähigkeit Großbritanniens und Europas im Rahmen der Globalisierung verbessert und außen- und sicherheitspolitisch von Bedeutung ist.
7 Deutungskultur
273
Tabelle 25: Wohlfahrtsstaatliche Parteiorientierungen in Großbritannien 1992-2005 Frame Partei
Sozialstaat Labour
Gesellschaft
Europa
Conservative
Labour
Conservative
Labour
Conservative
Liberal
Sozialdemokratisch
LiberalKonservativ
Sozialdemokratisch
LiberalNational
1997 Sozial-Liberal
Liberal (gering (Garantistisch)LiberalKonservativ) Sozialliberal Konservativ
Sozialliberal
LiberalNational
2001 Liberal-Sozial
Liberal (gering (Garantistisch)Konservativ) Sozialliberal
Liberal
National-Liberal (gering sozialdemokratisch)
LiberalNational
(Garantistisch)Sozialliberal
Liberal
NationalliberaSozial
LiberalNational
Sozialdemokratisch 1992 (gering Liberal)
2005 Sozial-Liberal
Liberal
Quelle: Eigene Darstellung
Labour weist zwar ähnlich wie die Konservativen keine grundlegenden Positionsveränderungen auf, jedoch kann über den Zeitraum eine gewisse Erweiterung und Präzisierung ihrer Sozialstaats- und Gesellschaftskonzeption beobachtet werden. Auch zwischen den Frames nimmt Labour unterschiedliche Akzentuierungen vor, so dass im Rahmen der Sozialpolitik die liberale Orientierung vor allem 1997 und 2001 zum Tragen kommt, während im Rahmen der Gesellschaftskonzeption die soziale Dimension stärker betont wird. Beide Bereiche können jedoch als weitgehend sozialliberal bezeichnet werden, indem sowohl liberale Werte und Strategien als auch sozialdemokratische auszumachen sind. Sozialpolitisch verfolgt Labour einen eher sozialliberalen und gleichzeitig pragmatischen arbeitszentrierten Lösungsansatz, indem sie vor allem die Beschäftigungsfähigkeit und Reintegration in den Arbeitsmarkt von Arbeitslosen fokussiert. In diesem Kontext befürworten sie wie die Konservativen eine unternehmensfreundliche Wirtschaftspolitik mit geringen Steuern und einem flexiblen Arbeitsmarkt, will aber zugleich über Investitionen in Humankapital (Bildung, Qualifizierung etc.) mehr Chancengerechtigkeit herstellen. Zudem strebt Labour aber auch eine quantitative und qualitative Verbesserung sozialer Leistungen an, erhebt den Anspruch, für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen (Sure Start Programm, Child Trust Fund, Mindestlohn etc.), spricht sich im Vergleich zu den Konservativen für mehr Arbeitnehmerrechte wie auch für Sozialpartnerschaft aus. Labours normative Orientierung ist demnach eine spezifische Verbindung aus makroökonomisch liberalen Ansichten und gesellschaftspolitisch sozialdemokratischen Überzeugungen. Diese sozialliberale Orientierung lässt sich auch in ihrer Europakonzeption wiederfinden, indem sie die europäische Ebene als ergänzenden Wirtschaftsraum begreift und ganz ähnlich wie die Konservativen ein intergouvernementales Markteuropa befürwortet. Hier kommt ebenfalls eine primär strategische Haltung gegenüber dem Integrationsprozess zum Ausdruck. Gleichzeitig hat sich Labour für das Sozialkapitel und den Verfassungsvertrag ausgesprochen. Dabei ist aber zu bedenken, dass die Umsetzung des Sozialkapitels nur sehr schleppend von Labour verfolgt wurde und mitunter als Zugeständnis an die Gewerkschaften interpretiert wird. Auch beim Verfassungsvertrag ist die Haltung Labours nicht unbedingt als eindeutig zu bewerten, hatte Labour doch ein Referendum angekündigt, das großer Wahrscheinlichkeit nach negativ
274
7 Deutungskultur
ausgegangen wäre. Das Verhältnis der britischen Sozialdemokraten ist folglich vor allem von nationalen Interessen geleitet, zugleich wollen sie aber auch nicht das negative Image der Thatcher-Ära innerhalb der EU aufrechterhalten und nehmen somit eine prinzipiell proeuropäische Haltung ein. Hier kann zum Beispiel die konstruktive Europapolitik Tony Blairs im Rahmen der EBS und der Lissabon-Strategie erwähnt werden, allerdings waren es auch gerade die Briten, die sich für eine weiche Koordinierungsmethode anstelle neuer sozialpolitischer Kompetenzen auf europäischer Ebene stark gemacht haben.766 Welche Erkenntnisse lassen sich nun für die wohlfahrtsstaatliche Deutungskultur in Großbritannien zwischen 1992 und 2005 ableiten? Ähnlichkeiten zwischen den Parteien, die zum Teil als britisch politisch-kulturelles Spezifikum interpretiert werden können, sind im Rahmen der Deutungsangebote die Betonung der individuellen Freiheit, damit einhergehend eine spezifische Interpretation von Subsidiarität, die primär zwischen Staat und Gesellschaft trennt, eine liberale angebotsorientierte Politik als Antwort auf die Globalisierung sowie ein gewisser Nationalismus, insbesondere mit Blick auf Europa. Dennoch scheint die britische Deutungskultur eine relativ klare Links-Rechts-Differenzierung aufzuweisen, wobei hier die These aufgestellt wird, dass diese in der Formulierung des normativen Anspruchs (Policy-Ziele) stärker zum Ausdruck kommt als in den gewählten Strategien der Parteien. Lediglich im Rahmen der Europapolitik sind die Positionierungen stärker national als parteipolitisch geprägt. 7.5 Polen Polen als drittes Untersuchungsland muss hier in zweifacher Hinsicht als „Sonderfall“ betrachtet werden, da es erstens als ehemaliger Ostblock-Staat seit Beginn der 1990er Jahre einen langen und schwierigen Transformationsprozess von einem sozialistischen autoritären System zur Demokratie zu vollziehen hatte und dieser Prozess bis heute nicht in allen Bereichen als vollständig abgeschlossen gelten kann. Dieser Transformationskontext bedeutet für die politische Kultur eines Landes, dass sie stärker hinterfragt wird, als in konsolidierten Demokratien und z. T. grundlegendere institutionelle Themen den politischen Diskurs beherrschen, die in gefestigten Demokratien wie Großbritannien oder Deutschland nicht auf der Tagesordnung stehen (z. B. Verfassungsgebungsprozess, Umbau der alten Strukturen etc.). Hinzu kommt in Polen die hohe Instabilität des Parteiensystems im Untersuchungszeitraum, was sich in der schnellen Abfolge von Neugründungen, Zusammenschlüssen und Auflösungsprozessen politischer Parteien zeigt. Zweitens ist Polen erst seit 2004 Mitglied der Europäischen Union, so dass erst mit der konkreten Aussicht auf einen Beitritt europapolitische Positionen der Parteien zu erwarten sind. In der Fachliteratur wird darauf hingewiesen, dass der unter den führenden Parteien herrschende Konsens über die prinzipielle Westbindung Polens und den Beitritt zur EU zu einer generellen Vernachlässigung einer öffentlichen Erörterung dieser Themen geführt hat, so dass es zunächst die europafeindlichen Parteien am rechten Rand des Parteienspektrums wie „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), „Liga der polnischen Familien“ (LPR) und „Samoobrona“ waren, die das EU-Thema für sich entdeckten und gegen einen EU-Beitritt polemisierten.767 Da die polni766
Vgl. Bulmer (2006) Anschütz (2004:115). Eine wichtige Unterstützung bekamen die Parteien bei ihren europafeindlichen Kampagnen vom katholischen Radiosender Maryja. Radio Maryja ist aufgrund seiner zum Teil antisemitischen, populisti-
767
7 Deutungskultur
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schen Parteiprogramme wenig Einheitlichkeit aufweisen, sowohl was den Umfang als auch die Auswahl der Themen angeht, wird neben den Programmen auf weitere Quellen (z. B. Internetpräsenz der Partei, Expertengespräche, Sekundärliteratur) zurückgegriffen. Trotz dieser Schwierigkeiten ist die Berücksichtigung Polens vor allem aus zwei Gründen von hoher Relevanz für die Arbeit. Zum einen, weil mit Polen ein einflussreiches osteuropäisches Land und ein neuer Mitgliedsstaat der EU Eingang in die Analyse erhält. Damit fällt der Blick nicht einseitig auf westeuropäische etablierte Demokratien aus, die bereits lange Mitglieder der EU sind. Zum anderen, weil anhand von Polen als neuem Mitgliedsland aufgezeigt werden kann, inwieweit das EU-Thema die Parteienlandschaft während der Transformation prägt und damit möglicherweise auch einen besonderen Stellenwert im Demokratisierungsprozess einnimmt. 7.5.1 Zeithistorischer Kontext von 1945 bis zur Transformation Staatssozialismus und politische Kultur in Polen (1945-1989) In der Osteuropa-Forschung gilt Polen als eine Art „Sonderfall“ unter den sozialistischen Ostblockstaaten. Diese Zuschreibung bezieht sich sowohl auf die kommunistische Realität in Polen während des Kalten Krieges als auch auf die spezifische Art des Systemübergangs nach 1989. 768 So unterschied sich Polen zur Zeit des Staatssozialismus zwar formal nicht von den anderen sozialistischen Ostblockstaaten – die grundlegenden sozio-ökonomischen Ordnungsprinzipien der Volksrepublik waren demokratischer Zentralismus und eine zentralistische Planwirtschaft, wobei die kommunistische Partei die unbestrittene Führungsrolle innerhalb des politischen Systems innehatte. Den ideologischen Überbau lieferte die marxistisch-leninistische Ideologie, die zur offiziellen Staatsdoktrin erhoben wurde. Jedoch war die praktische Umsetzung in Polen weniger konsequent und weniger rigide als in den sozialistischen Nachbarstaaten, „[d]ie Kultur- und Wirtschaftspolitik war liberaler, die ideologische Durchdringung der Gesellschaft geringer, die kommunistische Partei schwächer und die Gesellschaft pluralistischer (….).“769 Insbesondere seit 1956 verfolgte Polen mit Wladyslaw Gomulka an der Parteispitze mehr Eigenständigkeit gegenüber Moskau. Dies äußerte sich vor allem in einer in vielen Bereichen eintretenden Liberalisierung, wie z. B. einer Lockerung der wirtschaftlichen Planvorgaben und der Zensur, größerer kirchlicher Autonomie und der Rücknahme von Zwangskollektivierungen.770 Obgleich diese Liberalisierungsmaßnahmen zum großen Teil nur von kurzer Dauer waren, so werden sie dennoch als „entscheidend für den polnischen Sonderweg hin zu einem autoritären Sozialismus mit einer zumindest in Ansätzen pluralistischen Gesellschaft“771 betrachtet. Von großer Bedeutung waren hierbei die privatwirtschen und nationalistischen Tendenzen sowie dubioser Finanzgeschäfte einer der umstrittensten Sender in Polen. Allerdings erreichte er in den 90er Jahren bis zu 6 Millionen Zuhörer täglich, heute wird die Hörerschaft auf noch ca. 1 Million geschätzt, davon sind nach Angaben der Robert Bosch Stiftung ca. 70 % über 60 Jahre, siehe http://www.medientage.org/subpage.php?article_id=256 (20.09.2008). 768 Gaber (2007:139), Gawrich et al. (1999:119) 769 Gaber (2007:139) 770 Gaber (2007:141f.) 771 Gaber (2007:141). Ähnlich u. a.: Ekiert (1996:226), Linz/Stepan (1996)
276
7 Deutungskultur
schaftlich organisierte Landwirtschaft sowie die Zugeständnisse gegenüber der Kirche.772 Die Gründe für diesen polnischen Sonderweg zu einem eher autoritären und nicht totalitären Sozialismus, wie er z. B. in der DDR oder der CSSR nach 1968 anzutreffen war, sind sicherlich vielschichtig und im Zusammentreffen vieler unterschiedlicher Faktoren zu suchen. Jedoch kann als eine wesentliche Einflussgröße die politische Kultur Polens gelten, die u. a. eine relativ starke Systemopposition während der Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft begünstigte, wodurch sich die Bevölkerung immer wieder Zugeständnisse von den Machthabern erkämpfte.773 Der polnische Sonderweg kann anhand von drei maßgeblichen politischen Krisen während des Kommunismus verdeutlicht werden.774 So führten die Stagnation des Lebensstandards sowie Preissteigerungen 1970/71 zu massiven Arbeiterprotesten, so dass die Regierung in Verhandlungen mit den Arbeitern treten musste und diese es schafften, politische Konzessionen bis hin zu einem Führungswechsel durchzusetzen. Diese Tatsache, so Gaber (2007:142f.), habe der Bevölkerung die Schwäche der Partei gezeigt und umgekehrt der politischen Führung vor Augen geführt, dass die Loyalität der Bevölkerung nicht über Indoktrination und Einschüchterung zu erlangen war. Demnach wurde in der Folgezeit versucht, die politische Zustimmung der Bevölkerung durch wirtschaftliche und soziale Verbesserungen zu gewinnen. Zu erneuten Protesten kam es bereits 1976, als die Regierung Preiserhöhungen ankündigte und sie damit „den ‚stille[n] Pakt’ – politische Loyalität für wirtschaftlichen Wohlstand und soziale Sicherheit – in den Augen der Bevölkerung von Seiten der Regierung gebrochen“775 hatte. Die repressiven Reaktionen der Regierung gegenüber den Protestierenden führte zu einer breiten Solidarisierung zwischen Intellektuellen und Arbeitern, was sich in der Folgezeit zu einer „Gegen-Kultur“ in Gestalt von oppositionellen Arbeiter-, Intellektuellen- und Studentenorganisationen entwickelte. Die katholische Kirche unterstützte die Oppositionsbewegung aktiv und avancierte zum „moralischen Gegenpol“ der Partei.776 Vier Jahre später (1980) kam es nach erneuten Ankündigungen von Preiserhöhungen für Lebensmittel zu den bis dato schwersten Massendemonstrationen und Protesten. Diese zunächst rein ökonomisch motivierte Auflehnung gegen das Regime nahm im weiteren Verlauf mehr und mehr politischen Charakter an. Umfangreiche politische Forderungen wurden formuliert, wie zum Beispiel das Streikrecht, die Anerkennung unabhängiger Gewerkschaften, eine Abschaffung der Zensur sowie die Privilegien der politischen Führungselite, eine bessere Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, Meinungsfreiheit, die Rehabilitierung von Streikenden von 1970 und 1976 etc. Interessanterweise ging es der Oppositionsbewegung dabei nicht um einen Systemwechsel, sondern lediglich um eine Reformierung des bestehenden Systems. Dies ist u. a. auch darauf zurückzuführen, dass nicht der Sozialismus als Idee in Frage gestellt wurde, sondern nur seine praktische Umsetzung in Polen. Diese Einstellung innerhalb der Bevölkerung änderte sich jedoch mit der Verschärfung der politischen Repression im Zuge der Krise.777 Aus dieser politischen Krise 772
Vgl. Linz/Stepan (1996) Gawrich et al. (1999:119), Gaber (2007:142-163) Gaber (2007), Ekiert (1996) 775 Gaber (2007:144) 776 Ebd. 777 Ebd. (2007:145-158). Vgl. auch: Holzer/Hahn (1989). Gaber schreibt zur Einstellung der Bevölkerung zum Sozialismus: „So lag die grundsätzliche Befürwortung des Sozialismus zwischen den späten 50er und den späten 70er Jahren gleich bleibend bei über 60 Prozent der Befragten und sank erst nach Verhängung des Kriegszustandes 1981 merklich ab.“ Gaber (2007:158) 773 774
7 Deutungskultur
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ging die unabhängige Gewerkschaftsbewegung SolidarnoĞü mit rund 10 Millionen Mitgliedern kurz nach der offiziellen Anerkennung durch die Regierung im August 1981 hervor.778 Eine regelrechte organisatorische Gründerwelle von weiteren unabhängigen SolidarnoĞünahen Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen folgte dem „Einknicken“ der Regierung vor der Oppositionsbewegung. Trotz erneutem Führungswechsel war die Schwäche der Partei unübersehbar, die einen Mitgliederschwund von rund 30 % zu verzeichnen hatte und die politische und wirtschaftliche Krise im Land verschärfte sich immer weiter.779 Unter der Führung von Wojcech Jaruzelski wurde in Polen am 13.12.1981 der Kriegszustand in Polen ausgerufen, was ein generelles Streik- und Demonstrationsverbot bedeutete und mit dem die SolidarnoĞü sowie die anderen unabhängigen Organisationen verboten wurden. Gezielte politische Repressionen verfehlten ihre Wirkung nicht, so dass sich der Großteil der Bevölkerung ins Private zurückzog, während ein Teil der Oppositionsbewegung aus der Illegalität heraus weiter agierte. Der Ausnahmezustand hatte letztlich nicht den gewünschten Erfolg, weder konnte die Oppositionsbewegung ausgeschaltet, noch das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewonnen werden. Stattdessen wuchs die Entfremdung zwischen der politischen Führung und der Bevölkerung weiter an. Auch hatte sich die wirtschaftliche Lage nicht verbessert, was trotz aller Verbote und Sicherheitsvorkehrungen immer wieder zu Demonstrationen führte.780 Ein Jahr nach seiner Verhängung wurde der Kriegszustand wieder aufgehoben (Dezember 1982) und erste wirtschaftliche Reformen angestoßen.781 Aber auch dies änderte nichts am grundsätzlich schlechten Zustand der Wirtschaft: So mehrten sich die Auslandsschulden weiter, die Preise stiegen weiter an und das sozialistische Wohlfahrtssystem stand kurz vor dem Kollaps.782 Hinzu kam, dass seit dem Ausrufen des Kriegszustandes Polen mit wirtschaftlichen Sanktionen aus dem Westen belegt worden war, was die Situation weiter verschlechterte. Insgesamt wendete sich die internationale Lage ab Mitte der 1980er Jahre zuungunsten der kommunistischen Hardliner in Polen, da einerseits im Zuge von Gorbatschows Politik der Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umstrukturierung) die Breschnew-Doktrin von 1968783 aufgegeben wurde und
778
Gaber (2007:145), Holzer et al. (1989) Zur Verschärfung der Krise führte neben der schlechten wirtschaftlichen Situation des Landes, auf als Folge der Massenproteste u. a. auch das z. T. abwartende Verhalten der Regierung bei der Umsetzung der Danziger Forderungen der Oppositionsbewegung. Aber auch innerhalb der Solidanosc kam es zu Auseinandersetzungen über die weitere Vorgehensweise. Der Versuch der Kirche zwischen Opposition und Regierung zu vermitteln war hingegen ohne Erfolg. Gaber (2007:145) spricht dementsprechend von einer Pattsituation zwischen Solidarnosc und Regierung Ende 1981. Neuer erster Sekretär der Partei wurde im September 1980 Stanislaw Kania, der jedoch bereits nach einem Jahr wird er von Wojcech Jaruzelskiabgelöst. Jaruzelski war zu diesem Zeitpunkt bereits Ministerpräsident (seit Anfang 1981) und ab Oktober 1981 nun zugleich neuer Parteichef. Gaber (2007:145f.) 780 Millard (1999:7ff.), ebenso Gaber (2007:146) 781 Diese beinhalteten eine Dezentralisierung der Wirtschaft sowie mehr Freiheiten für die Betriebe. Darunter fiel auch die Möglichkeit Preise und Einkommen selbst zu bestimmen und ggf. den Betrieb zu schließen, wenn er sich nicht mehr rentierte. Politisch wurden keine Reformen angestrebt, die Solidarnosc blieb auch weiterhin verboten, allerdings durften sich andere unabhängige Gewerkschaften und Organisationen gründen – wohl auch um der Solidarnosc-Bewegung Konkurrenz zu machen. Gaber (2007:147) 782 Gaber (2007:147), ebenso Ekiert (1996:292ff.) 783 Mit der Abschaffung der Breschnew-Doktrin 1988 wurde die „beschränkte Souveränität“ der Ostblockstaaten aufgehoben, was ihnen ermöglichte politische und wirtschaftliche Reformen durchzuführen und letztlich die Staatsform selber zu wählen. Mit der Auflösung des Warschauer Paktes und des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (1991) besiegelte das Ende des sozialistischen Ostblocks. Torke (1993:311-313) 779
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andererseits die verbotene SolidarnoĞü Anerkennung und Unterstützung aus dem Westen erhielt.784 Ab 1988 begannen die Gespräche zwischen der Regierung und der – noch illegalen – Opposition, die zur Einrichtung eines Runden Tisches zwischen Februar und April 1989 führten. Bei diesen Zusammenkünften verhandelte die Regierung mit Vertretern der Opposition über die Wiederzulassung der SolidarnoĞü und auch über die zukünftige Gestaltung des polnischen politischen Systems, was den Beginn der polnischen Transformation bedeutete. Das Besondere der polnischen Transformation liegt in der Verhandlungsform: der so genannte „ausgehandelte Systemwechsel“ zwischen der Opposition und den bisherigen Machthabern am runden Tisch ermöglichte einerseits einen Systemübergang, der kompromissorientiert war und folglich eine Spaltung der Gesellschaft zwischen alten und neuen Machthabern bzw. Kommunisten und Demokraten weitgehend verhinderte .Andererseits wird angenommen, dass eben diese kompromissorientierte Verhandlungsstrategie zu einem verlangsamten Institutionenaufbau führte sowie einer zeitnahen öffentlichen Aufarbeitung der Vergangenheit hinderlich war, was womöglich auch Auswirkungen auf die politische Kultur Polens zeitigt. Die Studie von Gaber (2007) zeigt einerseits auf, dass die politische Kultur Polens hohen Erklärungswert für den „polnischen Sonderweg“ während des Kommunismus liefert und zum anderen aber auch die Ereignisse (bzw. die politische Realität) wiederum Einfluss auf die politische Kultur nehmen.785 Für die politische Kultur Polens während des Sozialismus konstatiert Gaber einerseits Kontinuitäten, die sich noch weiter verstärkt haben und andererseits Faktoren, die sich erst in Reaktion auf den Staatssozialismus herausgebildet haben. Zu ersteren zählen der Nationalkatholizismus und ein NichtObrigkeitsdenken. Zu letzterem gehören die Vorstellungen über soziale Gerechtigkeit und die Einstellungen zur Demokratie. Letztlich wird anhand dieser langfristigen und mittelfristigen Faktoren der polnischen politischen Kultur zur Zeit des Staatssozialismus recht deutlich, wie diese neben den ökonomischen Bedingungen einen Einfluss auf die spezifische polnische Entwicklung hatte. Der Nationalkatholizismus in Polen erlangte während des Kommunismus einen erheblichen Bedeutungszuwachs, so dass die Kirche „zur wichtigsten alternativen Identifikations- und Sozialisationsinstanz und zum einzigen institutionellen Gegenspieler des kommunistischen Staates“ 786 avancierte. Nationale Traditionen und Katholizismus waren auch für die Oppositionsbewegungen die wesentlichen Bezugsgrößen und sie brachten dies in ihrer Symbolik und Wertebezügen zum Ausdruck.787 Wie noch zu 784
Der berühmte Führer der SolidarnoĞü Lech Walesa erhielt 1983 den Friedensnobelpreis und auch der Papst empfing ihn persönlich, obgleich er einer illegalen Organisation vorstand. Gaber (2007:147) Darüber hinaus gab es vielfache Solidaritätsbekundungen und politische wie auch zivilgesellschaftliche Unterstützungsaktionen für die polnische Oppositionsbewegung aus dem europäischen und amerikanischen Ausland. Einen guten Überblick über Formen dieser Unterstützung liefert am Beispiel Deutschland das Heft von Riechers (2006). 785 Die Arbeit von Gaber (2007) will zwar primär den Einfluss der Geschichte auf die politische Kulturen in Polen und in Deutschland erklären – was auch gelingt – jedoch lässt sich ebenso an Beispielen ablesen, inwieweit sich die politische Kultur begünstigend oder hinderlich auf z. B. politische Entwicklungen auswirkt. Insofern gelingt der Studie die reziproke Beeinflussung von politischer Kultur und Geschichte bzw. den realen politischen Ereignissen gut zu veranschaulichen. 786 Gaber (2007:151) 787 Ebd. Diese Mischung aus Anti-Kommunismus gepaart mit polnischem Nationalkatholizismus lässt sich auch an einem Foto veranschaulichen, welches Arbeiter auf den Mauern der Werft zeigt und auf der Mauer die Losungen „Gerechtigkeit und Gleichheit für das ganze Volk!”, „Nur Solidarität und Geduld garantieren uns den Sieg!”, „Es leben die freien und unabhängigen Gewerkschaften und der Friede auf der ganzen Welt!” stehen und dazu noch ein Bild der Madonna mit polnischer Flagge aufgehängt wurde. S. Bild im Anhang oder unter http://www.solidarnosc.gov.pl/gallery/gazeta/05/1-4,%20MSZ.JPG (10.06.2008)
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zeigen sein wird, ist diese spezifische Mischung aus Katholizismus und Nationalbewusstsein (z. T. auch Nationalismus) nach dem Transformationsprozess noch ein zentrales Merkmal der polnischen politischen Kultur. Neben dem Nationalkatholizismus macht Gaber die Tradition des „Nicht-Obrigkeitsdenkens“ als eine „historisch gewachsene Dichotomie von Staat und Gesellschaft“ aus, die sich zum Beispiel in einem gewissen Misstrauen gegenüber den staatlichen Institutionen äußert, aber auch apolitische Einstellungen beinhaltet. Das Misstrauen gegenüber den politischen Institutionen und der Wille, außerhalb der staatlichen Strukturen eine „Gegengesellschaft“ zu organisieren, scheint ein begünstigender Faktor für die hohe Streik- und Demonstrationsbereitschaft der Bevölkerung während des Staatssozialismus gewesen zu sein.788 Warum der Sozialismus in Polen aber dennoch von der Bevölkerung zumindest partiell unterstützt wurde, macht Gaber (2007:154f) an egalitären Werten fest, die in der polnischen Gesellschaft sowohl auf die egalitären Traditionen im polnischen Nationalismus und der katholischen Soziallehre wie auch auf Erfahrungen extremer Ungleichheit und Armut während der Besatzung zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges zurückgehen. Ein zentraler Grund für die egalitäre Werteausprägung der Gesellschaft muss aber auch als eine Konsequenz sozialistischer Sozialisation und Erfahrungen gewertet werden.789 Die Befürwortung des Sozialismus bedeutet primär eine Identifikation mit sozialistischen Werten wie sozialer Gerechtigkeit, sozialer Gleichheit und Gleichberechtigung, was nicht gleichzusetzen ist mit einer Identifikation bzw. Unterstützung für die tatsächlich erlebte „sozialistische Demokratie“ in Polen. Für die 1970er und 1980er Jahre kann auf der Ebene der Sozio-Kultur zusammenfassend festgehalten werden: „Auf der Einstellungsebene dominierte in den 70er und 80er Jahren die Unzufriedenheit mit dem sozialistischen System in Polen. Grund dieser Unzufriedenheit war vor allem die starke Diskrepanz zwischen propagierten sozialistischen Werten und der sozialen Wirklichkeit. Die Ablehnung des real existierenden polnischen Sozialismus schloss jedoch eine Unterstützung einzelner sozialistischer Ideen und Prinzipien sowie eine partielle kulturelle Anpassung an das reale Gesellschaftssystem nicht aus. Zu den wichtigsten Einstellungsmerkmalen dieser Zeit gehörten neben der traditionellen Dichotomie von Staat und Gesellschaft, etatistisch-egalitäre Gerechtigkeitsvorstellungen sowie ein breites und tendenziell ökonomisch geprägtes Verständnis von Demokratie. Hinzu kommt ein eher passives und apolitisches Verhältnis zur Politik, das ungeachtet der zahlreichen Proteste und der vergleichsweise starken Oppositionsbewegung auch in Polen gesamtgesellschaftlich dominierte.“790
Das Verständnis der polnischen politischen Kultur kommt ohne die Berücksichtigung der noch verhältnismäßig jungen sozialistischen Vergangenheit des Landes nicht aus.
788
Zu einer historisch begründeten Ablehnung des Sowjetkommunismus, der sich auch nicht mit katholischen Werten vereinbaren ließ, konnten auch die polnischen Kommunisten nicht auf viel Vertrauen in der Gesellschaft hoffen. Für Wnuk-Lipinski (1982) zeigt sich die Dichotomie von Staat und Gesellschaft in Form eines „sozialen Diphormismus“, der sich in zwei völlig unterschiedlichen aber koexistierenden Wertesystemen manifestierte: auf der einen Seite der traditionelle Katholizismus auf der Ebene der privaten Lebenswelt und auf der anderen Seite die Anpassung an den real existierenden Sozialismus auf der Ebene der öffentlichen Lebenswelt. Vgl. Gaber (2007:152) 789 Gaber (2007:155), so auch Nowak (1981) 790 Gaber (2007:162)
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7.5.2 Politische Institutionen und sozialstaatliche Strukturen im Transformationsprozess Wie oben bereits angesprochen, zeichnete sich der polnische Transformationsprozess insbesondere durch seinen Kompromisscharakter aus, so dass es zu einem verhandelten oder paktierten Systemwechsel zwischen der alten kommunistischen Elite und der demokratischen Oppositionsbewegung kam. Im Rahmen der Transformationsforschung gibt es die idealtypische Unterscheidung von drei aufeinander folgenden Phasen, die einen demokratischen Transformationsprozess kennzeichnen: Liberalisierung, Demokratisierung und Konsolidierung.791 Auch für den polnischen Transformationsprozess lassen sich drei Phasen erkennen, die allerdings nur grob den drei idealtypischen Phasen zugeordnet werden können. Liberalisierungs-, Demokratisierungs- und Konsolidierungsprozesse verliefen in der Realität auf verschiedenen Ebenen in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Die erste Phase in Polen reichte von den Gesprächen am runden Tisch (Frühjahr 1989) bis zur ersten freien Parlamentswahl 1991.792 Die am runden Tisch ausgehandelten Kompromisse für die ersten halbfreien Wahlen 1989 sicherten den Kommunisten nach wie vor eine Mehrheit im Sejm zu, das Amt des Staatspräsidenten sowie das Innen- und das Verteidigungsministerium wie auch die Beibehaltung führender Positionen in der Administration und in den Regionalverwaltungen. Die erste demokratische Regierung unter Tadeusz Mazowiecki verfolgte ein umfassendes Reformprogramm, welches sich die Errichtung eines demokratischen Rechtsstaates, den Aufbau der am Boden liegenden Wirtschaft und die Einführung der sozialen Marktwirtschaft zu den obersten Zielen gemacht hatte. Dementsprechend wurde schon 1990 ein radikaler Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft verfolgt, der eine „sofortige Liberalisierung der Preise, den Wegfall von Subventionen, die Begrenzung der Einkommen, die Freigabe der Währung und Öffnung des Marktes für private Unternehmen und ausländischen Investoren“793 bedeutete. Durch die forcierte Liberalisierung gelang es zwar, die größten ökonomischen Probleme schnell zu beheben (Eindämmung der Inflation, weniger Staatsausgaben sowie die Rückkehr von Waren in die Geschäftsregale), doch auch die negativen Auswirkungen wie ein rasanter Anstieg der Arbeitslosigkeit, wachsende soziale Ungleichheit und Armut ließen nicht lange auf sich warten und führten zu erneuten Streiks und Unruhen. Aus den Präsidentschaftswahlen von 1990 ging Lech Walesa als neuer Präsident Polens hervor, was einen Sieg der Kritiker des bisherigen Reformkurses bedeutete. Mit dem Ende des kommunistischen Regimes in Polen ging jedoch auch der Niedergang der SolidarnoĞü-Bewegung einher, da das einigende Band des Kampfes gegen den Kommunismus mehr und mehr in den Hintergrund rückte und dadurch die ideologischen und politischen Differenzen innerhalb der Bewegung offen zu Tage traten. Eine Vielzahl an Parteien, Bürgerinitiativen und Splittergruppen war die Folge. Damit änderten sich auch die politischen Konfliktstrukturen. Ging es bei den Wahlen von 1989 noch primär um die Frage Kommunismus vs. Demokratie, können für die Wahlen von 1991 bereits vier cleavages ausgemacht werden: 1. Demokratie vs. Autoritarismus, 2. reine Marktwirtschaft vs. Staatsinterventionismus, 3. Katholizismus vs. Laizismus und 4. proEuropa vs. Europaskepsis.794 Die erste Phase der polnischen Transformation war demnach 791
Vgl. Bos (1996) Bei der Einteilung der Phasen orientiere ich mich an Gaber (2007:163), übernehme jedoch nicht ihre Phasenbezeichnungen, sondern beschreibe dies anhand der gängigen Unterscheidung in der Transformationsforschung. 793 Gaber (2007:163), vgl. auch Alexander (2003:370ff.) 794 Ebd. 792
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maßgeblich von der Liberalisierungspolitik geprägt, aber auch vom Zerfall der SolidarnoĞü sowie einer weitgehenden Nichtthematisierung der kommunistischen Vergangenheit. Die zweite Phase von 1991 bis 1997 kann im Großen und Ganzen als Demokratisierungsphase betrachtet werden, in der das am runden Tisch ausgehandelte semipräsidentielle Regierungssystem institutionalisiert wird. Dies ist maßgeblich durch die doppelköpfige Exekutive gekennzeichnet, wonach Staatspräsident und Parlament eine eigene Legitimation durch Wahlen und ähnliche Machtressourcen besitzen. Dabei kann es zu einer machtpolitischen Konkurrenz zwischen Regierungschef (Parlament) und Staatspräsident kommen, wenn diese aus unterschiedlichen politischen Lagern stammen (cohabitation). Durch die Möglichkeit einer Blockade kann die Entscheidungseffizienz des politischen Systems stark beeinträchtigt werden, was sich auch auf die Regierungsstabilität auswirken kann.795 Mit der Verfassung von 1997 wurde in Polen eine stärkere Kompetenzklärung zwischen den drei Organen Exekutive, Legislative und Judikative vorgenommen und die Präsidialkompetenzen eingeschränkt, so dass man in Polen – im Unterschied zu Frankreich, wo der Präsident über eine größere Machtfülle verfügt als in Polen – von einem parlamentarisch-präsidentiellen und nicht von einem präsidentiell-parlamentarischen System spricht.796 So wurden Regierung und Parlament mit der Verfassung von 1997 eine dominante Rolle im politischen System zugewiesen, dem Staatspräsidenten seine Mitspracherechte bei der Ernennung der Minister entzogen und auf eine formelle Bestätigung des Ministerpräsidenten reduziert. Ebenfalls wurden seine außenpolitischen Kompetenzen eingeschränkt, so dass das suspensive Veto sein wichtigstes Machtmittel bleibt. Die polnische Verfassung schreibt die soziale Marktwirtschaft (Artikel 20) und eine Verpflichtung auf das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit (Artikel 2) fest und definiert Vollbeschäftigung sowie das Wohl der Familie und die Bekämpfung von Obdachlosigkeit als Staatsziele.797 Das polnische Parlament ist ein Zwei-Kammern-Parlament, mit dem Unterhaus Sejm (460 Abgeordnete) und dem Oberhaus Senat (100 Abgeordnete). Der Sejm ist das entscheidende gesetzgebende Organ, der Senat ist als zweite Kammer vor allem ein Organ zur Verbesserung der Gesetzgebung. Er prüft alle vom Sejm vorgeschlagenen Gesetzesentwürfe und macht gegebenenfalls Änderungsvorschläge. Eine Gesetzesablehnung durch den Senat kann jedoch mit einer absoluten Mehrheit im Sejm überstimmt werden. Die Regierung ist dem Sejm gegenüber verantwortlich und kann seit 1997 nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt werden, einzelnen Ministern kann jedoch nach wie vor das Misstrauen ausgesprochen werden. Die polnische Demokratisierungsphase ist maßgeblich durch den schwierigen und langwierigen Verfassungsgebungsprozess gekennzeichnet, wobei 1992 nach mehreren Versuchen zunächst nur ein Verfassungsprovisorium verabschiedet werden konnte, welches 1997 durch die heute gültige Verfassung abgelöst wurde.798 Die ersten freien Wahlen 1991 zum Sejm und zum Senat brachten aufgrund der Zersplitterung der Oppositionsbewegung in Verbindung mit einem reinen Verhältniswahlrecht ein Parlament mit insgesamt 29 Parteien hervor, wovon die stärksten lediglich 12 % der Stimmen erreichten. Zwist unter den 795
Bos (1996:487-493) Siehe dazu: Gawrich et al. (1999:122f.) 797 Ziemer/Matthes (2002:190) 798 Das Verfassungsprovisorium von 1992 legte bereits die Grundzüge des semi-präsidentiellen Regierungssystems fest, enthielt aber ebenfalls noch Teile der alten sozialistischen Verfassung, womit die Übernahme alter sozialistischer Rechte wie z. B. eine kostenlose Gesundheitsversorgung noch bis 1997 gültig blieben. Gawrich et al. (1999:120) 796
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politischen Eliten, eine Cohabitation à la polonaise sowie die Zersplitterung des Parteiensystems und des Parlaments erschwerten jede Regierungsbildung, so dass innerhalb von zwei Jahren drei unterschiedliche Regierungen aus dem früheren Lager der Oppositionsbewegung (Mitte-Rechts-Lager) an der Macht waren.799 1993 kam es schließlich zur Auflösung des Parlaments und zu Neuwahlen (erstmals mit einer 5 %-Hürde), aus denen die „Post-Kommunisten“ als Sieger hervorgingen. Der Sieg der Postkommunisten kann als Folge der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den harten sozialen Folgen der Transformation gewertet werden, so dass die Wahlkampf-Versprechen der neuen Regierung (SLD/PSL-Koalition), die soziale Dimension zu stärken, erfolgreich waren. Aber auch diese Regierung war einem engen finanziellen Rahmen unterworfen, was die Umsetzung der Versprechen erschwerte. Hinzu kam, dass sich aufgrund der divergierenden Interessen der Koalitionspartner die Kompromissfindung als äußerst schwierig darstellte. Vorteilhaft für die Regierung erwies sich jedoch der wirtschaftliche Aufschwung der Nachbarländer ab 1992, der Polen zum ökonomischen Spitzenreiter innerhalb der ehemaligen Ostblockstaaten avancieren ließ. Trotz allem blieben wichtige Fragen wie der Umbau der Sozialsysteme oder die Privatisierung der Staatsbetriebe nach wie vor ungelöst. Auch die Frage nach der Stellung der katholischen Kirche (Konkordat, Religionsunterricht und Schwangerschaftsabbruch), die in der polnischen Öffentlichkeit traditionell eine wichtige Stellung einnimmt, wurde nicht beantwortet. Der Beginn der dritten Phase der polnischen Transformation, die so genannte Konsolidierungsphase, wird zumeist auf 1997 datiert. Nach O’Donnell/Schmitter (1986) bedeutet Konsolidierung, dass sich eine Demokratie etabliert hat und ein stabiles Parteiensystem existiert. Bos (1996) beschreibt eine konsolidierte Demokratie als eine, in der alle politisch relevanten Kräfte einwilligen, ihre Interessen und Überzeugungen im Rahmen der demokratischen Institutionen zu verhandeln und folglich die Ergebnisse des demokratischen Prozesses zu respektieren. Für den Beginn einer langsamen Konsolidierung des Parteiensystems waren die Wahlen zum Sejm 1993 von entscheidender Bedeutung, da zum einen mit der neu eingeführten 5 %-Hürde die Zahl der im Parlament vertretenen Parteien stark abnahm und sich zum anderen durch das Scheitern an der 5 %-Klausel – obgleich sie insgesamt 30 % der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnten – viele Parteien aus dem PostSolidarnoĞü-Lager sich dazu veranlasst sahen, Bündnisse zu schließen.
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Die verschiedenen Regierungschefs der SolidarnoĞü-Regierungen zwischen 1989 und 1993 waren von August 1989 bis Dezember 1990 Tadeuz Mazowiecki, ihm folgte bis Dezember 1991 Jan Bielecki, der wiederum wurde von Jan Olszweski abgelöst (Dezember 1991 bis Juni 1992). Waldemar Pawlak wurde im Juni 1992 vom Staatspräsident Lech Walesa zum Regierungschef ernannt, er konnte jedoch keine funktionsfähige Regierung zusammenbringen und machte Platz für Hanna Suchocka von Juli 1992 bis zu den Wahlen im Oktober 1993. Pawlak wurde danach erneut Regierungschef der SLD/PSL Koalition bis 1995.
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Tabelle 26: Präsidenten und Regierungen in Polen 1989-2007 Jahr 19891990 19901995
19952005
Präsident
Parteienlager
Jahr
Wojciech Jaru-Post1989/91 – 1993 zelski Kommunisten 1989-1990 Lech WaáĊsa SolidarnoĞü 1991 1991-1992 1992 1992-1993
Aleksander KwaĞniewski
Regierungschefs
Parteienlager
SolidarnoĞüTadeusz Mazowiecki Regierungen Jan Bielecki Jan Olszewski (Waldemar Pawlak) Hanna Suchocka
Post1993 – 1997 Kommunisten: 1993-1995 Waldemar Pawlak Koalition aus SLD Post1995-1997 Józef Olesky Kommunisten 1997 Wlodzimierz Cimos-und PSL zewicz
Seit 2005Lech KaczyĔski PostSolidarnoĞü
1997 - 2001
Jerzy Buzek
2001 - 2005 - 2001-2004 - 2004-2005
Leszek Miller Marek Belka
2005 – 2007 2005-2006 Kazimierz Marcinkiewicz 2006-2007 Jarosáaw KaczyĔski Seit 2007
Donald Tusk
Post-SolidarnoĞü: Koalition aus AWS und UW, später Minderheits-regierung AWS PostKommunisten: Koalition aus SLD und PSL Post-SolidarnoĞü: Koalition aus PiS, Samoobrona und LPR Post-SolidarnoĞü (PO) und PostKommunisten (PSL) in einer Koalition
Quelle: Eigene Darstellung
Die 5 %-Klausel hat somit im Wesentlichen zur Konzentration sowie einer ersten Stabilisierung des Parteiensystems beigetragen. In der Folge gründeten sich die UW (1994), die ROP (1995) und die AWS (1996). Mit Vorsicht müssen jedoch Aussagen über eine endgültige und nachhaltige Konsolidierung des polnischen Parteiensystems betrachtet werden, wie sie dem polnischen Parteiensystem im Zuge der Konzentrationseffekte nach 1993 konstatiert wurde, was mit der erneuten Zersplitterung und Auflösungstendenzen der AWS und der UW wieder revidiert werden musste.800 Eine dauerhafte Konsolidierung und Stabilisie800
So sehen z. B. Gawrich et al. (1999:129) ab 1997 die Konsolidierung des polnischen Parteiensystems als weitgehend abgeschlossen, andere Autoren datierten dies bereits ab 1993.
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rung des polnischen Parteiensystems muss als weitgehend offen angesehen werden, allerdings scheint sich mit der Gründung der PiS und der PO (sowie dem Untergang der UW) im Jahre 2001 zumindest eine gewisse Grundstruktur herausgebildet zu haben, die möglicherweise zu einem dauerhaft konsolidierten Parteiensystem führt. Das polnische Parteiensystem Im Großen und Ganzen lässt sich das polnische Parteiensystem in zwei große Lager aufteilen: die so genannten Postkommunisten auf der einen und die SolidarnoĞü- bzw. PostSolidarnoĞü-Parteien (oder auch Post-Oppositionelle) auf der anderen Seite. Bis zum Jahre 2007 haben sich die Regierungen aus einem dieser beiden Parteienlager rekrutiert, erst mit der aus PSL und PO zusammengesetzten Regierung unter Donald Tusk im Jahre 2007 hat sich eine Koalition aus Postkommunisten und Post-Oppositionellen gebildet, was letztlich auch für die These einer allmählichen Konsolidierung spricht. Das postkommunistische Lager zeichnet sich im Gegensatz zu den ehemaligen Oppositionellen durch einen hohen Grad an Kontinuität aus. Im postkommunistischen Lager lassen sich seit den 1990er Jahren zwei einflussreiche Parteienstränge feststellen, einmal um die SdPR/SLD sowie die größte Vertretung der polnischen Bauern, die PSL. Post-kommunistische Parteien Die sozialdemokratische Partei Polens, Socjaldemokracja Rzeczypospolitej Polskiej, kurz SdRP, ist die Nachfolgepartei der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, PZPR)801. Programmatisch trat die SdPR für einen Sozialstaat, eine regulierte Marktwirtschaft sowie die strikte Trennung von Staat und Kirche ein. Mit der Zeit befürwortete sie auch einen pro-westlichen Kurs Polens und sprach sich für einen schnellen NATO- und EU-Beitritt aus. Von 1993 bis 1997 stellte die PZRP zusammen mit der PSL die erste post-kommunistische Regierung, setzte dabei aber im Wesentlichen die Reformen der vorherigen SolidarnoĞü-Regierung fort. Sie war Mitbegründerin des Wahlbündnisses SLD (Sojusz Lewicy Demokratyczny – Bündnis der Demokratischen Linken), welches sich 1991 aus rund 28 überwiegend aus dem ehemaligen staatssozialistischen Lager kommenden Organisationen zusammenschloss. 1999 entschlossen sich SdPR und SLD, das Wahlbündnis SLD zu einer Partei umzuwandeln, in der die SdPR folglich aufging. Fünf Jahre später kam es zur Abspaltung des Miller-kritischen Flügels und damit zur Neugründung der so genannten Sozialdemokratie Polens (Socjaldemokracja Polska, SdPL) unter Vorsitz von Marek Borowski. Die SdPL sieht sich programmatisch in der Tradition der europäischen Sozialdemokratie und ist pro-europäisch eingestellt. Sowohl die SLD als auch die SdPL sind auf europäischer Ebene an die SPE (Sozialdemokratische Partei Europas) angebunden, die SLD als Vollmitglied und die SdPL als assoziierte Partei mit Abgeordneten im EP.802 Im Jahre 2005 tritt die SLD (wie auch die SdPL und die Reste der UW „De801
Parteivorsitzende der SdPR waren von 1990-1995: Aleksander KwaĞniewski, von 1996-1997: Józef Oleksy und von 1997-1999: Leszek Miller. Ihre Mitglieder rekrutierte die SdRP aus Teilen der Intelligenz und ehemaliger Profiteure des kommunistischen Regimes und vor allem sozialschwacher Bürger (wie z. B. Rentner). 802 Vgl. http://www.sdpl.org.pl/ (27.07.2008)
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mokraci“) als wichtigste Partei dem Wahlbündnis Linke und Demokraten (Lewica i Demokraci - LiD) bei. Die größte polnische Bauernpartei, PSL (Polskie Stronnictwo Ludowe) stellt den zweiten Strang der postkommunistischen Parteien seit 1990 dar. Sie ist maßgeblich aus der einstigen Blockpartei ZSL (Zjednoczone Stronnictwo Ludow) hervorgegangen, distanziert sich jedoch von der polnischen Volksrepublik und sieht sich in der Tradition der Bauernpartei PSL „Piast“ der Zwischenkriegszeit wie auch der PSL von Mikolajczyk (19451947).803 Programmatisch gibt sich die PSL streng nationalkatholisch, setzt sich für den Erhalt einer autarken polnischen Landwirtschaft ein, fordert Mindestpreise für Agrarprodukte, günstigere Kredite für Bauern und will eine Beschränkung für Waren aus dem Ausland durchsetzen. Sie gilt im Großen und Ganzen als EU-kritisch. Von 1993 bis 1997 stellte sie zusammen mit der SLD die Regierung.804 Post-SolidarnoĞü Parteien Wegen der hohen Fragmentierung und der vielen Aufspaltungsprozesse im Lager der PostSolidarnoĞü-Parteien wird sich die folgende Darstellung auf die einflussreichsten Parteien konzentrieren. Dabei handelt es sich um die Demokratische Union (Unia Demokratyczna – UD, später UW), das SolidarnoĞü-Wahlbündniss AWS, die Bürgerplattform PO sowie die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS). Auf die beiden kleineren Parteien LPR und Samoobrona, die von 2005 bis 2007 mit in der Regierung waren, wird ebenfalls kurz verwiesen. Die UD (Demokratische Union) formierte sich bereits im Dezember 1990 aus verschiedenen Bürger- und Wahlkomitees im Zuge der Präsidentschaftskandidatur von Tadeuz Mazowiecki und ging mit 12,3 % der abgegebenen Stimmen als stärkste Partei aus den ersten freien Wahlen von 1991 hervor. Politisch verortet sich die UD als eine liberaldemokratische Partei der Mitte. Programmatisch schärfte sie ihr Profil maßgeblich durch die wirtschaftliche „Schocktherapie“ (s. o.) unter Leszek Balcerowicz sowie ihre dezidiert pro-europäische Haltung. Trotz der recht heterogenen Strömungen innerhalb der Partei bestand eine weitgehende Übereinstimmung in grundlegenden Zielen wie Demokratie, Privatisierung, Dezentralisierung und Westintegration. Weniger Einigkeit bestand bei sozialpolitischen Fragen, zum Ausmaß staatlicher Intervention oder monetaristischer Wirtschaftspolitik. Nachdem sich der konservative Flügel abgespalten hatte, fusionierte die UD Ende April 1994 mit dem Liberaldemokratischen-Kongress (Kongres LiberalnoDemokratyczny – kurz: KLD) zur Freiheitsunion UW (Unia Wolnosci). Vorsitzender der UW wurde Tadeusz Mazowiecki, Stellvertreter wurde Donald Tusk (aus KLD). Sie ist Mitglied der Fraktion der Europäischen Volkspartei und Europäischen Demokraten (EVPED) im Europäischen Parlament sowie in der christdemokratischen Internationalen.805 Die UW war von Beginn an intern gespalten und wies zwei dominante Flügel auf: einen (christlich-konservativen) Ethos-Flügel mit den Vertretern Jacek Kuron und Bronislaw Geremek 803
Vgl. Den Bericht der Deutsch-polnischen Gesellschaft Brandenburg zur Parteienlandschaft in Polen unter http://www.dpg-brandenburg.de/nr_20/parteienlandschaft.html (28.07.2008) (zitiert im Folgenden mit DPG Brandenburg) 804 Detaillierter zu Zusammenschlüssen, Abspaltungen und Wahlbündnissen um die PSL, siehe DPG Brandenburg. Die PSL rekrutiert ihre Wähler hauptsächlich aus der Landbevölkerung. 805 Vgl. DPG Brandenburg S. 9
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und einen neoliberalen Flügel mit den Hauptvertretern Donald Tusk und dem ehemaligen Wirtschaftsminister Leszek Balcerowicz auf. Ende 2000/Anfang 2001 zerfiel die UW schließlich in einen kleinen bedeutungslosen Teil um Geremek, der sich auch weiterhin UW nannte, und in die neugegründete Bürgerplattform PO (Plataforma Obywatelska) mit dem Vorsitzenden Donald Tusk. Die in der UW aufgegangene KLD ging aus einer frühen liberalen Vereinigung der 1980er Jahre um Lech Walesa hervor, dessen Präsidentschaft sie auch unterstützte. Einflussreichster Politiker der KLD war der Ministerpräsident Jan Krystof Bielecki (Januar 1991 bis Dezember 1991), dieser knüpfte auch unter der späteren Suchocka Regierung (1992-1993) die Kontakte zur EG. Programmatisch gaben sich die Liberalen modern, säkular und kapitalistisch. Sie setzten sich für eine freie Marktwirtschaft ohne Staatsinterventionen ein und propagierten die Notwendigkeit von Eigenverantwortung und das Recht auf Privateigentum als ihre politischen Prioritäten. 1993 scheiterte die KLD an der 5 %-Hürde und schloss sich mit der UD zur UW zusammen. Mit dem Erfolg eines unabhängigen liberalen Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen im Herbst 2000 verließen immer mehr führende Politiker die UW (z. B. Donald Tusk) und gründeten eine neue liberale Partei, PO. Der Rest der UW scheiterte bei den Sejm-Wahlen 2001 an der 5 %-Hürde und fiel in der Folge in die Bedeutungslosigkeit ab. Ab 2005 benannte sie sich in Demokratische Partei (Partia Demokratyczna - PD) um und bildete durch den Zulauf konservativer Teile der AWS und der SLD eine neue sozialliberale Kraft in Polen. Bei den Wahlen von 2005 schloss sich die PD dem Wahlbündnis Linke und Demokraten (LiD) an. Bei den Parlamentswahlen 2007 wurde LiD drittstärkste Kraft, löst sich 2008 jedoch wieder auf. Die PD ist Mitglied der „Allianz der Liberalen und Demokratischen Parteien“ (ALDE) im Europäischen Parlament und in deren Parteienpendant der „Europäischen Liberale, Demokratische und Reformpartei“ (ELDR). Sie hatte sich als eine der wenigen Parteien in Polen für den europäischen Verfassungsvertrag eingesetzt. Die Wahlaktion SolidarnoĞü (Akcja Wyborcza SolidarnoĞüi) AWS, ein loses Wahlbündnis konservativ-liberaler, national-katholischer und christlich-demokratischer Parteien, formierte sich als Konsequenz aus den verlorenen Wahlen von 1991 und 1993, bei denen die Gewerkschaft SolidarnoĞü (als NSZZ „S“) nur knapp um die 5 % der Stimmen für sich gewinnen konnte (1991 5,05 % und 1993 nur 4,9 %) und 1993 nicht mehr in den Sejm einziehen durfte. Unter der Führung von Marian Krzaklewski wurde im Juli 1996 das Wahlbündnis auf Initiative der SolidarnoĞü und dessen Führung gegründet. Das Wahlbündnis umfasste 22 Parteien und Organisationen (später bis zu 40) und trat 1997 erstmals, nach dem von SolidarnoĞü-Abgeordneten initiierten und erfolgreichen Misstrauensantrag gegenüber Hanna Suchocka, bei den Parlamentswahlen an. Die AWS erreichte direkt 33,8 % der Stimmen und wurde stärkste Kraft im Sejm.806 Zusammen mit der UW bildete sie die Regierung unter dem Ministerpräsidenten Jerzey Buzek bis zum Jahre 2000. Das letzte Regierungsjahr bis zu den Wahlen 2001 musste die AWS nach dem Ausscheiden der UW als Minderheitsregierung weiterregieren. Nach den Wahlen von 1997 hatte sich die AWS als Partei mit dem Namen AWS Soziale Bewegung (AWS Ruch Spoáeczny) konstituiert. Durch zunehmende Uneinigkeit innerhalb der AWS – insbesondere bei Fragen des NATOBeitritts und des EU-Beitritts Polens – zerfiel die AWS zunehmend, sodass sich der der Rest unter Vorsitz von Jerzy Buzek erneut umbenannte, dies mal in Wahlaktion Solidarität 806
Vgl. DPG Brandenburg S. 12. Mitglieder des AWS waren u. a. Solidarnosc, Zentrumsallianz, ChristlichNationale Vereinigung, PSL und KPN.
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der Rechten (Akcja Wyborcza SolidarnoĞü Prawicy - AWSP). Die AWSP schaffte es 2001 nicht in den Sejm und wurde damit auf nationaler Ebene bedeutungslos. Das Scheitern von AWS und UP807 in der Regierungsverantwortung hatte für beide Parteien gravierende Folgen, weder die UW noch AWS konnten 2001 erneut in den Sejm einziehen, sie scheiterten an der 5 %-Hürde für Parteien bzw. der 8 %-Hürde für Wahlbündnisse. Als Sieger ging das Linksbündnis aus SLD und UP hervor, die zusammen mit der PSL in der Folge die Regierung stellten. Die erst Ende April 2001 gegründete Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS - Prawo i SprawiedliwoĞü) konnte erstaunlicherweise bereits 9,6 % der Stimmen auf sich vereinigen. Gegründet wurde die PiS vom ehemaligen Justizminister Lech KaczyĔski und dessen Zwillingsbruder Jarosáaw KaczyĔski und stellte maßgeblich eine Abspaltung der zerfallenden AWS dar, aber auch Teile aus der ROP (Ruch Odbudowy Polski - Bewegung für den Wiederaufbau Polens) schlossen sich der PiS an. Eine ideologische Einordnung der PiS ist nicht ganz einfach, insgesamt kann sie als nationalkonservativ bezeichnet werden. Wirtschaftspolitisch gibt sie sich eher interventionistisch-protektionistisch und auch in der Sozialpolitik vertritt sie durchaus wohlfahrtsstaatliche Positionen. Innenpolitisch zeichnet sie sich durch populistische Law-and-Order-Parolen aus, will die innere Sicherheit massiv ausbauen und die Strafgesetzgebung verschärfen (bis hin zur Wiedereinführung der Todesstrafe). Zum Teil vertritt die PiS sehr konservative Positionen (z. B. in Bezug auf Homosexualität), in der Europapolitik gibt sie sich überwiegend nationalistisch. Zwar stellte sich die PiS bei der Referendumsdebatte auf die Seite der Pro-Europäer und befürwortete klar den Beitritt Polens zur EU. Allerdings macht sie auch immer wieder klar, dass die Mitgliedschaft in der EU nicht auf Kosten der nationalen Souveränität gehen darf, insbesondere wenn es um Fragen wie den Schutz des Lebens, Ehe, Familie und Erziehung geht.808 Bei den Wahlen 2005 erreicht die PiS eine knappe relative Mehrheit, dicht gefolgt von der PO. Nach einer kurzen Zeit der Minderheitsregierung entschloss sich die PiS, eine Koalition mit der ultrarechten LPR (Liga Polnischer Familien) und der Bauernpartei Samoobrona einzugehen, die jedoch nicht lange hielt, so dass es 2007 zu vorgezogenen Neuwahlen kam. Die LPR (Liga Polskich Rodzin) ist eine ultrarechte, nationalklerikale Partei, die sich durch ihre rechtskonservative, nationalistische Ideologie und ihren antieuropäischen Populismus auszeichnet. Unterstützt wurde sie mitunter von dem erzkatholischen und durch rechtsextreme und fremdenfeindliche Beiträge auffallenden Radiosender Maryia. Wirtschaftspolitisch gibt sich die LPR liberal, lehnt aber jede Form der europäischen Integration strikt ab. Während sie bei den Wahlen 2005 und 2007 jeweils um die 7 % erreichte, konnte sie 2007 trotz Wahlbündnisses nicht mehr in den Sejm einziehen (1,3 %). 809 Der zweite Koalitionspartner der PiS, Saamobrona Rzeczypospolitej (Bauernselbstverteidigung), ist eine radikal linkspopulistische Gruppierung, die sich primär als Protestorganisation Anfang 1992 unter dem Vorsitzenden Andrzej Lepper gründete.810 Die Bauernselbstverteidigung zeichnet sich durch ihren Nationalismus und pro-russischen 807
Zerbrochen ist das Bündnis maßgeblich wegen erheblicher Mängel in der Umsetzung der angstrebten Reformen und an Korruptionsaffären einzelner Minister. Zbigniew Wilkiewicz (2002:1-10): Die polnischen Parlamentswahlen 2001 und die EU-Erweiterung, in: Central and Eastern Europe Online Library (CEEOL), „Current Information about East“, Issue: 01-02/2002, auf: www.ceeol.com (01.08.2008). 808 Vgl. u. a. Niewiadomska-Frieling (2005:142) 809 Medienberichten zufolge nehmen Mitglieder der LPR an Neonazi-Treffen teil und huldigem dem Hakenkreuz. Vgl. Sundermayer, Olaf: Party unter brennendem Hakenkreuz, in Spiegel Online vom 06.12.2006 810 Der Protest ging von Bauern aus, die ihre 1991 aufgenommenen Kredite nicht zurückzahlen konnten. Niewiadomska-Frieling (2005:148)
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Tendenzen aus und im Umkehrschluss durch strikte Ablehnung einer EU- und NATOMitgliedschaft Polens, Kritik am Kapitalismus und der Globalisierung. Dabei hetzt sie populistisch gegen „Fremde“, die „Polen ausplündern“ würden und präsentiert sich als Anwalt der Bauern, die Verlierer der Transformation und der Europäischen Integration seien.811 Bei den Wahlen von 2007 ging die PO als klarer Sieger hervor. Die Abwahl der PiSRegierung unter Jarosáaw KaczyĔski (sein Bruder, Lech KaczyĔski, ist seit 2005 Staatspräsident Polens) kann u. a. als eine Absage an die nationalistisch-europafeindliche Politik der PiS im Rahmen der EU-Verfassungsverhandlungen gesehen werden. Bei den Wahlen wurden insbesondere junge, aufstrebende Polen mobilisiert, die für die PO stimmten, da sie in der Politik der PiS-Regierung eine Schädigung des Ansehen Polens in Europa befürchteten.812 Einige Monate vor der Gründung der PiS hatte sich bereits die Bürgerplattform (PO Platforma Obywatelska) konstitutiert (Januar 2001). Die drei Gründer der PO, der Ökonom Andrzej Olechowski, der Sejmmarshall und ehemaliges AWS-Mitglied Maciej Plazynski sowie der ehemalige Hauptvertreter des wirtschaftsliberalen Flügels der UW, Donald Tusk, strebten mit der Gründung der PO die Etablierung einer dauerhaften rechtsliberalen Kraft in der Mitte des polnischen Parteienspektrums an. Dem Gründungstriumvirat folgten viele Mitglieder der ehemaligen AWS wie auch aus der UW. Bei den Wahlen 2001 erreichte die PO bereits 12,7 % der Stimmen und damit etwas mehr als die PiS. 2005 wurde sie nach der PiS zweitstärkste Kraft mit 24,1 % bis sie 2007 den Durchbruch mit 41,5 % der Stimmen schaffte und in Koalition mit der PSL unter Ministerpräsidenten Donald Tusk die neue Regierung bildete. Damit kam erstmals in Polen eine Koalition aus dem Lager der ehemaligen Opposition und dem Lager der Postkommunisten zustande. Die PO ist eine liberalkonservative Partei und zeichnet sich programmatisch vor allem durch ihre wirtschaftsliberalen Positionen aus, indem sie sich für eine schnelle Privatisierung und Deregulierung der Wirtschaft einsetzt, eine einheitliche Einkommenssteuer fordert (flat tax) und den Staatsapparat „entschlacken“ will.813 Europapolitisch ist sie generell als proeuropäisch einzustufen. In der Zusammenschau der oben skizzierten Parteienentwicklung seit den 1990er Jahren wird deutlich, dass sich das polnische Parteiensystem an drei großen Achsen bzw. cleavages aufziehen lässt: Hinsichtlich der Traditionsbindung der Parteien stehen sich die so genannten Postkommunisten und die ehemaligen SolidarnoĞü-Vertreter gegenüber. Auf der Ebene der gesellschaftlichen Grundwerte trennen die Parteien modern/laizistische Werte auf der einen Seite und eher konservativ/kirchennahe (nationalkatholische) Grundwerte auf der anderen Seite. Beim Verständnis von Staat und Wirtschaft stehen Parteien mit wirtschaftsliberalen Positionen Parteien gegenüber, die Staatsinterventionismus bis hin zu Dirigismus befürworten.
811
Ebd.: So fordert die Partei u. a. bessere Preise für Agrarprodukte sowie den Erlass von Schulden. Obgleich Samoobrona dem kommunistischen Polen nachtrauert, finden sich in der Programmatik keine antikatholischen Parolen. Dies, so Niewiadomska-Frieling (2005:148), ist das Zugeständnis der Partei an die gläubigen Bauern. 812 Vgl. u. a. Bundeszentrale für politische Bildung (2007), Raabe (2007) 813 Niewiadomska-Frieling (2005:144)
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Abbildung 14: Parteipolitische Cleavages in Polen Traditionsbindung Vs. (ehemaliges) SolidarnoĞü-Lager AWS UW/UD PO PiS LPR Samobroona
Postkommunisten SdRP/SLD PSL
Verständnis von Staat und Wirtschaft Staatsinterventionismus vs. Wirtschaftsliberalismus PSL SLD (Samobroona) PiS (AWS) (UW) PO LPR Gesellschaftliche Grundwerte* Laizistisch/ Modern PO SLD
UW
vs.
Traditionsverbunden/ kirchennah/nationalkatholisch PSL PiS (AWS) LPR
Quelle: Eigene Darstellung *Samoobrona ist schwer einzuordnen.
Niewiadomska-Frieling (2005) hat in ihrer Untersuchung zu den Cleavage-Strukturen des polnischen Parteiensystems eine ähnliche Dreiteilung vorgenommen, wonach sich das polnische Parteiensystem anhand der drei cleavages Traditionalismus vs. kosmopolitische Öffnung, konfessionell vs. säkular und Staatsinterventionismus vs. freie Marktwirtschaft beschreiben lässt. Dabei kann Niewiadomska-Frieling (2005) nachweisen, dass sich die EU-Positionen der polnischen Parteien in den Parlamentswahlen von 1997 und 2001 in hohem Maße von den Cleavage-Strukturen ableiten ließen.814 Sozialstaatliche Strukturen in Polen Um die parteipolitischen Positionierungen zum Sozialstaat besser einordnen zu können, ist auch für Polen eine kurze Beschreibung des Sozialstaats notwendig. Die Neugestaltung der wohlfahrtsstaatlichen Arrangements in den mittel- und osteuropäischen Ländern sah sich zwei wesentlichen Herausforderungen ausgesetzt: Zum einen mit der Überwindung eines staatspaternalistischen Wohlfahrtsstaates, ohne dabei die hohen Erwartungen an einen Sozialstaat zu enttäuschen und Gefahr zu laufen, Unzufriedenheit und Konflikte heraufzubeschwören. Zum anderen beeinflussten Vorgaben externer Akteure, insbesondere der EU, die sozialstaatliche Entwicklung. Diese auftretenden Schwierigkeiten im Rahmen der Reformpolitiken erschwerten eine „Planbarkeit der Transformation“.815 Hinzu kam die Frage, welches der europäischen Wohlfahrtsstaatsmodelle ein geeignetes Modell für die MOE814
In der Untersuchung kam heraus, dass nicht die klassische ökonomische Konfliktlinie (Staat vs. Markt) ausschlaggebend für die EU-Positionen der Parteien war, sondern vor allem die soziokulturellen Konfliktlinien (nationalistischer Traditionalismus vs. kosmopolitische Öffnung) die Positionierungen der Parteien strukturierten. Dies ist in doppelter Hinsicht von Bedeutung, da einerseits bei der Auswahl der zu untersuchenden Parteien die polnischen Konfliktlinien berücksichtigt werden müssen und andererseits im Vergleich mit Großbritannien und Deutschland überprüft werden kann, ob es ebenfalls eher soziokulturelle oder doch die ökonomische Konfliktlinie ist, die die EU-Positionen der Parteien begründen. 814 Vgl. Niewiadomska-Frieling (2005) 815 Offe/Fuchs (2007)
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Länder darstellen könne bzw. ob sich sogar ein neuer eigener Sozialstaatstypus herausbilden würde.816 Zu Zeiten des Kommunismus verfügten alle Ostblockstaaten über ein im Großen und Ganzen einheitliches und kohärentes System staatlicher Wohlfahrtspolitik und –vorsorge. Die staatlich gewährleistete Versorgung und Absicherung umfasste angemessene Preise für alle notwendigen Lebensgrundlagen (Nahrung, Wohnungen, öffentlicher Verkehr), eine Beschäftigungsgarantie, eine kostenlose Gesundheitsversorgung als institutionalisiertes Bürgerrecht, die Bereitstellung von Bildungsmöglichkeiten sowie die Bekämpfung von zu hohen Lohnunterschieden.817 Wesentliche Merkmale waren damit die Monopolstellung des Staates im sozialpolitischen Bereich (zumal auch die Betriebe und damit das Beschäftigungssystem staatlich waren), so dass der Markt bzw. dritte Sektor keine Rolle bei der Bereitstellung sozialer Dienstleitungen spielte und eine informelle Ökonomie nur dann geduldet wurde, wenn das Staatssystem ausfiel. Der Grad der Dekommodifizierung war letztlich absolut.818 Dieses staatspaternalistische Wohlfahrtssystem hat in der Bevölkerung das Staatsverständnis nachhaltig geprägt, so dass sich die politischen Eliten im Zuge des Transformationsprozesses nach wie vor mit den hohen sozialpolitischen Absicherungserwartungen der Bevölkerungen konfrontiert sahen. Eine Konsequenz, so Götting (1998:158), sei die zögerliche Haltung der politischen Eliten hinsichtlich extensiver sozialpolitischer Reformen gewesen. Letztlich hat eine Vielzahl von kleinen Reformen zu umfassenden Veränderungen geführt. Die polnische Verfassung garantiert jedem Bürger die Absicherung von sozialen Risiken. Wie die übrigen Sozialleistungen auch, wird die Arbeitslosenversicherung maßgeblich über Arbeitgeberbeiträge finanziert. Seit 1991 ist das Arbeitslosengeld ein Einheitssatz, dessen Höhe eher einer sozialen Mindestsicherung entspricht.819 Nach 1994 wurden zusätzlich zu den Leistungskürzungen und verkürzten Bezugszeiten aktivierende Elemente in die Arbeitslosenversicherung aufgenommen. Die staatliche Sozialhilfe und Armenfürsorge spielt im polnischen Sozialstaat nur eine untergeordnete Rolle, hier sind die katholische Kirche und Wohlfahrtsverbände wichtige Akteure. Die mit den Kommunen kooperierenden Wohlfahrtsverbände erhalten in vielen Fällen sogar Fördergelder aus dem europäischen Sozialfonds. Das Gesundheitssystem in Polen 1997 ist nach „Bismarckschem“ Muster organisiert, also mit staatlich-regulierten, ansonsten aber autonomen regionalen Versicherungsträgern. Die Finanzierung der Gesundheitsleistungen wird maßgeblich über Arbeitnehmerbeiträge sichergestellt, einige Dienstleistungen werden aus dem Staatshaushalt finanziert.820 Das Rentensystem stellt eine Kombination aus einer umlagenfinanzierten Grundrente und einem kapitalfinanzierten Rentenpfeiler dar. Nach mehreren Reformen steht das System heute auf drei Pfeilern: einer staatlichen Rente, privaten Rentenfonds und freiwilligen Betriebsrenten. In den staatlichen, umlagefinanzierten Pfeiler werden zwei Drittel der Rentenbeiträge eingezahlt. Hierbei bemisst sich die staatliche 816
Während es politisch zur Demokratie und wirtschaftlich zur Marktwirtschaft im Grunde keine Alternative gab und auch hierbei die Anforderungen der EU eindeutig und umfangreich waren, war bei der Neukonzeption des Wohlfahrtsstaates keine eindeutige Festlegung (auch von externer Seite, d.h. bei der Übernahme des Europäischen Acquis Communautaire) vorhanden und es standen mehrere Möglichkeiten zur Auswahl. 817 Zwar gab es insbesondere für die politischen Eliten Privilegien, auch finanzieller Art, jedoch wurde dies von der Bevölkerung möglichst geheim gehalten. Vgl. Lippl (2003), Deacon (2000) 818 Lippl (2003:60), vgl. Götting (1998) 819 Durch die Reformen zu Beginn der 1990er Jahre verloren 27 Prozent der damaligen Leistungsbezieher ihre Ansprüche. 820 Dies umfasst z. B. Herzchirurgie und Transplantationen. Vgl. MISSOC 2007.
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Grundrente anhand der eingezahlten Beiträge und der verbleibenden Lebenserwartung. Ein Drittel der Beiträge wird in kapitalfinanzierten, privaten Rentenfonds eingezahlt. Zusätzlich besteht die Möglichkeit in Form von Betriebsrenten freiwillig eine private Vorsorge vorzunehmen.821 Wesentliches Merkmal des polnischen Sozialstaats ist die Mischfinanzierung durch Beiträge und Steuern. Die Leistungen konzentrieren sich auf monetäre Entschädigungen, so dass ein „Mangel an universellen Leistungen“ konstatiert werden kann.822 Im Vergleich zu den westeuropäischen Nachbarn wird ein überdurchschnittlicher Anteil der Sozialausgaben in Polen für die Alterssicherung verwandt. Der Anteil, der für Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe verwendet wird, liegt hingegen deutlich unterhalb des EU-25-Durchschnitts. Nach Krzywdsinski (2008) lässt sich der polnische Wohlfahrtsstaat heute am ehesten zwischen einem liberalen und einem christdemokratischen Wohlfahrtsstaatsmodell ansiedeln. Liberale Elemente sind zu erkennen, weil sich das Leistungsniveau der Arbeitslosenunterstützung und auch der Sozialhilfe lediglich am Existenzminimum orientiert und somit sehr gering ausfällt. Ebenfalls sei Ende der 1990er Jahre im Bereich der Renten die Beitragsabhängigkeit verstärkt und ein dritter privater Pfeiler eingeführt worden. Folglich wird der Grad der Dekommodifizierung als gering eingestuft, da das geringe Leistungsniveau und die starke Bedürftigkeitsbindung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe eine private Vorsorge unumgänglich mache. Das Renten- und Gesundheitssystem hingegen ist stärker nach einem egalitären Prinzip organisiert, und ein nach wie vor großer Teil der Sozialleistungen wird staatlich organisiert. Allerdings vermerkt Krzywdsinski (2008) auch, dass die Umverteilungskapazität des polnischen Sozialsystems in den 1990er Jahren erheblich verringert wurde.823 Bei der Analyse der polnischen Parteiprogramme muss darauf verwiesen werden, dass die analytische Einordnung mit Hilfe von Kategorien der Vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung vor dem Hintergrund des Transformationsprozesses – insbesondere in den noch relativ frühen Phasen – nur unter Vorbehalt vorgenommen werden kann und somit lediglich Tendenzen beschreibt. Dies gilt nicht nur, weil die polnischen Parteien zum Teil lange Zeit weder strukturell noch programmatisch gefestigte Organisationen darstellten. Die parteipolitischen Programmatiken sind in einer solchen Umbruchphase nicht immer direkt zu vergleichen, da sich zum Beispiel die angesprochenen Themen und deren Kontextualisierung stark von westeuropäischen Programmatiken unterschieden. Einhergehend damit – dies sei hier bereits vorweggenommen – unterscheidet sich die politische Rhetorik zum Teil erheblich von derjenigen, die in westeuropäischen Parteiprogrammen zu finden ist. Insofern ist für die polnische Programmanalyse ebenfalls von Bedeutung, ob im Laufe des Untersuchungszeitraumes eine Annäherung an westeuropäische Parteiprogrammatiken (z. B. thematisch, rhetorisch, konzeptionell) beobachtbar ist. 7.5.3 Begründung der Parteienauswahl für Polen Die Auswahl der zu untersuchenden Parteien in Polen muss einerseits die im Untersuchungszeitraum anzutreffende hohe Instabilität im polnischen Parteiensystem berücksichtigen wie auch die Tatsache, dass mit der kommunistischen Vergangenheit und dem Trans821
Krzywdzinski (2008:179) Siemienska/Domaradzka (2008:504) 823 Krzywdzinski (2008:194) 822
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formationsprozess die Cleavage-Strukturen nicht den historisch gewachsenen westeuropäischen Konfliktlinien gleichzusetzen sind.824 In Deutschland und Großbritannien lässt sich aufgrund der historisch gewachsenen und relativ konstanten Parteien-Cleavages das Parteiensystem im Prinzip anhand der klassischen Rechts-Links-Dimension aufziehen, wobei die beiden großen regierungsbildenden bzw. -führenden Parteien in der Lage sind, ein verhältnismäßig großes Spektrum der Deutungskultur eines Landes abzubilden.825 In Polen ist jedoch aufgrund der Vergangenheit von rund vierzig Jahren Staatssozialismus und dem dann folgenden Transformationskontext eine eindeutige Zuordnung der Parteien in ein klassisches Rechts-Links-Kontinuum kaum möglich. So werden z. B. eher marktliberale Positionen mit gesellschaftlichem Konservatismus verbunden oder eine Befürwortung von staatlichem Interventionismus geht mit „law-und-order“-Positionen einher.826 Merkel (1997:349) kann zum Beispiel aufzeigen, dass noch zu Beginn des wirtschaftlichen Transformationsprozesses die ökonomische Konfliktlinie von der Frage überlagert war, ob der Übergang zur Marktwirtschaft schnell und radikal oder eher moderat und sozialverträglich gestaltet werden sollte. Die klassische Gegenüberstellung von Arbeit vs. Kapital, wie es in den westeuropäischen Ländern der Fall war, entfaltet sich somit erst allmählich mit der Etablierung der Marktwirtschaft.827 Zu Beginn „fehlte [es] nicht nur an der organisatorischen Unabhängigkeit der möglichen Konfliktparteien, die wegen der politischen Inkorporierung sowohl der Industriesektoren als auch der Gewerkschaften im ehemaligen Regime schwierig war. Vor allem hatten, solange die Privatisierung noch nicht endgültig durchgeführt war, Arbeitnehmer und Arbeitgeber häufig einhergehende Interessen. Nur über das Andauern staatlicher Subventionierung konnte der Schock der Markt828 öffnung abgeschwächt werden.“
Ein weiterer Aspekt, der die Ausbildung einer sozioökonomischen Konfliktlinie auf politischer Ebene behindert, ist der (frühe) Anpassungsprozess und die Übernahme des Europäischen Acquis Communautaire, der vor allem in vielen ökonomischen Bereichen (Wettbewerbspolitik, Binnenmarkt, Energiepolitik, Finanz- und Geldpolitik etc.) enge Vorgaben macht, die den nationalen Politikern keinen eigenen Spielraum zur Aushandlung unterschiedlicher Politiken lässt. Dies hat letztlich zur Folge, dass sich der klassische ökonomische Konflikt zwischen Arbeit und Kapital in Polen auf politischer Ebene nur schlecht entfalten kann. Zwar positionieren sich die Parteien entlang unterschiedlicher Wirtschaftskonzeptionen, jedoch steigt deren Bedeutung erst mit zunehmender Etablierung der Marktwirtschaft.829 Die zweite Konfliktlinie, die in Polen eine wichtige Rolle spielt ist die Bedeutung der nationalen Traditionen und Interessen einerseits und die Anpassung der polnischen Kultur an universalistische, westeuropäische Muster (nationalistisch vs. universalistisch) anderer824
Vgl. dazu u. a. von Beyme (1994:291, 1997), Glaeßner (1994), Segert et al. (1997), Merkel/Sandschneider (1997), Niewiadomska-Frieling (2005) Vgl. dazu weiter oben das Kapitel 6.2.1 Paradigmen der Parteienforschung sowie die Begründung der Parteienauswahl für Deutschland und Großbritannien. 826 Niewiadomska-Frieling (2005:139) 827 So ist der Übergang zur Marktwirtschaft noch nicht in allen Bereichen abgeschlossen, einige Strukturreformen (z. B. Landwirtschaft) müssen noch weitergeführt werden. Vgl. OECD (2004) 828 Niewiadomska-Frieling (2005:132) 829 Ebd. 825
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seits. Die polnische Parteiendifferenzierung ist demnach weniger interessens- als vielmehr wertebetont, wobei das Verlangen nach nationaler Identität, Traditionen und (Re-) nationalisierung – sicherlich nicht zuletzt auch aufgrund der erst kurzen Wiedererlangung nationaler Souveränität (1989) – dem Wunsch nach Einbindung in die westlichen Gemeinschaften (EU, NATO) gegenübersteht.830 Die dritte Konfliktlinie, der eine ausgeprägte Bedeutung in Polen zukommt und damit die politischen Debatten und die Parteienlandschaft stärker prägt als in westeuropäischen Ländern, ist die Frage nach der Rolle der katholischen Kirche (säkular vs. konfessionell). Als ein jüngeres Beispiel kann hierbei die Debatte um den Gottesbezug in der europäischen Verfassung angeführt werden.831 Trotz der hohen Bedeutung der katholischen Kirche in Polen hat sich bis heute keine christdemokratische Partei im Sinne einer moderaten MitteRechts-Partei (wie die CDU in Deutschland) im polnischen Parteiensystem etablieren können. Im Zuge der ersten Transformationsphasen spielten in Polen noch die Konfliktlinien autoritärer vs. demokratischer Politikstil und kommunistische Ideologie vs. Antikommunismus die entscheidende Rolle. Um eine angemessene Abbildung der wesentlichen Strömungen der politischen Deutungskultur für Polen sicherstellen zu können, werden für die folgende Analyse der Parteiprogramme im Untersuchungszeitraum jeweils drei Parteien ausgewählt. Diese Auswahl orientiert sich an den oben herausgearbeiteten (über den Untersuchungszeitraum hinweg) dominanten cleavages im polnischen Parteiensystem. Diese beziehen sich vor allem auf das Verhältnis von Staat und Wirtschaft (Staatsinterventionismus vs. liberale Marktwirtschaft) sowie auf die Positionierungen der Parteien hinsichtlich bestimmter gesellschaftlicher Grundwerte (modern, laizistisch vs. national-konfessionell). Die Konfliktlinie Kommunismus vs. Antikommunismus wird, obgleich sie in jüngster Zeit allmählich an Bedeutung verliert, dennoch berücksichtigt, da sich die Parteien in ihrem Selbstverständnis nach wie vor auf darauf beziehen, aus welchem dieser politischen Lager sie kommen. Im Untersuchungszeitraum der 1990er Jahre stellte diese Trennung eine wesentliche strukturierende Unterscheidung im polnischen Parteiensystem dar.832 Als einflussreiche Parteien (gemessen an Wählerstimmen) und als Repräsentanten der cleavages für die einzelnen Parlamentswahlen wurden folgende Parteien ausgewählt:
830
SLD UD / UW / PO KPN / AWS / PiS
Ebd. Allerdings verweist Niewiadomska-Frieling (2005:134) auf durchaus widersprüchliche Ergebnisse hinsichtlich der Einstellung der Polen zu Kirche und Politik. So gibt es Umfrageergebnisse aus dem Jahr 1995, die belegen können, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung eine Vermischung von Politik und Religion ablehnt, während andere Untersuchungen zu dem Schluss kommen, dass für die Wahlentscheidung der Polen die religiösen Überzeugungen ausschlaggebend seien. 832 So spielt die Zuordnung der Parteien zu einem politischen Lager (Post-Kommunisten vs. Post-SolidanoĞü) insbesondere für die Wähler zunehmend eine geringere Rolle. Mit der Regierungskoalition von PO und PSL 2007 ist zudem erstmals eine Kooperation zwischen zwei Parteien aus den beiden Lagern gelungen. Erstmals gab es eine Annäherung zwischen den Lagern beim Wahlbündnis von UP und SLD, was jedoch bis dato eher eine Ausnahme darstellte. Letztlich bleibt abzuwarten, ob das politische Lagerdenken mit der jetzigen Regierung (PO/PSL) langfristig ad acta gelegt wird. 831
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Die SLD kann als Mitte-Links-Partei bezeichnet werden: sie repräsentiert das postkommunistische Lager in Kombination mit einer laizistisch, modernen Gesellschaftsorientierung und einem gemäßigten wirtschaftsliberalen Kurs (und ist am ehesten mit sozialdemokratischen Positionen vergleichbar). Die UD/UW (1993, 1997) und die PO (2001, 2005) gehören dem bürgerlich-liberalen Parteienspektrum an (entspricht am ehesten einer Mitte-Rechts-Einordnung) und repräsentieren die Pole Post-SolidarnoĞü, laizistisch/modern und wirtschaftliberal. Die Verbindungslinie zwischen UW und PO ist einerseits dadurch gegeben, dass sich die PO 2001 als eine Abspaltung der UW konstituierte und die Parteien somit nicht nur eine inhaltliche sondern auch eine personelle Kontinuität aufweisen. Donald Tusk als ein wichtiger Vertreter der PO kam ursprünglich aus der KLD, die 1993 mit der UD fusionierte, woraus die UW entstand. Die Parteien bzw. Parteienbündnisse KPN (1993), AWS (1997) und PiS (2001; 2005) repräsentieren das rechte national-konservative Parteienspektrum. Sie sind ebenfalls PostSolidarnoĞü Gruppierungen, treten jedoch für traditionelle, national-katholische Gesellschaftswerte ein und halten Staatsinterventionismus zur Marktregulation für notwendig. Die Verbindungslinien zwischen KPN, AWS und PiS sind mitunter ideologischer und personeller Natur. So schloss sich die KPN 1996 der AWS an. Im Zuge des drohenden Zerfalls der AWS wechselten viele ehemalige Parteimitglieder zur neu gegründeten PiS über.833 7.5.4 Analyse der parteipolitischen Frames zwischen 1990 und 2005834 Sozialstaatlicher Mikroframe 1993 Bei den Wahlen zum Sejm 1993 standen die sozialen und ökonomischen Schwierigkeiten, die die schnelle wirtschaftspolitische Liberalisierung („Schocktherapie“) mit sich gebracht hatte, im Zentrum der politischen Auseinandersetzungen. Vor diesem Hintergrund sank die Zustimmung für die Reformer aus dem SolidarnoĞü, so dass erstmals seit Beginn der Transformation die Post-Kommunisten aus den Wahlen als stärkste Kraft hervorgingen. Die neue Regierung stellten die Reformkommunisten (SLD) und die Bauernpartei (PSL) mit Waldemar Pawlak (PSL) als Ministerpräsidenten an der Spitze. Neben der den Wahlkampf beherrschenden Auseinandersetzung um Lasten, Tempo und Ausmaß der Wirtschaftsreformen ging es auch um die zukünftige Rolle der katholischen Kirche und Fragen der Vergangenheitsbewältigung.835
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Zwar entspricht die KPN nicht dem Kriterium einer dominanten Partei, da sie relativ unbedeutend und nie an einer Regierung beteiligt war, jedoch besitzt sie zumindest im Sinne einer Abbildung der Konfliktlinien genügend Aussagekraft. Zudem war es das einzige Parteiprogramm von 1993, welches ausfindig gemacht werden konnte und zumindest ein Kriterium erfüllte. 834 Im Folgenden beziehe ich mich – sofern nicht anders ausgewiesen – auf die themenorientierten und strukturierten Übersetzungen der polnischen Parteiprogramme, die Dr. Stefan Meyer und Tim Buchen freundlicherweise und mit viel Mühe für diese Arbeit angefertigt haben. An dieser Stelle möchte sich die Verfasserin nochmals bei den beiden Polen-Experten für ihre kompetente und freundliche Unterstützung bedanken, ohne die Polen als Untersuchungsland nicht angemessen und analog zu den beiden vorherigen Ländern hätte bearbeitet werden können. 835 Vgl. Niewiadomska-Frieling (2005:80ff.)
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In ihrem Programm von 1993836 spricht sich UD (Unia Demokratyczna) für eine Beschäftigungs- und Arbeitsmarktspolitik aus, die vor allem eine Schaffung von Arbeitsplätzen über Wirtschaftswachstum und finanzielle Arbeitgeberanreize erreichen will. Darüber hinaus sollen über öffentliche Infrastrukturmaßnahmen (z. B. Autobahnbau) wirtschaftliche Impulse gesetzt werden. Arbeitslosen soll der Weg in die Selbstständigkeit erleichtert werden. Als letzten Punkt gibt die UD eine vage Absichtserklärung hinsichtlich „training for unemployed“ ab, wobei nicht näher expliziert wird, was sie darunter genau versteht. Sozialpolitisch (i.e.S.) plädiert die UD für eine Reform sowohl des Gesundheits- als auch des Rentensystems. Im Programm heißt es dazu: „Pension system needs to be reformed so that it can provide all eligible with good standards of living and also additional benefits based on the length of the employment and the fees paid for 837 over the years.“
Die UD favorisiert demnach ein beitragsfinanziertes Rentensystem, so dass sich die Höhe der Leistungen nach den eingezahlten Jahren und Beiträgen richtet. Eine solche Konzeption entspricht am ehesten einem konservativen Rentenversicherungssystem und strebt somit einen Umbau des vormals egalitären sozialistischen Systems hin zu einem stärker beitragsbzw. leistungsorientierten System an. Im Gesundheitswesen verweist die Demokratische Union lediglich darauf, dass sich das Gesundheitssystem auf ein „modern system of health insurance“ gründen soll, welches einen Zugang zum Gesundheitssystem für alle sicherstellt. Darüber hinaus setzt sich die UD für staatlich subventionierte Sozialwohnungen ein und präzisiert weiter unten, dass: „Social benefits and help need to be strengthened and linked to the local councils.“838 Eine eindeutige Einschätzung des Sozialstaatsframes der UD von 1993 ist aufgrund der wenigen vagen Aussagen nur schwer vorzunehmen. Deutlich wird jedoch, dass sich die Demokratische Union prinzipiell zu einem Wohlfahrtsstaat bekennt. Vor dem Hintergrund des ehemals sozialistischen Systems tritt sie für einen Sozialstaatsumbau ein, mit dem Ziel (mehr) Leistungselemente einzuführen und dadurch Ausgaben zu senken, eine allgemeine Modernisierung des Gesundheitswesen zu erreichen aber auch staatlich subventionierte Sozialwohnungen bereitzustellen. Dabei plädiert die UD für mehr sozialpolitische Verantwortung auf lokaler Ebene (weniger Zentralismus). Es scheint also eine gewisse Orientierung an einem konservativ-christdemokratischen Wohlfahrtsstaat vorzuliegen, während die beschäftigungspolitischen Aussagen am ehesten konservativen (Anreize) und liberalen (Wachstum) Strategien zugeordnet werden können. Die KPN (Konföderation für ein unabhängiges Polen) präsentiert eine Programmatik, die die Verantwortung und Rolle des Staates besonders hervorhebt und in diesem Zusammenhang einen Sozialstaatsframe präsentiert, der eine umfassende staatliche Gewährleistung von sozialen Leistungen und Rechten als notwendig erachtet. So wird z. B. eine Garantie für die Rechte von Arbeitnehmern und die Sicherung eines angemessenen Niveaus der sozialen Fürsorge für Rentner und die ärmsten Gesellschaftsgruppen postuliert. In der Lesart der KPN muss die Prioritätensetzung der Staatsausgaben durch eine Verpflichtung 836
Hier stütze ich mich auf die englische Version des Programms von 1993, welches auch im Rahmen des CMPProjektes verwendet wurde. 837 UD Wahlprogramm 1993 (englische Version), S. 2. Im Folgenden abgekürzt mit UDWP. 838 UDWP (1993:3)
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gegenüber den Bürgern bestimmt sein, insbesondere mit Blick auf Rentner und Sozialhilfebedürftige. Darüber hinaus will die KPN zukünftig drei Budgets im System der Sozialleistungen etablieren (Sozialhilfe, Rentenkasse und Krankenkasse), wobei die Kapitalgrundlage für diese Budgets aus den Einkünften der Privatisierung von Staatsvermögen genommen werden soll (20 % je Budget). Als Wirtschaftsordnung, die diesen gesellschaftlichen Bedürfnissen am besten gerecht wird, gibt die KPN eine soziale Marktwirtschaft aus.839 Beschäftigungspolitisch verfolgt die KPN eine Art Doppelstrategie. Prinzipiell will sie Arbeitslosigkeit durch die Ankurbelung der Wirtschaft gelöst sehen. Bis dies jedoch der Fall sei, sollen Arbeitslose zu öffentlichen Arbeiten herangezogen werden, um zumindest einen Teil ihrer Unterstützungsleistungen wieder abzuarbeiten. Beim Sozialstaatsframe der KPN fällt vor allem auf, dass sie eine hohe staatliche Verantwortung propagiert und mitunter Formulierungen wählt, die den Verdacht des Populismus nähren, z. B. wenn mehrmals betont wird, dass der Staat im Dienste des Bürgers stehen müsse.840 Auf der Grundlage des Analyserasters präsentiert die KPN am ehesten eine sozialistische/etatistische Sozialstaatskonzeption. Dies ist umso erstaunlicher, da sich die Partei in der Einleitung ihrer Programmatik besonders gegen das ehemalige kommunistische System abgrenzt. Das Selbstverständnis der Partei gründet vor allem auf ihrer Oppositionshaltung gegen das ehemalige System. So wird betont, dass sie die erste Partei war, die offen gegen das System agiert und nie mit dem „Feind“ paktiert habe. Hierin liegt auch eine Kritik an den anderen ehemaligen Oppositionsparteien, die bei den Gesprächen am runden Tisch teilgenommen haben. Erklärt werden kann die sozialpolitische Ausrichtung der eigentlich konservativ-nationalistischen Partei aufgrund der starken Verbindung zur Gewerkschaft Kontra. Einige Gewerkschafter saßen nach 1993 im Parlament für die KPN und prägten das arbeits- und sozialpolitische Profil der Partei entscheidend.841 Unter der Überschrift „Probleme einer aktiven Sozialpolitik“ präsentiert die SLD ihr sozial- und beschäftigungspolitisches Programm von 1993, wobei sie einen Schwerpunkt im Bereich Bildungspolitik setzt. Dabei kritisiert sie die bisherigen neoliberalen Reformen und moniert, dass die Politik der Zuschüsse, der kostenlosen Suppenverteilung und der karitativen Initiativen nicht die Probleme sozialer Ungleichheit lösen würde. Daraus lässt sich ableiten, dass die SLD für eine staatliche Verantwortung hinsichtlich einer sozialen Sicherung steht, da reine „Philanthropie“ – wie die SLD dies nennt – eine staatliche Sozialpolitik nicht ersetzen könne.842 Über die ausführliche Kritik der aktuellen Zustände und der vorangegangenen Politik kommt die SLD im Wesentlichen nicht hinaus. Sozialpolitisch setzt sie einen starken Akzent auf die Bildungspolitik, wo sie ein umfangreiches AchtPunkte-Programm präsentiert, dass u. a. folgende staatliche Garantien umfasst: 1. 2. 839
einen allgemeinen und kostenlosen Zugang für alle Kinder und Jugendliche zu öffentlichen Schulen auf allen Ebenen kostenlose Erziehungs- und Gesundheitsleistungen für Schüler
KPNWP (1993) Punkt 2 Als ein weiteres Beispiel kann angeführt werden, dass als grundlegende Aufgabe der Staatswirtschaft die Bedürfnisbefriedigung der Gesellschaft ausgegeben wird und dabei alle Gesellschaftsschichten gleich behandelt werden sollen und hierfür das Nationalvermögen eingesetzt werden müsse. KPNWP (1993) Punkt 1. 841 Vgl. Krzywdzinski (2008:127) 842 Die SLD beginnt ihre Bestandsaufnahme der sozialpolitischen Situation damit, dass sie die Frage stellt: „Kann Philanthropie staatliche Sozialpolitik ersetzen?“ Eine positive Bestimmung ihrer postulierten aktiven Sozialpolitik lässt sich jedoch im Programm nicht finden. Vgl. SLDWP (1993) 840
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den systematischen Anstieg des Bildungsbudgets sofortige (noch in 1993) Schaffung von Strukturen zur Sicherung des (kostenlosen) Zugangs zu Einrichtungen der Vorschulbetreuung in der Stadt und auf dem Land die Einbeziehung aller 6-jährigen Kinder in die Vorschulklasse systematische Angleichung der Bildungschancen von sozial benachteiligten Kindern/Jugendlichen (aus Kleinstädten beziehungsweise aus erziehungsunfähigen Familien).
Zudem sollen finanzielle Hilfen und Stipendien für Kinder aus den ärmsten Familien zur Verfügung gestellt und die Sicherung einer allgemeinen, kostenlosen und auch spezialisierten Gesundheitsfürsorge für alle Kinder und Jugendlichen gewährleistet werden. Ferner moniert die SLD, dass im Zuge der Reformen nur einige wenige profitiert hätten und eine geradezu „pathologische Bereicherung auf Kosten von anderen“ stattgefunden habe. Vor diesem Hintergrund verspricht die SLD, für mehr soziale Gerechtigkeit und eine angemessene Verteilung der Reformkosten zu sorgen. In der Beschäftigungspolitik spricht sich die SLD einerseits für die Sicherung von Arbeitsplätzen durch die Einführung einer Angebotspolitik aus, zugleich will sie aber auch die Ausweitung des Binnenmarktes für Produkte des Industrie- und Landwirtschaftssektors über staatliche „Impulse“ erreichen, was letztlich einer nachfrageorientierten Politik entspräche. Als dritter Aspekt werden öffentliche Investitionen im Straßenbau genannt, wodurch neue Arbeitsplätze geschaffen werden sollen. Der Sozialstaatsframe der SLD weist sozialdemokratische Züge auf, so z. B. wenn die Rolle von Bildung besonders hervorgehoben wird und für gleiche Chancen von sozial schwachen Kindern gesorgt werden soll. Auch das Bekenntnis der SLD zu einer sozialen Marktwirtschaft mit einer „aktiven Sozialpolitik“ – wie auch immer diese dann genau aussehen soll – oder für mehr soziale Gerechtigkeit und eine effektivere Bekämpfung von sozialen Ungleichheiten sind Hinweise darauf, dass sich die SLD weitgehend an einem sozialdemokratischen Sozialstaatskonzept orientiert. Zur Schaffung von Arbeitsplätzen bietet die SLD sowohl sozialdemokratisch/sozialistische Strategien (Nachfragepolitik) wie auch eher liberale Strategien an (Angebotspolitik). Insofern könnte die beschäftigungspolitische Orientierung am ehesten als sozialliberal beschrieben werden.843 Bei der Betrachtung der Sozialstaatskonzeptionen der drei polnischen Parteien fällt auf, dass unter den Parteien ein prinzipieller Konsens hinsichtlich einer staatlichen Verantwortung für die soziale Absicherung der Bürger besteht. Auffällig dabei ist jedoch, dass die Unterstützung von Arbeitslosen bei allen drei Parteien nur geringe Beachtung findet und die Schaffung von Arbeitsplätzen primär über Wirtschaftswachstum erreicht werden soll. Ideologisch stehen sich erstaunlicher Weise die Post-Kommunisten (SLD) und die „AntiKommunisten“ (KPN) in ihren Sozialstaatskonzeptionen relativ nahe, während die UD eine abweichende, stärker konservativ-liberale Konzeptualisierung erkennen lässt.
843
Obgleich die SLD ein sozialpolitisches klassisches sozialdemokratisches Programm postuliert, zeigen sich in der Regierungspraxis der SLD wesentlich stärker liberale Tendenzen, wie die Analyse von Krzywdzinski (2008) aufzuzeigen vermag. Auf die Bedeutung eines solchen, am ehesten bei linken Parteien anzutreffenden Widerspruch, wird in der Zwischenbilanz nochmals eingegangen.
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Nationaler Gesellschaftsframe 1993 Bei der Analyse des umfassenderen gesellschaftspolitischen Rahmens der Programmatik wird der polnische Transformationskontext besonders deutlich. Dies kann einerseits bereits an der Themenauswahl abgelesen werden, zum anderen aber vor allem daran, dass sehr grundsätzliche Policy-Aussagen gemacht werden, die nur in Einzelfällen eine weitere Präzisierung erfahren. Zudem spiegelt sich in den Programmen von 1993 noch recht deutlich die Konfliktlinie zwischen Post-Kommunisten und Oppositionsbewegung wider. Thematischer Schwerpunkt aller drei Parteien ist die Wirtschaftspolitik, gefolgt von Fragen des Staatsaufbaus (u. a. auch Verfassungsfragen), der Infrastruktur oder der Rolle der Kirche. Außenpolitische Themen werden nur am Rande behandelt, was vor dem Hintergrund des umfassenden inneren Transformations- bzw. Demokratisierungsprozesses auch nicht weiter verwundert. Ähnlich verhält es sich mit dem Integrationsthema, welches wenig Relevanz für die polnischen Parteien besitzt, da sich Polen aufgrund seiner Historie durch eine relativ homogene Gesellschaftsstruktur auszeichnet und kein Einwanderungsland ist.844 In der 1993er Programmatik der UD ist die Wirtschaftspolitik dominierend und muss folglich als das größte Profilierungsfeld der Partei angesehen werden. Die UD, zwischen 1990 und 1993 an mehreren Koalitionsregierungen beteiligt, gibt ein klares Bekenntnis zum wirtschaftspolitischen Transformationsprozess hin zu einer liberalen Marktwirtschaft ab und betont in Abgrenzung zur kommunistischen Praxis die Bedeutung von Privateigentum. Folglich will sie den Privatisierungsprozess weiter vorantreiben und die Möglichkeit zur Aneignung von Privateigentum schaffen. Eine starke Währung und Haushaltsdisziplin sind weitere Punkte, die die UD betont. Zudem fordert sie, für Arbeitnehmer und Landwirte die Möglichkeit zu schaffen, Teilhaber am Unternehmen bzw. Eigentümer zu werden. Ferner werden agrarpolitische Fragen und die Notwendigkeit von Umweltschutz erörtert. Bildung und Kultur werden als entscheidende Faktoren für die Entwicklung und die Zukunft des Landes ausgewiesen.845 In diesem Zusammenhang spricht sie sich für einen freien Schulzugang als Grundlage des polnischen Bildungssystems aus und will eine staatliche Finanzierung von Privatschulen. Vermutlich ist mit „staatlich finanzierten Privatschulen“ ein Schulsystem gemeint, welches – in Abgrenzung zur sozialistischen Praxis – zwar vom Staat finanziert wird aber ansonsten von diesem unabhängig agieren kann. Zusammenfassend lässt sich jedoch kein eindeutiges Gesellschaftskonzept der UD aus den wenigen vorhandenen Aussagen ableiten, dennoch kann mit Vorsicht anhand der wirtschaftspolitischen Aussagen am ehesten eine konservativ-liberale Orientierung unterstellt werden. Eine solche Einschätzung wird zudem durch Sekundärliteratur gestützt.846 Die gesellschaftspolitische Einbettung des Sozialstaatskonzeptes der KPN kann im Wesentlichen entlang von drei Themenfelder aufgezogen werden, in denen das Staats- und Demokratieverständnis der Partei deutlich wird: erstens anhand der Wirtschaftspolitik, zweitens anhand der Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit und drittens anhand der Aussagen zu Bildung, Kultur und nationaler Identität. Wirtschaftspolitisch, wie oben bereits angemerkt, setzt sich die KPN für eine soziale Marktwirtschaft ein, in der der Staat eine wichtige aktive Rolle einnimmt. So werden als Aufgaben des Staates 844
Vgl. u. a. Gaber (2007), Alexander (2003) So heißt es im Programm unter der Überschrift Education and Culture: „Education and culture decide on the speed of the development process and the future of a country“. UDWP (1993:2) 846 U. a. Krzywdzinski (2008:124), Eckert (2008:115) 845
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z. B. die Bekämpfung der Rezession, die Förderung der ökonomischen Entwicklung, die Sicherung von Entwicklungsbedingungen für staatliche, kommunale und private Unternehmen und eine aktive und selektive Staatshilfe für Unternehmen, die im Export tätig sind, genannt. Dem Staat kommt demnach eine starke Rolle im Rahmen der Wirtschaftspolitik zu, was sich auch daran erkennen lässt, dass die KPN von einer „Staatswirtschaft“ spricht, deren grundlegende Aufgabe in der Bedürfnisbefriedigung der Gesellschaft liege, bei gleicher Behandlung aller Gesellschaftsschichten. Zu diesem Zwecke soll aus der Sicht der KPN das „Nationalvermögen“ eingesetzt werden. An anderer Stelle macht die KPN deutlich, dass zur Erfüllung der Staatsaufgaben auch ein Staatsdefizit in Kauf genommen werden muss.847 Mit Blick auf die kommunistische Vergangenheit plädieren die polnischen „Konföderalisten“ für die Schaffung eines „funktionalen Staates“, der völlig neu aufgebaut werden müsse. Ferner propagieren sie die Notwendigkeit einer „moralischen Gesundung“, um das kommunistische Erbe endgültig abzustreifen. Dieses Erbe äußere sich z. B. in einer „degenerativen Einstellung der Bürger zum eignen Staat, dem Vaterland und der nationalen Identität.“848 In diesem Zusammenhang wird im Programm präzisiert, dass neben Gerichtswesen, Polizei und Armee auch dem Bildungswesen eine „Autorität“ zurückgegeben werden müsse. Folglich soll ein integriertes Bildungssystem geschaffen werden, dass jedem Kind eine Grundbildung sichert und zugleich Begabte fördert. Im Bereich von Kultur, Kunst und Medien spricht sich die KPN für ein Nebeneinander von staatlichem und privaten „Mäzenatentum“ aus und betont ferner, dass ein System freier Medien sichergestellt werden muss. Prinzipiell zeichnet sich das Gesellschaftskonzept der KPN vor allem durch eine starke Betonung des Staates aus. Hinzu kommen national-konservative Elemente, was sich im vorrangig in den Ausführungen zur „moralischen Gesundung“ ablesen lässt. Eine eindeutige Einordnung ist aber auch hier problematisch, da eine stark national-konservative Rhetorik mit egalitären und etatistischen Vorstellungen zusammentrifft. Unter diesem Vorbehalt wird das Gesellschaftskonzept der KPN als sozialkonservativ-etatistisch klassifiziert. Die SLD setzt sich wirtschaftspolitisch ebenfalls für eine soziale Marktwirtschaft ein, betont aber zugleich, dass keine „administrativen Eingriffe in die Marktprozesse“ vorgenommen werden sollen. Hierbei betont sie, dass sie weder die „schädliche Ideologie“ einer zentralen Planwirtschaft noch eine „ebenso dogmatische Ideologie des freien Marktes“ für richtig erachtet. Sie spricht sich für staatlichen Interventionismus aus, dieser sollte jedoch primär über finanzpolitische Maßnahmen ablaufen, zum Beispiel über Steuern bzw. Steuerermäßigungen für Unternehmen, aber auch durch Regierungsaufträge, Staatsinvestitionen und Preisfestsetzungen. Dieser propagierte polnische „dritte Weg“ offenbart sich wirtschaftspolitisch als eine Mischung aus konservativ-liberalen (Steuern), sozialdemokratischen (Investitionen) und sozialistischen Elementen (Preisfestsetzungen), wobei die linke Orientierung klar dominiert. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die SLD die Legitimation einer sozialen Marktwirtschaft mit Verweis auf die Bundesrepublik Deutschland und Schweden zu begründen sucht. Hieran wird deutlich, dass die SLD unterschiedliche europäische Erfolgsrezepte849 in ihre Programmatik aufzunehmen versucht, zugleich 847
KPNWP (1993) Abschnitt: Wirtschaft Sinngemäße Übersetzung (KPNWP:1993) Abschnitt: Moralische Gesundung Es kann vermutet werden, dass die Bundesrepublik als Beispiel für wirtschaftlichen Erfolg und Schweden als Beispiel für ein hohes umfangreiches Niveau an sozialer Sicherheit angeführt wird, um den Anspruch der SLD, eine Art „dritten Weg“ gehen zu wollen, deutlich zu machen.
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aber auch „Überbleibsel“ sozialistischer Strategien Eingang in die Programmatik finden (z. B. Preisfestsetzungen). Darüber hinaus spricht sich die SLD im Rahmen einer Definition der wichtigsten Verfassungsprinzipien für eine Gleichbehandlung der Bürgerrechte und -freiheiten in politischer, ökonomischer, sozialer wie auch kultureller Hinsicht, aus. Ebenfalls tritt sie für die Festschreibung eines laizistischen Staates (strikte Trennung von Kirche und Staat) und für umfangreiche ethnische, politische, religiöse und kulturelle Minderheitengarantien ein. Mit Blick auf die kommunistische Vergangenheit nimmt die SLD zwar eine Verurteilung der begangenen Verbrechen, Unfreiheiten etc. vor, betont aber zugleich, dass es auch Verdienste gegeben habe, die als „zivilisatorischer Sprung“ gewertet werden (keine Arbeitslosigkeit, Demokratisierung von Kultur, Bildung und Gesundheitswesen, zahlreiche Sozialleistungen). Anhand dieser Aussagen, die zur Konstruktion eines Gesellschaftskonzeptes der SLD herangezogen werden können, wird der Eindruck einer sozialdemokratisch-sozialistischen gesellschaftspolitischen Positionierung vermittelt. In der Zusammenschau der drei Gesellschaftskonzeptionen können als thematische Gemeinsamkeiten die starke wirtschaftspolitische Fokussierung genannt werden wie auch – zumindest bei SLD und KPN – die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit und verfassungspolitischen Fragen. Ferner besteht Konsens hinsichtlich einer demokratischen Staatsform, wobei die Unterschiede zwischen den Parteien bei der Definition der Rolle des Staates im Verhältnis zu Markt und Gesellschaft hervortreten. Während die KPN dem Staat eine entscheidende Rolle bei der Marktgestaltung aber auch auf gesellschaftlicher Ebene einräumt, definiert die SLD die Rolle des Staates im Verhältnis zum Markt als weniger intervenierend und auf gesellschaftlicher Ebene primär in Form einer rechtlichen Sicherung von Bürger- und Freiheitsrechten. Die UD sieht die Rolle des Staates vor allem in der Schaffung von Rahmenbedingungen für eine freie Marktwirtschaft. Europäischer Frame 1993 Europa spielt in den Programmatiken der drei Parteien 1993 keine oder nur eine sehr geringe Rolle. Die UD spricht sich prinzipiell für eine Westanbindung Polens aus, primär im Sinne einer Mitgliedschaft in der NATO aber auch in Form von „participation in the structures of the united Europe“.850 Diese recht vage Absichtserklärung, in den Strukturen des Vereinten Europas mitzuwirken, kann letztlich nicht als ein spezifisches Europakonzept gewertet werden, da es keinerlei Aussagen darüber gibt, in welcher Form eine solche Mitwirkung aussehen sollte bzw. welche Vorstellungen hinsichtlich der spezifischen Ausgestaltung der EU vorhanden sind. In der Programmatik der SLD finden sich keinerlei außenpolitische Aussagen und somit auch keine Bezugnahme zu Europa. Diese europa- und außenpolitische Zurückhaltung der polnischen Sozialdemokraten 1993 kann mit großer Wahrscheinlichkeit darauf zurückgeführt werden, dass die innenpolitischen Themen und Verfassungsfragen als wesentlich dringender und besser zur eignen Profilierung angesehen wurden. Daraus lässt sich jedoch keine anti-europäische Haltung der SLD ableiten, da diese sich schon relativ früh um eine Aufnahme in die Sozialdemokratische Fraktion Europas bemühte, was dann 1996 zur Aufnahme führte.851 Dies wird letztlich auch von der These 850 851
UDWP (1993:3) Schildberg (2006:205)
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gestützt, dass innerhalb der Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien ein prinzipieller Konsens hinsichtlich einer polnischen Europaanbindung bestand und somit europapolitische Themen in Anbetracht der innenpolitischen Herausforderungen zur Bewältigung der Transformation einen nachrangigen Stellenwert hatten.852 Im Unterschied zu den beiden vorherigen Parteien wird in der Programmatik der KPN zwar ein Europakonzept präsentiert, allerdings auch nicht ausführlich thematisiert. So heißt es im Programm unter der Überschrift: Stärkung der Position Polens in Europa und der Welt, dass „Polen […]die Verantwortung bei der Schaffung eines Europas der Vaterländer vom Atlantik bis zum Asowschen Meer [trägt].“853 Die Grenzen ihres „Europas der Vaterländer“ definiert die KPN vor allem geographisch, wobei die Ukraine dazugehört, Russland jedoch ausgeschlossen wird. Diese Grenzdefinition spiegelt vor allem die antikommunistische Haltung der KPN vor dem Hintergrund der polnischen historischen Erfahrungen wider. Ferner plädiert die KPN ihrem Parteinamen („Konföderalisten eines unabhängigen Polens“) entsprechend für einen Verbund unabhängiger Staaten mit ähnlichen Problemen und gemeinsamen Interessen. Darunter zählt sie vor allem Polen, Ukraine, Tschechische Republik, Slowakische Republik, Ungarn, Weißrussland, Litauen, Lettland und Estland sowie die Balkanländer. Ein solcher Verbund ist nach Ansicht der KPN für Polen geboten, um als Partner zwischen einer „gigantischen“ Wirtschaftskraft Westeuropas und einem nach wie vor starken Russland angemessen auftreten zu können. Dabei wird aus den Ausführungen der KPN nicht ganz klar, ob sie eine Integration Polens in die Europäische Union grundsätzlich ablehnt, um die volle Souveränität Polens im Rahmen einer Konföderation unabhängiger Staaten bewahren zu können und auf dieser Grundlage dann mit Europa und Russland zu kooperieren oder ob sie zumindest eine wirtschaftliche Integration (im Sinne einer Freihandelszone) befürwortet, da betont wird, dass im Rahmen der Kooperation nicht nur ein großer Verbrauchermarkt geschaffen würde, sondern auch ein großes wirtschaftliches und intellektuelles Potential entstünde, was letztlich auch förderlich für den gesamteuropäischen Prozess wäre. Anhand der Aussagen wird aber zumindest deutlich, dass die KPN einer Integration Polens zu den Bedingungen der Kopenhagener Kriterien und der damit notwendigen Übernahme des Europäischen Acquis nicht zustimmen würde. Unter Vorbehalt kann das Europakonzept der KPN aufgrund seiner starken Betonung nationaler Souveränität in Verbindung mit einer Nennung von vor allem wirtschaftspolitischen Motiven am ehesten einer liberalen Europakonzeption zugeordnet werden. Es wird deutlich, dass für alle drei Parteien das Europathema 1993 noch keinen bis nur sehr geringen Stellenwert besitzt, was vor dem Hintergrund der innenpolitischen Herausforderungen zu diesem Zeitpunkt auch nicht weiter verwunderlich ist. Wenn Europa thematisiert wird, so nur um eine grundlegende Positionierung für oder gegen einen Beitritt Polens in die EU vorzunehmen. Diese rein pro- oder contra-Positionierung der polnischen Parteien wird auch in Anbetracht der Tatsache verständlich, dass ein Beitritts Polens zur EU letztlich nur auf der Grundlage des aktuellen Integrationsstandes erfolgen kann. Zudem fällt auf, dass die Parteien, die als pro-europäisch eingestuft werden können, ihre Position nicht ausführlich darlegen, während die Partei, die gegen eine volle Integration Polens in die EU ist, dies auch deutlich vermittelt. Das kann mit dem bereits angesprochenen, relativ lang anhaltenden überparteilichen pro-europäischen Konsens erklärt werden.
852 853
Siehe dazu auch 6.5.2. KPNWP (1993) Absatz: Polens Position in Europa und der Welt
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Sozialstaatlicher Mikroframe 1997 Im 1997er Programm der Unia Wolnosci (UW - Freiheitsunion) – der Nachfolgepartei der UD – wird (erneut) eine wirtschaftspolitische Prioritätensetzung der Partei deutlich, was sich z. B. im Rahmen der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik niederschlägt. In diesem Kontext umreißt die Freiheitsunion eine vor allem wachstumsorientierte und unternehmensfreundliche Reform des Arbeitsmarktes, die neben der Privatisierung des Staatssektors vor allem Entbürokratisierungsmaßnahmen, eine Senkung der Lohnnebenkosten, Streichungen im Arbeitsrecht854 und eine Senkung und Vereinfachung der Steuern umfassen soll. Zudem will die Freiheitsunion die Möglichkeiten der Arbeitsvermittlung erweitern und eine Entbürokratisierung und Entlastung dieser Institutionen durch eine Auslagerung von Nebenaufgaben erreichen. Zwar präzisiert die UW nicht, was sie unter einer Erweiterung der Arbeitsvermittlungsmöglichkeiten versteht, jedoch lässt sich aufgrund weiterer Aussagen – es soll eine Politik betrieben werden, die junge Leute „ermuntert“ die ersten Arbeitsangebote anzunehmen, und es soll eine generelle Senkung der Arbeitslosigkeit um 1/7 erreicht werden – annehmen, dass die UW vor allem von Arbeitslosen eine höhere Flexibilität verlangen und schärfere Bedingungen für den Erhalt von Arbeitslosentransfers einführen will. Diese Einschätzung liegt auch nahe, da die UW keinerlei Umschulungs- oder Qualifizierungsmaßnahmen für Arbeitslose in Aussicht stellt. Im Bereich der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik kann somit gefolgert werden, dass sich die UW auf liberale Ideen und Strategien stützt. Sozialpolitisch formuliert die Freiheitsunion eine umfassende Reform des Rentensystems als dringlichste Aufgabe und begründet dies damit, dass die bisherigen Beitragssätze die höchsten in der EU seien, was zu hohen Lohnnebenkosten führe und sich somit negativ auf die Bereitschaft von Arbeitgebern auswirke, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Ergänzend zu dieser rein wirtschaftspolitischen Begründung wird angeführt, dass mit dem bisherigen (rein staatlichen) System die Alterssicherung in Zukunft nicht mehr auf einem angemessenen Niveau gehalten werden könne. Mit der Reform soll ein System geschaffen werden, welches drei Segmente umfasst: erstens die staatliche Rentenversicherung, die auf der Basis verpflichtender Beiträge individuelle Konten führt, zweitens obligatorische private Rentenfonds unter staatlicher Aufsicht (Pflichtanteil vom Lohn) und drittens zusätzliche private Rentenversicherungen, die steuerlich begünstigt werden aber nicht verpflichtend sind. Die Freiheitsunion setzt sich somit für einen Mix aus staatlichen und privaten Rentenleistungen ein. Finanziert werden soll die Reform mit Mitteln aus den Privatisierungen von Staatseigentum. Im Gesundheitswesen spricht sich die Partei für eine „Konkurrenz medizinischer Dienstleistungen“ aus, eine Ausweitung von freiwilligen Gesundheitsversicherungen und Schaffung eines „regulären Marktes“ im Gesundheitswesen. Dies steigere die Wahlmöglichkeiten der Patienten wie auch die Qualität der Leistungen, zugleich rücke die UW aber nicht vom Prinzip einer öffentlichen Finanzierung eines „Grundpakets medizinischer Leistungen auf wirtschaftlicher und rationaler Basis“ ab.855 Das hier vertretene Minimalmodell sozialer Absicherung gibt im Wesentlichen die Vorstellungen der Partei zum Sozialstaat wieder. So betont die Freiheitsunion an anderer Stelle, dass sich zunächst jeder selbst hel854
Die Streichungen beziehen sich auf die Novellierungen des Arbeitsrechts, die unter der Koalition von SLD und PSL eingeführt wurden. Die UW begründet dies damit, dass diese „steifen Paragraphen“ Arbeitgeber abschrecken würden, Arbeitsplätze zu schaffen. UWWP (1997). 855 UWWP (1997) Abschnitt: Sicherheit im Gesundheitswesen
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fen solle, dann eine Unterstützung durch die Familie und zuletzt eine Unterstützung über die Gemeinde bzw. den Staat und in Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Gruppen erfolgen solle. Den Bedürftigsten wird von staatlicher Seite eine Unterstützung in Höhe des biologischen Existenzminimums856 zugesichert, gleichzeitig wird betont dass dies aber nicht in Abhängigkeit führen dürfe. Anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass die UW ein wohlfahrtsstaatliches Minimalmodell befürwortet, welches sich auf Ideen von Bedarfs(Sozialhilfe, Gesundheit) und Leistungsgerechtigkeit (Rente, Arbeitslosenversicherung) stützt. Die Sozialstaatskonzeption der UW weist demnach vor allem liberale aber auch einige konservative Elemente auf. Diese liberale Ausrichtung der UW, auch im Vergleich zur Programmatik von 1993, lässt sich u. a. mit der Stärkung des liberalen Flügels in der UD durch die Integration des Liberaldemokratischen Kongresses (KLD) im Jahre 1994 erklären. Im Zuge dieser Fusion wurde aus der UD die UW. Die Wahlaktion SolidarnoĞü (AWS) definiert in ihrem Programm von 1997 als sozialpolitisch wichtigstes Ziel die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, was durch die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen, Qualifizierung von Arbeitslosen sowie Infrastrukturprojekten und eine Stärkung des Wohnungsbausektors (durch ein nationales Wohnungsbauprogramm mit steuerlichen Anreizen sowie kommunalen und sozialen Wohnungsbauprojekten) erreicht werden soll. Zudem betont die AWS, dass für eine moderne Wirtschaft die Kooperation zwischen „Arbeit und Kapital“ eine wichtige Bedingung darstellt. Insofern erklärt die AWS, dass sie die Voraussetzungen für einen permanenten Dialog zwischen Arbeitnehmern, Unternehmern, lokaler Selbstverwaltung und staatlicher Administration schaffen will.857 Da die AWS ansonsten keine Aussagen hinsichtlich angestrebter arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitischer Maßnahmen macht und die dargestellten Aussagen unter dem Kapitel „Gleiche Chancen für alle Familien“ ausgeführt werden, kann die beschäftigungspolitische Orientierung der AWS am ehesten als konservativ, mit schwachem sozialdemokratischen Anstrich beschrieben werden. Dafür spricht zum Einen, dass der Familienpolitik im Programm eine wichtige Stellung eingeräumt wird und Mütter für die Erziehung kleiner Kinder mehr Unterstützung bekommen sollen, was allerdings wohl in monetärer Form angedacht ist, da Kinderkrippenplätze oder ähnliches keine Erwähnung finden. Ein weiterer wichtiger Aspekt für diese Zuordnung des Sozialstaatsframes der AWS ist das Bekenntnis zu korporatistischen Strukturen auf der Meso-Ebene. Als sozialdemokratische Strategie kann zum Beispiel der erklärte Wille zur Qualifizierung von Arbeitslosen gewertet werden. Eine ähnliche Ausrichtung, wenn auch mit einer stärkeren sozialen Akzentuierung, findet sich bei den wenigen sozialpolitischen Aussagen der AWS wieder, so zum Beispiel, wenn sie im Gesundheitswesen die Einführung eines Versicherungssystems ankündigt, welches gleichen Zugang zu den Leistungen garantiert, selbstständige Kassen und eine freie Ärztewahl verspricht. Das Sozialversicherungssystem, vor allem das Rentensystem, soll
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„Das Existenzminimum beinhaltet grundlegende und unverzichtbare Güter und Dienstleistungen. Grundsätzlich wird das Existenzminimum monetär beschrieben und meint ein minimales Einkommen, welches den Erwerb dieser Güter und Dienstleistungen gewährleistet. Ursprünglich als "biologisches Minimum" definiert (Minimum an Kalorien, Nahrung, Kleidung, Heizung), versteht man heute darunter ein "soziales Existenzminimum", welches einen gewiss sehr bescheidenen, aber doch an der Norm orientierten Lebensstandard gewährleistet, der neben den vitalen Grundbedürfnissen auch eine gewisse Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben ermöglicht (Wohnung, Gesundheitskosten, Kommunikationskosten, Mobilität, Kultur und Information).“ Rossi (2008). 857 Ferner spricht sich die AWS für den Wiederaufbau eines Genossenschaftswesens aus, allerdings nicht im Sinne der LPGs zur Zeit Volkspolens, sondern wie zu Zeiten der Zwischenkriegsrepublik. AWSWP (1997)
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grundsätzlichen Änderungen unterzogen werden, wobei jedoch anhand der gemachten Aussagen nicht deutlich wird, wie diese Änderungen aussehen sollen. Die Sozialstaatskonzeption der SLD 1997 kann anhand des Analyserasters als sozialdemokratisch klassifiziert werden. Diese dominante sozialdemokratische Ausrichtung wird einerseits an der angestrebten Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik deutlich, so zum Beispiel, wenn die SLD einen Ausbau des Systems der Beratung sowie eine Erhöhung von Umschulungsangeboten für Arbeitslose benennt, staatliche Hilfen für Arbeitslose anbieten will, die sich selbstständig machen wollen, finanzielle Unterstützung für Umzüge von Arbeitssuchenden verspricht und die Mittel für zivilgesellschaftliche Programme zur Vermeidung und Überwindung von Arbeitslosigkeit zu erhöhen gedenkt. Darüber hinaus sind Steuerermäßigungen für Unternehmen anvisiert, die in Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit neue Arbeitsplätze schaffen. Zudem sollen 15.000 neue Behindertenarbeitsplätze jährlich geschaffen werden.858 Damit präsentiert die SLD von allen Parteien die umfangreichste beschäftigungspolitische Programmatik, die sich auf ein weiches Aktivierungskonzept im Sinne von finanziellen Unterstützungsleistungen und Qualifizierung stützt. Zudem formulieren die polnischen Sozialdemokraten das Ziel der Vollbeschäftigung wie auch die Sicherung von Arbeitnehmerrechten und bekennt sich zu den Zielen der europäischen Sozialcharta. Ferner spricht sich die SLD für ein garantiertes Minimaleinkommen für diejenigen aus, die ein Einkommen unterhalb des gesetzlichen Minimums beziehen, strebt zum Teil umfassende Investitionen im Gesundheitswesen an sowie eine Beteiligung der Rentner am Wirtschaftswachstum (Erhöhung der Renten) und will die Bedingungen sozial schwacher Familien/Kinder durch einen Ausbau sozialer Dienstleistungen (z. B. Schulspeisungen, kostenlose Ferienlager) aber auch eine Erhöhung der monetären Familientransfers verbessern. Im Vergleich zu 1993 fällt auf, dass die SLD nun eine wesentlich präzisere und umfassendere Sozialstaatskonzeption entwirft. Bei allen drei Parteien kann im Vergleich zu 1993 eine programmatische Professionalisierung festgestellt werden, die sich darin äußert, dass die präsentierten Konzepte zumeist klarer und präziser sind und somit seltener auf vage Formulierungen zurückgegriffen wird, die Darstellung in sich stringenter wirkt (zumindest bei SLD und UW) und die Themenabdeckung umfassender ist. Zudem fällt auf, dass die Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit weniger ausschweifend sind und damit eine stärkere Fokussierung auf aktuelle politische Gestaltungsaufgaben zu beobachten ist. Nationaler Gesellschaftsframe 1997 Die Gesellschaftskonzeption der UW liest sich im Großen und Ganzen wie eine logische Weiterführung ihrer Sozialstaatskonzeption, zum Beispiel wenn sie für eine konsequente Fortsetzung des Privatisierungsprozesses plädiert und das Modell einer freien Marktwirtschaft vertritt.859 Ferner beruft sich die UW auf ein freies und professionelles Mediensystem, befürwortet eine stärkere Einbindung von NGOs und mahnt die Verbesserung des Bildungssystems an. In diesem Kontext wird betont, dass eine Konkurrenz der einzelnen Bildungseinrichtungen von dem Prinzip begleitet werden soll, wonach das Geld dem Schüler folgt. Die UW plädiert folglich für ein Schulsystem, welches einem Markt ähnelt, indem 858 859
SLDWP (1997) Abschnitt: Mehr Arbeitsplätze UWWP (1997) Abschnitt: Der Wirtschaftsplan: Reformen und Aufschwung
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eine Pro-Kopf-Finanzierung dazu führt, dass nur die Schulen überleben können, die wettbewerbsfähig sind (d. h. genügend Schüler an sich binden). Anhand dieser wenigen Beispiele wird bereits deutlich, dass in der Gesellschaftskonzeption der UW liberale Überzeugung dominieren. Das von der AWS präsentierte gesellschaftspolitische Framing steht unter einem national-christlichen Wertebanner. Als einleitende Worte finden sich im Programm der Wahlaktion: „Polen steht vor einer großen Chance. Wir können einen modernen, gerechten und souveränen Staat schaffen. Einen Staat, der auf patriotischen und christlichen Werten, auf der Liebe zur Freiheit basiert. Denn diese [Werte] charakterisieren seit einem Jahrtausend unsere nationale Identität.“860
Ferner werden als Grundpfeiler der Gesellschaftsordnung „starke Familien“ sowie ein „solidarisches Generationenverhältnis“ genannt, der „Schutz des Nationalerbes“ in der Kultur aber auch in der Außendarstellung Polens. Im Übrigen spricht sich die AWS gegen Abtreibung und gegen Diskriminierung von Bürgern aus, wobei jedoch hinzugefügt werden muss, dass dieses Anti-Diskriminierungsbekenntnis letztlich nur im Rahmen des patriotischchristlichen Ideals der AWS Gültigkeit besitzt.861 Neben den konservativen Überzeugungen in der Gesellschaftskonzeption der AWS finden sich auch soziale Aspekte wie zum Beispiel die Forderung nach verbesserten Hochschul-Zugangschancen für Jugendliche aus sozial schwachen Familien. Korrespondierend zur konservativ-sozialen Wertebindung, plädiert die AWS auch für ein Wirtschaftssystem, welches nicht nur international konkurrenzfähig ist sondern auch eine Balance zwischen ökonomischer, sozialer und ökologischer Entwicklung wahrt. Der präsentierte Gesellschaftsframe kann unter die Schlagworte Familie, Nation (bzw. nationale Identitätswahrung) und sozialer Ausgleich gefasst werden. Das Gesellschaftskonzept der AWS schließt sich somit logisch an das vorher präsentierte Sozialstaatskonzept an. Bei letzterem tritt jedoch konsequenterweise die soziale Gewichtung etwas stärker hervor. Der Gesellschaftsframe der SLD ist betont pragmatisch, indem ausgeführt wird, dass es sich um ein Programm für alle Polen „ohne Demagogie“ und „ohne Dogmen“ handelt und damit dem Anspruch eines „realen und glaubwürdigen Programms“ gerecht würde.862 Darauf folgt eine Gesellschaftskonzeption, die besonders die Gleichberechtigung von Frauen und Männern (Forderung nach Schutz von Frauenrechten) hervorhebt, ein Recht auf eine bewusste Mutterschaft (d. h. legale Möglichkeiten der Abtreibung) formuliert sowie gleiche Chancen für Jugendliche anstrebt. Dabei ist die SLD ihrem Selbstverständnis nach weltanschaulich pluralistisch und verankert sich in der Tradition der polnischen Linken und der europäischen Sozialdemokratie. Vor diesem Hintergrund betont sie die Notwendigkeit eines laizistischen demokratischen Staates, der sich vor allem für die Sicherung und den Schutz der Bürgerrechte einzusetzen habe. Wie die AWS sprechen sich die polnischen Sozialdemokraten für eine soziale und ökologische Wirtschaftsordnung aus, die international konkurrenzfähig sein müsse. Das sozialdemokratisch orientierte Gesellschaftskonzept 860
AWSWP (1997) Einleitung So die Einschätzung des Polen-Experten Dr. Stefan Meyer im Gespräch mit der Autorin am 04.08.2008 in Berlin. 862 SLDWP (1997) Einleitung 861
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der SLD wird besonders deutlich an ihrem Postulat, eine Politik der sozialen Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Solidarität zur Verteidigung der schwächsten Gesellschaftsgruppen zu verfolgen. Auch hier passt der normative Gesellschaftsentwurf zum Sozialstaatsframe. Europäischer Frame 1997 Die UW spricht sich für den Beitritt zur EU aus und beabsichtigt, die Prozesse zur Vorbereitung der polnischen Wirtschaft und Rechtsstrukturen auf diesen Beitritt zu verstärken. Dabei betont die Freiheitsunion, dass ein solcher Beitritt im Sinne der nationalen Interessen vorbereitet werden müsse, worunter sie u. a. Schutzmaßnahmen für durch den Beitritt gefährdete Wirtschaftszweige nennt. Darüber hinaus werden keine weiteren europapolitischen Aussagen gemacht, allerdings scheint es so, dass für die UW die NATO-Mitgliedschaft als fundamentaler sicherheitspolitischer Eckpfeiler Priorität besitzt und der EU-Beitritt, als Ausdruck von wirtschaftspolitischer Interessen, erst an zweiter Stelle relevant ist. Ferner spricht sich die UW für eine aktive Politik der Zusammenarbeit mit ihren Nachbarn im Sinne einer Stärkung der europäischen Werte aus. Eine Präzisierung dieser europäischen Werte wird jedoch nicht vorgenommen. Eine klare Europakonzeption der UW aus den wenigen Aussagen abzuleiten ist schwierig, es kann jedoch zusammenfassend gesagt werden, dass die UW den EU-Beitritt befürwortet und voranbringen will. Aufgrund der eindeutig wirtschaftspolitisch liberalen Ausrichtung der UW, was sich auch darin widerspiegelt, dass im Kontext des EU-Beitritts vor allem auf wirtschaftspolitische Aspekte verwiesen wird, kann plausibel angenommen werden, dass die UW dem liberalen Konzept eines „Markteuropas“ am nächsten steht. Die AWS sieht in der europäischen Integration vornehmlich eine Chance „auf Augenhöhe“ die Zukunft Europas mitgestalten zu können und führt dazu aus: „So können wir unsere Identität behaltend die Einheit des Kontinents, basierend auf den christlichen Wurzeln unserer Zivilisation, mitgestalten.“
Die Ausgestaltung Europas stellt sich für die AWS demnach in Form eines „Europa der Vaterländer“ dar. Ebenso spricht die AWS von einem „geeinten Europa freier Nationen“. In diesem Zusammenhang kündigt die AWS auch ihre entschiedene Unterstützung für einen schnellstmöglichen NATO-Beitritt an. Trotz dieser wenigen europapolitischen Aussagen wird deutlich, dass die AWS die EU-Integration als entscheidenden Schritt für Polens „Wiedererlangung“ außenpolitischer Bedeutung interpretiert und somit zunächst einmal ein strategisches Verhältnis zur EU aufweist. Zudem werden intergouvernementale Formen der europäischen Kooperation favorisiert, so dass hier von einer konservativen europapolitischen Ausrichtung ausgegangen werden kann. Die Europakonzeption der SLD von 1997 umfasst in erster Linie weitreichende wirtschaftspolitische Maßnahmen, um die polnische Wirtschaft für einen EU-Beitritt fit zu machen. Ferner wollen die polnischen Sozialdemokraten den Prozess der Anpassung des polnischen Rechts an die Rechtsstandards der EU abschließen und durch eine bessere Ausnutzung von EU-Finanzierungsmöglichkeiten die Modernisierung und Umstrukturierung der polnischen Landwirtschaft voranbringen. Insgesamt wirft die SLD einen überwiegend ökonomischen Blick auf den EU-Beitritt, er wird vorrangig mit einem Gewinn an Wohlstand und Sicherheit assoziiert. In der Formulierung der SLD bedeutet der Eintritt in das
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„europäische Vaterland der Vaterländer“, dass den Polen ermöglicht wird, „besser und sicherer zu leben“.863 Über diese wirtschafts- und sicherheitspolitische Begründung hinaus beruft sich die SLD in ihrer Programmatik auf die europäische Sozialcharta, deren Ziele umgesetzt werden sollen und tritt für eine möglichst umfassende Implementierung der „Prinzipien zu Chancengleichheit von Behinderten“ ein, welche die UNO aufgestellt hat und die ebenfalls von der EU vertreten werden. Hier stellt sich die SLD – als einzige der drei polnischen Parteien – explizit in einen europäischen Wertekontext und betont besonders soziale Werte. Vor diesem Hintergrund kann das Europakonzept der SLD als sozialdemokratisch klassifiziert werden. Sozialstaatlicher Mikroframe 2001 Mit der erfolgreichen Etablierung der Platforma Obywatelska (PO - Bürgerplattform) im Jahre 2001 kann für das Mitte-Rechts-Lager des polnischen Parteiensystems eine bis heute anhaltende Stabilisierung konstatiert werden. Die PO, gegründet von Andrzej Olechowski und Maciej PáaĪyĔski (beide zuvor Abgeordnete der AWS) und Donald Tusk (zuvor Abgeordneter der UW), versteht sich als Zusammenschluss christdemokratischer, liberaler und konservativer Kräfte. Die zweite bis heute erfolgreiche Parteigründung, die ebenfalls als Ausdruck einer Stabilisierung im rechten Spektrum des polnischen Parteiensystems gewertet werden kann, ist die ebenfalls 2001 gegründete Partei ‚Recht und Gerechtigkeit’ (Prawo i SprawiedliwoĞü - PiS), die vor allem nationalkonservative Strömungen in sich vereint. Unter dem Titel „Eine Wirtschaft, die mehr Arbeitsplätze schafft“ entwirft die PO 2001 ihren arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitischen Ansatz. Beschäftigungspolitik ist für die Bürgerplattform vor allem Wirtschaftspolitik. Demnach werden drei zentrale Maßnahmen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze genannt: Erstens die „Befreiung der Unternehmen vom Diktat der Bürokratie“, worunter u. a. der Abbau von administrativen Hürden für Existenzneugründungen, die Privatisierung staatlicher Dienstleistungen und administrative Vereinfachungen für Unternehmen fällt. Zweitens die „Senkung von Kosten“, was die Absenkung der Lohnnebenkosten, die Abschaffung eines landesweiten Mindestlohns, die Senkung der Steuern auf Überstunden beinhaltet, und drittens eine „Rückkehr des Gleichgewichts der Rechte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“, womit die PO maßgeblich eine Flexibilisierung im Arbeitsrecht anstrebt (z. B. mehr Gestaltungsfreiheit bei Arbeitsverträgen, situative Auslegung des Arbeitsrechts, Stärkung der Position des Arbeitgebers gegenüber den Gewerkschaften). Als weiteren arbeitsmarktpolitischen Aspekt formuliert die PO eine Erhöhung der Qualifikation von Arbeitnehmern. Um dieses Ziel zu erreichen, will sie vor allem für Arbeitgeber Anreize, z. B. in Form von Steuererleichterungen für Investitionen in Humankapital schaffen, damit diese ihre Arbeitnehmer zu Schulungen schicken. Und schließlich präsentiert die PO in diesem Kontext eine Steuerreform, die die „Glaubwürdigkeit der polnischen Wirtschaft“ wiederherstellen soll. Sie fordert einen einheitlichen Steuersatz von 15 % bei Einkommens-, Unternehmens- und Mehrwertsteuern. Die liberalen arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitischen Vorstellungen der PO sind anhand der Beispiele deutlich geworden. Die PO grenzt sich von der linken Regierungskoalition (SLD und PSL) ab, indem sie ihr Profil letztlich über die Wirtschafts- und Steuerpolitik schärft. 863
SLDWP (1997) Abschnitt: Polen in der europäischen Familie
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Im Bereich der Sozialpolitik will die PO eine Straffung an sozialen Leistungen und damit einhergehend eine stärkere Fokussierung auf die Bedürftigsten in der Gesellschaft durchsetzen. Sie grenzt sich explizit von der Politik der Linken ab, die „eine etwas zu breite Skala der sozialen Hilfe“ anbiete, was dazu führe, dass viele Hilfen einen „fiktiven Charakter“ hätten und folglich als ineffektiv zu bewerten seien. Ihr sozialpolitisches Konzept, mit dem die Bürgerplattform den „Allerärmsten“ der Gesellschaft eine „konsequente“ Hilfe zukommen lassen will, beinhaltet zunächst einen Ausgleich für die Einführung des einheitlichen Steuersatzes, indem für Leistungsberechtigte die Bezüge aus Renten, sozialen Beihilfen etc. angehoben werden, damit sie durch die Reform nicht schlechter gestellt werden als vorher. Darüber hinaus werden drei weitere Felder an Unterstützungsmaßnahmen benannt. Zum einen setzt sich die PO das Ziel, über Bildungs- bzw. Kindergartenplätze mehr Chancengerechtigkeit für Kinder aus sozial schwachen Familien zu erreichen. Folglich sollen Kinder aus den ärmsten Familien (unter 50 % des Durchschnittseinkommens der Gemeinde) einen kostenlosen Kindergartenplatz erhalten. Aufgrund des Mangels an Kindergärten versichert die PO zudem, dass sie eine „staatliche Garantie“864 zumindest für alle 6-jährigen Kinder in ländlichen Gemeinden bzw. in Gegenden mit hoher Arbeitslosigkeit vorsieht. Auch will sie ein staatliches Stipendienprogramm für die ersten beiden Studienjahre von Kindern aus Haushalten etablieren, deren Einkommen unterhalb von 70 % des Durchschnittsgehalts liegen. Als zweites sozialpolitisches Maßnahmenfeld nennt die PO den Umbau des Systems der sozialen Hilfen. Darunter fasst sie zunächst einmal eine systematische Kontrolle der Einkommensstrukturen (aufgrund des starken Gefälles zwischen den Regionen), auf deren Grundlage dann eine Entscheidung über die Kriterien zum Bezug sozialer Hilfen gefällt werden kann. Ferner sollen einige monetäre in materielle Transfers umgewandelt werden und alleinerziehende Mütter behinderter Kinder besser unterstützt werden. Als drittes und letztes sozialpolitisches Maßnahmenpaket werden Änderungen der Mietbeihilfe anvisiert, die einen besseren Schutz vor Kündigungen der Wohnungen von Familien mit niedrigen Einkommen gewähren soll. Gesundheitspolitisch spricht sich die PO für einen Mix aus staatlichen und privaten Leistungen aus. Sie plädiert für eine Grundsicherung in Form einer kostenlosen staatlichen Leistung, darüber hinaus sollen private Versicherungen zusätzliche Leistungen anbieten können. Die PO rechtfertigt ihre Position, indem sie erklärt, dass sie in diesem Bereich nicht „nur auf Marktprinzipien setzen [kann], weil Gesundheitsschutz keine Ware ist, sondern ein Recht jedes Bürgers.“865 In der Regel wird ein Abbau an staatlichen Leistungen besonders begründet, die PO hingegen rechtfertigt die Beibehaltung der staatlichen Bereitstellung gesundheitlicher Leistungen, da dies letztlich nicht zu ihrem liberalen Selbstverständnis passt. In der Zusammenschau zeigt sich, dass der Sozialstaatsframe der PO 2001 vorrangig von liberalen und konservativen Vorstellungen getragen ist. Liberale Konzepte finden sich vor allem bei den arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitischen Maßnahmen, im Bereich der Sozialpolitik wird ein wohlfahrtsstaatliches Grundmodell (liberales Modell) präferiert, in das jedoch einige konservative (Anreizpolitik, Bedürftigkeitsprüfungen, Mix von staatlichen und privaten Leistungen) und sozialdemokratische Elemente (Kindergartenplatzgarantie, Bildungspolitik zur Verhinderung von Armut, materielle Transfers) integriert werden – wenn auch immer mit dem begrenzten Fokus auf die „Ärmsten der Gesellschaft“. 864
Da die PO lediglich von einer staatlichen Garantie spricht, wird nicht ganz klar ob es sich dabei um einen verbindlichen Rechtsanspruch handeln soll. POWP (2001) 865 POWP (2001) Abschnitt: Gesundheitsschutz der Bürger
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Die ebenfalls 2001 neu gegründete Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) legt ihren arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitischen Zielen eine primär konservative Orientierung zugrunde, was sich vor allem an den drei Maßnahmen zur Steigerung der Beschäftigung ablesen lässt. Zum einen will PiS Arbeitgebern staatliche Zulagen gewähren, wenn diese „Absolventen“ (Schulabgänger und Hochschulabsolventen) einstellen. Die Anreizpalette reicht von der Übernahme eines Teils der Sozialleistungen durch den Staat und lokaler Selbstverwaltungen bis hin zu Steuererleichterungen für Investitionen für Arbeitgeber, die viele Absolventen beschäftigen. Die zweite Maßnahme will Anreize schaffen, um die Mobilität von Arbeitslosen zu erhöhen, damit diese auch eine von ihrem Wohnort weiter entfernte Beschäftigung aufnehmen (durch Steuerabschreibungsmöglichkeiten der Fahrtkosten oder eine Bezuschussung für einen Zweitwohnsitz). Die dritte und letzte arbeitsmarktpolitische Maßnahme strebt eine Art „konzertierte Aktion“ zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und Regierung zur Verständigung über eine, zunächst auf einige Jahre beschränkte, Flexibilisierung im Arbeitsrecht. Dazu heißt es im Programm: „Es geht darum, das Einverständnis einzuholen, einige Anforderungen aus dem Arbeitsrecht ge866 genüber neu einzustellenden Arbeitskräften in mittleren und kleinen Firmen einzuschränken.“
Sozialpolitisch (i.e.S.) äußert sich die PiS nur zum Gesundheitssystem, welches sie – ähnlich dem Ansatz der PO – grundlegend reformieren will, da das aus den „deutschsprachigen Ländern übernommene System der Kassen […] zu teuer und ineffektiv“ sei. Diese Kritik der PiS am Kassensystem verwundert zunächst, da das System von der AWS, also im Grunde auch von Politikern der eigenen Partei, eingeführt wurde. Bei der angestrebten Reform des Gesundheitssystems betont die PiS einen gerechten Zugang zu Gesundheitsleistungen, eine Berücksichtigung von Patientenrechten und eine klare Finanzierung. Anhand der Aussagen zum Gesundheitssystem lässt sich ablesen, dass die PiS im Wesentlichen eine allgemeine Steuerfinanzierung in Kombination mit Wettbewerbselementen anstrebt.867 Zudem soll eine Stärkung der Rolle des Gesundheitsministeriums als zentrales Kontrollinstrument durchgesetzt werden. Wie die genannten Elemente im Gesundheitssystem zusammenspielen sollen, lässt sich anhand der Aussagen nicht eindeutig festmachen.868 Im Rahmen ihrer Bildungspolitik definiert die PiS eine staatliche Verantwortung für eine Vorschulbetreuung von Kindern aus schwierigen Familienverhältnissen ab dem vierten Lebensjahr und plädiert für weitere zusätzliche Schul- und Betreuungsangebote für ältere Kinder aus sozial schwachen Familien. Diese Maßnahmen entspringen letztlich der Idee, dass zusätzliche Bildungs- und Betreuungsangebote die Zukunftschancen dieser Kinder erhöhen. Die Sozialstaatskonzeption der PiS lässt sich anhand der wenigen Aussagen am ehesten als sozial-konservativ bezeichnen, im Gegensatz zur PO strebt die PiS wesentlich weni866
PiSWP (2001:34f.) Beabsichtigt wird eine Haushaltsfinanzierung über die Wojewoden. Ein Wojewode ist in Polen der höchste Verwaltungsbeamte und Repräsentant der Zentralregierung in einer Wojewodschaft (polnischer Verwaltungsbezirk). 868 Bis 1998 hatten alle Polen einen Anspruch auf eine unentgeltliche staatliche Gesundheitsversorgung. Erst 1999 wurde eine Einheitskrankenversicherung eingeführt. Seitdem zahlen die Bürger acht Prozent ihres Einkommens dafür und erhalten im Gegenzug eine fast gleich hohe Steuergutschrift. Die regional gegliederte Krankenversicherung sollte die Finanzierung der ehemals staatlichen Einrichtungen gewährleisten. Zunächst wurden die Regionen Träger der Krankenhäuser und ambulanten Gesundheitszentren (Zespol Opieki Zrowowtnej - ZOZ). Da sowohl sie wie auch die Krankenkassen mit dieser Aufgabe überfordert waren, wurden im April 2003 die regionalen Krankenkassen zum Nationalen Gesundheitsfonds (Naradowy Fundusz Zdrowiam - NFZ) zusammengefasst. 867
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ger sozialpolitische Reformen an, was eine höhere Akzeptanz des bisherigen Systems (bei Renten und Sozialhilfe) vermuten lässt. Das Sozialstaatskonzept der SLD im Programm von 2001 entspricht im Wesentlichen den bereits 1997 präsentierten Zielen, Maßnahmen und Ideen. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit soll dezentraler – in den Wojewodschaften – gestaltet werden, so dass die regionalen Verwaltungen mehr Rechte und finanzielle Möglichkeiten in der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit zuerkannt bekommen. Ferner formuliert die SLD ebenfalls als Ziele die Erhöhung des so genannten Arbeitsfonds869, den Mindestlohn an die regionale Arbeitslosigkeit anpassen zu wollen, eine bessere Unterstützung von Absolventen sicherzustellen und große Infrastrukturprogramme in Angriff zu nehmen. Sozialpolitisch formuliert die SLD erneut vielfältige Maßnahmen im Bereich der Sozialhilfe (insbesondere für sozial schwache Familien und Behinderte), will gleiche Chancen für Männer und Frauen auf dem Arbeitsmarkt herstellen und Diskriminierungen stärker ahnden lassen. Darüber hinaus strebt die SLD eine Gesundheitsreform an sowie Verbesserungen im Rentensystem. Wie PO und PiS will die SLD das System der Krankenkassen liquidieren. Stattdessen sollen vier bis sechs regionale Fonds zur Gesundheitsvorsorge entstehen und dem Staat soll die Verantwortung für die Ausgestaltung der Gesundheitspolitik zurück übertragen werden. Zudem will die SLD eine kostenlose medizinische Hilfe in tatsächlichen Notfällen für jeden Bürger sichergestellt wissen. Aus Sicht der Sozialdemokraten ist ein Netz an öffentlichen Krankenhäusern, die aus der Privatisierung herausgehalten werden, für die Sicherung einer medizinischen Grundsicherung unabdingbar. Zur Verbesserung des Rentensystems will die SLD rechtliche und finanzielle Anreize schaffen, um die dritte (freiwillige) Säule des polnischen Rentensystems (private Rentenvorsorge) auszuweiten.870 Obgleich in der Sozialstaatskonzeption der SLD viele Übereinstimmungen zu 1997 erkennbar sind, kommen vor allem im Bereich der Renten- und Gesundheitspolitik vereinzelt auch konservativ-(liberale) Ansätze zum Vorschein, so dass hier – wenn auch nur geringfügig – eine Rechtsverschiebung der SLD konstatiert werden kann. Die von allen drei Parteien umrissenen sozialpolitischen Schlüsselthemen waren zum einen die Reform des Gesundheitswesens sowie die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Armut. Während im Rahmen der Gesundheitspolitik eine relative Nähe zwischen den Parteikonzeptionen festgestellt werden kann (Abschaffung des Kassensystems, sowohl staatliche als auch private Leistungen etc.), variieren die Vorstellungen der Parteien vor allem im Bereich der Beschäftigungspolitik wie auch beim Umfang der Unterstützungsleistungen für sozial Schwache (z. B. mehr Bedürftigkeitsprüfungen vs. Ausweitung des Leistungsumfangs; Wirtschaftswachstum vs. staatliche Impulse etc.). Nationaler Gesellschaftsframe 2001 Die liberale Vorrangstellung von Werten wie Eigentum und Eigenverantwortung und eine daraus resultierende geringe Verantwortung des Staates wird bei der PO vor allem in und 869
Der Arbeitsfonds ist ein staatlicher Fonds, aus dem vor allem die staatliche Unterstützung von Arbeitslosen finanziert wird. Der Arbeitgeber zahlt für jeden seiner Arbeitnehmer einen Beitrag in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns in diesen Arbeitsfonds ein. 870 Die drei Säulen des polnischen Rentensystems seit der Reform von 1999 sind eine umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung (von ZUS verwaltet), auf der Grundlage von eingezahlten Versicherungsbeiträgen von privaten Anbietern verwaltete offene Rentenfonds und verschiedene freiwillige Formen des Rentensparens.
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durch ihren dominanten wirtschafts- und steuerpolitischen Politikansatz deutlich. Die Steuerreform bildet das programmatische Kernstück, in dessen Kontext die PO unter der Überschrift „Das Prinzip gesellschaftlicher Solidarität“ ihr Solidaritäts-Verständnis ausführt. Demzufolge sei ein niedriger einheitlicher Steuersatz gerechter als ein progressives Steuersystem, da dieser ja bereits berücksichtige, dass diejenigen, die mehr verdienen, auch mehr einzahlen. Ein progressives Steuersystem wird von der PO als ein leistungsschädliches Neid-System disqualifiziert. Solidarisch ist demnach bereits die gleiche steuerliche Belastung der Bürger, was einer Konzeption von Leistungsgerechtigkeit gleichkommt.871 Darüber hinaus entwickelt die Bürgerplattform in der Bildungspolitik hingegen eine Gerechtigkeitskonzeption, die im Prinzip einem sozialdemokratischen Verständnis von Chancengerechtigkeit entspricht. Der Bildung wird hierbei eine zentrale Bedeutung zuerkannt – sowohl auf individueller Ebene wie auch auf gesamtwirtschaftlicher Ebene. Demnach besäße Bildung eine „strategische Bedeutung“, was die PO weiter präzisiert: „Ein Bildungssystem, dass nicht Allen den gleichen Zugang zu Wissen ermöglicht, vertieft die gesellschaftlichen Brüche und vererbt diese auf die nächsten Generationen.“872
In diesem Kontext entwirft die PO eine Fülle an „Nationalen Programmen“, die dazu beitragen sollen ein „gutes“ Bildungssystem zu errichten, dass die Möglichkeit einer Angleichung von Chancen bietet. Wie die PO räumt auch die PiS der Bildung einen zentralen Stellenwert ein und will das allgemeine Bildungsniveau in Polen verbessern. An diesem Punkt wird deutlich, dass die PiS im Gegensatz zur PO mehr die inhaltliche Dimension der Bildungsangebote fokussiert. Sie befasst sich stärker mit der Frage, welche Werte und moralischen Prinzipien im Rahmen der Schulbildung vermittelt werden als mit dem Problem gleicher Zugangschancen oder der Frage, welche Bedeutung Bildung makroökonomisch hat. So gesehen soll die Schule ein „Ort der affirmativen Erziehung zum Vaterland und zu Unabhängigkeit und Demokratie“ sein. Entschiedenen Wert legt die PiS darauf, dass eine volle Aufklärung über die totalitären Verbrechen des Kommunismus und des Faschismus im Rahmen des Geschichtsunterrichts erfolgt. Um dies sicherzustellen, strebt sie die Festlegung eines einheitlichen Mindestlehrplans in den Fächern Geschichte und Kultur an. Diese nationale Ausrichtung der PiS verbindet sich mit ihren konservativen Wertvorstellungen, die zum Beispiel in ihrer Bezugnahme zur Familie deutlich wird. Dort heißt es, dass die Familie die Grundeinheit der Gesellschaft sei und auch bleiben solle und verhindert werden muss, dass sie in eine Krise gerät, wie es im Westen zu beobachten sei. Hierbei beruft sich die PiS auf die christlichen Wurzeln der europäischen Sozialordnung, die im Westen erschüttert würden, was in Polen zu verhindern sei. Was die PiS hier verklausuliert zu verstehen gibt, ist, dass sie sich entschieden gegen eine Duldung oder Anerkennung gleichgeschlechtlicher Beziehungen ausspricht. Dabei wird hinzugefügt, dass dies letztlich auch für die demographische Entwicklung in Polen entscheidend sei.873
871
POWP (2001) Abschnitt: Wirtschaftspolitik POWP (2001) Abschnitt: Bildungspolitik 873 PiSWP (2001:30ff.) 872
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Erst im Rahmen der Gesellschaftskonzeption offenbart die PiS ihre nationalistischchristlich-konservative Grundhaltung.874 In ihrem Selbstverständnis kommt dem Staat zwar eine wichtige sozial- und gesellschaftspolitische Rolle zu, Institutionen wie die Kirche oder die Familie sollen ebenfalls einen wesentlichen Beitrag leisten. Der Gesellschaftsframe der SLD wird maßgeblich von ihrem Sozialstaatskonzept getragen, was bereits deutlich macht, dass der Sozialstaat eine zentrale Bedeutung für das Selbstverständnis der Partei besitzt. Im Wesentlichen formuliert die SLD dieselben Werte und Ziele wie schon 1997, so z. B. wenn sie sich für mehr Chancengerechtigkeit durch Bildung einsetzt, gegen Diskriminierung und für die Gleichberechtigung von Mann und Frau eintritt. Die gesellschaftspolitische Programmatik der SLD orientiert sich demnach vor allem an einem Konzept von Chancengleichheit, in das sowohl umverteilende Elemente wie auch Elemente, die gleiche Ausgangsbedingungen schaffen sollen, integriert sind. Der Staat ist für die SLD somit primärer Adressat sozial- und gesellschaftspolitischer Gestaltung.875 In der Zusammenschau fällt auf, dass alle drei Parteien Bildung als ein wichtiges Feld politischer Profilierung begreifen, wobei SLD wie auch PO diese unter dem Aspekt einer Verbesserung von gesellschaftlicher Chancengerechtigkeit verstehen, während die PiS Bildung vor allem unter moralisch-inhaltlichen Gesichtspunkten beleuchtet. Hinsichtlich der Rolle des Staates lässt sich jedoch feststellen, dass sich hierbei PiS und SLD näher stehen, die beide einen starken Staat im gesellschaftspolitischen Bereich favorisieren. Generell übertragen alle drei Parteien ihre sozialpolitische Orientierung auch auf den jeweilig höheren gesellschaftspolitischen Rahmen. Europäischer Frame 2001 In Programm der Bürgerplattform (PO) von 2001 wird Europa nicht eigenständig thematisiert. Lediglich an einer Stelle wird gesagt, dass der polnischen Landwirtschaft ein Platz in der Europäischen Union gesichert werden muss. Die Agrarwirtschaft wird als Schlüsselfrage des EU-Beitritts betrachtet und in diesem Rahmen wird die Vertretung der polnischen Agrarinteressen wie auch eine Sicherung von europäischen Agrarsubventionen anvisiert. Insofern lässt sich aus der Programmatik der PO lediglich ableiten, dass sie für den Integrationsprozess ist und dies vor allem in einen (land-)wirtschaftspolitischen Kontext verankert. Sofern eine Aussage auf der Grundlage einer solchen minimalen europapolitischen Positionierung überhaupt als valide gelten kann, so würde diese am ehesten einer liberalen Konzeption eines Markteuropas entsprechen. Daraus könnte gefolgert werden, dass für die PO wirtschafts- und innenpolitische Fragen eindeutig Vorrang vor außen- bzw. europapolitischen Inhalten haben. Dies kann möglicherweise damit zusammenhängen, dass sich die Partei erst kurz vor den Wahlen gegründet hat und deshalb die größeren Profilierungschancen im wirtschafts- und innenpolitischen Bereich veranschlagt wurden und außenpolitische Fragen zu diesem frühen Gründungszeitpunkt noch keine wesentliche Rolle spielten. Die PiS hingegen erklärt bereits im ersten Kapitel „Reparatur des Staates und des Gesellschaftsgefüges“, dass sie im Rahmen der Außenpolitik die „Verteidigung des National874
Hier deutet sich bereits an, dass im Verständnis der PiS die Nation den alleinigen Bezugspunkt gesellschaftlicher Solidarität darstellt. 875 SLDWP (2001), vgl. auch Sozialstaatsframe 2001 der SLD
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interesses“ zu ihrem prinzipiellen Ziel erhebt und eine „aktive Außenpolitik“ betreiben will, was letztlich in einer „lokalen Leaderposition“ und einer insgesamt stärkeren Position Polens auf der internationalen Bühne münden soll. Als primäre, grundsätzliche außenpolitische Linie definiert die PiS die Mitgliedschaft in der NATO und ein enges Bündnis mit den USA. Als zweite außenpolitische Linie nennt sie die Aufnahme in die EU. In diesem Zusammenhang werden vor allem Probleme angesprochen, so zum Beispiel das Aufnahmedatum, was entscheidend sei für die künftige Position Polens in der EU und damit zusammenhängend die Möglichkeit einer angemessenen Verteidigung nationaler Interessen. Die PiS befürchtet demnach, dass die schnelle Aufnahme Polens dazu führen könnte, dass Polen als großes europäisches Land nicht angemessen seine Interessen durchzusetzen vermag. Ferner heißt es: „Nur ein starker, unitärer Staat ermöglicht uns und künftigen Generationen die Realisierung un876 serer Interessen und Werte, so vor allem: Die Existenz der Nation und ihre Entwicklung.“
Im Anschluss daran macht die PiS explizit deutlich, dass der Nationalstaat die einzig mögliche Funktionsgrundlage für die Demokratie darstellt, was ihm letztlich eine Vorrangstellung vor allen anderen politischen Organisationsformen einräumt. Ferner soll eine Führungsrolle in der Region angestrebt und eine Ausgrenzung der östlichen Nachbarn (Baltikum, Ukraine, Weißrussland) aus der EU verhindert werden. Der Blick, den die PiS auf den europäischen Integrationsprozess wirft, ist maßgeblich von Misstrauen geprägt. Dies führt zwar nicht dazu, dass der Integrationsprozess an sich abgelehnt wird, jedoch wird eine äußerst kritische und nationalistische Haltung gegenüber der EU erzeugt. Die Europakonzeption der PiS ist vor allem von „Verlustängsten“ der nationalen Identität und Souveränität wie auch der Sorge um mögliche wirtschaftliche Nachteile geprägt. Der hohe Stellenwert, den die Partei der Außenpolitik und dem Europathema zukommen lässt, zeigt sich daran, dass die Themen direkt im ersten Kapitel des Programms behandelt werden. Damit verleiht die Partei ihrer Sorge um damit zusammenhängende Probleme und Gefahren besonderen Nachdruck und unterstreicht den Willen, sich nicht einseitig von der EU abhängig zu machen, sondern unabhängig von der EU enge bilaterale Beziehungen zu den USA und ihren östlichen Nachbarn zu pflegen. Damit unterstreicht die PiS die außenpolitische Souveränität Polens, die sie aktiv befördern will. Das präsentierte Europakonzept lässt sich demzufolge als nationalistisch-konservativ beschreiben, da keine Souveränitätsrechte abgegeben werden sollen und die Nation und nationale Werte als primäre Bezugspunkte jeglicher Form europapolitischen Engagements fungieren. Daraus resultiert ebenfalls ein strategisch wirtschaftspolitischer Zugang der Partei zur EU. Die SLD formuliert zu Beginn ihrer im Vergleich zu PO und PiS umfangreichen europapolitischen Programmatik entscheidende Gründe für den EU-Beitritt: „Vor uns liegt eine große nationale Aufgabe: den Verhandlungsprozess mit der EU zu Ende zu führen und Polen auf die Integration vorzubereiten. Die Integration ist kein Selbstzweck. Wir wollen in die EU u. a. deshalb, um unsere grundlegenden Aufgaben besser realisieren zu können: ein schnelles Wirtschaftswachstum, eine Modernisierung der Landwirtschaft, die Verbesse877 rung der Infrastruktur und eine Angleichung der Chancen.“ 876 877
PiSWP (2001:15f.) SLDWP (2001) Kapitel: Außenpolitik
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In der Stellungsnahme der SLD fällt auf, dass neben den ökonomischen Interessen (die auch die anderen Parteien hervorheben) ebenfalls ein positiver Wertebezug zur EU hergestellt wird, indem betont wird, dass eine EU-Zugehörigkeit für Modernisierung und Chancenangleichung steht. Diese grundlegende positive Haltung gegenüber dem Integrationsprozess wird unterstrichen durch die programmatische Absicht, eine umfassende EuropaKampagne zu starten, um die Menschen über die „Chancen, die mit dem Beitritt verbunden sind“ aufzuklären.878 In den weiteren Beitritts-Verhandlungen will sich die SLD insbesondere für die Interessen der polnischen Landwirte stark machen (Agrarsubventionen), lange Übergangsfristen bei der Erreichung von Umweltschutzstandards aushandeln, die Freizügigkeit polnischer Arbeitnehmer durchsetzen und Unterstützung aus den Strukturfonds der EU sicherstellen. Hierbei wird der Unterschied zu den Positionen der PiS besonders deutlich. Obgleich beide Parteien ähnlich vorteilhafte Bedingungen vor allem in finanzieller Hinsicht für Polen in den Verhandlungen erzielen wollen, ist der Ansatz der SLD von einer grundsätzlich positiven und kooperativen Haltung gegenüber der EU geprägt. Obgleich auch die SLD die wirtschafts- bzw. finanzpolitischen Interessen Polens in den Vordergrund rückt, wird deutlich, dass sie einen grundlegend anderen Europaframe präsentiert, die EU primär als Chance begreift und in ihr eine neue Handlungsebene sieht, die sowohl für die ökonomische als auch politische Modernisierung Polens wichtig ist. In dieser Hinsicht kann das Europakonzept der SLD als sozialdemokratisch charakterisiert werden, da die Zuschreibung eines Modernisierungsmotors einen positiven sozial- und gesellschaftspolitischen Bezug aufweist. Dies entspricht einem Konzept von Sozialpolitik, wonach die EU als eine Unterstützung zur Abfederung von Modernisierungsprozessen begriffen wird (vgl. Kapitel 3). Vergleichend fällt auf, dass alle drei Parteien prinzipiell den EU-Integrationsprozess befürworten und vor allem die ökonomischen Interessen bzw. finanziellen Unterstützungsmöglichkeiten eines Beitritts hervorheben. Lediglich die SLD verbindet mit Europa einen über die ökonomische Dimension hinaus weisenden und positiv besetzten Modernisierungsprozess, während die PiS in der EU primär eine Gefahr für nationale Interessen sieht und folglich eine skeptische, abgrenzende Haltung einnimmt. Die PO, sofern es sich anhand der wenigen Aussagen sagen lässt, vermittelt zwar eine im Prinzip ebenfalls positive, aber vor allem strategisch-ökonomisch begründete Europa-Perspektive. Sozialstaatlicher Mikroframe 2005 Im Rahmen ihrer sozial- und beschäftigungspolitischen Konzeption erhebt die PO die Aktivität und Selbstständigkeit der Bürger wie auch eine Ausweitung nicht nur der Eigenverantwortung sondern auch gesellschaftlicher Verantwortung zum primären Ziel von Sozialpolitik. Demzufolge strebt sie eine stärkere Einbeziehung und Förderung aller Formen bürgerlicher Eigeninitiative und Selbstorganisation an (z. B. NGOs, Familien). Nach Ansicht der PO können z. B. durch eine Unterstützung von Familien, die sich um Behinderte 878
Mit Hilfe der Kampagne will die SLD einen positiven Ausgang des Beitrittsreferendums sicherstellen. Geplant sind u. a. öffentliche Debatten über die Chancen des EU-Beitritts, spezifische Informationsveranstaltungen für NGOs als Multiplikatoren, Aufklärungsarbeit nicht nur in den Großstädten sondern auch auf dem Land, spezifische Veranstaltungen für Unternehmer und Landwirte aber auch in Schulen sowie Weiterbildungen für Lehrer und Eröffnung von Europastudiengängen.
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und Senioren kümmern, sowohl die Lage von Marginalisierten und Ausgeschlossenen verbessert werden als auch die Kosten des Staates gesenkt werden. Die PO propagiert daran anschließend einen sozial- bzw. gesellschaftspolitischen Wandel, der sich auf fünf Säulen stützt:
Soziale Ungleichheiten sollen durch die Schaffung von mehr Arbeitsplätzen eliminiert werden. Diese sollen durch Bürokratieabbau, Senkung der Lohnnebenkosten und eine Anpassung der Bildungsinhalte an die Erfordernisse des Arbeitsmarktes geschaffen werden. Folglich definiert die PO Beschäftigungspolitik primär ökonomisch (also über Wachstum), was sich auch in ihrem wirtschaftspolitischen Verständnis widerspiegelt, wonach die Freiheit der Wirtschaft ein hohes Gut ist, dass nicht durch ein Übermaß an „Barrieren“ im Arbeitsrecht, im Steuersystem sowie im Rahmen der Sozialversicherungen gestört werden darf, da sonst Investitionen verhindert würden und dies negative Beschäftigungsfolgen – insbesondere für jüngere Menschen – hätte. Verdoppelung des Anteils von erwerbstätigen Behinderten (auf 25 %) und Verbesserung ihres Bildungsstandes. Erreicht werden soll dies zum Beispiel durch Werbung und Anreize für Arbeitgeber, Behinderte einzustellen. Förderung von Familien um die Geburtenrate zu erhöhen (z. B. durch Steuererleichterungen, berufliche Wiedereinstiegsprogramme für Frauen etc.). Familien- bzw. Frauenpolitik bekommt in der PO-Programmatik einen hohen Stellenwert zugeschrieben. In einem gesonderten Kapitel entwirft die PO nochmals ein umfangreiches Familienund Frauenförderprogramm, in dessen Rahmen Familienpolitik als Wirtschaftspolitik deklariert wird, da Wirtschaftswachstum immer den Familien zu Gute käme. Ferner betont die PO, die Erwerbstätigkeit von Frauen bzw. Müttern verbessern zu wollen, indem mehr Krippenplätze geschaffen oder flexiblere Arbeitsformen für Frauen in Absprache mit dem Arbeitgeber ermöglicht würden. Im Rentensystem sollen Einsparungen erzielt werden, indem z. B. eine radikale Begrenzung der Frühverrentung eingeführt und für die Einstellung von älteren Arbeitnehmern geworben wird. Als fünften und letzten Punkt expliziert die PO ihre Maßnahmen, die eine Ausweitung von zivilgesellschaftlichem Engagement befördern sollen (z. B. Steuerermäßigungen). Durch die angestrebte Aktivierung und Stärkung von zivilgesellschaftlichen Gruppen und Vereinen erhofft sich die PO eine Senkung der staatlichen Kosten bei gleichzeitiger Erhöhung der Qualität von Sozialleistungen.879 Demnach soll zivilgesellschaftliches Engagement staatliche Sozialpolitik entlasten, wenn nicht sogar in Teilen ersetzen.
Im Bereich der Gesundheitspolitik spricht sich die PO erneut für einen Mix von staatlichen und privaten Leistungen aus und plädiert für mehr Konkurrenz mit der Begründung dies verbessere die Qualität des Gesundheitswesens. Die Sozialstaatskonzeption der PO 2005 entspricht im Wesentlichen den liberalen Überzeugungen von 2001 und ist enthält nur wenige konservative Elemente. Sozialdemokratisch erscheint ihr erklärter Wille zur Förderung einer Erwerbstätigkeit von Frauen, die Begründungen hierfür entstammen aber eher liberalen Überzeugungen. Es fällt auf, dass die PO diesmal wesentlich ausführlicher ihre beschäftigungs- und sozialpolitischen Vorstellun879
POWP (2005)
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gen präsentiert, was einerseits daran liegen könnte, dass sie sich in den vier Oppositionsjahren programmatisch im Sinne einer Ausdifferenzierung und Präzisierung ihrer Positionen weiterentwickelt hat. Aufgrund des Wahlsieges der Linken 2001 könnte die PO ebenfalls die Notwendigkeit gesehen haben, sich nicht nur wirtschaftspolitisch zu definieren, sondern auch sozialpolitisch mit einem eigenen Konzept profilieren zu müssen. Die Sozialstaatskonzeption der PiS 2005 stimmt im Großen und Ganzen mit ihrer sozial-konservativen Konzeption von 2001 überein, wobei diesmal die soziale Akzentuierung stärker ins Gewicht fällt.880 Die Darstellung wirkt insgesamt aufgeladener und pathetischer, da nicht nur ein neuer Gesellschaftsvertrag sondern gleich eine neue, IV. Republik beschworen wird. Im Rahmen des angestrebten neuen Gesellschaftsvertrages gilt Sozialpolitik vor allem als Mittel gegen soziale Exklusion, woraus ein umfassendes Programm abgeleitet wird, welches u. a. die Erneuerung des Arbeitsschutzes, die Verbesserung der Lebensqualität von Rentnern und sozial Schwachen, Steuererleichterungen und weitere Unterstützungsmaßnahmen für Familien und den Umbau des Gesundheits- und Bildungssystems zu wichtigen Zielen erklärt sowie eine generelle Anhebung der Hilfen für Arme, Kranke, Behinderte, Ältere und einsame Menschen postuliert. Abschließend heißt es: „Du wirst nicht allein sein. Kein Pole wird sich ausgeschlossen oder allein gelassen fühlen. Reiche für weniger Wohlhabende, Stärkere für die Schwachen – auf diesem Prinzip ruht unser Gesellschaftsvertrag. Die von uns vorbereiteten Programme gegen Arbeitslosigkeit, Armut und Exklusion bringen Hoffnung, Lebensfreude und eine Verbesserung des eignen Schicksals.“881
Im Bereich der Arbeitsmarktpolitik setzt die PiS erneut auf steuerliche Anreize für Arbeitgeber, um neue Stellen zu schaffen, und plant einen Ausbau des staatlichen Schnellzugliniennetzes. Im Unterschied zur PO wird deutlich, dass im Selbstverständnis der PiS der Staat primärer Träger der Verantwortung für die Sicherstellung gesellschaftlicher Solidarität sein soll. Der Staat als entscheidender sozialpolitischer Akteur beruft sich dabei vor allem auf eine Idee von Verteilungsgerechtigkeit an erster und Chancengerechtigkeit an zweiter Stelle. Das nur zwei Seiten umfassende Wahlprogramm der SLD882 legt in kurzen Absätzen die Erfolge der Regierungszeit der SLD dar, um dann ihre anvisierten Ziele und Aufgaben kurz zu skizzieren. Für eine neue Legislaturperiode will die SLD genau die Wirtschaftszweige gezielt unterstützen, die neue Jobs schaffen. „Jobs should be created. How should this be done? By supporting such business activities that create jobs. What form of ownership do we want to make privileged? All forms, within which new workers are employed. Therefore, alongside private ownership (domestic and foreign) cooperative and state ownership is equal on the market of business activities, services and finance.”
880
So präsentiert die PiS im Bereich der Gesundheitspolitik die gleichen Reformforderungen wie schon 2001, betont aber noch stärker das Recht jedes Bürgers auf Gesundheitsschutz, die Notwendigkeit des gleichen Zugangs und will zudem Rentnern ermöglichen, mehr Medizin zu kaufen und schwangeren Frauen die medizinische Vorsorge garantieren. PiSWP (2005) Kapitel 6 881 PiSWP (2005) Kapitel 9 882 Der Analyse wird die englische Fassung des Wahlprogramms der SLD von 2005 zugrunde gelegt, ein Vergleich mit der polnischen Version bewies die exakte Übereinstimmung der beiden Programme.
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Obgleich die SLD keine konkreten Maßnahmen nennt, wird deutlich, dass sie einen durch und durch pragmatischen Ansatz wählt und im Grunde zu verstehen gibt, dass alle Mittel und Wege, die zu mehr Beschäftigung führen, auch gewählt werden können. Ferner will sich die SLD für eine angemessene Entlohnung und adäqute („decent“) Renten einsetzten, Arbeitnehmerrechte schützen, ein verlässliches öffentliches Gesundheitssystem schaffen und gegen Diskriminierungen (religiöser, sexueller oder ethnischer Art) vorgehen. Das normative Sozialstaatskonzept der SLD ist anhand der wenigen gemachten Aussagen als vor allem sozialdemokratisch einzustufen. Eine als liberal zu bezeichnende Tendenz kann im Pragmatismus der SLD verankert werden, indem in den beschäftigungspolitischen Ausführungen die Formel „sozial ist was Arbeit schafft“ mitschwingt und damit Arbeitsmarktpolitik mit Sozialpolitik gleichgesetzt wird.883 In der Zusammenschau wird deutlich, dass SLD und PiS sozialpolitisch eine größere Nähe zueinander aufweisen als PiS und PO, da beide Parteien die Rolle des Staates für die Herstellung von sozialer Gerechtigkeit stärker gewichten und damit letztlich auch staatliche Intervention in den Markt für notwendig erachten, währen die PO im Grunde die Rolle des Staates zu schwächen beabsichtigt und stärker auf zivilgesellschaftliche Akteure im sozialpolitischen Bereich setzt. Während PiS und SLD ihren Konzeptionen, wenn auch in unterschiedlichen Akzentuierungen, im Großen und Ganzen primär sozialdemokratische wohlfahrtsstaatliche Vorstellungen zugrunde legen, steht die PO an erster Stelle für einen liberalen Wohlfahrtsstaat. Nationaler Gesellschaftsframe 2005 Als „Grundlage eines sich gut entwickelnden Staates und einer Wohlfahrtsgesellschaft“ bezeichnet die PO das „gute Funktionieren des Wirtschaftslebens“. Von dieser Grundüberzeugung ausgehend entwirft die PO eine Gesellschaftskonzeption, die sich vor allem auf die Werte Freiheit und Eigentum stützt sowie eine Trennung von Staat, Markt und Gesellschaft propagiert. In ihrem liberalen Verständnis kümmert sich der Staat darum, einen freien Markt zu ermöglichen, innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten und die Grundlage dafür zu legen, dass eine aktive Zivilgesellschaft entsteht, die eine entscheide Rolle für die Sicherstellung gesellschaftlicher Solidarität darstellt. Ferner gibt die PO ein erneutes Bekenntnis zur freien Marktwirtschaft ab und betont Werte wie Freiheit und Eigentum sowie die Notwendigkeit einer Übernahme von mehr Eigenverantwortung durch den Bürger. In dieses liberale Bild passt auch die Forderung der PO nach mehr Gleichberechtigung von Frauen und eine prinzipielle Offenheit gegenüber neuen kulturellen Einflüssen und dem Anspruch einer kulturellen Modernisierung. Der Nationalstaat sei zwar nach wie vor entscheidend für die kulturelle Fundierung der nationalen Identität, aber deren bisherige Quellen (Tradition der Aufstände, Märtyrertum, Unfreiheit im Kommunismus etc.) müssten nun um neue Elemente erweitert werden.884 In der Bildungspolitik beruft sich die PO auf ein Konzept von Chancengleichheit und verweist dabei insbesondere auf das Gefälle im Bil883
Interessant ist zudem, dass sich die SLD in ihrem Wahlprogramm für die Fehltritte einzelner Politikern aus ihren Reihen entschuldigt und sich von diesen distanziert und beteuert, dass sie private Interessen nicht vor gesellschaftliche Interessen gestellt werden dürfen. Die hier angesprochnen Korruptionsaffären werden u. a. als ein entscheidender Grund für die Abwahl der SLD 2005 gewertet. Vgl. Flückinger (2005), ebenfalls Der Spiegel: Polen leitet konservativ-liberale Wende ein, o. V. vom 26.09.2005 884 POWP (2005) Kapitel 13
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dungsniveau zwischen Stadt und Land. Als konkrete Maßnahmen sollen neben einem neuen Finanzierungssystem (vgl. POWP 2001) u. a. die Autonomie der Schulen und die Kompetenzen der Direktoren ausgeweitet, mit Hilfe von externen, einheitlichen Tests die Qualität der Lehrer überprüft und den Eltern die Möglichkeit gegeben werden, sich die Schulen ihrer Kinder aussuchen zu können. An diesen Beispielen wird deutlich, dass die angestrebte Verbesserung der Chancen über eine größere Konkurrenz, eine bessere, vergleichbare Qualität (einheitliche Tests) und mehr Elternmitbestimmung im Bildungssystem erreicht werden soll. Als zweites wichtiges Element nennt die PO einen Ausbau der Vorschulbildung, da in diesem Alter Motivation, Disziplin und andere Charaktereigenschaften des Kindes herausgebildet würden, so dass Vorschulbildung als „beste Investition in die Zukunft“ der Kinder interpretiert wird. Begründet werden diese Maßnahmen damit, dass vom Bildungsniveau nicht nur das individuelle berufliche Fortkommen einer Person abhänge, sondern auch die Entwicklungsmöglichkeiten des Landes und die Position Polens in Europa. Anhand dieser Ausschnitte wird bereits deutlich, dass sich die PO auf vornehmlich liberale und konservative Ansätze stützt und demnach eine Gesellschaftskonzeption entwirft, die sich primär an Leistungs- und an Bedarfsgerechtigkeit orientiert. Im Rahmen ihrer umfassenderen gesellschaftspolitischen Konzeption postuliert die PiS einen neuen Gesellschaftsvertrag und den Übergang von der Dritten zur Vierten Republik. Die PiS erhebt damit den Anspruch einen grundsätzlichen und alle gesellschaftlichen Bereiche umfassenden Wandel herbeizuführen. Dabei will sie Prinzipien und Werten wie „Ehre, Befehl, Disziplin und Dienst am Bürger“ wieder mehr Geltung verschaffen. Ziel des neuen Gesellschaftvertrags des bürgerlichen Staates ist es, den „Polen die Chance auf ein besseres Leben“ zu ermöglichen und für alle die „gleichen Startchancen und gleichen Regeln“ sicherzustellen.885 Die PiS verschreibt sich somit einem Egalitätsprinzip, welches maßgeblich auf christlich-konservativen Werten fußt. Dies lässt sich zum Beispiel in der Familienpolitik erkennen. In diesem Kontext spricht sich die PiS entschieden gegen Abtreibung und für „Familienwerte“ aus, die eines der Hauptelemente des öffentlichen Fernsehens werden sollen. Ferner formuliert die PiS einen Schulterschluss mit der katholischen Kirche im Rahmen ihrer familienpolitischen Anstrengungen. Folglich ist für die PiS eine strikte Trennung von Staat und Kirche nicht erstrebenswert, vielmehr sieht sie die Kirche als wertevermittelnde Institution auch in politischen Fragen. Darüber hinaus wird deutlich, dass die PiS einen starken, intervenierenden Staat befürwortet, z. B. wenn sie die Programmausrichtung des öffentlichen Fernsehens festzulegen gedenkt, sich für einen starken Staat im Rahmen ihrer Wirtschaftspolitik ausspricht886 oder ein härteres Durchgreifen des Staates zur Durchsetzung von Recht und Ordnung postuliert.887 Diese spezifische Verbindung aus Egalitarismus/Etatismus und nationalem Konservatismus wird besonders deutlich in der normativen bildungs- und kulturpolitischen Orientierung der Partei. Hier spricht sich die PiS also einerseits für die Hebung des „moralischen Niveaus“ und die Vermittlung des christlichen Wertesystems aus und nimmt dabei Bezug auf die „tausendjährige Tradition der polnischen Nation“. Andererseits will die PiS Chancengleichheit herstellen, indem das Abitur für möglichst viele erreichbar sein soll, das Studium an staatlichen Hochschulen kostenlos sein soll, Höchstgrenzen für Schulbuchkosten und ein neues Stipendiensystem etabliert werden sollen. Zudem soll in den Schulen eine medizinische Grundversorgung und 885
PiSWP (2005) Kapitel 1 PiSWP (2005) Kapitel 4 887 Vgl. PiSWP (2005) Kapitel 2 886
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Nahrungsverpflegung der Schüler garantiert werden.888 Die staatszentrierte patriotische Orientierung wird anhand einiger kulturpolitischen Äußerungen der PiS anschaulich, wo es u. a. heißt: „Wir werden eine Kulturpolitik fördern welche die patriotischen und bürgerlichen Werte fördert. Der Staat muss für die Entwicklung und Verbreitung der Kultur verantwortlich sein.(…) Wir kehren zum wahren Bemühen um die Erhaltung des nationalen Erbes zurück.“889
In der kurzen Programmatik von 2005 positioniert sich die SLD erneut als eine Partei, die für eine offene Gesellschaft steht, die sich ihrer nationalen Identität bewusst ist. Letztere umfasse auch die positiven Errungenschaften der kommunistischen Zeit und habe europäische Wurzeln. „We want a Poland that is open, European and proud of its history, which is treated without falsification and concealments. We want a Poland without the avoidance of the achievements of 45 years of the people’s Republic of Poland and without nationalistic, right-wing imaginations. We want a civic Poland that supports people who need help.”890
Ferner wird deutlich, dass die SLD ihre „offene“, in gewissem Sinn integrativ-pluralistische Gesellschaftskonzeption mit egalitären und etatistischen Vorstellungen verbindet. So tritt die SLD für einen „strong and efficient state in equalising opportunities for Poles, sensitive to human hurt, exploitation and inequality“891 ein. In der Bildungspolitik strebt sie ein modernes, mehrsprachiges und von jeglichen religiösen oder ideologischen Dogmen befreites Bildungssystem an, welches so weit wie möglich vom Staat finanziert werden soll. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die SLD in zwei Punkten Übereinstimmungen mit der PiS aufweist, ebenso aber auch diametrale Gegensätze. Beide Parteien berufen sich auf das Ziel der Chancengleichheit und verstehen darunter vor allem eine bessere Integration von sozial benachteiligten Menschen. Beide Parteien treten auch für einen starken, intervenierenden Staat ein. Im Unterschied zur PiS und deutlicher als die PO vertritt die SLD jedoch ein kulturell offeneres Gesellschaftskonzept, so zum Beispiel, wenn sie stets auf eine europäische Dimension verweist und sich gegen jede Form von Diskriminierung stark macht. Die PO schreibt sich ebenfalls Chancengleichheit auf ihre Fahnen, versteht jedoch darunter primär eine Qualitätssteigerung durch mehr Wettbewerb und verankert diese in einen internationalen Kontext (PISA-Vergleich). Stärker als die SLD aber wesentlich moderater als die PiS formuliert die PO ein Gesellschaftskonzept, welches an nationale Werte und die kulturelle Identität der Nation appelliert, zugleich aber die Rolle des Staates in gesellschaftlichen Bereichen als eher zurückhaltend definiert und somit ein laizistisches, liberalen Werten verhaftetes Staatsverständnis propagiert.
888
PiSWP (2005) Kapitel 7 PiSWP (2005) Kapitel 9 890 SLDWP (2005:2) 891 SLDWP (2005:1f.) 889
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Europäischer Frame 2005 Die europapolitische Position der PO kann erneut als pro-europäisch bezeichnet werden, denn sie wirbt für eine aktive Beteiligung am und im Integrationsprozess und propagiert eine kohärente Europapolitik, die sich in einem umfassenden Aktionsprogramm in den für Polen und die EU wichtigsten Bereichen niederschlagen werde. Darunter fällt nach Ansicht der PO die „Unterstützung europäischer Solidarität“ sowie wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit und regionale Ausgeglichenheit; die Verwirklichung der Lissabon-Strategie und die Stärkung der Bürgergesellschaft durch die Entwicklung der territorialen und beruflichen Selbstverwaltung, ferner das Subsidiaritätsprinzip. Zudem befürwortet die PO eine Ausweitung und Vertiefung eines einheitlichen europäischen Marktes durch die Öffnung des Arbeitsmarktes für die neuen Mitgliedsländer, die Liberalisierung des Energiemarktes und die Entwicklung einer gemeinsamen Energiepolitik, den Beitritt Polens zum Euroraum sowie eine aktive Teilnahme am Verfassungsprozess und der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik.892 Diese Auflistung zeigt deutlich, dass die PO die Integration Polens in die EU vorantreiben will und die Politiken und Zielsetzungen der EU prinzipiell befürwortet. Eine über diesen Status quo der EU-Entwicklung hinaus weisende Konzeption ist hingegen nicht zu erkennen, vielmehr wirkt es wie eine nachträgliche Bestätigung des polnischen EUBeitritts im Jahre 2004. Im Anschluss nimmt die PO noch eine Prioritätensetzung vor, die deutlich macht, welche Schwerpunkte dem europapolitischen Programm der Partei zugrunde gelegt werden sollen. Erstens fordert sie die volle Integration Polens im Rahmen des Arbeits- und Wirtschaftsraums und spricht sich für die Unabhängigkeit von Institutionen wie der Zentralbank, eine europäischen Monopolaufsicht, den Verbraucherschutz etc. aus. Im Übrigen fordert sie die schnelle Öffnung des Dienstleistungssektors für Polen. Als zweiten Schwerpunkt nennt sie den Beitritt Polens zur WWU und die Übernahme des Euro und als dritte und letzte Priorität wird die Vorbereitung und Einführung eines effektiven Systems zur Ausnutzung der Strukturfonds, der Fonds zur Entwicklung ländlicher Regionen und der Fischereifonds erklärt. Dabei soll zugleich auch eine Stelle zur Überwachung der Verwendung dieser Gelder eingerichtet werden. An der Prioritätensetzung der PO wird deutlich, dass insbesondere die ökonomische Integration im Fokus der PO steht, zudem wird stets die Wahrung der nationalen Interessen betont, was sich auch in den Forderungen nach einer Ausnutzung der finanziellen Unterstützung durch die EU ablesen lässt. Bereits zu Beginn des Europakapitels der PO verweist sie auf die „Sicherung der Interessen des Landes, insbesondere im Bereich der gesellschaftspolitisch-ökonomischen Solidarität“, was letztlich nichts anderes bedeutet, als dass Polen aus dem Beitritt finanzielle und ökonomische Vorteile zieht. Was für die Programmatik von 2001 nur vermutet werden konnte, bestätigt sich im Großen und Ganzen beim Europaframe von 2005. Die PO ist folglich eine Verfechterin der europäischen Integration Polens, begründet diese vor allem wirtschaftspolitisch, so dass eine vorrangig liberale Marktorientierung bei Wahrung eines hohen Maßes an nationaler Souveränität für die Europaposition der PO kennzeichnend ist. Die Europakonzeption der PiS steht in Kontinuität zur ihren Aussagen von 2001. So wird als erstes unter der Überschrift „Ziele der Europapolitik“ die NATO als grundlegende Institution zur Garantie von Sicherheit definiert, was deutlich macht, dass die EU sicherheitspolitisch für die PiS eine nachrangige Rolle spielt. Ferner plädiert die PiS für den Erhalt des Prinzips der Einstimmigkeit und ist nicht gewillt, die im Vertrag von Nizza zugesi892
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cherte Position Polens aufzugeben. Daran schließt sich die Überzeugung der „Unantastbarkeit der Souveränität“ Polens in seiner Außenpolitik und in der Wirtschaftspolitik mit dem Zusatz „im Rahmen des freien Marktes in Europa“ aus. Zudem will sich die PiS für eine Aufnahme der Ukraine in die EU stark machen, eine politische und ökonomische Zusammenarbeit mit den Ländern Mitteleuropas (vor allem Litauens und der Slowakei) entwickeln und die Rolle Polens als Beobachter der EU hinsichtlich einer Gefährdung des Friedens und Missachtung der Menschenrechte hinter der Ostgrenze ausbauen.893 Die europapolitische Konzeption der PiS ist wie schon 2001 von großer Skepsis und einem absoluten Vorrang nationaler Interessen geprägt, so dass sich daraus die konservativ-liberale Vorstellung einer Europäischen Union als ein loses Bündnis souveräner Nationalstaaten ableiten lässt, die vor allem wirtschaftspolitisch miteinander kooperieren. Die SLD beruft sich auch 2005 wieder positiv auf die EU. Diese Bezugnahme findet zum einen in Form eines Vergleiches Polens mit den anderen EU-Staaten statt, wobei letztere zum Maßstab eines zu erreichenden Niveaus herangezogen werden. So zum Beispiel im Rahmen polnischer Gesetzgebung („Laws that are appropriate to European standards, which we need to learn to use“), aber vor allem hinsichtlich des in der EU realisierten Wohlstandes, der nur durch bzw. mit Hilfe der Europäischen Union auch in Polen erreichbar sei. Zum anderen verankert sie die polnische Identität in einem europäischen Rahmen und grenzt diese nicht – wie die anderen Parteien – davon ab. Letztlich lässt sich daraus eine weitgehende Übereinstimmung mit den Werten, Zielen und Prinzipien der EU und ihrer Politiken folgern. Im Programm der polnischen Sozialdemokraten heißt es „[w]e want a Poland that is open and European. (…) We see our country and its citizens as fully fledged Europeans supporting the development of the whole of the needy world“.894 Vor dem Hintergrund der Programmatik der SLD von 2001 und den hier allgemeinen, aber durchweg positiven Bezügen zur EU kann angenommen werden, dass die SLD einer sozialdemokratischen Europakonzeption am nächsten steht. 7.5.5 Bilanz Polen Es wurde über den Zeitraum von 1993 bis 2005 deutlich, dass bei den polnischen Parteien eine programmatische Professionalisierung und eine Annäherung an Konzeptionen westeuropäischer Parteien zu beobachten ist. Während 1993 eine klare Zuordnung der polnischen Parteiorientierungen nur schwer vorgenommen werden konnte, zeichnete sich ab 1997 eine größere programmatische Ausdifferenzierung und konzeptionelle Präzisierung bei den Parteien ab. Inhaltlich hingegen zeigen alle drei Parteien weder zwischen den Frames noch über den Zeitverlauf wesentliche Positionsverschiebungen. Es fällt jedoch auf, dass im Rahmen des Sozialstaats- und Gesellschaftsframes zwischen den Linken und den Konservativen eine größere ideologische Nähe besteht, während im Rahmen des Europaframes mehr Übereinstimmungen zwischen den Konservativen und den Liberalen auszumachen sind. Als spezifisches Merkmal der polnischen politischen Deutungskultur lässt sich bei allen drei Parteien erkennen, dass aufgrund der Historie ein starkes Bedürfnis nach nationaler Selbstvergewisserung besteht und folglich im Rahmen des Gesellschafts- und Europa-
893 894
PiSWP (2005) Kapitel 3 SLDWP (2005:2)
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frames nationale Bezüge und Interessen besonders hervorgehoben werden. Dies wird vor allem im Vergleich mit Deutschland und Großbritannien deutlich895. Inhaltlich definieren alle drei Parteien als entscheidende sozial- und gesellschaftspolitische Herausforderungen die Bekämpfung von Armut (Stadt-Land-Gefälle) und Arbeitslosigkeit, die Reformierung des Gesundheits- und Rentensystems und Veränderungen im Rahmen der Familien- und Bildungspolitik, aber auch im Verhältnis von Kirche und Staat. Dabei präsentieren die Parteien jeweils ein unterschiedliches Verständnis der Zuständigkeiten von Staat, Markt und Gesellschaft. Während die PiS dem Staat eine intervenierende und einflussreiche Rolle in den Markt und die Gesellschaft einräumt, trennt die PO im wesentlichen die drei Sphären voneinander ab und strebt eine gewisse Autonomie der drei Subsysteme an. Die SLD plädiert wie die PiS für eine intervenierende wirtschaftspolitische Funktion des Staates, verankert den Einfluss des Staates auf die gesellschaftliche Sphäre aber geringer. Der Staat soll zwar strukturelle Voraussetzungen schaffen, sich mit Blick auf inhaltliche Aspekte jedoch neutral verhalten. Tabelle 27: Wohlfahrtsstaatliche Parteiorientierungen in Polen 1993 bis 2005 Frame Partei
1993
1997
2001
2005
SLD
Sozialstaat UD/UW/ KPN/ PO AWS/PiS
SLD
Gesellschaft UD/UW/ KPN/ PO AWS/PiS
SLD
Europa UD/UW/ KPN/ PO AWS/PiS
SozialSozialKeine SozialEtatistisch demokra- Konserva- KonservaKonservaKeine EinLiberal demokra(sozialis- tischtivtivtiv (gering Angaben ordnung tisch tisch) Sozialis- Liberal Etatistisch liberal) möglich tisch KonservaNationalSozial- Liberal tivSozialNationalSozialSozialLiberal demokra- Konserva- Sozial- demokra- Liberal Konservademokrakonserva(u.V). tisch tiv demokra- tisch tiv tisch tiv tisch SozialNatioNationaldemokraKonservaLiberal nal(istisch Liberal konservatisch tivSozial- (gering SozialLiberal )(gering tiv(gering Sozial- demokra- Sozialdemokra(u.V.) Konservakonservasozialdekonservademokra- tisch demokratisch tiv (gering tiv-sozial) mokrativ, libetisch tisch) liberal) tisch ral) SozialdemokraSozial- Sozial- Liberal SozialNationaltisch demokra- demokra- (gering demokra- Sozial- Liberalkonserva(gering Liberal tischtisch Sozialtisch- demokra- Konservativliberal Konserva- (gering demokra- Konserva- tisch tiv Liberal /sozialisti tiv liberal tisch) tiv sch)
Quelle: Eigene Darstellung
895
In Deutschland taucht zum Beispiel eine nationale Rhetorik und Bezugnahme nur in sehr geringem Maße auf und in Großbritannien nur im Rahmen des Europaframes, also in außenpolitischer Hinsicht, während in Polen auch nach innen eine nationale Identitätsvergewisserung konstatiert werden kann. Mehr dazu weiter unten im Ländervergleich.
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Europapolitisch dominieren bei allen drei Parteien ökonomisch-finanzielle Motive sowie letztlich die Präferenz für ein liberales Markteuropa, auch wenn die SLD einen positiven Wertebezug zur EU herstellt. Auch hier stehen vor allem ökonomische Interessen im Mittelpunkt der europapolitischen Strategien. Daran lässt sich das polnische Bedürfnis nach einem politisch-ökonomischen Aufholprozess erkennen. Mit dem Beitritt in die EU wird bei allen Parteien die Nutzbarmachung finanzieller europäischer Unterstützung besonders hervorgehoben und stets ein Vergleich mit den anderen EU-Staaten angestrebt. Eine Kompensation für die politisch-ökonomische Rückständigkeit Polens wird demnach durch eine optimale Ausnutzung der ökonomischen und finanziellen europäischen Unterstützungsprogramme gesehen. Die polnische Deutungskultur im untersuchten Zeitraum weist somit eine starke nationale Fokussierung auf, was mit den historischen Erfahrungen und dem Transformationskontext erklärbar ist.896 7.6 Fazit zur Deutungskultur Im Folgenden soll die vergleichende Betrachtung der parteipolitischen Deutungskulturen entlang von drei Fragen aufgezogen werden:
Wie verhält sich die ideologische Differenz zwischen den Parteien eines Landes zur ideologischen Differenz in den anderen Ländern im Zeitverlauf?. Wie entwickeln sich die Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Rahmen der Parteifamilien (transnational)? Welcher der beiden nationalen Frames beeinflusst – wenn überhaupt – den Europaframe am stärksten?
Generell lässt sich zunächst konstatieren, dass der ideologische Abstand zwischen den beiden britischen Parteien größer ist als zwischen den beiden deutschen Parteien, was auf eine stärker konfrontative – sicherlich bedingt durch das politische System mit seinem Zweiparteiensystem – Deutungskultur hinweist. In Polen ist das ideologische Spektrum der untersuchten entscheidenden Parteien letztlich noch weiter gesteckt als in den beiden westeuropäischen Untersuchungsländern, allerdings ist hierbei eine Zuordnung entlang einer Links-Rechts-Achse mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass bei Parteien wie der PiS das Spektrum je nach Frame von links der Mitte bis weit rechts außen reicht. Der Versuch der graphischen Darstellung der länderübergreifenden Parteipositionen entlang einer Links-Rechts-Achse soll hier lediglich als Orientierung dienen, da bei genauerer Betrachtung eine wesentlich stärkere Differenzierung vonnöten wäre, was je nach Politikfeld (bzw. Frame) zu veränderten Konstellationen führen würde. Für die beiden deutschen Parteien kann konstatiert werden, dass im Kontext des Sozialstaatsframes nicht nur prinzipiell eine relative Nähe zwischen SPD und CDU zum Tragen kommt („deutscher Sozialstaatskonsens“), sondern zudem eine Annäherung zwischen den Parteien über den Zeitraum hinweg zu beobachten ist. Besonders in den arbeitsmarkt- und 896
Interessant in diesem Kontext wäre die Frage, ob langfristig eine Annäherung zwischen den osteuropäischen und westeuropäischen Deutungskulturen zu beobachten ist, wobei eine zukünftige Abnahme des nationalen Fokus als Indiz dafür darstellen könnte, sofern nicht der nationale Fokus in europapolitischen Fragen in den westeuropäischen Ländern zunehmen würde.
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beschäftigungspolitischen Vorstellungen und Konzepten der beiden Parteien kann diese Annäherung beobachtet werden. Die (relativen) Differenzen zwischen CDU und SPD nehmen vom Gesellschaftsframe hin zum Europaframe zu. Interessant ist hierbei, dass je mehr die SPD im Rahmen ihres Sozialstaatsframes nach rechts rückt, desto mehr eine Linksverschiebung in ihrem Europaframe beobachtet werden kann. Die CDU weist im Vergleich mit der SPD eine wesentlich geringere Positionsverschiebung auf, da nur eine leichte Rechtsverschiebung sowohl innenpolitisch (Sozialstaatsframe und Gesellschaftsframe) als auch europapolitisch über den Zeitraum konstatiert werden kann. Abbildung 15: Relative Parteianordnung entlang der Links-Rechts-Dimension PiS SLD Links
SPD
Labour
CDU PO
Conservatives PiS Rechts
Quelle: Eigene Darstellung
In Großbritannien stellt sich die relative Distanz zwischen den Parteien fast genau umgekehrt da. So kann zwischen Labour und den Conservatives im Rahmen des Europaframes in der zeitlichen Entwicklung die größte Annäherung konstatiert werden, während die Differenzen im Rahmen des Sozialstaats- und des Gesellschaftsframes im Ganzen betrachtet eher noch zunehmen als abnehmen oder zumindest gleich bleiben. Labour rückt wie im Europaframe so auch im Sozialstaatsframe im Laufe der Zeit mehr nach rechts bzw. in die Mitte (vor allem im Rahmen der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik), während die Konservativen relativ konstant ihre Positionen und Vorstellungen über den Zeitraum hinweg verfolgen. Im Vergleich mit Deutschland kann jedoch konstatiert werden, dass die britischen Parteien auf einer Links-Rechts-Achse etwas weiter rechts angesiedelt sind. Vor diesem Hintergrund lässt sich für die britische Kultur festhalten, was insbesondere auch im Rahmen des britischen Gesellschaftsframes immer wieder deutlich wurde, dass sie liberaler ausgerichtet ist als die deutsche. Werte wie individuelle Freiheit und Eigenverantwortung besitzen einen höheren Stellenwert als zum Beispiel Solidarität oder Gleichheit, was dem Vorrang gesellschaftlicher Problemlösungsstrategien vor staatlichen Eingriffen entspricht. Man kann in Analogie zum deutschen Sozialstaatskonsens in Großbritannien von einem britischen Gesellschaftskonsens sprechen. Valide Aussagen über Positionsverschiebungen der polnischen Parteien können aufgrund der wechselnden Parteien sowie der zum Teil äußerst vagen Aussagen nicht getroffen werden, allerdings lässt sich bei den untersuchten Parteien (vor allem SLD, PO und PiS) eine Professionalisierung konstatieren, was einer Annäherung an westeuropäische Parteiprogramme entspricht. Im Unterschied zu SPD und Labour weist die polnische linke Partei (SLD) eine höhere programmatische Kohärenz zwischen den Frames als auch über den Zeitraum hinweg auf. Ferner fällt auf, dass beim Gesellschaftsframe und beim Sozialstaatsframe eine größere ideologische Nähe zwischen SLD und PiS zu konstatieren ist, während im Europaframe – wenn auch in geringerem Ausmaß – eine größere Nähe zwischen PO und PiS beobachtbar ist. Die polnische parteipolitische Deutungskultur erscheint vor dem spezifischen polnischen Transformationskontext (und einem bis Ende der 1990er Jahre höchst instabilem Parteiensystem) inkonsistenter und weniger konsolidiert zu sein. Aufschlussreich ist jedoch, dass mit der allmählichen Konsolidierung im rechten Parteienspektrum (seit 2001) auch die Problemdefinitionen der Parteien, die Konzeptionen und Strategien zu einem gewissen Grad denen der westeuropäischen Partei ähnlicher werden.
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Transnational betrachtet kann die größte Nähe bzw. Annäherung im Zeitverlauf zwischen den sozialpolitischen „Deutungskulturen“ Großbritanniens und Deutschlands beobachtet werden. Größer zumindest als zu Polen, was zunächst nicht verwunderlich ist. Erstaunlicherweise jedoch ist bei den parteipolitischen Europakonzeptionen ab 2001 eine größere ideologische Nähe zwischen Polen und Großbritannien auszumachen als zwischen Deutschland und Großbritannien. Hieran lässt sich die Betrachtung der Entwicklung von Gemeinsamkeiten und Unterschiede innerhalb der Parteifamilien anschließen, die Aufschluss darüber geben soll, ob zwischen den linken und rechten Parteien transnationale Konvergenzprozesse zu beobachten sind oder nicht. Innerhalb der Parteifamilien zeigt sich, dass allen Differenzen zum Trotz im Rahmen des Sozialstaatsframes eine ähnliche Positionsverschiebung der linken Parteien nach rechts zu verzeichnen ist. Ist das Ausmaß der Veränderung bei der SLD zwar wesentlich geringer als bei Labour oder SPD, so ist auch hier eine solche Verschiebung ab 2001 beobachtbar. In ihren Inhalten und Strategien nähert sich die SLD also den westeuropäischen Linken an. Im Rahmen des Gesellschaftsframes lässt sich für die linken Parteien kein analoger Entwicklungsprozess beobachten, es kann lediglich eine gewisse Übereinstimmung zwischen Labour und SPD hinsichtlich der Aufwertung des Zivilgesellschaftskonzepts konstatiert werden. Über die prinzipielle Nähe im Rahmen einer Parteifamilie dominieren hingegen die länderspezifischen Unterschiede. Im Europaframe ist die größte Heterogenität innerhalb der linken Parteifamilie auszumachen. Im rechten Parteienlager hingegen fällt im Vergleich mit den linken Parteien eine größere Homogenität im Untersuchungszeitraum auf. Die ersten polnischen Wahlprogramme ausgenommen zeigt sich, dass die rechten Parteien geringere Positionsverschiebungen nicht nur über den Zeitverlauf aufweisen, sondern auch zwischen den Frames ein relativ hohes Maß an Kohärenz vorzufinden ist. Im Folgenden soll noch der Frage nachgegangen werden, welcher der beiden „innenpolitischen“ Frames den Europaframe einer Partei mehr beeinflusst hat. Anhand der einzelnen Programm-Analysen lässt sich zeigen, dass der Gesellschaftsframe einer Partei die jeweilige Europakonzeption stärker beeinflusst als der Sozialstaatsframe. Diese These lässt sich zunächst anhand der Parteien aufzeigen, die gewisse Spannungen zwischen dem Sozialstaatsframe und dem Gesellschaftsframe vorzuweisen haben. Die PiS ist hierbei das beste Beispiel, denn wenn ihre sozialpolitischen Überzeugungen einen Einfluss auf ihre Europaposition besäßen, müsste sie im Grunde für ein “Soziales Europa“ eintreten. Aber auch wenn für die PiS aufgrund polnischer Spezifika möglicherweise noch andere Beweggründe gefunden werden könnten, so zeigen sich ähnliche Tendenzen selbst bei SPD, CDU und Labour. Die SPD präsentiert sich in ihrem Sozialstaatsframe über den Zeitverlauf immer liberaler bei einer gleichzeitig stärker werdenden sozialdemokratischen Ausrichtung im Gesellschaftsframe. Im Europaframe tritt die soziale Ausrichtung deutlich hervor und nimmt im Untersuchungszeitraum sogar noch zu. Insofern kann bei der SPD von einer negativen Korrelation zwischen dem Sozialstaatsframe und dem Europaframe gesprochen werden, was aber nicht ausschließt, dass gleichzeitig ein positiver Zusammenhang zwischen dem Gesellschaftsframe und dem Europaframe vorherrscht. Bei der CDU wird dieser Zusammenhang insofern erkennbar, als sie in ihrem Gesellschaftsframe eindeutig konservativere Vorstellungen und Orientierungen präsentiert als in ihrem Sozialstaatsframe, was sich dann auch in einem eher konservativen national-kulturellen Europakonzept widerspiegelt. Bei Labour scheint dieser Zusammenhang weniger offensichtlich, bei einer Betrach-
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tung ihrer programmatischen Entwicklung unter Berücksichtigung des britischen Kontextes lässt sich jedoch feststellen, dass sie in ihrem Sozialstaatsframe eine stärker sozialdemokratisch geprägte Ausrichtung präsentiert als in ihrem Gesellschaftsframe, der stets auf die individuelle Freiheit, die Verantwortung des Einzelnen und die Rolle der Zivilgesellschaft abhebt und damit stärker liberale Tendenzen aufweist, was sich dann auch in einer primär liberalen Europakonzeption niederschlägt. Dies würde auch die größere Nähe zwischen den britischen Konservativen und Labour im Rahmen des Europaframes erklären können. Wenn der Gesellschaftsframe einen größeren Einfluss auf die Europakonzeption der Parteien besitzt, so kann dies ein Hinweis darauf sein, dass die europäische Ebene für die Parteien vorrangig als strategische Handlungsebene fungiert und weniger als ein normatives Projekt wahrgenommen wird. Für diese These spricht im Rahmen dieser Untersuchung zudem, dass die Europakonzeptionen der Mehrzahl der Parteien (der britischen und polnischen Parteien) vorrangig auf einer Governance-Dimension beruhen. Dagegen sprechen allerdings die Europakonzeptionen der beiden deutschen Parteien, die eine Wertezuschreibung explizit vornehmen und hervorheben.897 7.7 Vergleichsanalyse mit dem EU-Skript Im Rahmen einer vergleichenden Betrachtung zwischen dem EU-Skript und den nationalen parteipolitischen Deutungskulturen sollen sowohl Konvergenzen als auch Divergenzen zwischen den beiden „Ebenen“ dargestellt werden. Dabei zeigt sich deutlich, dass je nach Frame entweder die Konvergenzen oder die Divergenzen zwischen dem EU-Skript und den parteipolitischen Deutungskulturen der Länder stärker hervortreten. Hierbei wird zunächst der sozialpolitische Mikroframe der Parteien mit dem sozialpolitischen EU-Skript verglichen. In einem zweiten Schritt wird der europäische Frame der Parteien in Beziehung zum EU-Skript gesetzt.898 Mit Blick auf den sozialpolitischen Frame kann zwischen dem EU-Skript und den nationalen parteipolitischen Deutungskulturen im Untersuchungszeitraum ein gewisser Konvergenzprozess bei gleichzeitig weiter bestehenden Divergenzen beobachtet werden. In Anlehnung an Hall (1993)899, allerdings in einer für diesen Vergleich modifizierten Form, wird zwischen erstens normativen Grundorientierungen, zweitens den gewählten Konzepten und drittens den angedeuteten Instrumenten unterschieden. Unter normativen Grundorientierungen werden die angestrebten Policy-Ziele verstanden, während sich die Konzepte durch einen höheren Grad an inhaltlicher Konkretisierung auszeichnen und bereits Hinweise darüber enthalten, wie ein Ziel erreicht werden soll. Die Instrumente beinhalten dann
897
Allerdings kann diese These aufgrund der wenigen und sehr heterogenen Fälle hier nicht abschließend beantwortet werden. 898 Der nationale Gesellschaftsframe kann an dieser Stelle nicht mit dem EU-Skript verglichen werden, da im Kontext der Arbeit nur die soziale Dimension des EU-Skripts analysiert wurde. Aufgrund des wesentlich allgemeineren verfassungsähnlichen Charakters der EU-Verträge würde ein solcher Vergleich höchstwahrscheinlich auch wenige Vergleichskriterien zur Verfügung stellen. 899 Vgl. Hall (1993). Halls Ansatz im Rahmen von policy-Analysen unterscheidet erstens zwischen einer Neujustierung von Instrumenten, zweitens neuen Instrumenten und drittens veränderten Zielen. Für den Vergleich zwischen EU-Skript und Deutungskultur sind hier vor allem Ziele und Konzepte von Interesse, da Instrumente im EUSkript kaum genannt werden.
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die spezifischen Maßnahmen, die zur Umsetzung eines Konzeptes herangezogen werden.900 Im Anschluss wird geprüft inwieweit auf transnationaler Ebene entlang der Parteifamilien mehr oder weniger Konvergenzen bzw. Divergenzen zum EU-Skript hervortreten.901 Die größten Übereinstimmungen lassen sich im Bereich der Ziele konstatieren. So lässt sich eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den parteipolitischen Deutungskulturen und dem EU-Skript hinsichtlich des Ziels der Vollbeschäftigung, einer Gleichstellung von Mann und Frau902 sowie in der Überzeugung der Notwendigkeit einer Modernisierung der nationalen Sozialsysteme vor dem Hintergrund von Globalisierung und nationalen sozio-ökonomischen Veränderungsprozessen ausmachen. Folglich kann eine übereinstimmende Interpretation der Herausforderungen sowie gleiche Begründungskontexte zwischen der EU und den nationalen parteipolitischen Deutungskulturen festgestellt werden.903 Daran anschließend lassen sich die größten Übereinstimmungen bei den beschäftigungspolitischen Zielen ausmachen. Im Skript der EU werden im Rahmen der EBS vor allem relativ abstrakte Ziele wie Beschäftigungsfähigkeit, Anpassungsfähigkeit (Flexibilisierung), Unternehmergeist und Chancengleichheit formuliert, die – wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung – in den Programmen der Parteien wiederzufinden sind.904 Ferner spricht sich die EU für ein „hohes Maß an sozialem Schutz“ (Amsterdam 1997) aus. Obgleich diese Formulierung wenig aussagekräftig ist, da sie nicht präzisiert, wer Bereitsteller dieses hohen Maßes an sozialer Sicherheit sein soll (Staat oder Markt), kann angenommen werden, dass hier die linken Parteien sowie die PiS und möglicherweise auch noch die CDU eine größere Übereinstimmung mit dem EU-Skript aufweisen, als die liberalen und konservativen Parteien (maßgeblich PO und Conservatives), da letztere nur ein Minimalmodell staatlicher sozialer Sicherung befürworten. So verhält es sich dann auch beim Ziel einer „sozialen Marktwirtschaft“, wie es die EU im gescheiterten Verfassungsvertrag und im gegenwärtig noch nicht ratifizierten Lissabon-Vertrag formuliert. Auch hier sind es vor allem die linken Parteien, sowie die CDU und PiS, die dieses Ziel teilen, während PO und Conservatives eine weitgehend freie Marktwirtschaft zum Ziel erklären. Aufbauend auf dieser relativ hohen Kohärenz zwischen dem EU-Skript und den Deutungskulturen im Rahmen der Policy-Ziele zeichnet sich – mit Einschränkungen bezüglich Polen905 – in allen drei parteipolitischen Deutungskulturen in zunehmendem Maße eine dominante normative Orientierung am Konzept des aktivierenden Wohlfahrtsstaates ab, welches sich im Selbstverständnis der EU seit dem Vertrag von Amsterdam durchzusetzen begann. Im Kontext des aktivierenden Wohlfahrtsstaates beruft sich die EU auf ein Flexicurity-Konzept, welches sich auch in den Programmatiken der Parteien (mit Ausnahme der 900
Eine eindeutige Trennung zwischen Zielen, Konzepten und Instrumenten ist nicht immer möglich, so dass diese Unterscheidung primär als analytisches Hilfsmittel dient. Der zunehmende Verallgemeinerungsgrad ausgehend von den Instrumenten, über Konzepte bis hin zu Zielen dient dabei als Orientierung. 901 Hieraus ließen sich dann im Fazit Hypothesen für die weitere Entwicklung hinsichtlich einer sozialen Dimension europäischer Identität generieren. 902 Lediglich in der Programmatik der polnischen PiS lässt ein Bekenntnis zur Gleichstellung von Mann und Frau nicht finden. 903 Vgl. Kapitel 1 904 Vgl. unter Unterkapitel 5.4.4. 905 Für Polen gelten auch hier wieder die Besonderheiten des zeithistorischen Kontextes, was sich nicht zuletzt auch in einer von den beiden westeuropäischen Parteien zum Teil abweichenden sprachlichen Ausdrucksweise erkennen lässt, so dass mitunter ähnliche Konzepte und Ziele nur anders sprachlich umschrieben bzw. begrifflich gefasst werden. Zudem werden im Rahmen des Vergleichs mit dem EU-Skript nur die Analyseergebnisse der nach wie vor existierenden Parteien PO, PiS, SLD von 2001 und 2005 berücksichtigt.
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britischen Konservativen und der polnischen PiS) wiederfindet, wobei unterschiedliche Gewichtungen von Flexibilität und Sicherheit vor allem auf der Ebene der Instrumente zum Vorschein kommen. Auf der Ebene der Konzepte lassen sich zwar bereits kleinere Differenzen zwischen den Parteien im Vergleich mit dem EU-Skript feststellen, prinzipiell weisen die Konzeptionen des EU-Skripts mit denen der Parteien jedoch einen hohen Grad an Übereinstimmung auf. Auf der Ebene der Instrumente lassen sich bereits größere Differenzen zwischen den Parteien mit Blick auf das EU-Skript konstatieren. Als Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik setzt die EU im Rahmen der EBS vor allem auf die Qualifizierung und Weiterbildung von Arbeitslosen, was in stärkerer Gewichtung von den linken Parteien vertreten wird. Die konservativen und liberalen Parteien setzten hingegen eher auf Leistungskürzungen als Anreize zur Arbeitsaufnahme. Ferner propagiert die EU im Rahmen ihres Ziels der Anpassungsfähigkeit im Rahmen der Europäischen Beschäftigungsstrategie primär flexible Formen von Arbeitsverträgen, was von den konservativen und liberalen Parteien stärker befürwortet wird als von linken Parteien, wobei im Zeitverlauf deutlich wird, dass sowohl SPD als auch Labour die Flexibilisierung von Arbeitsverträgen ebenfalls als notwendig erachten. Im Rahmen des europäischen Ziels der Chancengleichheit wird von Seiten der EU vor allem die Bedeutung von Bildung betont und damit einhergehend die Bereitstellung von Kindergartenplätzen, Elternurlaubsregelungen sowie Maßnahmen zur Reintegration von Frauen/Müttern und Behinderten in den Arbeitsmarkt genannt. Hier lässt sich deutlich erkennen, dass die Programmatiken sozialdemokratischer Parteien (SPD, Labour und SLD) größere Übereinstimmungen auf der Ebene der Instrumente mit dem EU-Skript aufweisen als die liberal-konservativen Parteien. Im sozialpolitischen Bereich im engeren Sinne lässt sich im EU-Skript die Berufung (und evt. mit Lissabon auch rechtliche Festlegung) auf soziale Grundrechte im weitesten Sinne ebenso als ein Instrument europäischer Sozialpolitik nennen wie auch die Setzung von sozialen Mindeststandards. Ein Vergleich mit den parteipolitischen Deutungskulturen kann hierbei nur in die allgemeine Feststellung münden, dass sowohl in Deutschland (durch das Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz)906 als auch in Polen soziale Grundrechte bzw. Sicherheit verfassungspolitische Relevanz besitzen. Großbritannien kennt keine geschriebene Verfassung, so dass es hier auch keinen ausformulierten Grundrechtskatalog gibt. Allerdings hat sich Labour im Rahmen ihrer Programmatik für die Entwicklung eines solchen stark gemacht. Im Großen und Ganzen ist deutlich geworden, dass im Rahmen des Sozialstaatsframes zwischen dem EU-Skript und den parteipolitischen Deutungskulturen ein recht hohes Maß an Kohärenz zu verzeichnen ist. Dies ist nicht zuletzt der Rechtsverschiebung der deutschen und britischen Sozialdemokratie geschuldet, die durch ihre stärkere Hinwendung zu liberalen Konzeptionen und Instrumenten eine Annäherung an das EU-Skript vollzogen haben. Interessant in diesem Kontext ist jedoch vor allem die zeitliche Dimension, wonach bis zum Vertrag von Amsterdam (1997) eine größere Übereinstimmung der konservativen Parteien mit dem EU-Skript zu beobachten war, während mit der zunehmenden sozial-liberalen 906
Durch die Sozialstaatsklausel im Grundgesetz (Art. 20 und Art. 28 GG) wird dem Staat eine Verpflichtung zur Gewährung des Existenzminimums der Bürgern in Risikofällen auferlegt. Allerdings können aus dem Sozialstaatsprinzip keine Anspruchsrechte der Bürger abgeleitet werden, da als Adressat des Sozialstaatsprinzips im Wesentlichen der Gesetzgeber fungiert. Soziale Grundrechte formuliert das GG hingegen –mit Ausnahme von Art.6 – letztlich nicht.
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Ausrichtung der linken Parteien und der parallel verlaufenden Stärkung der sozialen Dimension auf europäischer Ebene eine tendenziell größere Konvergenz hinsichtlich der normativen sozialpolitischen Ausrichtungen zwischen den sozialdemokratischen Parteien und dem EU-Skript konstatiert werden kann. Da die konservativen Parteien in gewisser Hinsicht eine liberalere sozialpolitische Ausrichtung als das EU-Skript aufweisen – sowohl bei einzelnen Zielsetzungen (soziale vs. freie Marktwirtschaft und sozialer Mindestschutz vs. hoher sozialer Schutz) als auch auf der Ebene der Instrumente –, sollte dies nicht als eine grundlegende Unvereinbarkeit zwischen dem europäischen und den nationalen Sozialstaatsframes interpretiert werden. Nun kann daraus allerdings nicht zwangsläufig auch abgeleitet werden, dass diese relative Nähe zwischen dem EU-Skript und den parteipolitischen Deutungskulturen zugleich bedeutet, dass die Parteien diese sozialpolitischen Ziele und Konzeptionen in Beziehung zur EU setzen, so dass daraus gefolgert werden kann, sie unterstützten alle das Projekt eines Sozialen Europas. Denn wie oben dargestellt wurde, treten im Rahmen der Europaframes die Divergenzen zum EU-Skript deutlich hervor. Von den sieben untersuchten Parteien unterstützt ohne Einschränkungen letztlich nur die SPD die normative soziale Ausrichtung des EU-Skripts. Für Labour endeten europäische sozialpolitische Ambitionen mit ihrer Regierungsübernahme 1997. Zwar haben sie damals das Soziakapitel vor allem auf Druck der Gewerkschaften angenommen, dies muss jedoch bis heute als Kulminationspunkt britischer sozialpolitischer Zugeständnisse an die europäische Ebene gewertet werden. Wohlmöglich lässt sich noch am ehesten für die SLD eine Befürwortung eines sozialen Europas unterstellen, wobei der ökonomische Aufholprozess nach wie vor im Vordergrund steht. Zwar weisen die Mitte-Rechts-Parteien – mit Ausnahme der PiS – keine grundsätzlich euroskeptische Haltung auf, doch stehen für sie wirtschaftspolitische und nationale Interessen im Rahmen ihrer Europakonzeptionen (noch) deutlich im Vordergrund. Folglich sehen sie in der EU vor allem ein ökonomisches, aber kein soziales Projekt.
8 Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlussfolgerungen
Das letzte Kapitel dient der Zusammenführung der Befunde, deren Einordnung in den größeren Forschungskontext und der Eröffnung anschließender Forschungsperspektiven. Zu diesem Zweck werden zunächst die wichtigsten Befunde der Einzelanalysen kurz zusammengefasst, um sie dann sowohl zueinander in Beziehung zu setzen als auch vor dem Hintergrund der Debatte zur Europäischen Identität zu diskutieren (Kapitel 7.1). Anschließend wird der Versuch einer Bewertung des Forschungsbeitrages vorgenommen: Hierbei werden sowohl die Beiträge dieser Arbeit zur politikwissenschaftlichen Forschung pointiert dargestellt aber auch ihre Grenzen sowohl inhaltlicher als auch methodischer Art problematisiert (Kapitel 7.2). Der abschließende Ausblick nimmt explizit die politische Dimension dieser Arbeit wieder auf: In ihm wird sich vor allem damit befasst, ob und inwieweit die politischen als auch gesellschaftlichen Prozesse und Ereignisse der letzten Jahre die Chancen eines Europäischen Gemeinwesen im Gewandt einer sozialen Demokratie beeinflussten und veränderten. Zur Disposition stehen dabei nichts anderes als die zukünftige Legitimität des europäischen Projektes und dessen Chancen auf Verwirklichung. 8.1 Skript, Sozio-Kultur und Deutungskultur im Vergleich Skript Im analytischen Teil der Arbeit konnte zunächst aufgezeigt werden, dass sich das „soziale“ europäische Skript durch ein Spannungsverhältnis auszeichnet, welches in der spezifischen Verbindung von einerseits liberalen und andererseits sozialdemokratischen Wertbezügen und Policy-Zielen zum Ausdruck kommt. Während zu Beginn des Integrationsprozess bis hinein in die späten 1980er Jahre der liberale Charakter des europäischen Skripts dominierte, kam es im Zuge der weiteren Vertragsreformen (EEA, Maastricht, Amsterdam und Nizza) zu einer steten Aufwertung einer „sozialen Dimension“. In dieser Entwicklung stellen die Vertragsreformen von Maastricht und Amsterdam die zentralen Momente dar: in ihnen wurde eine europäische Sozialpolitik namentlich erwähnt, inhaltlich spezifiziert und damit als ein europäisches Politikfeld erstmals ein eigener Stellenwert zuerkannt. Diese neue, eine soziale Dimension umfassende Ausrichtung des Integrationsprozesses zeigte sich auch in den Zielsetzungen der Union, die nicht mehr nur wirtschaftliche sondern nun auch soziale Wertebezüge aufwiesen (u. a. sozialer Schutz, Gleichbehandlung von Männern und Frauen, hohes Beschäftigungsniveau). In der Folge dieser „sozialen Wende“ konnte die Union verbindliche europäische Rechtsvorschriften im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit, des Arbeitsschutzes, der Geschlechtergleichbehandlung und im allgemeinen Arbeitsrecht erlassen, in weiteren Bereichen verfügt sie über unverbindliche Koordinierungskompetenzen (Beschäftigung, soziale Exklusion, Armut, Modernisierung der Systeme des sozialen
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Schutzes). Der europäische sozialpolitische Einfluss darf zwar nicht mit nationalen sozialpolitischen Arrangements verglichen werden, sollte aber dennoch als nicht unerheblich eingestuft werden. Die Stärkung der sozialen Dimension ist nicht als eine lineare oder gar eindimensionale Entwicklung zu verstehen. Mit der Lissabon-Strategie 2000 wurde zugleich die liberale Ausrichtung des EU-Skripts gestärkt, in dem ein primär markt- und wettbewerbsorientierter Ansatz zum Leitkonzept europäischer Politiken erhoben wurde. Das von der EU propagierte Leitbild eines aktivierenden Wohlfahrtsstaates beinhaltet damit sowohl liberale als auch sozialdemokratische Elemente, wobei in Folge der Asymmetrie in den EU-Kompetenzen die liberale Ausrichtung in der Realwirkung nach wie vor dominiert. Mit einer Ratifizierung des Lissabon-Vertrages könnte hingegen eine Aufwertung der sozialen Zielsetzungen und Wertbezüge stattfinden, da neben der Inkorporation der Grundrechtscharta und der Sozialklausel, eine soziale Marktwirtschaft zum erklärten Ziel der Union erhoben würde. Infolgedessen könnte sich das Selbstverständnis der EU von einem liberal-sozialem zu einem sozialliberalen wandeln. Denn mit dem Vertrag von Lissabon müssten den sozialen Zielsetzungen eine stärkere Berücksichtigung im politischen Prozess und bei der europäischen Rechtsprechung eingeräumt werden. Sozio-Kultur Auf der Grundlage der aggregierten Daten im Kontext der Sozio-Kultur wurde einerseits deutlich, dass in den Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten hohe sozialpolitische Erwartungen vorhanden sind. Diese richten sich – allerdings – in erster Linie an den jeweiligen Staat des Bürgers. Somit wird von einer großen Mehrheit der Menschen in Europa ein sozialdemokratisches oder etatistisches Wohlfahrtsstaatsmodell favorisiert. Die Gründe der jeweiligen wohlfahrtsstaatlichen Präferenzen waren unterschiedlicher Natur. Einige Plausibilität besaß die Risikoargumentation, wonach Menschen, bei denen die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass sie jemals auf sozialpolitische Leistungen angewiesen sein würden, einen starken Sozialstaat befürworten. Ferner waren ideologische Grundüberzeugungen im Sinne der jeweiligen Parteinähe von Bedeutung. In der Analyse der Daten zeigte sich aber auch, dass die nationalen Befunde nicht auf die europäische Ebene übertragbar waren. Dort, im europäischen Kontext, wurde deutlich, dass die Wahrscheinlichkeit der Befürwortung einer sozialpolitischen Kompetenzausweitung der EU mit einem gehobenen sozialen Status und einer besseren Ausbildung zu, mit dem Alter hingegen abnahm. Die Wahrscheinlichkeit einer Zustimmung zu solchen Maßnahmen sank ebenso in den Bevölkerungsgruppen, die eher die Empfänger sozialpolitischer Leistungen sind. Führt man die Analyse der grundsätzlichen Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat mit den Befunden zu einer möglichen Europäisierung dieser Politiken zusammen, so wird deutlich, dass umfassende Wohlfahrtsstaatsvorstellungen nicht zwangsläufig mit dem Wunsch einer sozialpolitischen Kompetenzausweitung der EU einhergehen. Die ideologische LinksRechts-Dimension besitzt demnach für europäische Einstellungsmuster wenig erklärungswert. Es muss somit angenommen werden, dass andere (sozio-kulturelle) Faktoren für eine pro-europäische Haltung (im Sinne einer vertieften sozialpolitischen Integration) ausschlaggebend sind. Denn zugleich zeigte sich, dass sich im Länderdurchschnitt eine Mehr-
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heit für die Ausweitung sozialpolitischer Kompetenzen aussprach und einem europäischen Sozialsystem – was auch immer im Detail von den Befragten darunter verstanden wurde – von der überwiegenden Mehrheit eine positive identitätsstiftende Rolle zuerkannt wurde. Die europapolitische Haltung der Bürger ist dabei gegenwärtig noch vom Modernisierungsgrad des Landes beeinflusst. Sollte der sozioökonomische Angleichungsprozess weitergehen, ist also zu erwarten, dass sich die ohnehin schon ähnlichen Einstellungen zwischen West- und Osteuropa noch weiter annähern. Deutunsgkultur Durch die Analyse der Deutungskultur konnten maßgeblich zwei Erkenntnisse gewonnen werden: Zum einen ist eine sozialpolitische Annäherung im gewissen Maße zwischen den Parteifamilien national wie auch transnational zu beobachten. Dieser zu konstatierende nationale und transnationale Konvergenzprozess zeigt sich vor allem in der übergreifenden sozialpolitischen Orientierung am Konzept des aktivierenden Wohlfahrtsstaates.907 Zum anderen zeigte sich, dass – ähnlich den Befunden zur Sozio-Kultur – nicht der Sozialstaatsframe ausschlaggebend für die Positionen der Parteien zur EU war. Die wohlfahrtsstaatlichen Deutungsangebote der Parteien blieben vor allem auf den nationalen Kontext bezogen und konnten nicht die Befürwortung bzw. Ablehnung eines sozialen Europas erklären. Hingegen war der Gesellschaftsframe für die Europapositionen der Parteien aussagekräftiger; eine Betonung national-konservativer Werte im Rahmen des Gesellschaftsframes mündete zumeist in ein liberales oder konservatives Europakonzept. Ein soziales Europa als ein von der Mehrzahl der untersuchten Parteien gemeinsames europäisches Projekt war im Rahmen der Deutungskulturen nicht identifizierbar. Das Verhältnis von Skript, Sozio- und Deutungskultur Setzt man die Befunde der drei Untersuchungseinheiten zueinander in Beziehung, werden sowohl Übereinstimmungen als auch Divergenzen deutlich. Das Verhältnis von Sozio- und Deutungskulturen ist in allen drei Ländern von Spannungen geprägt; diese sind am größten in Polen und am geringsten in Großbritannien. In allen drei Ländern sind in den Soziokulturen wesentlich ausgeprägtere wohlfahrtsstaatliche Vorstellungen anzutreffen, als sie von den Parteien vertreten werden. Zwar kann auf beiden Ebenen über den Zeitraum von 1990 bis 2005 eine leichte Rechtsverschiebung in den Positionen konstatiert werden, jedoch muss nach wie vor eine relativ große Differenz zwischen den (zunehmend) an liberalen Ideen orientierten Sozialstaatskonzeptionen der Parteien und den vorrangig sozialdemokratischen Vorstellungen in den Bevölkerungen festgestellt werden. Diese Diskrepanz zwischen Sozio- und Deutungskulturen auf Länderebene kann einerseits als ein Ausdruck des Umbruchs in den wohlfahrtsstaatlichen Kulturen gewertet werden, da im Rahmen der Deutungskultur stets neue Interpretationen der in den Sozikulturen vorhandenen Werten und Ideen angeboten werden und in diesem Prozess der Versuch unternommen wird, neue Denk- und Handlungsmuster zu etablieren. Nach dieser Lesart wür907
Eine Ausnahme stellen hier erneut die polnischen Parteien dar, aber selbst bei diesen konnte ab 2001 zumindest für PO und SLD eine ähnliche Orientierung festgestellt werden.
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den sich die politischen wohlfahrtsstaatlichen Kulturen derzeit in einer Phase des Wandels befinden, in der die Parteien versuchen, neue sozialpolitische Verständnisse als Lösungen für die Herausforderungen der nationalen Wohlfahrtsstaaten anzubieten. Hierbei zeigt sich, dass die Problemdiagnosen der Parteien der unterschiedlichen Länder große Ähnlichkeiten aufweisen und auch die Lösungsvorschläge – von gewissen nationalen Besonderheiten abgesehen – durchaus Parallelen erkennen lassen. In einer anderen Lesart erscheint die Differenz zwischen Sozio- und Deutungskultur hingegen problematischer. Aus dieser Sichtweise ist zu fragen, ob diese Differenz nicht auf eine Entfremdung zwischen den zentralen politischen Akteuren und den Bevölkerungen hindeutet, was auf lange Sicht möglicherweise negative – destabilisierende – Auswirkungen auf die generelle Unterstützung des politischen Systems seitens breiter Teile der Bevölkerung, insbesondere seitens der weniger Privilegierten, mit sich bringen könnte. Einige – in weiten Teilen von der Europadiskussion unabhängige – Anzeichen können für diese Deutung angefügt werden: In Deutschland zum Beispiel das Aufkommen und der starke Zulauf der Linkspartei oder die Diskussion um die Politikverdrossenheit der Bürger. Für Polen könnte die geringe Wahlbeteiligung und der Zulauf zu rechtspopulistischen Parteien genannt werden. Auch für Großbritannien lässt sich eine Abnahme der Wahlbeteiligung feststellen, allerdings scheint die von jeher eher konfrontative politische Kultur und die Konkurrenzdemokratie Spannungen bereits systemimmanent besser abzubilden. Bemerkenswert ist hierbei, dass trotz ähnlicher – man könnte also sagen: „europäischer“ – sozialpolitischer Problemdiagnosen, gemeinsame europäische Lösungsansätze nur von wenigen Parteien formuliert werden. Während sich in den Bevölkerungen im Länderdruchschnitt eine Mehrheit (zwischen 50 und 60 %) für mehr sozialpolitische Kompetenzen der EU ausspricht und der Idee eines europäischen Sozialsystem durchaus positiv gegenüber eingestellt ist, findet sich im Rahmen der Parteideutungen keine analoge Berücksichtung der EU als ein gemeinsamer sozialpolitischer Handlungs- und damit Problemlösungskontext verankert. Die Mehrzahl der untersuchten Parteien greift die relativ positiven Einstellungen der Menschen hinsichtlich eines sozialeren Europas nicht auf und integriert diese nicht in ihren Deutungsangeboten. Eine mögliche Erklärung dafür findet sich in der Beobachtung, dass sowohl auf der Ebene der Sozio-Kulturen als auch auf der Ebene der Deutungskulturen gerade nicht die ideologische Links-Rechts-Dimension ausschlaggebend dafür war, welche Haltung bzw. Position gegenüber Europa eingenommen wurde, sondern andere Faktoren wirkten. Auf der Individualebene der Sozio-Kulturen konnte gezeigt werden, dass eher gebildete und jüngere Schichten pro-europäisch sind, während auf der Ebene der Deutungskulturen die jeweilige Gesellschaftskonzeption (vor allem das Verhältnis zur eigenen Nation, aber auch die auf bestimmten traditionellen Grundwerten basierenden Überzeugungen zum Verhältnis von Markt, Staat und Gesellschaft) entscheidend dafür waren, ob ein Mehr an positiver Integration gewollt wurde oder nicht. Während im Rahmen der Sozio-Kulturen eher soziale und liberale gesellschaftspolitische Werte einflussreich sind, sind in den Deutungskulturen konservativ-nationale Werte und wirtschaftspolitisch liberale Werte dominant, so dass wenig Überlappungen zwischen Sozio- und Deutungskulturen hinsichtlich europapolitischer Vorstellungen existieren. Hierin könnte ein Grund liegen, warum die Einstellungen der Bürger nicht in den Europapositionen der Parteien abgebildet werden und umgekehrt. Die wichtigsten Parteien in den drei Untersuchungsländern begreifen die EU offenkundig nicht als soziales Projekt, sondern
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bleiben ihrer nationalen Perspektive verhaftet. Es sind am ehesten die Parteien links der Mitte, die eine Stärkung der sozialen Dimension der EU befürworten, die klassischen Wähler dieser Parteien haben sich jedoch in der Analyse der Sozio-Kultur eher als europaskeptisch erwiesen. Es hat somit den Anschein, als ob die sozialpolitischen Einstellungen der Menschen nicht mit den Europapositionen der Parteien übereinstimmen und umgekehrt. Demnach weisen die nationalen politischen Kulturen ein europapolitisches Defizit auf, welches nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der europäischen Konstruktion, dem Mangel an Demokratie und Öffentlichkeit zu veranschlagen ist. Aber dieses Defizit liegt eben auch, und dies ist sicherlich ein wesentliches Ergebnis der Arbeit, in dem mangelnden Willen zentraler politischer Akteure (hier nationale Führungsparteien) begründet, Europa als ein soziales Projekt zu begreifen und im Rahmen der Deutungskultur anzubieten Skript-Bezug Ein Vergleich der Sozio- und Deutungskultur mit dem europäischen Skript lässt ein ähnlich spannungsreiches Bild entstehen, wie es schon für das Verhältnis von Sozio- und Deutungskultur festgestellt werden musste. Mit Blick auf die Bürger zeigte sich somit, dass die sozialdemokratischen Elemente des sozialen Skripts der EU eine stärkere politischkulturelle Untermauerung finden als die liberalen Elemente, die ebenfalls in diesem Skript vorzufinden sind. Dieser Befund kann in gewisser Hinsicht durch relativ positive Einstellungen der Bürger gegenüber einem sozialen Europa gestützt werden. Mit Blick auf die Parteien hingegen finden die liberalen eher eine (nationale) politisch-kulturelle Entsprechung als die sozialdemokratischen Elemente des europäischen Skripts. Im Zeitverlauf lassen sich die größten Überlappungen zwischen Skript und parteipolitischen Deutungsangeboten bei den liberaler gewordenen linken Parteien erkennen (maßgeblich SPD und Labour, mit Abstrichen auch bei der SLD). Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Parteien als Träger eines sozialen Europas auftreten würden. Während die SPD den europäischen Integrationsprozess noch am ehesten als ein soziales Projekt begreift, zeigt sich bei Labour aber auch der SLD, dass die relative Nähe zwischen europäischem Skript und nationalem Sozialstaatsframe nicht in einem sozialen Europakonzept münden muss. Sowohl SLD als auch Labour begreifen Europa primär als ein ökonomisches Unterfangen. Im Vergleich der drei Untersuchungsebenen wird somit deutlich, dass das im sozialpolitischen Skript immanente Spannungsverhältnis zwischen sozialdemokratischen und liberalen Policy-Zielen und Wertebezügen sich auf der Ebene der nationalen politischen Kulturen widerspiegelt. Problematisch bleibt dabei jedoch, dass das Spannungsverhältnis nicht innerhalb der jeweiligen Sozio- und Deutungskulturen ausfindig gemacht werden kann, womit die Existenz, oder zumindest Herausbildung, einer transnationalen Rechts-LinksDimension untermauert werden könnte. Vielmehr verläuft die Spannungslinie zwischen den Sozio- und Deutungskulturen. Da es nun Aufgabe der Parteien (bzw. der Deutungskultur, und somit auch von Intellektuellen) ist, zwischen den politischen Institutionen und der Bevölkerung (und der in ihr situierten Sozio-Kultur) zu vermitteln, ist diese Diskrepanz kritisch zu beurteilen.
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Bezug zu europäischer Identität Was kann nun aus der empirischen Untersuchung für das Entstehen einer europäischen Identität abgleitet werden? Die inhaltliche Bestimmung des europäischen Projektes als ein soziales Projekt, welches eine Identifikation der Menschen mit eben diesem Europa befördern würde, scheint vor dem Hintergrund der Befunde durchaus möglich. Sowohl in den Sozio-Kulturen als auch dem europäischen Skript werden Anknüpfungspunkte für ein solches Unterfangen geliefert. Mit dem dieser Arbeit zugrunde liegenden Untersuchungsdesign konnte gezeigt werden, dass eine Vermittlung zwischen den drei Ebenen Skript, Soziound Deutungskultur dadurch behindert wird, dass die Parteien sowohl nationalen Deutungsangeboten den Vorrang einräumen als auch die jeweiligen Projektdefinitionen der EU stark divergieren. Solch divergierende Interpretationen finden sich zwar auch in den nationalen Deutungskulturen, jedoch ist im europäischen Kontext keine transnationale LinksRechts-Dimension erkennbar, entlang derer sich Zustimmung und Ablehnung sortiert. Das erschwert das Herauskristallisieren transnationaler Träger eines sozialen Europaprojektes erheblich. Ein weiteres Problem für die Herausbildung einer europäischen Identität liegt im europäischen Skript selbst begründet. Das Skript bietet letztlich zu große Interpretationsspielräume. Sicherlich liegt in dieser (Interpretations-)Offenheit auch eine gewisse Stärke begründet, da nur auf dieser Grundlage Kompromisse – und somit gemeinsame Regeln und gemeinsames Handeln – zwischen siebenundzwanzig Mitgliedsstaaten überhaupt erzielt werden können. Für eine eindeutige Projektdefinition – vor allem in sozialer Hinsicht – und damit für die Herausbildung einer europäischen (Bürger-)Identität ist eine solche Komplexität und Unschärfe im Skript des Gemeinwesens jedoch eher hinderlich. Der Vertrag von Lissabon könnte dahingehend eine positive Wirkung entfalten, dass durch die Aufwertung der sozialen Dimension auch in den realen Politiken (und hier insbesondere durch die Gerichtsurteile des EuGH) soziale Aspekte stärker einbezogen werden müssten. Dies würde das soziale Profil der EU stärken, was einen Schritt hin zu einem Sozialeren Europa bedeuten würde. Ob damit die strukturelle Asymmetrie in der Kompetenzverteilung (Markt vs. Soziales) entscheidend behoben werden könnte, ist allerdings unklar. Noch größere Zweifel sind bezüglich der Frage angebracht, ob ein erfolgreicher Lissabon Vertrag – und ein dadurch sozialeres Europa – den Mangel an europäischer Öffentlichkeit und den Unwillen der nationalen politischen Akteure Europa als ein soziales Projekt zu begreifen und zu propagieren, überhaupt in bedeutender Weise aufheben könnte. 8.2 Grenzen und Ausblick Die vorliegende Arbeit nahm in inhaltlicher Hinsicht ihren Ausgang von einem normativtheoretischem Anliegen: Welche Möglichkeiten hinsichtlich einer Stärkung europäischer Legitimität der Europäischen Union können auf der Grundlage einer europäischen Identität ausgemacht werden? Der aus dem Diskurs der normativen Demokratietheorie abgeleiteten These, dass ein „Soziales Europa“ die Herausbildung einer europäischen Identität befördern könnte und würde, wurde dann empirisch nachgegangen. Die Untersuchung zeigte, dass die These der Stärkung der Legitimität der EU durch ein „soziales Europa“ in substantieller Hinsicht nur bedingt empirisch untermauert werden
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konnte. Einige Befunde sprechen für dieses skeptische Urteil: Demnach ist ein „soziales Europa“ als ein gemeinsames transnationales europäisches Projekt nicht auf allen drei Ebenen verankert. Es besteht auch nicht die Aussicht, dass dies in naher Zukunft erfolgen würde. Die Untersuchungsergebnisse legen vielmehr nahe, den analytischen Blick stärker auf die nationale Ebene zu richten, um die Mechanismen hinter pro-europäischen Dispositionen in einzelnen Mitgliedsstaaten besser zu verstehen. Denn nicht soziale Werte und Überzeugungen im Rahmen der politischen Kulturen sind ausschlaggebend dafür, ob ein Weiter und Mehr an europäischer Integration gewollt wird, sondern nationale Gesellschaftskonzeptionen und das spezifische Verhältnis von Sozio- und Deutungskultur. In methodischer Hinsicht ergeben sich sowohl bei der Verwendung der Umfragedaten als auch bei der geringen Länderauswahl gewisse Probleme, die die Aussagekraft der Befunde einschränken. So muss die Verwendung der Umfragedaten unter zwei Gesichtspunkten kritisch betrachtet werden: Zum einen, da die Einstellungen nur punktuell im Abstand von zehn Jahren gemessen wurden und zum anderen, da insbesondere im Rahmen der Eurobarometer-Fragen der Abstraktionsgrad relativ hoch ist, so dass das individuelle Verständnis durchaus stark variieren kann (z. B. kann nicht bestimmt werden, was der Einzelne unter einem europäischen Sozialsystem subsumiert). Ebenfalls ist die Verwendung zweier Datensätze für die Vergleichbarkeit der Ergebnisse problematisch, da es sich nicht um dieselben befragten Personen handelt. Für zukünftige Studien wäre demnach ein Paneldatensatz von Vorteil, der sowohl soziale Werte und Einstellungen entlang einer Links-RechtsAchse (im Sinne der Wohlfahrtsstaatsmodelle) wie auch die Befürwortung einer Kompetenzübertragung auf die europäische Ebene abfragt. Eine solche Umfrage, die die nationale und die europäische Ebene berücksichtigt, müsste idealerweise regelmäßig, in relativ kurzen Abständen wiederholt werden, so dass Langzeitentwicklungen von kurzeitigen Einstellungsschwankungen unterschieden werden könnten. Für die Analyse der Deutungskulturen haben sich die Parteiprogramme zwar als erstaunlich reichhaltige Quelle erwiesen, jedoch bedürfte es für ein besseres Verständnis des Wechselverhältnisses von Sozio- und Deutungskultur weiterer Quellen (z. B. Medienberichterstattung) und Akteure (z. B. zivilgesellschaftliche Akteure). Insofern konnte im Rahmen dieser Arbeit nur ein sehr begrenzter Ausschnitt der politischen Deutungskulturen in den Ländern untersucht werden. Auch die im Rahmen dieser Arbeit notwendige Beschränkung auf drei Länder muss vor dem Hintergrund von siebenundzwanzig europäischen Mitgliedsstaaten als gering – wohlmöglich zu gering – betrachtet werden. Insofern wäre es wünschenswert, weitere Länderuntersuchungen vorzunehmen und zu prüfen, inwieweit die Befunde dieser Arbeit anhand einer größeren Zahl von Länderuntersuchungen gestützt würden. Vor diesem Hintergrund wäre es auch interessant, eine vertiefte Analyse der politischen Kulturen bzw. des Einflusses des Gesellschaftsframes auf den Europaframe zu unternehmen, um auf diese Weise genauere Aussagen über die Faktoren machen zu können, die letztlich für die Europapositionen sowohl der Parteien als auch der Bürger ausschlaggebend sind. Über diese methodischen Fragen hinausgehend sieht sich eine Untersuchung, die europäische Identität – verstanden als politisch-kulturelle Untermauerung eines politischen Gemeinwesens – zum Untersuchungsgegenstand hat, letztlich der Schwierigkeit ausgesetzt, dass es sich dabei um ein relativ unscharfes und vieldeutiges Konzept handelt. Deshalb wurde der Versuch unternommen, über den Weg umfassender begrifflicher Klärungen (Kapitel 2 und 3) und einer darauf aufbauenden strengen methodischen Vorgehensweise,
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die Weichheit der Konzepte so weit wie möglich aufzufangen. Dies führte zur Erstellung und Verwendung eines relativ eng gefassten Begriffs von politischer Kultur. Jedoch machten die im Verlauf der Untersuchung erhaltenen empirischen Befunde deutlich, dass die Rolle von sozialpolitischen Wert- und Einstellungsmustern für die Erklärung der Europakonzeptionen der Parteien und die europapolitischen Einstellungen der Menschen an Grenzen stößt. Vielmehr besaßen hier Faktoren wie historische Traditionen, Nationalismus und religiöse Wertüberzeugungen hohe Relevanz. Diese könnten unter einem weiten Kulturbegriff zusammengefasst werden, da sie nicht ausschließlich in einer politischen Sphäre im engeren Sinne zu verorten sind. Sie könnten aber auch als Bestandteil einer politischen Kultur verstanden werden, insofern sie für die Einstellungen von Individuen und Gruppen zu allgemeinverbindlichen Regeln und Institutionen – also dem Politischen – Bedeutung erlangen, wie die Untersuchung zeigte. In diesem Zusammenhang wären weiterführende Untersuchungen zur genaueren Bestimmung und Abgrenzung der jeweiligen politischkulturellen Faktoren, die im Rahmen der Europakonzeptionen zum Tragen kommen, wünschenswert. Bevor ein Blick nach Vorne gewagt werden soll, muss vor dem Hintergrund der seit gut einem Jahrzehnt andauernden Debatte um die Legitimität, Identität und soziale Dimension des europäischen Projektes bilanziert werden, dass es gerade nicht die großen Debatten sind, die bisher viel bewegt haben, sondern die europäische Wirklichkeit vielmehr in kleinen Schritten vorankommt. Diese kleinen Erfolge scheinen aber letztlich nicht unbedingt förderlich für die Herausbildung einer europäischen Identität. Obwohl in dieser Arbeit deutlich wurde, dass es politisch-kulturelle Anknüpfungspunkte gibt, die zur Grundlage einer europäischen Identität herangezogen werden könnten, fällt die Bilanz der Identifikation entscheidender politischen Akteure mager aus. Wie die Analyse der Parteiprogramme – und somit die Stellungnahmen der wesentlichen politischen Akteure in Europa – zeigten, wird Europa allzu oft nicht als ein Projekt sozialer Demokratie begriffen, sondern als ein strategisches Unterfangen zur Sicherung nationaler Interessen. Insofern ist es für die Zukunft sozialer Demokratie im europäischen Kontext von entscheidender Bedeutung, welche und wie viele und wie wirkungsmächtige Träger eines solchen Projektes zukünftig entstehen. Dafür bedarf es aber auch weiterer empirischer Detailerkenntnisse, welche politischen und kulturellen Faktoren für die jeweiligen EuropaInterpretationen nicht nur auf der Ebene der Akteure sondern auch auf der Ebene der Bürger wirksam sind und ob sich hierbei möglicherweise gemeinsame Muster herauskristallisieren oder nicht. Vor dem Hintergrund der Befunde dieser Untersuchung scheinen jedoch nationale Akteure hierfür bislang nicht geeignet zu sein. Denn auf nationaler Ebene gehen proeuropäische Parteipositionen in der Tendenz mit EU-skeptischen Wählern dieser Parteien einher. Aus legitimitätstheoretischer Sicht können also nationale Unterstützer einer Stärkung der sozialen Dimension der Europäischen Union nicht auf eine intakte Legitimationskette verweisen. Dieser Befund stellt eine empirische Untermauerung der EU als „Elitenprojekt“ dar. Um dieses Legitimitätsproblem zu lösen, kann zum einen auf die Zukunft gehofft werden. Denn unter den Jüngeren waren pro-europäische Haltungen stärker ausgeprägt. Und zum anderen spricht dies für die EU als Gegenstand politischer Bildung. Neben solchen nationalen Strategien wäre es zudem sinnvoll, die europäischen Akteure (insbesondere das Parlament) mit mehr Kompetenzen auszustatten und gleichzeitig ihre Legitimation
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zu verbessern, z. B. durch die Abschaffungen nationaler Europawahlen und die Einführung europäischer Wahlkreise. In einem solchen institutionellen Kontext gäbe es erstens für die Parteien die Möglichkeit, sich entlang einer europäischen Links-Rechts-Achse zu positionieren und zweitens würde das Parlament die europapolitischen Einstellungen der Bürger besser abbilden.908. Solche institutionellen Reformen müssten allerdings zunächst von den nationalen Regierungen unterstützt werden. Denn eine europäische Identität kann sich letztlich nur im politischen Prozess und damit durch gemeinsame Erfahrungen herausbilden. Davon ist die europäische Wirklichkeit in vieler Hinsicht noch weit entfernt. Für die Zukunft sozialer Demokratie unter den Bedingungen von Globalisierung und Europäisierung müsste zunächst das Bewusstsein über die Notwendigkeit eines Sozialen Europas so weit gediehen sein, dass sich ausreichend Träger finden, die dieses Projekt auch voranbringen wollen. Dies jedoch ist sicherlich kein akademisches, sondern ein politisches Unterfangen.
908 Durch die Debatten in einem tatsächlichen europäischen Wahlkampf könnten auch die noch bestehenden nationalen Unterschiede thematisiert und abgebildet werden.
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