RUSSISCHE VOLKSMÄRCHEN Herausgegeben von Prof. Dr. Erna Pomeranzewa
Akademie-Verlag Berlin 1966
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RUSSISCHE VOLKSMÄRCHEN Herausgegeben von Prof. Dr. Erna Pomeranzewa
Akademie-Verlag Berlin 1966
Volksmärchen Eine internationale Reihe
Herausgegeben von Prof. Dr. Julian Krzyzanowski, Warschau Prof. Dr. Gyula Ortutay, Budapest, und Prof. Dr. Wolfgang Steinitz, Berlin
Aus dem Russischen übersetzt von Günter Dalitz Fachredaktion Dr. Gisela Burde-Schneidewind
4. Auflage, 22. – 31. Tausend Erschienen im Akademie-Verlag GmbH 108 Berlin, Leipziger Straße 3 – 4 Copyright 1964 by Akademie-Verlag GmbH Lizenznummer: 202 – 100/267/66 Gesamtherstellung: IV/2/14 – VEB Werkdruck, 445 Gräfenhainichen 2673 Bestellnummer: 2121/1 ES 8 B, 14 G
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Tiermärchen ..................................................9 1 Fuchs und Wolf .........................................9 2 Wie die Füchsin die Wehmutter gemacht hat ..................................................... 16 3 Wie die Füchsin das Klageweib gemacht hat ..................................................... 18 4 Fuchs und Kranich ................................... 21 5 Kater und Füchsin ................................... 23 6 Fuchs, Hase und Hahn ............................. 28 7 Bauer, Bär und Fuchs .............................. 31 8 Undank ist der Welt Lohn ......................... 34 9 Der dumme Wolf ..................................... 37 10 Kranich und Reiher ................................ 43 11 Der Hahn und die Bohne......................... 45 12 Die Ziege ............................................. 48 13 Wie das Schwein zu Tanze ging ............... 52 14 Das Schlößchen..................................... 56 15 Die Ziege Naseweis................................ 58 16 Das Schweinchen .................................. 65 17 Der Pfannkuchen ................................... 69 Zaubermärchen ............................................ 73 18 19 20 21 22 23
Der Kater mit dem Goldschwanz .............. 73 Das Schneekind .................................... 81 Die habgierige Alte ................................ 85 Das bucklige Pferdchen .......................... 89 Der Wildwolf und Iwan Zarewitsch ......... 103 Iwan-Wassersohn und MichailWassersohn....................................... 119 24 Der Unterfähnrich................................ 138
25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53
Wanjuschka ........................................ 161 Wanjuschka der Dummkopf .................. 176 Jemelja der Dummkopf ........................ 192 Die Feder von Finist dem edlen Falken.... 213 Die schöne Wassilissa .......................... 224 Maria Morewna.................................... 238 Iwan Zarewitsch und Blauäuglein, die Heldenjungfrau .................................. 253 Iwan Zarewitsch und die schöne Maria mit dem schwarzen Zopf ..................... 270 Andrej der Jäger.................................. 298 Als sich Mücke und Fliege bekriegten...... 340 Die Froschzarin ................................... 378 Die Tochter des Zaren .......................... 385 Die Schafe im Meer.............................. 394 Der weise Iwan ................................... 405 Der Adler-Zarewitsch und sein Sohn....... 417 Das goldene Ei .................................... 432 Von Nikita dem Herumtreiber ................ 454 Die Zarin ohne Arme............................ 469 Fürst Pjotrs treue Gemahlin .................. 475 Schwesterchen Aljonuschka und Brüderchen Iwanuschka ...................... 488 Junker Frost ....................................... 494 Iwaschko und die Hexe ........................ 502 Die wilden Schwäne ............................. 509 Daumengroß....................................... 512 Der Soldat und der Teufel ..................... 519 Der Hexenmeister ............................... 521 Der Soldat im Jenseits.......................... 526 Der Schmied und der Teufel.................. 536 Vom Hammerschmied und dem Teufel.... 540
54 Die Sorge ........................................... 545 Heldenmärchen – Historische Märchen – Abenteuermärchen ..................................... 553 55 56 57 58 59 60 61 62 63
Nikita der Gerber................................. 553 Die Mär von Ilja Muromez..................... 556 Jeruslan Lasarewitsch .......................... 594 Erzählung von Bowa dem Königssohn, dem ruhmreichen und starken Recken... 634 Wie eine Löwin einen Zarensohn aufzog.. 676 Die zwei Kaufleute ............................... 692 Des Zaren Handwerksmeister................ 718 Der Töpfer.......................................... 727 Peter der Große und der Soldat ............. 732
Satirische Alltagsmärchen ............................ 744 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78
Das Hühnchen Tataruschka................... 744 Das besprochene Wasser ...................... 747 Der Topf............................................. 751 Das zanksüchtige Weib......................... 757 Das geschwätzige Weib ........................ 758 Lutonjuschka ...................................... 761 Mikola Duplenski ................................. 764 Die Alte.............................................. 768 Das kluge Mädchen.............................. 776 Das vergnügte Kloster.......................... 781 Kirik .................................................. 788 Wie ein Pope seine Knechte plagte ......... 791 Der alte Ossip und die drei Popen .......... 797 Des Ziegenbocks Begräbnis .................. 819 Der gutmütige Pope ............................. 823
79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93
Der Bauer und der Pope ....................... 825 Der lüsterne Pope................................ 829 Der musikalische Pope ......................... 833 Der listige Bauer ................................. 835 Der Herr und der Zimmermann ............. 841 Der Herr als Schmied ........................... 844 Der Herr und der Bauer ........................ 847 Die böse Herrin ................................... 850 Wie ein Bauer Gänse teilte.................... 853 Von der Not ........................................ 859 Die Herrin und die Kücken .................... 862 Der Herr und der Hund......................... 867 Das Urteil des Schemjaka ..................... 873 Ein Lügenmärchen ............................... 876 Ein Neckmärchen (Parodie) ................... 877
ANHANG.................................................... 878 Nachwort ................................................ 878 Verzeichnis der in den Anmerkungen genannten Literatur ............................ 927 Anmerkungen.......................................... 930
Tiermärchen 1 Fuchs und Wolf Es lebten einmal ein Mann und eine Frau. Der Mann sagt zu seiner Frau: „Backe du Piroggen, Frau, ich will zum Fluß fahren und Fische fangen.“ Er fing eine Menge Fische, einen ganzen Wagen voll. Wie er wieder nach Hause fährt, liegt da der Fuchs zusammengerollt auf der Straße. Der Mann klettert vom Wagen, geht auf den Fuchs zu, aber der rührt sich nicht, sondern liegt wie tot. „Das wird ein Geschenk für mein Weib“, sagte der Mann, nahm den Fuchs, lud ihn auf den Wagen und lief selbst voran. Der Fuchs aber nutzte die Gelegenheit und warf behutsam ein Fischlein nach dem anderen vom Wagen. Als er den letzten Fisch heruntergeworfen hatte, machte er sich selbst davon. „Schau, Alte“, sagt der Mann, „was für einen Pelzkragen ich dir mitgebracht habe!“ – „Wo denn?“ – „Dort auf dem Wagen, Fische und einen Kragen.“ Die Frau ging zum Wagen, aber da waren weder Kragen noch Fische. Sie begann ihren Mann zu schelten: „So alt du bist, so albern bist du auch! Jetzt willst du mich noch zum besten halten!“
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Da merkte der Mann, daß der Fuchs nicht tot gewesen war, und ließ den Kopf hängen. Aber es war zu spät. Der Fuchs aber trug alle Fische, die auf der Straße verstreut lagen, zu einem Haufen zusammen, setzt sich und läßt es sich schmecken. Da kommt der Wolf des Wegs: „Guten Tag, Gevatter!“ – „Gib mir von deinen Fischen!“ – „Fang dir selbst welche, dann kannst du sie auch essen.“ – „Ich verstehe nichts vom Fischfang.“ – „Ei, das ist keine Kunst, ich habe ja auch welche gefangen. Geh nur zum Fluß, Gevatter, und laß deinen Schwanz zum Eisloch hineinhängen; dann kommen die Fische von selbst und beißen sich im Schwanz fest. Du mußt aber hübsch lange sitzen bleiben, sonst fängst du nicht genug.“ Der Wolf ging zum Fluß und hing seinen Schwanz ins Eisloch; die Geschichte hat sich nämlich im Winter zugetragen. Da saß er nun die ganze Nacht hindurch, und der Schwanz fror ihm am Eise an. Er versuchte aufzustehen, aber es ging nicht. „Ei, wieviele Fische schon angegebissen haben, ich kann sie gar nicht herausziehen“, denkt er. Da kommen die Frauen aus dem Dorf, um Wasser zu holen. Sie sehen den Grauen und schreien: „Ein Wolf, ein Wolf! Schlagt ihn, schlagt ihn!“ Sie liefen herbei und fingen an, den Wolf zu prügeln, die eine mit dem Trageholz, die andere mit dem Eimer, was ihnen gerade unter die Hände kam. Der Wolf zerrte hin, zerrte her, riß sich schließlich den Schwanz ab und rannte davon,
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was das Zeug hielt. „Warte nur“, denkt er, „das will ich dir schon heimzahlen, Gevatter!“ Der Fuchs aber, nachdem er die Fische aufgegessen, wollte probieren, ob er nicht noch irgend etwas könne mitgehen heißen. Schlich heimlich in eine Bauernhütte, in der die Frauen Pfannkuchen buken, geriet mit dem Kopf in einen Kübel voller Teig, beschmierte sich den ganzen Kopf und rennt davon. Da begegnet er dem Wolf. „Solche Lehren also gibst du? Ich bin jämmerlich verprügelt worden!“ – „Ach, Gevatter“, sagt der Fuchs, „du hast nur ein wenig Blut lassen müssen, mir aber haben sie das Gehirn aus dem Schädel geprügelt; ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten.“ – „Ja, das sieht man“, sagt der Wolf, „du kannst wahrhaftig nicht mehr laufen; setz dich auf mich, ich werde dich heimtragen.“ Das tat der Fuchs, und der Wolf trabte mit ihm los. Wie er nun so sitzt, spricht er leise vor sich hin: „Der Geprügelte trägt den Nichtgeprügelten, der Geprügelte trägt den Nichtgeprügelten.“ – „Was sprichst du da, Gevatter?“ – „Ich sage: ein Geprügelter trägt den anderen.“ – „So ist es, Gevatter, genau so ist es!“ „Komm, Gevatter Wolf, wir wollen uns jeder eine Hütte bauen!“ – „Immer zu, Gevatter Fuchs!“ – „Ich baue mir eine Rindenhütte, und du baust dir eine aus Eis.“ Sie machten sich an die Arbeit und bauten sich jeder eine Hütte: der Fuchs eine Rindenhütte, der Wolf eine aus Eis. Darin wohnten sie nun. Als der Frühling kam, begann die Wolfshütte zu schmelzen.
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„Gevatter, Gevatter!“ sagt der Wolf, „du hast mich wieder betrogen; dafür muß ich dich fressen!“ – „Komm mit, Gevatter, wir wollen das Los entscheiden lassen, wer von uns wen fressen darf.“ Und der Fuchs führte den Wolf in den Wald an eine tiefe Grube und sagt: „Springe hinüber! Wenn du die Grube überspringst, darfst du mich fressen, kommst du aber nicht hinüber, dann darf ich dich fressen.“ Der Wolf sprang und fiel in die Grube hinein. „Nun bleib nur schön hier sitzen!“ sagt der Fuchs und ging davon. Er geht, trägt ein Rollholz in den Pfoten und bittet einen Bauern, ihn in seine Hütte einzulassen. „Laß den Gevatter Fuchs bei dir die Nacht zubringen.“ – „Bei uns ist es schon ohne dich eng genug!“ – „Ich werde euch nicht zur Last fallen; ich selbst lege mich auf die Ofenbank, den Schwanz klemme ich unter die Bank, und das Rollholz schiebe ich unter den Ofen.“ Da wurde er eingelassen. Er legte sich auf die Ofenbank, den Schwanz klemmte er unter die Bank, und das Rollholz schob er unter den Ofen. Früh am Morgen stand der Fuchs auf und verbrannte das Rollholz. Dann fragte er: „Wo ist denn mein Rollholz? Es ist mir auch um eine Gans nicht feil!“ Was wollte der Bauer machen, er mußte ihm für das Rollholz eine Gans geben. Da nahm der Fuchs die Gans, zieht davon und singt: „Es zog ein Füchslein die Straße entlang: Was trug’s in seinen Pfoten? – Ein Rollholz. Fürs Rollholz eine Gans!“ 12
Poch, poch, poch, klopft er an die Hütte des zweiten Bauern. „Wer ist da?“ – „Ich bin’s, Gevatter Fuchs, laß mich bei dir die Nacht zubringen.“ – „Bei uns ist’s schon ohne dich eng genug!“ – „Ich werde euch nicht zur Last fallen; ich selbst lege mich auf die Ofenbank, den Schwanz klemme ich unter die Bank, und die Gans schiebe ich unter den Ofen.“ Da wurde er eingelassen. Er legte sich auf die Ofenbank, den Schwanz klemmte er unter die Bank, und die Gans schob er unter den Ofen. Früh am Morgen sprang der Fuchs auf, packte die Gans, rupfte sie, fraß sie auf und sagte: „Wo ist denn meine Gans? Sie ist mir auch um einen Truthahn nicht feil!“ Was wollte der Bauer machen, er mußte ihm für die Gans einen Truthahn geben. Da nahm er den Truthahn, zieht davon und singt: „Es zog ein Füchslein die Straße entlang: Was trug’s in seinen Pfoten? – Ein Rollholz. Fürs Rollholz eine Gans, Für die Gans einen Truthahn!“ Poch, poch, poch, klopft er an die Hütte des dritten Bauern. „Wer ist da?“ – „Ich bin’s, Gevatter Fuchs, laß mich bei dir die Nacht zubringen.“ – „Bei uns ist’s schon ohne dich eng genug!“ – „Ich werde euch nicht zur Last fallen; ich selbst lege mich auf die Ofenbank, den Schwanz klemme ich unter die Bank, und den Truthahn schiebe ich unter den Ofen.“ Da wurde er eingelassen. Gleich 13
legte er sich auf die Ofenbank, klemmte den Schwanz unter die Bank und schob den Truthahn unter den Ofen. Früh am Morgen sprang der Fuchs auf, packte den Truthahn, rupfte ihn, fraß ihn auf und sagte: „Wo ist denn mein Truthahn? Er ist mir auch um eine Schwiegertochter nicht feil!“ Was wollte der Bauer machen, er mußte ihm für den Truthahn seine Schwiegertochter geben. Der Fuchs steckte sie in einen Sack, zieht davon und singt: „Es zog ein Füchslein die Straße entlang: Was trug’s in seinen Pfoten? – Ein Rollholz. Fürs Rollholz eine Gans, Für die Gans einen Truthahn, Für den Truthahn eine Schwiegertochter!“ Poch, poch, poch, klopft er an die Hütte des vierten Bauern. „Wer ist da?“ – „Ich bin’s, Gevatter Fuchs, laß mich bei dir die Nacht zubringen.“ – „Bei uns ist’s schon ohne dich eng genug!“ – „Ich werde euch nicht zur Last fallen; ich lege mich auf die Ofenbank, den Schwanz klemme ich unter die Bank, und den Sack schiebe ich unter den Ofen.“ Da wurde er eingelassen. Er legte sich auf die Ofenbank, den Schwanz klemmte er unter die Bank, den Sack aber schob er unter den Ofen. Der Bauer ließ das Mädchen heimlich aus dem Sack und steckte einen Hund hinein. Frühmorgens machte sich der Fuchs auf den Weg, nahm den Sack, zieht davon und sagt: „Schwiegertochter, sing mir ein Lied!“ Da begann 14
der Hund ganz fürchterlich zu knurren. Der Fuchs erschrak, läßt den Sack mit dem Hund fahren und rennt davon.
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2 Wie die Füchsin die Wehmutter gemacht hat Es lebten einmal ein Gevatter und eine Gevatterin, der Wolf und die Füchsin. Die hatten ein Fäßchen mit Honig. Die Füchsin aber mag Süßes gar zu gern. Einmal liegen die beiden in ihrer Hütte, und die Gevatterin klopft heimlich mit dem Schwanz. „Gevatterin, Gevatterin!“ sagt der Wolf, „es klopft wer.“ – „Da wird mich wohl jemand als Wehmutter brauchen“, murmelt die Füchsin. „So mach dich auf den Weg und geh!“ sagt der Wolf. Die Füchsin schnell aus der Hütte hinaus und geradenwegs zum Honigfäßchen! Dort tat sie sich gütlich und kehrte zurück. „Wen hast du gesehen?“ fragt der Wolf. „Den Anschnitt“, antwortet die Füchsin. Ein zweites Mal liegt die Gevatterin wieder in der Hütte und klopft mit dem Schwanz. „Gevatterin! Es klopft wer“, sagt der Wolf. „Man braucht mich gewiß als Wehmutter.“ – „Dann geh nur hin!“ Die Füchsin ging wieder zum Honigfäßchen und schleckte, bis sie nicht mehr konnte; nur der Boden war noch mit Honig bedeckt. Wie sie zum Wolf zurückkommt, fragt der: „Wen hast du gesehen?“ – „Das Mittelstück.“
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Auch ein drittes Mal überlistete die Füchsin den Wolf, und diesmal schleckte sie den ganzen Honig aus. „Wen hast du gesehen?“ fragt der Wolf. „Den Bodensatz.“ Über eine Weile stellte sich die Füchsin krank und bittet den Gevatter, ihr etwas Honig zu bringen. Der Gevatter ging, aber vom Honig war auch nicht ein Tröpfchen mehr da. „Gevatterin, Gevatterin!“ ruft der Wolf, „der Honig ist ja aufgefressen!“ – „Was heißt aufgefressen? Wer hat ihn denn aufgefressen? Das kannst nur du gewesen sein!“ ereifert sich die Füchsin. Der Wolf bekreuzigt sich und schwört, er sage die Wahrheit. „Nun gut“, sagt die Füchsin, „wir wollen uns in die Sonne legen, und bei wem der Honig herausschmilzt, der ist es auch gewesen.“ Sie gingen und legten sich hin. Die Füchsin kann nicht schlafen, der Wolf aber schnarcht aus vollem Halse. Endlich zeigte sich bei der Füchsin, die es schon gar nicht erwarten konnte, etwas Honig; hurtig schmierte sie ihn dem Wolf aufs Fell. „Gevatter, Gevatter!“ stößt sie den Wolf an, „was ist denn das? Jetzt weiß ich, wer den Honig gefressen hat!“ Und der Wolf, es blieb ihm nichts anderes übrig, bekannte sich schuldig. – Das Märchen ist zu Ende erzählt, dafür mir ein Topf mit Butter gehört.
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3 Wie die Füchsin das Klageweib gemacht hat Es lebten einmal ein alter Mann und eine alte Frau, die hatten eine Tochter. Einmal hatte die Tochter Bohnen gegessen und eine zu Boden fallen lassen. Die Bohne wuchs und wuchs, bis sie an den Himmel gewachsen war. Der Alte kletterte in den Himmel. Wie er oben angekommen war, ging er umher, schaute sich um und sagt: „Ich will doch meine Alte hierher holen; die wird eine Freude haben!“ Kletterte zur Erde herunter, steckte seine Alte in einen Sack, nahm den Sack zwischen die Zähne und kletterte wieder nach oben: kletterte, kletterte, wurde müde und ließ den Sack fallen. So schnell er konnte, rutschte er hinunter, machte den Sack auf – da liegt seine Alte, bleckt die Zähne und hat die Augen weit aufgerissen. Er sagt: „Was lachst du. Alte? Warum bleckst du so die Zahne?“ Als er aber sah, daß sie tot war, vergoß er bittere Tränen. Sie hatten ganz allein gelebt, an einem einsamen Ort. So war auch keiner da, die Klagelieder für die Alte zu singen. Der Alte nahm einen Sack mit drei Paar schneeweißer Hühnchen und machte sich auf den Weg, ein Klageweib zu suchen. Da sieht er einen Bären kommen und sagt zu ihm: „Bär, stimme doch mal ein Klagelied an für meine 18
Alte! Ich will dir auch zwei schneeweiße Hühnchen geben.“ Der Bär fing an zu brüllen: „Ach du, mein geliebtes Mütterchen! Wie weh ist mir um dich!“ – „Nein“, sagt der Alte, „du verstehst es nicht zu jammern!“, und ging weiter. Er ging und ging und traf einen Wolf; er ließ ihn ein Klagelied anstimmen, aber auch der Wolf kann es nicht. Wie er noch weiter ging, begegnete ihm die Füchsin. Er ließ sie ein Klagelied anstimmen und versprach ihr ein Paar schneeweiße Hühnchen. Da begann die Füchsin zu singen: „Ach du, mein Mütterchen, den Tod bracht’ dir das Väterchen.“ Das Lied gefiel dem Bauern, und so ließ er die Füchsin ein zweites Mal singen, dann noch ein drittes und viertes Mal; da fiel ihm ein, daß er nur drei Paar Hühnchen hatte. „Füchsin“, sprach da der Alte, „ich habe das vierte Paar zu Hause liegen lassen; wir wollen zu mir gehen.“ Die Füchsin folgte ihm. Zu Hause angekommen, nahm der Alte den Sack, steckte ein paar Hunde hinein, legte die sechs Hühnchen obenauf und gab ihn der Füchsin. Die nahm den Sack und rannte davon. Nach einer Weile macht sie an einem Baumstumpf halt und sagt: „Ich will mich auf den Baumstumpf setzen und ein weißes Hühnchen essen.“ Aß es auf und rannte weiter. Darauf setzte sie sich wieder auf einen Baumstumpf und aß das zweite Hühnchen, danach das dritte, das vierte, das fünfte und sechste. Als sie den Sack aber zum siebenten Mal aufmachte, sprangen die Hunde heraus und gingen auf sie los.
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Die Füchsin lief, was die Beine hergaben, versteckte sich unter einem großen Holzklotz und fragt: „Öhrlein, Öhrlein, was habt ihr getan?“ – „Wir haben gelauscht und aufgepaßt, damit kein Hund die Füchsin faßt!“ – „Äuglein, Äuglein, was habt ihr getan?“ – „Wir haben nach allen Seiten gespäht, damit die Füchsin den Hunden entgeht!“ – „Beinchen, Beinchen, was habt ihr getan?“ – „Wir rannten über Stock und Stein, die Füchsin sollt’ nicht gefangen sein!“ – „Und du, langer Schwanz, was hast du getan?“ – „Ich habe mich an Baumstümpfe, Sträucher und Stämme gekrallt, damit die Hunde die Füchsin beißen und zerreißen!“ – „So einer bist du also! He, Hunde, nehmt meinen Schwanz und freßt ihn auf!“ Und damit steckte sie den Schwanz heraus. Die Hunde packten zu, zogen am Schwanz die Füchsin selbst heraus und zerrissen sie in Stücke.
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4 Fuchs und Kranich Fuchs und Kranich hatten miteinander Freundschaft geschlossen, ja, sie hatten sogar bei jemandem zusammen Gevatter gestanden. Einmal wollte der Fuchs den Kranich zu Gaste haben. Er ging zu ihm hin und lud ihn ein: „Komm einmal zu mir, Gevatter, komm, mein Bester! Was meinst du, wie ich dich bewirten werde!“ Der Kranich kommt zum Festmahl, der Fuchs aber hat Grießbrei gekocht und auf einem Teller breitgestrichen. Als er aufgetragen hat, ermuntert er den Kranich zuzulangen. „Iß, mein Teuerster, iß, Gevatter! Ich habe ihn selbst gekocht.“ Der Kranich fährt mit seinem Schnabel in den Griesbrei, stochert darin herum, doch vergebens! Der Fuchs aber läßt es sich inzwischen schmecken, schleckt und schleckt – und aß den ganzen Brei allein auf. Der Brei ist aufgegessen; der Fuchs sagt: „Nichts für ungut, lieber Gevatter, aber mehr kann ich dir nicht vorsetzen.“ – „Dank auch dafür, Gevatter! Sei doch auch einmal mein Gast!“ Anderen Tags findet sich der Fuchs ein, der Kranich aber hatte eine Suppe mit schmackhaften Fleisch- und Fischstückchen zubereitet. Die schüttete er in einen Krug mit schmalem Hals, stellte sie so auf den Tisch und sagt: „Laß es dir schmecken, Gevatter! Mehr kann ich dir leider 21
nicht anbieten.“ Der Fuchs läuft um den Krug herum, versucht es bald von hier, bald von da, leckt und schnuppert, doch an die Suppe kommt er nicht heran: sein Kopf paßt nicht in den Krug hinein. Der Kranich jedoch klappert inzwischen mit seinem Schnabel, bis er alles aufgegessen hat. „Nichts für ungut, Gevatter, mehr kann ich dir nicht vorsetzen.“ Der Fuchs ärgerte sich fast grün, hatte er doch geglaubt, er könne sich für eine ganze Woche satt essen, und nun ging er mit leerem Magen heim. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es wieder heraus! Seit jener Zeit ist es mit der Freundschaft zwischen Fuchs und Kranich aus.
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5 Kater und Füchsin Es war einmal ein Bauer, der hatte einen Kater. Der Kater war aber so wild und machte so schlimme Streiche, daß es geradezu ein Unglück war. Schließlich wurde es dem Bauern zuviel. Er überlegte, was zu tun sei, nahm den Kater und steckte ihn in einen Sack. Den Sack band er zu und trug ihn in den Wald. Im Walde angekommen, ließ er den Kater laufen und dachte: Mag er hier umkommen! Der Kater lief lange umher und kam schließlich zur Hütte, in der der Waldhüter wohnte. Er kletterte auf den Dachboden und liegt nun dort die ganze Zeit faul herum; bekam er aber Hunger, dann lief er in den Wald, Vögel und Mäuse zu fangen, fraß sich satt und kletterte wieder auf seinen Dachboden. So lebte er froh und ohne Sorgen. Einmal streifte der Kater im Wald umher, da begegnete ihm die Füchsin, erblickte den Kater und wundert sich: „Wieviel Jahre lebe ich schon im Wald, aber ein solches Tier habe ich noch nicht gesehen.“ Sie machte dem Kater ihre Reverenz und fragt: „Sag doch, wackerer Held, wer bist du? Aus welchem Anlaß bis du hierhergekommen, und wie darf ich dich nennen?“ Der Kater sträubte sein Fell und sagt: „Ich bin aus den sibirischen Wäldern als Amtmann zu euch geschickt worden. Man 23
nennt mich Katrofei Iwanowitsch.“ – „Ach, Katrofei Iwanowitsch“, sagt die Füchsin, „davon habe ich ja überhaupt nichts gewußt! Aber komm doch mit mir und sei mein Gast!“ Der Kater ging mit. Die Füchsin führte ihn in ihren Bau, bewirtete ihn mit allerlei Wildbret und fragt dann: „Wie ist das, Katrofei Iwanowitsch, bist du verheiratet oder ledig?“ – „Ledig“, sagt der Kater. Darauf die Füchsin: „Ich bin auch noch Jungfrau, nimm mich zum Weib!“ Der Kater war es einverstanden, und so verbrachten sie den Tag in Saus und Braus. Anderntags machte sich die Füchsin auf, Vorräte aufzutreiben, damit sie und ihr junger Gemahl etwas zu leben hätten, der Kater aber blieb zu Hause. Unterwegs begegnet ihr der Wolf und fängt an schönzutun: „Wo bist du denn die ganze Zeit gewesen, Gevatterin? Wir haben alle Höhlen abgesucht und dich nicht gefunden.“ – „Laß mich, du Dummkopf! Laß das Schöntun! Jungfer Füchsin war ich früher, jetzt bin ich eine verheiratete Frau!“ – „Wer ist denn dein Mann, Fuchsina Iwanowna?“ – „Hast du denn nicht gehört, daß aus den sibirischen Wäldern der Amtmann Katrofei Iwanowitsch zu uns geschickt worden ist? Ich bin jetzt Frau Amtmann!“ – „Nein, Fuchsina Iwanowna, davon habe ich noch nichts gehört. Kann man ihn denn einmal zu sehen bekommen?“ – „Oh, mein Katrofei Iwanowitsch ist so reizbar; wenn ihm jemand mißfällt, den frißt er gleich auf. Hör also gut zu: Beschaffe einen Hammel und mach ihm damit deine Aufwartung; den Hammel lege hin, dich selber aber verstecke, damit er dich 24
nicht sieht, denn sonst ergeht dir’s schlecht!“ Der Wolf machte sich auf den Weg, einen Hammel zu beschaffen. Die Füchsin geht weiter, da begegnet ihr der Bär und fängt an schönzutun. „Was faßt du mich an, du dummer krummbeiniger Mischka? Jungfer Füchsin war ich früher, jetzt bin ich eine verheiratete Frau!“ – „Wer ist denn dein Mann, Fuchsina Iwanowna?“ – „Der, den sie aus den sibirischen Wäldern als Amtmann zu uns geschickt haben; er heißt Katrofei Iwanowitsch und ist mein Mann.“ – „Könnte man ihn nicht einmal zu sehen bekommen?“ – „Oh, mein Katrofei Iwanowitsch ist so reizbar; wenn ihm jemand mißfällt, den frißt er gleich auf! Geh, beschaffe einen Ochsen und mach ihm damit deine Aufwartung. Der Wolf will einen Hammel bringen. Hör aber gut zu: Den Ochsen lege hin, dich selber verstecke, damit Katrofei Iwanowitsch dich nicht sieht, denn sonst, Bruder, ergeht dir’s schlecht!“ Der Bär trollte sich davon, einen Ochsen zu beschaffen. Der Wolf brachte seinen Hammel, zog ihm das Fell ab und steht dann in Gedanken versunken. Da kommt der Bär mit einem Ochsen. „Guten Tag, Bruder Michailo Iwanowitsch!“ – „Guten Tag, Bruder Lewon! Hast du die Füchsin und ihren Mann nicht gesehen?“ – „Nein, Bruder, ich warte schon lange auf sie.“ – „Dann geh und ruf sie!“ – „Nein, ich werde nicht gehen, Michailo Iwanowitsch. Geh du, du bist tapferer als ich.“ – „Nein, Bruder Lewon, ich mag auch nicht gehen.“ Da kommt, keiner hatte gesehen woher, der Hase 25
gerannt. Der Bär brüllt so laut er kann: „Hierher, schiefäugiger Satan!“ Der Hase erschrak und kam herbeigelaufen. „Nun, du schielender Tagedieb, weißt du, wo die Füchsin wohnt?“ – “Jawohl, Michailo Iwanowitsch!“ – „Dann lauf schnellstens zu ihr und sage: Michailo Iwanowitsch, der Bär, und sein Bruder Lewon Iwanowitsch, der Wolf, sind schon lange bereit und erwarten dich und deinen Gemahl; sie wollen mit einem Hammel und einem Ochsen ihre Aufwartung machen!“ Der Hase rannte los, daß die Beine nur so flogen. Bär und Wolf aber überlegten, wo sie sich verstecken könnten. Sagt der Bär: „Ich werde auf die Fichte klettern.“ – „Und was soll ich tun, wo kann ich mich verbergen?“ fragt der Wolf. „Auf einen Baum bringt man mich um nichts in der Welt! Sei so gut, Michailo Iwanowitsch, hilf mir in meiner Not und verbirg mich irgendwo!“ Der Bär legte ihn ins Gebüsch und häufte trockenes Laub über ihn, selber aber kletterte er auf eine Fichte, bis in den höchsten Wipfel hinauf. Von dort hält er Ausschau, ob Katrofei mit seiner Frau kommt. Der Hase war inzwischen zum Fuchsbau gelangt, klopfte und sagt zur Füchsin: „Michailo Iwanowitsch, der Bär, und sein Bruder Lewon Iwanowitsch, der Wolf, lassen sagen, sie sind schon lange bereit und erwarten dich und deinen Gemahl; sie wollen mit einem Ochsen und einem Hammel ihre Aufwartung machen.“ – „Geh nur, Schielauge, wir kommen gleich!“ Nun kommen Kater und Füchsin heraus. Der Bär sah sie und sagt zum Wolf: „Paß auf, Bruder Lewon Iwano26
witsch, die Füchsin kommt mit ihrem Mann! Was für ein kleiner Kerl das doch ist!“ Der Kater kam heran und stürzte sich gleich auf den Ochsen, sträubte sein Fell und begann, mit Zähnen und Krallen Fleischstücke herauszureißen. Dabei knurrt er wie verärgert: „Zuwenig, zuwenig!“ Der Bär sagt: „Klein, aber ein Vielfraß! Wir könnten es zu viert nicht auffressen, für ihn allein aber ist es zuwenig; er macht sich wohl gar noch an uns heran!“ Der Wolf nun wollte gern wissen, wie Katrofei Iwanowitsch aussieht, aber wegen der Blätter konnte er nichts erkennen. So begann er, über den Augen ein Loch durch das Laub zu wühlen. Der Kater hörte das Rascheln der Blätter, glaubte, es sei eine Maus, machte einen Satz und sprang dem Wolf mit seinen Krallen gerade in die Augen. Der Wolf fuhr in die Höhe und rannte davon, was die Beine hergaben. Der Kater aber war selbst erschrocken und gerade auf den Baum gesprungen, wo der Bär saß. „O weh“, denkt der Bär, „er hat mich gesehen!“ Herabzuklettern war es zu spät, so vertraute er auf Gottes Hilfe, ließ sich herunterplumpsen und schlug so derb auf dem Boden auf, daß er glaubte, alle Glieder gebrochen zu haben. Dann sprang er auf und machte sich gleichfalls davon. Die Füchsin aber ruft ihnen nach: „Wartet nur, er wird’s euch schon geben!“ Seit dieser Zeit haben alle Tiere vor dem Kater Angst. Kater und Füchsin aber hatten nun Fleisch für den ganzen Winter und lebten herrlich und in Freuden. Und leben noch jetzt ohne Not, haben ihr Brot. 27
6 Fuchs, Hase und Hahn Es lebten einmal ein Fuchs und ein Hase. Der Fuchs hatte eine Hütte aus Eis, der Hase eine aus Baumrinde. Der Frühling kam, da begann die Hütte des Fuchses zu schmelzen, die des Hasen aber steht fest wie je. Da bat der Fuchs, der Hase möge ihm erlauben, sich in seiner Hütte zu wärmen, und dann jagte er ihn hinaus. Der Hase zieht jammernd davon, da begegnen ihm die Hunde und fragen: „Tjaff, tjaff, tjaff! Was jammerst du, Hase?“ Der Hase sagt: „Laßt mich, Hunde! Wie soll ich nicht jammern? Eine Rindenhütte hab’ ich gehabt, der Fuchs aber hatte eine aus Eis. Er bat mich, ihn einzulassen, und dann hat er mich hinausgejagt.“ – “Jammere nicht, Hase“, sagen die Hunde, „wir werden ihn herausjagen.“ – „Nein, ihr jagt ihn nicht heraus!“ – „Doch, wir jagen ihn heraus!“ Sie kamen zur Hütte. „Tjaff, tjaff, tjaff! Fuchs, scher dich davon!“ Der aber rief ihnen vom Ofen zu: „Spring ich heraus, verlaß ich das Haus, mach ich euch allen den Garaus!“ Die Hunde bekamen Angst und liefen davon. Der Hase zieht jammernd weiter, da begegnet ihm der Bär: „Worüber jammerst du, Hase?“ Der Hase sagt: „Laß mich, Bär! Wie soll ich nicht jammern? Eine Rindenhütte hab’ ich gehabt, der Fuchs aber hatte eine aus Eis. Er bat mich, ihn 28
einzulassen, und dann hat er mich hinausgejagt.“ – „Jammere nicht, Hase“, sagt der Bär, „ich werde ihn herausjagen!“ – „Nein, du jagst ihn nicht heraus! Die Hunde haben’s versucht und ihn nicht herausgejagt, und du wirst ihn auch nicht herausjagen.“ – „Doch, ich jage ihn heraus.“ Sie kamen zur Hütte und wollten den Fuchs herausjagen: „Fuchs, scher dich davon!“ Der aber rief ihnen vom Ofen zu: „Spring ich heraus, verlaß ich das Haus, mach ich euch allen den Garaus!“ Der Bär bekam Angst und lief davon. Wieder zieht der Hase weiter und jammert, da begegnet ihm der Ochse: „Was jammerst du, Hase?“ – „Laß mich, Ochse! Wie soll ich nicht jammern? Eine Rindenhütte hab’ ich gehabt, der Fuchs aber hatte eine aus Eis. Er bat mich, ihn einzulassen, und dann hat er mich hinausgejagt.“ – „Komm mit, ich werde ihn herausjagen.“ – „Nein, Ochse, du wirst ihn nicht herausjagen. Die Hunde haben’s versucht und ihn nicht herausgejagt, der Bär hat’s versucht und ihn nicht herausgejagt, und du wirst ihn auch nicht herausjagen.“ – „Doch, ich werde ihn herausjagen.“ Sie kamen zur Hütte: „Fuchs, scher dich davon!“ Der aber rief ihnen vom Ofen zu: „Spring ich heraus, verlaß ich das Haus, mach ich euch allen den Garaus!“ Der Ochse bekam Angst und lief davon. Zieht der Hase wieder weiter und jammert. Da begegnet ihm der Hahn mit einer Sense: „Kikeriki! Worüber jammerst du, Hase?“ – „Laß mich, Hahn! Wie soll ich nicht jammern? Eine Rindenhütte hab’ ich gehabt, der Fuchs aber hatte eine aus Eis. Er 29
bat mich, ihn einzulassen, und dann hat er mich hinausgejagt.“ – „Komm mit, ich werde ihn herausjagen.“ – „Nein, du wirst ihn nicht herausjagen! Die Hunde haben’s versucht und ihn nicht herausgejagt, der Bär hat’s versucht und ihn nicht herausgejagt, der Ochse hat’s versucht und ihn nicht herausgejagt, und du wirst ihn auch nicht herausjagen.“ – „Doch, ich werde ihn herausjagen.“ Sie kamen zur Hütte: „Kikeriki, hab’ ‘ne Sense hie, hab’ sie hergetragen, den Fuchs zu schlagen! Fuchs, scher dich davon!“ Der Fuchs hörte das, erschrak und sagt: „Ich zieh’ mich schon an.“ Darauf der Hahn wiederum: „Kikeriki, hab’ ‘ne Sense hie, hab’ sie hergetragen, den Fuchs zu schlagen! Fuchs, scher dich davon!“ Der aber sagt: „Ich ziehe schon den Pelz über.“ Darauf der Hahn zum drittenmal: „Kikeriki, hab’ ‘ne Sense hie, hab’ sie hergetragen, den Fuchs zu schlagen, Fuchs, scher dich davon!“ Der Fuchs kam herausgerannt; da erschlug ihn der Hahn mit der Sense und lebte von nun an mit dem Hasen herrlich und in Freuden. Das Märchen ist zu Ende erzählt, dafür mir ein Topf mit Butter gehört.
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7 Bauer, Bär und Fuchs Ein Bauer und ein Bär waren unzertrennliche Freunde. Einmal wollten sie Rüben säen. Sie säten die Rüben und beredeten sich, wer was haben sollte. Der Bauer sagte: „Für mich die Wurzeln, für dich, Mischa, was oben ist.“ Als die Rüben schön groß waren, nahm sich der Bauer die Wurzeln, der Bär dagegen, was oben war. Da merkt er, daß er es falsch gemacht hat, und sagt zum Bauern: „Du hast mich übers Ohr gehauen. Wenn wir wieder etwas säen, sollst du mich nicht noch einmal so an der Nase herumführen.“ Ein Jahr war vergangen, da sagt der Bauer zum Bären: „Komm, Mischa, laß uns Weizen säen.“ – „Immer zu“, sagt der Bär, und sie säten Weizen. Als der Weizen reif war, sagt der Bauer: „Was willst du jetzt nehmen, Mischa? Die Wurzeln, oder was oben ist?“ – „Nein, Bruder, diesmal wirst du mich nicht übers Ohr hauen. Gib mir die Wurzeln und nimm du, was oben ist.“ Sie ernteten den Weizen und teilten. Der Bauer drosch ein wenig Weizen, buk sich Brot, ging damit zum Bären und sagt: „Sieh nur, wie schön das Obere ist!“ – „Bauer“, sagt der Bär, „jetzt bin ich böse auf dich, ich will dich fressen!“ Der Bauer ging weg und brach in Jammern aus.
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Da kommt der Fuchs und sagt zu ihm: „Was jammerst du?“ – „Wie soll ich nicht jammern, wie soll ich nicht klagen? Der Bär will mich fressen!“ – „Hab keine Angst, Onkel, er wird dich nicht fressen!“ Er versteckte sich hinter den Sträuchern und hieß den Bauern, stehenzubleiben und zu warten; kam wieder heraus und fragt: „Bauer, gibt es hier nicht ein paar Wölfe oder Bären?“ Der Bär aber ging zu dem Bauern hin und sagt: „Ach, Bauer, sag nichts, ich will dich auch nicht fressen.“ Antwortet der Bauer dem Fuchs: „Nein!“ Der Fuchs lachte und sagte: „Und was ist das, was dort am Wagen liegt?“ Der Bär sagt dem Bauern leise ins Ohr: „Sag, es ist ein Holzklotz.“ – „Wenn’s ein Holzklotz wäre, dann wäre er auf dem Wagen festgebunden“, antwortet der Fuchs und lief wieder hinter die Sträucher. Der Bär sagte zum Bauern: „Binde mich und leg mich auf den Wagen!“ Das tat der Bauer. Nun kehrte der Fuchs wieder zurück und fragt den Bauern: „Bauer, hast du nicht ein paar Wölfe oder Bären zur Hand?“ – „Nein!“, sagte der Bauer. „Und was ist das, was dort auf dem Wagen liegt?“ – „Ein Holzklotz.“ – „Wenn’s ein Holzklotz wäre, steckte eine Axt darin!“ Der Bär sagt leise zum Bauern: „Hau deine Axt in mich hinein.“ Der Bauer hieb ihm die Axt in den Rücken, da war der Bär tot. Kam der Fuchs hervor und sagt zum Bauern: „Bauer, was gibst du mir nun für meine Arbeit?“ – „Ich will dir ein Paar weiße Hühner geben. Da nimm, sieh aber nicht hinein.“
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Der Fuchs bekam vom Bauern einen Sack und zog davon. Er trug und trug ihn und denkt: „Ich will doch einmal hineinsehen.“ Sah hinein, da waren zwei weiße Hunde darin. Die Hunde springen heraus und jagen ihm nach. Der Fuchs rannte und rannte und kroch in ein Loch unter einen Baumstumpf. Wie er so sitzt, spricht er vor sich hin: „Öhrlein, was habt ihr getan?“ – „Wir haben immer gelauscht.“ – „Und ihr, Beine, was habt ihr getan?“ – „Wir sind immer gelaufen.“ – „Und ihr, Äuglein?“ – „Wir haben immer ausgeschaut!“ – „Und du, Schwanz?“ – „Ich habe dich immer beim Rennen behindert!“ – „So, so, du hast mich immer behindert? Wart, ich werd’s dir zeigen!“ Und damit steckte er den Schwanz hinaus, wo die Hunde waren. Die Hunde packten den Schwanz, zogen den Fuchs heraus und rissen ihn in Stücke.
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8 Undank ist der Welt Lohn Ein Wolf war einmal schon halb in ein Fangeisen geraten, hatte sich aber mit genauer Not losreißen können und suchte nun das Weite. Da erblickten ihn die Jäger und setzten ihm nach. Der Graue mußte einen Weg überqueren, auf der Straße aber lief gerade ein Bauer, der trug einen Sack und einen Dreschflegel, denn er kam vom Felde. Zu dem sagte der Graue: „Sei so gut, Bauer, verbirg mich in deinem Sack! Die Jäger sind hinter mir her.“ Der Bauer war’s einverstanden, steckte ihn in den Sack, band den Sack zu und warf ihn auf die Schulter. Wie er weitergeht, kommen die Jäger dahergesprengt. „Hast du nicht einen Wolf gesehen, Bauer?“ fragen sie ihn. „Nein!“ antwortete ihnen der Bauer. Die Jäger ritten weiter und waren bald nicht mehr zu sehen. „Sind sie fort, meine Mörder?“ fragte der Graue. „Ja, sie sind fort.“ – „Dann laß mich wieder heraus!“ Der Bauer band den Sack auf und ließ den Wolf heraus. Der sagte: „Weißt du was, Bauer, ich will dich fressen!“ – „Ach, Wolf, Wolf! Aus so großer Not habe ich dich errettet, und du willst mich fressen!“ – „Undank ist der Welt Lohn“, erwiderte der Graue. Der Bauer sieht, daß es schlecht um ihn steht, und sagt: „Wenn’s so ist, dann wollen wir weitergehen, und wenn der 34
erste, dem wir begegnen, gleichfalls sagt, daß Undank der Welt Lohn ist, dann bleibe es dabei, dann sollst du mich fressen.“ Sie gingen weiter. Da begegnete ihnen eine alte Stute. Der Bauer fragt sie gleich: „Sei so gut, Mütterchen Stute, schlichte unsern Streit. Ich habe diesen Wolf hier aus großer Not errettet, aber er will mich fressen.“ Und er erzählte ihr alles, wie es gewesen war. Die Stute dachte lange nach und sagte: „Ich habe zwölf Jahre bei meinem Herrn gelebt, ihm zwölf Füllen geschenkt und mich von früh bis spät für ihn geplagt. Als ich aber alt geworden war und für die Arbeit nicht mehr taugte, da nahm er mich und hat mich in eine Schlucht gestürzt. Mit Mühe und Not bin ich wieder herausgeklettert und laufe nun, wohin der Weg mich führt. Ja, Undank ist der Welt Lohn!“ – „Siehst du, ich habe recht!“ sagte der Graue. Der Bauer war sehr betrübt und bat den Wolf, er möge noch eine zweite Begegnung abwarten. Der Wolf war auch hiermit einverstanden. Da begegnete ihnen ein alter Hund. Der Bauer gab ihm die gleiche Frage auf. Der Hund dachte lange nach und sagte dann: „Ich habe zwanzig Jahre bei meinem Herrn gedient, Haus und Vieh bewacht, als ich aber alt geworden und nicht mehr bellen konnte, hat er mich vom Hof gejagt, und nun laufe ich, wohin der Weg mich führt. Ja, Undank ist der Welt Lohn!“ – „Nun, siehst du, ich habe recht!“ Der Bauer war noch mehr betrübt und flehte den Wolf an, noch eine dritte Begegnung
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abzuwarten, „dann magst du tun, wie’s dir beliebt, wenn schon Undank mein Lohn sein soll.’ Beim dritten Male begegnete ihnen der Fuchs. Der Bauer wiederholte seine Frage. Der Fuchs begann zu streiten: „Wie soll denn das zugegangen sein, daß der Graue, dieser große Kerl, in einen so kleinen Sack hineingepaßt hat!“ Wolf und Bauer schworen bei Gott, das sei die reine Wahrheit. Aber der Fuchs glaubte ihnen nicht und sagte: „So zeig mir doch einmal, Bauer, wie du ihn in den Sack gesteckt hast!“ Der Bauer hielt den Sack auf, und der Wolf steckte seinen Kopf hinein. Der Fuchs rief: „Hast du etwa nur deinen Kopf im Sack versteckt?“ Der Wolf kroch ganz hinein. „Jetzt zeig mir doch einmal, Bauer, wie du den Sack zugeschnürt hast!“ Der Bauer schnürte den Sack zu. „Und wie hast du auf dem Felde Getreide gedroschen?“ Der Bauer begann, mit dem Flegel auf den Sack loszudreschen. „Und wie hast du dann umgewendet?“ Der Bauer fuhr mit dem Dreschflegel herum, traf den Fuchs am Kopf und schlug ihn tot. Dabei sagte er: „Undank ist der Welt Lohn!“
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9 Der dumme Wolf In einem Dorf lebte ein Bauer, der hatte einen Hund. Von klein auf hatte der Hund das ganze Haus bewacht, als er aber in die Jahre kam, konnte er nicht mehr bellen und wurde seinem Herrn zur Last. Also nahm der Bauer eine Leine, band sie dem Hund um den Hals und führte ihn in den Wald. Führte ihn an eine Espe und wollte ihn schon erwürgen, als er sah, wie dem alten Hund bittere Tränen über die Schnauze rollten. Da dauerte ihn das Tier, er ließ es am Leben, band es an der Espe fest und ging nach Hause. Der alte Hund aber blieb im Walde und begann zu jammern und sein Los zu verfluchen. Da kommt aus dem Gebüsch ein großer Wolf hervor, erblickt ihn und sagt: „Einen schönen guten Tag, lieber Hund! Schon lange hab ich auf dich gewartet, dich bei mir zu Gaste zu sehen. Wie oft hast du mich von deinem Hause fortgejagt, jetzt aber bist du in mein Revier geraten: ich kann mit dir tun, was mir beliebt. Und ich werde dir alles gebührend heimzahlen!“ – „Und was willst du mit mir tun, grauer Wolf?“ – „Nicht viel: Ich werde dich mit Haut und Haar und allen Knochen auffressen!“ – „Ach, du dummer Wolf! Vor lauter Fett weißt du schon nicht mehr, was du tust. Nach all dem schmackhaften Ochsenfleisch willst du einen 37
alten, mageren Hund fressen? Wozu willst du dir für nichts und wieder nichts deine alten Zähne an mir ausbeißen? Mein Fleisch schmeckt jetzt wie faules Holz. Ich will dir einen besseren Rat geben: Geh und bring mir drei Pud schönes Stutenfleisch, meiner Magerkeit ein wenig aufzuhelfen! Dann magst du mit mir tun, was dir gefällt.“ Der Wolf gehorchte dem Hund, ging und brachte ihm eine halbe Stute geschleppt. „Da hast du dein Ochsenfleisch! Schau, daß du dicker wirst!“ Sprach’s und verschwand. Der Hund machte sich über das Fleisch her und fraß alles auf. Nach zwei Tagen kommt der graue Tölpel wieder und sagt zum Hund. „Nun, Bruderherz, bist du dicker geworden oder nicht?“ – „Ein wenig bin ich dicker geworden. Wenn du mir jetzt noch ein Schaf brächtest, mein Fleisch würde unvergleichlich süßer.“ Der Wolf war auch hiermit einverstanden, lief aufs Feld und legte sich in eine Kuhle, dem Hirten und seiner Herde aufzulauern. Jetzt treibt der Hirt seine Herde heran; der Wolf hinter einem Busch wählte sich ein recht fettes und großes Schaf aus, stürzt sich darauf, packt es am Halse und schleift es zum Hund. „Hier hast du dein Schaf; werde dicker!“ Der Hund erholte sich, fraß auch das Schaf und spürte seine Kräfte wachsen. Kam der Wolf und fragt: „Nun, wie steht’s, Bruderherz, wie fühlst du dich jetzt?“ – „Noch ein klein wenig zu mager. Wenn du mir jetzt noch einen Eber brächtest, ich würde fett wie ein Schwein.“ Der Wolf trieb auch einen Eber auf, brachte ihn und sagt: „Das ist 38
mein letzter Dienst! In zwei Tagen bin ich bei dir zu Gast!“ – „Nur zu“, denkt der Hund, „mit dir werde ich schon fertig werden.“ Nach zwei Tagen kommt der Wolf zum Hund, der jetzt schön dick und rund ist. Wie der den Wolf erblickte, bellte er ihm wütend entgegen. „Du Schandkerl“, sagte der Wolf, „du unterstehst dich, mich zu beschimpfen?“ Damit warf er sich auf den Hund und wollte ihn in Stücke reißen. Der Hund aber war wieder wohl bei Kräften, stellte sich auf die Hinterbeine, die beiden verbissen sich ineinander, und der Hund bewirtete den Grauen, daß die Fetzen nur so flogen. Der Wolf riß sich los und rannte aus Leibeskräften davon. Als er schon lange gelaufen war, wollte er verschnaufen; da hörte er Hundegebell und gab erneut Fersengeld. Kam in den Wald, legte sich unter einen Strauch und begann, die Wunden zu lecken, die ihm vom Hund zugefügt worden waren. „Wie schändlich hat mich der Hund betrogen!“ denkt er bei sich, „Aber wartet nur, wer mir jetzt in den Weg kommt, der soll meinen Zähnen nimmermehr entgehen!“ Der Wolf leckte seine Wunden heil und ging wieder auf Beute. Da sieht er auf einem Berg einen großen Ziegenbock, zu dem sagt er: „Ziegenbock, Ziegenbock, ich bin gekommen, dich zu fressen!“ – „Ach, grauer Wolf, wozu willst du dir für nichts und wieder nichts deine alten Zähne an mir ausbeißen? Stell dich lieber unten an den Berg und reiß dein großes Maul weit auf: ich will einen Anlauf nehmen und dir geradenwegs in den Rachen springen, dann brauchst du mich nur hinter39
zuschlucken!“ Der Wolf stellte sich unten an den Berg und riß sein großes Maul weit auf, der Bock aber, nicht faul, flog wie ein Pfeil den Berg hinab und stieß den Wolf vor die Stirn, so derb, daß er zu Boden stürzte. Der Bock aber machte sich aus dem Staube. Nach drei Stunden wachte der Wolf auf und glaubte, der Kopf wolle ihm zerspringen, solche Schmerzen hatte er. Er überlegte und überlegte, ob er den Bock nun verschlungen hätte oder nicht. Lange dachte er nach und riet hin und her. „Hätt’ ich den Bock gefressen, so müßte mein Bauch doch voll sein. Der Taugenichts hat mich, scheint’s, betrogen. Aber von nun an weiß ich, was ich zu tun habe!“ Sprach’s und lief zum Dorf hinunter, erblickte eine Sau mit ihren Ferkeln und wollte eins davon packen. Die Sau aber ließ es nicht zu. „Ach, närrische Sau“, sagt der Wolf, „was erdreistest du dich, mir grob zu kommen? Kann ich doch auch dich selbst in Stücke reißen und alle deine Ferkel mit einem Male verschlingen!“ Die Sau aber gab zur Antwort: „Bis jetzt habe ich dich noch nicht beschimpft, nun aber muß ich dir sagen, daß du ein großer Dummkopf bist!“ – „Wie das?“ – „Sehr einfach; urteile selbst, Grauer: Wie kannst du denn meine Ferkel fressen? Sie sind ja gerade erst geworfen und müssen noch gewaschen werden. Steh du bei ihnen Gevatter, so will ich dir Gevatterin sein, deine kleinen Kinderchen zu taufen!“ Der Wolf war’s einverstanden.
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Also schön, sie kamen zu einer großen Mühle. Sagt die Sau zum Wolf: „Lieber Gevatter, stell dich auf jene Seite des Mühlwehres, wo kein Wasser ist, ich aber will gehen, die Ferkelchen in reines Wasser tauchen und sie dir eins nach dem anderen reichen.“ Da freute sich der Wolf und denkt: nun werden meine Zähne etwas zu beißen bekommen! Und ging, der graue Tölpel, unter die Brücke; die Sau aber packte das Staubrett mit den Zähnen, hob’s hoch und ließ das Wasser durchlaufen. Wie das strömte, wie es den Wolf mit sich riß und wie einen Kreisel drehte! Die Sau jedoch machte sich mit ihren Ferkeln auf den Heimweg. Zu Hause angekommen, fraß sie sich satt und legte sich mit ihren Kleinen aufs weiche Lager. Der Wolf merkte die Hinterlist der Sau, erklomm mit Mühe und Not das Ufer und trabte mit hungrigem Magen durch den Wald. Lange peinigte ihn der Hunger; schließlich hielt er’s nicht mehr aus, lief erneut zum Dorf hinunter und sah neben einer Tenne ein Stück Aas liegen. „Vortrefflich“, denkt er, „wenn die Nacht hereingebrochen ist, will ich mich wenigstens an diesem Stück Aas sattfressen.“ Denn es war schlechte Erntezeit für den Wolf, und er war froh, sein Leben wenigstens mit Aasfleisch zu fristen. Das war immer noch besser, als nichts zwischen den Zähnen zu haben und auf Wolfsweise Lieder zu singen. Die Nacht kam, der Wolf lief zur Tenne und begann, das Stück Aas hinunterzuschlingen. Der Jäger aber hatte ihm schon lange aufgelauert und für seinen 41
Freund zwei schöne blaue Bohnen bereitgehalten. Er drückte seine Flinte ab, und der Wolf fiel mit zerschmettertem Schädel um. So hat der graue Wolf sein Leben gelassen!
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10 Kranich und Reiher Kommt ein Käuzchen geflogen, ist lustig und froh; es fliegt und fliegt und setzt sich nieder, dreht das Schwänzchen, putzt’s Gefieder, sieht nach hier und schaut nach dort, bleibt nicht lang, fliegt wieder fort; und fliegt und fliegt und setzt sich nieder, dreht das Schwänzchen, putzt’s Gefieder, blickt nach hier und schaut nach dort… Das war nur die Einleitung, das Märchen selbst fängt jetzt erst an. In einem Moor lebten einmal ein Kranich und ein Reiher, die hatten sich jeder eine Hütte gebaut, der eine an diesem Ende des Moores, der andere an jenem. Dem Kranich wurde das Alleinsein langweilig, und er gedachte zu heiraten. „Ich will gehen und um Base Reiher freien!“ Er machte sich auf den Weg – tapp, tapp –, sieben Werst durchs Moor. Kommt hin und sagt: „Ist Base Reiher zu Hause?“ – „Ja!“ – „Werde meine Frau!“ – „Nein, Kranich, ich werde nicht deine Frau. Deine Beine sind zu lang, dein Rock ist zu kurz; du fliegst schlecht und hast nichts, mich zu füttern. Geh fort, Langbein!“ So mußte der Kranich unverrichteterdinge nach Hause gehen. Hinterher besann sich Base Reiher eines anderen und sagte: „Ehe ich als einsame Jungfer lebe, 43
will ich lieber den Kranich heiraten.“ Kommt zum Kranich und sagt: „Kranich, nimm mich zur Frau!“ – „Nein, Base Reiher, ich brauche dich nicht. Ich mag nicht heiraten und nehme dich nicht zur Frau. Scher dich fort!“ Der Reiher brach vor Scham in Tränen aus und machte sich auf den Heimweg. Der Kranich besann sich eines anderen und sagte: „Es war dumm von mir, Base Reiher nicht zu nehmen; allein ist’s zu langweilig. Ich will jetzt gehen und sie zur Frau nehmen.“ Er kommt hin und sagt: „Base Reiher, ich möchte dich heiraten. Werde meine Frau!“ „Nein, Kranich, ich werde nicht deine Frau!“ Der Kranich ging nach Hause. Da besann sich der Reiher eines anderen: „Warum habe ich nein gesagt? Wozu soll ich als einsame Jungfer leben? Lieber will ich den Kranich heiraten!“ Kommt zum Kranich, aber der will nicht. Und so gehen sie bis auf den heutigen Tag einer den anderen zu freien, aber zum Heiraten kommen sie nicht.
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11 Der Hahn und die Bohne Es lebten einmal ein Mann und eine Frau, die hatten einen Hahn. Der Hahn scharrte vor dem Hause und scharrte eine Bohne heraus. Die wollte er verschlucken, da geriet sie ihm in die falsche Kehle. Geriet ihm in die falsche Kehle, er fiel auf den Rücken, streckte die Beine von sich, liegt da und atmet nicht. Die Bäuerin kommt gelaufen und fragt: „Was liegst du, Hahn, und atmest nicht?“ „Eine Bohne“, sagt er, „ist mir in die falsche Kehle geraten. Lauf zur Kuh und bitte sie um Butter!“ Sie lief zur Kuh. „Kuh, gib mir Butter! Der Hahn liegt da und atmet nicht, eine Bohne ist ihm in die falsche Kehle geraten.“ „Lauf zu den Schnittern und bitte um Heu!“ Sie kommt zu den Schnittern. „Schnitter, gebt mir Heu! Das Heu ist für die Kuh; die Kuh will mir Butter geben; die Butter ist für den Hahn; der Hahn liegt da und atmet nicht, eine Bohne ist ihm in die falsche Kehle geraten.“ Sagen die Schnitter zu ihr: „Lauf zur Bäckersfrau und bitte um Kringel!“ Die Bäuerin kommt zur Bäckersfrau.
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„Bäckersfrau, Bäckersfrau! Gib mir Weizenkringel. Die Kringel sind für die Schnitter; die Schnitter wollen Heu geben. Das Heu ist für die Kuh; die Kuh will Butter geben. Die Butter ist für den Hahn; der Hahn liegt da und atmet nicht, eine Bohne ist ihm in die falsche Kehle geraten.“ Die Bäckersfrau schickt sie zu den Holzfällern, um Holz zu bitten. Kommt die Bäuerin zu den Holzfällern. „Holzfäller, gebt mir Holz! Das Holz ist für die Bäckersfrau; die Bäckersfrau will Kringel geben. Die Kringel sind für die Schnitter; die Schnitter wollen Heu geben. Das Heu ist für die Kuh; die Kuh will Butter geben. Die Butter ist für den Hahn; der Hahn liegt da und atmet nicht, eine Bohne ist ihm in die falsche Kehle geraten.“ Die Holzfäller schicken sie zum Schmied, um Äxte zu bitten: sie haben nichts, das Holz zu schlagen. Da ging die Bäuerin zum Schmied. „Schmied, gib mir eine Axt! Die Axt ist für die Holzfäller; die Holzfäller wollen Holz geben. Das Holz ist für die Bäckersfrau; die Bäckersfrau will Kringel geben; die Kringel sind für die Schnitter; die Schnitter wollen Heu geben. Das Heu ist für die Kuh; die Kuh will Butter geben. Die Butter ist für den Hahn; der Hahn liegt da und atmet nicht, eine Bohne ist ihm in die falsche Kehle geraten.“ „Ich habe keine Axt“, sagt der Schmied, „und weiß auch nicht, wie ich eine schmieden soll: es ist keine Kohle da. Geh in den Wald, schneid Fichtenzweige und brenne Kohle.“
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Die Bäuerin fuhr in den Wald, brachte Holz und brannte Kohle. Die Kohle trug sie zum Schmied – der Schmied gab die Axt; sie ging zu den Holzfällern – die Holzfäller gaben Holz; das Holz trug sie zur Bäckersfrau – die Bäckersfrau gab Kringel; die Kringel trug sie zu den Schnittern – die Schnitter gaben Heu; das Heu trug sie zur Kuh – die Kuh gab Butter; die Butter trug sie zum Hahn – der Hahn nahm davon, schluckte die Bohne hinter und fing laut zu krähen an: „Kikeriki, vor dem Haus sitz ich hie, flechte Schuhe spät und früh, hab den Pfriemen verloren, Geld gefunden, kaufte mir ein Mädchen fein, schenkt’ ihm ein seiden Tüchelein!“
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12 Die Ziege Der Bock sitzt und jammert: er hat die Ziege nach Nüssen geschickt, sie ist gegangen und nicht wiedergekommen. Da beginnt der Bock zu meckern: Die Ziege kommt mit den Nüssen nicht, Mit den gedörrten kommt sie nicht! Nun gut, Ziege! Ich werde die Wölfe auf dich hetzen. Die Wölfe wollen die Ziege nicht jagen. Die Ziege kommt mit den Nüssen nicht, Mit den gedörrten kommt sie nicht! Nun gut, Wölfe! Ich werde den Bären auf euch hetzen. Der Bär will die Wölfe nicht reißen, Die Wölfe wollen die Ziege nicht jagen. Die Ziege kommt mit den Nüssen nicht, Mit den gedörrten kommt sie nicht! Nun gut, Bär! Ich werde das Gesinde auf dich hetzen. Das Gesinde will den Bären nicht schießen, Der Bär will die Wölfe nicht reißen, 48
Die Wölfe wollen die Ziege nicht jagen. Die Ziege kommt mit den Nüssen nicht, Mit den gedörrten kommt sie nicht! Nun gut, Gesinde! Ich werde den Knüppel auf euch hetzen. Der Knüppel will’s Gesinde nicht schlagen, Das Gesinde will den Bären nicht schießen, Der Bär will die Wölfe nicht reißen, Die Wölfe wollen die Ziege nicht jagen. Die Ziege kommt mit den Nüssen nicht, Mit den gedörrten kommt sie nicht! Nun gut, Knüppel! Ich werde das Beil auf dich hetzen. Das Beil will den Knüppel nicht spalten, Der Knüppel will’s Gesinde nicht schlagen, Das Gesinde will den Bären nicht schießen, Der Bär will die Wölfe nicht reißen, Die Wölfe wollen die Ziege nicht jagen. Die Ziege kommt mit den Nüssen nicht, Mit den gedörrten kommt sie nicht! Nun gut, Beil! Ich werde den Stein auf dich hetzen. Der Stein will’s Beil nicht schartig machen, Das Beil will den Knüppel nicht spalten, Der Knüppel will’s Gesinde nicht schlagen, Das Gesinde will den Bären nicht schießen, 49
Der Bär will die Wölfe nicht reißen, Die Wölfe wollen die Ziege nicht jagen. Die Ziege kommt mit den Nüssen nicht, Mit den gedörrten kommt sie nicht! Nun gut. Stein! Ich werde das Feuer auf dich hetzen. Das Feuer will den Stein nicht sengen, Der Stein will’s Beil nicht schartig machen, Das Beil will den Knüppel nicht spalten, Der Knüppel will’s Gesinde nicht schlagen, Das Gesinde will den Bären nicht schießen, Der Bär will die Wölfe nicht reißen, Die Wölfe wollen die Ziege nicht jagen. Die Ziege kommt mit den Nüssen nicht, Mit den gedörrten kommt sie nicht! Nun gut, Feuer! Ich werde das Wasser auf dich hetzen. Das Wasser will das Feuer nicht löschen, Das Feuer will den Stein nicht sengen, Der Stein will’s Beil nicht schartig machen, Das Beil will den Knüppel nicht spalten, Der Knüppel will’s Gesinde nicht schlagen, Das Gesinde will den Bären nicht schießen, Der Bär will die Wölfe nicht reißen, Die Wölfe wollen die Ziege nicht jagen. Die Ziege kommt mit den Nüssen nicht, Mit den gedörrten kommt sie nicht! 50
Nun gut, Wasser! Ich werde den Sturm auf dich hetzen, Der Sturm begann, das Wasser zu jagen, Das Wasser begann, das Feuer zu löschen, Das Feuer begann, den Stein zu sengen, Der Stein begann, ‘s Beil schartig zu machen, Das Beil begann, den Knüppel zu spalten, Der Knüppel begann, ‘s Gesinde zu schlagen, Das Gesinde begann, den Bären zu schießen, Der Bär begann, die Wölfe zu reißen, Die Wölfe begannen, die Ziege zu jagen: Da war die Ziege mit den Nüssen da, Da war sie mit den gedörrten da.
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13 Wie das Schwein zu Tanze ging Es lebten einmal ein Mann und eine Frau. Die Frau sagt: „Wir wollen unser Schwein schlachten. Der Schwager will kommen, und wir haben kein Schweinefleisch im Hause.“ Das hörte das Schwein und beschloß fortzulaufen. Wie es so läuft, begegnet ihm der Hund. „Schwein, wohin gehst du?“ – „Zum Tanz!“ – „Nimm mich mit!“ – „Nur zu! Je mehr, desto lustiger!“ Sie gingen weiter. Begegnet ihnen der Hase: „Schwein, wohin gehst du?“ – „Zum Tanz!“ – „Nimm mich mit!“ – „Nur zu! Je mehr, desto lustiger!“ Schwein, Hund und Hase gehen weiter. Begegnet ihnen der Fuchs: „Schwein wohin gehst du?“ – „Zum Tanz!“ – „Nimm mich mit!“ – „Nur zu, komm mit! Je mehr, desto lustiger!“ Schwein, Hase, Hund und Fuchs gingen weiter. Begegnet ihnen der Wolf: „Schwein, wohin gehst du?“ – „Zum Tanz!“ – „Nimm mich auch mit!“ – „Nur zu! Je mehr, desto lustiger!“ Schwein, Hund, Hase, Fuchs und Wolf gingen weiter. Kommt ihnen der Bär entgegen. „Wohin gehst du, Schwein?“ – „Zum Tanz!“ – „Nimm mich auch mit!“ – „Warum nicht? Nur zu! Je mehr, desto lustiger!“ Schwein, Wolf, Bär, Fuchs, Hase und Hund gingen weiter und immer weiter. Da kamen sie an eine große Grube. Wie hinüberkommen? Die Latte, die darüberführte, 52
war dünn. Das Schwein ging voran, als letzter folgte der Bär. Als sie in der Mitte waren, brach die Stange, und alle fielen in die Grube. Sie saßen lange Zeit und bekamen Hunger. Da sagt der Fuchs: „Wir wollen sehen: wer am längsten heulen kann.“ Alle begannen zu heulen, nur der Hase brachte keinen Laut heraus. Da rissen sie ihn in Stücke. Der Fuchs nahm die Därme und legte sich darauf. Der Bär aber hatte nicht mitgeheult; er war über alle der Herr. Sie saßen einen ganzen Tag und noch einen, da begannen sie wieder um die Wette zu heulen. Das Schwein hielt nicht mit und wurde gefressen, danach auch der Hund und der Wolf. Die Därme aber hatte jedesmal der Fuchs genommen und sich darauf gelegt. Nun waren nur noch Fuchs und Bär übrig. Sie saßen viele Stunden, der Fuchs aber langte mit der Pfote unter seinen Leib und fraß die Därme. Fragt der Bär: „Was frißt du, Fuchs?“ – „Meine Därme ziehe ich heraus und fresse sie.“ Der Bär griff sich in den Leib, riß alle Därme und was sonst noch darin war heraus und krepierte. Der Fuchs fraß ihn auf. Nun saß er in dem Loche und wußte nicht, wie er herauskommen sollte. Da sieht er einen Specht über dem Loche fliegen. „Väterchen Specht, hilf mir heraus!“ – „Wie soll ich dir denn heraushelfen?“ – „Hack mit deinem Schnabel kleine Stufen!“ Er hackte kleine Stufen, und der Fuchs kletterte heraus. „Väterchen Specht, gib mir Bier zu trinken!“ – „Wie soll ich dir denn zu trinken geben?“ – „Dort fährt ein Bauer Bier. Setz dich abwechselnd aufs Pferd und aufs Faß, dann wieder aufs Pferd und 53
wieder aufs Faß!“ Der Specht flog hin. Der Bauer begann, mit der Peitsche zu schlagen, schlug das Faß entzwei, das Bier floß aus, und der Fuchs trank sich voll. Dann bittet er: „Väterchen Specht, füttere mich mit Pfannkuchen!“ – „Wie soll ich dich denn füttern?“ – „Wenn die Bäuerin den Teig anrührt, stiehl ein paar Pfannkuchen!“ Der Specht tat’s. Der Fuchs bittet wieder: „Väterchen Specht, bring mich zum Lachen!“ – „Wie soll ich dich denn zum Lachen bringen?“ – „Dort sind vier Bauern zum Dreschen. Flieg hin und setz dich auf sie, bald auf den einen, bald auf den anderen, dann werden sie einander mit den Dreschflegeln schlagen.“ Der Specht flog hin. Die Bauern schlugen einander über Kreuz, daß es eine Art hatte. Der Fuchs aber kicherte hinter der Tenne. Sie hörten’s und hetzten die Hunde auf ihn. Da rannte er, was die Beine hergaben, zwängte sich in einen hohlen Baum und fragte: „Äuglein, was habt ihr getan?“ – .Wir haben immer ausgeschaut, Fuchs, und dir geholfen zu entkommen.“ – „Beine, meine Beine, was habt ihr getan?“ – „Wir sind immer gerannt, Fuchs, und haben dich vor den Hunden bewahrt.“ – „Und du, Schwanz, was hast du getan?“ – „Ich bin dir immer zwischen die Beine gekommen.“ – „Ach, du bist mir immer dazwischengekommen, wolltest, daß mich die Hunde fressen! Das zahl ich dir heim!“ Und steckte ihn aus dem hohlen Baum heraus. Die Hunde rissen den Schwanz ab, und der Fuchs lief von nun an ohne Schwanz umher. Die anderen Füchse verspotteten ihn. Der Fuchs aber sagte: „Reißt nur auch euren Schwanz ab, 54
dann werdet ihr merken, wie leicht es sich läuft.“ Aus!
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14 Das Schlößchen Liegt auf dem Felde ein Pferdeschädel. Kam Mäuschen Wühl-dein-Loch gelaufen und fragt: „Schloß, Schloß, Schlößchen! Wer wohnt in deinen Stübchen?“ Niemand antwortet. Da ging es hinein und wohnte hinfort im Pferdeschädel. Kam Frosch Quak-Quak: „Schloß, Schloß, Schlößchen! Wer wohnt in deinen Stübchen? – „Ich, Mäuschen Wühl-dein-Loch! Und wer bist du?“ – „Ich bin Frosch Quak-Quak!“ – „Komm, wohn bei mir!“ Der Frosch ging hinein, und sie wohnten von nun an zu zweit. Kam der Hase gelaufen: „Schloß, Schloß, Schlößchen! Wer wohnt in deinen Stübchen?“ – „Ich, Mäuschen Wühl-dein-Loch, und Frosch Quak-Quak! Und wer bist du?“ – „Ich bin der Reißaus-überall!“ – „Komm zu uns!“ Von nun an wohnten sie zu dritt. Kam der Fuchs gelaufen. „Schloß, Schloß, Schlößchen! Wer wohnt in deinen Stübchen?“ – „Mäuschen Wühl-dein-Loch, Frosch Quak-Quak und der Reißaus-überall! Und wer bist du?“ – „Ich bin der Spring-überall!“ – „Komm zu uns!“ Von nun an wohnten sie zu viert. Kam der Wolf: „Schloß, Schloß, Schlößchen! Wer wohnt in deinen Stübchen?“ – „Mäuschen Wühl-dein-Loch, Frosch Quak-Quak, der Reißaus-überall und der Springüberall! Und wer bist du?“ – „Ich bin der Raub56
überall!“ – „Komm zu uns!“ Von nun an wohnten sie zu fünft. Da kommt der Bär zu ihnen: „Schloß, Schloß, Schlößchen! Wer wohnt in deinen Stübchen?“ – „Mäuschen Wühl-dein-Loch, Frosch Quak-Quak, der Reißaus-überall, der Spring-überall und der Raub-überall!“ „Und ich bin der Erdrück-euch-all!“ Sprach’s, setzte sich auf den Pferdeschädel und erdrückte alle.
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15 Die Ziege Naseweis Es war einmal ein Pope, der hatte viele Ziegen und hielt einen Knecht. Wie der Frühling kam, sagte der Pope: „Knecht, treib die Ziegen auf die Weide und füttere sie gut!“ Der Knecht trieb aus; den ganzen Tag ließ er die Ziegen auf den Hügeln, in den Tälern, in den dunklen Wäldern weiden. Dann war es an der Zeit zum Heimtreiben. Die Ziegen kommen zum Tor, der Pope tritt aus dem Haus und fragt: Nun, ihr Zicklein, nun ihr Lieben, Seid ihr satt an Speis und Trank? Seid ihr auf den Hügeln gewesen. Habt ihr fettes Gras gefressen. Habt ihr unter der Birke geruht? Die Ziegen antworten dem Popen: Wir sind satt an Speis und Trank: Wir sind auf den Hügeln gewesen. Haben fettes Gras gefressen. Haben zarte Blätter gefunden. Haben unter der Birke geruht. Eine Ziege aber sagt: 58
Ich bin nicht satt an Speis und Trank: Bin nicht auf den Hügeln gewesen, Hab nicht fettes Gras gefressen, Hab nicht zarte Blätter gefunden, Hab nicht unter der Birke geruht! Der Pope holte aus, schlug den Knecht und erschlug ihn. Der Pope hatte einen Sohn. Am Morgen schickte er den Sohn hinaus. Der Sohn trieb aus; den ganzen Tag ließ er die Ziegen auf den Hügeln, in den Tälern, in den dunklen Wäldern weiden. Dann war es an der Zeit zum Heimtreiben. Die Ziegen kommen zum Tor, und der Pope fragt: Nun, ihr Zicklein, nun ihr Lieben, Seid ihr satt an Speis und Trank? Seid ihr auf den Hügeln gewesen. Habt ihr fettes Gras gefressen. Habt ihr unter der Birke geruht? Die Ziegen antworten: Wir sind satt an Speis und Trank: Wir sind auf den Hügeln gewesen, Haben fettes Gras gefressen, Haben zarte Blätter gefunden, Haben unter der Birke geruht! Die eine Ziege sagt:
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Ich bin nicht satt an Speis und Trank: Bin nicht auf den Hügeln gewesen, Hab nicht fettes Gras gefressen, Hab nicht zarte Blätter gefunden, Hab nicht unter der Birke geruht! Da erschlug er den Sohn. Er hatte auch eine Tochter, die schickte er am dritten Tag, die Ziegen zu weiden. Die Tochter trieb aus und ließ die Ziegen den ganzen Tag auf den Hügeln, in den Tälern, in den dunklen Wäldern weiden. Dann war es an der Zeit zum Heimtreiben. Die Ziegen kommen zum Tor, und der Pope fragt: Nun, ihr Zicklein, nun ihr Lieben, Seid ihr satt an Speis und Trank? Seid ihr auf den Hügeln gewesen, Habt ihr fettes Gras gefressen, Habt ihr unter der Birke geruht? Die Ziegen antworten: Wir sind satt an Speis und Trank: Wir sind auf den Hügeln gewesen, Haben fettes Gras gefressen, Haben zarte Blätter gefunden, Haben unter der Birke geruht. Die eine Ziege aber sagt: Ich bin nicht satt an Speis und Trank: Bin nicht auf den Hügeln gewesen, 60
Hab nicht fettes Gras gefressen, Hab nicht zarte Blätter gefunden, Hab nicht unter der Birke geruht! Der Pope erschlug auch die Tochter. Am vierten Tag schickt er seine Popin. Die ließ die Ziegen den ganzen Tag auf den Hügeln, in den Tälern, in den dunklen Wäldern weiden. Dann war es an der Zeit zum Heimtreiben. Die Ziegen kommen zum Tor, und der Pope fragt: Nun ihr Zicklein, nun ihr Lieben, Seid ihr satt an Speis und Trank? Seid ihr auf den Hügeln gewesen, Habt ihr fettes Gras gefressen, Habt ihr unter der Birke geruht? Die Ziegen antworten: Wir sind satt an Speis und Trank: Wir sind auf den Hügeln gewesen, Haben fettes Gras gefressen, Haben zarte Blätter gefunden, Haben unter der Birke geruht! Die eine Ziege aber sagt: Ich bin nicht satt an Speis und Trank: Bin nicht auf den Hügeln gewesen, Hab nicht fettes Gras gefressen, Hab nicht zarte Blätter gefunden, Hab nicht unter der Birke geruht! 61
Da war es auch um die Popin geschehen. Am fünften Tag trieb der Pope selber aus. Ließ die Ziegen den ganzen Tag auf den Hügeln, in den Tälern, in den dunklen Wäldern weiden, trat dann vor sie und fragt: Nun, ihr Zicklein, nun ihr Lieben, Seid ihr satt an Speis und Trank? Seid ihr auf den Hügeln gewesen, Habt ihr fettes Gras gefressen. Habt ihr unter der Birke geruht? Die Ziegen antworten: Wir sind satt an Speis und Trank: Wir sind auf den Hügeln gewesen, Haben fettes Gras gefressen, Haben zarte Blätter gefunden, Haben unter der Birke geruht! Die eine Ziege aber beharrt eigensinnig: Ich bin nicht satt an Speis und Trank: Bin nicht auf den Hügeln gewesen, Hab nicht fettes Gras gefressen, Hab nicht zarte Blätter gefunden, Hab nicht unter der Birke geruht! Der Pope packte die Ziege und zog ihr das halbe Fell ab. Sie riß sich los und rannte aufs Feld, zur Zieselmaus ins Loch. Die Zieselmaus erschrak, 62
floh aus ihrem Loch und brachte die Nacht im Freien zu. Da sitzt sie nun und jammert. Kommt der schiefäugige Hase: „Warum jammerst du, Zieselmaus?“ „Es ist jemand in meinem Loch!“ Tritt der Hase ans Loch: „Wer ist in der Zieselmaus Loch?“ „Ich, die Ziege Naseweis, voller Wunden, halb geschunden, Schielaug, wart, ich komm’ heraus, reift dein andres Aug dir aus!“ Der Hase verschwand – hast du nicht gesehen – im Wald. Kommt der Wolf: „Warum jammerst du, Zieselmaus?“ „Es ist jemand in meinem Loch!“ Tritt der Wolf ans Loch: „Wer ist in der Zieselmaus Loch?“ „Ich, die Ziege Naseweis, voller Wunden, halb geschunden, warte nur, ich komm’ heraus, reiße dir die Augen aus!“ Der Wolf verschwand im Wald: er hatte Angst. Kommt der Bär: „Warum jammerst du, Zieselmaus?“ „Es ist jemand in meinem Loch!“ Der Bär tritt ans Loch und fragt: „Wer ist dort?“ „Ich, die Ziege Naseweis, voller Wunden, halb geschunden; warte nur, ich komm’ heraus, reiße dir die Augen aus!“ Der Bär erschrak und floh in den Wald. Kommt der Igel gekrochen: „Warum jammerst du, Zieselmaus?“ „Weil jemand in meinem Loch ist!“ 63
Kroch der Igel zum Loch und fragt: „Wer ist dort?“ „Ich, die Ziege Naseweis, voller Wunden, halb geschunden; warte nur, ich komm’ heraus, reiße dir die Augen aus!“ Der Igel aber rollte sich wie ein Stein zusammen, sprang kopfüber ins Loch hinein und fiel ihr gerade mit den Stacheln in die nackte Seite! Die Ziege kletterte aus dem Loch und floh in den Wald.
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16 Das Schweinchen Es lebten einmal ein Kater, ein Sperling, dazu als drittes ein Schweinchen und schließlich noch ein Hahn. Die zogen alle nach Holz in den Wald, den Hahn aber ließen sie zu Hause: „Koch du den Brei, wir werden Holz schlagen!“ Der Hahn kochte den Brei, dann schläferte ihn, und er begann die Löffel zu zählen. „Das ist des Sperlings Löffel, das ist des Katers Löffel, das ist des Schweinchens Löffel, das ist mein Löffel, Kikeriki, rührt meinen Löffel nicht an!“ Das hörte die Füchsin, schlich sich heran und sagte: Hahn, stolzer Hahn, Golden ist dein Kamm, Dein Köpfchen, wie schimmert’s, Dein Hälschen, wie flimmert’s, Schau einmal zum Fenster ‘raus, Hochzeitsgäste sind vorm Haus, Haben Erbsen gestreut, Niemand liest sie auf! (Hochzeitsgäste fuhren auch wirklich gerade Erbsen vorbei!) Der Hahn sah zum Fenster hinaus, die Füchsin packte ihn und schleppte ihn fort. Da schrie der Hahn: „Kater, Sperling und Schweinchen als drittes, die Füchsin hat mich 65
fortgeschleppt, hinter die dunklen Wälder, hinter die hohen Berge, hinter das tiefe Moor!“ Sie hörten’s und jagten der Füchsin nach. Der Kater rennt, daß die Erde erzittert, der Sperling fliegt, daß die Bäume rauschen, und das Schweinchen springt, reißt die Augen auf, setzt über alle Hindernisse und rennt nieder, was ihm in den Weg kommt – uch, wie ein Bär. Sie holten die Füchsin ein und entrissen ihr den Hahn. Zu Hause angekommen, machten sie sich wieder auf den Weg nach Holz und sagten beim Weggehen: „Wir gehen Holz holen, koche du den Brei, aber hüte dich, das Fenster aufzumachen, sonst schleppt dich die Füchsin fort!“ Der Hahn kocht wieder Brei, sitzt dann da, langweilt sich, wird schläfrig und beginnt wieder, die Löffel zu zählen: „Das ist des Sperlings Löffel, das ist des Katers Löffel, das ist des Schweinchens und das ist mein Löffel. Kikeriki, rührt meinen Löffel nicht an!“ Das hörte die Füchsin, schlich sich ans Haus und sagte: Hahn, stolzer Hahn, Golden ist dein Kamm, Dein Köpfchen, wie schimmert’s, Dein Hälschen, wie flimmert’s, Schau einmal zum Fenster ‘raus, Hochzeitsgäste sind vorm Haus, Haben Erbsen gestreut. Niemand liest sie auf! Der Hahn sah zum Fenster hinaus, die Füchsin packte ihn und schleppte ihn fort. Da schrie der 66
Hahn: „Kater, Sperling und Schweinchen als drittes, die Füchsin hat mich fortgeschleppt, hinter die dunklen Wälder, hinter die hohen Berge, hinter das tiefe Moor!“ Sie hörten’s und jagten der Füchsin nach. Der Kater rennt, daß die Erde erzittert, der Sperling fliegt, daß die Bäume rauschen, und das Schweinchen springt, reißt die Augen auf, setzt über alle Hindernisse und rennt nieder, was ihm in den Weg kommt. Sie rannten und rannten, konnten die Füchsin aber nicht einholen: zu weit hatte sie den Hahn schon geschleppt. So liefen sie wieder heim. „Wie können wir nur den Hahn befreien?“ Da kam ihnen ein Gedanke: Sie machten sich eine Zither und zogen aus, den Hahn zu befreien. Sie zogen also mit ihrer Zither los, kamen an der Füchsin Haus und begannen zu spielen und dazu zu singen: Zither, kling, dieweil wir singen, Laß die goldnen Saiten klingen. Ist die Füchsin noch zu Haus? Ging die Füchsin noch nicht aus? Mit ihren Kinderchen, den kleinen. Mit den Kinderchen, den feinen? Mit dem ersten, dem Beißer, Mit dem zweiten, dem Greiner, Mit dem dritten, dem Zerschlag-den-Topf, Mit dem vierten, dem Reich-mir-den-Trog? Das hörten die Töchter der Füchsin und sagten: „Mutter, dort spielen sie auf der Zither, wir wollen gehen und tanzen!“ – „Geht nur, tanzt ein wenig!“ 67
Da gingen sie eine nach der anderen hinaus. Die erste kam zum Tanze – sie rissen ihr den Kopf ab und verschwanden wieder hinter den Büschen. Dann begannen sie wieder: „Zither, kling, dieweil wir singen, laß die goldnen Saiten klingen!“ Alle Töchter kamen nacheinander heraus, allen rissen sie die Köpfe ab. Die Füchsin wartet, aber ihre Töchter kommen nicht zurück. „Nun“, denkt sie, „ich will doch selbst auch ein wenig tanzen: sie spielen gar zu schön!“ Kaum war sie aus dem Tor heraus, rissen sie ihr den Kopf ab und gingen ins Haus hinein. Der Hahn saß mit festgebundenen Flügeln auf der Bank und ließ den Kopf hängen. Da freuten sie sich, banden ihn los und zogen heim. Von nun an lebten sie herrlich und in Freuden und wurden reiche Leute.
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17 Der Pfannkuchen Es lebten einmal ein Mann und eine Frau. Der Mann bittet: „Frau, back mir doch einen Pfannkuchen!“ – „Woraus soll ich ihn denn backen? Es ist kein Mehl im Hause.“ – „Ach, Frau, was redest du da! Kratz ein wenig im Faß, fege ein wenig im Schrank: gewiß wird sich etwas Mehl finden!“ Die Frau nahm eine Gänsefeder, kratzte ein wenig im Faß, fegte ein wenig im Schrank, und so kam an die zwei Hände voll Mehl zusammen. Sie rührte den Teig mit dicker Milch an, buk den Pfannkuchen in Öl und stellte ihn zum Abkühlen aufs Fensterbrett. Der Pfannkuchen lag dort und lag, und plötzlich rollte er herunter – vom Fenster auf die Bank, von der Bank auf den Fußboden, vom Fußboden zur Tür, sprang über die Schwelle auf den Flur, vom Flur auf die Treppe, von der Treppe auf den Hof, vom Hof zum Tor und so weiter und immer weiter. Der Pfannkuchen rollt die Straße entlang, da begegnet ihm der Hase: „Pfannkuchen, Pfannkuchen, ich will dich fressen!“ – „Friß mich nicht, Schielauge, ich will dir ein Liedchen singen“, sagte der Pfannkuchen und begann: Bin aus dem Faß zusammengekratzt, 69
Bin aus dem Schrank zusammengefegt, Bin mit dicker Milch gemischt Und in fettem Öl gebacken, Dann auf dem Fenster abgekühlt. Bin dem Väterchen entlaufen, Bin dem Mütterchen entlaufen, Und du, Hase, kriegst nimmer mich! Damit rollte er weiter; und der Hase hatte das Nachsehen. Der Pfannkuchen rollt, da begegnet ihm der Wolf: „Pfannkuchen, Pfannkuchen, ich will dich fressen!“ – „Friß mich nicht, grauer Wolf, ich will dir ein Liedchen singen l“ Bin aus dem Faß zusammengekratzt, Bin aus dem Schrank zusammengefegt, Bin mit dicker Milch gemischt Und in fettem Öl gebacken, Dann auf dem Fenster abgekühlt. Bin dem Väterchen entlaufen, Bin dem Mütterchen entlaufen, Bin dem Hasen auch entlaufen, Und du, Wolf, kriegst nimmer mich! Damit rollte er weiter; und der Wolf hatte das Nachsehen. Der Pfannkuchen rollt, da begegnet ihm der Bär: „Pfannkuchen, Pfannkuchen, ich will dich fressen!“ – „Wie willst du, Krummbein, mich fressen!“
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Bin aus dem Faß zusammengekratzt, Bin aus dem Schrank zusammengefegt, Bin mit dicker Milch gemischt Und in fettem Öl gebacken, Dann auf dem Fenster abgekühlt. Bin dem Väterchen entlaufen, Bin dem Mütterchen entlaufen, Bin dem Hasen auch entlaufen, Bin dem grauen Wolf entlaufen, Und du, Bär, kriegst nimmer mich! Damit rollte er wieder davon, und der Bär hatte das Nachsehen. Der Pfannkuchen rollt und rollt, da begegnet ihm der Fuchs: „Guten Tag, Pfannkuchen! Nein, was für ein schmucker Bursche du bist!“ Der Pfannkuchen aber sang: Bin aus dem Faß zusammengekratzt, Bin aus dem Schrank zusammengefegt. Bin mit dicker Milch gemischt Und in fettem Öl gebacken, Dann auf dem Fenster abgekühlt. Bin dem Väterchen entlaufen, Bin dem Mütterchen entlaufen, Bin dem Hasen auch entlaufen, Bin dem grauen Wolf entlaufen, Bin dem Bär sogar entlaufen, Und du, Fuchs, kriegst nimmer mich! „Was für ein wundervolles Lied!“ sagte der Fuchs. „Ich bin freilich alt geworden, Pfannku71
chen, und höre schlecht. Sei doch so gut, setz dich auf meine Nase und sing es mir noch einmal lauter vor!“ Der Pfannkuchen sprang dem Fuchs auf die Nase und sang das gleiche Lied. „Danke schön, Pfannkuchen! Ein wundervolles Lied, ich möchte es gar zu gern noch einmal hören. Sei doch so gut, setz dich auf meine Zunge und sing es mir ein letztes Mal vor.“ Sprach’s und steckte seine Zunge heraus. Der dumme Pfannkuchen sprang ihm auf die Zunge, der Fuchs schnappte zu und verspeiste ihn.
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Zaubermärchen 18 Der Kater mit dem Goldschwanz Es lebten einmal ein Mann und eine Frau, die hatten drei Töchter. In jener Gegend aber hauste im Walde hinter dem Berge ein Bär, und dieser Bär hatte einen Kater mit goldenem Schwanz. Einmal sagte der Bär: „Kater Goldschwanz, verschaff mir eine Frau.“ Der Kater mit dem goldenen Schwanz machte sich auf den Weg, eine Braut zu suchen. Er streicht im Garten umher, schleicht über die Gemüsebeete, mitten durch den Kohl. Da erblickt ihn das eine Mädchen durchs Fenster. „Vater, ein Kater mit goldenem Schwanz läuft über die Beete!“ – „Lauf und fang ihn! Lauf und fang ihn!“ Sie lief hinaus, ihn zu fangen. Der Kater läuft übers Beet – das Mädchen läuft übers Beet, der Kater läuft die Straße entlang – das Mädchen läuft die Straße entlang, der Kater springt über den Graben – das Mädchen springt über den Graben, der Kater schlüpft ins Haus – das Mädchen schlüpft ins Haus. Da liegt der Bär auf dem Bett. „Eine allerliebste Braut hast du mir gebracht. Jetzt werden wir ein Leben führen! Du, liebes Weib, sollst mich füttern, sollst mich tränken, ich aber will dir Holz bringen. Hier nimm die Schlüssel: in diese Kammer sollst du gehen, in diese Kammer sollst du gehen, in diese jedoch darfst du nicht hinein, 73
sonst muß ich dich töten.“ Da ging sie in die eine Kammer, dann in die andere; in der ersten war Brot, in der zweiten Fleisch, Honig und Speck. Gar sehr verlangte es sie, auch in die dritte Kammer zu gehen und zu sehen, was der Bär dort zu stehen habe. Ging hinein und sieht: Dort stehen Fässer. Sie nahm vom ersten Faß den Deckel und probierte mit dem Finger, was darin wäre. Wie sie den Finger ansah, war er golden geworden. Gold war im Faß, goldenes Wasser. Da erschrak das Mädchen, band ein Läppchen um den Finger, setzt sich und näht. Der Bär kam heim, sah den verbundenen Finger und fragt: „Liebes Weib, warum hast du deinen Finger verbunden?“ – „Hab mich geschnitten, hab Nudeln gemacht und mich geschnitten!“ – „Das will ich mir einmal ansehen!“ – „Nein, es tut weh, nein, es tut weh!“ – „Ei was, ich will’s sehen!“ Er zog den Verband herunter und sah den goldenen Finger. „Ach, du bist in die dritte Kammer gegangen!“ Sprach’s, riß ihr den Kopf ab und warf sie in die dritte Kammer hinter ein Faß. Wieder war er allein. Da sagt er: „Kater Goldschwanz, verschaff mir eine Frau! Kater Goldschwanz, verschaff mir eine Frau!“ – „Bring du deine Bräute nicht um! Ich gehe nicht!“ – „Kater Goldschwanz, verschaff mir eine Frau!“ – „Nun gut.“ Der Kater streicht durch die Kohlbeete, schleicht überall umher. Da erblickt ihn die zweite Tochter und ruft: „Vater, Mutter, der Kater mit dem goldenen Schwanz!“ – „Lauf und fang ihn! Lauf und fang ihn!“ Sie lief hinaus, ihn zu fangen. Der Kater läuft übers Beet – das Mädchen läuft 74
übers Beet, der Kater läuft die Straße entlang – das Mädchen läuft die Straße entlang, der Kater springt über den Graben – das Mädchen springt über den Graben, der Kater schlüpft ins Haus – das Mädchen schlüpft ins Haus. Da liegt der Bär auf dem Bett. „Eine allerliebste Braut hast du mir gebracht. Jetzt werden wir ein Leben führen! Du, liebes Weib, sollst mich füttern, sollst mich tränken, ich aber will dir Holz bringen. Hier nimm die Schlüssel: in diese Kammer sollst du gehen, in diese Kammer sollst du gehen, in diese jedoch darfst du nicht hinein, sonst muß ich dich töten!“ Da ging sie in die eine Kammer, dann in die andere; in der ersten war Brot, in der zweiten Fleisch, Honig und Speck. Gar sehr verlangte es sie, auch in die dritte Kammer zu gehen und zu sehen, was der Bär dort zu stehen habe. Geht hinein und sieht: Dort stehen Fässer. Sie nahm vom ersten Faß den Deckel und probierte mit dem Finger, was darin wäre. Wie sie den Finger ansah, war er golden geworden. Gold war im Faß, goldenes Wasser. Da erschrak das Mädchen, band ein Läppchen um den Finger, setzt sich und näht. Der Bär kommt heim, sieht den verbundenen Finger und fragt: „Liebes Weib, warum hast du deinen Finger verbunden?“ – „Hab mich geschnitten, hab Nudeln gemacht und mich geschnitten!“ – „Das will ich mir einmal ansehen!“ – „Nein, es tut weh, nein, es tut weh!“ – „Ei was, ich will’s sehen!“ Er zog den Verband herunter und sah den goldenen Finger. „Ach, du bist in die dritte Kammer gegangen!“
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Sprach’s, riß ihr den Kopf ab und warf sie in die dritte Kammer hinter ein Faß. Da war er wieder Witwer und bekam Langeweile. „Kater Goldschwanz, verschaff mir eine Frau! Kater Goldschwanz, verschaff mir eine Frau!“ „Ich gehe nicht, warum bringst du sie immer um!“ – „Ich will’s nicht wieder tun, will sie verschonen.“ Nun, er ging. Der Kater strich durch die Beete, mitten durch die Möhren hindurch. Da erblickte ihn die dritte Tochter und ruft: „Vater, Mutter, der Kater mit dem goldenen Schwanz!“ – „Lauf und fang ihn! Lauf und fang ihn!“ Sie lief hinaus, ihn zu fangen. Der Kater läuft über die Beete – das Mädchen läuft über die Beete, der Kater läuft die Straße entlang – das Mädchen läuft die Straße entlang, der Kater läuft durch die Akkerfurche – das Mädchen läuft durch die Ackerfurche, der Kater springt über den Graben – das Mädchen springt über den Graben, der Kater schlüpft ins Haus – das Mädchen schlüpft ins Haus. Da liegt der Bär auf dem Bett. „Eine allerliebste Braut hast du mir gebracht. Du, liebes Weib, mache den Ofen an und koche; du sollst mich füttern, ich aber will Holz bringen. Hier sind die Schlüssel: in diese Kammer magst du gehen, in diese Kammer magst du gehen, in diese jedoch darfst du nicht hinein, sonst muß ich dich töten.“ Damit ging der Bär nach Holz. Sie ging in die erste Kammer – dort fand sie Brot und Mehl. In der zweiten war Fleisch, Speck und Butter. Nun kam sie das Verlangen an, in die dritte Kammer zu gehen, was der Bär dort zu liegen habe. Sie schloß 76
die Tür auf und sieht, dort stehen Fässer. Sie nahm einen Stab und tauchte ihn in das eine Faß – da war der Stab ganz mit Gold überzogen. Sie tauchte ihn in ein anderes Faß – da war er silbern geworden, in das dritte – da bewegte sich der Stab in ihrer Hand. Sie sah hinter das Faß: „Weh, hier liegen meine Schwestern erschlagen!“ Wie sie den Stab ins vierte Faß tauchte, wurde er wieder starr und unbeweglich: Das Wasser des Todes war darin. Da nahm sie die eine Schwester, setzte ihr den Kopf auf den Hals und besprengte sie mit dem Wasser des Todes; der Kopf wuchs an, doch die Schwester blieb tot; sie nahm vom Wasser des Lebens, und die Schwester wurde wieder lebendig. „Was auch draus werden mag, ich will dich erretten. Ich werde Pfannkuchen backen, dich in den Korb setzen, und der Bär soll dich in unseren Hof werfen: Ich werde sagen, es ist für Mutters Leichenschmaus.“ Wie der Bär nach Hause kam, ist sie beim Pfannkuchenbacken. „Ich hab doch ein allerliebstes Weibchen! Wie hast du dir die Zeit vertrieben?“ – „Sieh nur: überall bin ich gewesen, hab alles gefunden.“ – „In die dritte Kammer bist du nicht gegangen?“ – „Nein, weiß nicht, was darin ist.“ – „Dann gib mir zu essen!“ – „Bring doch einen Korb Pfannkuchen zu den Meinen, für Mutters Leichenschmaus! Bring ihn hin und wirf ihn in den Garten!“ – „Gut, ich will’s tun.“ Sie legte die Schwester in den Korb, auf die Schwester aber Pfannkuchen und Piroggen. „Nun geh und bring’s 77
als Liebesgabe! Du siehst, der Korb ist voll. Daß du aber nichts davon ißt! Ich steige aufs Dach und passe auf!“ Der Bär lud die Kuchen auf seinen Rücken. Der Korb war aber sehr schwer, darum sagte er nach einer Weile: „Will mich auf einen Baumstumpf setzen, mich an einer Pirogge letzen.“ Aber die Schwester im Korb sprach: „Ich seh’s, ich seh’s. Du darfst dich nicht auf den Baumstumpf setzen, dich nicht an einer Pirogge letzen!“ – „Ei, was hat sie für scharfe Augen; sieht mich noch immer!“ Er war aber schon weit gegangen. Als er an den Rand des Gehöfts kam, warf er den Korb mit den Piroggen hinein. Die Hunde jagten ihm nach, er aber entfloh in den Wald. Das Mädchen sprang unterdes heraus und lief heim. Der Bär kam nach Hause, da ist die Frau wieder bei der Arbeit: „Mein Vater ist gestorben, wir müssen etwas zum Leichenschmaus schikken!“ – „Wenn du’s willst, bring ich’s hin.“ Sie buk wieder Piroggen. „Nun geh, Michail Michailowitsch; doch darfst du dich nicht auf ’nen Baumstumpf setzen, dich nicht an einer Pirogge letzen. Ich werde auf dem Dache stehen, werde alles sehen!“ Der Bär hatte schon einen langen Weg hinter sich gebracht, da wurde er müde. „Will mich auf einen Baumstumpf setzen, mich an einer Pirogge letzen.“ – „Du darfst dich nicht auf den Baumstumpf setzen, dich nicht an einer Pirogge letzen!“ – „Was für scharfe Augen sie doch hat: sieht auch aus der Ferne alles.“ Als er an den Rand des Gehöfts kam, warf er den Korb in den Garten, daß die Kuchen nach allen Seiten flogen. 78
Das Mädchen sprang heraus und lief heim, die Hunde aber jagten dem Bären nach. Am dritten Tag sagt sie: „Mein Bruder ist gestorben, wir müßten etwas zum Leichenschmaus schicken!“ – „Wie du meinst; back Pfannkuchen und Piroggen, ich will’s hintragen.“ Sie hatten aber einen gelehrten Hahn, zu dem sagt sie: „Deck mich mit Pfannkuchen und Piroggen zu, ich will dir auch schöne Körner geben.“ Dann nahm sie einen Mörser, hüllte ihn in ihr Kleid und stellte ihn aufs Dach. Der Hahn nun deckte sie mit Pfannkuchen und Piroggen zu (sie hatte aber auch vom Golde mitgenommen). Der Bär nahm den Korb und machte sich auf den Weg. Lief und lief und wurde müde: „Will mich auf einen Baumstumpf setzen, mich an einer Pirogge letzen.“ Da sprach sie: „Ich werde dir, ich werde dir; du darfst dich nicht auf den Baumstumpf setzen, dich nicht an einer Pirogge letzen!“ – „Sie sieht’s, dabei bin ich doch schon weit.“ Er kam an den Rand des Gehöfts, warf den Korb hinein, und die Hunde jagten ihm nach. Wie er nach Hause kam, steht sie auf dem Dach, nämlich der Mörser. „Was stehst du noch auf dem Dach, liebes Weib? Die Piroggen habe ich schon fortgebracht!“ Sie steht und sagt kein Wort. „So komm doch herunter, sage ich! Komm herunter, oder es setzt Schläge!“ Sie steht und sagt kein Wort. Er wurde wütend, nahm eine Stange und stieß sie. Sie rollte das Dach herunter, rums, rums, immer weiter. Er hielt die Pranken bereit, sie aufzufangen: „Ach, meine Schöne! Sollst dich 79
nicht zu Tode stürzen!“ Der Mörser flog in hohem Bogen vom Dach herunter, dem Bären gerade auf die Schnauze, mitten auf die Nase. Und machte mit dem Bären und dem Märchen ein Ende.
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19 Das Schneekind Es lebten einmal ein alter Mann und eine alte Frau, die hatten weder Sohn noch Tochter, und ihre Fenster hatten sie mit Brettern zugenagelt. Einmal liegen sie auf dem Ofen, da sagt der Mann zu seiner Frau: „Mir ist ein Gedanke gekommen; geh und bringe etwas Schnee!“ Die Alte brachte in einem Sieb Schnee. Den Schnee kneteten und kneteten sie, bis sie ein Schneekind herausgeknetet hatten. Das stellten sie in ihren Ofen. Es wurde trocken und begann zu wachsen, nicht von einem Tag zum andern, sondern von einer Stunde zur andern. So schnell wuchs es heran, daß es zum Frühjahr schon eine Jungfrau war. Die Leute im Dorf erfuhren, daß der Alte ein Schneekind hatte, und kamen gelaufen: „Laß das Schneekind mit in den Wald zum Beerensammeln!“ Sie baten wohl an die zwanzig Mal. Schließlich erlaubte es der Alte: „Es sei, geht nur!“ Da machten sie sich auf den Weg. Die Alte hatte dem Schneekind ein Schüsselchen mitgegeben und ein Stück Brot. Schneekind hatte das Schüsselchen genommen und auch das Stück Brot. Die Mädchen essen, Schneekind aber pflückt indessen Beeren und legt sie ins Schüsselchen. Wie die Mädchen hinschauen, ist Schneekinds 81
Schüsselchen schon voll, sie selbst aber haben noch gar nichts gepflückt. Da wurden sie zornig und schlugen das Schneekind tot. Schlugen’s tot, das Schüsselchen aber zerbrachen sie, die Beeren teilten sie, und das Brot aßen sie. Schneekinds Leib vergruben sie und steckten noch Weidenruten in die Erde darüber. Dann gingen sie heim. „Und wo ist unser Schneekind?“ – „Wir wissen’s nicht, haben es verloren!“ Da weinten sie bitterlich, aber das half auch nichts. Einmal fuhren Kaufleute mit ihren Waren denselben Weg, die hatten einen kleinen Sohn. Der sah, wie unter einem Strauch Rohr für eine Pfeife wuchs. „Vater, schneid mir eine Pfeife, ich will darauf spielen!“ Sie schnitten ihm eine Pfeife, und er begann darauf zu spielen. Die Pfeife aber sang: Lieber Knabe, leise, leise, Spiel und hör die Trauerweise. Zwei Schwestern haben mich erschlagen, Haben mich unter dem Strauch begraben, Haben’s Schüsselchen zerbrochen, Haben alle Beeren genommen, Haben zum Totenmahl ‘s Brot gegessen. Haben mich noch mit Ruten besteckt. Sie fuhren weiter, und der Knabe spielt ohne Unterlaß. Als sie zum Dorf kamen, wollten sie ausruhen und fuhren gerade zu jenem Alten. Der fütterte die Pferde und stellte den Samowar auf den Tisch. Der Knabe aber saß draußen auf den
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Stufen, holte sein Pfeifchen hervor und spielte das Lied: Lieber Knabe, leise, leise. Spiel und hör die Trauerweise. Zwei Schwestern haben mich erschlagen. Haben mich unter dem Strauch begraben. Haben ‘s Schüsselchen zerbrochen. Haben alle Beeren genommen. Haben zum Totenmahl ‘s Brot gegessen. Haben mich noch mit Ruten besteckt. Das hörte die Alte: „Ach, wie klingt das schön. Laß mich auch einmal versuchen.“ Nahm’s, das Pfeifchen aber sang: Mütterchen, ach leise, leise. Spiel und hör die Trauerweise. Zwei Schwestern haben mich erschlagen. Haben mich unter dem Strauch begraben. Haben ‘s Schüsselchen zerbrochen. Haben alle Beeren genommen, Haben zum Totenmahl ‘s Brot gegessen, Haben mich noch mit Ruten besteckt. Als die Alte das gehört hatte, erblaßte sie: „Was ist das? Alter, spiel du einmal!“ Der Alte nahm das Pfeifchen, das aber sang: Väterchen, ach leise, leise. Spiel und hör die Trauerweise. Zwei Schwestern haben mich erschlagen, 83
Haben Haben Haben Haben Haben
mich unter dem Strauch begraben, ‘s Schüsselchen zerbrochen, alle Beeren genommen, zum Totenmahl ‘s Brot gegessen, mich noch mit Ruten besteckt.
Viele Nachbarn waren zusammengelaufen, alle hörten das Lied, und auch jene Mädchen waren herbeigekommen. Denen gibt die Alte das Pfeifchen. Das eine Mädchen aber, kaum daß es nach dem Pfeifchen greift, sinkt zu Boden: „Ich will nicht spielen!“ Das Pfeifchen zerbrach, und im gleichen Augenblick saß das Schneekind dort. Da freuten sie sich sehr, ich weiß gar nicht, was sie alles vor Freude angestellt haben. Die Kaufleute aber tranken ihren Tee und fuhren dann weiter zum Markt.
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20 Die habgierige Alte Es lebten einst ein alter Mann und eine alte Frau. Der Mann ging einmal in den Wald, um Holz zu schlagen. Er suchte sich einen alten Baum aus, hob die Axt und schlug sie in den Stamm. Da sagt der Baum zu ihm: „Fälle mich nicht, Bauer! Was du dir wünschst, will ich dir erfüllen!“ – „Dann mach, daß ich reich werde!“ – „Es sei; geh nur nach Hause, du wirst alles in Hülle und Fülle haben.“ Der Alte kommt nach Hause – da findet er ein neues Haus vor, vom Keller bis zum Dach voll schöner Dinge, Truhen und Kästen bis zum Rande mit Geld gefüllt, Korn, daß es für zehn und abermals zehn Jahre reicht, und die Kühe, Pferde und Schafe hätte man auch in drei Tagen nicht zählen können. „Mann, woher kommt das alles?“ fragt die Alte. „Ich habe einen Baum gefunden – was immer du begehrst, das tut er.“ So lebten sie einen Monat, da genügte der Alten das reiche Leben nicht mehr. Sie sagt zu ihrem Mann: „Wir sind jetzt zwar reich, aber was nützt das, wenn uns die Leute keine Ehrerbietung erweisen! Wenn’s dem Gutsvogt gefällt, kann er dich und mich aufs Feld schicken; und ist er nicht bei Laune, dann setzt es Stockprügel. Geh zum Baum und bitte, daß du Gutsvogt wirst!“ Der Alte nahm seine Axt, ging zum Baum und will sie dicht 85
über der Wurzel in den Stamm schlagen. „Was willst du?“ fragt der Baum. „Mach, daß ich Gutsvogt bin!“ – „Gut, geh mit Gott!“ Er kam nach Hause, da warten schon lange die Soldaten auf ihn: „Wo treibst du dich herum, alter Satan?“ schrien sie ihm entgegen. „Beschaff uns schleunigst Quartier; daß es aber ja ein gutes ist! Los, los, rühr dich!“ Und dabei schlugen sie ihm ihre Säbel über den Rücken, daß es eine Art hatte. Die Alte sieht, daß auch einem Gutsvogt nicht immer Achtung erwiesen wird, und sie sagt zu ihrem Mann: „Was bringt’s für Gewinn, des Gutsvogts Weib zu sein! Heute haben dich die Soldaten verprügelt, was mag erst geschehen, wenn der Gutsherr kommt: Was ihm beliebt, das wird er auch tun. Geh zum Baum und bitte, er soll dich zum Herrn machen und mich zur Herrin!“ Der Alte nahm seine Axt, ging zum Baum und will sie wieder in den Stamm treiben. Der Baum fragt: „Was willst du, Alter?“ – „Mach mich zum Herrn und meine Alte zur Herrin!“ – „Gut, geh mit Gott!“ Die Alte lebte nun als Herrin, da verlangte es sie nach mehr, und sie sagt zu ihrem Mann: „Was bringt’s für Gewinn, daß ich die Herrin bin! Ja, wenn du Oberst wärst und ich Frau Obristin, das war ein anderes Leben, alle würden auf uns neidisch sein.“ Sie schickt den Alten wieder zum Baum. Er nahm seine Axt, kam hin und will den Baum fällen. Fragt ihn der Baum: „Was brauchst du?“ – „Mach mich zum Oberst und meine Alte zur Obristin!“ – „Gut, geh mit Gott!“ Der Alte kam nach 86
Hause, da machten sie ihn zum Oberst. Wie eine Zeit vergangen ist, sagt die Alte zu ihm: „Was ist das schon – Oberst! Gefällt’s dem General, steckt er dich in Arrest. Geh zum Baum und bitte, er soll dich zum General machen und mich zur Generalin!“ Der Alte ging zum Baum und nimmt die Axt zur Hand. „Was brauchst du?“ fragt der Baum. „Mach mich zum General und meine Alte zur Generalin!“ – „Gut, geh mit Gott!“ Der Alte kam nach Hause, da beförderten sie ihn zum General. Wieder verging eine Zeit, und die Alte war es überdrüssig. Generalin zu sein. Sie sagt zu ihrem Mann: „Was ist das schon – General! Gefällt’s dem Zaren, schickt er dich nach Sibirien. Geh zum Baum und bitte, er soll dich zum Zaren machen und mich zur Zarin!“ Der Alte ging zum Baum und nimmt die Axt zur Hand. „Was brauchst du?“ fragt der Baum. „Mach mich zum Zaren und meine Alte zur Zarin!“ – „Gut, geh mit Gott!“ Wie der Alte nach Hause kam, sind schon die Sendboten da, ihn zu holen: „Der Zar ist gestorben, du bist an seine Stelle gewählt worden!“ Nur kurze Zeit sollte der Alte mit seiner Frau als Zar herrschen: Die Alte dünkte es zu wenig, Zarin zu sein, sie rief ihren Mann und sagt: „Was ist das schon – Zar! Gefällt’s Gott, schickt er den Tod, und sie begraben dich in der kalten Erde. Geh zum Baum und bitte, er soll uns zu Göttern machen!“ Der Alte ging zum Baum. Wie der diese aberwitzigen Worte hörte, rauschte er mit seinen Blättern und gab dem Alten zur Antwort: „Sei du ein Bär und deine Frau die Bärin!“ Im gleichen Au87
genblick wurde der Alte in einen Bären verwandelt, seine Alte in eine Bärin, und beide liefen in den Wald.
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21 Das bucklige Pferdchen Es lebte einmal ein Mann mit seinen Söhnen am Ende der Welt. Es waren drei Söhne: Anton, der älteste, Andron, der zweite, und Iwan, der dritte, der war gerade noch zum Pflügen zu gebrauchen. Er schlief viel, aß viel und kannte keine Sorgen. Der Vater hatte eine Deßjatine Weizen gesät. Der Weizen war gut geraten. Aber irgend jemand trat ihn immer wieder nieder. Aß auch ein wenig davon, vor allem aber trat er ihn nieder. Der Vater teilte die Söhne zum Wachdienst ein, in der Nacht den Weizen zu bewachen. Die erste Nacht zog Anton auf Wache, der älteste der Brüder. Wie er früh am Morgen heimkommt, fragt der Vater: „Wer war im Weizen?“ Der Sohn antwortete: „Habe niemanden gesehen!“ Es hatte aber dieser Wachtposten auf dem Feldrain geschlafen und deswegen nichts gesehen. In der zweiten Nacht ging Andron, der mittlere Sohn. Andron bezog die Wache bei der jungen Nachbarin, den Weizen aber ließ er Weizen sein. Wie Andron früh am Morgen heimkommt, fragt der Vater: „Wie war’s im Weizen?“ Der Sohn antwortete: „Habe niemanden gesehen, Vater!“ 89
Dabei hatte er bei der jungen Nachbarin gewacht. Die dritte Nacht kommt heran, da schickt der Vater seinen jüngsten Sohn Iwan. Iwan sträubt sich und will nicht gehen. Der Vater verspricht ihm: „Ich kaufe dir auch rote Stiefel, geh, mein Sohn!“ Iwan machte sich auf den Weg. Nahm eine Fangleine und einen Kanten Brot mit, dazu eine Axt (eine Waffe nahm er also immerhin mit). So zog er auf Wache, legte sich auf den Feldrain, den Bauch dem Himmel zugekehrt, ißt sein Brot und zählt die Sterne. Zählte und zählte und konnte sie nicht zählen. Auf einmal sah er, wie eine wunderschöne Stute pfeilgeschwind in den Weizen stürmte, herrlich wie die Zarin selbst. Die Mähne war ganz von Gold und der Schwanz von Silber. Iwan nimmt seine Fangleine, schlich sich heran und packte die wunderschöne Stute am Schwanz. Sie schlug nach allen Seiten aus, kann sich aber nicht losreißen. Iwan stieg auf und setzte sich auf ihren Rücken, mit dem Hinterteil nach vorn. Die Stute flehte: „Laß mich laufen, Iwan!“ Iwan sagt: „Nein, ich laß dich nicht laufen, sondern werde auf dir nach Hause reiten; du hast unseren ganzen Weizen niedergetreten.“ Die Stute sagt wieder: „Laß mich laufen, Iwan, ich will dir drei Pferde geben: zwei mit goldener Mähne, das dritte aber mit langen Ohren, langen Beinen und zwei Hök90
kern. Die zwei Pferde mit der Goldmähne magst du immerhin verkaufen, Iwan, das bucklige Pferdchen jedoch darfst du um keinen Preis hergeben, sondern mußt es behalten. Du wirst es brauchen.“ Iwan sagt zu der Stute: „Und wann willst du sie schicken?“ Die Stute erwiderte: „Morgen früh werden sie auf eurem Hofe stehen.“ Da ließ Iwan sie laufen. Die Stute lief davon, und Iwan machte sich auf den Heimweg. Kommt nach Hause und klopft an die Tür. „Mach auf, Vater“, ruft er und poltert gegen die Tür, daß sie bald aus den Angeln fällt. Der Vater machte ihm auf und fragte: „Wen hast du dort gesehen, Iwan?“ „Den Teufel, Vater. Er war’s, der unseren Weizen niedergetreten hat.“ Damit kletterte er auf den Ofen, um zu schlafen. Seine Brüder aber lachen und verspotten den Dummkopf: „Was verstehst du schon davon!“ Am Morgen standen Anton und Andren auf und gingen zum Nachbarn, wo ein Fest gefeiert wurde. Iwan wachte auf und trat auf den Hof, sich seine Pferde anzusehen. Wahrhaftig, da stehen drei Pferde. Er betrachtete sie, dann ging er und legte sich wieder auf den Ofen schlafen. Die Brüder kommen vom Fest. Sie betreten den Hof und sehen die Pferde mit der goldenen Mähne. Sie blinzelten einander zu, saßen auf und ritten in die Hauptstadt, die Pferde zu verkaufen, Iwan dem 91
Dummkopf aber ließen sie das bucklige Pferdchen zurück. Iwan wurde wieder munter, denn er war unruhig geworden, und er ging nach seinen Pferden zu sehen. Da steht nur noch eines im Hof, die zwei anderen sind fort. Iwan wurde böse. „Welcher Satan hat meine Pferde genommen?“ schimpft er. Da begann das bucklige Pferdchen zu sprechen: „Schimpf nicht, Iwan; deine Brüder haben die Pferde genommen und sind in die Hauptstadt geritten, sie zu verkaufen. Setz dich auf meinen Rücken, wir holen sie im Augenblick ein.“ Iwan aber kann nicht aufsitzen, wie er es auch anstellt: die beiden Höcker hindern ihn. Da legte sich das Pferd auf den Boden, er setzte sich auf seinen Rücken, und das Pferd stand wieder auf. „Halt dich an meinen Ohren fest, den langen, und laß nicht los, Iwan, sonst fällst du herunter!“ Iwan hielt sich fest, und das Pferd flog davon. In einem Augenblick hatten sie die Brüder eingeholt. Iwan der Dummkopf begann, seine Brüder auszuschelten, die aber beschwatzen ihn: „Iwan, laß das Schelten sein. Wir wollen die Pferde verkaufen, dann werden wir dir schöne Stiefel und Pfefferkuchen kaufen.“ Iwan war’s einverstanden. Als es Nacht wurde, erblickten die Brüder in der Ferne ein Licht. „Iwan, was leuchtet dort? Reit hin und erkunde, ob wir nicht über Nacht bleiben können, denn es ist schon dunkel! Reit hin, wir warten auf dich!“ (Sie wollen ihn überlisten.) 92
Iwan flog pfeilgeschwind davon. Wie er an die Stelle kommt, sieht er, daß es der Feuervogel ist. Er klettert vom buckligen Pferdchen, nimmt eine Feder und steckt sie in die Tasche. Da sprach das Pferd: „Wozu nimmst du die Feder, Iwan? Wirf sie fort! Sie wird dir viel Kummer bringen!“ Iwan hört nicht darauf, schweigt und steigt wieder auf sein Pferd. Die Brüder wollen ihm davonreiten, doch daraus wurde nichts, Iwan holte sie wieder ein. Die Brüder fragen: „Was war dort?“ Iwan erwiderte: „Ein verfaulter Baumstumpf hat geleuchtet.“ Frühmorgens langen die drei Brüder in der Hauptstadt an und stellen sich auf den Markt. Zu dieser Stunde fuhr gerade der Zar über den Markt. Der Zar sah die Pferde, kehrte in sein Schloß zurück und befahl, die Pferde mit der goldenen Mähne zu kaufen. „Gebt, was sie verlangen!“ Iwan forderte für die Pferde einen Preis, daß man ihn gar nicht auszusprechen wagt. Da bedrohten ihn die Höflinge. Iwan machte nun keine Umstände mehr und überließ ihnen die Pferde. Ein Höfling behielt Iwan mit seinem buckligen Pferdchen am Hofe. „Du kannst im Pferdestall wohnen, als Wächter und Pferdeknecht.“ Alles Geld aber hatten die Höflinge den Brüdern gegeben.
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Iwan nahm Abschied von ihnen und lebte von nun an beim Zaren, im Pferdestall. Er schläft zusammen mit seinem Pferd, putzt und füttert es – das ist seine ganze Arbeit. Eines schönen Tages bekam Iwan mit einem Pferdeknecht Streit, und wie sie sich prügelten, fiel die Feder aus Iwans Tasche. Der Pferdeknecht hob sie auf und brachte sie dem Zaren. Der Zar sagt zu dem Pferdeknecht: „Woher hast du das?“ „Es ist Iwan dem Dummkopf aus der Tasche gefallen, und ich hab’s aufgehoben.“ Der Zar sagt: „Ich merke, mit Iwan hat es eine besondere Bewandtnis.“ Darauf ließ der Zar Iwan zu sich kommen. „Iwan, woher hast du die Feder?“ „Auf dem Felde hab ich sie gefunden, Zar, ganz einfach.“ „Nun, Iwan, bringe mir den Feuervogel, ich will dich belohnen. Bringst du ihn aber nicht, dann soll es dir schlecht ergehen.“ Iwan ging zu seinem Pferd. Das Pferd spricht zu ihm: „Siehst du, Iwan, ich habe dir gesagt, du sollst die Feder nicht aufheben. Aber du hast nicht auf mich gehört. Den Feuervogel zu holen ist nicht schwer“, sagt das Pferd, „das Schwere kommt erst noch. Den Feuervogel holen wir an einem Tage. Geh, Iwan, und bitte um einen Eimer Honig, zwei Futtertröge und Handschuhe aus Saffianleder!“ 94
Iwan trug alles, was nötig war, zusammen, setzte sich auf sein Pferd und jagte davon. Das Pferd kennt den Weg. Es brachte ihn auf eine Waldlichtung. „Steig ab, Iwan!“ Das Pferd unterweist ihn: „Stell den einen Futtertrog hin und gieß Honig aus dem Eimer hinein, unter den anderen Trog aber kriech selbst, damit dich die Vögel nicht sehen!“ „Wenn jetzt die Vögel geflogen kommen, Iwan“, sagt das Pferd, „brauchst du keine Angst zu haben. Sie strahlen helles Feuer aus. Versuche nicht, alle zu fangen, denn wenn du alle fangen willst, wirst du keinen einzigen bekommen. Hast du einen gefangen, dann ruf mich aufs schnellste. Ich werde im Augenblick hier sein.“ Iwan legte sich unter dem Trog zurecht, über seine Hände aber zog er die Handschuhe, um den Feuervogel zu fangen. Jetzt kamen die Vögel geflogen, Honig zu trinken. Iwan packte rasch zu und hatte den Feuervogel gefangen. Er war ihm gleichsam an den Händen angewachsen. Iwan ruft: „Schnell, Pferd, ich habe den Feuervogel gefangen!“ Das Pferd war schon da. Iwan steckte den Feuervogel in einen Sack, war am nächsten Tag bereits wieder beim Zaren und hatte den Feuervogel mit. Der Zar sagt: „Wir müssen ihn in eine Hütte sperren und die Fensterläden verschließen, sonst zündet er die
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ganze Stadt an, und die Leute werden sich entsetzen.“ Das wurde auch getan. Der Zar weidete sich am Anblick des Feuervogels, aber er war noch nicht zufrieden. Er läßt Iwan wieder zu sich kommen: „Höre, Iwan, bring mir des Mondes Tochter!“ (Er war nämlich Witwer, der Zar.) „Ich will dich reich dafür belohnen; bringst du sie aber nicht, lasse ich dich bestrafen!“ Iwan ging zu seinem Pferd, er weint. Das Pferd sagt: „Warum weinst du, Iwan?“ „Der Zar hat mir befohlen, ihm des Mondes Tochter zu bringen.“ „Das ist nicht schwer, Iwan. Das Schwere kommt erst noch. Ich habe dir doch gesagt, du sollst den Feuervogel nicht nehmen. Viel Schweres wirst du erdulden müssen. Geh jetzt zum Zaren, Iwan, und bitte ihn um ein blaues Zelt, um ein Tischchen und um köstliche Speisen und Weine von jenseits des Meeres.“ Alles, was das Pferd befohlen hatte, holte Iwan vom Zaren, setzte sich aufs bucklige Pferdchen und hielt sich an den Ohren fest. Das Pferd flog davon wie ein Pfeil. Sie kommen ans blaue Meer, und Iwan schlug nicht weit vom Meer das Zelt auf, stellte das Tischchen ins Zelt und köstliche Weine und Speisen von jenseits des Meeres darauf. Das Pferd sagt zu Iwan:
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„Bald wird ein Schiff kommen. Auf diesem Schiff fährt des Mondes Tochter und singt herrliche Lieder. Sie wird in dieses Zelt treten, sich zu erfrischen. Sie wird nämlich glauben, ihr Vater, der Mond, habe das Zelt für sie bereitet.“ Das Pferd sagt zu Iwan: „Geh jetzt ins Zelt. Im Zelt ist ein Alkoven. Verbirg dich dort, damit des Mondes Tochter dich nicht sieht. Sie wird sich an den Tisch setzen, die Weine und Speisen von jenseits des Meeres kosten und ihre herrlichen Lieder singen. Du aber, Iwan, tritt von hinten herzu und pack sie an den Zöpfen. Laß aber nicht los, sondern ruf mich aufs schnellste!“ Das Pferd lief davon, auf eine Waldwiese, Iwan aber kroch in den Alkoven und feuchtete sich schnell die Hände an. Des Mondes Tochter kam, setzte sich an den Tisch und hatte noch keine Lieder singen noch auch von den Weinen oder Speisen kosten können, da packte Iwan sie an den Zöpfen und rief: „Buckliges Pferdchen, schnell, ich habe die Zarentochter gefangen!“ Die Zarentochter bittet ihn: „Iwan, laß mich frei!“ Doch Iwan hört nicht auf sie, sondern ruft nach seinem Pferd. Das Pferd kam, Iwan saß auf und ritt mit der Zarentochter heim. Nach zwei Tagen schon brachte er dem Zaren des Mondes Tochter. Der Zar gab ihm ein großes, wertvolles Geschenk, und Iwan trollte sich in den Stall zu seinem Pferd. Er versorgte das bucklige Pferdchen und legte sich 97
neben ihm nieder. Der Zar verlangt, die Tochter des Mondes solle sein Weib werden, aber sie sagte nein. Sie setzt sich an den Tisch, schreibt einen Brief an ihren Vater, den Mond, und bittet den Zaren, den Brief zu ihrem Vater zu senden und von ihm Antwort bringen zu lassen. Dazu sagt sie noch: „Beschaff mir das blaue Kästchen vom Grunde des blauen Meeres; mein Ring liegt darin!“ Sie hatte es nämlich dort verloren. Der Zar läßt sogleich Iwan rufen: „Hier, Iwan, nimm diesen Brief, trag ihn zum Zaren Mond und bring Antwort von ihm. Hol mir dann aus dem Meer das blaue Kästchen mit dem Ring. Bringst du mir das Kästchen, dann will ich dich belohnen, wenn nicht, lasse ich dich bestrafen!“ Die Zarentochter aber will den Zaren ohne diese Dinge nicht heiraten. Iwan setzte sich auf sein Pferd und ritt los. Das Pferd sagt: „Iwan, das ist nicht schwer; das Schwere kommt erst noch.“ Das Pferd sagt zu Iwan: „Wir müssen Hecht und Vogel sein.“ Das Pferd jagte dahin. Sie kommen ans blaue Meer, da liegt ein Walfisch quer über dem Meer. Iwan muß über den Walfisch ans andere Ufer reiten. Auf dem Walfisch fahren viele Wagen. Die Pferde haben ihm mit ihren Hufen alle Knochen zerschunden. Iwan schreitet über den Walfisch. Als er am anderen Ufer war, begann der Fisch zu sprechen: 98
„Reitest du weit, Iwan?“ Iwan antwortet dem Walfisch: „Zum Zaren Mond!“ Der Walfisch sagt: „Weswegen?“ „Ich bringe einen Brief und will vom Zaren Mond Antwort holen.“ „Iwan, frage dort auch meinetwegen. Schon drei Jahre liege ich hier. Wie lange soll ich noch liegen?“ Iwan sagt: „Gut, ich will fragen.“ Das Pferd trägt Iwan weiter und hebt sich in die Lüfte. Iwan bekam Angst. Das Pferd sagt: „Hab keine Furcht, Iwan, halt dich an meinen Ohren fest! Es wird dir nichts geschehen.“ Das Pferd steigt immer höher, dem Himmel entgegen. Schließlich trägt es Iwan in die Wolken hinein. Am Ziel angekommen, geht Iwan in die Badestube. Da liegt der Mond auf einem Tisch, und auch eine Flasche Wasser steht auf dem Tisch. Der Mond tränkt sich selbst mit Wasser. Iwan gibt dem Zaren Mond den Brief und wartet auf Antwort. Zar Mond las den Brief und übergab Iwan die Antwort. Da fragt Iwan den Zaren Mond wegen des Walfisches: „Drei Jahre“, sagt er, „liegt der Walfisch schon dort. Wie lange muß er noch liegen?“ Der Zar sagte: „Er soll meiner Tochter Schiff ausspeien und sich auf den Meeresgrund sinken lassen.“
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Er hatte nämlich drei Schiffe verschluckt, und deswegen hatte ihn der Zar Mond auch als Brücke übers Meer gelegt. Iwan nahm Abschied vom Mond und machte sich auf den Heimweg. Das Pferd ließ sich zur Erde herab. Das Pferd sagt zu Iwan: „Iwan, reite über den Walfisch hinweg. Sobald du drüben bist, kannst du ihm die ganze Wahrheit sagen. Verlange danach vom Walfisch das Kästchen; er soll es vom Grunde des blauen Meeres emporholen. Dann werden wir ihm aus seiner Not helfen.“ Iwan antwortete dem Pferd: „Es ist gut, buckliges Pferdchen!“ Iwan ritt über den Walfisch, dann führt er sein Pferd zum Verschnaufen auf eine Wiese. Der Walfisch fragt: „Iwan, hast du dort an mich gedacht?“ Iwan sagt: „Ich habe an dich gedacht und will dir die ganze Wahrheit sagen.“ Der Walfisch sagt: „Iwan, sag sie nur gleich!“ Iwan sagt zum Walfisch: „Hol mir das blaue Kästchen vom Grunde des Meeres. Dann werde ich dir alles sagen!“ Der Walfisch sagt zu Iwan: „Ich will’s holen, nur hilf mir aus meiner Not!“ „Walfisch, spuck dreimal hintereinander aus, spei des Mondes Schiffe aus und laß dich auf den Meeresgrund sinken!“
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Der Walfisch rülpste dreimal hintereinander, spie die Schiffe aus und ließ sich auf den Meeresgrund sinken. Das Meer hatte keinen Herren. Die Fische lebten dort, wie es ihnen behagte. Als der Walfisch auf dem Meeresgrund anlangte, erschraken all die kleinen Fische. Der Walfisch befahl den Hechten, um jeden Preis das Kästchen ausfindig zu machen. (Die Hechte sind dort flink.) Die Hechte fanden das Kästchen sogleich, konnten es aber nicht forttragen. Da schickte der Walfisch die Robben, die brachten das Kästchen auf der Stelle. Er gab das Kästchen Iwan, der bedankte sich und machte sich auf den Heimweg; der Walfisch aber ließ sich auf den Meeresgrund sinken. Iwan kommt nach Hause, geht zuerst zum Zaren und dann schnell in den Pferdestall. Dort legt er sich schlafen. Der Zar will nun die Tochter des Mondes heiraten, aber die sagt wieder nein. „Fülle drei Kessel, Zar“, sagt sie, „mache Feuer und bringe sie zum Glühen. Zwei mit Wasser und den dritten mit Milch. Dann spring in diese Kessel hinein, zuerst in die mit Wasser, dann in den mit Milch, und aus dem wirst du als schöner, junger Held herausspringen. Dann will ich deine Frau werden.“ Der Zar ließ alles zurichten. Darauf schickte er nach Iwan, daß er vor ihm hineinspränge. Iwan kam zum Zaren, das Pferd aber hatte ihn schon gewarnt: „Spring nicht, solange ich nicht dabei bin, sondern warte auf mich“, hatte es gesagt. „Ich werde 101
die Kessel heimlich abkühlen, dann kannst du hineinspringen.“ Iwan trat also vor den Zaren. Der Zar hieß ihn, in die Kessel zu springen. Da verlangte Iwan nach seinem Pferd. „Bringt mir mein buckliges Pferdchen. Ich will Abschied von ihm nehmen, danach werde ich springen.“ Das Pferd wurde herbeigeführt. Iwan sah es an, und dann sprang er. Zuerst in diesen Kessel, dann in jenen. Das Pferd hatte sie schon heimlich abgekühlt. Aus dem letzten Kessel sprang Iwan als ein strahlender Held heraus. Er wandte sich dem Zaren zu und sagt: „Na, los, Väterchen Zar, spring!“ Der dumme Zar ließ sich in den Kessel plumpsen und blieb für immer darin. Iwan aber feierte mit der Zarentochter Hochzeit. Der Amtmann und der Büttel, Dazu der Zeugen zwei, Haben wir auf der Hochzeit getanzt, Weiter war niemand dabei.
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22 Der Wildwolf und Iwan Zarewitsch Hinter dreimal neun Ländern, im dreimalzehnten Zarenreich, in einem berühmten, mächtigen Staat lebte einmal ein mächtiger Zar, der hatte zwei Söhne. Der ältere hieß Fjodor Zarewitsch, der jüngere Iwan Zarewitsch. Der Zar starb, und Fjodor Zarewitsch übernahm die Herrschaft. Fjodor gedachte zu heiraten und sah sich nach einer Braut um. Da hörte er, daß hinter dreimal neun Ländern, hinter dreimal neun Meeren, im dreimalzehnten Zarenreich, im berühmten Lande der Jungfrauen eine wunderschöne Zarin lebt. Zusammen mit seinem Bruder Iwan brach er auf, um die wunderschöne Jungfrau zu freien. Als sie mit ihren Schiffen in jenem Lande der Jungfrauen angekommen waren, freite Fjodor Zarewitsch die wunderschöne Zarin, und sie machten sich auf die Heimreise. Unterwegs begegnete ihnen ein anderes Schiff. Iwan Zarewitsch fing mit den Leuten vom anderen Schiff ein Gespräch an, denn er wollte zu ihnen hinüber. So kam er denn auf das fremde Schiff. Dort erblickte er eine Jungfrau von unbeschreiblicher Schönheit. Iwan Zarewitsch freite um sie, aber sie sagte: „Ich werde nicht heiraten, ehe ich meine Verwandten nicht gesehen habe.“
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Wer aber ihre Verwandten waren, das sagte sie nicht. Als Iwan Zarewitsch sich nach seinem Schiff umsah, war es nicht mehr da. Der Bruder war mit seinem Weib in sein Reich gefahren. Iwan begriff sehr wohl, daß der Bruder auf sein halbes Erbe neidisch war und es an sich bringen wollte. Iwan Zarewitsch nahm die wunderschöne Jungfrau und bat den Kapitän des Schiffes, er solle sie beide ans trockene Ufer bringen. Der Kapitän des Schiffes brachte sie ans andere Ufer. Iwan machte sich mit seiner Schönen auf den Weg in sein Reich. Auf einmal breitet die Jungfrau einen Teppich aus und heißt Iwan Zarewitsch, sich darauf zu setzen. Er denkt, sie wolle ausruhen, da sagte sie: „Nun, fliegender Teppich, erhebe dich über die ragenden Wälder, unter die ziehenden Wolken!“ In einer Minute waren sie in ihrem Reich. Die Jungfrau sagt zu Iwan Zarewitsch, er solle niemandem verraten, daß sie bei ihm wohne. Iwan brachte sie heimlich in sein Schlafgemach, und niemand hatte die beiden gesehen. Wenn er aber ausging, verschloß er die Tür, und kam er wieder, schob er immer den Riegel vor. Nun merkt er, daß es zwischen dem älteren Bruder Fjodor und dessen Weib nicht gut steht: immer schalt sie ihn, sagte ihm böse Worte und begann zu guter Letzt sogar ihn zu prügeln. Da dauerte Iwan sein Bruder Fjodor. Einmal sagt die Zarin zu ihrem Mann Fjodor Zarewitsch:
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„Wenn du mir nicht den wilden Eber bringst, der mit dem Rüssel wühlt, mit dem Schwanze eggt, und hinter ihm wächst das Korn, dann sperre ich dich ins Gefängnis, und du wirst in Ewigkeit nicht wieder herauskommen!“ Da erschrak Fjodor Zarewitsch, sah sich nach Hilfe um und wandte sich an seinen Bruder Iwan: „Lieber Bruder, kannst du mir nicht helfen in meiner Not? Mein Weib peinigt mich aufs Blut.“ „Womit?“ fragt Iwan Zarewitsch. „Sie befiehlt mir, ihr den wilden Eber zu bringen, der mit dem Rüssel wühlt, mit dem Schwanze eggt, und hinter ihm wächst das Korn.“ Iwan Zarewitsch versprach, seinem Bruder zu helfen, und sagt: „Laß mir Zeit, ich will erst ein wenig nachdenken und überlegen. Dann sage ich dir Bescheid.“ Er kommt in sein Schlaf gemach und fragt seine Schöne: „Was soll ich tun? Mein Bruder bittet um Hilfe. Sein böses Weib peinigt ihn aufs Blut und befiehlt ihm, ihr den wilden Eber zu bringen, der mit dem Rüssel wühlt, mit dem Schwanze eggt, und hinter ihm wächst das Korn. Sage doch, meine Teure, gibt es einen solchen Eber?“ Die schöne Jungfrau sagt: „Es gibt ihn.“ „Und kann man ihn herbringen?“ „Das ist durchaus möglich“, sagte die Jungfrau. „Dann hilf mir, ihn herzubringen. Mein Bruder dauert mich!“
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Sie nimmt ihr Tüchlein aus der Tasche und gibt es ihm. „Sobald du diesen Eber triffst, winke ihm mit diesem Tüchlein entgegen, und er wird zahmer als ein Kälbchen werden. Wohin du auch gehen magst, er wird dir folgen.“ Iwan Zarewitsch ging aufs freie Feld, in die weite Welt. Ob nah, ob fern, ob hoch, ob tief – ein Märchen ist bald erzählt, eine Tat aber nicht so bald getan. Er geht einen Tag, dann einen zweiten, und am dritten begegnet ihm der wilde Eber, wühlt mit dem Rüssel, eggt mit dem Schwanz, und hinter ihm wächst das Korn. Als der Eber Iwan Zarewitsch erblickte, stürmte er auf ihn los und wollte ihn auf seine Hauer spießen, Iwan aber winkte ihm mit dem Tüchlein entgegen, und der Eber wurde zahmer als ein Kälbchen. Iwan Zarewitsch ging voran, und der Eber folgte ihm nach. Iwan Zarewitsch brachte den Eber in sein Reich. Als der Eber hinter Iwan den Schloßhof betrat, begann er, mit dem Rüssel zu wühlen, mit dem Schwanze zu eggen, und hinter ihm ging das Korn auf. Da kommt die Zarin aus dem Schloß gesprungen und bittet Iwan, er solle den Eber auf die Straße jagen, er würde sonst das ganze Haus umwühlen, und man könne nirgends mehr gehen. Iwan Zarewitsch ging hinaus auf die Straße, der Eber hinter ihm her. Er winkte mit dem Tüchlein die Straße entlang, da lief der Eber aufs freie Feld, in die weite Welt. Danach lebte Fjodor Zarewitsch mit seiner Zarin in Eintracht. Aber nicht gar lange lebten sie so. Die Zarin begann wieder der Teufel 106
zu reiten, denn sie mochte Fjodor Zarewitsch nicht leiden. Wieder begann sie, ihn zu schlagen, ihn anzuschreien, und schließlich sagt sie zu ihm: „Wenn du mir nicht die Stute mit den vierzig Blessen bringst, zu jeder Blesse vierzig Hengste und zu jedem Hengst vierzig Stuten, dann werfe ich dich in die Mistgrube!“ Fjodor Zarewitsch erschrak und läuft wieder zu seinem Bruder Iwan: „Lieber Bruder, errette mich aus diesem Unheil!“ Iwan Zarewitsch hatte Mitleid mit seinem Bruder. „Warte, Bruder, ich will ein wenig nachdenken.“ Er geht in sein Schlafgemach und erzählt seiner Auserwählten, wie es dem Bruder geht. Dann bittet er sie, sie möge ihm helfen, den Bruder zu retten und die Stute mit den vierzig Blessen herzubringen. Ohne langes Überlegen holt sie einen schmalen Zügel hervor und sagt: „Wenn du gehst und die Stute mit den vierzig Blessen erblickst, wird sie wütend auf dich losstürmen. Dann winke ihr mit diesem Zügel entgegen, und sie wird stehenbleiben wie angewurzelt. Tritt dann an sie heran, leg ihr den Zügel an, setz dich auf ihren Rücken und reite los: Alle Hengste und Stuten werden dir nachlaufen.“ Iwan Zarewitsch nahm den Zügel und ging aufs freie Feld, in die weite Welt. Er geht einen Tag, einen zweiten, und am dritten kommt die Stute gelaufen. Sie stürmt auf ihn los und wollte ihn auf der Stelle totbeißen. Er winkte ihr mit dem 107
schmalen Zügel entgegen, und sie blieb stehen wie angewurzelt. Iwan Zarewitsch legte ihr den Zügel an, setzte sich auf ihren Rücken und ritt los. Alle Hengste und Stuten, wie viele ihrer auch waren, liefen ihm nach. Er kam in sein Reich und ritt ins Schloß zu seinem Bruder Fjodor Zarewitsch. Fjodor trat mit seiner Zarin auf die Schloßtreppe heraus, da stürmten die Hengste auf die beiden los und hätten ihnen beinahe die Köpfe abgerissen. Sie konnten gerade noch in ihre marmornen Gemächer springen. Die Zarin brüllt zum Fenster heraus, er solle alle hinausjagen, dieser Spaß sei nicht nach ihrem Geschmack. Iwan Zarewitsch führte die Stute auf die Straße hinaus, nahm ihr den Zügel ab, und die Stute lief mit ihrer Herde aufs freie Feld, in die weite Welt. Iwan Zarewitsch ging in sein Schlafgemach, Fjodor Zarewitschs Weib aber war gleich ganz zahm geworden. Es verging eine kleine Weile, da begann die Zarin, ihren Fjodor Zarewitsch wieder zu plagen. Sie drohte ihm mit einem schrecklichen Tode, wie ihn kaum jemand aussinnen kann. „Wenn du mir aber vom Wildwolf das stählerne Schwert bringst, will ich dich vom Tode begnadigen.“ Fjodor Zarewitsch wurde sehr betrübt, härmte sich und vergoß heiße Tränen. Er ging zu seinem lieben Bruder Iwan Zarewitsch, verneigte sich vor ihm und bat, er möge ihm helfen in seiner Not. „Und was ist deine Not?“ fragt Iwan Zarewitsch. Fjodor Zarewitsch antwortet ihm:
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„Wieder peinigt mich mein böses Weib. Sie droht mir mit einem schrecklichen Tode, so schrecklich, daß niemand ihn aussinnen kann, und befiehlt mir, vom Wildwolf das stählerne Schwert zu holen.“ Iwan Zarewitsch antwortet ihm mit folgenden Worten: „Lieber Bruder, ich will zuerst ein wenig nachdenken und überlegen.“ Er entfernte sich in sein Schlafgemach und sprach zu seiner Schönen: „Teure schöne Jungfrau, ist es möglich, vom Wildwolf das stählerne Schwert zu beschaffen? Wenn es möglich ist, dann sag’s, wenn aber nicht, dann will ich lieber gehen und mein junges Leben lassen.“ Die schöne Jungfrau sagt zu ihm: „Wie kannst du so sprechen, Iwan Zarewitsch, eher will ich mein Leben lassen als du das deine; aber ich will dir helfen, das stählerne Schwert zu holen. Geh zuerst und sage deinem Bruder Fjodor, er soll eine Flotte ausrüsten, und der Kapitän des Schiffs soll unter deinem Befehl stehen.“ Iwan Zarewitsch ging zu seinem Bruder Fjodor und trug ihm auf, er solle eine Flotte ausrüsten und den Kapitän ihm, Iwan Zarewitsch, unterstellen. Dann ging er wieder in sein Schlafgemach. Wie er eintritt, erwartet ihn seine schöne Jungfrau. In ihren Händen hält sie ein Handtuch und gibt Iwan Zarewitsch ihren Siegelring: „Wenn dir der sichere Tod bevorsteht, dann wasch dich und trockene dich mit diesem Handtuch ab.“ 109
Sie küßte Iwan Zarewitsch auf seinen süßen Mund, begleitete ihn zur Tür und versank darauf in tiefes Nachdenken. Iwan verließ sein Reich und kam ans blaue Meer. Am Ufer stand die ausgerüstete Flotte. Er betritt das Schiff und befiehlt dem Schiffskapitän, nach Osten zu segeln. Sie segelten sehr lange, segelten ein Jahr, ein zweites, im dritten Jahr aber kamen sie ans andere Ufer. Iwan Zarewitsch nimmt eine Schaluppe und zwei Matrosen und läßt sich an Land fahren. Als sie ihn an Land gefahren hatten, befahl er den Matrosen, auf ihn zu warten, was auch geschehen möge. Dann ging er in den finsteren dichten Wald. Ging er nun nah oder fern, hoch oder tief – ein Märchen ist bald erzählt, eine Tat aber nicht so bald getan. Er trat aus dem Wald heraus auf eine große Wiese, auf der Wiese aber steht ein Schloß aus weißem Marmor. Zu diesem Schloß geht er, macht das Tor auf und tritt ins Innere. Drinnen saß eine Alte, ein steinaltes Weib, das hatte schlohweißes Haar. Er begrüßte die Alte, sie begrüßte ihn gleichfalls und fragte: „Woher kommst du, und wohin führt dich dein Weg?“ Iwan Zarewitsch sagte ihr ohne Umschweife: „Ich bin aus einem fernen Reich hergeschickt worden und möchte den Wildwolf sehen.“ „Den Wildwolf zu sehen, wird dir keine Freude, sondern Leid bringen, er wird dich ganz bestimmt auffressen. Das wichtigste aber ist, seinen Grimm zu besänftigen. Ich will dich in eine Nadel ver110
wandeln und dann hier sitzen und nähen. Wenn der Wildwolf geflogen kommt, wird er dich wittern und nach dir verlangen. Ich zeige dich aber nicht eher, als bis sein Grimm besänftigt ist.“ Während sie ihn noch in eine Nadel verwandelte, ließ sich der Wildwolf auf die Schloßtreppe fallen; da erzitterte das Schloß in allen Fugen. Er kommt in das Marmorgemach und sagte: „Fuh, fuh, fuh! Von Menschenfleisch kriegt man sonst nichts zu sehen, nichts zu riechen, aber heute ist ein Mensch von selbst ins Schloß gekommen.“ Dann sagt er zu der Alten: „Gib her, ich will ihn fressen.“ Die Alte sagt zu ihm: „Du bist über die ganze Welt geflogen, hast dich voll Menschengeruch gesogen, und jetzt sagst du, ein Mensch wäre von selbst ins Schloß gekommen.“ Der Wildwolf lief ein wenig umher und legte sich dann hin, um auszuruhen. Sein Grimm schwand, und er bat die Mutter, sie möge ihm etwas zu essen geben. Da ließ sie Iwan Zarewitsch los. „Oho, Iwan Zarewitsch“, sagt der Wildwolf, „weswegen bist denn du hierher zu mir gekommen?“ Iwan Zarewitsch antwortet: „Was heißt denn das, Wildwolf, du hast mir noch nichts zu essen, noch nichts zu trinken gegeben und fragst schon nach Neuigkeiten!“ Da stellte die Mutter Eisensuppe und Stahlbrot auf den Tisch. Der Wildwolf bittet Iwan Zare111
witsch, sich an den Tisch zu setzen, und sie begannen zu essen. Iwan Zarewitsch hatte erst einen Löffel gegessen, da hatte der Wildwolf schon zwei oder drei hinuntergeschlungen und im Nu alles, was da war und was nicht da war, aufgefressen. Darauf unterhielten sie sich. Der Wildwolf sagt zu Iwan Zarewitsch: „Trotzdem muß ich dich fressen, Iwan Zarewitsch, das ist in meinem Reich so üblich.“ Iwan aber sagt zu ihm: „Trotzdem sollst du mich nicht fressen. Erst wollen wir Karten spielen. Gewinnst du, dann magst du mich fressen, gewinnst du nicht, darfst du mich nicht fressen.“ Der Wildwolf begann, am Tisch die Karten zu mischen, und sagt: „Wir wollen aber ausmachen, daß wir Karten spielen und nicht einschlafen. Wer einschläft, hat verspielt.“ Sie setzten sich und begannen zu spielen. Sie spielten einen Monat, einen zweiten, im dritten Monat aber wurde Iwan Zarewitsch müde. Da sagt der Wildwolf zu ihm: „Was ist, Iwan Zarewitsch, bist du müde?“ „Nein, ich bin nicht müde.“ „Und warum hast du den Kopf sinken lassen?“ „Ich habe nachgedacht.“ „Und was hast du gedacht, Iwan Zarewitsch?“ „Ich habe nachgedacht, – ob es mehr Bäume gibt, die stehen, oder mehr, die liegen.“ Da sagt der Wildwolf:
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„Wer kann denn wissen, ob es mehr Bäume gibt, die stehen, oder mehr, die liegen?“ Der Zarewitsch sagt: „Du kannst doch großartig fliegen, Wildwolf, flieg los und sieh nach, ich werde inzwischen die Karten mischen.“ Der Wildwolf ließ sich sofort zu Boden fallen, stand auf, schüttelte sich und flog los, Iwan Zarewitsch aber legte sich aufs Sofa und schlief. Der Wildwolf flog einen Monat, einen zweiten, im dritten Monat aber kam er zurück, da hatte Iwan Zarewitsch inzwischen ausgeschlafen, sitzt da und mischt die Karten. Als der Wildwolf das Schloß betrat, fragt ihn Iwan Zarewitsch: „Nun, weißt du jetzt, ob es mehr stehende oder mehr liegende Bäume gibt?“ „Mehr liegende“, antwortete der Wildwolf. Die Mutter setzte ihnen wieder Eisensuppe und Stahlbrot vor, und sie begannen zu essen. Iwan hatte erst einen Löffel gegessen, da hatte der Wildwolf schon zwei oder drei hinuntergeschlungen und die ganze Suppe aufgefressen, Iwan Zarewitsch aber blieb hungrig. Wieder begannen sie Karten zu spielen. Sie spielen einen Monat, einen zweiten und spielen auch einen dritten Monat. Da wurde Iwan Zarewitsch wieder müde. Der Wildwolf sagt: „Was machst du?“ „Ich denke nach“, antwortet Iwan Zarewitsch. „Und worüber denkst du nach?“ „Ich denke nach, ob es mehr Frauen oder mehr Männer gibt.“ 113
„Wer kann denn das wissen“, sagt der Wildwolf. „Ihr könnt doch großartig fliegen. Fliegt und seht nach!“ Der Wildwolf ließ sich zu Boden fallen, stand auf, schüttelte sich und flog los, Iwan Zarewitsch aber legte sich schlafen. Der Wildwolf flog einen Monat, flog einen zweiten, im dritten Monat aber kam er zurückgeflogen, da ist Iwan Zarewitsch beim Kartenmischen. Der Wildwolf kommt an und betritt das Schloß. Iwan Zarewitsch fragt ihn: „Nun, weißt du jetzt, ob es mehr Männer oder mehr Frauen gibt?“ „Ja, jetzt weiß ich’s: mehr Frauen.“ Die Mutter stellte Eisensuppe und Stahlbrot auf den Tisch. Sie setzten sich und begannen zu essen. Iwan hatte erst einen Löffel gegessen, da hatte der Wildwolf schon zwei oder drei hinuntergeschlungen. Die ganze Suppe fraß der Wildwolf, Iwan Zarewitsch aber blieb hungrig. Sie setzten sich wieder zum Spiele; spielen einen Monat, spielen einen zweiten, im dritten Monat aber wurde Iwan Zarewitsch sehr müde und schlief schließlich ein. Der Wildwolf stieß ihn in die Seite: „Warum schläfst du?“ Iwan Zarewitsch entschuldigte sich, daß er eingeschlafen war. „Du kannst mich jetzt fressen, erlaube mir nur, mich vor dem Tode ein letztes Mal zu waschen.“ Der Wildwolf zeigte ihm das Waschbecken. Als Iwan aber am Waschbecken stand, zog er den kostbaren Ring seiner schönen Auserwählten ab und wusch sich. Als er sich gewaschen hatte, hol114
te er das Handtuch hervor und trocknete sich ab. Da bemerkte der Wildwolf das Handtuch und sprang hinzu: „Woher hast du dieses Handtuch?“ „Das ist mein Handtuch.“ „Wie kann es deines sein, wenn es das Handtuch meiner leiblichen Schwester ist.“ Als der Wildwolf aber den Ring erblickte, da blieb er wie gebannt stehen. Es war das der Ring des Wildwolfs, und er fragte sogleich: „Wo ist meine Schwester?“ Iwan Zarewitsch sagte: „Wir haben uns gelobt, einander ewig zu lieben.“ Da riß ihn der Wildwolf in seine Arme, drückte ihn an sich und küßte ihn. „So wirst du also durch meine Schwester mein lieber Schwager.“ Als der Wildwolf aber ging und seiner Mutter von der Schwester erzählte, ihrer Tochter, und sagte: „Dieser hier ist Euer Schwiegersohn“, da wurde die Alte mit einem Male wieder jung wie eine Dreißigjährige. Der Wildwolf trat an einen Tisch aus Eichenholz, klopfte mit seinem Zeigefinger darauf, da erschienen, man sah nicht woher, mannigfaltige Speisen, Getränke und Leckerbissen, eingemachte Früchte von jenseits des Meeres und süße Erfrischungen. Sie setzten Iwan Zarewitsch an den Tisch und begannen zu trinken, zu feiern und fröhlich zu sein. Da nun erzählte Iwan Zarewitsch seinem Schwager, daß er vom Bruder geschickt worden sei, das stählerne Schwert zu 115
holen, denn des Bruders Weib verlange, was ihr gefiele. „Deswegen bin ich also hier.“ Der Wildwolf machte sich geschwind fertig, warf sich auf die Erde, stand als Wildwolf wieder auf und gab Iwan Zarewitsch sein stählernes Schwert. Dann hieß er Iwan Zarewitsch, sich auf ihn, das heißt den Wildwolf, zu setzen: „Steig auf und halt dich an meinem Fell gut fest!“ Und er flog dahin, schneller als der Sturmwind, wie ein stählerner Pfeil vom straff gespannten Bogen. Er erhob sich über die ragenden Wälder, unter die ziehenden Wolken. Sie holten die Flotte ein, mit der Iwan Zarewitsch gekommen war. Die Flotte hatte nämlich nicht auf Iwan Zarewitsch gewartet, sondern war zur Heimfahrt wieder in See gestochen. Der Wildwolf ließ sich auf das Schiff fallen, daß die ganze Flotte erzitterte. Alle glaubten, es sei irgendeine Katastrophe eingetreten, doch statt einer Katastrophe waren es Iwan Zarewitsch und der Wildwolf. Der Schiffskapitän entschuldigte sich, daß er nicht gewartet hatte. Iwan Zarewitsch verzieh dem Kapitän. Sie kamen in Fjodor Zarewitschs Reich, und der Wildwolf und Iwan Zarewitsch gingen heimlich in Iwans Schlafgemach. Als die Schwester ihren Bruder Wildwolf erblickte, begann sie vor Freude zu weinen. Alle drei setzen sich an den Tisch, und nun beginnt das Fragen und Antworten. Iwan Zarewitsch erkundigte sich nach seinem leiblichen Bruder Fjodor Zarewitsch, wie es ihm gehe. Die wunderschöne Jungfrau sagt, daß Fjodor Zare116
witsch jetzt die Schweine hüte. Die Zarin hatte ihn einfach aus dem Schlosse gejagt. Am nächsten Tag gingen der Wildwolf und Iwan Zarewitsch frühzeitig aufs Feld, wo Fjodor Zarewitsch die Schweine hütete. Fjodor Zarewitsch ging barfuß, in Lumpen, treibt die Schweine mit einer Knute, und als er seinen Bruder Iwan Zarewitsch erblickte, traute er seinen Augen nicht. Erst als Iwan zu ihm trat und seinen lieben Bruder küßte, traute Fjodor Zarewitsch seinen Augen und begann zu erzählen, wie es ihm ergangen war und wie er mit seinen Schweinen auf dem Felde umherzieht. Der Wildwolf warf sich auf die Erde, stand als Fjodor Zarewitsch wieder auf, nahm die Knute und zog mit den Schweinen los. Als er die Schweine ins Schloß hineintrieb, kam die Zarin mit einer Peitsche herausgestürmt und wollte ihn auspeitschen. Der Wildwolf aber packte sie am Kragen, drückte sie nach unten an seine Beine und ließ sie die Knute kosten; und er prügelte sie, bis sie kaum noch am Leben war. Sie leistete dem Fjodor Zarewitsch einen Eid, ihn ihr ganzes Leben lang in Ehren zu halten und zu lieben. Der Wildwolf verlangte von ihr das Zarengewand, und als er es angelegt hatte, ging er zu Iwan Zarewitsch, als wäre er sein Bruder Fjodor Zarewitsch. Fjodor Zarewitsch aber saß bei Iwan Zarewitsch im Schlafgemach. Der Wildwolf kommt hinein und sagt zu Fjodor Zarewitsch: „Laß dir’s wohlgehen und mach deine Sache gut: von nun an wird dir dein Weib gehorchen.“ 117
Sie nahmen alle voneinander Abschied, und Fjodor Zarewitsch ging in seine Gemächer. Die anderen gingen auf den Hof hinaus. Die wunderschöne Jungfrau breitete ihren fliegenden Teppich aus, alle drei setzten sich darauf und flogen in des Wildwolfs Reich. Dort feierten sie ein schönes Fest. Alle Welt war eingeladen. Auch ich bin dort gewesen, hab Honigbier getrunken und Gurken drauf gegessen.
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23 Iwan-Wassersohn und MichailWassersohn Ein Pope hatte eine Tochter, die war schon eine alte Jungfer. Sie war ganz neidisch auf Leute, die Kinder hatten. „Ich bin ohne Kinder“, sagt sie, „eine alte Jungfer, was soll aus mir werden?“ Einmal ging sie mit zwei Eimern, Wasser zu holen. Wie sie den einen Eimer vollgeschöpft hat, sieht sie, im Eimer schwimmt ein Fläschchen. Sie nahm das Fläschchen und trank es ganz aus, so süß schmeckte es ihr. Sie schöpft mit der rechten Hand den zweiten Eimer voll und sieht, auch im zweiten Eimer ist ein Fläschchen. Da trank sie auch das zweite Fläschchen aus, und auch das schmeckte süß. Und auf einmal spürt sie, daß sie schwanger ist. In ihrem Leib wuchsen die Kinder nicht von Stunde zu Stunde, sondern von Minute zu Minute. Es vergingen vierzig Stunden, da gebar sie zwei Knaben. Die beiden Kinder wurden getauft, der eine auf den Namen MichailWassersohn, der andere auf den Namen IwanWassersohn. Die Kinder wuchsen rasch heran, innerhalb von sechs Wochen. Wie sie zwanzig Jahre alt sind, wollen sie das Jägerhandwerk ergreifen. Sie gingen und bestellten sich gleiche Gewehre, erhielten 119
die Gewehre in wenigen Minuten und zogen auf die Jagd. Wie sie so gehen, liegt da ein Hase. Sie legen an und wollen auf ihn schießen, da spricht der Hase zu ihnen: „Schießt nicht auf mich, ich will euch dienen!“ Sie gehen weiter – da liegt da ein Fuchs. Sie legen an und wollen auf ihn schießen, aber der Fuchs sagt zu ihnen: „Schießt nicht auf mich, ich will euch dienen!“ Weiter gehen sie – da liegt da ein Wolf. Sie legen an und wollen auf ihn schießen, er aber sagt zu ihnen mit Menschenstimme: „Schießt nicht auf mich, Burschen, ich will euch dienen!“ Sie gehen weiter – da liegt ein Bär. Wieder legen sie an und wollen auf ihn schießen, er aber spricht zu ihnen mit Menschenstimme: „Schießt nicht auf mich, Burschen, ich will euch dienen!“ Sie gehen weiter – da liegt ein Löwe. Sie legen an und wollen wieder schießen, aber der Löwe spricht mit Menschenstimme: „Schießt nicht auf mich, Burschen, ich will euch dienen!“ Weiter gehen sie – da liegt ein Tiger. Sie legen an und wollen auf ihn schießen, da spricht er mit Menschenstimme: „Schießt nicht auf mich, Burschen, ich will euch dienen!“
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Wieder gehen sie weiter – da liegt ein Falke. Sie legen an und wollen auf ihn schießen, der Falke aber sagt zu ihnen: „Schießt nicht auf mich, ich will euch dienen!“ So zogen sie durch den Wald, und alle Tiere, die sie fanden, sagten zu ihnen: „Wir wollen euch dienen!“ Danach kehrten sie heim. Zwölf Tage blieben sie zu Hause, dann gingen sie den gleichen Weg, ihre Meute zu sammeln. Sie versammelten ihr Tiervolk, alle ihre Falken und verschiedene abgerichtete Vögel und zogen auf die Jagd. Sie liefen und liefen und kamen schließlich an einen Kreuzweg. Auf dem einen Weg stand geschrieben: „Zum Reichtum“, auf dem anderen aber „Zum Tode“. Sie warfen das Los. MichailWassersohn erloste „Zum Reichtum“, IwanWassersohn aber erloste „Zum Tode“. Da einigten sie sich wie folgt: Die Meute teilten sie in zwei gleiche Hälften, und jeder bekam ein Gewehr. Sie selbst aber hatten das gleiche Gesicht, man konnte sie nicht unterscheiden. „Jetzt werde ich jene Straße ziehen, Bruder, und du diese. Wenn du tot bist“, sagt MichailWassersohn zu Iwan, „so wird mein Gewehr schwarz werden. Dann werde ich dich suchen.“ Und wenn Iwans Gewehr schwarz wird, dann ist Michail nicht mehr am Leben. Sie nahmen Abschied voneinander und zogen auf verschiedenen Wegen davon: dieser mit seiner Meute, nämlich Michail-Wassersohn, IwanWassersohn aber mit der seinen. 121
Iwan lief und lief und kam, siehst du wohl, zu einem Feld. Auf dem Felde aber steht ein Wirtshaus. Der Wirt sagt: „Wozu bist du hierhergekommen? Hier“, sagt er, „hat der Drache Gorynytsch1 schon alle aufgefressen.“ „Was ist das für ein Kerl?“ „Heute“, sagt der Wirt, „haben sie die Zarentochter für ihn hergebracht.“ Sie hatten dort aber einen Turm errichtet, in den brachten sie die Menschen, die der Drache dann fraß. Iwan-Wassersohn sagt: „Um welche Stunde kommt er denn geflogen?“ „Um zwölf.“ Iwan trank einen Schnaps. „Weißt du“, sagt er dann, „ich will gehen und mir ihn ansehen.“ Nahm sein Gewehr und ging an die Stelle. Wie er hinkommt, ist dort die Zarentochter und trägt schon den Totenschmuck. „Ach, wackerer Held, was willst du hier? Der Drache Gorynytsch wird geflogen kommen, wird mich fressen und auch dich nicht verschonen!“ „Was ist das für ein Kerl? Er wird daran erstikken! Komm herunter, wir wollen uns ein wenig unterhalten.“ An die fünf Minuten hatten sie miteinander gesprochen, da sehen sie, wie der Drache Gorynytsch geflogen kommt. Nicht weit von dieser 1
Gorynytsch – etwa „der vom Berge“. (Anm. d. Übers.)
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Stelle war eine Brücke. Iwan-Wassersohn stellte sich mit seinem Gewehr unter die Brücke und wartet. Der Drache Gorynytsch kommt herbeigeflogen: „Ich rieche Menschenfleisch!“ Iwan-Wassersohn antwortet: „Was für Menschenfleisch riechst du?“ Darauf der Drache Gorynytsch – er hatte aber drei Köpfe –: „Wie steht’s, wollen wir miteinander kämpfen oder Frieden halten?“ Iwan antwortet: „Nicht dazu bin ich gekommen, Frieden zu halten, sondern um zu kämpfen!“ Damit schwang er den Säbel und schlug ihm mit einem Male zwei Köpfe ab, schwang ihn ein zweites Mal und trennte ihm den letzten Kopf ab, und wie er den Säbel das dritte Mal geschwungen hatte, war der Drache völlig erledigt. Er hackte ihn in kleine Stücke, hob einen gewaltigen Stein in die Höhe und legte die Drachenknochen darunter. Dann geht er zur Zarentochter, nimmt sie bei der Hand und führt sie davon. An jener Stelle, auf der Brücke, nahm er Abschied von ihr. Sie aber gab ihm als Andenken ihr Taschentuch. Wo immer Tschugunkin der Zigeuner auch sein mochte, immer war er mit einem Fäßchen nach Wasser unterwegs. Er drehte das Fäßchen um: „Steig auf, Zarentochter, ich fahr dich heim!“ Und freut sich über den glücklichen Zufall. Während sie fuhren, fragt er sie aus: „Wie bist du denn am Leben geblieben?“ 123
„Ein wackerer Held ist gekommen, der hat mich freigekämpft.“ Er droht ihr: „Sag, ich hätte dich freigekämpft sonst bringe ich dich auf der Stelle um!“ Die Zarentochter fürchtete den Tod und schwur einen Eid, sie wolle es so sagen. Mutter und Vater sahen ihr Kind, ihre Tochter, gefahren kommen: „Ach, liebes Kind, wie bist du am Leben geblieben?“ Tschugunkin der Zigeuner sagt: „Ich habe sie freigekämpft.“ Da werden ihm Achtung und hohe Ehren zuteil. Wie der Abend kommt, muß Katja, die zweite Schwester, dorthin fahren. Ach, wie weint sie da: „Meine ältere Schwester ist am Leben geblieben, ich aber muß sterben, muß mich fressen lassen!“ Sie wurde genauso geschmückt und am gleichen Platz abgesetzt. Da kommt Iwan-Wassersohn: „Sei gegrüßt, schöne Jekaterina!“ „Sei gegrüßt, sei gegrüßt, wackerer Held. Weswegen hat Gott dich hierher verschlagen?“ „Gerade deinetwegen.“ „Hast du denn von mir gehört?“ „Ja“, sagt er, „ich will dich freikämpfen.“ „Ach, wenn Gott das doch gewähren wollte“, sagt Katja, „ich würde deine Braut.“ „Nun, soweit ist es noch nicht“, sagt IwanWassersohn. 124
Kaum haben sie zu Ende gesprochen, da kommt der zweite Drache Gorynytsch geflogen. Der hatte sechs Köpfe. Iwan begab sich wieder unter die Brücke. Der Drache kommt an die Brücke: „Ich rieche Menschenfleisch!“ „Was für Menschenfleisch riechst du?“ „Kämpfen wir, oder halten wir Frieden?“ „Nicht dazu bin ich gekommen, Frieden zu halten, sondern um zu kämpfen!“ Er holte zum ersten Mal aus – da flogen gleich drei Köpfe herunter, holte ein zweites Mal aus – und wieder flogen drei herunter. Beim dritten Mal hatte er ihn ganz und gar zusammengehauen, hob den gewaltigen Stein in die Höhe und legte die Knochen darunter. Darauf geht er zu Katja und sagt: „Komm mit mir“, sagt er. Und nahm sie bei der Hand. Sie dankte IwanWassersohn und schenkte ihm ihren Siegelring. Iwan begab sich wieder zum Wirtshaus, trank ein Schnäpschen und legte sich schlafen. Katja macht sich auf den Weg, und wieder kommt Tschugunkin der Zigeuner gefahren, um Wasser zu holen. Wie beim ersten Mal kehrt er das Fäßchen um und setzt Katja, die zweite Zarentochter, auf den Wagen. „Wie bist du denn am Leben geblieben?“ Sie erzählte ihm: so und so ist es gewesen. Er drohte auch ihr: „Sag, ich hätte dich freigekämpft, sonst bringe ich dich um!“ 125
Nun, auch Katja will nicht gern sterben, und sie schwur einen Eid: „Ich will sagen, daß du mich freigekämpft hast.“ Vater und Mutter freuten sich, gaben dem Zigeuner zu essen und zu trinken und erweisen ihm alle Ehren. In der dritten Nacht bringen sie die letzte Tochter an den gleichen Platz. Iwan-Wassersohn macht sich bereit, gleichfalls hinzugehen, und trägt dem Wirt auf: „Stell ein Glas mit Wasser vor dich. Wenn es zu sieden anfängt, laß meine Meute los.“ Iwan kam an die Stelle: „Sei gegrüßt, schöne Jungfrau!“ „Meinen Gruß, wackerer Held! Weswegen hat Gott dich hierher verschlagen?“ „Gerade deinetwegen, ich will dich freikämpfen.“ Darauf sie: „Wollte Gott es gewähren, ich würde deine Braut.“ „Komm herunter, wir wollen miteinander reden.“ Sie kam vom Turm herunter. Er band einen drei Pud schweren Stein über sich fest, und sie setzten sich beide unter diesen Stein. „Paß auf mich auf“, sagt Iwan. „Wenn ich einschlafe, mußt du mich aufwecken. Kommt nun der Drache geflogen“, sagt er, „und du kriegst mich nicht munter, dann laß den Stein auf mich herunterfallen.“
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Der Drache kam geflogen. Sie rief und rief, konnte Iwan jedoch auf keine Weise munter kriegen. Aber sie mochte den Stein nicht herunterfallen lassen, ihn nicht losbinden, denn sie fürchtete, es würde sein Tod sein. Da begann sie bitterlich zu weinen. Eine Träne aber tropfte herab und fiel auf seine Wange. Iwan-Wassersohn sprang in die Höhe – so heiß war ihre Träne gewesen. „Ach“, sagt er, „wie hast du mich verbrannt! Aber das macht nichts!“ Winkte ihr zu und rannte unter die Brücke. Diesmal kam ein Drache mit zwölf Köpfen geflogen: „Ich rieche Menschenfleisch!“ Iwan-Wassersohn antwortet: „Was für Menschenfleisch riechst du? Ich bin’s, Iwan-Wassersohn!“ „Schon gut, schon gut“, sagt der Drache, „habe schon gehört vom Hundesohn Iwan. Dem will ich’s im Kampf schon zeigen!“ Jener holte aus, nämlich Iwan-Wassersohn, da lagen sechs Köpfe unten. Der Drache holte mit dem Schwanz aus – die sechs Köpfe waren wieder nachgewachsen. Er holte ein zweites Mal aus, und wieder flogen sechs Köpfe herunter. Der Drache holte ein zweites Mal mit dem Schwanz aus und hatte wieder sechs neue Köpfe. Zum dritten Mal holte Iwan-Wassersohn aus, schlug sechs Köpfe herunter und zerschlug dabei seinen Säbel. Der Drache bekommt Iwans Hand mit den Zähnen zu packen.
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Jener Wirt aber hatte gesessen und gesessen und war dabei eingeschlafen. Das Glas siedete und siedete, platzte und traf ihn an der Backe. „Oh weh“, sagt er, „ich hab’s verschlafen!“ Iwans Meute aber war hinter zwölf Türen eingesperrt gewesen. Sechs Türen hatte die Meute schon durchgebissen, schlug mit den Füßen, knirschte mit den Zähnen und heulte. Der Wirt ließ die Meute los. Da stürzten sie sich auf den Drachen, rissen ihn in Stücke und befreiten IwanWassersohn aus seiner Not. Seine Hand war ein wenig zerbissen. „Das macht nichts“, sagte er, „das heilt wieder!“ Er sammelte die Knochen des Drachen zusammen und legte auch sie unter den gewaltigen Stein zu den Knochen seiner Brüder. Die Zarentochter Maria nahm ein Tuch von ihrem Kleid, verband ihm die Hand und gab ihm ihren Fingerring. Er ging nach Hause, trank einen Schnaps und legte sich schlafen. Dem Wirt aber trug er auf, niemandem Schnaps zu geben. Genau wie gestern kommt Tschugunkin der Zigeuner gefahren. Er erblickte Maria, die Zarentochter, stürzt das Fäßchen um und setzt sie auf seinen Wagen. „Nun, wie bist du am Leben geblieben?“ „Ein wackerer Held hat mich freigekämpft“, sagt sie. „Sag, ich war’s, sonst ist es dein Tod!“ Sie erschrak, die Zarentochter Maria, und schwur: 128
„Ich will sagen, du warst’s!“ Maria aber war die beste, die schönste unter den Zarentöchtern. Er sagt: „Ich werde dich heiraten!“ „Wenn du’s willst, werde ich deine Frau!“ Er brachte sie also heim, und Vater und Mutter sind froh: die dritte Tochter hatte er freigekämpft. Man erweist ihm Achtung und hohe Ehren. Der Zigeuner aber frohlockt und trägt die Nase hoch, daß man ihm Ehren erweist. Er schickt sich an, die Zarentochter Maria zu heiraten, Vater und Mutter sind einverstanden und geben sie ihm hin. Und, was denkst du, am Abend soll Hochzeit sein, soll der Zigeuner mit Maria, der Zarentochter, vermählt werden! Alle sind schon versammelt, da schickt man nach Schnaps ins Wirtshaus. Der Wirt aber gibt keinen Schnaps heraus. Der Zar sagt: „Was heißt das, gibt keinen Schnaps heraus?“ Und schickt seinen Diener: „Sag, der Zar hat’s befohlen!“ Der Wirt aber sagt: „Ich habe meinen eigenen Zaren!“ Der Diener kommt zurück und berichtet’s. Da wurde der Zar böse: „Was ist das denn für ein Zar?“ Nimmt seinen Säbel und will selbst fahren. Die Töchter aber witterten schon, was hier vorging. „Väterchen, wir möchten mitfahren!“ „Gut, fahren wir!“ Wie sie dort sind, fragt er: 129
„Wo ist dieser Zar?“ „Hier liegt er und schläft.“ Iwan-Wassersohn aber schlief einen gewaltigen Schlaf. Die Mädchen traten heran und erkannten ihn. Der Zar bemerkte an Iwans Hand das Tuch seiner Tochter Maria. Und plötzlich tritt die erste hinzu und holt ein Tüchlein aus seiner Tasche: „Das ist mein Tüchlein, Väterchen“, sagt sie, „mit meinem Namen.“ Die zweite aber sagt: „Ach, Väterchen, sieh nur, mein Siegelring steckt an seinem Finger.“ Die dritte sagt: „Und dies ist mein goldener Fingerring.“ Und sie können ihn nicht munter bekommen. Da ließen sie eine Kanone herbringen und begannen, aus der Kanone zu schießen, um ihn zu wekken. Iwan-Wassersohn erwachte und sah die Menge Volks. „Was ist“, sagt er, „warum stehen die vielen Leute hier?“ „Die Leute wollen Schnaps für eine Hochzeit haben.“ „Wer wird verheiratet?“ „Tschugunkin der Zigeuner!“ „Und weswegen, wieso?“ Der Zar begann, seine Worte zu erläutern: Tschugunkin habe seine Kinder freigekämpft. Iwan-Wassersohn will von ihm erfahren, wie er sie 130
freigekämpft hat. Sie fuhren an die Stelle, wo er mit den Drachen gekämpft hatte. Tschugunkin der Zigeuner zeigt: „Hier“, sagt er, „habe ich sie niedergehauen und dann unter diesen Stein gelegt.“ „Nun“, sagt Iwan Wassersohn, „heb mal hoch und laß uns die Knochen sehen!“ Der Zigeuner wand und drehte sich, aber von Heben ist keine Rede, nicht einmal ansehen kann er den Stein. Der Zar merkt, daß der Zigeuner im Unrecht ist und lügt. Iwan-Wassersohn hebt den Stein in die Höhe, und der Zar sieht, wieviele Drachenköpfe und Drachenknochen dort liegen. Vor Entsetzen wurde er ganz bleich. Iwan packte den Zigeuner bei den Haaren, legte ihn dorthin zum Drachen und wälzte den Stein wieder darüber. Da glaubte der Zar dem Iwan-Wassersohn, daß alles sein Werk war, daß er alle drei freigekämpft hatte. Von nun an fürchteten sie den Zigeuner nicht mehr, sondern waren lieb und zärtlich zu Iwan-Wassersohn. Iwan-Wassersohn sagt: „Ich will Eure Tochter Maria zur Frau nehmen!“ Vater und Mutter segneten ihre Tochter und brachten sie zur Vermählung. Da wurden sie Mann und Frau. So lebten sie nicht gar zu kurze, aber auch nicht gar zu lange Zeit. Einmal ging IwanWassersohn mit seinen Tieren auf die Jagd. Lange lief er im Walde umher, da fing er einen goldenen 131
Hasen. Er ließ ihn aber wieder laufen. Und weiter liefen sie im Wald umher, bis es Abend wurde. Sie wurden von der Dunkelheit überrascht und mußten die Nacht im Walde zubringen, IwanWassersohn und seine Meute. Sie entfachten ein Feuer, er wärmte sich und brät sich dann Schinken zum Abendessen. Die Meute aber sitzt um ihn herum. Da kommt, was meinst du, ein steinaltes Weib: „Wackerer Held, bind deine Meute an, ich fürchte mich sonst! Laß mich ein wenig ans Feuer!“ „Komm, Mütterchen, meine Meute wird dich nicht anrühren!“ „Nein, ich fürchte mich; nimm dieses Gürtelchen und binde die Meute fest, damit sie sich nicht vom Flecke rühren und mich nicht beißen kann.“ Er lieg sich verleiten, nahm den Gürtel und band die Meute. Da wurden alle seine Tiere zu Stein. Die alte Hexe aber war des Drachen Gorynytsch Mutter. Sie warf sich auf ihn, biß ihn zu Tode, schnitt ihn in Stücke, salzte die Stücke ein, warf sie in einen Korb und vergrub den Korb im Walde. Wie der Bruder Iwans, Michail-Wassersohn, sein Gewehr ansieht, ist es ganz schwarz geworden. Da weinte er bitterlich und begann, den Bruder zu suchen. Er kommt in jenes Reich und zu jenem Wirt: „Guten Tag!“ „Guten Tag!“
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Der Wirt nennt ihn Iwan-Wassersohn, verkannte ihn also: „Warum hast du dich denn so lange nicht sehen lassen? Kaum geheiratet, und gleich hochmütig geworden l“ Michail merkte, daß der Wirt ihn verkannte. Und es war unmöglich, sie zu unterscheiden, sie hatten ein und dasselbe Gesicht, auch ihre Meute war ein und dieselbe, alle Tiere und Vögel. Er kommt zum Schwiegervater Iwans und zu seinem Weib. Die freute sich, denn sie hatte ihn lange nicht gesehen. Er wurde freundlich aufgenommen und bewirtet, blieb aber unfroh. Sie nennt ihn IwanWassersohn, umarmt und küßt ihn. Aber nein, es ist nicht das richtige, immer seufzt er. Er spricht zwar viel, aber doch ohne den richtigen Eifer (liebkost sie nicht, wie ein Gemahl liebkost). Und gibt sich nicht zu erkennen, will sie nicht damit erschrecken, daß ihr Mann nicht mehr lebt; er erschreckt sie nicht. Dann legen sie sich schlafen. Er zieht weder die Kleider noch die Schuhe aus. Sie ruft ihn: „Wanja, Wanja“, aber er dreht sich mit dem Gesicht zur Wand, der Michail-Wassersohn, seufzt und weint bitterlich. Sie fragt ihn: „Hat dich vielleicht jemand gekränkt, hat dich vielleicht jemand bestohlen, oder hast du ein Tier aus deiner Meute verloren?“ Er schweigt weiter, weint nur und weint. Am Morgen erhebt er sich, ißt – sie brachten ihm zu essen und zu trinken – und geht auf die Jagd. Er lief lange, den gleichen Weg. Den gleichen goldenen Hasen fing er, und der führte ihn fast an 133
die gleiche Stelle, wo damals sein Bruder lag. Er wurde von der Dunkelheit überrascht und mußte mit seiner Meute im Wald übernachten. Er fachte ein Feuer an, holte Schinken aus seiner Jagdtasche, brät sich ein Abendbrot, sitzt und wärmt sich zusammen mit seiner Meute. Und, was denkst du, auf einmal kommt die Alte zu ihm: „Sei gegrüßt, wackerer Held!“ „Gruß, Gruß“, erwidert Michail-Wassersohn unlustig. „Kann ich mich bei dir ein wenig wärmen?“ „Das kannst du.“ „Nimm doch dieses Gürtelchen und binde deine Meute an, ich habe Angst.“ „Komm nur, komm, hab keine Angst, meine Meute rührt dich nicht an“, gibt Michail ihr grob zur Antwort. „Nein, guter Mann, nimm das Gürtelchen und binde sie fest.“ Er nahm das Gürtelchen und warf’s ins Feuer. Das Weib wollte sich schon auf MichailWassersohn stürzen, da packte der Löwe sie um die Mitte und der Bär lief hinzu, sie zu halten. „Oh, Michail-Wassersohn, laßt mich los!“ „Sag, wo ist mein Bruder?“ „Ich will’s sagen und dich führen!“ „Dann führe mich!“ Von jener Stelle aus liefen sie zehn Saschen und fanden des Bruders ganze versteinerte Meute. „Sprich, du Satan, womit kann man sie wieder zum Leben erwecken, diese Meute?“ „Nimm dieses Fläschchen und besprenge sie.“ 134
Er nahm das Fläschchen und besprengte die Meute, da schüttelten sich die Tiere und sprangen auf: der Löwe schlägt mit den Pranken und brüllt, und mit ihm brüllt die ganze Meute – ihr Herr ist nicht da. „Sprich, alter Satan, wo ist mein Bruder?“ „Au, laßt mich los, ich will zeigen, wo er vergraben liegt!“ „Nein, ich lasse dich nicht los, doch führe uns!“ Sie führte sie hin, der Bruder wurde ausgegraben und sah aus wie lebendig. Sie legten die Stücke aneinander, und die Tiere beleckten ihn mit ihren Zungen. Alle Narben und alle Wunden leckten sie zu, als wären sie genäht. „Sag, du Teufel, wie kann man ihn wieder zum Leben erwecken?“, fragte Michail-Wassersohn. In diesem Augenblick kam eine andere Zauberin vorbeigeflogen – eine Elster. „Fangt diese Elster da!“ Der Falke warf sich mit einem Male steil in die Luft, packte die Elster, zerriß sie über IwanWassersohn und besprengte ihn mit ihrem Blut. Iwan-Wassersohn stand auf und sagt: „Ach, Bruder, hab ich lange geschlafen!“ „Ja“, sagt der Bruder, „lange hättest du geschlafen, lange!“ Die Alte aber erschlug er, riß sie in Stücke und vergrub sie an eben dieser Stelle. Dann machen sich die beiden Brüder auf den Weg. Iwan rühmt sich vor Michail: „Bruder, ich habe geheiratet!“ Michail sagt: 135
„Ich bin bei euch gewesen, habe dein Weib gesehen, bei ihr geschlafen!“ Das ertrug Iwan-Wassersohn nicht, die Eifersucht packte ihn, und er schlug dem Bruder den Kopf ab. Die Meute umringte Michail-Wassersohn und heult, Iwan-Wassersohn aber geht zum Schloß. Er kommt nach Hause zu seinem jungen Weib. Doch sein Weib, von Michail gekränkt, empfängt ihn ohne Freude. Sie aßen zu abend, er versorgte seine Meute – und dann schnell zu seinem jungen Weib. So lange hatte er sie nicht gesehen, er freute sich auf sie, begann sie zu umarmen, zu küssen und zu liebkosen. Aber sie war beleidigt und blickt ihn finster an. Sie legten sich schlafen, und er fragt sie: „Warum bist du so böse auf mich?“ Sie antwortete ihm: „Wie habe ich dich liebkost in der vorigen Nacht! Du aber hast dich von mir abgewendet und kein Wort mit mir gesprochen. Ehrlich bekümmert habe ich dich gefragt, wer dich gekränkt hat, was man dir gestohlen hat oder ob du ein Tier aus deiner Meute verloren hast; aber du hast den ganzen Abend nur immer gejammert. Hast geweint und geweint und mir nicht geantwortet!“ Da wurde Iwan-Wassersohn sehr betrübt, und wie sein Bruder Michail verbrachte er die Nacht in Kummer. Am Morgen erhebt er sich und zieht mit seiner Meute wieder dorthin, wo der Bruder liegt. Da fliegt, was denkst du wohl, ein Rabe über dem toten Bruder. 136
Er schickte den Falken, den Raben zu fangen. Der Rabe sagt zum Falken: „Laß mich leben, ich will dir dienen!“ „Dann hilf mir in meiner Not!“ „Gewiß, ich will dir helfen!“ Er flog in den Wald, fand einen Gallapfel und brachte ihn Iwan-Wassersohn. Iwan drückte Michails Kopf an den Rumpf und preßte den Apfel aus. Von diesem Saft wurde Michail-Wassersohn wieder lebendig. Beide machten sich auf den Weg zum Schloß. Wie sie zu Hause ankommen, errät die Frau nicht, welcher ihr Mann ist und zu welchem sie gehen soll: ihre Sprache ist die gleiche, ihr Gesicht das gleiche. Dann erriet sie es: An seinem kleinen Finger steckte ihr Siegelring. Bald waren beide verheiratet, Michail heiratete die älteste Schwester, die Iwan zuerst freigekämpft hatte. Und der Zar gab jedem der beiden Brüder ein Reich und einen Teil seiner Schätze. Und als sie das alles erhielten und heirateten, war auch ich zum Gratulieren, wollt’ das Honigbier probieren, blieb alles an den Lippen hangen, der Mund ist leer ausgegangen. Und es geht ihnen gut, sie schicken mir Briefe, nur kommen sie nie an.
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24 Der Unterfähnrich Irgendwo in einem fernen Lande lebte ein Zar Artus. Dieser Zar hatte eine wunderschöne Tochter, die hieß Helena. Eines schönen Tages ging sie spazieren und kehrte vom Spaziergang nicht mehr zurück. Es verging ein Tag, es verging ein zweiter, aber von der Tochter war noch immer nichts zu sehen. Da läßt der Zar bekanntmachen: „Wer seine Tochter findet, dem will er sie zur Frau geben, und nach seinem Tode soll er sein Erbe sein.“ Und wer immer auch auszog, keiner konnte sie finden, und alle kehrten unverrichteterdinge zurück. Da erließ er eine zweite Bekanntmachung, eine strengere: „Wer die Tochter nicht findet, darf nicht zurückkehren, kehrt er aber zurück, soll er in den Kerker geworfen werden.“ Danach aber war es das gleiche: Wer immer auch auszog, keiner fand sie; einige kehrten zurück, andere blieben verschollen. Eines schönen Tags kommt zu diesem Zar Artus ein armseliger Soldat aus seiner Armee und sagt: „Laßt mich fahren!“ Der Zar musterte ihn und sagt: „Wohin willst du wohl fahren? Da sind schon andere ausgezogen und haben sie nicht gefunden.“
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Er bleibt beharrlich und dringt in den Zaren: „Ich werde sie finden, erlaubt mir nur, zwei Kameraden mitzunehmen, gleichfalls Soldaten. Mein Name ist Unterfähnrich.“ Der Zar schrieb sich den Namen auf und gab ihm noch die zwei Soldaten bei, deren Namen nicht bekannt sind. Danach gab er Anweisung, ein Schiff auszurüsten. Das Schiff wurde ausgerüstet, beladen, mit Lebensmitteln und Waffen versehen. Der Unterfähnrich ging mit seinen zwei Kameraden an Bord, und der Zar sagte dem Kapitän, er solle allen Befehlen des Unterfähnrichs gehorchen. Und gegen Abend fuhr das Schiff aus, Helena, die Zarentochter, zu suchen. Ob sie nun lange oder kurze Zeit fuhren, jedenfalls legten sie einige Male in Häfen und an Küsten an. Der Unterfähnrich forschte überall nach Zar Artus’ Tochter. Eines Nachts nun ging er auf Deck, einfach so, um sich zu ergehen und ein wenig frische Luft zu schnappen. Ringsum aber war das Meer von Wald umgeben. Unweit vom Ufer leuchtete im Walde ein Licht auf. Da gab er dem Kapitän Anweisung, auf diese Uferstelle zuzuhalten und anzulegen. Der Kapitän gehorchte, fuhr zur angegebenen Stelle, und sie legten am Ufer an. Der Kapitän ließ den Anker werfen, ging selbst zum Unterfähnrich, ihm zu melden, es sei alles in Ordnung. Als er zum Unterfähnrich kam, gibt der ihm folgenden Befehl:
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„Bis zu meiner und meiner Kameraden Rückkehr darf das Schiff ohne Erlaubnis nirgends hinfahren!“ Dann füllte er eine Tasche mit Schiffszwieback und Nahrungsmitteln, nahm ein Gewehr und ging mit den Kameraden auf jenes Licht zu. Ob sie nun lange oder kurze Zeit gegangen sind, jedenfalls kamen sie schließlich zu diesem Licht. Sie machten halt und blieben dort über Nacht. Am nächsten Morgen stehen sie auf und nähern sich der Hütte. Der Unterfähnrich ließ seine Kameraden zurück und ging hinein. Als er ins Innere trat, war da noch eine Tür. Er sah nach – sie war verschlossen. Da jedoch niemand in der Hütte war, kehrte er zu seinen Kameraden zurück. Wie er bei ihnen ist, sagt er: „Ich werde mit einem von euch auf die Jagd gehen, und einen lassen wir hier zum Suppekochen“ (weil ihnen nämlich, während sie zu dieser Hütte liefen, alle Lebensmittel ausgegangen waren). Einer der Kameraden blieb zurück und kochte Suppe. Es geht aber schon auf den Abend zu. Plötzlich tritt ein Mann ans Feuer heran, nicht gar zu klein, nicht gar zu groß – so hoch wie ein Haus. „Sei gegrüßt, Freund!“ sagt er. Er antwortet ihm: „Sei gegrüßt.“ Der Riese fragt: „Gibst du mir etwas Brei?“ Er antwortet ihm: 140
„Wir sind selbst unser drei, schon für uns ist’s zuwenig, und Proviant haben wir nicht.“ Da wurde der Riese böse und verprügelte den Soldaten. Als der Unterfähnrich und seine Kameraden zu dem Soldaten zurückkamen, der Suppe kochen sollte, fragen sie: „Ist die Suppe fertig?“ Er antwortet ihnen: „Nein, sie ist nicht fertig, ich habe sie gar nicht gekocht. Ich bin krank geworden und konnte nicht kochen.“ Am zweiten Tag ließ der Unterfähnrich den anderen Soldaten zurück, den aber, der die Suppe hatte kochen sollen, nimmt er mit auf die Jagd. Dieser Soldat machte ein Feuer, setzt sich hin, kocht seine Suppe und wartet, daß die Kameraden von der Jagd kommen. Doch statt der Kameraden erscheint ein Mann, nicht gar zu klein, nicht gar zu groß – so hoch wie ein Haus. „Sei gegrüßt, Freund!“, sagt er. Der Soldat antwortet: „Sei gegrüßt.“ Der Mann „nicht gar zu klein, nicht gar zu groß“ fragt: „Wie steht’s“, sagt er, „gibst du mir etwas Suppe?“ Darauf jener: „Wir sind selbst unser drei, ‘s ist für uns selbst zuwenig. Wollte man aber dich füttern, wär’s noch billiger, dich zu begraben, so ein Kerl, wie du bist.“ 141
Da verprügelte der Mann „nicht gar zu klein, nicht gar zu groß“ auch diesen Soldaten und schüttete die Suppe aus. Am Abend kommt der Unterfähnrich mit seinen Kameraden von der Jagd zurück, tritt ans Feuer und fragt: „Nun, wie steht’s“, sagt er, „ist die Kohlsuppe fertig?“ Der antwortet: „Nein, ich habe Bauchschmerzen bekommen und konnte sie nicht kochen, kann kaum noch sitzen.“ Da legten sie sich hungrig schlafen. Am dritten Morgen sagt der Unterfähnrich: „Geht ihr auf Jagd, ich will selbst hierbleiben und Suppe kochen.“ Die Kameraden gingen auf die Jagd. Unterwegs sprechen sie zueinander: „Soll’s ihm nur ergehen wie uns, soll er seine Suppe nur kochen!“ Der Unterfähnrich sitzt und kocht Suppe. Der Tag neigt sich schon dem Abend zu, die Suppe ist fertig, und der Unterfähnrich wartet – bald müssen die Kameraden von der Jagd kommen. Doch statt der Kameraden sieht er, wie ein Riese näherkommt, nicht gar zu klein, nicht gar zu groß, so hoch wie ein Haus. Als der Mann „nicht gar zu klein, nicht gar zu groß“ beim Unterfähnrich ist, begrüßt er ihn: „Sei gegrüßt, Freund.“ Der Unterfähnrich antwortet: „Sei gegrüßt.“ 142
Da fragt ihn der Riese: „Gibst du mir etwas Suppe?“ Der Unterfähnrich gibt ihm zur Antwort: „Nicht nur etwas Suppe, auch eine Ente werden wir aus der Suppe fischen. Für einen Gast können wir alles tun, auch das Letzte mit ihm teilen.“ Da antwortet der Mann „nicht gar zu klein, nicht gar zu groß“: „So lange lebe ich schon hier“, sagt er, „und suche einen Kameraden, mit dem man sich ein wenig unterhalten und die Zeit vertreiben kann, aber außer dir habe ich noch keinen getroffen. Laß deine Suppe stehen“, sagte er, „und komm mit in mein Haus.“ Als sie im Hause des Riesen waren, klopfte der auf den Tisch, da erschienen auf dem Tisch verschiedene Weine, Leckerbissen, alles, was das Herz begehrt. Der Mann „nicht gar zu klein und nicht gar zu groß“ sagt: „Trink, soviel du willst! Ich werde auch mittrinken.“ Der Unterfähnrich trank ein halbes Glas und nicht mehr, doch der Mann „nicht gar zu klein und nicht gar zu groß“ trank sich einen gewaltigen Rausch an, legte sich dann auf den Fußboden, von der einen Zimmerecke bis zur andern, und fiel in einen tiefen Schlaf. Da warf der Unterfähnrich einen Blick ins andere Zimmer. Dort stand ein Tisch, und an diesem Tisch saß ein steinaltes Weib, die Haare schlohweiß. Das sagt: 143
„Junger Mann, warum bist du hierher gekommen? Wenn der Mann ‚nicht gar zu klein und nicht gar zu groß’ aufwacht, wird er dich totschlagen.“ Als die Alte diese Worte gesprochen hatte, ging sie hinaus und kehrte nicht wieder. Da nahm der Unterfähnrich des Riesen Schwert und schlug ihm mit seinem eigenen Schwert den Kopf ab. Als er den Kopf abgeschlagen hatte, untersuchte er die Taschen des Mannes „nicht gar zu klein und nicht gar zu groß“ und fand darin ein Schlüsselbund. Er öffnete die erste Tür – dort war es leer; er öffnete die zweite Tür – dort war es auch leer. So lief er durch fünf Zimmer, und immer waren sie leer. Darauf öffnete er noch eine Tür, und im sechsten Zimmer war es etwas heller. Und als er die siebente Tür öffnete, saß da die wunderschöne Helena, des Zaren Artus Tochter. Als er dieses Zimmer betreten hatte, sagte sie zu ihm: „Ach, kleiner Soldat wie bist du nur hierhergekommen. Solange ich hier sitze, ist noch niemand bei mir gewesen. Gleich wird der Riese kommen und dich zermalmen.“ Er antwortet ihr: „Keine Angst. Dem Riesen habe ich schon den Kopf abgeschlagen, und du“, sagt er, „bist frei. Jetzt wollen wir an Bord gehen und abfahren. Nicht weit von hier wartet das Schiff. Wir gehen an Bord und fahren nach Hause zu deinem Vater.“ Sie verließen das Zimmer und machten sich auf den Weg zum Schiff. Unterwegs erzählte er ihr,
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daß er hergeschickt sei, sie zu finden, und daß sie sein Weib werden solle. Wie sie schon auf dem Schiff waren, fiel ihr ein: „Ach, Liebster, ich habe meinen Siegelring auf der Fensterbank liegengelassen.“ Der Unterfähnrich gibt dem Kapitän Anweisung, ohne ihn nicht in See zu stechen, und geht, den Ring zu holen. Als er das Schiff verlassen hatte, ließ der Kapitän den Anker lichten, die Taue kappen und machte sich auf die Heimfahrt zu Helenas Vater, dem Zaren Artus. Unterwegs sagte er zu ihr: „Sage, daß ich dich gefunden habe, oder ich werfe dich ins Meer.“ Da schwur sie ihm, wenn sie ankämen, wolle sie dem Vater sagen: Du hast mich gerettet. Als sie in der Heimat anlegten, hatte sie Angst, den Schwur zu brechen, und sagte zum Vater: „Gerettet hat mich der Kapitän.“ Da segnete der Zar die beiden, gab seine Tochter diesem Kapitän zum Weib und vermachte ihm das ganze Erbe. Nun wollen wir die beiden ein wenig verlassen und sehen, wie es dem Unterfähnrich erging. Als der Unterfähnrich mit jenem Ring aus dem Haus getreten war, hatte er sich nach der Stelle begeben, wo das Schiff lag. Doch als er hinkam, erblickte er nur den leeren Platz und die liegengebliebenen Tauenden. Da wurde er sehr betrübt, blieb zwei Stunden dort sitzen und dachte nach. Dann stand er auf und ging durch den Wald, ein Obdach zu suchen: „Es ist doch unmöglich, daß 145
dieser Wald kein Ende nimmt!“ Wir wissen nicht, ob er lange Zeit lief oder kurze Zeit, jedenfalls verließen den Unterfähnrich nicht weit von einem Haus die Kräfte, da er ohne etwas zu essen so lange umhergestreift war; er legte sich hin, um ein wenig auszuruhen, und konnte sich nicht wieder erheben. So lag er etwa einen Tag und eine Nacht. Am zweiten Tag kommt ein unbekannter Mann zu ihm und will ein Gespräch mit ihm anfangen, doch der Unterfähnrich kann ihm schon nicht mehr antworten. Da nahm der unbekannte Mann ihn mit, brachte ihn nach Hause, goß ihm ein kleines Gläschen Wein ein und gab ihm ein kleines Stückchen Brot. Nach einer Weile goß er ihm noch ein Gläschen Wein ein und gab ihm ein Stück Brot. Und beim dritten Mal goß er ihm wieder ein Gläschen Wein ein und gab ihm eine größere Portion zu essen. Da sagt der Unterfähnrich: „Warum gebt Ihr mir nicht mehr zu essen?“ Der unbekannte junge Bursche, Wanjuscha mit Namen, antwortet ihm: „Du darfst nicht mehr bekommen, weil du sehr ausgehungert bist; du könntest dich überessen und sterben.“ Am nächsten Tag fragt Wanjuscha: „Wie heißt du?“ „Ich heiße Unterfähnrich.“ Da sagt er zu ihm: „Höre, Unterfähnrich, verdinge dich bei uns als Knecht. Du wirst nicht bloß Knecht sein, sondern fast ganz dein eigener Herr.“
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Dazu gab der Unterfähnrich sein Einverständnis. Darauf holte Wanjuscha Schlüssel aus der Tasche und gibt sie ihm. „Hier hast du die Schlüssel“, sagt er. „Wieviele ihrer auch sind, du kannst überall hineingehen, aber dieser Schlüssel hier ist von dieser Kammer. Die verbiete ich dir, und wenn du diese Abmachung übertrittst, werden wir dich bestrafen. Doch jetzt komm, du mußt mir erzählen, wie es dich in diesen Wald verschlagen hat und wer du bist. Da begann der Unterfähnrich, ihm alles zu erzählen. „Ich bin“, sagt er, „ein Soldat aus Zar Artus’ Reich. Dessen Tochter war verschollen. Ich äußerte den Wunsch, diese Tochter zu suchen und sie Zar Artus wiederzubringen, wofür er mir versprach, sie mir zum Weib zu geben und mir nach seinem Tode seinen Besitz zu vermachen.“ Dort lebt also der Unterfähnrich einen Monat, einen zweiten, auch einen dritten, und er bekam große Sehnsucht, so schön war Helena gewesen, als er sie im Zimmer bei dem Mann „nicht gar zu klein und nicht gar zu groß“ gesehen hatte, und er dachte: „Ich will doch in diese Kammer gehen und sehen, was darin ist. Was soll schon daraus werden! Wenn sie mich davonjagen, gehe ich eben.“ Nahm den Schlüssel und ging, die verbotene Kammer aufzuschließen. Als er sie geöffnet hatte, ertönten Kanonenschüsse, Lärm und Sausen. Und im gleichen Augenblick kam Wanjuscha herzuge147
rannt und begann, den Unterfähnrich auszuschelten. „Ach, du Tölpel, was habe ich dir denn gesagt! Was hast du angerichtet! Wie soll man dich jetzt bestrafen? Nun gut, das erste Mal will ich dir noch vergeben.“ Und der Unterfähnrich verbrachte dort ein Jahr seit dem Tage, da er die Abmachung übertreten und die Kammer geöffnet hatte. Da wurde er noch trauriger und beschloß, die verbotene Kammer ein zweites Mal zu öffnen. Als er sie geöffnet hatte, geschah darin ganz das gleiche: Sausen und Kanonenschüsse. In diesem Augenblick kam Wanjuscha herzugelaufen, nahm ihm den Schlüssel weg und jagte ihn davon. Als jedoch eine halbe Stunde vergangen war, bekam Wanjuscha Mitleid mit dem Unterfähnrich, rief ihn zurück und sagt: „Du bist sicher wegen deiner Geliebten sehr traurig?“ Der Unterfähnrich antwortet: „Ja.“ Da sagt er zu ihm: „Ich will“, sagt er, „mit meinem Onkel über dich sprechen. Vielleicht können wir dir mit irgend etwas helfen.“ Als Wanjuscha mit dem Onkel gesprochen hatte, erlaubte dieser, dem Unterfähnrich ein altes Pferd und einen verrosteten Zaubersäbel zu geben. Wanjuscha läßt den Unterfähnrich kommen, ruft die Diener und sagt zu den Dienern: „Bringt Großvaters verrosteten Säbel!“ 148
Als sie diesen verrosteten Säbel gebracht hatten, nahm Wanjuscha ihn und gibt ihn dem Unterfähnrich. „Und jetzt“, sagt er, „geht und bringt das alte Pferd!“ Die Diener gingen, sattelten das Pferd und bringen es Wanjuscha. Da sagt Wanjuscha: „Gebt es dem Unterfähnrich!“ Der Unterfähnrich bestieg das Pferd, nahm den Säbel und denkt: „Was soll ich mit diesem Säbel, da er doch ganz verrostet ist, und dazu dieses alte Pferd?“ Wanjuscha antwortet: „Reite bis zu diesem Wald dort“, sagte er, „schwinge einmal den Säbel und paß auf, was geschieht. Was jedoch das Pferd anlangt, so wirst du dich selbst überzeugen können.“ Der Unterfähnrich ritt bis zu jenem Wald, schwang einmal den Säbel – gleich lag der halbe Wald am Boden. Da kehrte er um, dankte Wanja und seinem Onkel und machte sich auf den Weg in Zar Artus’ Reich. Als er beim Zaren angekommen war und sich im Schloß meldete, war Helena schon verheiratet und lebt mit dem Kapitän. Da ging der Unterfähnrich zum Zaren selbst hinein und sagt: „Warum habt Ihr wider Euer eigenes Gesetz gehandelt? Als ich auszog, Eure Tochter zu suchen, habe ich sie gefunden. Ihr aber seid Eurem
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Wort untreu geworden und habt sie einem anderen zum Weib gegeben!“ Zar Artus fragt ihn: „Womit kannst du beweisen, daß du sie gefunden hast, und wie ist das alles vor sich gegangen?“ Der Unterfähnrich antwortet: „Nachdem ich Helena in einer mir auch jetzt noch unbekannten Gegend gefunden hatte, nahm ich sie und ging mit ihr zum Schiff. Als wir auf dem Schiff waren, sagt sie zu mir: ,Ich habe meinen Ring liegen lassen, den mir der Vater geschenkt hat.’ Ich kehrte um, den Ring zu holen, unterdessen aber stach der Schiffskapitän in See, und ich blieb allein zurück. Zum Beweis aber nehmt dies hier, Väterchen Zar!“ Und er streckt die Hand aus und zeigt den Ring, den Helena bei dem Mann „nicht gar zu klein und nicht gar zu groß“ vergessen hatte. Da befahl Zar Artus, ihm seine Tochter zu bringen. Als die Tochter erschien, sagte er: „Wie hat sich das zugetragen, daß du mich belogen hast? Denn hier steht der Mann, der dich fand, und er hat bewiesen, daß er dich fand und rettete.“ Sie sagt zu ihm: „Ja, es ist wahr, ich habe dich belogen. Aber ich war gezwungen, dich zu belügen, denn der Kapitän hatte die Anker lichten lassen, und als wir auf hoher See waren, bedrohte er mich: ‚Sage, daß ich dich gerettet habe, sonst werfe ich dich ins
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Meer.’ Daraufhin habe ich ihm geschworen, dir zu sagen, er habe mich gerettet.“ Da rief Zar Artus den Henker und ließ den Kapitän in Gegenwart des Unterfähnrichs hinrichten, seine Tochter aber vermählte er zum zweitenmal, mit dem Unterfähnrich. Und auf den dritten Tag lieg er im Schloß ein großes Fest zu Ehren der Wahrheit veranstalten, zu dem aus dem Nachbarreich der König Dadon eingeladen wurde. Auf dem Feste verliebte sich Helena in den König, und als die Gäste wieder heimgefahren waren, schrieb sie diesem König Dadon einen Brief, in dem es hieß: „Überziehe meinen Vater in einem halben Monat mit Krieg. Ich werde dir helfen.“ Zwei Wochen vergingen, und König Dadon erklärt dem Zaren Artus den Krieg. Aber Zar Artus war zu dieser Zeit nicht vorbereitet und wurde sehr bekümmert. Er ruft den Schwiegersohn zu Hilfe und sagt ihm: „König Dadon hat uns den Krieg erklärt, aber unser Heer ist noch nicht bereit.“ Darauf antwortet ihm der Unterfähnrich: „Väterchen, treib mir ein Heer wenigstens so groß wie ein Regiment auf, und selbst das ist noch zu viel. Ich will allein die ganze Welt bezwingen!“ Der Vater sagt ihm: „Ich werde dir nicht nur ein Regiment, nein, zwei werde ich dir aus dem ganzen Reich geben.“ Das Heer König Dadons aber nähert sich schon der Grenze von Zar Artus’ Reich. Da zog der Unterfähnrich mit zwei Regimentern aus, gegen das 151
zahlreiche Heer König Dadons zu kämpfen. Kaum hatte er sich mit seinem Heer aufgestellt, begann sein Gegner zu höhnen: „Was ist er mit zehn Soldaten ausgezogen? Was will er damit ausrichten?“ Der Unterfähnrich zog seinen Säbel und schwang ihn einmal – sogleich lag das halbe Heer am Boden. Er schwang ihn ein zweites Mal, und von Dadons Heer war nichts mehr zu sehen. Da kehrt der Unterfähnrich heim zu seinem Schwiegervater, ohne auch nur einen einzigen Mann aus seinem Heer verloren zu haben, und der Schwiegervater freute sich sehr über ihn. Darauf schreibt sie ihm einen zweiten Brief: „Mein Liebster, sammle ein noch größeres Heer und ziehe aus, denn mein Vater hat überhaupt kein Heer, und du kannst ihn besiegen.“ König Dadon erklärte Zar Artus zum zweiten Male den Krieg. Zar Artus aber rief wieder seinen Schwiegersohn, den Unterfähnrich, und sagte ihm, daß König Dadon erneut den Krieg erklärt habe. Der Unterfähnrich antwortet: „Ziehe nicht erst überflüssige Truppen zusammen; die in der Festung liegen, genügen.“ Und er zog mit seinem Heer aus, mähte das Heer König Dadons nieder und kehrte heim zu seinem Schwiegervater. Da sagt Helena, des Unterfähnrichs Weib und Zar Artus’ Tochter, zu ihrem Mann:
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„Liebster, woher bist du so stark und klug? Warum siegst du immer, und woher kommt dir solche Stärke?“ Doch der Unterfähnrich antwortete ihr hierauf nichts, denn ihm war aufgetragen worden, nichts von dem Zaubersäbel zu erzählen, nicht einmal seinem lieben Weib: denn die wird dich noch eher als ein Kamerad verraten. Aber Helena gab sich hiermit nicht zufrieden. Bald umarmt sie ihn, bald küßt sie ihn und tut, als ob sie den Unterfähnrich sehr, sehr liebe. Sie gießt ihm ein Glas Wein ein und sagt: „Trink dies von mir!“ Er trank aus. Da fragt sie: „Nun sag mir doch, warum bist so stark, so tapfer, warum siegst du immer?“ Der Unterfähnrich argwöhnte nichts und sagt zu seinem Weib: „Ich habe einen Freund, er hängt an der Wand, mit dem ich die ganze weite Welt bezwingen kann. Dort dieser Säbel“, sagt er, „es ist ein Zaubersäbel. Du brauchst ihn nur einmal zu schwingen, und ganze Heere sinken zu Boden.“ Und nach diesen Worten fiel der Unterfähnrich in einen tiefen Schlaf. Als er eingeschlafen war, rief Helena ihre Dienerin und sagte: „Geh in die Rüstkammer und bringe von dort einen Säbel, ganz genau wie diesen da, der an der Wand hängt!“ Die Dienerin ging und brachte einen Säbel, genau so einen, wie dieser war. Da wickelte Helena 153
den Zaubersäbel in Papier, schrieb König Dadon einen Brief und schickte Brief und Säbel mit einem Eilboten zu König Dadon. Den Säbel aus der Rüstkammer aber steckte sie in die Scheide des Unterfähnrichs. Als König Dadon Brief und Säbel erhalten hatte, erklärt er Zar Artus zum dritten Mal den Krieg. Da ruft Zar Artus wieder seinen Schwiegersohn und sagt zu ihm: „König Dadon hat uns zum dritten Mal den Krieg erklärt.“ Worauf der Unterfähnrich antwortet: „Väterchen, ich brauche keinen einzigen Mann, ich werde allein mit ihm fertig.“ König Dadon aber, nachdem er Brief und Säbel erhalten hatte, nahm gleichfalls kein Heer mit, sondern zog auch allein ins Feld. Als sie auf dem Schlachtfeld angekommen waren, zog der Unterfähnrich, von der Vertauschung nichts ahnend, seinen Säbel und schwang ihn, doch oh weh, er wirkt nicht. Da zieht König Dadon seinen Säbel aus der Scheide und schwang ihn gewaltig; doch erschlug er den Unterfähnrich nicht, sondern warf ihn nur aus dem Sattel und befahl seinen Leibwächtern, ihn an den Schwanz seines eigenen Pferdes zu binden: Soll das Pferd ihn zu Tode schleifen. Zar Artus’ Schloß besetzte er, nahm Helena zum Weibe und sperrte ihren Vater und ihre Mutter in eine steinerne Säule. Aber nun wollen wir die beiden in Ruhe lassen, sollen sie leben und
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herrschen, wir aber gehen über zur weiteren Beschreibung des Lebens unseres Unterfähnrichs. Das Pferd des Unterfähnrichs war sehr klug. Als sie ihm den Unterfähnrich an den Schwanz gebunden hatten, war es zunächst losgerannt, hatte dann aber zweimal das Hinterteil in die Höhe geworfen und sich den Unterfähnrich auf den Rükken gesetzt. Dann war es davongejagt zu eben dem Onkel, von dem es zusammen mit dem Unterfähnrich gekommen war. Kaum lief es in den Hof ein, begann es zu wiehern. Der Onkel hörte das: „Wanjuscha, sieh, unser Pferd ist wieder da!“ Als Wanjuscha hinausging und nachsah, war tatsächlich ihr altes Pferd wieder da, und darauf saß, verkehrtherum, der Unterfähnrich. Da befahl Wanjuscha seinen Knechten, den Unterfähnrich vom Schwanz des Pferdes loszubinden und mit einem Kehrichtbesen vom Hof zu jagen, das Pferd aber in den Stall zu führen. Weit ging der Unterfähnrich nicht vom Hof fort. Er setzte sich hin, sitzt und weint. Ob er nun lange Zeit dort gesessen hat oder kurze, das wissen wir nicht, jedenfalls ging er zu dem Onkel zurück und bat, er möge ihm helfen, sich irgendwie an König Dadon und seinem Weib Helena zu rächen. Der Onkel bekam Mitleid, als er des Unterfähnrichs Bitte hörte, rief seinen Wanjuscha und sagte: „Bring die drei Blumen aus meiner Kammer, aus der, in die nur ich gehe.“
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Wanjuscha ging und bringt drei Blumen: die erste rot, die zweite weiß und die dritte blau. Brachte sie und gibt sie dem Unterfähnrich: „Hier nimm die rote Blume. Kommst du in einen Wald, dann iß diese Blume, und du wirst zur Blindschleiche und kannst an allen Tieren vorbeischleichen, die in diesem Walde sind. Die Tiere werden wittern, daß ein Mensch da ist, aber dich nicht finden. Die zweite, weiße aber sollst du essen, wenn ein Fluß kommt. Du wirst zum Fisch und kannst diesen Fluß durchschwimmen. Wann du aber die dritte essen sollst, das wirst du aus dem erkennen, was geschieht, und mußt du selbst entscheiden.“ Nachdem der Unterfähnrich die Blumen bekommen hatte, bedankte er sich bei Wanjuscha und seinem Onkel und machte sich auf den Weg. Als er an einen undurchdringlichen Wald kam, voll wilder Tiere, aß er die rote Blume, wurde zur Blindschleiche und kroch wohlbehalten durch diesen Wald. Danach geht er weiter – da fließt ein reißender Strom, so breit, daß er ihn nicht durchwaten noch durchschwimmen kann. Er aß die weiße Blume, wurde zum Fisch und kam gut durch den Fluß. Als er am anderen Ufer war, stand er auf und ging weiter. Lief und lief und denkt: „Wie lange soll ich noch gehen? Ich will doch die letzte, die blaue Blume essen und sehen, was daraus wird.“ Als er die blaue Blume gegessen hatte, wurde er zu einem Hengst mit goldener Mähne und gol156
denem Schweif und rannte in jenes Reich, wo König Dadon mit seiner Helena lebte. Er kommt in jenes Reich, rennt in ein Dorf und läuft in den Hof eines armen, armen Bauern. Läuft in den Hof und geradenwegs zur Krippe. Die alte Bäuerin aber kam heraus, erblickte dieses Pferd, geht wieder in ihre Hütte hinein und sagt: „Alter, Alter, sieh nur, was für ein schönes Pferd bei uns steht. Wir wollen’s in die Hauptstadt bringen, wo der König wohnt, und es dort auf dem Markt verkaufen!“ Gerade als sie es auf den Markt gebracht hatten, fuhr König Dadon durch die Stadt. Er sah dieses Pferd und fragt: „Hör, Bauer, wie steht’s, verkaufst du das Pferd?“ „Ja, Väterchen“, sagt der, „ich verkauf’s.“ „Und wieviel willst du dafür?“ Der Alte antwortet: „Zweitausend, Väterchen.“ König Dadon holte zweitausend Rubel hervor, bezahlte dem Alten das Pferd, nahm’s und führte es in sein Schloß. Als er es ins Schloß gebracht hatte, kam Helena heraus und sagte: „Höre, Liebster, das ist kein Pferd, sondern mein früherer Gemahl und dein schlimmster Feind!“ Er fragt sie: „Und was soll mit ihm geschehen?“ Sie antwortet ihm:
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.Man muß es töten, verbrennen und die Asche in den Wind streuen, damit nichts übrig bleibt.“ Er befahl seinen Dienern, das Pferd anzubinden und es am nächsten Tage frühmorgens aufs Feld hinauszuführen, zu töten, zu verbrennen und die Asche zu verstreuen. Eine Dienerin aber hörte dieses Gespräch. Sie kam heraus und sagt: „Ach, was für ein schönes Pferd, und sie wollen’s töten. Wie können sie das nur tun?“ Das Pferd aber spricht zu ihr mit Menschenstimme: „Wenn sie mich aufs Feld geführt haben und mich das erste Mal schlagen, wird mir ein Zahn herausspringen, dir gerade in den Schuh. Blicke dich ja nicht um, geh und vergrabe diesen Zahn unter der Ecke der Kammer, in der Zar Dadon mit seinem Weibe schläft.“ Als sie es aufs Feld hinausgeführt hatten, schlugen sie es gegen die Stirn, ein Zahn sprang heraus und der Dienerin in den Schuh. Sie sagte kein Wort, drehte sich um, ging und pflanzte diesen Zahn unter die Ecke der Kammer, wo König Dadon mit seinem Weibe schlief. Das Pferd aber erschlugen sie, verbrannten’s und streuten die Asche in den Wind. Am nächsten Tage wacht König Dadon früh am Morgen auf, tritt aus der Kammer ins Freie, da wächst nicht weit von der Kammer ein goldener Apfelbaum, und darauf sind goldene Äpfel. Er weckt sein Weib:
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„Helena, sieh, was für ein schöner Apfelbaum bei uns steht!“ Sie antwortet ihm: .Ach, Liebster, rühr ihn nicht an, das ist kein Apfelbaum, sondern mein früherer Gemahl, und für dich der Tod!“ Er sagt: „Und was soll mit ihm geschehen?“ „Man muß ihn umhauen, verbrennen und die Asche in den Wind streuen.“ Die Dienerin aber hört dieses Gespräch, kommt heraus und sagt: „Was für ein schöner Apfelbaum, und sie wollen ihn umhauen!“ Da sagt er zu ihr: „Sobald sie zum ersten Mal mit der Axt auf mich einbauen werden, wird ein Span zu dir in den Schuh fliegen. Drehe dich um und geh, nimm den Span und wirf ihn in den Teich, wo frühmorgens König Dadon zu baden pflegt.“ Die Dienerin tat dies auch. Sobald sie mit der Axt den ersten Schlag getan hatten, flog ihr ein Span in den Schuh, sie sagte kein Wort, drehte sich um und ging zum Teich, holte den Span hervor und warf ihn hinein. Dann kehrte sie um und ging ins Schloß. Am nächsten Tag erhebt sich König Dadon früh am Morgen vom Lager und geht zum Teich baden. Wie er an den Teich kam, sah er einen sehr schönen Erpel, der schwimmt in der Nähe des Ufers, hat einen goldenen Kopf und goldene Federn. Er wirft das Zauberschwert von sich (denn sonst leg159
te er es nie ab und schlief sogar mit ihm), zieht sein Gewand aus und steigt in den Teich, diesem Erpel nach. Doch der Erpel entfernt sich ein wenig vom Ufer. Und er lockte König Dadon so weit, bis ihm das Wasser schon an die Schultern reichte. Da erhebt er sich vom Wasser, läßt sich am Ufer zu Boden gleiten und wird zu einem Menschen, zum Unterfähnrich. Nimmt seinen Zaubersäbel und sagt: „Nun, Bösewicht, komm heraus!“ In diesem Augenblick kommt sein früheres Weib Helena gelaufen und schreit: „Ach, Liebster, das ist kein Erpel, sondern mein früherer Gemahl und für dich der Tod!“ Da dreht sich der Unterfähnrich zu ihr und sagt: „Ja, ich bin dein früherer Gemahl, und für euch beide der Tod!“ Er holt mit dem Säbel aus und schlägt durch vom Kopf bis zu den Füßen. Und kaum war König Dadon ans Ufer gekommen, schlug er ihm den Kopf ab. Danach kehrte er ins Schloß zurück und heiratete die Dienerin, die ihn gerettet hatte, als er ein goldenes Pferd und ein goldener Apfelbaum gewesen war. Nun wurde er der Erbe von Artus’ Reich und gab ein Fest für alle Welt, auf dem auch ich war. Denn auch mich lud er ein, ich trank Honigbier und Wein! Nun, und damit wollen wir Schluß machen.
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25 Wanjuschka Ein Vater brachte seinen Sohn Wanjuschka in die Lehre. Unterwegs überraschte sie ein Unwetter. Es regnete, und sie verirrten sich. Unversehens kamen sie zu einem Haus. „Wir wollen uns an den Zaun stellen, Vater, dann wird uns der Regen nicht so peitschen.“ In diesem Hause aber wohnt ein alter Mann, der ist fünfhundert Jahre alt. Der hörte diese Worte: „Wer ist da an meinem Haus?“ – „Ich und mein Sohn.“ – „Aha!“, sagte der Alte. „Kommt herein!“ Er ließ sie ein und fragte: „Wohin wollt ihr?“ – „Meinen Sohn in die Lehre geben!“ – „Laß ihn für drei Jahre bei mir, ich will ihn lehren, was schlecht und was gut ist.“ Der Vater war’s einverstanden. Die Nacht über blieben sie dort. Der freundliche Alte lehrte ihn, den Samowar anzusetzen: Er goß Wasser ein und legte glühende Kohlen auf. „Wanjuschka, bring aus dem Zimmer, was dort auf dem Tisch ist!“ Da brachte er ihnen von allem: Gesottenes und Gebratenes. „Das ist wirklich ein guter Herr, er hat uns gut bewirtet. Gehorche ihm in allem!“ Er begleitete den Vater ein Stück auf dem Heimweg und gab ihm Brot und was sonst noch nötig ist als Wegzehrung mit. Der Sohn bleibt bei dem Alten, lebt ein Jahr dort, lebt auch ein zweites und vom dritten die 161
Hälfte. „Warum lehrst du mich kein Handwerk? So kann ich es auch zu Hause haben. Wenn du mich nichts lehrst, gehe ich nach Hause, lehrst du mich aber etwas, bleibe ich.“ Der Alte vertraute ihm von sieben Zimmern die Schlüssel an: „Nun, Wanjuschka, zu welchem Handwerk du Lust hast, das lerne auch!“ Als der Alte fort war, ging Wanjuschka durch die Zimmer. Er kam ins erste Zimmer: da lag ein großer Haufen Kupfergeld. Wanjuschka trottete ins zweite Zimmer: da lag gleichfalls ein Haufen, Silber, und nicht weniger als vom Kupfer. „Was ist der Alte reich!“ Er ging ins dritte Zimmer: dort lagen ganze Berge von Silber. Wie er ins vierte Zimmer kam, lagen dort Stapel von Papiergeld. „Wozu brauche ich ein Handwerk! Wenn mir der Alte einen Arm voll Geld gibt, kann mir jedes Handwerk gestohlen bleiben!“ Er kam ins fünfte Zimmer: da waren Teppiche ausgebreitet, mit Edelsteinen besetzt, und an den Wänden hingen Geigen und Gitarren. „Was für ein komischer Kauz doch der Alte ist!“ Er ging ins sechste Zimmer – da waren alle Arten von Vögeln gefangen, die sangen mit den verschiedensten Stimmen. Wanjuschka verwunderte sich: „Die wollen gefangen sein!“ Wanjuschka geht einen Tag und einen zweiten durch diese Zimmer. Der Alte sagt: „Wie ist’s, Wanjuschka, welches Handwerk lernst du?“ – „Was soll mir denn ein Handwerk, Großväterchen! Wenn du mir ein ordentliches Bündel Geld zurechtmachst, brauche ich überhaupt kein Hand162
werk“, erwiderte Wanjuschka. „Lerne irgend etwas, irgendein Handwerk!“ – „Na schön!“ Der Alte zog auf die Jagd, Wanjuschka aber nahm die Schlüssel und ging durch die Zimmer. Schließlich kam er zum siebenten Zimmer. „Ei, was für eine feste Tür!“ Dieses Zimmer hatte der Alte Wanjuschka verboten, aber da war wohl gerade das Beste drin. Wie er hinsieht, ist in der Tür ein Ast. Er nahm einen hölzernen Schlägel und schlug den Ast heraus. Da sieht er im Zimmer drei Jungfrauen sitzen und Teppiche mit Edelsteinen besticken. Wanjuschka stieß einen Seufzer aus. Die Jungfrauen sagten: „Wanjuschka, warum kommst du uns nicht besuchen?“ – „Ich bin noch zu jung, zu eurem Zimmer gibt mir das Großväterchen den Schlüssel nicht.“ – „Nun, da können wir dir einen Rat geben.“ – „Ratet mir!“ – „Wenn der Alte am Abend heimkommt, gib ihm ein Gläschen Wein, auch zwei, sogar drei – dem Alten!…“ Abends kommt der Alte heim. „Ach, Großväterchen, jeden Tag gehst du fort, sicher bist du sehr müde?“ – „Natürlich, Wanjuschka, wie sollte ich nicht müde sein?“ Wanjuschka gab ihm ein Gläschen, auch ein zweites, und sogar ein drittes. „Ach, hast du mich gelabt. Schüttle mir das weiche Federbett auf und die Daunenkissen und deck mich mit der Zobeldecke zu!“ – „Schon gut. Großväterchen, leg dich nur hin!“ Und er richtete ihm alles. Der Alte legte sich auf die linke Seite. Wanjuschka beobachtet ihn und schläft nicht. Der Alte dreht sich auf die rechte Seite: da hing an seinem 163
linken Ohr der Schlüssel zu dem Zimmer. Wanjuschka sah’s, nahm behutsam den Schlüssel und ging zum Zimmer der Mädchen. Er kommt hin, schließt auf, steht da und spricht kein Wort zu ihnen: hat die Sprache verloren und steht da. Die Jungfrauen sagten: „Wie ist’s, Wanjuschka, sind wir schön?“ – „Soviel schöne Dinge das Großväterchen auch in seinen Zimmern hat, ihr erscheint mir noch schöner!“ – „Nun, Wanjuschka, geh doch einmal in jenes Zimmer! Darin ist eine Kommode, in dieser Kommode eine Schatulle. Oben auf dem Wandbrett muß der Schlüssel liegen. Schließ die Schatulle auf: darin sind unsere edelsteinbesetzten Kleider; die bring her!“ Wanjuschka brachte die Kleider angeschleppt und gibt sie ihnen. Sie zogen die Kleider an, faßten ihn unter die Arme und tanzten eine Quadrille. „Wanjuschka, sag – sind wir schön?“ – „Ich wage nicht einmal, euch anzusehen, so schön seid ihr!“ – „Wenn wir auch schön sind, so hast du uns doch zum letztenmal gesehen!“ Sie ließen sich zu Boden fallen und verwandelten sich in Bienen. Wanjuschka hatte sie verloren. Er setzte sich auf die Bank, fuchtelte mit den Armen, strampelte mit den Beinen, kurz, gebärdete sich ganz närrisch. Etwas Dummes hatte er da angerichtet! Er öffnete die Tür, da flogen sie davon, aus dem Haus hinaus. Der Alte erwachte, griff sich ans linke Ohr – der Schlüssel war weg. Er sah Wanjuschka an: „Du Hundesohn! Wer hat dir erlaubt, den Schlüssel von meinem Ohr zu nehmen?“ – „Was heißt, wer 164
hat’s erlaubt! Ich habe dich gestern mit Wein betrunken gemacht, dich überlistet! Wer hat’s erlaubt! Die Biester selber waren’s, die mich’s gelehrt haben!“ – „Was hast du angerichtet! Ich brauche jetzt drei Jahre, bis ich sie wieder zusammen habe!“ – „Was macht’s – such sie nur immer zusammen!“ – „Du hast jetzt drei Jahre bei mir gelebt, nun sollst du noch drei Jahre bleiben.“ Der Alte machte sich auf den Weg und ließ Wanjuschka für drei Jahre allein. Wie er heimkommt – nach drei Jahren –, bringt er alle drei Jungfrauen wieder mit. „Sechs Jahre hast du nun bei mir gelebt, Wanjuschka. Jetzt bist du erwachsen, und ich will dich verheiraten… Welche von ihnen willst du nehmen?“ – „Ach, irgendeine!“ – „Nein, sag welche!“ – „Nun, meinetwegen nehme ich die da!“ – „Nein, nimm nicht diese, nimm lieber diese!“ Er wies ihm ein eigenes Haus zu. Alles war reichlich im Hause vorhanden: „Für ewig werdet ihr hier nicht wohnen“, sagt er. Gab ihm die Schatulle und sprach: „Mach sie nicht auf, zieh ihr nicht das Kleid an.“ Eine Woche hatten sie so verbracht, da wollte sie zur Messe gehen. Sie zog ein Trauerkleid an und hüllte sich in einen schwarzen Schal aus Daunenfedern. „Angezogen bin ich jetzt wie eine richtige Nonne! Hätte ich einen guten Mann, dann gäbe er mir mein edelsteinbesetztes Kleid! Da würden die Leute Augen machen: Nein, würden sie sagen, hat der Wanjuschka eine schöne Frau!“ Wanjuschka vergaß nicht, was ihn das Großväterchen geheißen hatte; er gab ihr eine Maulschelle, 165
daß sie sich gleich hinsetzte. „Nun schön! Mir soll’s recht sein, mögen die Leute nur reden!“ Als eine Woche herum ist, kommt der Alte sie besuchen. „Nun, Wanjuschka, wie geht’s?“ – „Danke, Großväterchen, es geht mir gut.“ – „Jetzt aber müßt ihr mich einmal besuchen: ich bekomme Gäste.“ Wanjuschka bedankte sich und sagte zu seiner Frau: „Mach dich fertig!“ – „Auf einmal habt ihr’s eilig: Gäste sind da!“ Sie zog das Trauerkleid an, hüllte sich in den schwarzen Schal aus Daunenfedern. „Zum Großvater kommen nur Gäste aus Zarengeschlechtern! Ja, ein guter Mann zöge mir jetzt mein edelsteinbesetztes Kleid an!…“ Wanjuschka vergaß, nahm den Schlüssel aus der Tasche und holte aus der Schatulle das Kleid hervor. Sie zog das Kleid schnell an; als sie’s anhatte, küßte sie ihn. „Jetzt wollen wir gehen.“ Sie traten auf die Straße, da ließ sie sich zu Boden fallen, verwandelte sich in eine Taube und flog davon. Das war dir schon ein Eheweib! Er ging ins Zimmer zurück, setzte sich auf die Bank, fuchtelte mit den Armen, strampelte mit den Beinen… Fuchtle nur, soviel du willst, es wird dich niemand daran hindern! Wanjuschka ging auf den Hof hinaus, sammelte einen Armvoll Stroh und stopfte damit den ganzen Ofen voll. Stopfte ihn voll und brannte’s an. Dann brach er sich Brotstücke zurecht, legte sie in seinen Ranzen und machte sich auf, sein Weib zu suchen. „Allein gehe ich nicht den Alten zu besuchen.“ Er ging den ganzen Tag; als es Abend wurde, geriet er in ein tiefes Moor und versank bis zu den Knien. Danach 166
kam er in ein Tal, setzte sich auf einen Erdhügel und nahm ein Stück Brot aus dem Ranzen: sitzt da und ißt vor lauter Kummer. „Jetzt warte nur, Vater, dein Wanjuschka hat ausgelernt! Weiß selbst nicht, wie ich hier wieder herauskommen soll. Weiß nicht einmal, wo ich bin!“ Und Wanjuschka begann zu weinen. Schließlich sprang er auf und blickte nach allen Seiten – da sah er in der einen Richtung ein Licht. „Gewiß wohnen dort Leute!“ Er ging auf das Licht zu, kommt hin und sieht: Eine Hütte steht da und dreht sich auf einem Hühnerbein. „Nun, Hütte, steh wie früher, wie die Mutter dich gestellt hat: zum Wald mit der Hinterseit’, zu mir mit der Vorderseit’!“ Er ging in die Hütte hinein, zog Schuhe und Kleider aus, legte sich auf den Ofen und fühlt sich wie zu Hause. Da kommt, keiner weiß woher, eine Baba-Jagá, eine Hexe: sie rennt durch den Wald, daß es dröhnt und schallt. Wie sie in die Hütte kommt, reißt sie ihr Maul auf; die Baba-Jagá will Wanja fressen. Der sagte: „Was fällt dir ein, altes Biest? Machen es in den anderen Dörfern die alten Weiber etwa ebenso? Du sollst das Bad anheizen, mich baden und waschen und fragen: Wo hast du bisher gelebt?“ Die Alte überlegte es sich anders: Sie heizte das Bad an, badete ihn und gab ihm zu essen. „Wo hast du denn bisher gelebt?“ – „Ich habe sechs Jahre beim Großväterchen als Lehrling gelebt: er hat mich mit seiner jüngsten Tochter verheiratet.“ – „Ach, du Dummkopf! Du hast ja bei 167
meinem Bruder gelebt und meine Nichte genommen. Und die war gestern zu einem Plauderstündchen bei mir. Wozu hast du ihr das edelsteinbesetzte Kleid angezogen? Sie lebte noch bei dir, hätt’st du’s nicht getan!“ – „Unterweise mich lieber, wie ich zu ihr gelangen kann. Tantchen!“ – „Geh weiter, ich habe noch eine Schwester, von der aus ist es näher; sie wird dich unterweisen!“ Dabei gab sie ihm einen Fladen zum Geschenk: „Wenn sie dir zu nahe kommt und dich fressen will, dann fahr ihr zwischen die Zähne, mit diesem Fladen hier!“ Sie gab ihm noch einen Rabenknochen dazu, den steckte er in die Tasche. Dann machte er sich wieder auf den Weg. Er ging den ganzen Tag bis zum Abend und geriet zur Nacht in ein tiefes Moor. Er sank bis zu den Knien im Sumpf ein, kam in ein Tal, setzte sich auf einen Erdhügel, holte ein Stück Brot heraus, sitzt und ißt. Schließlich sprang er auf die Füße und sah wieder ein Licht brennen. „Gewiß wohnt dort meine Tante!“ Damit ging er auf das Licht zu. Eine Hütte steht da auf Ziegenbeinen und Hammelhörnern und dreht sich im Kreise. „Hütte, genug jetzt herumgehinkt: ‘s ist Zeit für Wanjuschka hineinzugehn!“ Er ging in die Hütte, zog Schuhe und Kleider aus, legte sich auf den Ofen und fühlt sich wie zu Hause. Da kommt, keiner weiß woher, eine Baba-Jagá: rennt durch den Wald, daß es dröhnt und schallt. Sie betritt ihre Hütte, kommt in die Stube und will ihn fressen. „Ach, du Alte! Machen sie’s in den anderen Dörfern etwa ebenso? Willst du dich wohl 168
freundlich aufführen!“ Und Wanjuschka fährt ihr mit dem Fladen zwischen die Zähne. „Da hast du etwas zu tun! Du sollst das Bad anheizen, mich baden, mir zu essen geben und mich fragen, wohin mein Weg mich führt und wo ich bisher gelebt habe.“ Die Alte überlegte es sich anders. „Na gut, hast von der Schwester was mitgebracht, einen Fladen.“ Sie heizte das Bad, badete ihn und gab ihm zu essen. „Und wo hast du bisher gelebt, mein Lieber?“ – „Ich habe sechs Jahre beim Großväterchen als Lehrling gelebt, und er hat mich auch mit seiner jüngsten Tochter verheiratet.“ – „Was bist du für ein Dummkopf! Du hast ja bei meinem Bruder gelebt und meine Nichte genommen. Gestern war sie zu einem Plauderstündchen bei mir. Hätt’st du ihr nicht das edelsteinbesetzte Kleid angezogen, sie wär dir nicht davongelaufen!“ – „Kann ich nicht durch dich zu ihr gelangen. Tantchen?“ Sie gab ihm einen Knochen vom Feuervogel zum Geschenk. „Da ist noch meine älteste Schwester, die wird dir alles sagen; sie wohnt ganz in ihrer Nähe… Das ist aber eine sehr Böse; ich will dir noch ein Handtuch mitgeben; kommt sie dir zu nahe, schlag sie damit über die Augen!“ Er machte sich auf den Weg, lief den ganzen Tag, bis es Nacht wurde, geriet in ein tiefes Moor und versank bis zu den Knien. Dann kam er in ein Tal, setzte sich auf einen Erdhügel, holte ein Stück Brot heraus (er hatte Hunger), sitzt und ißt. Als er das Stück Brot aufgegessen hatte, stand er auf, blickte sich nach allen Seiten um, sah in der 169
einen Richtung ein Licht und ging darauf los. Eine Hütte steht da auf Ziegenhörnern und Hammelbeinen, die dreht sich. „Hütte, steh wie früher, wie die Mutter dich gestellt hat: zum Wald mit der Hinterseit’, zu uns mit der Vorderseit’!“ Er geht hinein, aber niemand ist drin, nur ein Kerzendocht brennt. Da kommt, keiner weiß woher, eine Baba-Jagá: rennt durch den Wald, daß es dröhnt und schallt; kommt hereingerannt und will ihn fressen. Er schlägt ihr das Handtuch über die Augen: „Was fällt dir ein, altes Biest!? Du sollst fragen: Woher kommst du, und wohin willst du? So machen’s die alten Weiber in den anderen Dörfern. Heize das Bad für mich und bade mich!…“ – „Na gut, hast von der Schwester das Handtuch mitgebracht, ich sehe, du bist ein Bekannter.“ Sie heizte das Bad, badete ihn und gab ihm zu essen. „Wo hast du denn bisher gelebt, mein Lieber?“ – „Beim Großväterchen habe ich sechs Jahre als Lehrling gelebt, er hat mich auch mit seiner jüngsten Tochter verheiratet. Die ist fortgeflogen!“ – „Du Dummkopf, ach, du Dummkopf! Gestern war sie zu einem Plauderstündchen bei mir. Hätt’st du ihr nicht das edelsteinbesetzte Kleid angezogen, sie wäre dir nicht davongelaufen!“ – „Unterweise mich, Tantchen, wie ich zu ihr kommen kann!“ – „Nun gut, komm mit, ich will dir ihr Haus zeigen!“ Sie führte ihn auf einen Berg. „Siehst du dort in dieser Richtung ein Feuer, hell wie die Sonne?“ – „Ja“, sagt er. „Das ist kein Feuer, hell wie die Sonne, sondern ihr Haus: es ist ganz aus Gold. 170
Dorthin hast du dreihundert Werst zu laufen, zu diesem Haus. Komm jetzt zu mir, ich will dich lehren, wie du in ihr Haus gelangst… Da nimm, ich gebe dir einen Fladen: an ihrem Tor sind drei Löwen angebunden, die lassen dich so nicht durch. Brich den Fladen in drei Teile und wirf sie ihnen vor. Sie werden den Fladen fressen, du aber spring unterdessen durch den Zaun vors Schloß. Dort stehen drei Wächter an der Schloßtreppe, die werden dich nicht durchlassen. Mach dir nichts draus: gib dem einen eine Maulschelle, daß er sich hinsetzt, dann wird auch der andere zu Boden gerissen, und der dritte wird sagen: ‚Geh nur immer durch, geh nur immer durch!’ Da geh hinein. Du kommst ins erste Zimmer, dann ins zweite. Im dritten Zimmer sitzt sie in so einem schönen Sessel. Nenne sie aber nicht Weib, nenne sie Herrin: sie ist doch eine Zarin, kein einfaches Weib. Falle vor ihr auf die Knie und sage: ‚Herrin, erlaube, daß ich mich dreimal verstecke; wenn ich nicht dreimal vor dir verborgen bleibe, kannst du mit mir machen, was du willst!’“ Sie gab ihm noch einen Hechtsknochen und begleitete ihn ein Stück. Wanjuschka führte alles aus, was ihm aufgetragen worden war. Er kam zur Zarin ins Schloß, fiel auf die Knie und bittet sie: „Herrin, erlaube, daß ich mich dreimal verstecke; wenn ich nicht dreimal vor dir verborgen bleibe, kannst du mit mir machen, was du willst!“ „Ach, Wanjuschka“, sagte sie. „Wo willst du dich verstecken? Ich werde dich überall finden!“ – „Erlaubt mir trotzdem, Herrin, mich zu verstek171
ken!“ Sie erlaubte es. Er trat auf die Wiese hinaus. „Wo soll ich mich verstecken? Setze ich mich unter den Strauch, findet sie mich!“ Er fuhr mit der Hand in die Tasche, da geriet ihm zuerst der Rabenknochen in die Finger, der von der ersten Tante. Er warf diesen Rabenknochen auf die Wiese, da erschien, keiner weiß woher, ein riesiger Rabe, faßte ihn unter den Achseln bei den Armen und trug ihn in ein tiefes Moor; nur der Kopf sah noch heraus. Der Rabe setzte sich ihm auf den Kopf und verdeckte ihn – so war Wanjuschka verborgen. „Diener, gebt mir mein Wahrsagebuch und meine Spiegel: ich will Wanja suchen!“ Sie suchte ihn überall – in Sümpfen und Wäldern, auf Wiesen und auf dem Meeresgrund: nirgends war er zu sehen. Da fand sie ihn im tiefen Moor: der Rabe sitzt auf seinem Kopf. „Rabe, zieh Wanjuschka heraus, ich will ihn hier haben!“ Der Rabe zog ihn aus dem Sumpf, brachte ihn ans Meer, tauchte ihn hinein, wusch ihn und brachte ihn ans Ufer auf die Wiese. Wanja geht hinein. „Nun, Wanjuschka, hast dich das erste Mal versteckt?“ – „Ja!“ – „Nun, geh, versteck dich noch einmal!“ Wanjuschka machte sich auf den Weg, trat auf die Wiese und holte den Knochen des Feuervogels heraus, den von der zweiten Tante. Da erschien, keiner weiß woher, der Feuervogel, packte ihn unter den Achseln und entführte ihn zum Himmel, dort versteckte er ihn hinter einer Wolke. Wie es soweit war, sagte sie: „Diener, gebt mir mein Wahrsagebuch und meine Spiegel: ich will Wanja 172
suchen!“ Sie richtete die Spiegel auf die Meere, auf die Wälder und Wiesen: nirgends war er zu sehen. Sie richtete ihn gegen den Himmel und sah ihn hinter der Wolke. „Feuervogel, hol ihn herunter, tu ihm aber keinen Schaden.“ Der Feuervogel holte ihn herunter und setzte ihn unversehrt auf der Wiese ab. Er geht zu ihr hinein… „Geh, versteck dich zum drittenmal!“ Wanjuschka machte sich das dritte Mal auf den Weg. Trat hinaus, lief in die Nähe des Meeres, griff in die Tasche, da geriet ihm der Hechtsknochen in die Finger. Er warf ihn auf die Wiese. Da erschien, keiner weiß woher, ein mächtiger Hecht; der packte und verschluckte ihn und entführte ihn ins Meer, wo es am tiefsten ist. Dort machte er halt und kroch unter einen Stein. Sie gaben ihr das Wahrsagebuch und die Spiegel, und sie begann Wanjuschka zu suchen: auf den hohen Himmel richtete sie ihre Spiegel, auf Wälder, Wiesen und Seen, aufs Meer, wo es am tiefsten ist, und unter den Stein… Nur eine Zehe an dem einen Bein hatte der Hecht nicht mit hinuntergeschluckt: die Zehe war zu sehen. Um ein geringes war Wanjuschka nicht verborgen… „Diener, kommt einmal her: seht euch das an, wo Wanjuschka sich versteckt hat!“ Die Diener kamen herbeigelaufen und lachten… „Hecht, schaff ihn mir ans trockene Ufer!“ Da steckte der Hecht seinen Kopf aus dem Meer, spuckte ihn aus ans trockene Ufer und hatte ihn ganz zerdrückt. Wanjuschka kam ins Schloß und fing an zu weinen; das sah eine Dienerin und hatte Mitleid mit 173
ihm. „Warte, Wanjuschka, warte ein wenig und sprich mit mir! Ich will dich unterweisen. Bitte sie flehentlich, sie soll dir noch einmal erlauben, dich zu verstecken. Ich werde dir ein Versteck weisen, wo sie dich in alle Ewigkeit nicht findet. Wenn sie dir erlaubt, dich noch einmal zu verstecken, dann sperr die Tür zu und geh ins zweite Zimmer, dort sind die Spiegel: leg dich zwischen die Spiegel und verhalte dich ruhig!“ Er ging zu ihr und fiel auf die Knie. „Nun, wie ist’s, Wanjuschka, welchen Tod wünschst du dir jetzt? Soll ich dich am Galgen aufhängen oder dich lebendig begraben lassen?“ Er brach in Tränen aus und sagt: „Herrin, erlaube mir wenigstens noch ein einziges Mal, mich zu verstecken!“ – „Wo willst du dich verstecken? Ich finde dich überall!“ Den Dienern und Generälen aber tat er leid: „Herrin, hab Mitleid mit ihm: erlaub ihm noch einmal sich zu verstecken!“ Sie war’s einverstanden. Wanjuschka verließ sie, sperrte die Türe zu, ging ins zweite Zimmer, ließ sich zwischen die Spiegel fallen und bleibt ruhig liegen. Wie es soweit war, begann sie, ihn überall zu suchen – im Meer und auf dem Meeresgrund, in den Wäldern und Seen, auf den Wiesen und am hohen Himmel… Nirgends konnte sie ihn finden. „Ihr Schurken, ihr habt mich dazu verleitet! Habt ihn geheißen, sich zu verstecken!“ Sie warf ihre Bücher auf den Boden, lief hin und her durch alle Zimmer, setzte sich dann auf einen Stuhl und ließ den Kopf hängen. „Wanjuschka!“ rief sie auf einmal, „wo bist du? Komm her, wir wollen von jetzt an zu174
sammen leben!“ Und wieder nahm sie ihre Bücher und Spiegel, suchte und suchte… und konnte ihn nirgends finden (den einen Spiegel auf den anderen richten, das konnte sie nicht!). Wieder rannte sie hin und her durch alle Zimmer. „Höre, lieber Wanjuschka, wo bist du? Komm, ich will nicht mehr streiten mit dir, will von nun an mit dir zusammen leben!“ Von da an lebte er mit ihr zusammen. Nach einem Monat schickte er seinem Vater einen Brief: „Ich wohne jetzt in dem und dem Reich und bin Zar. Wenn du Lust hast, zieh zu mir!“ Der Vater hatte Lust, zu ihm zu ziehen.
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26 Wanjuschka der Dummkopf Ein Vater hatte drei Söhne. Er war aber, wie man früher so sagte, ein wenig ein Zauberer. Eines schönen Tages nun kam er ans Sterben. „Hört, Söhne, wenn ich gestorben bin, sollt ihr drei Nächte an mein Grab kommen!“ Nun, versteht sich, Söhne müssen des Vaters Gebot ausführen. Also schnell das Los geworfen! Das Los traf für die erste Nacht den ältesten Bruder, für die zweite Nacht den mittleren Bruder und für die dritte den Wanjuschka. Da sagte der älteste Bruder: „Wanja, geh du für mich!“ Der Abend kommt, er nimmt ein Bündel Bast, nimmt eine Handvoll Hanf, ein Ahornscheit dazu, und auch noch ein Bund Stroh. So kommt er ans Grab und setzt sich hin, den Pfriemen in der Hand. Ans Flechten denkt er nicht, klopft aber mit dem Pfriemen. Als Mitternacht herankommt, beginnt das Grab zu zittern, und aus dem Grab ertönt eine menschliche Stimme: „Wer ist am Grab?“ „Ich bin am Grab.“ „Du, der Dummkopf?“ „Ich, der Dummkopf!“
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„Dafür will ich dich belohnen. In den Bannwiesen haust ein Schwein mit goldenen Borsten. Es soll dein sein.“ „Danke, Väterchen!“ Am Morgen wurde es hell. Er kommt eilig gelaufen, und die Brüder sehen ihn: „Dort, dort kommt Wanjuschka; er lebt noch!“ Also gut. Jetzt kommt die zweite Nacht. Der mittlere Bruder muß gehen. Der mittlere Bruder sagt: „Wanja, geh du für mich!“ „Schön!“ Er nimmt ein Bündel Bast, nimmt eine Handvoll Hanf, ein Ahornscheit dazu, und auch noch ein Bund Stroh. Kommt ans Grab, ans Flechten denkt er nicht, klopft aber mit dem Pfriemen. So kommt Mitternacht heran. Das Grab erzittert, und aus dem Grab ertönt eine menschliche Stimme: „Wer ist am Grab?“ „Ich bin am Grab.“ „Du, der Dummkopf?“ „Ich, der Dummkopf!“ „Dafür will ich dich belohnen. Es haust in den Bannwiesen ein Stier mit goldenen Hörnern. Er soll dein sein.“ „Danke, Väterchen!“ Es wird hell, er geht, und sie sehen ihn: „Der Dummkopf, der Dummkopf! Er lebt noch!“ Also gut. Der Abend kommt und damit die dritte Nacht. Er sagt:
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„Ich bin für euch nachts draußen gewesen. Geht jetzt wenigstens ihr beide für mich!’ Doch sie: „Mach, was du willst, unsere Nächte sind schon vorbei.“ Nun, versteht sich, er nimmt ein Bündel Bast, nimmt eine Handvoll Hanf, ein Ahornscheit dazu, und auch noch ein Bund Stroh. So machte er sich auf den Weg und setzte sich aufs Grab; ans Flechten denkt er nicht, klopft aber mit dem Pfriemen. Mitternacht kommt heran. Das Grab erzittert, und aus dem Grab ertönt eine menschliche Stimme: „Wer ist am Grab?“ „Ich bin am Grab.“ „Du, der Dummkopf?“ „Ich, der Dummkopf!“ „In den Bannwiesen grast die Siwka-Burka, die weise Kaúrka2. Sie soll dein sein.“ „Danke, Väterchen!“ Also gut, er geht. Die Brüder sehen ihn: „Sieh doch, sieh doch, der Dummkopf kommt!“ Und waren sehr verwundert. Sie waren, versteht sich, verheiratet, er aber war ledig, der Dummkopf nämlich. So leben sie also, und es vergingen einige Jahre. Der Zar aber hatte eine Tochter. Wie die Zeit kommt, sie zu verheiraten, baute der Zar ein Haus, zwölf Balkenlagen hoch, setzte sie oben darauf und sagt:
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„Siwka-Burka“ und „Kaúrka“ bedeutet beides etwa „graubraune Stute“. (Anm. d. Übers.)
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„Wer meine Tochter erreicht, wird ihr Bräutigam.“ Das ganze Volk kommt dort zusammen, und auch die Brüder wollten zusehen. Sie machten sich reisefertig und brachen auf. Der Dummkopf sagt: „Nehmt mich mit!“ Sie beschimpften ihn mit allen möglichen Ausdrücken. „Ist mir ganz egal, ich werde dort sein!“ „Komm nur! Wir werden dir den Rücken streichen!“ Also gut, sie zogen davon. Er ging zum Hintertor hinaus, pfiff und rief: „Siwka-Burka, weise Kaúrka, komm herbei geschwind, schneller als der Wind!“ Siwka-Burka kommt gesaust, daß die Erde nur so braust. Wie sie vor ihm stand, kroch er ihr ins linke Ohr, trank und aß sich satt, dann ins rechte – macht’ sich glatt. Und war ein so schmucker Bursche geworden, du glaubst es nicht, du ahnst es nicht, beschreibst’s auch mit der Feder nicht. So machte er sich auf den Weg. Seine Brüder hatte er schnell erreicht und zog ihnen ordentlich eins mit der Peitsche über. Dann kam er angeflogen, machte einen Satz bis zum sechsten Balken, aber sechs Balken fehlten noch. Er wandte um und jagte zurück. Wie er wieder zu Hause war, ließ er SiwkaBurka laufen und legte sich wieder auf den Ofen, die Hosen bis an die Knie. Ja. Nun kommen die Brüder herein und sagen:
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„Das war ein Kerl! So etwas haben wir unser Lebtag noch nicht gesehen!“ „Meint ihr etwa mich?“ „Hahaha, meinen wir etwa dich?! Warte, wir werden dich durchwalken! Für dieses Wort müssen wir dich durchwalken!“ Also gut. Es verging einige Zeit, und wieder ruft der Zar das Volk zusammen. Wieder bettelt er: „Nehmt mich mit, Brüder. Ich möchte sehen, was das für eine Zarentochter ist!“ „Du bist wohl nicht bei Trost, du Rotznase!“ Also gut, sie zogen ab. Er ging zum Hintertor hinaus, pfiff und rief. Siwka-Burka kommt gesaust, daß die Erde nur so braust. Wie sie vor ihm stand, kroch er ihr ins linke Ohr, aß und trank sich satt, dann ins rechte – macht’ sich glatt. Und war ein so schmucker Bursche geworden, du glaubst es nicht, du ahnst es nicht, beschreibst’s auch mit der Feder nicht. Er überholt alles Volk und saust, daß die Erde braust. Holte seine Brüder ein und versetzte ihnen eins mit der Peitsche. Dann machte er einen Satz – noch drei Balken fehlten bis zu ihr. Er wandte um und jagte zurück. Sein Pferd ließ er laufen, sich selbst legte er wieder auf den Ofen. Nun kommen die Brüder herein und sagen: „Das war ein Kerl! So etwas haben wir unser Lebtag noch nicht gesehen!“ „Meint ihr etwa mich?“ Sie überschütteten ihn mit Schimpfworten. Also gut. Es verging einige Zeit. 180
Der Zar ruft wieder das Volk zusammen. Ja. Also, die Brüder wollen wieder zusehen. „Auf, wir wollen’s uns ansehen. Vielleicht kommt der tüchtige Kerl wieder geritten!“ Er bettelt. „Ich möchte mitkommen und zusehen!“ „Du bist wohl nicht bei Trost, du Mißgeburt!“ „Ist mir ganz egal, ich werde doch dort sein!“ „Komm nur! Wir walken dich durch!“ Er machte es wieder so: ging zum Hintertor hinaus, pfiff und rief: „Siwka-Burka, weise Kaúrka, komm herbei geschwind, schneller als der Wind!“ Siwka-Burka kommt gesaust, daß die Erde nur so braust. Wie sie vor ihm stand, kroch er ins linke Ohr, trank und aß sich satt, dann ins rechte – macht’ sich glatt. Und war ein so schmucker Bursche geworden, du glaubst es nicht, du ahnst es nicht, beschreibst’s auch mit der Feder nicht. Dann machte er sich auf den Weg. Kam angeflogen, versetzte wieder jedem einen ordentlichen Hieb, flog empor, erreichte die Zarentochter, sie drückte ihm mit ihrem Siegelring ein Mal auf die Stirn, gab ihm den Ring und küßte ihn. Er wandte um und machte sich auf den Heimweg; den Ring trug er am Finger. Zu Hause ließ er das Pferd laufen, wickelte den Ring in einen Lappen, und um die Stirn band er ein Handtuch. Nun kommen die Brüder herein und sagen: „Alle Wetter, was für ein Kerl! Hat sie erreicht! Nun gibt’s Hochzeit.“ Er sagt: 181
„Meint ihr etwa mich, Brüder?“ „Hahaha, meinen wir etwa dich! Was ist mit deiner Stirn?“ „Bin vom Ofen heruntergefallen.“ „Da hat man’s wieder, vom Ofen gefallen!“ Und sie überschütteten ihn mit Schimpfworten. In der Nacht nun plagt ihn doch die Neugierde, und er will sich den Ring ansehen. Er wickelte ihn aus dem Lappen – da war die Hütte ganz hell. „Dummkopf, verschwende nicht die Streichhölzer!“ „Ich verschwende keine Streichhölzer!“ Also gut. Und nun, versteht sich, ruft der Zar seine Generäle zusammen, sie sollen den Bräutigam suchen. Er nimmt dazu die Generäle und alle guten Offiziere. Er hat sie also zusammengerufen, aber sie können ihn auf keine Weise finden. Jetzt ruft er die Kaufleute, die aus den Dörfern. Nein, sie finden ihn nicht. Jetzt die Bauern. Auch die Brüder machen sich auf. Nein, sie finden ihn nicht. Jetzt nimmt er Leute aus dem gemeinen Volk – auch Wanjuschka selbst war dabei. Er macht sich auf den Weg, kommt zu ihr und setzt sich hin. Sie gießt ihm gleich ein Glas Schnaps ein, da sah sie den Siegelring und das Mal an der Stirn. Sie tritt nahe heran, wischt ihm das Gesicht ab und führt ihn zu ihrem Vater. „Hier, Vater, ist mein Bräutigam, den mir das Schicksal beschieden hat!“ Auf dem Hinterhof wurde eine Hütte eingerichtet, und dort lebten sie. Ein Jahr hatten sie nun 182
vielleicht dort gelebt, da hörte der Zar, daß in den Bannwiesen ein Schwein mit goldenen Borsten haust. Er hatte aber noch mehr Schwiegersöhne. „Reitet los und fangt es!“ Sie ritten davon. Des Dummkopfs Frau aber kommt zu ihrem Mann. „Was gibt’s dort bei Vater Neues?“ „Je nun, ein Schwein mit goldenen Borsten haust in den Bannwiesen. Jetzt haben sich gerade alle Schwäger aufgemacht und sind losgeritten, es zu fangen.“ „Geh und bitte um irgendein Pferd, ich will auch reiten und mir das Schwein mit den goldenen Borsten ansehen.“ Sie kommt zum Vater. „Vater, gib mir ein Pferd, Wanja will auch ausreiten!“ „Nimm eines ganz hinten vom Hofe, dort das lahme!“ Wanja saß auf, mit dem Hintern nach vorn, und nahm den Schwanz ins Maul. Er zog es mit den Zähnen am Schwanz, daß die Haut nur so davonflog: „Elstern und Raben! Hier habt ihr vom Zaren euren Lohn und von mir ein Mittagessen!“ Er pfiff und rief: „Siwka-Burka, weise Kaúrka, komm herbei geschwind, schneller als der Wind!“ Siwka-Burka kommt gesaust, daß die Erde nur so braust. Wie sie vor ihm stand, kroch er ins linke Ohr, trank und aß sich satt, dann ins rechte – macht’ sich glatt; und war ein so schmucker Bursche geworden, du glaubst es nicht, du ahnst es 183
nicht, beschreibst’s auch mit der Feder nicht. Er überholte seine Schwäger, sie bekamen ihn nicht einmal zu sehen. Sein Pferd ließ er in die Bannwiesen laufen, er selbst schlug ein weißes Zelt auf und liegt und räkelt sich dort wie ein General. Nun kamen sie, versteht sich, in die Bannwiesen geritten. Vom Schwein mit den goldenen Borsten aber bekamen sie nur die Borsten zu sehen; es huschte vorüber wie ein Vogel – und weg war es. Ja, da reiten sie nun. Auf einmal erblickten sie ihn. „Was ist denn das für einer? Vielleicht weiß der, wo es ist.“ „Guten Tag!“ „Guten Tag!“ „Kommt ihr weit her?“ „Ja, der Zar hat uns den Auftrag gegeben, das Schwein mit den goldenen Borsten zu fangen. Aber von Fangen kann keine Rede sein, wir haben es nicht einmal richtig zu Gesicht bekommen.“ „Wollt ihr’s euch was kosten lassen? Ich will es euch fangen.“ „Ja, Väterchen, nichts soll uns zu teuer sein.“ „Nun, ich werde nicht viel von euch nehmen, – von jedem aus dem Rücken einen Riemen, einen Finger lang oder zwei.“ Er schnitt jedem einen Riemen aus dem Rükken. Dann lockte er das Schwein. Es kam zu ihm, sie führten’s weg. Er rief seine Siwka-Burka, überholte alle und lümmelt wieder zu Hause herum, ganz der alte Dummkopf. Sein Weib kam. Er sagt: 184
„Was gibt’s?“ „Je nun, sie haben das Schwein gebracht. Und wir leben hier im Unglück.“ „Warte nur, auch bei uns kehren noch Festtage ein.“ „Weswegen sollten sie wohl zu uns hier auf den Hinterhof kommen? Das wird nie sein.“ „Das wird sein!“ Gut. Einige Zeit verging. Da hörte der Zar, daß in den Bannwiesen ein Stier mit goldenen Hörnern haust. Wieder versammelt er seine Schwiegersöhne. „Nun, ihr meine treuen Diener. Ich habe gehört, daß ein Stier mit goldenen Hörnern in den Bannwiesen haust. Könnte man ihn nicht fangen?“ „Warum nicht? Das Schwein haben wir doch auch gefangen“ (doch davon sagten sie nichts, daß nicht sie es gewesen waren). Und wieder ritten sie los. Die Zarentochter kommt zu Wanjuschka. „Was gibt’s Neues bei Vater?“ „Sie sind fortgeritten, den Stier mit den goldenen Hörnern zu fangen.“ „Geh und bitte um ein Pferd!“ Sie kommt zum Vater. „Vater, Wanja möchte auch reiten und sich ansehen, was das für ein Stier ist.“ „Dort auf dem Hinterhof“, sagt er, „ist ein Pferd.“ Sie ging, nahm’s und brachte es mit Mühe und Not vor ihre Hütte. Er setzte sich darauf, mit dem
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Hintern nach vorn, und nahm den Schwanz ins Maul. Sie sieht’s: „Ach, Liebster, nicht einmal aufsitzen kannst du, wie sich’s gehört.“ Er aber ritt zur Stadt hinaus und zog mit den Zähnen am Schwanz, daß die Haut nur so davonflog. „Elstern und Raben, hier habt ihr vom Zaren euren Lohn und von mir ein Mittagessen!“ Er pfiff und rief: „Siwka-Burka, weise Kaúrka, komm herbei geschwind, schneller als der Wind!“ Siwka-Burka kommt gesaust, daß die Erde nur so braust. Wie sie vor ihm stand, kroch er ins linke Ohr, trank und aß sich satt, dann ins rechte – macht’ sich glatt. Und war ein so schmucker Bursche geworden, du glaubst es nicht, du ahnst es nicht, beschreibst’s auch mit der Feder nicht. Wieder überholte er alle, sie bekamen ihn nicht einmal zu sehen. Dann schlug er sein weißes Zelt auf, liegt und räkelt sich und liest die Zeitung. Die anderen, versteht sich, reiten nun auch in die Bannwiesen hinein, aber vom Stier bekamen sie nur für einen Augenblick die Hörner zu sehen. „Natürlich, wer soll denn den fangen!“ Sie reiten weiter, da erblickten sie Wanjuschka: „Los, reiten wir hin, ist das nicht der von damals?“ „Gut’n Tag!“ „Gut’n Tag!“ „Ja, wir sind ausgeritten, den Stier mit den goldenen Hörnern zu fangen.“
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„Wollt ihr’s euch was kosten lassen? Ich will ihn euch fangen.“ „Väterchen, nimm, was du willst, nichts soll uns zu teuer sein!“ „Ich nehme nur wenig von euch: ich werde jedem vom rechten Fuß die kleine Zehe abschneiden, das ist alles.“ Er schnitt also jedem die kleine Zehe ab und wickelte sie in ein Tuch. Dann lockte er – der Stier kam gelaufen; sie fingen ihn und führten ihn fort. Er überholte sie und lümmelt wieder herum. Sein Weib ging hinüber ins Schloß. Da feierten sie ein Fest, Herrgott nochmal! Sie weinte sich satt und ging. „Dort feiern sie, und was ist bei uns?“ Er sagt wieder zu ihr: „Warte nur, Frau, auch bei uns kehren noch Festtage ein!“ „Woher sollten sie wohl kommen?“ „Sie werden kommen!“ Nach einiger Zeit nun hört der Zar, daß eine Siwka-Burka in den Bannwiesen grast. Er versammelt also die Schwiegersöhne, ihn aber fordert er nicht auf, es kommt ihm gar nicht in den Sinn, daß er auch Schwiegersohn ist. Dann sagt er: „Nun, ihr meine treuen Schwiegersöhne, ich habe gehört, daß in den Bannwiesen eine SiwkaBurka, eine weise Kaúrka grast. Wenn ihr euch nicht anstrengt und sie fangt, braucht ihr nicht wiederzukommen.“
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„Wir reiten. Damals haben wir’s doch auch fertig gebracht.“ Also gut. Sie machten sich reisefertig und ritten los. Sie kommt. „Was gibt’s Neues bei Vater?“ „Je nun, sie sind fortgeritten, die Siwka-Burka zu fangen.“ „Geh und bitte um ein Pferd!“ Sie ging wieder und bat. Er gab wieder einen lahmen Gaul. Wanjuschka saß auf, ritt wieder aus der Stadt heraus und zog am Schwanz, daß die Haut nur so davonflog. „Elstern und Raben! Hier habt ihr vom Zaren euren Lohn und von mir ein Mittagessen!“ Er pfiff und rief: „Siwka-Burka, weise Kaúrka, komm herbei geschwind, schneller als der Wind!“ Siwka-Burka kommt gesaust, daß die Erde nur so braust. Wie sie vor ihm stand, kroch er ins linke Ohr, trank und aß sich satt, dann ins rechte – macht’ sich glatt. Und war ein so schmucker Bursche geworden, du glaubst es nicht, du ahnst es nicht, beschreibst’s auch mit der Feder nicht. Brach auf, überholte alle, ließ sein Pferd laufen, schlug das weiße Zelt auf, liegt da, räkelt sich und liest die Zeitung. So. Jetzt kamen die anderen und ritten in die Bannwiesen. Von Siwka-Burka sahen sie nur die Mähne schimmern – und weg war sie. „Wer soll die denn fangen!“ Sie machten kehrt und warteten. Da sahen sie ihn. 188
„Komm, reiten wir hin, ist das nicht der vom letzten Mal?“ „Gut’n Tag!“ „Gut’n Tag!“ „Kommt ihr weit her?“ „Ja, weit. Hier grast eine Siwka-Burka, und der Zar hat uns geschickt, sie zu fangen. Wer soll das aber fertigbringen?“ „Wollt ihr’s euch was kosten lassen? Ich will sie euch fangen.“ „Nichts soll uns zu teuer sein, Väterchen.“ „Na, schön, ich werde nicht viel von euch nehmen. Von jedem den kleinen Finger der rechten Hand.“ Er fing ihnen die Siwka-Burka, übergab sie ihnen, und sie führten sie davon. Diesmal mußte er zu Fuß laufen. Er kommt also heim. Sein Weib, versteht sich, kommt zu ihm. Er sagt: „Nun, was gibt’s Neues bei Vater?“ „Sie haben die Siwka-Burka gebracht. Sie feiern dort – Herrgott nochmal!“ „Komm, wir wollen sehn, wie sie feiern!“ Sie gehen hinüber. Die Frau ging als erste hinein. „Vater, Wanja und ich sind gekommen“ (das war das erste Mal, sonst waren sie noch nie gekommen). Nun, natürlich, der Zar gießt ihnen ein. „Vater, warum sitzen diese Schwiegersöhne mit dem Zaren an der hohen Tafel und haben die 189
Handschuhe an?“ sagt er: „Im Zimmer ist es doch warm.“ „Das ist ihre eigene Sache“, sagt der Zar. „Wie’s ihnen behagt, mögen sie auch sitzen.“ „Laß sie die Handschuhe doch mal ausziehen.“ Der Zar lachte, die Sache fing an, ihm Spaß zu machen. „Zieht mal die Handschuhe aus“, sagt er, „er ist ein wenig dumm!“ Da zogen sie sie aus. Wanjuschka holt die Finger hervor. Wie er sie ansetzte, so wuchsen sie an. Dann sagt er: „Das war die Siwka-Burka.“ Der Zar gebietet: „Halt!“ Der Zar gab ihm ein zweites Glas. Das trank er aus und sagt: „Nun befiehl ihnen, Vater, die Schuhe auszuziehen, den Schuh vom rechten Fuß!“ „Na kommt schon, Schwiegersöhne, zieht die Schuhe aus!“ Dann sagte der Zar: „So, so; keine kleinen Zehen!“ Wanjuschka wickelte sie aus, setzte sie an – da wuchsen sie fest. Wie er sie ansetzte, wuchsen sie fest. „So“, sagt er, „das war der Stier mit den goldenen Hörnern.“ „Aha“, sagt der Zar, „Wanjuschka will’s uns beweisen.“ Und er gießt ihm das dritte Glas ein. Wanjuschka sagt: 190
„Befiehl ihnen, die Hemden auf dem Rücken hochzurollen!“ Der Zar sagt und ist schon ganz bei Laune: „Na kommt schon, rollt mal hoch!“ Wanjuschka holt sein Tuch hervor und weiß bei jedem Riemen, zu wem er gehört. Legt den ersten auf – er wächst fest; legt den zweiten auf – er wächst fest. „So“, sagt er, „das war das Schwein mit den Goldborsten.“ Da stammelten sie: „Aha, er ist wohl der, der alles gefangen hat.“ Auf dieses Wort hin tritt er auf die Schloßtreppe hinaus, pfiff gewaltig und rief: „Siwka-Burka, weise Kaúrka, komm herbei geschwind, schneller als der Wind!“ Siwka-Burka jedoch war hinter zwölf Schlössern eingesperrt, damit sie nicht fortlaufen konnte. Aber sie legte los, daß die Späne flogen, zerschlug alle Schlösser und erschien vor ihm. Und er war ein so schmucker Bursche geworden, du glaubst es nicht, du ahnst es nicht, beschreibst’s auch mit der Feder nicht. Und er trat in die Tür. „Jetzt bin ich des Zaren Schwiegersohn!“ Der Zar jagte die anderen Schwiegersöhne davon, ihm aber gab er sein halbes Reich. Und sie leben auch noch heute. Ich bin unlängst dort gewesen, also es geht ihnen prächtig! So war das also.
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27 Jemelja der Dummkopf In einem kleinen Dorf lebten drei Brüder: Semjon und Wassili und als dritter Jemelja der Dummkopf. Die älteren Brüder waren verheiratet und trieben Handel, Jemelja der Dummkopf aber lag die ganze Zeit auf dem Ofen, kratzte im Ruß und schlief mehrere Tage hindurch, ohne munter zu werden. Einmal beschlossen die Brüder, in die Residenzstadt zu fahren, um Waren einzukaufen. Sie weckten Jemelja, zerrten ihn vom Ofen herunter und sagen zu ihm: „Jemelja, wir fahren in die Residenzstadt, verschiedene Waren zu kaufen. Bleibe du hier bei den Schwägerinnen und gehorche ihnen, wenn sie dich bitten, ihnen bei irgend etwas zu helfen. Gehorchst du ihnen, dann bringen wir dir aus der Stadt einen roten Kaftan, eine rote Mütze und einen roten Gürtel mit, und außerdem noch viel Näschereien.“ Jemelja aber hatte rote Kleider am liebsten, er freute sich auf die schönen Sachen und klatschte vor Vergnügen in die Hände: „Alles will ich für eure Frauen tun, Brüder, wenn ihr mir nur so schöne Sachen zum Anziehen kauft!“ Und damit klettert er wieder auf den Ofen hinters Ofenrohr und fiel sogleich in einen tiefen Schlaf. Die Brüder nahmen Abschied von ihren 192
Frauen und machten sich auf den Weg in die Residenzstadt. Jemelja schläft einen Tag, schläft auch einen zweiten Tag, am dritten aber wecken ihn seine Schwägerinnen: „Steh auf, Jemelja, komm herunter vom Ofen, du mußt doch ausgeschlafen haben, schläfst ja schon den dritten Tag! Geh zum Fluß, Wasser holen!“ Er aber antwortet ihnen: „Laßt mich in Ruh, ich bin sehr müde. Ihr seid doch keine Gräfinnen, geht selbst nach Wasser!“ – „Du hast doch deinen Brüdern gerade erst versprochen, daß du uns gehorchen willst. Und jetzt sperrst du dich schon. Da müssen wir deinen Brüdern schreiben, sie sollen dir keinen roten Kaftan kaufen, keine rote Mütze, keinen roten Gürtel und auch keine Näschereien.“ Da sprang Jemelja schnell vom Ofen herunter, zieht seine zerrissenen Stiefel an und seinen elenden Kaftan und ist ganz schmutzig von Ruß. Eine Mütze aber trug er nie, denn seine Haare waren borstig und hart wie rußbeschmierte Flachsspindeln. Er nahm die Eimer und ging zum Fluß. Wie er nun im Eisloch die Eimer voll Wasser geschöpft hat und gehen will und sich noch einmal nach dem Eisloch umsieht, da steckt ein Hecht seinen Kopf aus dem Eisloch heraus, und er denkt: „Daraus werden mir die Schwägerinnen eine schöne Pirogge backen!“ Er setzte die Eimer ab, ging zum Eisloch und packte den Hecht, der aber begann plötzlich mit menschlicher Stimme zu reden. Jemelja war zwar ein Dummkopf, aber er wußte, daß ein Fisch nicht mit Menschenstimme 193
spricht, und er erschrak sehr. Der Hecht aber sagte zu ihm: „Laß mich ins Wasser zurück, in die Freiheit! Ich werde dir mit der Zeit nützlich sein und alle deine Befehle ausführen. Du brauchst nur zu sagen: ,Wie’s der Hecht gebietet und ich erbitte!’ – und es wird alles geschehen, wie du willst.“ Da ließ Jemelja ihn frei und denkt: „Vielleicht hat er mich betrogen?“ Er geht zu seinen Eimern und ruft mit lauter Stimme: „Wie’s der Hecht gebietet und ich erbitte: Eimer, lauft selbst nach oben und verschüttet mir ja keinen Tropfen Wasser!“ Und er hatte das letzte Wort noch nicht zu Ende gesprochen, da liefen die Eimer los. Die Leute sahen das und staunten über ein solches Wunder. „So lange leben wir schon auf der Welt, aber noch nie haben wir gesehen oder auch nur gehört, daß Eimer selbst laufen können. Bei diesem schrecklichen Dummkopf Jemelja aber laufen sie von selbst, und er geht hinterher und lacht sich eins.“ Als die Eimer ins Haus gelaufen kamen, staunten die Schwägerinnen über ein solches Wunder, er aber machte sich schleunigst wieder auf seinen Ofen und schlief einen gewaltigen Schlaf. Nach einer ziemlich langen Zeit ging ihnen das gehackte Holz aus, sie wollten aber Pfannkuchen backen. Da wecken sie Jemelja: „Jemelja, he Jemelja!“ Er aber antwortet: „Laßt mich in Ruhe, ich bin ganz schrecklich müde!“ – „Geh, hack Holz und bring’s ins Haus. Wir wollen Pfannkuchen backen und dir die allersaftigsten geben!“ – „Ihr seid doch keine Gräfinnen, geht, hackt euer Holz 194
selber und bringt’s herein!“ – „Wenn wir’s selber bringen und hacken müssen, bekommst du von uns auch nicht einen einzigen Pfannkuchen.“ Pfannkuchen aber mochte Jemelja gar zu gern. Er nahm das Beil und ging auf den Hof. Er hackte und hackte, da fiel ihm ein: „Was hacke ich denn, ich Dummkopf, mag doch der Hecht hacken.“ Und mit leiser Stimme sprach er vor sich hin: „Wie’s der Hecht gebietet und ich erbitte: Beil, hack das Holz, und Holz, flieg von allein ins Haus!“ Da hackte das Beil in einem Augenblick das ganze Holz klein, dann sprang die Tür auf, und ins Haus kam ein Riesenbündel Holz geflogen. Den Schwägerinnen verschlug es die Sprache. „Was ist nur mit unserem Jemelja los, er vollbringt ja geradezu Wunder!“ Jemelja aber kam wieder herein und kroch auf den Ofen. Die Schwägerinnen heizten den Ofen, buken Pfannkuchen und setzten sich an den Tisch, um zu essen. Ihn aber versuchten sie zu wecken, versuchten’s immer wieder und konnten ihn nicht munter kriegen. Nach einiger Zeit ging ihnen überhaupt das Holz aus, und es mußte in den Wald gefahren werden. Da begannen sie wieder, ihn zu wecken: „Jemelja, steh auf, wach auf, du mußt doch ausgeschlafen haben, wasch dir doch wenigstens dein schmutziges Gesicht, sieh dich doch an, wie du dich vollgeschmiert hast!“ – „Wascht euch selber, wenn’s euch danach verlangt! Ich fühle mich auch so wohl.“ – „Fahr nach Holz in den Wald, wir haben kein Holz mehr!“ – „Fahrt selber, ihr seid keine Gräfinnen. Brennholz hab’ ich euch gebracht, aber Pfannku195
chen habt ihr mir nicht gegeben.“ – „Wir haben doch versucht, dich zu wecken, haben’s immer wieder versucht, aber du gibst ja nicht einmal einen Laut von dir. Nicht wir sind schuld, du selber bist schuld. Warum bist du nicht heruntergekommen?“ – „Mir ist auch auf dem Ofen warm und wohl. Ihr aber hättet mir einfach drei Pfannkuchen aufs Maul legen sollen. Ich wäre munter geworden und hätte sie mir schmecken lassen.“ – „Du bist immer widerborstig gegen uns und hörst nicht auf uns. Wir müssen doch deinen Brüdern schreiben, sie sollen dir keine schönen roten Kleider und auch keine Näschereien kaufen.“ Da bekam es Jemelja mit der Angst zu tun, zieht seinen schäbigen Kaftan an, nimmt das Beil, geht auf den Hof, stellt den Schlitten bereit und nimmt einen Knüppel in die Hand. Die Schwägerinnen aber kamen heraus, um zuzusehen. „Warum spannst du das Pferd nicht an? Wie willst du denn ohne Pferd fahren?“ – „Wozu soll ich das arme Pferdchen quälen! Ich kann auch ohne Pferde fahren.“ – „Du solltest wenigstens eine Mütze aufsetzen oder etwas um den Kopf binden. Es ist kalt draußen, du wirst dir die Ohren erfrieren.“ – „Wenn ich an den Ohren friere, werde ich sie mit meinen Haaren zudekken.“ Und er sprach mit leiser Stimme: „Wie’s der Hecht gebietet und ich erbitte: Fahr selber, Schlitten, in den Wald, und flieg schneller als irgendein Vogel!“ Und er hatte die letzten Worte noch nicht zu Ende gesprochen, da sprang das Tor weit auf, und der Schlitten flog schneller als ein Vogel auf den Wald zu. Jemelja sitzt im Schlitten, hält den 196
Knüppel in die Höhe und singt, was seine Stimme nur hergibt, närrische Lieder. Und seine Haare spießen nach allen Seiten. Der Wald lag hinter der Stadt. Die Leute in der Stadt können ihm nicht schnell genug ausweichen, und außerdem interessierte es sie, daß da ein junger Bursche ohne Pferd, im bloßen Schlitten gefahren kam. Wer nach seinem Schlitten griff, den schlug er mit seinem Knüppel, wohin er gerade traf. So jagte er durch die Stadt, fuhr viele Menschen um und prügelte viele mit seinem Knüppel. Wie er in den Wald kommt, rief er mit lauter Stimme: „Wie’s der Hecht gebietet und ich erbitte: Beil, schlag das Holz, und Holz, flieg von allein in den Schlitten!“ Und kaum hatte er seinen Spruch zu Ende gesagt, da war der Schlitten schon voll Holz und alles fest verschnürt. Er setzte sich obendrauf und fuhr durch die gleiche Stadt zurück. In der Stadt aber drängten sich die Menschen, und alle sprachen von dem jungen Burschen, der im bloßen Schlitten, ohne Pferde gefahren war. Auf dem Rückweg, als er mit seiner Ladung Holz kam, fuhr er noch mehr Menschen um und prügelte noch mehr mit seinem Knüppel als beim ersten Mal. Als er wieder zu Hause war, kroch er gleich auf den Ofen, den Schwägerinnen aber verschlug es die Sprache. „Was ist nur mit unserem Jemelja los, er vollbringt ja geradezu Wunder: Die Eimer laufen bei ihm von selber, das Holz kommt von selber ins Haus geflogen, und der Schlitten fährt ohne Pferd. Mit dem werden wir noch unsere Not haben. Sicher hat er in der Stadt viele Leute umgefahren, 197
und man wird uns mit ihm zusammen ins Gefängnis stecken.“ Und sie beschlossen, ihn nirgends mehr hinzuschicken. Jemelja aber schlief seelenruhig auf dem Ofen, und sooft er erwacht, kratzt er den Ruß im Ofenrohr zusammen und schläft wieder ein. Von diesem Jemelja nun drang die Kunde zum Zaren, es gäbe einen, dessen Schlitten führe von selber, und er habe in der Stadt sehr viele Menschen umgefahren. Da ruft der Zar einen treuen Diener und befiehlt ihm: „Geh und finde mir diesen Burschen und bring ihn persönlich zu mir!“ Der Diener des Zaren macht sich auf den Weg und sucht in den verschiedenen Städten, in großen und kleinen Dörfern, aber überall und allerorts erhält er ein und dieselbe Antwort: „Gehört haben wir von einem solchen Burschen, aber wo er wohnt, wissen wir nicht.“ Schließlich gelangt er in das Städtchen, in dem Jemelja die vielen Menschen umgefahren hatte. Von dieser Stadt aber sind es bis zu Jemeljas Dorf nur sieben Werst, und der Zarendiener kam gerade mit einem Mann aus Jemeljas Dorf ins Gespräch. Der sagte: „Einen solchen Burschen gibt es in unserem Dorfe. Es ist Jemelja, der Dummkopf.“ Da kommt der Diener des Zaren in Jemeljas Dorf, geht zum Dorfschulzen und sagt zu ihm: „Komm mit, wir wollen diesen Burschen festnehmen, der so viele Menschen zuschandengefahren hat.“ Als der Zarendiener und der Dorfschulze in Jemeljas Haus kamen, erschraken die Schwägerinnen sehr: „Nun sind wir 198
verloren! Dieser Dummkopf hat mit seinen närrischen Streichen nicht nur sich selbst ins Unglück gebracht, sondern auch uns.“ Der Diener des Zaren fragt die Schwägerinnen: „Wo ist bei euch Jemelja zu finden?“ – „Dort auf dem Ofen schläft er.“ Da schrie der Zarendiener Jemelja mit lauter Stimme an: „Jemelja, komm herunter vom Ofen!“ – „Warum denn? Mir ist auf dem Ofen schön warm. Laßt mich in Ruhe, ich will schlafen!“ Und er begann von neuem laut zu schnarchen. Der Zarendiener aber wollte ihn zusammen mit dem Dorfschulzen gewaltsam vom Ofen herunterzerren. Als Jemelja merkte, daß sie ihn vom Ofen zerrten, schrie er wie ein Wilder: „Wie’s der Hecht gebietet und Jemelja erbittet: Komm, Knüppel, und mach dem Diener des Zaren und unserem Schulzen deine Aufwartung!“ Da erschien auf einmal ein Knüppel und prügelte Schulzen wie Zarendiener aufs unbarmherzigste. Sie kamen mehr tot als lebendig aus dem Haus heraus. Als der Zarendiener sieht, daß es ganz unmöglich ist, ihn festzunehmen, begab er sich wieder zum Zaren, berichtete ihm alles ausführlich und schloß: „Gefunden hab ich ihn, aber mit dem Herbringen war es nichts. Seht nur, Kaiserliche Majestät, wie mein ganzer Leib zerschunden ist.“ Und er hob sein Hemd in die Höhe, da war sein ganzer Leib grün und blau geschlagen und über und über mit Narben bedeckt. Der Zar ruft einen anderen Diener und sagt: „Der eine hat ihn gefunden, du geh und bring ihn her! Wenn du ihn aber nicht herbringst, lasse ich dir den Kopf abschlagen, bringst du ihn 199
jedoch, will ich dich reich belohnen.“ Der zweite Zarendiener fragte den ersten genauestens aus, und der erzählte ihm alles. Er mietete eine Posttroika und fuhr zu Jemelja. In Jemeljas Dorf angekommen, wendet sich auch der zweite Zarendiener an den Dorfschulzen: „Zeige mir, wo Jemelja wohnt, und hilf mir, ihn festzunehmen!“ Der Schulze hat zwar Angst, den Zarendiener zu erzürnen – das darf man nicht, sonst kriegt man eine schwere Strafe –, aber noch mehr Angst vor Jemeljas Schlägen. Er erzählt dem Zarendiener alles ausführlich, daß man ihn mit Gewalt nicht festnehmen könne. Da sagt der Diener des Zaren zum Dorfschulzen: „Wie sollen wir ihn denn dann festnehmen?“ Der Schulze sagt: „Er mag Näschereien sehr gern: süße Körner und Pfefferkuchen, und außerdem ist er dem Branntwein gut.“ Da holte der Zarendiener eine Menge Näschereien herbei, nahm ein Viertel Schnaps, betritt Jemeljas Haus und begann, ihn zu wecken: „Jemelja, komm herunter vom Ofen, hier schickt dir der Zar viele Näschereien und Branntwein!“ Als Jemelja das hörte, ward er guter Dinge und sagte: „Gib immer her, ich kann auch hier auf dem Ofen essen, wozu soll ich runterkommen? Ich werde die Näschereien essen und den Branntwein trinken und mich dann ausruhen.“ Der Diener des Zaren aber sagt zu ihm: „Die Näschereien willst du essen und den Schnaps trinken, aber wirst du auch den Zaren besuchen kommen? Er hat dich zu sich eingeladen.“ – „Warum sollte ich nicht mal hinfahren? Ich fahre gern spazieren.“ Die Schwägerin200
nen aber sagten dem Zarendiener auch von sich aus: „Gebt ihm lieber auf den Ofen, was Ihr ihm zu geben gedenkt. Wenn er einmal versprochen hat, zum Zaren zu fahren, dann hält er Wort und kommt.“ So geben sie ihm die Näschereien und den Schnaps. Er trinkt den Schnaps und ißt die Näschereien. Und bekam einen Rausch. Der Zarendiener aber sagt zu ihm: „Nun, die Näschereien hast du gegessen und den Schnaps getrunken, hast dir beides schmecken lassen, jetzt komm, wir wollen zum Zaren fahren!“ Jemelja sagt darauf: „Fahr nur zu, Diener des Zaren! Ich hole dich schon ein, ich halte Wort und komme.“ Und damit legte er sich wieder hin und schnarchte, daß das ganze Haus dröhnte. Der Diener des Zaren fragte die Schwägerinnen nochmals, ob es wahr sei, daß er tue, was er vorher versprochen habe. Die sagten natürlich ja, es ist wirklich so, er bricht sein Wort nie. Der Zarendiener fuhr davon, Jemelja aber schläft höchst vergnügt auf seinem Ofen. Wird er munter, knackt er Sonnenblumenkerne und schläft dann wieder ein. Nun verging eine geraume Zeit, Jemelja aber denkt gar nicht daran, zum Zaren zu fahren. Da weckten die Schwägerinnen Jemelja und schalten: „Jemelja, los, aufstehen, du hast genug geschlafen!“ Er antwortete ihnen: „Laßt mich in Ruhe, ich bin sehr müde!“ – „Du hast aber doch versprochen, zum Zaren zu fahren. Den Schnaps hast du getrunken, die Näschereien gegessen, und nun schläfst du und fährst nicht.“ – „Schön, ich fahre gleich los. Gebt mir mal meinen Kaftan, sonst ist 201
es vielleicht doch zu kalt!“ – „Den kannst du dir schon selber nehmen, auf dem Ofen wirst du ja wohl nicht fahren wollen. Komm herunter vom Ofen und hol ihn dir!“ – „Nein, im Schlitten ist es mir zu kalt, ich werde auf dem Ofen liegenbleiben und den Kaftan überziehen.“ Doch die Schwägerinnen sagen zu ihm: „Was fällt dir nur ein, du Dummkopf, und was stellst du nur an! Wo hat man je gehört, daß die Leute auf einem Ofen spazierenfahren!“ – „Die Leute sind nicht ich. Ich werde so fahren.“ Und er sprang herunter, holte seinen schäbigen Kaftan unter der Bank hervor, deckte sich zu und sagte mit lauter Stimme: „Wie’s der Hecht gebietet und ich erbitte: Ofen, fahr geradenwegs zum Zaren ins Schloß!“ Der Ofen krachte in allen Fugen und flog mit einem Male hinaus ins Freie. Und schneller als jeder Vogel fuhr er zum Zaren. Jemelja aber liegt obendrauf und singt aus vollem Halse Lieder. Später hörte er auf und schlief ein. Und der Zarendiener war gerade in den Hof des Zarenschlosses eingefahren, da kommt auch Jemelja der Dummkopf auf seinem Ofen angeflogen. Der Diener sah ihn ankommen und eilte, dem Zaren Bericht zu erstatten. Eine solche Ankunft interessierte nicht nur den Zaren, sondern auch sein ganzes Gefolge und seine ganze Familie. Alle kamen heraus, sich Jemelja anzusehen, der aber sitzt auf seinem Ofen, hat das Maul weit aufgerissen, und seine Haare spießen wie Flachsspindeln. Auch die Tochter des Zaren war mit herausgekommen. Als Jemelja diese schöne Jungfrau sah, gefiel sie ihm 202
gar sehr, und er sprach mit leiser Stimme vor sich hin: „Wie’s der Hecht gebietet und ich erbitte, diese schöne Jungfrau soll sich in mich verlieben.“ Der Zar nun befiehlt ihm, vom Ofen herunterzuklettern. Jemelja aber gibt ihm zur Antwort: „Warum denn? Mir ist auch auf meinem Ofen warm genug, und ich kann euch alle vom Ofen aus sehen. Sag nur, was du zu sagen hast!“ Da sprach der Zar mit strenger Stimme zu ihm: „Warum hast du mit deinem Schlitten so viele Leute umgefahren?“ – „Warum sind sie denn nicht aus dem Wege gegangen? Wenn du dagestanden und Maulaffen feilgehalten hättest, hätte ich dich auch überfahren.“ Da wurde der Zar sehr böse und gab Befehl, Jemelja von seinem Ofen herunterzuziehen. Kaum aber erblickte Jemelja die Wächter des Zaren, sagte er mit lauter Stimme: „Wie’s der Hecht gebietet und ich erbitte: Ofen, flieg zurück an deinen Platz!“ Und er hatte die letzten Worte noch nicht zu Ende gesprochen, als der Ofen auch schon schnell wie der Blitz aus dem Zarenschloß herausflog, und die Tore öffneten sich für ihn von selbst. Die Schwägerinnen fragen ihn: „Wie ist’s, warst du beim Zaren?“ – „Na, versteht sich. Bin ja schließlich nicht ins Holz gefahren.“ – „Nein wahrhaftig, Jemelja, du vollbringst geradezu Wunder. Wie kommt’s nur, daß sich bei dir alles bewegt: der Schlitten fährt von selbst, und der Ofen fliegt von selbst. Und warum ist dies bei anderen Leuten nicht so?“ – „Freilich, bei anderen ist’s nicht so und wird auch nie so sein. Aber mir gehorcht alles.“ Und damit fiel er in ei203
nen tiefen Schlaf. Die Zarentochter aber sehnte sich inzwischen sehr nach Jemelja, denn ohne ihn gab es für sie auf der ganzen weiten Welt keine Freude. Und sie bat Vater und Mutter, den jungen Burschen zu rufen und ihr zum Manne zu geben. Der Zar verwunderte sich über eine so schreckliche Bitte und wurde sehr zornig auf seine Tochter. Aber sie sagte: „Ich mag nicht mehr leben auf dieser Welt, mich hat eine unbegreifliche Sehnsucht befallen, macht mich zu seinem Weibe!“ Wie der Zar sieht, daß alles Reden, sie könne doch nicht sein Weib werden, gar nichts über die Tochter vermag und daß sie gegen alle Ermahnungen der Eltern taub ist, beschloß er, diesen Dummkopf Jemelja kommen zu lassen. Und er sendet einen dritten Diener aus: „Geh und bring ihn mir her, aber bring ihn gleich mit, und nicht etwa auf einem Ofen oder im Schlitten!“ Der Zarendiener kommt nun in Jemeljas Dorf. Da ihm der erste Diener gesagt hatte, Jemelja liebe Schnaps, Pfefferkuchen und Näschereien, trug er eine Menge der verschiedensten Näschereien zusammen und kaufte Schnaps. Er kam herein, weckte Jemelja und sagt: „Komm herunter vom Ofen, Jemelja, trink Schnaps mit mir und iß, was ich dir mitgebracht habe!“ Der aber sagt zu ihm: „Gib nur immer her, ich kann auch auf dem Ofen Schnaps trinken und deine Mitbringsel essen.“ – „Du mußt doch schon ganz wundgelegene Seiten haben, wenn du immer auf dem Ofen liegst. Ich will, daß du hier bei mir sitzt, und ich werde dich bewirten wie einen Grafen.“ Da klettert Jemelja 204
von seinem Ofen herunter und zieht seinen Kaftan an. Er hatte immer große Angst, er könne sich erkälten. Was aber den Kaftan betrifft, so konnte man ihn eigentlich gar nicht so nennen: ein Flikken hing am anderen, so zerrissen war er. Der Zarendiener also bewirtet ihn mit Branntwein, und Jemelja hatte sich bald einen ordentlichen Rausch angetrunken und war auf der Bank am Tisch eingeschlafen. Da befiehlt der Zarendiener, Jemelja in seine Kutsche zu schleppen und so viel Schnaps mitzunehmen, daß es bis zum Zarenschloß reicht. Er zog ihm aber seinen alten, zerrissenen Kaftan an. Sobald Jemelja erwachte, gab er ihm wieder Schnaps zu trinken, und so brachte er den schlafenden und betrunkenen Jemelja ins Schloß. Als der Zar erfuhr, daß Jemelja angekommen war, ließ er ein großes Faß anrollen und die Zarentochter zusammen mit Jemelja dem Dummkopf hineinstecken. Als man sie hineingesteckt hatte, wurde das Faß mit Pech verschlossen und ins Meer versenkt. Jemelja aber schläft auch im Faß weiter und ist nicht munter zu kriegen. Am dritten Tag weckte ihn die wunderschöne Zarentochter: „Jemelja, Jemelja! Steh auf, wach auf!“ – „Laß mich in Ruh! Ich bin sehr müde!“ Sie weinte bitterlich, daß er sie überhaupt nicht beachtete. Als er die bitteren Tränen der Zarentochter sah, tat sie ihm doch leid, und er fragt: „Warum weinst du?“ – „Wie sollte ich nicht weinen? Man hat uns doch ins Meer geworfen, und wir sitzen in einem Faß.“ Da sagte Jemelja: „Wie’s der Hecht gebietet und ich erbitte: Faß, flieg ans Ufer und fall aus205
einander in kleine Teile!“ Und augenblicklich wurden sie durch eine Meereswoge ans Ufer geworfen, das Faß fiel auseinander, und diese Insel war so schön, daß die wunderschöne Zarentochter den ganzen Tag umherlief und sich bis zur späten Nacht an all der Schönheit nicht sattsehen konnte. Als sie dorthin kam, wo sie Jemelja zurückgelassen hatte, war er unter seinen schäbigen Kaftan gekrochen und schlief wie ein Murmeltier. Da weckte sie ihn und rief: „Jemelja, Jemelja, steh auf, wach auf!“ – „Laß mich in Ruhe! Ich bin müde!“ – „Ich bin auch müde, aber unter freiem Himmel ist es doch zu kalt.“ – „Ich habe mich mit meinem Kaftan zugedeckt.“ – „Und womit soll ich mich zudecken?“ – „Was geht’s mich an?“ Da begann die Zarentochter bitterlich zu weinen, daß er sie so gar nicht beachtete, während sie ihn von ganzer Seele liebte. Als er sah, daß die Zarentochter weinte, fragte er sie: „Was willst du denn?“ – „Wenn wir uns doch wenigstens eine Laubhütte machten, um uns vor dem Regen zu schützen.“ Da schrie er mit lauter Stimme: „Wie’s der Hecht gebietet und ich erbitte, es soll ein Schloß erscheinen, wie es kein anderes in der weiten Welt gibt!“ Und kaum hatte er die letzten Worte ausgesprochen, da erhob sich auf der Insel ein sehr schönes Marmorschloß, wie es in keiner Residenzstadt je eines gegeben hat oder geben wird. Die Zarentochter faßt ihn bei den Händen und führt ihn zu diesem Schloß. Und ihr ganzer Hofstaat erwartet sie, macht vor ihnen die Tore weit auf, und alle verbeugen sich bis zur Erde. Als 206
sie dieses Schloß nun betreten hatten, ließ sich Jemelja auf eins der kostbaren Betten fallen, um zu schlafen, und er zog nicht einmal seinen abgetragenen, schäbigen Kaftan aus. Die Zarentochter aber ging inzwischen das wunderschöne Schloß besichtigen und weidete sich an all dem Glanz und Reichtum. Als sie dorthin kam, wo sie Jemelja zurückgelassen hatte, sah sie, daß er bitterlich weinte. Sie fragt ihn: „Warum weinst du so bitterlich, lieber Jemelja?“ – „Wie sollte ich nicht heulen und weinen? Ich finde keinen Ofen und weiß nicht, wohin ich mich legen soll!“ – „Liegst du denn schlecht auf den Daunenfedern und dem kostbaren Diwan?“ – „Nein, auf einem Ofen liegt sich’s am besten. Und außerdem ist mir hier langweilig, auch Ruß kann ich nirgends sehen.“ Sie beruhigte ihn, und er schlief wieder ein. Sie ging zum andern Male weg. Und als sie sich nach Herzenslust im ganzen Schloß umgesehen hatte, kam sie zu Jemelja zurück und sieht verwundert: Jemelja stand vor einem Spiegel und schimpfte: „Ich bin sehr häßlich und gar nicht schön. Was für ein schreckliches Gesicht habe ich, und meine Haare spießen wie Flachsspindeln.“ Die Zarentochter antwortet ihm: „Wenn du auch nicht schön und ansehnlich bist, so habe ich dich doch in mein Herz geschlossen und liebe dich.“ Da sagte er: „Wie’s der Hecht gebietet und ich erbitte: Ich muß der allerschönste Bursche werden.“ Und auf einmal veränderte sich Jemelja vor ihren Augen und wurde zu einem so schönen Helden, daß man es weder mit Worten sagen noch mit der Fe207
der beschreiben kann, so unbeschreiblich schön war er. Und er hatte nun auch einen klugen Verstand. Da erst gewann er die Zarentochter lieb und behandelte sie von nun an wie sein Eheweib. Es verging nicht gar zuviel Zeit, da hört Jemelja plötzlich Kanonenschüsse auf dem Meer. Er tritt mit der wunderschönen Zarentochter aus seinem Schloß und sieht, daß ein Schiff angelegt hat. Die Zarentochter aber erkennt das Schiff ihres Vaters. Da sagt sie zu Jemelja: „Geh du die Gäste empfangen, ich aber will hierbleiben.“ Als Jemelja zur Anlegestelle kam, war der Zar mit seinem Gefolge schon an Land gestiegen. Und er wundert sich über dieses neuerbaute Schloß mit den herrlichen grünen Gärten und fragt Jemelja: „Zu welchem Reich gehört dieses kostbare Schloß?“ Jemelja antwortete: „Zu Eurem!“ Und er bittet sie, seine Gäste zu sein. Als der Zar das Schloß betreten hatte und sie am Tisch saßen, fragt er: „Und wo ist Eure Gemahlin? Oder seid Ihr nicht verheiratet?“ – „Nein, ich bin verheiratet, ich werde sie Euch gleich vorstellen, sie macht sich erst noch zurecht.“ Und als Jemelja sie geholt hatte und wieder zum Zaren kommt, da verwunderte sich der gar sehr, erschrak, geriet ganz außer sich und weiß nicht, was er tun soll. Und er fragt: „Bist du es wirklich, meine liebe Tochter?“ – „Ja, ich bin’s, liebster Vater! Du hast mich und diesen meinen Gemahl in einem verschlossenen Faß ins Meer werfen lassen, aber wir sind hier an diese Insel getrieben, und mein Jemelja Iwanytsch hat all dies hier selber 208
erbaut, was Ihr mit Euren eigenen Augen hier sehen könnt.“ – „Wie ist das denn möglich? Er war doch ein Dummkopf und einem Ungeheuer ähnlicher als einem Menschen!“ – „So ist’s, nur daß er jetzt völlig verwandelt und ein ganz anderer geworden ist.“ Da bittet der Zar sie um Verzeihung, sowohl seine Tochter wie auch seinen lieben Schwiegersohn Jemelja Iwanytsch, und beide vergaben ihm seine Schuld. Als der Zar eine Weile bei seinem Schwiegersohn und seiner Tochter zu Gast gewesen ist, lädt er sie zu sich ein, um sie in der Hauptkathedrale zu trauen und alle Verwandten und Bekannten dazu einzuladen. Jemelja war hiermit einverstanden. Als der Zar die Kunde verbreiten und Boten aussenden ließ, man solle zu diesem großen Fest kommen, bittet Jemelja seine wunderschöne Zarentochter: „Auch ich habe Verwandte, erlaubt mir also, daß ich fahre, sie zu holen. Ihr aber bleibt solange im Schloß.“ Da gewährten ihm der Zar und die wunderschöne junge Zarentochter, wenn auch nicht allzu gern, Urlaub und gaben ihm die drei besten Pferde, die sie hatten, eine vergoldete Kutsche und einen Kutscher. Und Jemelja jagte los in seine Heimat. Als er sich den heimatlichen Gefilden nahte und einen dunklen Wald durchfuhr, hört er plötzlich seitwärts Rufen, das kaum noch an sein Ohr dringt. Er läßt den Kutscher die Pferde anhalten und sagt zu ihm: „Hier haben sich wohl Leute im dunklen Wald verirrt.“ Und er antwortet auf ihr Rufen und sieht plötzlich seine zwei leiblichen Brüder auf sich zukommen. Jemelja fragt sie: „Was lauft ihr hier 209
umher, gute Leute, und ruft so laut? Ihr habt euch wohl verirrt?“ – „Nein, wir suchen unseren leiblichen Bruder. Er ist verschwunden, wir wissen nicht, wohin.“ – „Wie ist das denn gekommen, daß er verschwunden ist?“ – „Man hat ihn zum Zaren gebracht. Und wir glauben, daß er von dort entflohen ist und sich vielleicht in diesem Wald verirrt hat, denn er war ein Dummkopf und versteht rein gar nichts.“ – „Wenn er ein Dummkopf ist, warum sucht ihr ihn dann überhaupt?“ – „Wie sollten wir ihn nicht suchen? Ist er doch unser leiblicher Bruder, und es ist uns seinetwegen weher ums Herz als um uns selbst, denn er ist ein armer, dummer Mensch.“ Und dabei traten den Brüdern die Tränen in die Augen. Da sagt Jemelja zu ihnen: „Ich selbst bin euer Bruder Jemelja.“ Sie wollten ihm aber auf keine Weise glauben. „Treibt bitte nicht Euren Spott mit uns und habt uns nicht zum besten! Uns ist auch so elend genug zumute.“ Er aber ließ nicht nach in seinen Beteuerungen und erklärte, wie sich alles mit ihm zugetragen hatte. Und er erzählte ihnen, was er von seinem Dorf wußte und wie alle Leute dort heißen. Außerdem aber zog er Rock und Hemd aus und sagte: „Ihr wißt, daß ich auf der rechten Seite ein großes Muttermal habe, das auch jetzt noch zu sehen ist.“ Da glaubten ihm die Brüder, und er setzt sie in die vergoldete Kutsche. Sie durchquerten den Wald und kamen zum ersten Dorf. Jemelja mietet drei andere Pferde und schickt seine Brüder zum Zaren. „Ich aber will selber fahren, meine Schwägerinnen, eure Frau210
en, zu holen.“ Als Jemelja in sein Dorf kam und sein Vaterhaus betrat, erschraken die Schwägerinnen gar sehr. Er aber sagt zu ihnen: „Macht euch bereit, wie sich’s gehört, zum Zaren zu fahren!“ Sie konnten sich kaum auf den Beinen halten, so waren sie erschrocken, und fingen bitterlich an zu weinen: „Da hat sicher unser Dummkopf Jemelja irgend etwas Dummes angestellt, und der Zar will uns gewiß ins Gefängnis stecken!“ Er aber befiehlt: „Macht euch schnellstens fertig! Und ihr dürft nichts mitnehmen!“ Er setzte sie neben sich in die vergoldete Kutsche. Und wie sie zum Zarenschloß gefahren kommen, werden sie schon vom Zaren, der wunderschönen Zarentochter, dem Gefolge des Zaren und von ihren Männern erwartet. Und die Brüder sagen zu ihren Frauen: „Warum seid ihr so betrübt? Das ist doch unser Bruder Jemelja Iwanytsch, der mit euch fährt!“ So sprechen sie und sehen ihre Frauen froh an. Da erst wich die Angst von ihnen, als sie ihre Männer sahen. Und beide warfen sich Jemelja Iwanowitsch zu Füßen und baten ihn um Verzeihung, daß sie ihn früher so schlecht behandelt hatten. Jemelja verzieh ihnen und kleidete alle, Brüder wie Schwägerinnen, in kostbare Gewänder. Und der Zar ließ ein Fest rüsten und gab ihnen seinen väterlichen Segen zur Hochzeit. Als sie getraut waren, wollte Jemelja kein Fest im Zarenschloß feiern, sondern lud alle in sein Schloß auf die Insel ein, sich diese Wunderinsel und das
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kostbare schöne Schloß anzusehen. Und als sie ankamen, gab er ein großes Fest. Auch mich luden sie ein, ich trank Bier und Wein, der Bart hat alles abgefangen, der Mund ist leer ausgegangen.
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28 Die Feder von Finist dem edlen Falken Es lebte einmal ein Mann, der hatte drei Töchter: die älteste und die mittlere waren eitle und putzsüchtige Dinger, die jüngste aber hatte einzig die Wirtschaft im Sinn. Einmal will der Vater in die Stadt fahren und fragt seine Töchter, was er einer jeden mitbringen soll. Die älteste bittet: „Bring mir Stoff für ein Kleid mit!“ Die mittlere sagt dasselbe. „Und was soll ich dir mitbringen, meine liebe Tochter?“ fragt er die jüngste. „Vater, bring mir eine Feder von Finist dem edlen Falken mit!“ Der Vater nahm Abschied von seinen Töchtern und fuhr in die Stadt; für die beiden älteren Töchter kaufte er Kleiderstoff, eine Feder von Finist dem edlen Falken aber konnte er nirgends finden. Wie er nach Hause kam, erfreute er die älteste und die mittlere Tochter mit dem neuen Stoff. Zur jüngsten aber sagte er: „Für dich jedoch habe ich keine Feder von Finist dem edlen Falken gefunden.“ – „Laß es nur gut sein“, sagte sie, „vielleicht glückt es dir ein andermal, eine zu finden.“ Die beiden älteren Schwestern schneiden zu, nähen sich neue Kleider und verspotten die jüngste; die aber kümmert sich nicht darum und schweigt. Und wieder macht sich der Vater bereit, in die Stadt zu fahren, und fragt: „Nun, liebe Töchter, was soll ich euch mitbringen?“ Die älteste und die 213
mittlere Tochter bitten, er solle jeder ein Tuch kaufen, die jüngste aber sagt: „Vater, bring mir eine Feder von Finist dem edlen Falken mit!“ Der Vater fuhr in die Stadt, kaufte zwei Tücher, eine Feder aber bekam er nicht einmal zu Gesicht. Wie er nach Hause kam, sagte er: „Ach, Töchterchen, ich habe wieder keine Feder von Finist dem edlen Falken finden können!“ – „Das macht nichts, Vater, vielleicht glückt es ein andermal.“ Ein drittes Mal rüstet sich der Vater zur Fahrt in die Stadt und fragt: „Sagt mir, liebe Töchter, was soll ich euch mitbringen?“ Die beiden älteren sagen: „Bring uns Ohrringe mit!“ Die jüngere aber sagt wieder ihren alten Spruch: „Bring mir eine Feder von Finist dem edlen Falken mit!“ Der Vater kaufte goldene Ohrringe und suchte dann überall nach der Feder, aber niemand wußte etwas von einer solchen Feder. Er wurde sehr betrübt und machte sich auf die Heimreise. Kaum hatte er das Stadttor hinter sich gelassen, da begegnet ihm ein altes Männlein mit einem kleinen Korb. „Was trägst du da, Alter?“ – „Eine Feder von Finist dem edlen Falken.“ – „Was willst du dafür haben?“ – „Gib mir tausend Rubel!“ Der Vater bezahlte das Geld und sprengte mit dem Körbchen heim. Die Töchter begrüßen ihn. „Nun, meine liebe Tochter“, sagt er zur jüngsten, „endlich habe ich dir ein Geschenk mitgebracht; hier, nimm!“ Die jüngste Tochter machte vor Freude beinahe einen Luftsprung, nahm das Körbchen, küßte und herzte es und drückte es fest an die Brust.
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Nach dem Abendbrot gingen alle zur Nachtruhe in ihre Zimmer. Auch sie ging in ihre Kammer, deckte das Körbchen auf – da flog die Feder Finists des edlen Falken heraus, schlug gegen den Fußboden, und vor dem Mädchen stand ein wunderschöner Zarensohn. Nun gingen süße und liebe Worte zwischen ihnen hin und her. Das hörten die Schwestern, und sie fragten: „Mit wem sprichst du da, Schwesterchen?“ – „Mit mir selbst“, antwortete das schöne Mädchen. „So, so, mach einmal auf!“ Der Zarensohn warf sich auf den Boden und wurde wieder zur Feder; sogleich legte sie die Feder in den Korb und öffnete die Tür. Die Schwestern blicken hierhin, gucken dorthin – aber niemand ist zu sehen. Kaum waren sie wieder fort, da öffnete das schöne Mädchen das Fenster, holte die Feder heraus und sagt: „Flieg, meine Feder, aufs freie Feld; flieg umher bis zum nächsten Mal!“ Die Feder verwandelte sich in einen edlen Falken und flog fort aufs freie Feld. In der nächsten Nacht kommt Finist der edle Falke wieder zu seinem Mädchen geflogen, und wieder wechselten sie frohe Worte. Die Schwestern hörten das und liefen gleich zu ihrem Vater: „Vater! Bei unserer Schwester ist nachts immer jemand; auch jetzt sitzt jemand dort und spricht mit ihr.“ Der Vater stand auf und ging zu seiner jüngsten Tochter, tritt in ihre Kammer, aber der Zarensohn hatte sich schon längst in eine Feder verwandelt und liegt in dem Korb. „Ihr nichtsnutzigen Dinger“, fuhr der Vater da seine älteren
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Töchter an, „was redet ihr Schlechtes über sie? Ihr solltet lieber auf euch selbst aufpassen!“ Am anderen Tage griffen die Schwestern zu einer List: Am Abend, als es draußen schon ganz dunkel war, stellten sie eine Leiter an, nahmen scharfe Messer und spitze Nadeln und steckten sie rings um das Fenster des schönen Mädchens. In der Nacht kam Finist der edle Falke geflogen, aber wie sehr er sich auch mühte und plagte, er konnte nicht in die Kammer gelangen und schnitt sich nur die Flügel wund. „Leb wohl, schönes Mädchen!“ sagte er. „Wenn du mich suchen willst, dann such mich weit, weit von hier, am Ende der Welt. Erst mußt du drei Paar eiserne Schuhe durchgelaufen, drei eiserne Wanderstäbe zerbrochen und drei steinerne Weihbrote verzehrt haben, ehe du mich findest, deinen wackeren Helden!“ Das Mädchen aber schläft und schläft. Zwar hört sie im Schlaf diese schlimmen Worte, aber aufwachen und aufstehen kann sie nicht. Am Morgen wacht sie auf und sieht – rings um ihr Fenster stecken Messer und Nadeln, und das Blut fließt nur so davon herab. Da schlug sie die Hände zusammen: „Großer Gott! Gewiß haben die Schwestern meinem lieben Freund ein Leid angetan!“ Und sogleich brach sie auf und ging aus dem Haus. Sie lief zur Schmiede und schmiedete sich drei Paar eiserne Schuhe und drei eiserne Wanderstäbe, dazu versah sie sich mit drei steinernen Weihbroten und machte sich dann auf den Weg, Finist den edlen Falken zu suchen.
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Sie lief und lief und hatte schon ein Paar eiserne Schuhe durchgelaufen, einen eisernen Wanderstab zerbrochen und ein steinernes Weihbrot verzehrt, da kommt sie an eine Hütte. Sie klopft an: „Wirt und Wirtin! Beherbergt mich vor der dunklen Nacht!“ Eine Alte antwortet: „Herzlich willkommen, schönes Mädchen! Wohin führt dich dein Weg, mein Kind?“ – „Ach Großmütterchen, ich suche Finist den edlen Falken!“ – „Oh, schönes Mädchen, da wirst du lange suchen müssen!“ Am Morgen sagt die Alte: „Geh jetzt zu meiner mittleren Schwester, sie wird dich Gutes lehren, und hier ist ein Geschenk für dich: eine silberne Spinnbank und eine goldene Spindel; setzt du dich hin, um Flachs zu spinnen, so wird dein Faden immer von Gold sein.“ Darauf nahm sie noch ein Knäuel Garn: „Wohin es rollt, geh ihm nach!“ Das Mädchen dankte der Alten und lief dem Knäuel nach. Über eine Weile war das zweite Paar Schuhe durchgelaufen, der zweite Wanderstab zerbrochen und das zweite Weihbrot verzehrt; da rollte das Garnknäuel schließlich zu einer Hütte. Sie klopfte an: „Gute Leute, beherbergt ein schönes Mädchen vor der dunklen Nacht,!“ – „Herzlich willkommen!“ antwortet eine Alte, „wohin führt dich dein Weg, schönes Mädchen?“ – „Großmütterchen, ich suche Finist den edlen Falken.“ – „Da wirst du lange suchen müssen!“ Am Morgen gibt ihr die Alte einen silbernen Teller und ein goldenes Ei und schickte sie zu ihrer ältesten Schwester: die weiß nämlich, wo Finist der edle Falke zu finden ist. 217
Das schöne Mädchen verabschiedete sich von der Alten und machte sich wieder auf den Weg. Sie lief und lief, das dritte Paar Schuhe war durchgelaufen, der dritte Wanderstab zerbrochen und das letzte Weihbrot verzehrt, da rollte das Knäuel zu einer Hütte. Das Mädchen klopft und sagt: „Gute Leute, beherbergt ein schönes Mädchen vor der dunklen Nacht!“ Wieder kam eine Alte heraus: „Komm mein Kind! Herzlich willkommen! Woher des Wegs, und wohin willst du?“ – „Großmütterchen, ich suche Finist den edlen Falken.“ – „O weh, der ist schwer zu finden! Er lebt jetzt in der und der Stadt und hat der Weihbrotbäckerin Tochter geheiratet.“ Am Morgen sagt die Alte zum schönen Mädchen: „Hier hast du ein Geschenk: einen goldenen Stickrahmen und eine Nadel; du brauchst nur den Rahmen zu halten, die Nadel stickt dann von selbst. Jetzt geh mit Gott und verdinge dich bei der Weihbrotbäckerin als Magd!“ Gesagt, getan! Das schöne Mädchen kam zu der Weihbrotbäckerin Haus und verdingte sich als Magd. Die Arbeit geht ihr flink von der Hand: den Ofen heizen, Wasser tragen und das Mittagessen bereiten – alles geht wie im Fluge. Die Weihbrotbäckerin sieht’s und freut sich: „Gott sei Dank“, sagt sie zu ihrer Tochter, „endlich haben wir eine Magd, die willig und tüchtig ist; man braucht ihr nichts zu sagen, sie tut alles von selbst!“ Als das schöne Mädchen aber seine Arbeit in der Wirtschaft beendet hatte, nahm sie die silberne Spinnbank und die goldene Spindel und begann 218
zu spinnen: sie spinnt – und aus dem Flachse zieht sich ein Faden, kein einfacher, sondern aus lauterem Gold. Das sah der Weihbrotbäckerin Tochter: „Ach, schönes Mädchen, willst du mir nicht deinen lustigen Zeitvertreib verkaufen?“ – „Bitte, ich will ihn dir verkaufen.“ – „Und welchen Preis forderst du?“ – „Erlaube mir, die Nacht bei deinem Gemahl zu verbringen.“ Die Tochter war’s einverstanden. „Das ist kein Unglück“, denkt sie, „meinem Gemahl kann ich einen Schlaftrunk geben, durch diese Spindel aber können Mutter und ich steinreich werden!“ Finist der edle Falke aber war nicht zu Hause: den ganzen Tag tummelte er sich in den Lüften und kam erst gegen Abend heim. Sie setzten sich zum Abendbrot. Das schöne Mädchen trägt die Speisen auf und blickt ihn unverwandt an, er aber, der wackere Held, erkennt sie nicht. Die Tochter der Weihbrotbäckerin mischte Finist dem edlen Falken ein Schlafmittel in seinen Trank, legte ihn auf sein Bett und sagt zur Magd: „Geh zu ihm in die Kammer und verjag die Fliegen!“ Das schöne Mädchen verjagt die Fliegen und weint dabei bitterlich: „Werde munter, wach auf, Finist, edler Falke! Ich, das schöne Mädchen, bin zu dir gekommen; drei eiserne Wanderstäbe habe ich zerbrochen, drei Paar eiserne Schuhe durchgelaufen, drei steinerne Weihbrote verzehrt und die ganze Zeit dich, meinen Liebsten, gesucht!“ Aber der Finist schläft, merkt nichts, und die Nacht ging vorüber.
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Am anderen Tag nahm die Magd das silberne Tellerchen und rollt darauf das goldene Ei hin und her: da lagen viele goldene Eier darauf! Das sah der Weihbrotbäckerin Tochter: „Verkauf mir deinen lustigen Zeitvertreib!“ sagt sie. „Bitte, du kannst ihn kaufen.“ – „Und welchen Preis forderst du?“ – „Erlaube mir, noch eine Nacht bei deinem Gemahl zu verbringen.“ – „Schön, ich bin einverstanden!“ Finist der edle Falke aber hatte sich wieder den ganzen Tag in den Lüften getummelt und kam erst gegen Abend heimgeflogen. Sie setzten sich zum Abendbrot. Das schöne Mädchen trägt die Speisen auf und blickt ihn unverwandt an, er aber merkt nichts, als habe er sie nie gekannt. Wieder gab ihm der Weihbrotbäckerin Tochter ein Schlafmittel zu trinken, legte ihn auf sein Bett und schickte die Magd, die Fliegen zu verjagen. Und wie sehr das schöne Mädchen auch weinte und ihn zu wecken suchte, er schlief auch dieses Mal bis zum Morgen und hörte nichts. Am dritten Tag sitzt das schöne Mädchen da, hält den goldenen Stickrahmen in ihren Händen, die Nadel aber stickt ganz von selbst, und was für wunderbare Muster! Die Tochter der Weihbrotbäkkerin konnte sich gar nicht satt daran sehen. „Verkauf mir, schönes Mädchen“, sagt sie, „verkauf mir deinen lustigen Zeitvertreib!“ – „Bitte, du kannst ihn kaufen.“ – „Und welchen Preis forderst du?“ – „Erlaube mir, eine dritte Nacht bei deinem Gemahl zu verbringen.“ – „Schön, ich bin einverstanden.“ Am Abend kam Finist der edle Falke geflogen; sein Weib gab ihm ein Schlafmittel zu trin220
ken, legte ihn auf sein Bett und schickt die Magd, die Fliegen zu verjagen. Da verjagt nun das schöne Mädchen die Fliegen und klagt dazu unter Tränen: „Werde munter, wach auf, Finist, edler Falke! Ich, das schöne Mädchen, bin zu dir gekommen; drei eiserne Wanderstäbe habe ich zerbrochen, drei Paar eiserne Schuhe durchgelaufen, drei steinerne Weihbrote verzehrt und die ganze Zeit dich, meinen Liebsten gesucht!“ Aber Finist der edle Falke schläft fest und merkt nichts. Lange weinte sie, lange suchte sie, ihn zu wekken; plötzlich fiel ihm eine Träne des schönen Mädchens auf die Wange, und im gleichen Augenblick wachte er auf: „Ach“, sagt er, „es hat mich etwas gebrannt!“ – „Finist, edler Falke“, antwortet das Mädchen, „ich bin zu dir gekommen! Drei eiserne Wanderstäbe habe ich zerbrochen, drei Paar eiserne Schuhe durchgelaufen, drei steinerne Weihbrote verzehrt und die ganze Zeit dich gesucht! Schon die dritte Nacht stehe ich über dich gebeugt, doch du schläfst, wachst nicht auf und antwortest nicht auf meine Worte!“ Da erst erkannte Finist der edle Falke das Mädchen, und er freute sich, daß man es gar nicht beschreiben kann. Sie berieten sich und verließen die Weihbrotbäckerin. Am Morgen vermißte der Weihbrotbäckerin Tochter ihren Gemahl: weder er war zu finden, noch die Magd! Sie beklagte sich bei ihrer Mutter; die Weihbrotbäckerin ließ die Pferde einspannen und jagte ihnen nach. Sie fuhr und fuhr, machte auch bei den drei Alten halt, aber
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Finist den edlen Falken holte sie nicht ein: nicht einmal seine Spur war zu sehen! Schließlich stand Finist der edle Falke mit seiner Auserwählten vor dem Haus ihres Vaters; er warf sich auf die kalte Erde und verwandelte sich in eine Feder; das schöne Mädchen nahm die Feder, barg sie unter ihrem Brusttuch und ging zu ihrem Vater. „Ach liebe Tochter! Ich dachte schon, du seiest überhaupt nicht mehr am Leben. Wo bist du so lange gewesen?“ – „Ich bin gegangen, zu Gott zu beten.“ Es war aber die Woche nach Ostern. Der Vater will gerade mit seinen älteren Töchtern zur Frühmesse fahren. „Wie ist’s, liebe Tochter“, fragt er die jüngste, „mach dich fertig und laß uns zusammen fahren; heute ist ein so froher Tag.“ – „Väterchen, ich habe nichts anzuziehen.“ – „Zieh unsere Kleider an“, sagen die älteren Schwestern. „Ach, liebe Schwestern, eure Kleider passen mir ja nicht! Ich will lieber zu Hause bleiben.“ Der Vater fuhr mit den zwei Töchtern zur Frühmesse; unterdessen holte das schöne Mädchen seine Feder hervor. Die Feder warf sich auf den Fußboden und verwandelte sich in den wunderschönen Zarensohn. Der Zarensohn pfiff zum Fenster hinaus – sogleich erschienen Kleider, Schmuck und eine goldene Kutsche. Sie zogen schöne Gewänder an, setzten sich in die Kutsche und fuhren los. Sie treten in die Kirche und stellen sich vorn hin, vor alle anderen; die Leute verwunderten sich: was für ein Zarensohn mit seiner Gemahlin ihnen da die Ehre erwies! Gegen Ende 222
der Frühmesse gingen sie vor allen anderen hinaus und fuhren nach Hause; da verschwand die Kutsche, und Kleider und Schmuck waren fort, als hätte es sie nie gegeben; der Zarensohn aber verwandelte sich wieder in eine Feder. Dann kam auch der Vater mit den Töchtern heim. „Ach, Schwesterchen! Siehst du, du hast nicht mitfahren wollen, aber in der Kirche war ein wunderschöner Zarensohn mit seiner herrlichen Gemahlin.“ – „Das macht nichts, liebe Schwestern. Ihr habt’s mir erzählt, das ist genauso gut, als wäre ich dabei gewesen.“ Am anderen Tag geschah wieder das gleiche, als aber am dritten Tag der Zarensohn sich mit seinem schönen Mädchen in die Kutsche setzte, trat der Vater aus der Kirche heraus und sah mit eigenen Augen, daß die Kutsche vor sein Haus fuhr und danach verschwand. Der Vater kehrte heim und bedrängte seine jüngste Tochter mit Fragen; da sagt sie: „Es bleibt mir nichts anderes übrig, ich muß alles gestehen.“ Sie holte die Feder hervor. Die Feder warf sich auf den Fußboden und verwandelte sich in den Zarensohn. Da wurden sie gleich getraut, und es gab eine reiche Hochzeit. Auch mich luden sie zur Hochzeit ein, ich trank Wein, der Bart hat alles abgefangen, der Mund ist leer ausgegangen. Sie setzten mir eine Haube auf und knufften mich, was das Zeug hielt; sie setzten mir einen Korb auf und sagten: „Du, langer Lümmel, nicht lange gefackelt, verschwinde so schnell du kannst!“
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29 Die schöne Wassilissa In einem Reiche lebte einmal ein Kaufmann. Zwölf Jahre war er verheiratet gewesen, hatte aber nur eine einzige Tochter, die schöne Wassilissa. Als die Mutter zu sterben kam, war das Mädchen acht Jahre alt. Auf dem Sterbebett rief die Kaufmannsfrau ihr Töchterchen zu sich, holte unter der Dekke eine Puppe hervor, gab sie ihr und sagte: „Höre, liebe Wassilissa, behalte meine letzten Worte im Gedächtnis und beherzige sie. Ich sterbe, und zugleich mit meinem mütterlichen Segen hinterlasse ich dir diese Puppe hier; bewahre sie immer bei dir und zeige sie niemandem. Wenn dir aber einmal Kummer und Leid widerfährt, dann gib ihr zu essen und frage sie um Rat. Sie wird erst essen und dir dann sagen, wie man dem Unheil wehren kann.“ Darauf küßte die Mutter ihr Töchterchen und verschied. Nach dem Tode seines Weibes trauerte der Kaufmann eine Weile, wie es sich gehörte, dann aber dachte er sich aufs neue zu verheiraten. Er war ein stattlicher Mann und hätte genügend Bräute finden können, am meisten aber gefiel ihm eine Witwe. Sie war schon älter und hatte selbst zwei Töchter, die mit Wassilissa fast gleichaltrig waren, nach allem zu schließen also eine erfahrene Hausfrau und Mutter. Der Kaufmann heiratete 224
die Witwe, aber er hatte sich getäuscht und in ihr nicht die gute Mutter für seine Wassilissa gefunden. Wassilissa war die erste Schönheit im ganzen Dorf; Stiefmutter und Stiefschwestern neideten ihre Schönheit und bürdeten ihr alle möglichen Arbeiten auf, damit sie vor Erschöpfung abmagere und ihr Gesicht durch Wind und Sonne seine schöne weiße Farbe verlöre; sie machten ihr das Leben zur Hölle. Wassilissa ertrug alles ohne Murren und wurde mit jedem Tag schöner und stattlicher, während die Stiefmutter und ihre Töchter vor Bosheit immer magerer und häßlicher wurden, obwohl sie nur immer herumsaßen und die Hände in den Schoß legten wie die Gräfinnen. Wie mochte das wohl zugehen? Unserer Wassilissa half ihre Puppe. Wie hätte das Mädchen sonst mit all der Arbeit zurechtkommen sollen! Dafür geschah es bisweilen, daß Wassilissa selbst überhaupt nichts aß und der Puppe die besten Leckerbissen aufhob; und am Abend, wenn alle schlafen gegangen waren, sperrte sie sich im Kämmerchen ein, wo sie wohnte, bewirtete die Puppe und sprach dazu: „Da, Puppe, iß und nimm, meinen Kummer auch vernimm! Die böse Stiefmutter bringt mich noch unter die Erde. Lehre mich, wie soll ich mich verhalten und was soll ich tun?“ Die Puppe ißt zuerst, und danach gibt sie ihr Ratschläge und tröstet sie in ihrem Kummer; am Morgen aber macht sie für Wassilissa alle Arbeit. Wassilissa braucht sich nur im Schatten zu erholen und Blumen zu pflücken, und schon sind ihre Beete gejätet, ist der Kohl 225
gegossen, Wasser geholt und der Ofen geheizt. Die Puppe zeigt ihr noch ein Kräutlein gegen Sonnenbräune. So hatte sie mit ihrer Puppe ein schönes Leben. Es vergingen einige Jahre. Wassilissa wuchs heran und kam ins Alter zu heiraten. Alle jungen Männer der Stadt freien um Wassilissa, der Stiefmutter Töchter aber sieht keiner auch nur einmal an. Die Stiefmutter wird noch giftiger als bisher und antwortet allen Freiern: „Ich gebe die Jüngste nicht vor den Älteren in die Ehe!“ Und wenn sie die Freier verabschiedet hat, kühlt sie mit Schlägen ihr Mütchen an Wassilissa. Nun mußte der Kaufmann einmal auf längere Zeit in Handelsgeschäften von Hause fort. Da zog die Stiefmutter in ein anderes Haus, und gleich hinter diesem Haus war ein tiefer Wald. Im Walde aber stand auf einer Lichtung ein Häuschen, und in diesem Häuschen lebte eine Hexe; die ließ niemanden zu sich herein und fraß Menschen, als wären es kleine Hühnchen. Als die Stiefmutter in das andere Haus gezogen war, schickte sie die ihr verhaßte Wassilissa immer wieder nach etwas anderem in den Wald. Aber Wassilissa kam jedesmal wohlbehalten wieder nach Hause: die Puppe zeigte ihr den Weg und ließ sie nicht in die Nähe des Hexenhauses. So wurde es Herbst. Die Stiefmutter verteilte den drei Mädchen die Arbeit für die Abende: die eine mußte Spitze häkeln, die andere Strümpfe stricken, Wassilissa aber mußte spinnen, und die Arbeit war jeder genau zugemessen. Sie löschte 226
im ganzen Haus das Licht und ließ nur eine einzige Kerze brennen, dort, wo die Mädchen arbeiteten. Sie selbst legte sich schlafen. Die Mädchen arbeiteten. Auf einmal begann die Kerze zu rußen; die eine Stiefschwester nahm ihre Stricknadel, um den Docht wieder zu richten, statt dessen aber löschte sie, wie es die Mutter sie geheißen hatte, gleichsam aus Versehen die Kerze aus. „Was sollen wir jetzt tun?“ sagten die Mädchen: „Kein Licht im ganzen Hause, und unsere Arbeit ist noch nicht beendet. Es muß jemand zur Hexe BabaJagá gehen und Licht holen!“ – „Mir ist von meinen Nadeln hell genug“, sagte die, die Spitze häkelte, „ich brauche nicht zu gehen.“ – „Ich brauche auch nicht zu gehen“, sagte die andere, die Strümpfe strickte, „mir ist von meinen Stricknadeln hell genug!“ – „Du mußt Licht holen gehen!“ schrien beide: „Marsch, zur Baba-Jagá!“ Und damit stießen sie Wassilissa aus der Stube. Wassilissa ging in ihr Kämmerchen, stellte das fertige Abendbrot vor die Puppe und sagte: „Da, Puppe, iß und nimm, meinen Kummer auch vernimm: sie schicken mich nach Licht zur BabaJagá; die Hexe wird mich fressen!“ Die Puppe aß, und ihre Augen begannen zu leuchten wie zwei Kerzen. „Hab keine Angst, liebe Wassilissa“, sagte sie. „Geh, wohin sie dich schicken, nur nimm mich immer mit! Wenn ich dabei bin, wird dir bei der Baba-Jagá nichts geschehen.“ Wassilissa machte sich fertig, steckte die Puppe in ihre Tasche, bekreuzigte sich und machte sich auf den Weg in den tiefen Wald. 227
Sie geht und zittert vor Angst. Auf einmal sprengt ein Reiter an ihr vorbei: das Gesicht ganz weiß, in weißen Kleidern, das Pferd unter ihm weiß und auch das Riemenzeug des Pferdes weiß – da begann es zu dämmern. Sie geht weiter, da sprengt ein anderer Reiter vorbei: das Gesicht ganz rot, in roten Kleidern und auf einem roten Pferd – da ging die Sonne auf. Wassilissa lief die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag und kam erst am Abend auf die Lichtung, wo das Haus der Hexe stand; der Zaun rings um das Haus ist aus Menschenknochen, und auf dem Zaun stecken Menschenschädel, mit Augen; statt der Türen stehen am Eingang Menschenbeine, die Riegel sind Hände und das Türschloß ein Mund mit scharfen Zähnen. Wassilissa erstarrte vor Entsetzen und blieb wie angewurzelt stehen. Auf einmal kommt wieder ein Reiter geritten: das Gesicht schwarz, ganz in Schwarz gekleidet und auf einem schwarzen Pferd; er sprengte vor das Hexentor und verschwand, wie vom Erdboden verschluckt – da war es Nacht. Aber die Finsternis dauerte nicht lange: an allen Schädeln auf dem Zaun begannen die Augen zu leuchten, und auf der ganzen Lichtung war es hell wie am lichten Tag. Wassilissa zitterte vor Angst; weil sie aber nicht wußte, wohin sie fliehen sollte, blieb sie, wo sie war. Bald hörte man im Wald einen fürchterlichen Lärm, die Bäume ächzten, und die trockenen Blätter raschelten: die Baba-Jagá kam aus dem Wald. 228
Sie fährt in einem Mörser, mit dem Stößel treibt sie ihn an, und mit einem Ofenbesen verwischt sie ihre Spur. Sie fuhr vors Tor, hielt an, schnüffelte nach allen Seiten und schrie: „Fuh, fuh! Ich rieche Menschenfleisch! Wer ist hier?“ Wassilissa trat voll Furcht vor die Alte, verneigte sich tief und sagte: „Ich bin’s, Großmütterchen! Der Stiefmutter Töchter haben mich zu dir geschickt, Licht zu holen.“ – „Schön“, sagte die Baba-Jagá, „die kenne ich; von nun an wirst du bei mir wohnen und arbeiten, dann will ich dir auch Licht geben; willst du aber nicht, dann fresse ich dich!“ Darauf drehte sie sich zum Tor um und rief: „Heh, ihr meine festen Riegel, löst euch, und ihr, meine weiten Tore, öffnet euch!“ Die Tore öffneten sich, und die Baba-Jagá fuhr pfeifend hinein; Wassilissa folgte ihr, und danach war alles wieder zugesperrt. Als die BabaJagá in der Stube war, setzte sie sich, streckte ihre Beine aus und sagt zu Wassilissa: „Nun bring mal her, was dort im Ofen steht; ich habe Hunger!“ Wassilissa zündete an den Schädeln, die auf dem Zaun steckten, einen Span an, zog die Speisen aus dem Ofen und trug sie der Baba-Jagá auf; von den Speisen hätten aber wohl an die zehn Mann satt werden können. Aus dem Keller holte sie Kwaß, Honig, Bier und Wein. Alles aß und trank die Alte allein; für Wassilissa ließ sie nur ein wenig Krautsuppe übrig, einen Kanten Brot und ein Stückchen gebratenes Ferkel. Danach legte sich die Baba-Jagá schlafen und sagt: „Wenn ich 229
morgen wegfahre, dann spute dich: kehre den Hof, fege das Haus aus, koche das Essen, mach die Wäsche fertig und geh in den Speicher, nimm einen Scheffel Weizen und lies das Mutterkorn heraus! Und daß mir alles fertig ist, sonst fresse ich dich!“ Nachdem die Hexe Wassilissa ihre Arbeit zugewiesen hatte, begann sie zu schnarchen. Wassilissa aber stellte der Puppe die Reste hin, die die Alte übriggelassen hatte, zerfloß in Tränen und sagte: „Da Puppe, iß und nimm, meinen Kummer auch vernimm! Eine schwere Arbeit hat die Baba-Jagá mir aufgetragen, und sie droht, sie will mich fressen, wenn ich nicht alles ausführe; hilf mir!“ Die Puppe gab zur Antwort: „Hab keine Angst, schöne Wassilissa! Iß dein Abendbrot, sprich dein Gebet und leg dich schlafen; der Morgen ist klüger als der Abend!“ In aller Frühe erwachte Wassilissa, aber die Baba-Jagá war schon auf und sah zum Fenster hinaus: an den Menschen-Schädeln verlöschen die Augen; der weiße Reiter sprengte vorbei – da war es schon ganz hell. Die Baba-Jagá trat auf den Hof hinaus und pfiff – da stand der Mörser vor ihr mit dem Stößel und dem Ofenbesen. Der rote Reiter sprengte vorbei – da ging die Sonne auf. Die Baba-Jagá setzte sich in den Mörser und fuhr davon, mit dem Stößel treibt sie an, und mit dem Ofenbesen verwischt sie ihre Spur. Wassilissa war nun allein; sie sah sich im Haus der Baba-Jagá um, bestaunte den Überfluß an allen Dingen und versank in Nachdenken, welche Arbeit sie zuerst beginnen sollte. Wie sie aufsieht, ist die ganze Ar230
beit schon getan; die Puppe las gerade die letzten Körner Mutterkorn aus dem Weizen heraus. „Ach, du meine Retterin!“ sagte Wassilissa zu ihrer Puppe. „Du hast mir aus meiner Not geholfen!“ – „Du brauchst nur noch das Essen zu kochen“, antwortete die Puppe und kletterte in Wassilissas Tasche. „Koche nur getrost und ruhe dich schön aus!“ Gegend Abend deckte Wassilissa den Tisch und wartet auf die Baba-Jagá. Es begann zu dämmern, draußen sprengte der schwarze Reiter am Tor vorbei, und es war ganz dunkel: nur die Augen an den Schädeln leuchteten. Da begannen die Bäume zu ächzen, das Laub raschelte – die BabaJagá kommt gefahren. Wassilissa ging ihr entgegen. „Ist alles getan?“ fragt die Baba-Jagá. „Sieh bitte selbst nach, Großmütterchen!“ sagte Wassilissa. Die Baba-Jagá sah überall nach, ärgerte sich, daß sie keinen Grund zu schimpfen fand und sagte: „Na gut!“ Dann stieß sie einen lauten Ruf aus. Es erschienen drei Paar Hände, ergriffen den Weizen und trugen ihn fort. Die Baba-Jagá aß sich voll und satt, legte sich zum Schlaf nieder und gab Wassilissa wieder einen Auftrag: „Morgen machst du das gleiche wie heute, und außerdem nimmst du aus dem Speicher den Mohn und säuberst ihn von Erde, Körnchen für Körnchen; es hat nämlich jemand aus Bosheit Erde darunter gemischt!“ Sprach’s, drehte sich zur Wand und begann zu schnarchen; Wassilissa aber machte sich daran, ihre Puppe zu füttern. Die Puppe aß erst und sagte dann wie gestern: „Sprich dein Gebet 231
und leg dich schlafen; der Morgen ist klüger als der Abend; alles wird getan werden, liebe Wassilissa!“ Am Morgen fuhr die Baba-Jagá wieder in ihrem Mörser davon, Wassilissa aber hatte die ganze Arbeit mit ihrer Puppe in einem Augenblick getan. Die Alte kam wieder nach Hause, besah sich alles und rief: „Ihr meine treuen Diener, meine lieben Freunde, preßt Öl aus dem Mohn!“ Es erschienen die drei Paar Hände, ergriffen den Mohn und trugen ihn fort. Die Baba-Jagá setzte sich zum Essen. Sie ißt, Wassilissa aber steht schweigend dabei. „Warum sprichst du nicht mit mir?“ sagte die Baba-Jagá. „Stehst da, als wärst du stumm!“ – „Ich habe mich nicht getraut“, antwortete Wassilissa. „Doch wenn du erlaubst, dann möchte ich dich gern einiges fragen.“ – „Frag nur immer zu; nur führt nicht jede Frage zum Guten: wer viel weiß, wird bald alt!“ – „Ich möchte dich nur nach dem fragen, Großmütterchen, was ich gesehen habe. Als ich auf dem Weg zu dir war, überholte mich ein Reiter auf weißem Pferd, das Gesicht weiß und in weißen Kleidern: Wer ist das?“ – „Das ist mein Diener, der helle Tag“, antwortete die Baba-Jagá. „Danach überholte mich ein anderer Reiter auf rotem Pferd, das Gesicht rot und ganz in Rot gekleidet: Wer ist das?“ – „Das ist mein treuer Diener, die rote Sonne!“ antwortete die Baba-Jagá. „Und was bedeutet der schwarze Reiter, der mich überholte, als ich schon an deinem Tor stand?“ – „Das ist meine Dienerin, die dunkle Nacht – alle dienen mir treu!“ 232
Wassilissa dachte noch an die drei Paar Hände, aber sie schwieg. „Warum fragst du nicht weiter?“ fragte die Baba-Jagá. „Das genügt mir schon; du hast doch selbst gesagt, Großmütterchen, wer viel erfährt, wird bald alt.“ – „Es ist gut“, sagte die Baba-Jagá, „daß du nur nach dem fragst, was du draußen, und nicht nach dem, was du hier drin gesehen hast! Ich mag es nicht, wenn man draußen über mich spricht, und wer allzu neugierig ist, den fresse ich! Jetzt will ich dich etwas fragen: „Wie stellst du es an, daß du mit der Arbeit fertig wirst, die ich dir auftrage?“ – „Mir hilft der Segen meiner Mutter“, gab Wassilissa zur Antwort. „Ach so ist das! Scher dich schleunigst von hier fort, du gesegnetes Töchterchen! Ich kann keine Gesegneten brauchen!“ Sie zerrte Wassilissa aus der Stube und stieß sie zum Tor hinaus, nahm vom Zaun einen Schädel mit brennenden Augen, steckte ihn auf einen Stock, gab ihn ihr und sagte: „Hier hast du das Licht für die Töchter der Stiefmutter; danach haben sie dich ja hierhergeschickt.“ Eilends machte sich Wassilissa auf den Heimweg, beim Licht des Schädels, das erst bei Anbruch des Morgens erlosch. Am Abend des nächsten Tages gelangte sie schließlich an ihr Haus. Als sie sich dem Tor näherte, wollte sie den Schädel schon fortwerfen; gewiß brauchen sie zu Hause schon kein Licht mehr, dachte sie nämlich bei sich. Doch auf einmal war aus dem Schädel eine hohle Stimme zu vernehmen: „Wirf mich nicht fort, bring mich der Stiefmutter!“ 233
Sie blickte auf der Stiefmutter Haus, und da sie in keinem Fenster Licht sah, entschloß sie sich, mit dem Schädel hineinzugehen. Es war das erste Mal, daß man sie freundlich empfing, und sie erzählten ihr, seit der Zeit, da Wassilissa fortgegangen war, hätten sie kein Licht im Hause gehabt: selbst Feuer zu schlagen hätten sie auf keine Weise vermocht, und das Licht, das sie von Nachbarn holten, sei erloschen, sobald sie mit ihm die Stube betraten. „Hoffentlich wird sich dein Licht halten“, sagte die Stiefmutter. Sie trugen den Schädel in die Stube, aber die Augen aus dem Schädel starrten unverwandt die Stiefmutter und ihre Töchter an und brannten sie fürchterlich! Sie wollten sich verstecken, doch wohin sie auch rennen mochten, die Augen folgten ihnen überallhin. Gegen Morgen waren sie völlig zu Kohle verbrannt, nur Wassilissa allein war unversehrt geblieben. Am Morgen vergrub Wassilissa den Schädel in der Erde, verschloß das Haus, ging in die Stadt und bat eine alte Frau, die keine Verwandten hatte, sie bei ihr wohnen zu lassen. Dort lebt sie nun wohlgemut und wartet auf den Vater. Eines Tages sagt sie zu der Alten: „Es ist langweilig, so untätig zu sitzen, Großmütterchen! Geh doch und kauf mir Flachs, vom allerbesten, ich möchte spinnen.“ Die Alte kaufte schönen Flachs; Wassilissa setzte sich ans Spinnrad; die Arbeit geht ihr flink von der Hand, und der Faden wird gleichmäßig und fein wie Haar. So hatte sie schon eine Menge Garn gesponnen, und es wäre an der Zeit gewesen, mit dem Weben zu beginnen. Aber so feine Webkäm234
me, daß sie für Wassilissas Garn taugten, wird man nirgends finden, und es wird sich auch niemand zutrauen, solche Kämme zu machen. Da bat Wassilissa ihre Puppe, und die sagt: „Bring mir nur irgendeinen alten Kamm und ein altes Schiffchen, dazu noch eine Pferdemähne; ich will dir schon alles richten.“ Wassilissa besorgte alles Nötige und legte sich dann schlafen, die Puppe aber baute über Nacht einen herrlichen Webstuhl. Gegen Ende des Winters war das Linnen gewebt, und es war so fein, daß man es statt eines Fadens hätte durch ein Nadelöhr ziehen können. Im Frühjahr bleichten sie es, und Wassilissa sagt zu der Alten: „Großmütterchen, verkauf dieses Linnen, das Geld kannst du für dich nehmen.“ Die Alte blickte auf die Ware und schlug die Hände zusammen: „Nein, mein Kindchen! Solches Linnen darf keiner außer dem Zaren tragen; ich will’s ins Schloß bringen.“ Die Alte ging zum Schloß des Zaren und läuft immer unter den Fenstern auf und ab. Das sah der Zar, und er fragte: „Was willst du, Alte?“ – „Eure Majestät“, antwortet die Alte, „ich habe hier eine wunderbare Ware, und keinem außer dir will ich sie zeigen.“ Der Zar gebot, sie hereinzulassen, und als er das Linnen gesehen hatte, war er ganz aus dem Häuschen: „Was willst du dafür haben?“ fragte er. „Dieses Linnen ist mit Geld nicht zu bezahlen, Väterchen Zar! Ich habe es dir als Geschenk gebracht.“ Der Zar dankte der Alten und entließ sie mit Geschenken.
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Nun wollte man dem Zaren aus diesem Linnen Hemden nähen; man schnitt sie zu, aber nirgends war eine Näherin zu finden, die sich zugetraut hätte, die Hemden zu nähen. Sie suchten lange; schließlich ließ der Zar die Alte rufen und sagte zu ihr: „Hast du’s fertig gebracht, solches Linnen zu spinnen und zu weben, so sollst du nun auch Hemden daraus nähen.“ – „Nicht ich war es, Herr, die das Linnen gesponnen und gewebt hat“, sagte da die Alte. „Das ist die Arbeit eines Mädchens, das ich zu mir genommen habe.“ – „Dann soll eben sie die Hemden nähen!“ Die Alte kehrte heim und erzählte alles Wassilissa. „Ich wußte“, antwortet ihr Wassilissa, „daß diese Arbeit meinen Händen nicht erspart bleibt.“ Sie schloß sich in ihre Kammer ein und setzte sich an die Arbeit, nähte ohne sich auch nur eine Pause zu gönnen, und bald war ein Dutzend Hemden fertig. Die Alte brachte die Hemden zum Zaren, Wassilissa aber wusch sich, kämmte sich, zog sich an und setzte sich ans Fenster. Dort sitzt sie nun und wartet, was geschehen wird. Auf einmal sieht sie, wie ein Diener des Zaren den Hof betritt. Er kam in die Stube und sagt: „Der Zar will die Meisterin sehen, die ihm die Hemden genäht hat, und sie soll aus seinen eigenen Händen belohnt werden.“ Wassilissa ging und trat vor das Antlitz des Zaren. Als der Zar die schöne Wassilissa erblickte, verliebte er sich sofort besinnungslos in sie. „Nein“, sagt er, „du meine Schöne! Ich will mich von dir nicht mehr trennen, du sollst meine Frau werden.“ Damit faßte der Zar Wassilissa bei ihren weißen 236
Händen, setzte sie neben sich, und sogleich wurde Hochzeit gefeiert. Bald kehrte auch Wassilissas Vater heim, freute sich über ihr Glück und lebte von da an bei seiner Tochter. Die Alte nahm Wassilissa zu sich, die Puppe aber trug sie bis an ihr Lebensende immer in ihrer Tasche.
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30 Maria Morewna3 In einem Zarenreich lebte einmal ein Zarensohn Iwan; er hatte drei Schwestern, die erste hieß Maria, die zweite Olga, die dritte Anna. Vater und Mutter waren ihnen gestorben; auf dem Sterbebette hatten sie ihrem Sohn aufgetragen: „Wer zuerst um deine Schwestern freit, dem gib sie auch – behalte sie nicht lange bei dir!“ Der Zarewitsch begrub seine Eltern und ging aus Kummer mit den Schwestern in den grünen Garten spazieren. Auf einmal steigt am Himmel eine schwarze Wolke auf, zieht ein fürchterliches Gewitter herauf. „Kommt nach Hause, Schwestern!“ sagt Iwan Zarewitsch. Kaum waren sie im Schloß, da krachte ein Donnerschlag, die Decke teilte sich, und zu ihnen ins Zimmer kam ein edler Falke geflogen; der Falke warf sich auf den Fußboden, wurde zu einem edlen Helden und spricht: „Sei gegrüßt, Iwan Zarewitsch! Früher bin ich als Gast gekommen, jetzt aber bin ich als Freier hier; ich will bei dir um deine Schwester Maria, die Zarentochter, freien.“ – „Wenn die Schwester dich mag, ich stehe ihr nicht im Wege – mag sie mit Gott gehen!“
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„Morewna“ – Name, der einen nicht näher zu bezeichnenden Hinweis auf „Meer“ enthält. (Anm. d. Übers.)
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Maria die Zarentochter war einverstanden; der Falke heiratete sie und trug sie davon in sein Reich. Ein Tag folgt auf den anderen, eine Stunde jagt die andere – ein Jahr ist herum, ehe man sich’s versieht; Iwan Zarewitsch ging im grünen Garten mit seinen zwei Schwestern spazieren. Wieder zieht eine Wolke mit Wind und Blitzen auf. „Kommt nach Hause, Schwestern!“ sagt der Zarewitsch. Kaum waren sie im Schloß, da krachte ein Donnerschlag, das Dach fiel auseinander, die Decke teilte sich, und ein Adler kam hereingeflogen; der Adler warf sich auf den Boden und wurde zu einem edlen Helden: „Sei gegrüßt, Iwan Zarewitsch! Früher bin ich als Gast gekommen, jetzt aber bin ich als Freier hier.“ Und er freite um Olga, die Zarentochter. Iwan Zarewitsch antwortet: „Wenn Olga die Zarentochter dich mag, dann soll sie dich heiraten, ich stehe ihrem Willen nicht entgegen.“ Olga die Zarentochter gab ihr Einverständnis und nahm den Adler zum Manne; der Adler ergriff sie und trug sie davon in sein Reich. Es verging noch ein Jahr; Iwan Zarewitsch sagt zu seiner jüngsten Schwester: „Komm, wir wollen im grünen Garten ein wenig spazierengehen!“ Sie gingen ein wenig spazieren; wieder zieht eine Wolke mit Sturm und Blitzen auf. „Laß uns nach Hause gehen, Schwester!“ Sie kamen nach Hause und hatten sich noch nicht hingesetzt, da krachte ein Donnerschlag, die Decke teilte sich, und ein Rabe kam hereingeflogen; der Rabe warf sich auf den Boden und wurde zu einem edlen Helden: die 239
vorigen waren schon schön gewesen, dieser aber war noch schöner. „Nun, Iwan Zarewitsch! Früher bin ich als Gast gekommen, jetzt aber bin ich als Freier hier; gib mir Anna, die Zarentochter, zur Frau.“ – „Ich stehe dem Willen der Schwester nicht entgegen; wenn sie dich lieb hat, mag sie dich heiraten.“ Anna die Zarentochter nahm den Raben zum Manne, und er trug sie davon in sein Reich. Iwan Zarewitsch war nun allein; ein ganzes Jahr lebte er ohne die Schwestern, und es wurde ihm langweilig. „Ich will gehen“, sagt er, „und die Schwestern suchen.“ Er machte sich auf den Weg, ging und ging und sieht – auf dem Felde liegt ein Heer, eine geschlagene Streitmacht. Iwan Zarewitsch fragt: „Wenn hier noch einer am Leben ist, der melde sich! Wer hat dieses große Heer geschlagen?“ Es meldete sich einer, der noch am Leben war: „Dieses ganze Heer hat Maria Morewna geschlagen, die schöne Königin.“ Iwan Zarewitsch ritt weiter und kam zu einem weißen Zelt; heraus trat zu seinem Empfang Maria Morewna, die schöne Königin: „Sei gegrüßt, Zarewitsch, wohin führt dich dein Weg – reitest du aus eigenem Willen oder gezwungen?“ Antwortet ihr Iwan Zarewitsch: „Edle Helden reiten nicht gezwungen!“ – „Nun, wenn du es nicht eilig hast, dann sei in meinem Zelt mein Gast.“ Iwan Zarewitsch freute sich, blieb zwei Nächte im Zelt, gewann Maria Morewnas Liebe und heiratete sie. Maria Morewna, die schöne Königin, nahm ihn mit sich in ihr Reich; sie lebten einige Zeit zu240
sammen, da kam der Königin in den Sinn, in den Krieg zu ziehen; sie übergibt Iwan Zarewitsch die ganze Wirtschaft und befiehlt: „Überall geh hin und hab auf alles ein Auge; nur in diese Kammer darfst du nicht sehen!“ Er hielt’s nicht aus, und sobald Maria Morewna davongeritten war, stürzte er sich sofort in die Kammer, öffnete die Tür und sah hinein – da hängt dort Kostschej der Unsterbliche, an zwölf Ketten angeschmiedet. Kostschej bittet Iwan Zarewitsch: „Hab Mitleid mit mir, gib mir zu trinken; zehn Jahre schmachte ich hier, hab nichts gegessen, nichts getrunken – der Hals ist mir ganz ausgetrocknet!“ Der Zarewitsch gab ihm einen ganzen Eimer Wasser; er trank ihn aus und bat wieder: „Mit einem Eimer kann ich meinen Durst nicht stillen; gib mir noch einen!“ Der Zarewitsch gab ihm einen zweiten Eimer; Kostschej trank ihn aus und bat um einen dritten, und als er den dritten ausgetrunken hatte, gewann er seine frühere Stärke zurück, schüttelte die Ketten und zerbrach alle zwölf mit einemmal. „Danke, Iwan Zarewitsch!“ sagte Kostschej der Unsterbliche. „Jetzt wirst du Maria Morewna niemals mehr sehen, genausowenig wie deine Ohren!“ Und mit einem schrecklichen Wirbelsturm fuhr er zum Fenster hinaus, holte Maria Morewna unterwegs ein, packte sie und entführte sie. Iwan Zarewitsch aber weinte bitterlich, rüstete sich zur Reise und machte sich auf den Weg: „Was auch immer geschehen mag, ich werde Maria Morewna finden.“
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Er geht einen Tag, geht einen zweiten, und in der Morgendämmerung des dritten sieht er ein wunderschönes Schloß; am Schloß steht eine Eiche, und auf der Eiche sitzt ein edler Falke. Der Falke flog von der Eiche herab, warf sich auf die Erde, verwandelte sich in einen edlen Helden und rief: „Ach, mein lieber Schwager! Gott mit dir!“ Maria die Zarentochter kam herausgelaufen, begrüßte Iwan Zarewitsch voll Freude, fragte nach seiner Gesundheit und erzählte, wie es ihr geht. Der Zarewitsch blieb drei Tage bei ihnen zu Gast, dann sagt er: „Ich kann nicht lange euer Gast sein: ich bin auf dem Wege, meine Frau zu suchen, Maria Morewna, die schöne Königin.“ – „Es wird schwer für dich sein, sie zu finden“, antwortet der Falke. „Laß auf jeden Fall deinen silbernen Löffel hier: wir werden ihn ansehen und an dich denken.“ Iwan Zarewitsch ließ seinen silbernen Löffel beim Falken und machte sich wieder auf den Weg. Er ging einen Tag, ging einen zweiten, und in der Morgendämmerung des dritten sieht er ein Schloß, noch schöner als das erste; beim Schloß steht eine Eiche, und auf der Eiche sitzt ein Adler. Der Adler flog von der Eiche herab, warf sich auf die Erde, verwandelte sich in einen edlen Helden und rief: „Steh auf, Zarentochter Olga! Unser lieber Bruder kommt.“ Olga die Zarentochter kam sogleich heraus, lief ihm entgegen, küßte und umarmte ihn, fragte nach seiner Gesundheit und erzählte, wie es ihr geht. Iwan Zarewitsch blieb drei kurze Tage bei ihnen und sagt: „Länger zu 242
bleiben habe ich keine Zeit; ich bin auf dem Wege, meine Frau zu suchen, Maria Morewna, die schöne Königin.“ Antwortet der Adler: „Es wird schwer für dich sein, sie zu finden; laß deine silberne Gabel bei uns: wir werden sie ansehen und an dich denken.“ Er ließ seine silberne Gabel bei ihnen und machte sich wieder auf den Weg. Er ging einen Tag, ging einen zweiten, und in der Morgendämmerung des dritten sieht er ein Schloß, noch schöner als die ersten zwei; beim Schloß steht eine Eiche, und auf der Eiche sitzt ein Rabe. Der Rabe flog von der Eiche herab, warf sich auf die Erde, verwandelte sich in einen edlen Helden und rief: „Zarentochter Anna! Komm schnell heraus, unser Bruder kommt!“ Anna die Zarentochter kam herausgelaufen, begrüßte ihn voll Freude, küßte und umarmte ihn, fragte nach seiner Gesundheit und erzählte, wie es ihr geht. Iwan Zarewitsch blieb drei kurze Tage bei ihnen und sagt: „Lebt wohl! Ich will gehen und meine Frau suchen, Maria Morewna, die schöne Königin.“ Antwortet der Rabe: „Es wird schwer für dich sein, sie zu finden; laß doch die silberne Tabakdose bei uns: wir werden sie ansehen und an dich denken.“ Der Zarewitsch gab ihm die silberne Tabakdose, nahm Abschied und machte sich wieder auf den Weg. Er ging einen Tag, ging einen zweiten, am dritten aber gelangte er zu Maria Morewna. Sie erblickte ihren Liebsten, warf sich an seinen Hals, vergoß viele Tränen und sprach: „Ach, Iwan Zarewitsch, warum hast du nicht auf mich gehört, 243
hast in die Kammer gesehen und Kostschej den Unsterblichen herausgelassen?“ – „Vergib, Maria Morewna! Denk nicht an das Vergangene, laß uns lieber losreiten, solange Kostschej der Unsterbliche noch nicht zu sehen ist; vielleicht holt er uns nicht ein!“ Sie brachen auf und ritten davon. Kostschej aber war auf der Jagd; gegen Abend reitet er nach Hause, da strauchelt unter ihm sein wackeres Pferd. „Was strauchelst du, unersättlicher Gaul? Oder spürst du irgendein Unheil?“ Antwortet das Pferd: „Iwan Zarewitsch war da, hat Maria Morewna entführt.“ – „Und können wir sie einholen?“ – „Wir können Weizen säen, warten, bis er reif ist, ihn mähen, dreschen, zu Mehl machen, fünf Öfen Brot backen, das Brot aufessen und ihnen erst danach hinterherreiten – auch dann kommen wir noch zurecht!“ Kostschej sprengte los und holte Iwan Zarewitsch ein: „Nun“, sagt er. „das erstemal vergebe ich dir wegen deiner Gutherzigkeit, daß du mir Wasser zu trinken gegeben hast; auch ein zweitesmal will ich dir vergeben, beim drittenmal aber hüte dich – in Stücke werde ich dich hauen!“ Damit nahm er ihm Maria Morewna weg und ritt mit ihr davon. Iwan Zarewitsch aber setzte sich auf einen Stein und brach in Tränen aus. Er weinte und weinte und ritt dann wieder zurück, Maria Morewna zu holen; Kostschej der Unsterbliche war gerade nicht zu Hause. „Reiten wir, Maria Morewna!“ – „Ach, Iwan Zarewitsch! Er wird uns einholen.“ – „Mag er uns immer einholen; wir werden doch wenigstens ein paar Stunden Zu244
sammensein.“ Sie brachen auf und ritten davon. Kostschej der Unsterbliche ist auf dem Heimweg, da strauchelt unter ihm sein wackeres Pferd. „Was strauchelst du, unersättlicher Gaul? Oder spürst du irgendein Unheil?“ – „Iwan Zarewitsch war da, hat Maria Morewna mitgenommen.“ – „Und können wir sie einholen?“ – „Wir können Gerste säen, warten, bis sie aufgegangen ist, sie mähen und dreschen, Bier brauen, uns einen Rausch antrinken, ordentlich ausschlafen und ihnen erst danach hinterherreiten – auch dann kommen wir noch zurecht!“ Kostschej sprengte los und holte Iwan Zarewitsch ein: „Ich habe dir doch gesagt, daß du Maria Morewna niemals mehr sehen wirst, genausowenig wie deine Ohren!“ Damit nahm er sie ihm weg und entführte sie. Iwan Zarewitsch war wieder allein, weinte und weinte und ritt dann wieder zurück, Maria Morewna zu holen; zu der Zeit war Kostschej gerade nicht zu Hause. „Reiten wir, Maria Morewna!“ – „Ach, Iwan Zarewitsch, er holt uns doch ein, wird dich in Stücke hauen.“ – „Mag er mich immer in Stücke hauen, ich kann ohne dich nicht leben.“ Sie brachen auf und ritten los. Kostschej der Unsterbliche ist auf dem Heimweg, da strauchelt unter ihm sein wackeres Pferd. „Was strauchelst du? Oder spürst du irgendein Unheil?“ – „Iwan Zarewitsch war da, hat Maria Morewna mitgenommen.“ Kostschej sprengte los, holte Iwan Zarewitsch ein, hackte ihn in kleine Stücke und legte sie in ein verpichtes Faß; das beschlug er mit ei-
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sernen Ringen und warf es ins blaue Meer; Maria Morewna aber nahm er mit sich. Genau zu dieser Zeit wurde bei den Schwägern Iwan Zarewitschs das Silber schwarz. „Ach“, sagten sie, „da ist ein Unglück geschehen!“ Der Adler stürzte sich aufs blaue Meer hinab, packte das Faß und schleppte es ans Ufer, der Falke flog, um Wasser des Lebens, der Rabe, um Wasser des Todes zu holen. Sie trafen sich alle drei an der gleichen Stelle, zerschlugen das Faß, holten die Stükke Iwan Zarewitschs heraus, wuschen sie und legten sie aneinander, wie es sich gehört. Der Rabe besprengte ihn mit Wasser des Todes – da wuchsen die Stücke zusammen, vereinigten sich; der Falke besprengte ihn mit Wasser des Lebens – da zuckte Iwan Zarewitsch, stand auf und sagt: „Ach, wie habe ich lange geschlafen!“ – „Noch länger hättest du geschlafen, wenn wir nicht wären!“ antworteten die Schwäger. „Komm jetzt mit zu uns, sei unser Gast.“ – „Nein, Brüder, ich will gehen, Maria Morewna zu suchen.“ Er kommt zu ihr und bittet: „Erfrage von Kostschej dem Unsterblichen, wo er sich ein so wackeres Pferd verschafft hat.“ Maria Morewna paßte einen günstigen Augenblick ab und fragte Kostschej aus. Kostschej sagte: „Hinter dreimal neun Ländern, im dreimal zehnten Reich, jenseits des Feuerflusses wohnt die Hexe Baba-Jagá; die hat eine Stute, auf der sie jeden Tag um die Welt fliegt. Sie hat auch viele andere herrliche Stuten; ich war drei Tage als Hirt bei ihr und habe keine einzige Stute verloren! Und dafür hat die Hexe mir 246
einen jungen Hengst gegeben.“ – „Wie bist du denn über den Feuerfluß gekommen?“ – „Ich habe da ein Tuch – sobald ich dreimal nach rechts winke, entsteht eine hohe, hohe Brücke, an die kann das Feuer nicht heran!“ Maria Morewna hatte genau zugehört, erzählte alles Iwan Zarewitsch, und das Tuch hatte sie weggenommen und gab es ihm. Iwan Zarewitsch überquerte den Feuerfluß und ging weiter zur Hexe Baba-Jagá. Lange ging er, ohne zu trinken, ohne zu essen. Da kam ihm ein fremdländischer Vogel mit seinen Jungen in den Weg. Iwan Zarewitsch sagt: „Ich will doch wenigstens ein Vogeljunges essen.“ – „Iß nicht, Iwan Zarewitsch!“ bittet der fremdländische Vogel, „ich werde dir noch einmal nützlich sein.“ Er ging weiter – da sieht er im Walde einen Bienenstock. „Ich will doch“, sagt er, „ein wenig Honig nehmen.“ Die Bienenmutter läßt sich vernehmen: „Rühr meinen Honig nicht an, Iwan Zarewitsch! Ich werde dir noch einmal nützlich sein.“ Er rührte ihn nicht an und ging weiter; da kommt ihm eine Löwin mit ihrem Löwenjungen in den Weg. „Ich will doch wenigstens dieses Löwenjunge essen; ich habe solchen Hunger, mir ist schon ganz übel!“ – „Rühr es nicht an, Iwan Zarewitsch!“ bittet die Löwin, „ich werde dir noch einmal nützlich sein.“ – „Schön, sollst deinen Willen haben!“ Hungrig schleppte er sich weiter, ging und ging – da steht auf einmal das Haus der Baba-Jagá da, rings um das Haus zwölf Pfähle, auf elf Pfählen steckt ein menschlicher Kopf, nur einer ist noch 247
frei. „Sei gegrüßt, Großmütterchen!“ – „Sei gegrüßt, Iwan Zarewitsch! Weswegen bist du gekommen – aus eigenem Willen oder gezwungen?“ – „Ich bin gekommen, mir bei dir ein reckenstarkes Pferd zu verdienen.“ – „Aber gern, Iwan Zarewitsch! Bei mir braucht man ja nicht ein Jahr zu dienen, sondern nur drei Tage; wenn du meine Stuten gut hütest, gebe ich dir ein Reckenpferd, wenn aber nicht, dann, nichts für ungut, muß dein Kopf auf dem letzten Pfahl stecken.“ Iwan Zarewitsch war’s einverstanden; die Baba-Jagá gab ihm zu essen und zu trinken und befahl ihm, sich an die Arbeit zu machen. Kaum hatte er die Stuten aufs Feld hinausgetrieben, da reckten sie die Schwänze in die Höhe und rannten auf den Wiesen nach allen Richtungen auseinander; ehe sich’s der Zarewitsch versah, waren sie schon gänzlich verschwunden. Da weinte er und war betrübt, setzte sich auf einen Stein und schlief ein. Die Sonne war schon im Untergehen, da kam der fremdländische Vogel geflogen und weckte ihn: „Steh auf, Iwan Zarewitsch! Die Stuten sind jetzt zu Hause.“ Der Zarewitsch stand auf machte sich auf den Heimweg; die Hexe aber lärmt und schreit ihre Stuten an: „Warum seid ihr nach Hause gekommen?“ – „Wie hätten wir nicht heimkehren sollen? Die Vögel der ganzen Welt sind über uns hergefallen und haben uns beinahe die Augen ausgehackt.“ – „Nun, rennt morgen nicht auf den Wiesen umher, sondern verstreut euch in den tiefen Wäldern!“
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Iwan Zarewitsch schlief die ganze Nacht, am Morgen aber sagt die Baba-Jagá zu ihm: „Paß ja auf, Zarewitsch! Wenn du meine Stuten nicht gut hütest, wenn du auch nur eine einzige verlierst, dann kommt dein ungestümer Kopf auf den Pfahl!“ Er trieb die Stuten aufs Feld; sie reckten sofort die Schwänze in die Höhe und rannten nach allen Richtungen in die tiefen Wälder. Wieder setzte sich der Zarewitsch auf einen Stein, weinte und weinte und schlief ein. Die Sonne stand hinterm Wald, da kam die Löwin gerannt: „Steh auf, Iwan Zarewitsch! Die Stuten sind alle zusammengetrieben.“ Iwan Zarewitsch stand auf und ging nach Hause; die Hexe lärmt schlimmer als zuvor und schreit ihre Stuten an: „Warum seid ihr nach Hause gekommen?“ – „Wie hätten wir nicht heimkehren sollen? Die wilden Tiere der ganzen Welt sind über uns hergefallen und hätten uns beinahe in Stücke gerissen.“ – „Nun, lauft morgen ins blaue Meer!“ Wieder schlief Iwan Zarewitsch die ganze Nacht; am Morgen schickt ihn die Baba-Jagá, die Stuten zu hüten. „Wenn du sie nicht hütest, kommt dein Kopf auf den Pfahl.“ Er trieb die Stuten aufs Feld: sie reckten sofort die Schwänze in die Höhe, schwanden ihm aus den Augen und rannten ins blaue Meer; stehen im Wasser bis zum Hals. Iwan Zarewitsch setzte sich auf einen Stein, weinte und schlief ein. Die Sonne stand hinter dem Wald, da kam die Biene geflogen und sagte: „Steh auf Zarewitsch! Die Stuten sind alle zusammengetrieben; und wenn du wieder zu 249
Hause bist, dann komm der Baba-Jagá nicht unter die Augen, geh in den Pferdestall und versteck dich hinter der Krippe. Dort ist ein grindiger junger Hengst, wälzt sich im Mist; den stiehl und geh in tiefer Mitternacht aus dem Haus.“ Iwan Zarewitsch stand auf, schlich sich in den Pferdestall und legte sich hinter die Krippe; die Baba-Jagá lärmt und schreit ihre Stuten an: „Warum seid ihr heimgekehrt?“ – „Wie hätten wir nicht heimkehren sollen? Schwärme und abermals Schwärme von Bienen sind über uns hergefallen, von der ganzen Welt, und haben uns von allen Seiten bis aufs Blut gestochen!“ Die Hexe schlief ein, genau um Mitternacht aber stahl ihr Iwan Zarewitsch den grindigen jungen Hengst, sattelte ihn, saß auf und sprengte davon zum Feuerfluß. Kam an diesen Fluß, winkte mit dem Tuch dreimal nach rechts – und plötzlich, hast du nicht gesehen, schwebte über dem Flug eine hohe, prächtige Brücke. Der Zarewitsch ritt über die Brücke und winkte mit dem Tuch nach links, aber nur zweimal – da war über dem Fluß nur noch eine ganz, ganz dünne Brücke! Frühmorgens wachte die Baba-Jagá auf – vom grindigen jungen Hengst keine Spur! Sie stürzte hinterher, um die beiden zu verfolgen; was das Zeug hält, jagt sie in einem eisernen Mörser dahin, mit dem Stößel treibt sie an, mit dem Ofenbesen verwischt sie die Spur. Kam zum Feuerfluß, warf einen Blick darauf und denkt: „Schöne Brücke!“ Fuhr über die Brücke und war gerade bis zur Mitte gekommen, da brach die Brücke, und die Hexe 250
Baba-Jagá plumpste in den Fluß; hier fand sie einen schrecklichen Tod! Iwan Zarewitsch zog den jungen Hengst auf und fütterte ihn in den jungen Wiesen; es wurde ein wundervolles Pferd aus ihm. Der Zarewitsch kommt zu Maria Morewna; sie kam herausgelaufen und warf sich an seinen Hals: „Wie hat Gott dich wieder zum Leben erweckt?“ – „So und so“, sagt er, „laß uns losreiten!“ – „Ich habe Angst, Iwan Zarewitsch! Wenn Kostschej uns einholt, wirst du wieder in Stücke gehauen.“ – „Nein, er wird uns nicht einholen. Ich habe jetzt ein prächtiges Reckenpferd, es fliegt wie ein Vogel.“ Sie bestiegen das Pferd und ritten los. Kostschej der Unsterbliche ist auf dem Heimweg, da strauchelt unter ihm sein Pferd. „Was strauchelst du, unersättlicher Gaul? Oder spürst du irgendein Unheil?“ – „Iwan Zarewitsch war da, hat Maria Morewna entführt.“ – „Und können wir sie einholen?“ – „Das weiß Gott! Iwan Zarewitsch hat jetzt ein reckenstarkes Pferd, das ist besser als ich.“ – „Nein, ich ertrag es nicht!“ sagt Kostschej der Unsterbliche. „Ich reite hinterher.“ Ritt er nun lange oder kurze Zeit, jedenfalls holte er Iwan Zarewitsch ein, sprang vom Pferd und wollte mit seinem scharfen Säbel auf ihn einschlagen; da traf ihn Iwan Zarewitschs Pferd aus aller Kraft mit dem Huf und zerschmetterte ihm den Kopf, der Zarewitsch aber machte ihm mit seiner Keule völlig den Garaus. Danach schichtete der Zarewitsch Holz zu einem Haufen, entfachte ein Feuer, verbrannte Kostschej den Unsterblichen und verstreute seine Asche in den Wind. 251
Maria Morewna bestieg Kostschejs Pferd, Iwan Zarewitsch das seine, und dann ritten sie zuerst den Raben besuchen, dann den Adler und schließlich auch den Falken. Wohin sie immer kamen, überall wurden sie freudig empfangen: „Ach, Iwan Zarewitsch! Wir haben schon nicht mehr gehofft, dich wiederzusehen. Nun freilich, nicht umsonst hast du solche Mühen bestanden: Eine solche Schönheit wie Maria Morewna, da kann man in der ganzen Welt suchen und wird keine zweite finden!“ Sie blieben eine Weile, feierten und ritten weiter in ihr Zarenreich; langten an und lebten von nun an herrlich und in Freuden, wurden reich und tranken Honigwein.
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31 Iwan Zarewitsch und Blauäuglein, die Heldenjungfrau Das ist auf dem Meere gewesen, auf dem Ozean; auf der Insel Kidan, da steht ein Baum, der hat goldene Wipfel, und auf diesem Baum geht der Kater Bajun umher; geht er nach oben, singt er ein Lied, und geht er nach unten, erzählt er Märchen. Das wäre ein Spaß und ein Vergnügen, da zuzusehen. Das ist noch nicht das Märchen, sondern erst die Einleitung; das Märchen kommt erst. Dieses Märchen wird von Morgen bis Nachmittag dauern, bis nach dem weichen Vesperbrot. Jetzt nun wollen wir das Märchen beginnen. Es war in irgendeinem Zarenreich, einem fremden Staat, da lebte ein Zar mit seiner Zarin. Der Zar und die Zarin hatten drei Söhne. Der älteste Sohn hieß Fjodor Zarewitsch, der zweite Sohn Wassili Zarewitsch, und der jüngste Sohn hieß Iwan Zarewitsch. Dieser Zar veranstaltete ein Fest für alle Welt. Er hatte zu seinem Fest Fürsten und Bojaren und kühne Recken eingeladen. „Wer von euch würde, ihr Burschen, durch dreimal neun Länder ins zehnte Reich reisen, zur Jungfrau Blauäuglein? Würde von dieser Jungfrau Blauäuglein Wasser des Lebens und den Krug mit den zwölf Schneppen holen? Ich würde diesem Reiter ein halbes 253
Reich verschreiben und einen halben Edelstein.“ Bei diesem Fest versteckt sich der Große hinter dem Mittleren, und der Mittlere versteckt sich hinter dem Kleinsten, vom Kleinsten aber kommt keine Antwort. Da tritt sein ältester Sohn Fjodor Zarewitsch vor und sagt: „Wir haben keine Lust, das Reich fremden Leuten zu geben. Ich will diese Fahrt machen, diese Dinge holen und dir, Vater, geben.“ – „Nun, liebes Kind! Möge unser eigenes Gut uns auch zuteil werden.“ Also schön; Fjodor Zarewitsch geht nun durch die Pferdeställe, wählt sich ein Pferd, das noch keiner geritten, zäumt es mit einem Zügel, der noch kein Pferd gezäumt, nimmt eine Peitsche, die noch keiner geschwungen, legt ihm zwölf Gurte und einen an, nicht des schönen Aussehens wegen, sondern um seine Stärke, seine Kühnheit zu zeigen. Der Zarewitsch machte sich auf den Weg; man sah, daß er aufsaß, aber sah nicht, in welcher Richtung er davonjagte. Reitet er nun nah oder fern, tief oder hoch, zwischen Himmel und Erde, im fremden Land, – er gelangte zu einem Berg. Den halben Berg ritt er hoch, da liegt auf halber Höhe eine steinerne Platte, und auf diese Platte ist eine Aufschrift geschrieben, sind Kerben eingekerbt: „Drei Wege. Auf dem ersten Weg – selber hungrig sein; auf dem zweiten – selber satt, aber das Pferd hungrig, und auf dem dritten – mit einem Mädchen schlafen.“ Da überlegt er bei sich: „Bin ich selber hungrig, werde ich kaum lange leben; auf einem hungrigen Pferd werde ich nicht weit kommen, aber mit einem Mädchen schlafen, das will ich – 254
dieser Weg ist der allerbeste für mich.“ Er schlug den Weg ein, wo stand „mit einem Mädchen schlafen“, und gelangt auf einmal zu einem einsamen Haus. Da kommt ein Mädchen herausgerannt: „Liebster, schon komme ich, aus dem Sattel heb ich dich; du sollst mit mir Brot und Salz essen und zur Nacht schlafen.“ – „Ach, Mädchen, Brot und Salz essen will ich nicht, und im Schlaf kann ich meinen Weg nicht verkürzen. Ich muß weiterreiten.“ – „Ach, Zarensohn, eile nicht zur Weiterreise, eile zum Mahl!“ Sie führt ihn ins Schlaf gemach: „Leg du dich an die Wand, ich will mich an den Rand legen. Dir werde ich dann zu trinken und mir zu essen bringen.“ – „Ach, schönes Mädchen, bei Christus ist die Nacht überall gleich.“ – „Bei mir aber etwas länger als bei den Menschen!“ Er legte sich an die Wand, sie stürzte das Bett um, und, marsch, flog er hinab, in eine Grube vierzig Saschen4 tief. Da sitzt er nun lange, und es verging eine ganz hübsche Zeit. Nun veranstaltet sein Vater zum zweitenmal ein Fest, und wieder für alle Welt. Auch zu diesem Fest hatte sich allerhand Publikum versammelt: Zaren, Zarensöhne, Könige, Königssöhne – alle hatten sich zu diesem Ball versammelt. Da sagt dieser Zar: „Wer wohl, ihr Burschen, fände sich unter denen, die auserwählt sind, und fände sich unter denen, die Lust haben, in eben dieses Reich 4
Längenmaß im zaristischen Rußland =3 Arschin = 7 Fut = 213,34 cm. (Anm. d. Übers.)
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zu reiten, zu dieser Jungfrau Blauäuglein, diese Dinge zu holen und mir, dem Zaren, Wasser des Lebens zu bringen?“ Schön: unter diesem Publikum versteckt sich der Große hinter dem Mittleren, und der Mittlere versteckt sich hinter dem Kleinsten, vom Kleinsten aber kommt keine Antwort. Da tritt wieder ein Sohn von ihm vor, der mittlere, Wassili Zarewitsch: „Väterchen! Ich habe keine Lust, das Reich in fremde Hände zu geben, aber Lust, die Dinge zu holen und in deine Hände zu legen.“ – „Nun, liebes Kind! Unser eigenes Gut soll uns auch wieder zuteil werden.“ Wassili Zarewitsch geht also durch die Pferdeställe und wählt sich ein Pferd, das noch keiner geritten, zäumt es mit einem Zügel, der noch kein Pferd gezäumt, und nimmt eine Peitsche, die noch keiner geschwungen. Auch er legt ihm zwölf Gurte und einen an, nicht wegen des schönen Aussehens, sondern wegen seiner Reckenstärke, wegen des Heldenruhms. Der Zarewitsch machte sich auf den Weg. Man sah, daß er aufsaß, aber sah nicht, in welcher Richtung er davonjagte. Auch er kommt zu diesem Berge. Auf halber Höhe liegt die Platte, und auf diese Platte ist eine Unterschrift geschrieben, sind Kerben eingekerbt: „Drei Wege trennen sich. Auf dem ersten Wege reiten – selber hungrig sein; auf dem zweiten – selber satt, aber das Pferd hungrig, und auf dem dritten – mit einem Mädchen schlafen.“ Dorthin wandte er sich: „Auf hungrigem Pferd kann ich nicht weiterreiten, und selber kann ich nicht lange weiterleben, aber mit einem Mädchen schlafen – 256
dieser Weg ist für mich der allerbeste!“ Und auch er schlug den Weg „mit einem Mädchen schlafen“ ein und gelangt zu dem einsamen Haus. Da sagt das Mädchen: „Der Liebste kommt, schon geh ich, ihn aus dem Sattel heb ich. Er soll mit mir Brot und Salz essen und zur Nacht schlafen.“ – „Aber ich will nicht Brot und Salz essen, und ruh ich aus, kann ich meinen Weg nicht verkürzen.“ – „Ach, edler Held, Zarensohn, eile nicht zur Weiterreise, eile zum Mahl!“ Da legte er sich arglos aufs Bett schlafen. Sie aber warf auch ihn hinab: „Wer kommt geflogen?“ – „Wassili Zarewitsch! Und wer sitzt dort?“ – „Fjodor Zarewitsch!“ – „Nun, Brüderchen, wie sitzt sich’s denn?“ – „Ach, nicht übel. Hungers läßt sie einen nicht sterben, aber satt zu essen gibt sie einem auch nicht – ein Pfund Brot und ein Pfund Wasser.“ – „Ach, Bruderherz, da sitzen wir schön in der Patsche!“ – Und da sitzen diese Helden nun, die Zarenkinder. Jener Zar veranstaltet wieder ein Fest für alle Welt. Er hatte zu seinem Fest Fürsten und Bojaren und kühne Recken eingeladen. „Wer von euch würde, ihr Burschen, durch dreimal neun Länder ins zehnte Reich reisen, zur Jungfrau Blauäuglein? Würde von dieser Jungfrau Blauäuglein Wasser des Lebens und den Krug mit den zwölf Schneppen holen? Ich würde diesem Reiter ein halbes Reich verschreiben und einen halben Edelstein.“ Auf diesem Fest versteckt sich der Große hinter dem Mittleren, und der Mittlere versteckt sich hinter dem Kleinsten, vom Kleinsten aber kommt keine Antwort. 257
Da tritt sein jüngster Sohn Iwan Zarewitsch vor und sagt: „Wir haben keine Lust, das Reich fremden Leuten zu geben. Ich will diese Fahrt machen, diese Dinge holen und dir, Vater, geben.“ – „Nun, liebes Kind! Möge unser eigenes Gut uns auch zuteil werden.“ Also schön: Iwan Zarewitsch geht nun durch die Pferdeställe, wählt sich ein Pferd, das noch keiner geritten, zäumt es mit einem Zügel, der noch kein Pferd gezäumt, nimmt eine Peitsche, die noch keiner geschwungen, legt ihm zwölf Gurte und einen an, nicht des schönen Aussehens wegen, sondern wegen seiner Reckenstärke, wegen des Heldenruhms. Der Zarewitsch machte sich auf den Weg. Reitet er nun nah oder fern, tief oder hoch, zwischen Himmel und Erde, im fremden Land, – er gelangte zu dem Berg. Den halben Berg ritt er hoch, da liegt auf halber Höhe die steinerne Platte, und auf diese Platte ist eine Aufschrift geschrieben, sind Kerben eingekerbt: „Drei Wege. Auf dem ersten Weg – selber hungrig sein; auf dem zweiten – selber satt, aber das Pferd hungrig, und auf dem dritten – mit einem Mädchen schlafen.“ Er schlug den Weg ein, wo stand „selber hungrig sein“. Und er kommt zu einem einsamen Haus. Steht da ein Haus, eine Hütte, auf einem Hühnerbein, auf einer Hundepfote. „Diese Hütte – zum Wald mit der Hinterseit und zu mir mit der Vorderseit!“ Die Hütte drehte sich zum Wald mit der Hinterseite und zu ihm mit der Vorderseite. Er ging hinein, da sitzt dort ein steinaltes Weib, eine 258
Baba-Jagá, brüht Seide und wirft die Fäden über einen Querbalken. „Ach“, sagt sie, „lange hab ich kein Menschenfleisch zu sehen gekriegt: jetzt ist es von selbst zu mir gekommen. Ich will diesen Menschen braten, er soll die weite Welt nicht wiedersehen.“ – „Ach, du alte Baba-Jagá, du Einbein, hast den Vogel noch nicht gefangen und rupfst ihn, hast den Burschen noch nicht erkannt und beschimpfst ihn. Du solltest sogleich aufspringen, dem edlen Helden, dem Wandersmann, zu essen geben und für die Nacht ein Lager bereiten; ich lege mich zur Ruhe nieder, und du könntest dich zu mir ans Kopfende setzen, könntest fragen, und ich würde erzählen, wer bist du und woher, lieber Mann? Wie heißt du?“ Da machte die Alte alles so, gab ihm zu essen, wie es sich gehört, setzte sich ans Kopfende und begann zu fragen, und er begann zu erzählen. „Wer bist du, mein Lieber, und woher, und wie heißt du? Aus welchem Lande bist du, und aus welchem Stamm, und welchen Vaters, welcher Mutter Sohn?“ – „Ich bin, Großmütterchen, aus dem und dem Zarenreich, einem fernen Land, der Zarensohn Iwan Zarewitsch bin ich. Ich bin ausgezogen, durch dreimal neun Länder und dreimal neun Seen zu reiten, in ein fernes Reich zur Jungfrau Blauäuglein, Wasser des Lebens und der Jugend zu holen; ich bin ein Sendbote meines Vater.“ – „Nun, mein liebes Kind! – Eben diese starke Heldenjungfrau ist meine Nichte, meines Bruders Tochter; ich weiß nicht, ob du dieses Gut bekommst, mein Lieber.“ Am nächsten Morgen stand er in aller Frühe auf und wusch sich 259
aufs gründlichste. Verneigte sich nach allen vier Himmelsrichtungen und dankte ihr für das Nachtlager. „Es braucht keinen Dank, Iwan Zarewitsch! Jedem steht ein Nachtlager zu, dem Fußwanderer wie dem Reiter, dem Armen wie dem Reichen, allen Menschen, aber reite auf meinem Pferd weiter. Mein Pferd ist größer und meine Keule schwerer.“ Da ließ er sein Pferd bei der Alten und ritt auf ihrem Pferd weiter. Dieses Pferd ist tüchtiger, läuft schneller als seines. Er zieht dahin, ob nah, ob fern. Nicht so bald ist eine Tat getan, nicht so bald ein Märchen erzählt, und er reitet immer weiter. Der Tag neigte sich schon zur Nacht, da sah er vor sich ein Haus stehen, eine Hütte auf Hühnerbeinen, auf einer Hundepfote. „Ach, du Hütte auf Hühnerbeinen! Dreh dich zum Wald mit der Hinterseit und zu mir mit der Vorderseit; ich will keine Ewigkeit bleiben, nur eine dunkle Nacht übernachten. Wie ich in diese Hütte hineinkomme, so auch wieder heraus, wie ich hineinreite, so auch wieder heraus.“ Da drehte sich die Hütte zum Wald mit der Hinterseite und zu ihm mit der Vorderseite, und er ritt hin. Plötzlich bekam ein anderes Pferd Witterung und begann zu wiehern, seines aber ließ sich noch lauter vernehmen, denn sie waren aus einer Herde. Das hörte die Alte in der Hütte. „Da ist wohl meine Schwester zu Besuch gekommen.“ Sie kam heraus. „Nicht deine Schwester ist gekommen, ein schöner Held ist gekommen.“ – „Kommt bitte herein in die Stube.“ Sie versorgte das Pferd und forderte ihn auf, he260
reinzukommen. Man begrüßt nach dem Gewand, aber verabschiedet nach dem Verstand. Was sich im Hause fand, das nahm sie und gab ihm zu essen, bereitete für die Nacht auch ein Lager und setzte sich ans Kopfende. „Wer bist du, lieber Mann? Wer und woher, und wie heißt du?“ – „Ich bin ausgezogen zur Jungfrau Blauäuglein, Wasser des Lebens und der Jugend zu holen. Und ich muß bei ihr den Krug mit den zwölf Schneppen voll Wasser des Lebens und der Jugend holen.“ – „Na, ich weiß nicht, mein Lieber, wie du das bekommen willst. Sie ist die stärkste Heldenjungfrau. Sie ist meine Nichte, meines Bruders Tochter. Aber je weiter man in den Wald hineinfährt, um so mehr Holz schlägt man. Ich habe eine große Schwester, dorthin sollst du fahren, bei mir aber übernachten.“ Er übernachtete also bei der Alten. Am nächsten Morgen steht er in aller Frühe auf, wäscht sich aufs gründlichste und verneigt sich nach allen vier Himmelsrichtungen. „Ach, es braucht doch keinen Dank, Iwan Zarewitsch! Ein Nachtlager führt und trägt man nicht mit sich herum, überall steht einem ein Nachtlager zu, dem Fußwanderer wie dem Reiter; laß der Schwester Pferd bei mir und nimm mein Pferd; mein Pferd ist noch geschwinder, und meine Keule noch schwerer.“ Da machte er sich sogleich auf den Weg und sieht, ob es weit ist. Die ganze Strecke durchreitet er schnell, Tag und Nacht unterwegs. Er kam zu einem Haus. „Ach, Hütte! Kehre dich zum Wald mit der Hinterseit und zu mir mit der Vorderseit. Ich will keine Ewigkeit bleiben, sondern eine 261
Nacht übernachten.“ Er ritt zu dieser Hütte, wieder bekam ein Pferd Witterung und begann zu wiehern, seines aber ließ sich noch lauter vernehmen. Das hörte die Alte. „Da ist wohl die Schwester zu Besuch gekommen!“ Sie sah nach – es ist ihr Pferd, der Reiter aber ist ein Fremdling, und sie kennt ihn nicht. Nun, sie sagt also: „Kommt bitte herein in meine Stube. Man begrüßt Euch nach Eurem Gewand und verabschiedet Euch nach Eurem Verstand.“ Und es trug sich bei ihr das folgende zu: Sie gab dem Manne zu trinken und zu essen und bereitete ihm ein Lager. „Wer bist du, lieber Mann, und woher?“ – „Ich bin Iwan Zarewitsch; ich will durch dreimal neun Länder reiten, und ich reite durch dreimal neun Seen, reite ins dreimal zehnte Reich, und ich brauche Wasser des Lebens und den Krug mit zwölf Schneppen.“ – „Aber wie nur, mein liebes Kind!? Rings um ihr Reich ist eine Mauer, drei Saschen hoch und einen Saschen breit, und eine Wache von dreißig Heldenjungfrauen, die lassen dich nicht zum Tor hinein. Du mußt aber mitten in der Nacht reiten und auf meinem Pferd – mein Pferd springt über die Mauer hinweg, zur Nachtzeit und in der ersten Nachtstunde. Den heutigen Tag laß noch verstreichen, heute Nacht aber mach dich hinüber!“ Und sie unterweist ihn wie folgt: „Nimm das Wasser an der und der Stelle, unter der und der Nummer, und wenn du ins Schlafgemach kommst, so schlafen sie; es sind ihrer dreizehn Heldenjungfrauen, auf der einen Seite von ihr sechs, und auf der anderen Seite sechs. Alle se262
hen gleich aus und sind gleich groß.“ Er setzte sich also auf ihr wackeres Pferd und ritt los als es schon Nacht war. Das Pferd sprengt dahin, Moore und Sümpfe überspringt es, Flüsse und Seen fegt es mit dem Schwanz zu. Das war eine Sache, da gab es kein großes Federlesen. Diese Strecke legte er ohne Aufenthalt zurück. Er kam zur Stadt, das Pferd sprang, ohne zu fragen, hinüber und setzte über die Mauer. Er fand die Dinge sogleich an der und der Stelle, unter der und der Nummer, drang weiter ein und wollte noch sie selbst sehen. Er kommt ins Schlafgemach. Sie schlafen. Auf der einen Seite sechs, auf der anderen sechs, und sie hat Arme und Beine weit von sich gestreckt. Da tränkte er sein Roß in ihrem Brunnen, den Brunnen aber deckte er nicht wieder zu, sondern ließ das Gewand, wie es war. Er muß reiten. Doch das Pferd hatte etwas gemerkt und sprach mit Menschenstimme: „Du hast gesündigt, Iwan Zarewitsch; ich kann jetzt die Mauer nicht überspringen.“ Er schlug das Pferd gegen die Rippen: „Ach, du Pferd, du Wolfsrachen, du Krautsack! Wir können hier nicht bleiben in diesem Reich.“ Da machte das Pferd einen Satz und streifte mit dem Hufeisen des linken Hinterbeins die Mauer. An der Mauer begannen Saiten zu klingen und Glocken zu läuten, da begannen sofort Wölfe zu heulen, und durch das ganze Reich lief der Ruf: „Auf! Heute ist bei unserer Heldenjungfrau ein großer Diebstahl geschehen!“ Die Jungfrau Blauäuglein selbst machte sich mit ihren zwölf Heldenjungfrauen an die Verfolgung. Sie kommt zur einen Hütte, da263
nach zur anderen. Er hatte das Pferd gewechselt, sie aber ritt ohne zu füttern. „Großmütterchen, hast du nicht den Hundesohn gesehen, diesen Lümmel?!“ – „Nein“, sagt die Alte, „habe ihn nicht gesehen. Iwan Zarewitsch ist vorbeigeritten, im ganzen Reich gibt es unter der Sonne keinen, der ihm gleicht – die Sonne ist am Himmel, er auf der Erde. Kehrt bitte um.“ – „Es ist mir nicht leid, daß er sein Roß getränkt hat, aber es kränkt mich, daß er den Brunnen nicht bedeckt hat!“ Plötzlich kam er zu der anderen Alten. Er bestieg das Pferd. Er ist vom Hof herunter – da kommt die Heldenjungfrau auf den Hof. „Großmütterchen, hast du niemanden gesehen?“ – „Nein, ein Held ist vorbeigeritten, doch schon lange, ein schöner Held – die Sonne ist am Himmel, er auf der Erde.“ Nun, er ging zu seinem Pferd und saß auf. Da erblickte sie ihn; wie sie immer näher kam, kniete er nieder und bittet um Verzeihung. Die Heldenjungfrauen schicken sich an, auf ihn loszureiten und ihm den Kopf abzuschlagen. Sie antwortete, daß das Schwert kein demütiges Haupt schlägt. Steigt selbst vom Pferd und nimmt ihn an seinen weißen Händen und hebt ihn von der Erde auf. Nun schlugen sie hier, auf freiem Feld, unter dem weiten Himmel, auf den grünen Wiesen, auf seidigen Gräsern ein Zelt aus weißem Leinen auf. Da feierten und tanzten sie in diesem Zelt drei Tage und drei Nächte hintereinander. Hier gelobten sie sich Treue und wechselten die Ringe. „In drei Jahren komme ich zu dir, mein Reich werde ich auflösen.“ Sie antwortete ihm: „Zieh du nun nach Hau264
se und kehre nirgends ein!“ Nun kam er in seine Gegend, an diese Wegscheide, an die gleichen Wege und denkt: „So ist es schön, ich reite heim, und meine Brüder sitzen irgendwo gefangen und verfaulen für nichts und wieder nichts.“ Da bog er vom Wege ab, sie zu suchen, und kam zu dem Haus. Sie sprang heraus und sagt: „Oh, Iwan Zarewitsch! Schon lange erwarte ich dich, sollst Brot und Salz kosten.“ – „Ich will nichts kosten und nichts essen.“ – „Komm, ich helfe dir aus dem Sattel.“ – „Ich habe schon bessere als dich gesehen.“ Sie führte ihn hinein. Er legte sie aufs Bett und stieß sie hinunter. „Wer ist dort noch am Leben?“ Sie piepsten wie zwei Mücken: „Wir sind noch am Leben, Fjodor Zarewitsch und Wassili Zarewitsch.“ Er suchte bei ihr einige Stricke zusammen und holte sie heraus. Und sie traten vor die Wand. Die Spiegel an der Wand aber begannen, sich mit Erde zu überziehen. „Wozu wollen wir die Leute erschrecken? Sind schon arg schwarz geworden.“ Er wusch sie mit Wasser des Lebens, sie wurden wie früher, verwandelten sich. Also schön, er saß sogleich auf und ritt los, sie aber gingen zu Fuß: sie hatten keine Pferde. Er kam an die Wegscheide. „Brüder, bewacht ihr meine Sachen und das Pferd, ich will ein wenig ruhen.“ Er legte sich also hin und versank in einen tiefen Schlaf. Da sagt Fjodor Zarewitsch: „Was denkst du, Wassili Zarewitsch?“ – „Daß wir in ihrem Keller hätten verfaulen müssen, wenn uns der Bruder nicht herausgezogen hätte. Uns wird der Vater ohne die Sachen kaum viel Ehre geben, 265
er wird uns zu Hirten machen. Komm, wir wollen ihn in ein Loch werfen und seine Sachen nehmen!“ Und sie warfen ihn hinab. Da flog er hinunter, drei Tage und drei Nächte. Kam unten an und schlug sich die Beine auf. An einer Meeresküste kam er wieder zu sich. An diesem Meer gab es nur einen alten Eichenwald und kleine Fichten. Nur Himmel und Wasser. Da steigt ein Wetter auf, ein Gottessegen, aus dem Meer und vom Himmel. Die Jungen des Vogels Nagaj piepsen, und der Regen peitscht sie. Da zog er kurzerhand seinen Mantel aus, deckte des Vogels Nagaj Junge zu und stellte sich selbst vor dem Regen unter eine Eiche. Als das Wetter vorbei ist, kommt der Vogel Nagaj geflogen. In allen Tonarten: „Hat euch das Wetter nicht erschlagen, ein Unglück gebracht?“ – „Schrei nicht so, Mutter! Uns hat ein russischer Mann beschützt. Sei still, weck ihn nicht auf.“ – „Weswegen bist du hierhergekommen, lieber Mann?“ – „Mich haben meine Brüder verraten, leibliche Brüder, aber schlimmer als Fremde.“ – „Was willst du haben für deine Mühe? Du hast meine Jungen beschützt. Gold, Silber, Edelstein?“ – „Ich brauche nichts, Vogel Nagaj, kein Gold, kein Silber, keinen Edelstein. Doch kann ich nicht wieder in meine Heimat gelangen?“ – „Da brauche ich zwei Bottiche und an die zwölf Pud Rindfleisch.“ Er war ein wohlhabender Mann, ging zu den Fischern und Jägern ans Ufer hinunter und kaufte eine Menge Gänse, Schwäne und Grauenten. Die brachten sie, stellten dem Vogel den einen Bottich auf die rechte Schulter, den anderen auf die linke, er selbst 266
setzte sich in die Mitte, begann das Füttern, und der Vogel zog in großer Höhe dahin. Er gab ihm, was in dem einen Bottich war, dann fütterte er aus dem zweiten. Gibt und gibt – und der ganze Vorrat wurde alle. Der Vogel aber dreht sich um. Er schnitt sich Finger und Zehen ab und gab sie hin. Sie kamen an. „Steig herunter, Iwan Zarewitsch!“ – „Ich kann nicht herunter: habe meine Finger und Zehen abgeschnitten.“ – „Habe nicht gewußt, daß das dein Fleisch war. Hätte dich ganz aufgefressen.“ Der Vogel spie alles wieder aus und machte sich auf den Rückweg. Iwan strich Wasser des Lebens und der Jugend darauf, er hatte ein Fläschchen für unterwegs bei sich. Er sieht nach, die Brüder sind nicht mehr da. Zu Fuß kam er in seines Vaters Reich. Aber Vater und Mutter wollen von ihm nichts wissen. Wie früher war da ein Kaufmannshandel, ein Branntweinladen. Er trinkt die ganze Zeit. Hörte, daß der Vater das Reich noch niemandem vermacht, die Sachen aber bekommen hat. Das war sogleich vorbei. Die Jungfrau Blauäuglein nämlich kam in dieses Reich gezogen. Drei Werst entfernt, auf freiem Felde, unter dem weiten Himmel, auf den grünen Wiesen, auf seidigen Gräsern schlug sie ein Zelt aus weißem Leinen auf. Von diesem Zelt bis zum Zarenschloß baute sie eine drei Werst lange Brücke aus Ahorn: die Spitzen gedrechselt, das Geländer vergoldet. Auf diesen Spitzen sangen Vögel mit verschiedenen Stimmen. Und den Boden überzog sie mit kostbarem Tuch. Um acht Uhr morgens nun bekommt der Zar eine Aufforderung: „Eure 267
Kaiserliche Majestät! Liefert am heutigen Tag den Schuldigen aus, findest du aber den Schuldigen nicht, komme ich in Euer Reich, reiße dir bei lebendigem Leibe die Augen aus und nehme sie mit nach Hause.“ Er liest die Aufforderung und jammert. „Nun reit schon, Fjodor Zarewitsch! Du bist sicherlich schuldig, bist lange unterwegs gewesen.“ Der zieht nun los, Fjodor Zarewitsch, zu Fuß über diese Brücke. Bei der Jungfrau aber tummeln sich zwei Knaben in der Nähe des Zeltes – ihre eigenen. „Mutter, Mutter! Unser Vater ist auf dem Wege nach hier.“ – „Auf welcher Seite?“ – „Rechterhand von der Brücke.“ – „Sowie ihr ihn gepackt habt, prügelt ihn durch!“ Die Kinder walkten ihn so durch, daß er nach Hause kam und dem Vater nichts sagte. Am zweiten Tag kommt wieder eine Aufforderung. „Liefert am heutigen Tag nun den Schuldigen aus. Gebt Ihr ihn nicht her, komme ich selbst und führe Euch in die Gefangenschaft.“ Da sagt er: „Geh du, sicherlich bist du schuldig, Wassili Zarewitsch!“ Wassili Zarewitsch ging. Und wieder die Kinder: „Mutter, Mutter! Zu uns kommt wieder ein Vater.“ – „Auf welcher Seite?“ – “Linkerhand.“ (Auch er traute sich nicht, über die Brücke zu gehen.) „Packt ihn und prügelt ihn noch derber als den ersten durch!“ Sie walkten ihn durch, daß es eine Art hatte. Auch er ging zurück zum Vater; und zwar auf der Stelle, und beschwert sich über niemanden. Also schön: am dritten Tag kommt wieder eine Aufforderung. „Nun geht, sucht den Trunkenbold, meinen dritten Sohn.“ Der ging auf der Stelle. Als Begleitung 268
nahm er zwölf Mann mit, Betrunkene aus einer Teestube. Sie zerbrechen die Brücke, zerreißen den Stoff und lassen hinter sich eine leere Straße zurück. Die Jungen: „Irgendein Strauchdieb kommt mit seinen zwölf Gesellen. Sie zerbrechen die Brücke, zerreißen den Stoff und teilen ihn unter sich.“ Sie aber sagt: „Das ist euer Vater mit seinen Gesellen. Nehmt einen Edelstein, Speise und Trank und geht, euren Vater begrüßen.“ Sie trat selbst zur Begrüßung heraus und empfing sie. Die Kameraden erhielten jeder ein Gläschen, dann machten sie sich auf den Heimweg. Darauf wandte sie sich an den Zaren: „Die zwei hier haben ihn verraten, haben ihn ins untere Reich gestoßen. Er hat drei Jahre dort leiden müssen.“ Alles war reichlich vorhanden in diesem Zarenreich. Sie wurden getraut. Alle tranken auf diesem Fest. Und er setzte ihn auch auf den Zarenthron. Und er bestieg nun den väterlichen Thron, seinen Brüdern aber erwies er wenig Ehre. Man ließ sie laufen, sich ein Nachtlager zu suchen. Hier eine Nacht, dort zwei, die dritte Nacht aber durften sie nicht bleiben. – Was ich wußte, hab ich erzählt. Schluß der Geschicht’, besser kann ich’s nicht.
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32 Iwan Zarewitsch und die schöne Maria mit dem schwarzen Zopf In irgendeinem Zarenreich war es, in irgendeinem Staat war es, nicht in unserem Königreich war es. Das ist noch nicht das Märchen, das ist erst die Einleitung; das Märchen wird morgen Nachmittag erzählt, nach dem weichen Vesperbrot, und noch ‘ne Pirogge essen wir dann und packen den Stier bei den Hörnern an. Es lebte einmal ein Zar Iwan Wassiljewitsch, der hatte einen großen Sohn Wassili Zarewitsch und einen zweiten Sohn Mitri Zarewitsch; und der jüngste Sohn war Iwan Zarewitsch. Nun war Wassili Zarewitsch in das Alter gekommen und der Zar dachte ihn zu verheiraten, und sie konnten lange Zeit keine Braut finden. Bald finden sie eine Braut – Vater und Mutter ist sie recht, ihm gefällt sie nicht; bald findet er eine Braut für sich – aber Vater und Mutter mögen sie nicht. Einmal nun ist Wassili Zarewitsch unterwegs, auf einer breiten Straße, da begegnet ihm ein altes Weib mit ‘nem dicken Leib, die sagt zu Wassili Zarewitsch: „Ich habe für dich eine Braut gefunden, Wassili Zarewitsch!“ Er aber sagt zu ihr: „Wo hast du sie denn gefunden, Großmütterchen?“ 270
„Dort der General da hat eine Tochter, die müßt Ihr zur Frau nehmen.“ Wassili Zarewitsch kommt zu seinem Vater und sagt: „Vater, ich habe eine Braut gefunden, die Tochter von dem und dem General.“ Der Vater sagt ihm, er möge sie zur Frau nehmen. Bei dem Zaren brauchte kein Bier gebraut und brauchte kein Wein gebrannt zu werden. Es war genug gebrautes Bier und genug gebrannter Wein da, und man fuhr sie zur Trauung. Nach der Trauung brachte man sie zurück und legte sie aufs Hochzeitslager. Aber aufs Lager legte er sich nicht mit ihr, ins freie Feld floh er von ihr, und dort reitet er jetzt auf seinem Pferd. Vater und Mutter merkten plötzlich, daß Wassili Zarewitsch nicht im Hause war, und wußten nicht, wo sie ihn suchen sollten. Iwan Zarewitsch fragt seinen Vater: „Vater, was für eine Frau ist das bei uns?“ Der Zar antwortet ihm: „Das ist eure Schwägerin.“ „Und wo ist denn ihr Mann?“ „Fortgeritten ins freie Feld, schon lange, und jetzt ist er nicht da.“ Da sagt Iwan Zarewitsch: „Vater, gebt mir Euren Segen, ich will reiten und meinen Bruder Wassili Zarewitsch suchen.“ „Gott gibt dir seinen Segen“, sagte der Zar. „Du wirst mir also einmal kein Ernährer sein!“ Da sattelte sich Iwan Zarewitsch ein tüchtiges Pferd und ritt ins freie Feld, in die wilde Steppe, 271
seinen Bruder Wassili Zarewitsch zu suchen. Auf freiem Feld, in der wilden Steppe, stand ein weißes Zelt. Im Zelt schlief Wassili Zarewitsch. Iwan Zarewitsch ritt zu dem weißen Zelt, Iwan Zarewitsch betrat das weiße Zelt und wollte ihn im Schlaf erschlagen (er weiß nicht, wer es ist) und denkt bei sich: „Wozu soll ich ihn im Schlaf erschlagen wie einen Toten! Nicht Ehre noch Ruhm bringt das mir wackerem Helden; ich will ihn lieber aus dem Schlaf aufwecken und ihn genau befragen: wer er ist, woher, und wohin der Weg ihn führt.“ Wassili Zarewitsch erwachte und fragte: „Woher bist du, edler Held?“ „Aus dem und dem Zarenreich, des und des Vaters und der und der Mutter Sohn.“ „Und was willst du?“ „Ich will erfahren, wo ich meinen Bruder Wassili Zarewitsch finden kann.“ Wassili Zarewitsch sagte zu ihm: „Wer bist du?“ „Ich bin Iwan Zarewitsch.“ „Unser Iwan Zarewitsch“, sagte Wassili Zarewitsch, „ist drei Jahre alt und schaukelt in der Wiege.“ Antwortete Iwan Zarewitsch: „Er schaukelt jetzt nicht in der Wiege, sondern streift auf dem Pferd durch die wilde Steppe und will seinen Bruder Wassili Zarewitsch finden.“ Und Wassili Zarewitsch sagte: „Ich selbst bin’s!“
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Da bestiegen sie ihre wackeren Pferde und ritten auf gut Glück los. Sie ritten in die grünen Wiesen, – nun, ein Märchen ist bald erzählt, aber eine Tat ist nicht bald getan. Sie ritten sehr weit. Sie selbst waren schon müde geworden auf den Pferden, und ihre Pferde waren matt, und ihre seidenen Peitschen hatten sie schon ganz in Fetzen geschlagen. Da sagte der ältere Bruder Wassili Zarewitsch: „Weißt du was, Bruder, wir wollen etwas rasten und die Pferde füttern!“ Iwan Zarewitsch sagte zu ihm: „Was du für richtig hältst, Bruder, das tu auch!“ Sie stiegen von ihren wackeren Pferden und ließen sie auf den grünen Wiesen grasen. Wassili Zarewitsch sagte: „Leg dich hin und ruh dich aus, Bruder Iwan Zarewitsch, ich will über die grünen Wiesen gehen, ob ich nicht einen Hasen finde; den schieße ich, bringe ihn dir, und wir braten ihn.“ Und Iwan Zarewitsch sagte: „Geh mit Gott, Bruder!“ Und Wassili Zarewitsch zog auf gut Glück los. Und er kommt zum großen, großen blauen Meer, und dort steht eine Hütte. Wassili Zarewitsch betrat die Hütte. Sah hinein: in der Hütte sitzt eine schöne Jungfrau, sitzt da, weint bitterlich, und vor ihr steht ein Sarg. Wassili Zarewitsch sagte: „Warum weinst du, schöne Jungfrau?“ „Wie sollte ich nicht weinen, Wassili Zarewitsch? Die letzte Stunde bin ich auf der weiten
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Welt. Gleich kommt aus dem Meer der Drache gekrochen und frißt mich.“ Wassili Zarewitsch sagte zu ihr: „Weine nicht, schöne Jungfrau, bleib nur ich am Leben, wirst auch du am Leben bleiben!“ Wassili Zarewitsch legte sich auf ihre Knie und sagte: „Kraule mich ein wenig, schöne Jungfrau!“ Sie begann ihn zu kraulen, und er versank in einen festen Schlaf. Da türmten sich im blauen Meer gewaltige Wellen, und ein schrecklicher Drache tauchte empor, mit einem Kopf wie ein Waschkessel, kriecht aus dem Meer und will die schöne Jungfrau fressen. Sie rüttelt ihn aus aller Kraft: „Wassili Zarewitsch, wach auf! Der schreckliche Drache frißt uns beide!“ Wassili Zarewitsch schläft und merkt nichts. Da fällt der schönen Jungfrau aus dem rechten Auge eine heiße Träne, und die heiße Träne fiel Wassili Zarewitsch auf sein weißes Antlitz und brannte wie Feuer. Und Wassili Zarewitsch erwachte und sieht, daß der schreckliche Drache gekrochen kommt; er zog seinen scharfen Säbel, schwang ihn gegen den Hals und schlug dem Drachen den scheußlichen Kopf ab. Den Rumpf packte er und warf ihn ins Meer, den scheußlichen Kopf aber legte er unter einen Stein. Und Wassili Zarewitsch sagte zu der schönen Jungfrau: „Seht Ihr, ich bin am Leben, und Ihr seid am Leben!“ 274
„Dank, Wassili Zarewitsch; ich will für ewig deine Frau sein!“ Wassili Zarewitsch machte sich auf den Weg zu seinem Bruder, zu Iwan Zarewitsch. Kommt hin und bringt nichts mit. „Hab nichts gefunden, Bruder.“ Diese schöne Jungfrau aber stammte aus einem fremden Zarenreich. Jede Nacht wurde von dort eine andere an diese Stelle gebracht. Der fremde Zar hatte einen Hofnarren, und der Zar schickt den Narren, in der Hütte nach dem Rechten zu sehen. Der Narr spannte ein dreibeiniges Pferd vor ein klappriges Wägelchen, legte ein Faß darauf und fuhr zum Meer, Wasser zu holen. Er betritt die Hütte – da sitzt die schöne Jungfrau quicklebendig da. Er nun, der Narr, nahm sie auf seine Arme, setzte sie auf das Faß und fuhr sie nach Hause. Und der Narr sagte zum Zaren: „Ich“, sagt er, „habe Euren Drachen erschlagen!“ Der Zar freute sich sehr und gab ihm seine Tochter (die er zurückgebracht hatte) zur Frau. Das war vielleicht ein Fest! Die Türen standen weit offen, und die Schenken hatten alle geöffnet. Wein gab es fässerweise zu trinken. Und auf dem Fest war es lustig und wurde getanzt wie noch nie. Nun lebte der Narr mit ihr, wurde reich und vergaß die schlechten Zeiten. Wassili Zarewitsch aber und Iwan Zarewitsch bestiegen ihre wackeren Pferde und machten sich auf den Weg in das fremde Reich, wo dieses Fest ist. Sie kommen
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zum Zaren. Der Zar begrüßt sie und erweist ihnen alle Ehre, und Wassili Zarewitsch sagte: „Was ist das für ein Fest bei dir, Zar?“ Antwortet ihm der Zar: „Ich verheirate meine Tochter.“ Wassili Zarewitsch sagte: „Und zwar mit wem?“ „Mit dem Hofnarren.“ „Und aus welchem Grunde?“ „Er hat sie vom Tode bewahrt.“ Und der Zar erzählte ihm die Geschichte, daß sie jede Nacht einen Menschen dorthin gebracht hatten, der gefressen wurde. Sie hatten die Tochter hingebracht, die sollte aufgefressen werden, die Narrenfratze aber war nach Wasser ans Meer gefahren und hatte dem Drachen den Kopf abgeschlagen und die Tochter lebendig zurückgebracht. Da hatten sie sie kurzerhand mit ihm verheiratet. Wassili Zarewitsch sagt: „Fremder Zar, man müßte sich diesen toten Drachen einmal ansehen. Ruft Euren Schwiegersohn; er soll ihn uns zeigen, wo er liegt.“ Der Narr wurde gerufen. „Komm mal, Narr, komm mit uns“, sagte Wassili Zarewitsch, „zeig, wo der Drache liegt!“ Er war sehr traurig, daß der Narr bei seiner Auserwählten liegt. Der Narr führt sie zum Meer und sagt: „Hier liegt er.“ Wassili Zarewitsch sagt: „Bringt mal Schleppnetze und ein paar geschickte Leute herbei! Wer kann mit dem 276
Schleppnetz fangen und das Meer entlang waten?“ Es fanden sich geschickte Leute, sie warfen die seidenen Schleppnetze aus – aber an der Stelle war nichts. Er aber, der Narrenkerl, sah niemanden an. Wassili Zarewitsch sagt: „Ihr Herren Fischer! Werft die Netze hier aus!“ Sie warfen die Schleppnetze aus und zogen das fürchterliche Ungeheuer heraus – den Rumpf. Und Wassili Zarewitsch sagte: „Nun sag doch mal, Narr, wo ist sein Kopf?“ Der weiß nicht, was er antworten soll. „Hier, Narr ist der Kopf: unter dem Stein.“ Der Narr geht zu dem Stein und kann ihn nicht von der Stelle rücken. Wassili Zarewitsch sagte: „Du hast verspielt, Narr: nicht du hast den Drachen erschlagen!“ Wassili Zarewitsch hob den Stein in die Höhe und zog den Kopf hervor und sagte zu dem fremden Zaren: „Ich habe Euren Drachen umgebracht!“ Der fremde Zar entblößte seinen scharfen Säbel und schlug dem Narren das freche Haupt ab, weil er gelogen hatte, seine Tochter aber traute er Wassili Zarewitsch an. Da wurde getrunken und gefeiert, da waren sie lustig und ließen es sich eine Zeitlang gut sein. Und Iwan Zarewitsch sagte zu seinem Bruder Wassili Zarewitsch: „Ich gratuliere dir zum Ehestand! Du hast eine Braut gefunden, wo soll ich aber eine suchen? Ich 277
muß wohl durch die weite Welt fahren, die mir Bestimmte zu suchen.“ Sie setzten sich an den Tisch, um Tee zu trinken, und als der Abend kam, legten sie sich in verschiedenen Zimmern zur Ruhe. Wassili Zarewitsch fragt seine junge Frau: „Wie ist das, gibt’s auf dieser Welt jemanden, der schöner ist als du und tapferer als ich?“ Die schöne Jungfrau sagte zu ihm: „Was ist schon meine Schönheit! Hinter dreimal neun Ländern, im zehnten Reich wohnt die schöne Maria mit dem schwarzen Zopf, die ist einzig schön: nur sie zu bekommen ist schwer. Dort ist noch der Recke Karka, groß und breit wie ein Heuschober. Weiß nicht, wer von euch stärker ist.“ Wassili Zarewitsch sagte zu seinem Bruder Iwan Zarewitsch: „Dort, Bruder, haben wir dir eine Braut bestimmt.“ Iwan Zarewitsch nahm Abschied von ihnen und machte sich auf seinen weiten Weg. Er nahm ein scharfes Messer in die Hände und sagt: „Wenn sich dieses scharfe Messer mit Blut überzieht, dann bin ich nicht mehr am Leben.“ Und ritt ins freie Feld, in die wilde Steppe, die für ihn Bestimmte zu suchen. Ritt er nun lange oder kurze Zeit, jedenfalls steht da auf einmal eine Hütte, dreht sich auf einem Hühnerbein: „Hütte, Hütte! Stell dich zu mir mit der Vorderseit, zum Wald mit der Hinterseit!“ Die Hütte stellte sich zu ihm mit der Vorderseite und zum Wald mit der Hinterseite. Drin liegt eine 278
Hexe, eine Baba-Jagá, hat die Beine in die Ecken gestemmt und ihre schreckliche große eiserne Nase gegen die Decke gestemmt. „Na, Iwan Zarewitsch, fliehst du vor etwas, oder suchst du etwas?“ Iwan Zarewitsch antwortet ihr: „Ich fliehe nicht vor etwas, aber um so mehr suche ich etwas: Ich bin auf dem Wege durch dreimal neun Länder, ins dreimal zehnte Reich, die schöne Maria mit dem schwarzen Zopf zu finden.“ „Och“, sagt die Baba-Jagá, „es ist schwer, sie zu bekommen, und schwer, sie zu gewinnen! Sie ist sehr weit weg. Reite noch so viel und noch halbsoviel und noch viertelsoviel.“ Iwan Zarewitsch bestieg sein wackeres Pferd und ritt los. Ritt und ritt und kam an einen riesigen Wald und hatte argen Hunger. Da steht eine riesengroße Eiche, und auf der Eiche summen laut die Bienen. Er stieg von seinem wackeren Pferd, kletterte auf die grüne Eiche und wollte etwas Honig essen. Da sagt die Bienenmutter: „Rühr meinen Honig nicht an, Iwan Zarewitsch: ich werde dir noch einmal nützlich sein!“ Iwan Zarewitsch verließ sich so sehr auf ihre Worte, daß er von der Eiche auf die kühle Erde herabsprang; er bestieg sein wackeres Pferd und ritt weiter, wohin sein Weg ihn führt. Er kann nicht mehr auf dem Pferde sitzen: hat tüchtigen Hunger. Da kommt eine Maus gerannt. Iwan Zarewitsch springt von seinem wackeren Pferd,
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packt zu und will sie essen. Die Maus sagt zu Iwan Zarewitsch: „Iß mich nicht: ich werde dir noch einmal nützlich sein!“ Iwan Zarewitsch ließ sie laufen und ritt weiter. An einer großen Straße ist eine kleine Wasserlache, darin kriecht ein Krebs herum. Iwan Zarewitsch freute sich sehr über ihn, will ihn fangen und auf einem Feuer braten. Der Krebs sagt zu ihm: „Ach, Iwan Zarewitsch, wenn du dich auch auf mich freust, so laß mich dennoch in Ruhe: ich werde dir noch nützlich sein.“ Iwan Zarewitsch wurde sehr böse und warf den Krebs ins Wasser. „Die Pest über dich! Und trotzdem werde ich am Leben bleiben, werde nicht sterben!“ Und wieder ritt er weiter. Ritt er nun viel oder wenig, lange Zeit oder kurze Zeit, jedenfalls kam er zu Karka dem Recken. Kommt hin, trifft ihn aber nicht zu Hause an, nur seine Mutter. Die erblickte ihn und erkannte ihn auf der Stelle. „Ach, Iwan Zarewitsch, schon lange wartet Karka der Recke auf dich!“ Iwan Zarewitsch sagt: „Sag mir doch. Großmütterchen, wo ist er?“ „Das dritte Jahr ist er nach einer Braut unterwegs.“ „In welcher Richtung?“ „Zur Jungfrau Zar. Das dritte Jahr reitet er und kann seine Auserwählte nicht bekommen; er wünscht dich sehr herbei und ist sehr böse auf 280
dich: ‚Ach, ließe er sich nur hier sehen – bei lebendigem Leibe fräße ich ihn auf!’ Aber geh erst mal ‘raus aufs freie Feld, in die wilde Steppe, und nimm das Fernrohr, ob Karka der Recke nicht geritten kommt. Wenn er mit freudiger Nachricht reitet, fliegt ein edler Falke vor ihm her, wenn er aber traurig reitet, kreist ein schwarzer Rabe über ihm.“ Iwan Zarewitsch guckte durchs Fernrohr und erblickte Karka den Recken, und über seinem Kopf kreist ein schwarzer Rabe. Da sagte Iwan Zarewitsch zu der Alten: „Er kommt unglücklich.“ „Nun“, sagt die Alte, „wohin soll ich dich jetzt stecken? Er ist ärgerlich.“ Sie schließt einen kleinen Speicher auf und versperrt ihn mit einem Schloß. „Hier“, sagt sie, „leg dich hin. Ich will ihn zuerst mit einem Schnäpschen bewirten und von dir berichten.“ Karka der Recke erschien und sagt zu seiner Mutter: „Gib mir bitte was zu trinken, Mutter!“ Die Alte goß ihm ein Gläschen Gebrannten ein; er trank das Gläschen aus und war nicht betrunken. „Gib mir noch eines, Mutter!“ Er trank das zweite aus und wurde guter Laune. Die Mutter fragt ihn: „Und wo ist deine Auserwählte, Söhnchen?“ „Ich hab mich so geplagt, Mutter!“ „Und wenn Iwan Zarewitsch käme?“ 281
„Da wäre mir aber wohl: ich holte mir die Jungfrau Zar, nicht allein, sondern mit ihm, und unterwies ihn, wie er die schöne Maria mit dem schwarzen Zopf bekommen kann.“ Die Alte sagt: „Du würdest ihn also jetzt nicht anrühren?“ „Was denkst du, Mutter! Wäre er jetzt bei mir, bei den Händen nähme ich ihn und küßte ihn auf seinen süßen Mund.“ Die Herrin, seine Mutter, sagt: „Er ist hier, Söhnchen, schläft im Speicher.“ Da freute sich Karka, ging selber in den Speicher, nimmt ihn bei den Händen, setzt ihn an einen Eichentisch und bewirtet ihn mit Tee und Schnaps. Und Karka der Recke sagte: „Ach, Bruder Iwan Zarewitsch, und ich habe nur von dir gehört, wie du geboren wurdest und in der Wiege schaukelst!“ Iwan Zarewitsch sagt: „Ich schaukle nicht in der Wiege, sondern streife auf meinem wackren Pferd durch die wilde Steppe. Ich bin nicht gewohnt, im Zarenreich als Zar zu herrschen, ich bin gewohnt, über die wilde Steppe zu fliegen und viel Leid zu erfahren.“ „Und warum, Iwan Zarewitsch, streifst du auf deinem wackeren Pferd durch die wilde Steppe, was suchst du?“ „Hör zu“, sagt Iwan Zarewitsch, „hinter dreimal neun Ländern, im dreimal zehnten Reich lebt die schöne Maria mit dem schwarzen Zopf, ich möchte sie gewinnen und zur Frau nehmen.“ Karka der Recke sagt: 282
„Es ist schwer, sie zu holen, und man muß einmal sterben, Leib und Knochen in der wilden Steppe verstreuen.“ „Ach, lieber Bruder, Recke Karka, wer keinen Verlust ertragen will, der wird als Handelsmann keinen Gewinn zu sehen bekommen; und wenn wir Recken nicht durch die weite Welt fliegen und eine schöne Auserwählte nicht suchen wollten, das brächte uns keine Ehre, keinen Ruhm, wenn wir nicht durch die weite Welt fliegen, keine Not ertragen wollten.“ „Nun“, sagt Karka, „dieses Märchen wollen wir sein lassen, Iwan Zarewitsch, und ein neues beginnen.“ Da begann ein Erzählen, begann ein Fabulieren, von Siwka-Burka, der graubraunen Stute, von der weinlüsternen Henne und vom angriffslustigen Winterferkelchen. Jetzt wird’s dem Ferkelchen zu dumm, es wirft den Märchenerzähler um, da setzte sich der Märchenerzähler, es war Speckbein, an den Wegrain, wo das Schwein kam. Karka der Recke sagt: „Nun, Bruder, ich habe meinen Spaß gemacht, und damit soll’s gut sein. Aber frag mal eine Gans, ob ihr die Füße nicht kalt werden. Ich reite das dritte Jahr, um meine Auserwählte zu bekommen. Wohlan, hilf mir und hör zu, was ich dir erzähle: Meine Braut hat vierzig Schmiede; sobald die vierzigmal zugeschlagen haben, werden auf der Stelle vierzig Kriegssoldaten geboren, ausgerüstet und kampfbereit. Und dann hat meine Braut noch vierzig Mädchen; die sitzen in einem 283
Zimmer, jedes Mädchen hat vierzig Nadeln, und sobald eine mit einer Nadel einen Stich gemacht hat, ist auch schon ein Soldat kampfbereit. Ich werde die Soldaten erschlagen, und du wirst die Schmiede niederhauen; ich werde die Braut lieben, und du wirst die Mädchen erschlagen.“ Iwan Zarewitsch sagt: „Sterben will ich mit dir, Bruder!“ Sie saßen auf und ritten los. Sie kamen ins Jungfrauenreich zur Jungfrau Zar. „Bruder Iwan Zarewitsch, komm nicht zu nah heran, sondern geh durch die Zimmer, hau die Mädchen nieder, erschlag die Schmiede und komm mir nicht zu nahe!“ Sie waren also losgeritten und bald an ihr Ziel gekommen. Sie begannen, die Streitmacht niederzuhauen, die schönen Mädchen zu erwürgen, und nahmen die Jungfrau Zar gefangen. Das war dort kein Bierbrauen, das war kein Weinbrennen, sondern es ging darum, die Jungfrau Zar gefangenzunehmen. Die Schmiede erschlugen sie, die schönen Mädchen hieben sie nieder, und die Jungfrau Zar nahmen sie gefangen. Karka der Recke nahm sie und drückte sie fest ans Herz, und sie machten sich mit ihr auf den Heimweg. Auf einmal merkte Karka der Recke, daß Iwan Zarewitsch nicht bei ihm war. „Ach“, sagt er, „Mutter, ich habe ihn wohl erschlagen!“ Iwan Zarewitsch aber sagt: „Ja, ja, Bruder, ich bin hier!“ Da tranken und feierten sie und waren lustig. 284
„Komm, Iwan Zarewitsch, trinken wir das dritte Glas! Ich trinke, feiere, bin lustig und habe keine Angst vor Vater und Mutter!“ „Ach, Recke Karka, der Kopf tut mir weh, ich kann nicht mehr.“ Er trinkt keinen Tee und nimmt keinen Schnaps. „Leg du mich an die frische Luft, wo sie am leichtesten ist!“ Iwan Zarewitsch denkt bei sich: „Ob Karka der Recke mir wohlwill oder nicht? Ich will doch einmal absichtlich krank werden.“ Und er wird krank und kann die Beine nicht mehr bewegen. Karka der Recke pflegte ihn wie ein kleines Kind; trug ihn in den grünen Garten und legte ihn auf eine Bettstatt aus gehobelten Brettern, wo der Wind ihn erfrischen kann. Nun liegt Iwan Zarewitsch im Garten auf der Bettstatt. „Nun, Recke Karka“, sagt Iwan Zarewitsch, „hab Dank, du hast mich Kranken wohl aufgenommen.“ Es verstrich ein wenig Zeit. Da sagt Iwan Zarewitsch: „Bruder, wir wollen Branntwein trinken.“ Karka der Recke freute sich sehr, rannte selbst nach dem Branntwein, gab ihm Schnaps und Tee zu trinken und schmeichelte ihm mit Worten: „Ach du mein lieber Bruder, wie fühlst du dich nach der Krankheit?“ „Nun, Gott sei Dank, das Alte ist noch beim alten, aber Neues ist nichts. Lange habe ich hier mit dir gefeiert, Recke Karka, hab meinen Weg verlo285
ren. Was ich mir vorgenommen habe, muß ich tun, und wohin ich muß, dorthin muß ich auch reiten.“ Karka der Recke sagt: „Wohin du’s für richtig hältst, dorthin reitest du auch.“ „Und wohin ich wollte, Bruder, dorthin reite ich auch!“ „Wenn ich dich nicht unterweise, Bruder Iwan Zarewitsch, wie du sie bekommen und wie du sie halten kannst, wirst du nicht mit dem Leben davonkommen.“ Da brach Iwan Zarewitsch in Tränen aus, wischte sie mit einem Handtuch wieder ab und sagt: „So soll’s denn sein, und leb wohl!“ Bestieg sein wackeres Pferd und ritt los. Er versetzte seinem wackeren Pferd einen Hieb, schlug es gegen die Rippen, schlug die Haut durch bis aufs Fleisch, schlug das Fleisch durch bis auf die Knochen, brach die Knochen durch bis aufs Mark – sein wackeres Pferd sprang über Berge und Täler und brachte die dunklen Wälder zwischen seine Beine. Es war ein Ritt für drei Jahre, er war in drei Stunden am Ziel. Kommt an den Ort, wohin er mußte, geht eine breite Straße entlang und fragt rechtgläubige Leute: „Wo wohnt die schöne Maria mit dem schwarzen Zopf?“ Es kommt ihm eine Alte entgegen, eine Weihbrotbäckerin, die bei der schönen Maria mit dem schwarzen Zopf wohnt und das Essen für sie bereitet. 286
„Großmütterchen Weihbrotbäckerin, sei schön friedlich! Wo kann ich die schöne Maria mit dem schwarzen Zopf treffen?“ „Was willst du von ihr, Wanjuschka?“ „Ich will sie sehen, auf den süßen Mund küssen und zur Frau nehmen.“ „Geh und kauf verschiedene Blumen, Wanjuschka, und verschiedene Wohlgerüche, und ich will gehen und sie zu Gast laden. Du, wackerer Held, leg dich aufs Sofa, schlaf aber nicht etwa, sondern halt die Ohren offen, was geschehen wird.“ Iwan Zarewitsch legte sich also hin, die Weihbrotbäckerin ging zur schönen Maria mit dem schwarzen Zopf und sagt: „Guten Tag auch, schöne Maria mit dem schwarzen Zopf. Komm doch bitte mich besuchen!“ Die schöne Maria freute sich und ging sie besuchen. Betritt ihr Zimmer, da war das Zimmer mit fremden Blumen geschmückt und mit verschiedenen Wohlgerüchen. Die schöne Maria sagt: „Woher hast du die fremden Blumen und die verschiedenen Wohlgerüche, Großmütterchen?“ „Was auf dem Meere schwimmt, kannst du nicht alles haben, und was die Leute reden, kannst du nicht alles hören. Komm, Maria, wir wollen uns setzen und uns etwas ausdenken.“ „Und was ist bei dir in der Kammer? Wer liegt bei dir auf dem Sofa, Großmütterchen?“ „Sieh doch nach.“ Die schöne Maria ging zum Sofa und fragt: 287
„Was ist das für ein Mann? Wie gern möchte ich ihn küssen l“ Die Alte hinderte sie nicht und lieg sie küssen. Sie küßte ihn. Nun, und Iwan Zarewitsch war nicht blöde, er hielt sie auf einmal fest. Er hielt sie fest, küßte sie auf ihren süßen Mund und drückte sie fest an sein Herz. Iwan Zarewitsch sagt: „Habe Dank, Großmütterchen, daß du mich hergeführt und Marjuschka zu mir gebracht hast.“ Die schöne Maria mit dem schwarzen Zopf aber sagt: „Ich will auf ewig dein sein, dein Eheweib, und mich nicht von dir trennen. Besteig dein wackeres Pferd, Wanjuschka, und nimm mich mit. Ich bleibe bei dir, Wanjuschka!“ Sie saßen auf und ritten auf Iwans wackerem Pferd davon. Die schöne Maria hatte zwölf Brüder, die kamen sie besuchen, aber die schöne Maria war nicht zu Hause. Sie fragten die Alte: „Wo ist denn unsere leibliche Schwester, die schöne Maria?“ Die Alte sagt: „Der Bösewicht Iwan Zarewitsch war hier, und sie sind fortgeritten.“ Da brachten die Brüder eine scheckige Stute mit zwölf Blessen herbei, setzten sich jeder auf eine Blesse, setzten sich und ritten los. „Wir holen ihn ein, den Bösewicht, reißen ihn in Stücke, und die schöne Maria nehmen wir ihm weg!“
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Nur wenig Zeit verging, da hatten sie ihn eingeholt und nahmen ihm die Schwester weg; ihn hackten sie in Stücke und warfen sie in die wilde Steppe. Das Blut fließt in die kühle Erde, das Fleisch hacken die Raben. Bei seinem lieben Bruder Wassili Zarewitsch aber, bei seiner jungen Frau, wich aller Glanz aus den Augen: sie sah das scharfe Messer voll Blut und sagte zu ihrem Mann: „Sieh dir einmal das scharfe Messer an: dein Bruder ist nicht mehr am Leben.“ Wassili Zarewitsch sagt zu seiner Frau: „Ach, ich weiß ja überhaupt nichts davon. Oh, er wird wohl tot sein!“ Auf dem Hofe des Zarenschlosses nun stand ein großer, großer verkrüppelter Eichbaum; in diesem Eichbaum war das Wasser des Lebens und des Todes verschlossen. War dort verschlossen und tat sich niemandem auf. Da geht Wassili Zarewitschs Frau zu dem verkrüppelten Eichbaum, weint und bittet: „Ach Väterchen, alter verkrüppelter Eichbaum, gewähre mir um Gotteslohn vom Wasser des Todes und des Lebens!“ Der Eichbaum tut sich nicht auf, und aus dem Eichbaum kommt kein Wasser. Sie ging umher und immer umher und härmte sich sehr ab: die Beine versagen ihr, und sie kann ihr stolzes Haupt nicht mehr auf den Schultern halten. Sie hatte zwei leibliche Schwestern, fromme Mädchen, die fragen sie:
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„Was bist du so abgehärmt, Schwesterchen, was bist du so traurig, Schwesterchen, was weinst du, Schwesterchen?“ Sie antwortet ihnen: „Wie soll ich nicht weinen? Speise nehme ich nicht zu mir, die dunklen Nächte schlafe ich nicht, gehe immer auf Vaters weiten Hof, zum verkrüppelten Eichbaum, alle Nächte hab ich dort gestanden, hab den verkrüppelten Eichbaum angefleht: ‚Ach Väterchen, verkrüppelter Eichbaum, gewähre mir um Gotteslohn vom Wasser des Todes und des Lebens!’“ „Und wozu brauchst du Wasser des Lebens und des Todes, Schwesterchen?“ „Ach, Schwestern, ihr kennt meinen Kummer nicht, daß mein lieber Schwager gestorben ist, Wassili Zarewitschs Bruder und auch der meine.“ „Komm, Schwesterchen, auch wir wollen mit dir zu Gott flehen und den verkrüppelten Eichbaum bitten, ob er’s uns vielleicht gewährt.“ Alle drei Schwestern machten sich auf, entboten dem Eichbaum mitternächtliche Verneigungen, vergossen Tränen aus ihren Augen und sagten zum Eichbaum: „Ach Väterchen, verkrüppelter alter Eichbaum, gewähre uns um Gotteslohn vom Wasser des Lebens und des Todes!“ Auf einmal tut sich die verkrüppelte Eiche auf, und das Wasser fließt heraus. Wassili Zarewitschs Frau füllte zwei Fläschchen und sagt: „Du mein lieber Mann Wassili Zarewitsch! Sattle doch dein wackeres Pferd und laß uns reiten, wo290
hin ich gebiete, und laß uns unseren Bruder Iwan Zarewitsch in der wilden Steppe suchen!“ Sie saßen auf und ritten los und kamen an die Stelle, wo Iwan Zarewitschs Fleisch verstreut lag. Sie sammelten das Fleisch, legten die Glieder zusammen, bestrichen sie mit Wasser des Todes und besprengten sie mit Wasser des Lebens. Iwan Zarewitsch stand auf, schüttelte sich, blickte nach allen vier Himmelsrichtungen und sagt: „Ach, wie habe ich lange geschlafen!“ Die Schwägerin antwortet ihm: „Wären wir nicht, du schliefst in alle Ewigkeit.“ „Habe Dank, Schwester, du hast dich meiner erbarmt; nun leb wohl und laß mich auch künftig nicht im Stich!“ Saß auf und ritt davon. Wir wollen das jetzt lassen und etwas anderes anfangen. Woher er also gekommen war, dort ritt er auch wieder hin. Iwan versetzte seinem wackeren Pferd einen Schlag mit der seidenen Peitsche; sein wackeres Pferd wurde böse und jagte eilends mit ihm dahin. Iwan Zarewitsch kommt in jene Gegend, wo die schöne Maria mit dem schwarzen Zopf lebte. Fand die Alte, die Weihbrotbäckerin, und die sagt zu ihm: „Iwan Zarewitsch, reite, wohin ich dich schicke: durch dreimal neun Länder, ins zehnte Reich. Ich will dich unterweisen, wie du Maria bekommen, wie du sie gewinnen kannst. Du mußt lange Zeit leiden. Reite zu ihrer Großmutter, diese Großmutter hat zwölf Töchter. Das sind Mädchen, lauter Mädchen, werden aber mit einem Male Stuten, 291
lauter Stuten. Wenn du zu der Alten auf den Hof kommst, sage zu ihr: ,Liebes Großmütterchen! Hast du nicht ein Pferd zu verkaufen?’ Die Alte wird zu dir sagen: ‚Ich habe zwölf Stuten, die sind nicht zu verkaufen, nur zu vererben. Aber ich gebiete dir, sie drei Tage zu hüten, und für die Arbeit kannst du dir das beste Pferd nehmen; hütest du sie aber nicht und treibst sie nicht heim, dann werde ich mich an deinem Fleisch satt essen und an deinem Blut satt trinken!’“ Iwan Zarewitsch denkt bei sich: „Ich will’s doch versuchen! Zwei Tode werde ich nicht erleiden, und einem kann ich nicht entgehen, und ich weiß, für wen ich verderbe.“ Er verdingte sich kurzerhand bei der Alten, und am Morgen, hüh, hüh, trieb er die Pferde auf die Weide. Trieb sie auf die grünen Wiesen. Die Alte hatte ihm einen Fladen mit einem Schlafmittel gebacken. Er nahm ihn, biß hinein und sank in einen tiefen Schlaf. Die Pferde liefen auf den Wiesen nach allen Richtungen auseinander und tauchten in den Büschen unter. Er schlief fest und blieb bis zum Abend liegen. Das erfuhr die Bienenmutter auf der Eiche und sagt zu ihren Kindern: „Fliegt los, meine Kinder, in die grünen Wiesen! Wanjuschka schläft fest, wird nicht munter. Weckt ihn und treibt seine Pferde zusammen!“ Und eine Biene war dabei, die war sehr stark; sie fliegt zu Wanjuschka und sticht ihn in sein 292
weißes Gesicht. Wanjuschka wurde munter und vergoß bittere Tränen: auch nicht ein einziges Pferd ist da, und er weiß nicht, wo er sie suchen soll, und er hat nichts heimzutreiben. Da sagt die Biene: „Nimm deine Knute, Wanjuschka, und warte hier. Wir treiben sie dir her.“ Alle Bienen versammelten sich, um über die grünen Wiesen zu fliegen, begannen zu fliegen, zu brummen, die Stuten zusammenzutreiben, und übergaben sie Wanjuschka. „Jetzt aber los, Wanjuschka, treib sie!“ Wanjuschka, nicht faul, trieb sie mit seiner Knute zu der Alten. „Hier hast du sie, Großmütterchen; ich hab deinen Befehl ausgeführt.“ „Na schön, Wanja, warte ab, was morgen sein wird.“ Am nächsten Morgen steht die Alte auf und gibt Wanjuschka den Befehl: „Hier nimm, Wanjuschka, treib sie aus und treib sie unversehrt wieder heim! Hier hast du einen Fladen für deine Arbeit.“ Er nahm den Fladen, barg ihn auf der Brust unterm Hemd, trieb die Stuten auf die grünen Wiesen, und die Stuten gehen so friedlich, rupfen Gras, schlürfen etwas Quellwasser, laufen ein wenig umher und legen sich ein bißchen hin. Wanjuschka wollte etwas essen, holte ein Stück Fladen unter dem Hemd hervor, biß kräftig hinein und war bald eingeschlafen. Er denkt, nicht lange – da hatte er bis zum Abend geschlafen. Die Stu293
ten aber verschwanden in den Büschen, in den Büschen und den Mauselöchern. Da war auf einmal die Mäusemutter, die lief über den Weg und war dick und drall. Die alte Maus befahl, Wanjuschka zu wecken und die Stuten zusammenzutreiben. Die alte Maus kam herbeigelaufen. „Wanjuschka, die Alte wartet deiner im Hof, und du machst uns hier Sorgen! Du mußt aufstehen und die Stuten heimtreiben.“ Wanjuschka stand auf, schüttelte sich, vergoß bittere Tränen und sagte: „Ach du mein Mütterchen, alte Maus! Du solltest meiner Guttat gedenken und die Stuten hertreiben!“ Die alte Maus schickte ihnen alle jungen Mäuse nach, trieb alle Stuten zusammen, und Wanjuschka trieb sie heim. „Hier hast du sie, Großmütterchen, zwei Tage habe ich schon gehütet.“ „Wanjuschka, treib morgen noch einmal aus. Morgen ist’s weiter, und du mußt mehr Brot mitnehmen.“ Wanjuschka stand zeitig auf, machte sich auf den Weg und trieb aus. Er bekam Hunger, biß vom Fladen ab und schlief ein; schlief bis zum Abend. Die Pferde tauchten in den Büschen unter, aber der Krebs sah’s, trieb sie alle zu Wanjuschka zurück und weckte ihn. Wanjuschka trieb die Stuten heim. „Jetzt ist’s genug, Großmütterchen, ich bin nicht dein Diener, und für die Arbeit will ich Geld, und wenn kein Geld, dann Mädchen!“ 294
„Wähl dir irgendeine Stute aus, Wanjuschka!“ (Es waren aber keine Stuten, sondern schöne Mädchen.) Wanjuschka legte sich schlafen, und von den zwölfen kommt die älteste Schwester zu ihm und läßt ihn wissen: „Woran denkst du, Wanjuschka?“ „Weiß selber nicht, woran ich denke.“ „Nimm mich zur Frau; ich will dich Gutes lehren.“ Wanjuschka gab ihr die Hand und sagte: „Du sollst für immer meine Frau sein!“ „Paß auf, Wanjuschka, sei gescheit: wir sind zwölf – elf Närrinnen, die jüngste aber ist ein Schlaukopf. Man wird uns alle an die Krippe stellen und allen Hafer vorschütten: wir werden alle fett und glatt sein; unsere jüngste Schwester aber ist eine schnelle Rennerin, die wird in der Krippe liegen. Die nimm und sage zur Großmutter: ‚Hier, die dürre ist mir recht!’ Heb sie aus der Krippe, reib sie mit einem Strohwisch ab, binde sie an deinen Gürtel und sag zur Großmutter: ,Damit genug und leb wohl!’“ Das machte Wanjuschka auch. Er bestieg sein Pferd und ritt davon zu der alten Weihbrotbäckerin; kam an und fragt: „Wie steht’s, Weihbrotbäckerin, wie kann ich die schöne Maria mit dem schwarzen Zopf sehen? Denkt sie noch an mich?“ Die sagt: „Wir haben geglaubt, du bist nicht mehr am Leben, und wer von uns beiden dich erwähnen wür295
de, dem sollte es den Kopf kosten. Nun leg dich aber ein Weilchen hin, Wanjuschka, ich will zu ihr gehen.“ Die Weihbrotbäckerin kommt zur schönen Maria: „Guten Tag, Marjuschka!“ „Guten Tag, Großmütterchen!“ „Komm, Marjuschka, spielen wir ein wenig Karten!“ Sie spielten also ein wenig. Die Alte bekam die Dame, Maria aber den König. Da sagt die Alte: „Was für ein schöner König das ist, Marjuschka.“ „Als wär’s Iwan Zarewitsch, Großmütterchen!“ „Ach, Marjuschka, das ist wohl wahr, aber auch schlimm. Gib mir mal ein stumpfes Beil, ich will dir den Kopf abschlagen. Wir haben doch ausgemacht, wer als erster Iwan Zarewitsch erwähnt, den soll es den Kopf kosten.“ „Nun ja. Großmütterchen, laß es nur gut sein. Hier ist niemand, und wenn er hier wäre, ich würde mich von ihm nicht trennen.“ „Wanjuschka liegt auf dem Sofa, Marjuschka!“ Marjuschka rannte hin, erblickte Wanjuschka und küßte ihn auf den süßen Mund. „Nun, Wanjuschka, wenn du stirbst, will ich’s mit dir!“ „Bleib ich nur am Leben, Marjuschka, wirst auch du am Leben bleiben!“ Sie bestiegen die Stuten und ritten los.
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Nun kommen ihre leiblichen Brüder und fragen die Alte: „Und wo ist unsere Schwester?“ Die Alte sagt: „Iwan Zarewitsch hat sie entführt.“ „Wir haben ihn in Stücke gehauen, aber anscheinend zu wenig!“ Die zwölf Brüder setzen sich auf die zwölf Blessen, setzen sich und flogen davon wie ein junger edler Falke. Sie kamen Wanjuschka näher. Wanjuschka schlug der Stute die Schenkel. Da fuhr die Stute in die Höhe wie ein weißer Schwan. Die scheckige Stute höher, aber die Stute unter Iwan noch höher. Sie kamen zum Väterchen, das Väterchen aber war schon ganz alt. Iwan Zarewitsch sagt: „Guten Tag, Väterchen!“ Der freute sich, warf sich Wanjuschka an die weiße Brust, und sie küßten sich. „Ach, das ist gut, Wanjuschka, daß du in deine Heimat zurückgekommen bist.“ Das ist des Märchens Schluß, erzählt hat’s ein wackrer Bursch, bringt uns Burschen Bier im Glas, fürs Märchenerzählen Schnaps im Glas.
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33 Andrej der Jäger In irgendeinem Zarenreich, in irgendeinem Staat lebte einmal ein Zar, und der war ledig. Das heißt, er hatte zwölf Jäger bei sich, und einer war der Jäger Andrej; der schoß einen Falken im Fluge und war Oberjäger. Und ihre Jagd verlief wie folgt: Sechs Tage arbeiteten sie für den Zaren, den siebenten Tag aber für sich persönlich. So hatte Andrej fünf Jahre bei dem Zaren zugebracht und immer bei der gleichen Arbeit. Da schien ihm, der Verdienst sei zu klein, er wollte fortgehen. Dann dachte er: „Ich will doch noch diesen Monat bleiben, will noch einmal für mich selbst jagen, dann gehe ich fort.“ Und so geht er einmal für sich auf die Jagd, an einem siebenten Tag. Ging hinaus, lief den ganzen Tag im Wald umher und sah niemanden. Dann kommt er schon in die Nähe der Stadt, da sieht er: ein Falkenweibchen sitzt auf einem Baumstamm. „Dann wollen wir wenigstens die schießen.“ Er schoß also, verwundete sie, und sie fiel zu Boden. Er hob sie auf und wollte ihr den Kopf abdrehen, da begann das Falkenweibchen mit Menschenstimme zu sprechen und sagt:
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„Hört zu, Jäger Andrej, reißt mir nicht den Kopf ab, sondern tragt mich nach Hause. Wenn du mich nach Hause gebracht hast und dich hinsetzt, um Tee zu trinken, lege mich aufs Fensterbrett. Dann werft mich zum Fenster hinaus und paßt auf, was geschieht. Wollt Ihr, dann nehmt’s für Euch, wenn nicht, dann gebt’s den Leuten.“ Als er nun seinen Tee trank, legte er sie aufs Fensterbrett, dann warf er sie zum Fenster hinaus. Da wurde auf einmal ein Mädchen daraus, schön wie eine Blume. Er sieht sie an und bringt kein Wort heraus. Sie fragte: „Nun, wie steht’s, Jäger Andrej, gibst du mich den Leuten, oder nimmst du mich für dich?“ „Für mich nehme ich dich.“ „Für dich, nun gut, nur versteh mich zu halten!“ Sie kam herbei und lebte von nun an bei ihm. Sie hatten eine Woche miteinander gelebt, da sagt sie: „Andrej, Ihr lebt gewiß ärmlich?“ „Ja, wie du selber siehst.“ Da sagt sie: „Hör zu, Andrej, hast du unter deinen Bekannten welche, die dir mit hundert Rubeln aushelfen würden, dann geh hin und bitte sie. Wenn du dann dieses Geld hast, geh in ein Geschäft und bring mir hundert Arschin5 Seide, ich werde daraus einen Teppich sticken.“ 5
Ehemaliges russisches Längenmaß = 71,1 cm. (Anm. d. Übers.)
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Andrej ging sogleich zu einem bekannten Kaufmann, der hieß natürlich auch Iwan. „Hört“, sagt er, „gebt mir bitte zwanzig Rubel.“ „Wozu brauchst du sie?“ „Du weißt doch selber, bin in Not.“ „Was willst du schon mit zwanzig Rubel, da, ich geb dir vierzig.“ Er bedankte sich bei ihm und ging zu einem anderen bekannten Kaufmann. „Höre, Freund, gib mir zwanzig Rubel, ich brauch sie nötig.“ „Was willst du schon mit zwanzig Rubeln, Andrej; hier, ich gebe dir vierzig.“ Er nahm sie und hatte schon achtzig; nun brauchte er noch zwanzig. Er ging hinaus und sucht einen dritten Kaufmann auf. „Hör zu, Freund, hilf mir mit zehn Rubeln aus.“ Der gab ihm zwanzig. Nun hatte er hundert. Als er das Geld hat, geht er in ein Geschäft, kauft hundert Arschin Seide und bringt sie seiner Frau: „Hier, schöne Jelena, ich hab die Seide gebracht.“ Da sagt sie zu ihm: „Von wem hast du das Geld genommen, von einem Kaufmann oder von dreien, und wieviel hat dir jeder gegeben?“ „Beim ersten, dem Kaufmann Iwan, habe ich um zwanzig gebeten, er hat mir vierzig gegeben, beim zweiten habe ich um zwanzig gebeten, er hat mir vierzig gegeben, beim dritten zehn, er hat mir zwanzig gegeben, und so habe ich hundert Rubel.“ 300
„Hör zu, Andrej, wenn du zu Gelde kommst und es zurückgibst, gib auch das Doppelte. Von wem du zwanzig erbeten hast, und er gab vierzig, dem gib achtzig, und so bei jedem.“ Andrej ging auf Arbeit, für sechs Tage, und sie machte sich an ihre Arbeit, begann den Teppich zu sticken. Als Andrej sechs Tage auf der Jagd gewesen war, kommt er heim, und in dieser Zeit hatte sie den Teppich fertiggestickt. Andrej kommt, versteht sich, am Sonnabend, und am Sonntagmorgen gibt sie ihm den Teppich und sagt: „Hier, Andrej, geh auf den Markt und verkauf den Teppich; setz aber keinen Preis fest, was man dir gibt, das nimm!“ Er nimmt den Teppich und will gehen, da sagt sie: „Hör zu, Andrej, wenn du das Geld bekommen hast, zahl doppelt soviel zurück, wie sie dir gegeben haben.“ Andrej der Jäger nimmt den Teppich und geht los zum Markt. Kommt auf den Markt, hat den Teppich mit, rollt ihn auf, und es versammelten sich so viele Leute, diesen Teppich zu betrachten, daß schon kein Durchkommen mehr war. Und keiner bietet einen Preis, alle sehen ihn nur an. Und auf diesem Teppich war folgendes abgebildet: ein Wald war darauf, Flüsse, Seen, das Meer, Vögel, Fische und alles, was es auf der Welt gibt. Da stehen sie nun alle. Danach fügte es sich, daß der Leiboffizier des Zaren gefahren kommt:
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„Nun, was steht ihr hier zusammen, macht Platz!“ Natürlich drängte er sich gewaltsam durch die Menge und bestaunte den Teppich. Der Leiboffizier betrachtete den Teppich drei Stunden lang, und er gefiel ihm sehr, und er fragte: „Wem gehört dieser Teppich, und wieviel kostet er?“ Da tritt Andrej zu dem Leiboffizier und sagt: „Das ist mein Teppich.“ „Und wieviel kostet er?“ „Was ihr geben wollt, das nehme ich.“ Da sagt der Leiboffizier des Zaren: „Also hör zu, Andrej, ich will dir dreißigtausend geben, ist das genug?“ „Genug.“ Er holt das Geld aus der Tasche, gibt’s ihm und geht fort. Da ging Andrej zu dem ersten Kaufmann und gibt ihm achtzig Rubel; der Kaufmann fragt: „Warum denn achtzig, Andrej? Ich habe dir vierzig gegeben.“ „Weil ich euch um zwanzig bat und ihr mir das Doppelte gegeben habt, deswegen will ich auch das Doppelte zahlen.“ So auch beim zweiten Kaufmann, so auch beim dritten. Die Kaufleute bedankten sich bei Andrej, und er bringt das restliche Geld nach Hause, zu seiner Frau. „Hier, Lenotschka, ich hab dir das Geld gebracht.“ „Und wieviel hast du bekommen?“ 302
„Dreißigtausend.“ „Hast du das Geld zurückgezahlt?“ „Hab’s zurückgezahlt.“ „Nun, Andrej, siehst du jetzt, was ich verdient habe?“ „Ja, ganz ordentlich.“ „Jetzt kannst du ein schönes Leben führen.“ Als nun dieser Leiboffizier des Zaren den Teppich an die Wand gehängt hat, muß doch gerade der junge Zarewitsch zum Leiboffizier kommen und den Teppich betrachten. Als der junge Zarewitsch den Teppich betrachtete, gefiel er ihm sehr, und er fragte: „Woher hast du diesen Teppich, Leiboffizier? Für wieviel hast du ihn gekauft?“ „Ich habe ihn auf dem Markt gekauft und dreißigtausend bezahlt.“ „Bei wem?“ „Bei Andrej dem Jäger.“ „Verkauf ihn mir, ich will dir fünfunddreißigtausend geben.“ Der aber sagt: „Bitte, nimm ihn, ich werde zu Andrej gehen und einen neuen bestellen.“ Er bekam also das Geld, und am Abend, gegen zehn Uhr, geht er zu Andrej einen Teppich bestellen. Als er zu Andrej kommt, hat sich Andrej schon schlafen gelegt, und die Tür war verschlossen. Er kommt also hin und klopft. Andrej sagt: „Wir müssen aufmachen, Lenotschka, da ist wohl jemand. Ich will gehen, mich anziehen und
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aufmachen, wahrscheinlich jemand von den Dienern des Zaren.“ Sie sagt: „Andrej, du hast dich schon zur Ruhe gelegt, dich ausgezogen, schlaf du also, ich will gehen und selber aufmachen.“ Sie kommt zur Tür und öffnet. Als sie nun die Tür aufgemacht hatte, blickte der Leiboffizier des Zaren sie an; den einen Fuß hat er über die Schwelle gesetzt, aber den anderen setzt er nicht darüber, ist ganz stumm und kann kein Wort mehr sprechen. Da fragt sie ihn: „Weswegen seid ihr gekommen, Leiboffizier des Zaren, braucht ihr ihn für euch selber, den Andrej, oder für den Zaren? Ihr wißt ja selbst, er hat sich schlafen gelegt, und morgen früh muß er auf Arbeit für den Zaren gehen.“ Er aber schwieg immer weiter. Lange wartete sie auf eine Antwort, schließlich konnte sie nicht länger warten, drehte ihn an den Schultern herum und schloß die Tür. Er schwieg noch immer und machte sich auf den Heimweg. Als er schließlich über hundert Saschen weg war, fiel ihm ein: „Ach, ich war doch gegangen, einen Teppich zu bestellen, und hab’s vergessen; nun, der Andrej hat eine schöne Frau, ein wahres Bild.“ Wie er zu Hause ist, kommt gerade der Zarewitsch. „Nun, wie steht’s, hast du den Teppich bestellt?“ „Eben nicht!“ „Warum nicht?“ 304
„Ich hatte andres als den Teppich im Sinn; Andrej hat eine so schöne Frau, ich hab mich selbst ganz vergessen, eine solche Schönheit ist das!“ Da sagte der Zarewitsch zu ihm: „Schön, da werde ich selber gehen und den Teppich bestellen und mir ansehen, was für eine Frau Andrej hat.“ So ging der junge Zarewitsch gegen acht Uhr zu Andrej. Als er hinkam, hatte sich Andrej schon ausgezogen und will sich gerade wieder schlafen legen. Die Tür ist selbstverständlich verschlossen. Als geklopft wurde, sagt er, der Andrej: „Schöne Jelena, ich muß an die Tür; ich zieh mich gleich an und gehe.“ „Nein, nein, Andrej, Ihr habt Euch schon ausgezogen, ich gehe selbst aufmachen.“ Als Jelena zur Tür kam und die Tür aufmachte, setzte der junge Zarewitsch einen Fuß über die Schwelle; und wie er ein solches Bild vor sich sah, erstarrte er und blieb stehen. Sie sah ihn lange an, dann fragte sie: „Was ist, junger Zarewitsch, welche Bitte habt ihr an Andrej, sagt’s bitte, ich warte. Ihr wißt selbst, Andrej muß ausruhen und früh auf Arbeit gehen.“ Er brachte kein Wort heraus, der junge Zarewitsch, blickte sie nur immer an. Sie dreht ihn an den Schultern herum: „So geht, junger Zarewitsch, wenn ihr nichts sagen könnt. Andrej muß schlafen.“ Und er ging hinaus. Als er ein kurzes Stück gegangen war, fiel ihm ein: 305
„Ei, ei, was für eine schöne Frau der Andrej hat; ich muß sie Andrej um jeden Preis wegnehmen, oder vielleicht gibt er sie mir im guten.“ Als er nach Hause kommt, versammelt er seine Bojaren und beginnt mit ihnen zu reden: „Auf welchem Wege kann man Andrej die Frau wegnehmen: ihn hinrichten geht nicht, die Frau gewaltsam wegnehmen geht nicht, nun, mit einem Wort, man muß irgendeinen Auftrag aussinnen.“ Und alle waren einverstanden, ihm einen solchen Auftrag zu geben, daß er auf seine Frau verzichtet oder sie durch diesen Auftrag freiwillig abtritt. Nun begannen sie nachzudenken. Lange dachten sie nach, es fiel ihnen aber nichts ein. Schließlich übernahm es einer seiner Höflinge, für zehntausend Rubel innerhalb von drei Tagen eine Aufgabe für ihn zu ersinnen. .Wenn du was weißt, gebe ich dir das Geld.“ Und der Zarewitsch gibt ihm den Auftrag. Holt das Geld heraus. „Wenn Euch nichts einfällt, dann ist’s am dritten Tag um Euern Kopf geschehen.“ Und mit diesen Worten ging er aus dem Zimmer. Der Höfling dachte zwei Tage nach, es fiel ihm nichts ein, und er glaubt sich in Gefahr. Am dritten Tag ging er in den Wald: „Fällt mir was ein, dann fällt mir was ein, wenn nicht, häng ich mich auf, um meinen Kopf ist’s sowieso geschehn.“ Er geht also im Wald umher, betrübt und traurig, und es fällt ihm nichts ein, am Abend aber 306
nach Hause zu gehen, hat gar keinen Zweck. Auf einmal begegnet ihm eine Alte und sagt zu ihm: „Nun, lieber Mann, so in Gedanken?“ Er antwortet ihr grob: „Laß mich gefälligst in Ruhe!“ Ging vorbei, aber besann sich: „Ich sollte doch die Alte fragen, vielleicht weiß sie etwas.“ – „Vergib das derbe Wort, Großmütterchen, vielleicht weißt du, worüber ich nachdenke?“ Da sagt sie zu ihm: „Hör zu, mein Lieber, und merk dir für die Zukunft: an alten Leuten rennt man nicht vorbei. Geh und sag dem Zaren: Andrej soll durch dreimal neun Länder ziehen, ins dreimal zehnte Reich, auf die Insel Bujan, und soll das Lamm mit dem goldenen Kopf herbringen. Man soll ihm ein Schiff geben, das leckt, und eine Besatzung, die trinkt; geht er dorthin, kommt er nicht zurück. Und als Frist soll man ihm vier Monate geben, nicht mehr; er wird auf seine Frau verzichten.“ Da bedankte sich der Höfling bei der Alten und sagt: „Danke, ich will gleich gehen.“ Kommt zum Zaren und sagt: „Eure Majestät, ich habe etwas ausgedacht. Man soll Andrej folgenden Auftrag geben: Andrej soll durch dreimal neun Länder, durch dreimal neun Leiden ziehen, ins dreimal zehnte Zarenreich, auf die Insel Bujan, und soll das Lamm mit dem goldenen Kopf herbringen. Man soll ihm ein
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Schiff geben, das leckt, und eine Besatzung, die trinkt; geht er dorthin, kommt er nicht zurück.“ Da sagte der Zarewitsch zu ihm: „Nun, schönen Dank!“ Sogleich schickt er einen Diener, Andrej zu holen. „Ruf ihn her! Was wird er mir zu sagen haben?“ Als der Diener hinkommt und verkündet, der Zar läßt Euch rufen, überlegt er: „Weswegen läßt mich der Zar rufen?“ Er sagt zur schönen Jelena: „Nun, ich weiß nicht.“ Jelena sagt: „Hör zu, Andrej, geh zum Zaren, er hat einen Auftrag für dich, ich weiß. Wenn du zum Zaren kommst, wird er zu dir sagen: ‚Hör zu, Andrej, gibst du mir deine Frau, dann gebe ich dir keinen Auftrag und sage nichts. Wenn du sie nicht hergibst, bekommst du einen Auftrag.’ Wenn du hinkommst, dann sag ihm: ‚Schön, beladet ein Schiff mit Wein und Brot.’ Und laß dich mit ihm auf keine andere Frist als vier Monate ein.“ Unser Andrej ging also zum Zaren. Kommt zum Zaren und begrüßt ihn. „Hör zu, Andrej, was ich dir zu sagen habe. Gib mir deine Frau. Wenn du sie hergibst, sage ich dir nicht, welchen Auftrag ich für dich habe; wenn du sie nicht hergibst, bekommst du einen Auftrag.“ Andrej antwortet dem Zaren wie folgt: „Ich habe für mich geheiratet. Eure Majestät, und nicht für andere Leute, und ich bin nicht einverstanden. Beladet ein Schiff mit Brot und Wein.“ 308
Sie machten mit ihm eine Frist von vier Monaten aus. „Wenn du’s nicht schaffst, kommt dein Kopf von den Schultern“, bestimmte der Zar. Mit diesen Worten ging er aus dem Zimmer. „Nun“, denkt er, „meinen Kopf werde ich nicht lange mehr tragen, in vier Monaten kann ich nichts holen.“ Andrej kommt nach Hause und weint bittere Tränen. „Nun, Jeletschka, ich werde dich nicht wiedersehen.“ Da antwortet sie ihm: „Geh nur, Andrej, das ist ja kein Auftrag, sondern ein Aufträgchen, der Auftrag kommt erst noch. Wir wollen essen, leg dich schlafen, und der Morgen ist klüger als der Abend.“ Sie aßen also ihr Abendbrot; sie legte sich mit ihm schlafen, schlief ein wenig, ruhte bis Mitternacht, stand dann auf, zog aus der Tasche ein Zaubertuch und winkte mit ihm. Da sprangen drei Burschen heraus: „Welchen Dienst sollen wir für dich tun, schöne Jelena?“ „Hört zu, Burschen, was es zu tun gibt: Ihr müßt innerhalb von zwei Stunden durch dreimal neun Meere, durch dreimal neun Leiden eilen ins dreimal zehnte Reich, auf die Insel Bujan, und von dort das Lamm mit dem goldenen Kopf herbringen.“ Die Burschen brachten nach zwei Stunden das Lamm mit dem goldenen Kopf an, sie nimmt’s, 309
packt’s in eine Kiste, legt sie an ihr Kopfende und legt sich schlafen. Sie schliefen bis sechs Uhr. Jelena stand zuerst auf, machte den Samowar heiß und weckte ihn dann: „Andrej, steh auf, du mußt vor der Reise noch etwas trinken und essen.“ Als Andrej etwas getrunken hatte, machte er sich zur Fahrt bereit und brach in Tränen aus. „Jeletschka, auf Wiedersehen, ich werde dich nicht mehr sehen!“ „Andrej, weine nicht, du glaubst, der Zar kriegt mich, nein, der kriegt mich sowenig zu sehen wie seine eigenen Ohren.“ Sie gibt ihm das Kistchen. Da nimmt Andrej das Kistchen: „Wenn du auf dem Schiff bist, werden zwei Monate vergehen, und es wird stilles Wetter sein. Während dieses Wetters mach die ganze Besatzung betrunken, so daß auch nicht einer nüchtern ist, und wende das Schiff. Wenn du zurückkommst, nun, begreife doch, in diesem Kistchen ist das Lamm mit dem goldenen Kopf; das gibst du dem Zaren.“ Nun nahm er Abschied und brach in Tränen aus. Sie nimmt ihr Tuch aus der Tasche, wischt die Tränen ab und sagt: „Nun geh, Andrej, hab keine Angst, ich werde nirgendshin verschwinden.“ Nach diesen Worten ging Andrej zum Hafen. Kaum war Andrej fort, da schickte der Zarewitsch eine Abteilung Soldaten zu der schönen Jelena. Die suchten lange nach ihr, durchwühlten 310
das ganze Haus, hoben die Dielenbretter in die Höhe, konnten sie nicht finden und meinten, Andrej habe sie mitgenommen. Andrej kommt nun zum Hafen, da war das Schiff schon bereit. Er besteigt das Schiff, und sie fahren übers Meer. Ganze zwei Monate zog er über das Meer, dann trat eine Windstille ein, und er sagt: „Wißt ihr was, Burschen, aus Anlaß des schönen Wetters wollen wir zusammen eins trinken.“ Und es begann bei ihnen ein großes Trinkgelage. Als er sie alle betrunken gemacht hatte und es auf dem Schiff still war, trat er hinters Ruder und wendete vorsichtig das Schiff. Es wehte ein günstiger Wind, und er sagt: „Hört zu, Burschen, kann jemand von euch ans Ruder gehen?“ „Hör mal, Jäger Andrej, aufstehen können wir, nur der Kopf tut weh.“ „Nun ja, da müssen wir einen zum Nüchternwerden trinken.“ Sie tranken ein wenig und fuhren dann weiter, setzen ihren Weg fort. Sie fahren also, das Wetter ist sehr schön, und es weht ein günstiger Wind. Sie fuhren und fuhren, und auf einmal näherten sie sich ihrem Land. Als sie in ihrem Land angekommen sind, fragt ihn die Besatzung: „Nun, Jäger Andrej, wo sind wir gewesen, weswegen sind wir ausgezogen, wie haben wir nur immer getrunken, weswegen sind wir zurückgekommen in unser Land, haben wir das mitge311
bracht oder richtiger, haben wir bekommen, weswegen wir ausgezogen sind?“ Er aber antwortet ihnen: „Ja, wie denn, Burschen, könnt ihr euch wirklich nicht erinnern?“ „Wie sollen wir uns erinnern, wo wir alle betrunken waren.“ „Wir haben’s bekommen.“ „Na, Gott sei Dank!“ Mit diesen Worten gehen sie an Land. Sobald sie an Land sind, begegnet ihnen der junge Zarewitsch, den Säbel in der Hand, und geht auf ihn zu. Als Andrej den Zarewitsch begrüßt hat, sagt der: „Nun, wie steht’s, Andrej, hast du’s bekommen?“ „Hier, ihr könnt selber nachsehen!“ Und gibt ihm das Kistchen. Der Zarewitsch nahm’s und ging nach Hause. Und Andrej ging auch nach Hause. Wie er sich seinem Hause nähert, kommt Jelena auf die Treppe herausgelaufen, umarmt ihn, küßt ihn und führt ihn ins Zimmer, der Samowar stand schon bereit. Da setzten sie sich, um Tee zu trinken. Jeletschka fragt: „Nun, Andrej, wie war’s?“ „Es ist ganz gut gegangen.“ „Du mußt noch ein zweites Mal ausziehen.“ Es waren noch keine zwei Tage vergangen, da erfuhr der junge Zarewitsch, daß bei Andrej die Frau ist. „Um jeden Preis muß ich ihm seine Frau wegnehmen!“ 312
Er rief jenen Höfling, er solle ihm eine andere Aufgabe ausdenken. Der Höfling sagt: „Schön, Eure Majestät, ich werde bald etwas ausgedacht haben.“ Und er geht wieder, jene Alte zu suchen. Geht durch den Wald. Sobald er die Alte erblickt hatte, blieb er gleich stehen. „Nun, mein Freund, wie steht’s, war Andrej dort?“ „Ja, er war dort.“ „Nun, Andrej zu betrügen ist nicht schwer, aber seine Frau betrügt man nicht so schnell.“ „Nun, denk jetzt einen anderen Auftrag für ihn aus, Großmütterchen.“ Die Alte antwortete: „Schön, ich hab bald etwas ausgedacht. Andrej soll wieder durch dreimal neun Länder, durch dreimal neun Meere ins dreimal zehnte Zarenreich ziehen, auf die Insel Bujan, und soll das Schweinchen mit den goldenen Borsten herbringen. Man soll ihm eine Besatzung geben, die trinkt, und ein Schiff, das leckt. Geht er dorthin, kommt er nicht zurück.“ Mit diesen Worten kam der Höfling zum Zarewitsch. „Eure Majestät, ich habe wieder etwas ausgedacht: Andrej soll durch dreimal neun Länder, durch dreimal neun Leiden ziehen, ins dreimal zehnte Reich, auf die Insel Bujan, und soll das Schweinchen mit den goldenen Borsten herbringen. Man soll ihm eine Besatzung geben, die
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trinkt, und ein Schiff, das leckt. Und als Frist vier Monate, nicht mehr.“ Bald ruft er nun Andrej dringend zum Zaren. Der sagt zu Jeletschka: „Wieder irgendwas, irgendein Unheil droht mir, man ruft mich wieder zum Zaren.“ Sie sagt: „Sag dem Zaren, sie sollen wieder ein Schiff mit Wein und Brot beladen. Du weißt doch selber, du hast mich für dich genommen und nicht für andere Leute, nun versteh mich auch zu hüten!“ „Was wollt Ihr von mir, Eure Majestät?“ Der Zar sagt zu ihm: „Hör zu, Andrej; wohin steckst du deine Frau, wenn du fortgehst?“ „Sie ist zu Hause bei mir.“ „Gib sie mir, sonst gebe ich dir wieder einen Auftrag.“ „Nein“, antwortet er, „ich gebe sie nicht her. Ich habe für mich selber geheiratet.“ „Schön. Wenn du sie mir also nicht geben willst, dann gebe ich dir den Auftrag, durch dreimal neun Meere, durch dreimal neun Länder zu ziehen, ins dreimal zehnte Zarenreich, auf die Insel Bujan, und bring mir das Schweinchen mit den goldenen Borsten. Wir geben dir eine Frist von vier Monaten. Bringst du’s nicht her, kommt dein Kopf von den Schultern.“ Da antwortet ihm Andrej: „Na schön, Eure Majestät, beladet ein Schiff mit Wein und Brot, ich werde bereit sein.“
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Mit diesen Worten ging Andrej hinaus und nach Hause. Wie er zu Jeletschka kommt, fragt ihn Jeletschka: „Nun, was ist, Andrej?“ „Wieder ein Auftrag dorthin, wie das erste Mal.“ „Schon gut, Andrej, sei nicht traurig, der Morgen ist klüger als der Abend. Das alles, Andrej, ist noch kein Auftrag; wenn der dritte Auftrag kommt, bei dem müssen wir uns Gedanken machen.“ Da aßen sie ihr Abendbrot und legten sich schlafen. Sie schlief mit ihm bis zwölf Uhr. Um zwölf steht sie auf, zieht ihr Zaubertuch hervor, winkt damit, da erscheinen die drei Burschen und verneigen sich vor ihr. „Was befiehlst du zu tun, Jeletschka?“ „Hört zu, Burschen: Eilt innerhalb von zwei Stunden ins dreimal neunte Zarenreich, in den dreimal zehnten Staat, auf die Insel Bujan, und bringt von dort das Schweinchen mit den goldenen Borsten.“ Die Burschen verneigten sich und rannten los. Die zwei Stunden waren noch nicht einmal vergangen, da kamen sie zurück und brachten das Schweinchen angeschleppt. Sie nimmt das Schweinchen, verpackt es in eine Kiste und legt sich schlafen. Stand um sechs auf, machte den Samowar heiß und weckte Andrej: „Steh auf, Andrej, du mußt noch etwas trinken, etwas essen und dich auf den Weg machen.“ Andrej trank den Tee, zog sich an und brach in Tränen aus. 315
„Nun, Jeletschka, wahrscheinlich werde ich dich nicht wiedersehen.“ „Weine nicht, Andrej, es wird nichts geschehen.“ Als er angezogen war, gibt sie ihm die Kiste: „Hier, Andrej, nimm diese Kiste, darin ist das Schweinchen mit den goldenen Borsten. In zwei Monaten mach die Besatzung betrunken, wende das Schiff und komm zurück; du brauchst nirgendshin zu ziehen, du hast alles in der Kiste.“ „Und wird der Zar dich finden?“ „Nein, er wird mich nicht finden; er kriegt mich genausowenig zu sehen wie seine eigenen Ohren.“ Als Andrej fortgefahren war, begab sich der Zarewitsch zu ihm nach Hause, wühlte alles durch, hob die Fußböden in die Höhe, nahm die Öfen auseinander, durchwühlte alles, was es zu durchwühlen gab, doch sie war nicht da. „Wahrscheinlich hat Andrej sie mitgenommen“, denkt er. Andrej hatte sich also nach dem Schiff aufgemacht. Kommt hin, besteigt das Schiff, und so machten sie sich auf die Reise. Sie fuhren zwei Monate, bis eine Windstille eintrat, das heißt ruhiges Wetter. Als das Wetter ruhig geworden war, machte er seine ganze Besatzung wieder betrunken, und als es auf dem Schiff schon still war, geht er ans Ruder, wendet das Ruder und fängt dann an, die Besatzung aus dem Schlaf zu wekken:
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„Steht auf. Freunde, es muß jemand, wenn möglich, steuern!“ „Steuern ist gut, Herr, aber der Kopf tut so weh.“ „Na schön, dann trinkt eins auf euren Rausch!“ Nun näherten sie sich ihrem Land. Immer näher kommt ihr Land, und sie fangen wieder zu fragen an: „Jäger Andrej, wie steht’s, haben wir das bekommen, weswegen wir ausgezogen sind?“ „Haben’s bekommen.“ „Na schön, das ist gut.“ „Könnt ihr euch wirklich nicht erinnern?“ „Wie sollen wir uns erinnern, wo wir völlig betrunken waren.“ „Haben’s bekommen.“ Als sie nun angelegt hatten, gingen alle an Land, und schon kommt der junge Zarewitsch mit seinem Schwert und fragt: „Nun, wie steht’s, Andrej, hast du’s bekommen?“ „Hab’s bekommen. Ihr könnt’s nehmen, Eure Majestät; hab’s ausgeführt.“ Und ging nach Hause. Kaum ist er am Haus, da kommt Jeletschka auf die Treppe herausgesprungen, küßt ihn und führt ihn in die Stube. Der Samowar war schon bereit, und sie setzten sich an den Tisch. Nun trinken sie Tee, und sie fragt: „Nun, Andrej, wie war’s?“ „Es ist ganz gut gegangen.“
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„Nun, das ist recht, und so wird’s auch künftig sein.“ Noch waren keine zwei Tage vergangen, da erfuhr der Zarewitsch schon, daß bei Andrej die Frau ist. Er ließ den Höfling suchen, damit er eine dritte Aufgabe ausdenken und Andrej seine Frau wegnehmen sollte, koste es was es wolle. Sie fanden den Höfling, und der Zarewitsch sagt zu ihm: „Hör zu, Freund, denk noch eine dritte Aufgabe für Andrej aus!“ Er antwortet: „Schön, ich brauch nicht lange etwas für ihn auszudenken.“ Er hofft schon auf die Alte. Danach ging der Höfling wieder in den Wald. Lange ging er so, dann trifft er die Alte: „Guten Tag, Großmütterchen!“ „Guten Tag, Söhnchen!“ Sie fragte ihn: „Nun, wie steht’s, hat’s Andrej ausgeführt?“ „Hat’s ausgeführt.“ „Hm, Andrej zu betrügen braucht man nicht lange, aber seine Frau betrügt man nicht. Nun, macht nichts, jetzt werde ich trotzdem etwas ausdenken, werde ihn für sieben Jahre von seiner Frau trennen.“ Dann sagt sie zu ihm: „Geh also zum Zaren und sage ihm folgendes: ,Andrej soll nach Weiß-nicht-wohin ziehen und das Weiß-nicht-was bringen. Gib ihm keine bestimmte Frist, nun, nicht weniger als sieben Jahre. Vielleicht versucht er’s gar nicht erst. In dieser 318
Zeit aber kann der Zar die schöne Jelena heiraten.“ Na ja, sie weiß doch nicht, daß Jelena sich verbergen kann. Sogleich geht dieser Höfling zum Zaren und meldet: „Also, Eure Majestät, Andrej soll nach Weißnicht-wohin ziehen und das Weiß-nicht-was bringen. Und gebt ihm keine bestimmte Frist. In dieser Zeit aber könnt Ihr Euch seine Frau verschaffen.“ Als der Zar von dem Höfling diese Worte gehört hatte, schickte er in Ungeduld nach Andrej. Als der Bote zu Andrej kam, befahl er ihm, zum Zaren zu kommen, und zwar unverzüglich. Andrej antwortete: „Ist gut.“ Und wieder sagt er zu seiner schönen Jelena: „Jeletschka, der Zar hat sicher wieder etwas Schlimmes bereit.“ „Ja, sicher wieder einen Auftrag. Nun, lehne den Auftrag nicht ab, übernimm ihn, dann werden wir schon weiter sehen.“ Wie Andrej zum Zaren kommt, führt ihn der Zar in ein besonderes Zimmer und beginnt, ihn mit Wein zu bewirten; er will ihn betrunken machen, damit er schneller sein Einverständnis gibt. Aber seine Frau hatte ihm eingeschärft: „Paß auf, Andrej, trink keinen Schnaps!“ Andrej schlug natürlich nicht ab, ging mit ihm zu Tisch, trank ein kleines Gläschen, und der Zar beginnt auf ihn einzureden.
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„Hör zu, Andrej, gib mir deine Frau, ich verheirate dich mit einer hübschen Generalstochter, und du wirst ein glückliches Leben führen, ohne überflüssige Sorgen; wenn nicht, bekommst du wieder einen großen Auftrag.“ Andrej fand sich zu nichts bereit, zu keinerlei Zugeständnissen, und sagte: „Ich will lieber gehen als meine Frau weggeben.“ Und Schnaps trank er überhaupt nicht mehr. „Dann also, Andrej, gebe ich dir den folgenden Auftrag: nach Weiß-nicht-wohin zu ziehen und das Weiß-nicht-was zu bringen. Eine Frist lege ich nicht fest. Kommst du zurück und bringst es nicht mit, dann kostet es dich den Kopf.“ Andrej ging mit diesen Worten hinaus und kommt heim zur schönen Jelena. Kommt traurig und betrübt, mit Tränen in den Augen. Jeletschka fragte Andrej: „Warum weinst du?“ „Wie soll ich nicht weinen, Jeletschka? Folgenden Auftrag haben sie mir gegeben: nach Weißnicht-wohin zu ziehen und das Weiß-nicht-was zu holen.“ Sie antwortete ihm: „Höre, Andrej, sei nicht traurig, trink, iß und leg dich schlafen: der Morgen ist klüger als der Abend, am Morgen wird alles klar sein.“ Sie aßen zu Abend und legten sich schlafen. Sie schlief nur ein wenig, stand auf, nimmt ihr Zauberbuch zur Hand und beginnt zu suchen, wo das Weiß-nicht-was ist. Lange suchte sie, konnte es 320
natürlich nicht finden, warf das Zauberbuch beiseite, nimmt ihr Zaubertuch, schüttelte es, und die drei Burschen sprangen heraus. „Was befehlt Ihr, schöne Jelena?“ „Hört, Burschen, wißt ihr nicht, wo das Weißnicht-was ist?“ Der eine sagt: „Ich weiß es nicht.“ Der andere: „Weiß nicht.“ Alle wie aus einem Munde. Sie verbarg das Tuch in der Tasche, nimmt eine große Docke Wolle und beginnt, ein Knäuel zu wickeln. Als sie ein großes Knäuel gewickelt hatte – sie konnte es kaum umfassen –, trug sie’s vor die Tür und legte es auf die Treppe. So verbrachte sie die Zeit bis sechs Uhr morgens. Sie setzte den Samowar an und weckte Andrej. „Steh auf, Andrej, mein Lieber, die Arbeit wartet schon auf dich – eine lange Reise!“ Sie setzten sich also, tranken Tee, und sie sagt: „Höre, Andrej, auf der Treppe liegt ein Knäuel. Dieses Knäuel wird den Weg entlang rollen, und du geh ihm nach. Solange dieses Knäuel den Weg entlangrollt, geh; geh die ganze Zeit, bis das Knäuel zu Ende ist und der Faden auf dem Weg ausläuft; dort wirst du ein Schloß erblicken. In dieses Schloß geh hinein, dort wird man dich empfangen.“ Andrej bricht also auf. Sie hatte ihm eine Tasche zurechtgemacht, einen Reisesack, und er begann zu weinen: „Jeletschka, ich werde dich nicht wiedersehen, weiß nicht, wohin ich gehe!“
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„Mach dir keine Gedanken, Andrej, der Zar kriegt mich nicht, ich werde auf dich warten; freilich werden wir uns lange nicht sehen.“ Weiter sagt sie noch zu ihm: „Hier nimm die Tasche. Wenn du in das Schloß kommst, wird man dich empfangen, dir zu essen und zu trinken geben und dich schlafen legen. Wenn du am Morgen aufstehst und dich wäschst, wird man dir ein Handtuch bringen, aber trockne dich nicht mit ihrem Handtuch ab, hol dein eigenes aus dem Reisesack und trockne dich damit ab.“ Er brach nun auf, ihretwegen war ihm sehr weh ums Herz, und er begann zu weinen. Sie tröstete ihn, trocknete ihm mit ihrem Tuch die Tränen, und sie gingen zusammen vor die Tür zur Treppe. Er ging hinab auf die Straße, und das Knäuel rollte vor ihm her. Und so machte sich Andrej auf den Weg. Sobald der Zar erfahren hatte, daß Andrej fort war, stellte er sogleich an ihrem Haus eine Wache auf und begann, das ganze Haus zu durchsuchen. Aber finden konnte er sie nicht, wurde schließlich wütend und brannte das ganze Haus nieder. Und Andrej ging seinen Weg immer weiter, das Knäuel aber rollte und wurde immer kleiner und kleiner. So wie Andrej lief, wurde das Knäuel immer kleiner und kleiner. Und Andrej war es schon leid zu gehen, immer dachte er an die schöne Jelena. Er ging also und ging, setzte seinen Weg fort, und das Knäuel war klein geworden wie ein Hühnerkopf. Andrej wurde es schwer ums Herz, 322
keine Menschenseele zu sehen; je kleiner das Knäuel wurde, um so schwerer wurde es Andrej ums Herz. Schon so klein war das Knäuel nun geworden, daß es auf dem Wege nicht mehr zu erkennen war, und der Faden lief auf dem Wege aus. Andrej blickte auf, da steht ein Schloß vor ihm. Er geht zur Treppe, zur vorderen. Wie er an der Treppe ist, kommen die Stufen herab zwei Mädchen zu ihm gelaufen, eine sieht aus wie die andere, wie seine Jeletschka, aber er wagte nicht, es zu sagen. Sie nehmen ihn bei der Hand und führen ihn ins obere Stockwerk. Als sie ihn hineingeführt hatten, legten sie sogleich kostbare Tischtücher auf, brachten Getränke, süße Schnäpse und ausländische Weine herbei, gaben ihm zu trinken, zu essen und legten ihn zum Schlaf auf ein Daunenbett. Dann gingen sie. Er schlief die ganze Nacht. Am Morgen kommen sie um acht gelaufen und wecken ihn. Als er aufgestanden war, brachten sie ihm Wasser zum Waschen und brachten ein Handtuch. Andrej wusch sich natürlich. Dann reichen sie ihm das Handtuch. „Nein, Mädchen, ich habe ein Handtuch, mein eigenes, für die Reise.“ Er holt sein Handtuch aus dem Reisesack; kaum hatte er sein Gesicht mit dem Handtuch bedeckt, da entriß ihm eins der Mädchen das Handtuch und rannte davon. Und die andere hinterher. Andrej blieb in großer Betrübnis stehen und denkt:
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„Was wird jetzt mit mir geschehen, warum hat sie mir bloß befohlen, mich mit meinem eigenen Handtuch abzutrocknen?“ Die Mädchen nun bringen das Handtuch zu ihrer Mutter und sagen: „Hört nur, Mutter, unser Schwager Andrej ist gekommen.“ „Aha, weiß schon, weiß schon, weswegen er gekommen ist.“ Es war nämlich ihr Handtuch. Deswegen also hatte sie ihm befohlen, sich mit dem Handtuch abzutrocknen, damit sie wüßten, wer er ist und weswegen er kommt, deswegen hatte sie ihm eben befohlen, sich damit abzutrocknen. Die Alte sprang von ihrem Stuhl auf und geht zusammen mit ihren Töchtern zu ihm: „Guten Tag, Schwiegersohn!“ „Guten Tag, guten Tag, Mütterchen!“ „Ich weiß schon, weswegen du gekommen bist. Der Zar will meine Jeletschka haben. Haha, das wird ihm nicht gelingen, dir aber will ich bei dem helfen, weswegen du gekommen bist; bleibe ein paar Tage bei mir. Das hat er sich so gedacht, der junge Zarewitsch, meine Jeletschka zu kriegen; er soll das Nachsehen haben, mag er auch hundert Jahre suchen, er wird sie nicht finden.“ Da setzte sich Andrej an den Tisch, begann zu essen und beruhigte sich. Jetzt sagt sie: „Schön, Schwiegersohn, bleib drei Tage bei mir, ich will mich ans Suchen machen.“
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Und sie ging fort. Sie kommt also in ihr Zimmer, nimmt ihr Zauberbuch zur Hand und begann nachzusehen, wo das Weiß-nicht-was ist. Sie sah lange nach, warf das Buch beiseite und raufte sich die Haare, konnte es nicht finden. Sie dachte lange, lange nach und sagt: „Endlich hab ich’s!“ Sie nahm zwei Besen und flog fort durch die Luft, flog einen Tag und eine Nacht, kam zurück und hatte es nicht finden können. Sie nimmt ihr Zauberbuch und beginnt wieder nachzusehen. Sah nach, sah nach, konnte’s nicht finden, warf das Buch beiseite und dachte nach. Dachte acht Stunden nach und sagte: „Jetzt hab ich’s gefunden, jetzt weiß ich, wo es ist. Großmütterchen Springbein lebt dreihundert Jahre im Sumpf, sie wird es bestimmt wissen, ich will doch zu ihr fliegen.“ Sie nimmt zwei Besen und fliegt fort. Als sie zum Großmütterchen Springbein in den Sumpf geflogen kam, fragte sie: „Großmütterchen Springbein, weißt du, wo das Weiß-nicht-was ist?“ „Das weiß ich“, sagt sie. „Dann sag’s!“ „Nein, ich sag’s nicht. Ich werde’s dann sagen, wenn du mich in gekochter Milch zum Feuerfluß trägst, dann werde ich es dir sagen, aber vorher sag ich’s nicht.“ Sie nimmt Springbein auf und trägt sie zu sich. Nimmt einen Krug Milch und beginnt, sie zu kochen. Als sie sie gekocht hatte, setzte sie dieses 325
Großmütterchen Springbein, es war aber eine Kröte, hinein und geht zu ihrem Schwiegersohn. „Nun, Schwiegersohn, zieh dich an, du mußt reiten, ich will dir mein Pferd geben.“ Unser Jäger Andrej zog sich also an und führt sein Pferd heraus. Die Alte sagt zu ihm: „Flieg auf diesem Pferd bis zum Feuerfluß, am Feuerfluß aber wird das Pferd schon nicht mehr da sein, dann frag das Großmütterchen, wie du weiterkommst.“ Als er nun am Feuerfluß ankam, war das Pferd schon nicht mehr da. Allein der Krug war übriggeblieben, und er zog die Kröte Springbein an einem Faden heraus. Als er sie herausgezogen hatte, sagt sie zu ihm: „Steig auf mich auf, Andrej, ehe es zu spät ist!“ Er aber sagt zu ihr: „Was fällt dir ein, Großmütterchen, du bist ja so klein, ich werde dich zerdrücken.“ „Los, steig auf!“ Lange sperrte er sich, stieg nicht auf, schließlich aber: „Na schön, ich werde aufsteigen.“ Er stieg auf, die Kröte aber ging in die Höhe, immer höher, wurde größer als der Wald und saugte ihn ganz in sich hinein, nur der Kopf war noch zu sehen. Dann sagte sie: „Nun halt dich schön fest!“ Die Kröte machte einen Satz und sprang über den Feuerfluß. Sie ließ ihn heraus. Er fragt sie: „Großmütterchen, wo ist denn nun das Weißnicht-was?“ 326
„So ist’s recht, wenn du nicht gefragt hättest, hättest du’s auch nicht erfahren. Jetzt will ich’s dir sagen.“ Und das Großmütterchen beginnt: „Höre nun, wo das Weiß-nicht-was wohnt: geh diesen Weg, er wird dir freilich lang erscheinen, aber geh nur! Du wirst ein Haus – kein Haus sehen, eine Scheune – keine Scheune, einen Raum – keinen Raum. Geh hinein, das Haus ist ganz und gar leer und zerfallen, nur ein Ofen steht darin. Geh in dieses Haus und stell dich hinter den Ofen. Es werden zwei Burschen kommen und sagen: ‚Schwager Naum6, zu trinken und zu essen!’ Musikinstrumente werden zu spielen beginnen, und perlenbestickte Tischtücher, Getränke, süße Schnäpse und ausländische Weine werden erscheinen. Du aber bleib stehen, bis sie weggehen und das Zimmer ganz leer ist. Dann komm hervor und sage: ‚Schwager Naum, zu trinken und zu essen!’ Und du wirst ganz das gleiche bekommen. Wenn du beim Trinken und Essen bist, lade auch den Schwager Naum zu einem Gläschen ein. Dann wird er dich nie mehr verlassen. Das wird das Weiß-nicht- wer sein.“ Das alles sagte das Großmütterchen Springbein. Er bedankte sich bei ihr und machte sich auf den Weg. Lange zieht er so dahin, und schließlich sah er: ja, ein Haus – kein Haus, eine Scheune – keine Scheune. Er geht hinein – es ist ganz und 6
Naum – zweisilbig mit Betonung der zweiten Silbe zu sprechen: Naúm. (Anm. d. Übers.)
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gar leer und zerfallen, nur ein Ofen steht darin, und auf einmal sieht er, es kommen zwei junge Männer und sagen sogleich: „Schwager Naum, zu trinken und zu essen!“ Und von irgendwoher erschienen perlenbestickte Tischtücher, Getränke, süße Schnäpse und ausländische Weine, und das Zimmer veränderte sich, sah ganz anders aus. Als sie nun gegessen hatten und fortgegangen waren, war das Zimmer wieder leer. Da kommt Andrej hinter dem Ofen hervor. Als er hinter dem Ofen hervorgekommen war, sagte er: „Schwager Naum, zu trinken und zu essen!“ Und es geschah ihm das gleiche, perlenbestickte Tischtücher erschienen, Getränke, süße Schnäpse, ausländische Weine und auch ein Wodka und ein Gläschen und alles, was das Herz begehrt. Da setzte er sich an den Tisch, begann zu essen und sagt: „Schwager Naum, kann ich nicht noch ein zweites Gläschen haben?“ Schwager Naum reicht ihm ein zweites Gläschen. „Schwager Naum, laß dich von mir, dem Wandersmann, mit dem zweiten Gläschen bewirten.“ Als Schwager Naum das Gläschen ausgetrunken hatte, sagte er: „Jäger Andrej, du hast mich mit einem Gläschen bewirtet, nun gehe ich nie mehr von dir fort. Ich habe die zwei Dummköpfe dreißig Jahre gefüttert, aber noch keine verbrannte Brotrinde von ihnen zu sehen bekommen.“ 328
„Schwager Naum, zeig dich l“ „Nein“, sagt der, „ich bin ein Geist, den niemand sehen kann. Ich bin Weiß-nicht-wer.“ Andrej also trank und aß und brach auf. „Nun, wie steht’s, Schwager Naum, kommst du mit?“ „Natürlich, ich bleibe immer bei dir.“ „Wohin?“ „Laß uns nur gehen.“ Lange zog Andrej seinen Weg und fragte immer wieder: „Schwager Naum, bist du da?“ „Bin da. Ich gehe nie von dir fort.“ Schließlich kommt Andrej ans Meer. Als er am Meer ist, sagt er: „Schwager Naum, und wohin gehen wir jetzt?“ „Warte, Andrej, gleich kommt ein Schiff, mit dem werden wir fahren.“ Auf einmal kommt irgendwoher ein Schiff gefahren, ein Boot legt an und bringt ihn zum Schiff. Er fragte: „Schwager Naum, bist du da?“ „Bin da, bin da; ich gehe nie von dir fort.“ Nun, auf dem Schiff war keine Menschenseele, waren keine Leute. „Was heißt das, Schwager Naum, wir haben keine Leute, wer von uns wird steuern, wir haben weder Steuerleute noch Matrosen.“ Da sagte Schwager Naum: „Leg dich schlafen, ich komme schon alleine zurecht.“
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Also legte sich Andrej hin, schlief ein wenig, steht auf. Schwager Naum sagt zu ihm: „Nun, Andrej, wir werden an eine Insel kommen, und an dieser Insel werden wir aussteigen, das heißt, uns dort ansiedeln.“ Sie kommen also zu dieser Insel, sogleich wird vom Schiff ein Boot heruntergelassen und bringt sie auf die Insel; das Schiff aber war schon verschwunden. Sie betreten also die Insel. Die Insel stand im Meer. Schwager Naum sagt: „Hör zu, Andrej, auf dieser Insel werden wir ein Schloß bauen und es mit Gärten umgeben. An der Insel werden drei Schiffe vorbeifahren, die werden uns besuchen kommen.“ Schwager Naum baute also sogleich ein Schloß, legte ringsum Gärten an, und von nun an lebten sie dort. Und Schwager Naum sagt zu ihm: „In zwei Tagen werden drei Schiffe hierher kommen. Die haben so etwas Seltsames noch nicht gesehen; dreißig Jahre fahren sie an dieser Stelle vorbei und haben nie eine Behausung gesehen. Sie werden gerade hier haltmachen und zu uns kommen. Die Kapitäne auf diesen Schiffen haben drei Wunderdinge, die wir im Tausch gegen mich an uns bringen müssen. Sie werden einverstanden sein, aber ich gehe nie von dir fort. Wenn wir ihnen zu trinken und zu essen gegeben haben, machen wir sie ein wenig betrunken, sie werden mit ihren Wunderdingen prahlen und dich fragen: ,Was ist das bei dir für ein Schwager Naum?’“
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Wirklich vergeht einige Zeit, und es kommen drei Schiffe gefahren. Alle liefen zusammen und wunderten sich: „Was ist denn das, dreißig Jahre fahren wir schon, ein solches Wunder haben wir noch nicht gesehen. Jemand ist hierhergekommen, hat ein Schloß erbaut, das müssen wir uns ansehen!“ Sie machten also halt, alle drei Schiffe zusammen; alle Kapitäne mit ihren Matrosen und Steuerleuten ließen Boote herab und fuhren an Land. Als sie angelegt hatten und das Schloß betraten, empfing sie Andrej der Jäger und sagte: „Schwager Naum, zu trinken und zu essen, die Seeleute bewirten!“ Und es erschienen perlenbestickte Tischtücher, Getränke, süße Schnäpse und ausländische Weine. Das alles war getan. Die Gäste setzten sich zu Tisch. Als sie Schnaps zu trinken begannen, bekamen sie einen ordentlichen Rausch. Da beginnen sie nun, ihn zu fragen: „Jäger Andrej, was ist das bei dir für ein Schwager Naum? Was ist das für ein Mensch, und hast du dich schon lange hier auf der Insel angesiedelt?“ Da sagt er zu ihnen: „Das ist Schwager Naum – mein Freund, er führt alle meine Befehle aus, und wo immer wir uns ansiedeln wollten, dorthin würde ich mit ihm fahren.“ „Und was für ein Mensch ist er, könnte man ihn nicht einmal zu Gesicht bekommen?“ 331
„Ich weiß nicht. Ich habe ihn selber noch nicht gesehen; er ist ein Geist, den niemand sehen kann.“ Als sich die Gäste vollgetrunken hatten, begannen sie zu prahlen. Der eine Kapitän sagt: „Ja, Andrej, ich habe auch ein Wunderding; wenn es mir einfällt, habe ich da ein Beil und sage zu einem Baum: ‚Beil, ruck-zuck, werd’ zum Schiff im Flug!’ Und im gleichen Augenblick geschieht’s.“ Da begann der zweite Kapitän zu sprechen: „Ja, das ist ja ganz schön, aber ich habe einen Säbel. Wenn ich ans Ufer komme und schlage über das Wasser hin, entsteht eine kristallene Brücke. Schlage ich quer zum Wasser, geschieht nichts. Und wenn ich ein Schloß bauen will, da gehe ich auf einen schönen Platz, fahre dreimal mit dem Säbel im Kreise herum und mache ein Schloß, wie immer ich es haben will.“ Da sagt der dritte Kapitän zum zweiten: „Ich habe ein schönes Ding. Es ist so ein kleines Rohr; wenn ich aufs Feld hinausgehe und pfeife, entsteht ein großes Heer, und was ich befehle, das tun sie.“ Als alle Kapitäne alle ihre Geschichten erzählt haben, sagt Schwager Naum zu Andrej, flüstert ihm ins Ohr: „Höre, Jäger Andrej, gib mich zum Tausch; alle diese Dinge brauchen wir, und ich gehe nie von dir fort; sie werden einverstanden sein.“ Darauf sagt Andrej der Jäger zu den Kapitänen:
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„Hört zu, Kameraden Kapitäne, laßt uns einen Tausch machen, ich gebe euch den Schwager Naum und ihr mir alle diese Dinge.“ Die Kapitäne überlegten eine Weile, besprachen sich untereinander und sagten schließlich: „Ist recht.“ Und so hatten sie beschlossen: „Kameraden, wir wollen es so machen: Wir gehen nach Hause, bringen unsere Frauen her und werden auf der Insel leben; Schwager Naum wird uns versorgen, und wir brauchen nicht zu arbeiten.“ Sogleich brachen sie zu den Schiffen auf, ihre Dinge zu holen. Als sie auf den Schiffen angekommen waren, nahmen sie die Dinge und fuhren wieder an Land. Unterdessen aber sagt Schwager Naum zu Andrej: „Wenn sie wiederkommen, nimm sie in Empfang und mach sie betrunken; selber aber nimm ihre Dinge an dich und geh ans Ende der Insel.“ Wie sie also wiederkommen, diese Kapitäne, setzten sie sich zu Tisch, und es begann ein Trinkgelage. Die Kapitäne geben ihm ihre Dinge, er aber sagt zu Schwager Naum: „Nun, Schwager Naum, bleib du jetzt bei den Kapitänen und diene ihnen, wie du mir gedient hast; ich gehe jetzt fort.“ Er verabschiedete sich, nahm die Dinge in Empfang und ging. Ein Stück war er gegangen, da sagte er: „Schwager Naum, bist du da?“
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„Ich bin schon lange bei dir. Aber warte etwas, sie werden noch ein wenig trinken und dann einschlafen. Aufwachen werden sie auf nacktem Stein, anderes wird dort nicht mehr sein.“ Die Kapitäne tranken, bis sie einschliefen. Sie wachten auf, sprangen in die Höhe und waren auf nacktem Stein zurückgeblieben; nichts war mehr da, weder das Schloß noch die Gärten. Und von Andrej keine Spur. Als Andrej ans Ende der Insel kam, fragt er Schwager Naum: „Nun, Schwager Naum, was werden wir tun?“ „Das solltest du jetzt selber wissen; hast du das Beil?“ „Ja.“ „Nun, dann bau ein Schiff!“ Andre] suchte rasch einen Baum aus und tat einen Schlag mit dem Beil: „Nun, ruck-zuck, werd’ zum Schiff im Flug!“ Im gleichen Augenblick war das Schiff fertig und lag schon auf dem Wasser. Jetzt sagt er: „Nun, Schwager Naum, wie kommen wir jetzt aufs Schiff?“ „Nun, du hast doch ein Ding?“ Er nimmt den Säbel, schlug über das Wasser hin, und es entstand eine Brücke. Sie gingen zum Schiff hinüber. Er schlug quer, nahm die Brücke fort, und sie fuhren auf dem Schiff davon. Sie fuhren nun lange oder kurze Zeit, niedrig oder hoch, nah oder fern und fahren und fahren die ganze Zeit. Andrej kommt in eben das Land, aus dem er ausgezogen war, und sieht: es ist’s. 334
Als sie am Ankerplatz angekommen sind, nimmt Andrej den Säbel, schlug über das Wasser hin, und es entstand eine Brücke. Die betraten sie und gingen an Land. Als sie am Ufer waren, gehen sie durch die Stadt, und Andrej geht zu den Häusern, wo sein Zimmer gewesen war. Als er hinsah und sich die Stelle betrachtete, da war alles niedergebrannt, und das Gras war schon darauf gewachsen. Da blickte er auf und sagte: „Nun, meine Jeletschka ist also tot, verbrannt hat sie der Wahnsinnige.“ Da wußte Andrej nicht, was er tun sollte. Er fragte also den Schwager Naum: „Schwager Naum, und was werden wir jetzt tun?“ Schwager Naum antwortete ihm: „Bau ein Haus, und deine Jeletschka wird sich finden.“ Da nimmt Andrej der Jäger den Säbel, dreht sich mit ihm einmal im Kreis herum und sagt: „Nun, ein Schloß soll mir gebaut werden, noch dreimal schöner als das des Zaren.“ Und im gleichen Augenblick war das Schloß erbaut, mit einer Aufschrift aus Silber: „Jäger Andrejs Haus“. Als er sah, daß das Schloß so herrlich gebaut war, ging er voll Freude ins obere Stockwerk und lief durch alle Zimmer. Schließlich kam er ins Schlafzimmer. Als er im Schlafzimmer war, zog er den Vorhang beiseite und sieht, Jeletschka schläft auf dem Bett. Er weckte sie, sie öffnete die Augen, sprang auf, küßte ihn ab und sagte: 335
„Bist du’s, den ich sehe, mein lieber Jäger Andrej?“ „Ich bin’s“, antwortete er. „Komm gleich mit in den Saal, wir wollen ein Begrüßungsessen veranstalten, und ich werde von meiner Fahrt erzählen!“ Als sie den Saal betreten hatten, setzten sie sich zu Tisch, und sie fragte: „Nun, Jäger Andrej, hast du das Weiß-nicht-was gefunden?“ Er sagt: „Ja.“ Dann sagt Andrej: „Los, Schwager Naum, zu trinken und zu essen; wir wollen lustig sein; versorge dich, mich und meine Frau.“ Da fragt sie: „Schwager Naum, wer bist du, zeig dich mir!“ „Nein, schöne Jelena, ich habe mich seit meiner Geburt niemandem gezeigt. Ich bin ein Geist, niemand kann mich sehen, ich bin das Weißnicht-was.“ Sie fragte nicht mehr. Jetzt fragt Andrej: „Wie steht’s, Schwager Naum, was werden wir jetzt tun? Willst du zum Zaren gehen oder bei mir bleiben?“ Schwager Naum antwortet: „Nein, Andrej, zum Zaren gehe ich nicht, der Zar hat mich nicht gefunden, sondern gefunden hast du mich, Jäger Andrej, und dir werde ich dienen, mit dem Zaren aber werden wir anders abrechnen.“ 336
Und Schwager Naum sagt zu ihm: „Höre, Andrej, nimm das kleine Rohr, das wie eine Tabakspfeife aussieht, und komm mit aufs Feld. Wenn wir auf dem freien Feld sind, pfeife einmal!“ Andrej nimmt das Rohr und geht hinaus aufs freie Feld. Als er auf dem Felde war, pfiff er sogleich auf dem Rohr. Und es ergoß sich ein so großes Heer, wie er es noch nie gesehen hatte; es wurde weder kleiner noch größer. Die Hauptatamane kommen zu ihm herangesprengt und verneigen sich bis zum Gürtel. „Was wünschst du, Jäger Andrej?“ Er weiß nicht, was er ihnen sagen soll. Da sagt Schwager Naum zu Andrej: „Befiehl ihnen, leere Granaten in die Stadt zu feuern, und laß den Zaren herausrufen, oder er soll ein Heer schicken.“ Als der Zar die Schreckensbotschaft hörte, verlor er den Kopf und weiß nicht, was er tun soll. Er schickt fünfundzwanzig Mann Soldaten, zu erkunden was los ist, was sie wollen und was für ein Heer gekommen ist. Als diese Soldaten ankamen, fragt Andrej: „Schwager Naum, was sollen wir mit diesen Soldaten machen?“ „Folgendes: zwanzig Mann mit den Haaren am Gras festbinden und fünf zurücksenden: schick uns nicht so wenig, schicke entweder ein Heer oder komm selbst.“
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So machten sie es auch: zwanzig banden sie fest, und die übrigen schickten sie mit der Antwort zurück. Als die Soldaten zum Zaren zurückkamen und die Schreckensbotschaft berichteten, wurde der Zar sehr nachdenklich: was sollte er tun? Schließlich beschloß er, selbst hinauszureiten. Als der Zar auf das Feld kam, sah ihn Andrej der Jäger, und er sagt zum Schwager Naum: „Schwager Naum, was wollen wir jetzt mit dem Zaren anfangen?“ Antwortet Schwager Naum: „Ich meine, man sollte sehr einfach mit ihm verfahren: ihn hinrichten, und du wirst Zar.“ Andrej antwortet: „Nein, Schwager Naum, hinrichten will ich ihn nicht, will nicht des Bösen gedenken, sondern lieber etwas anderes mit ihm machen und hören, was er sagt. Als der Zar zu Andrej dem Jäger kam, erschrak er sehr und bat um Gnade. „Jäger Andrej, mach mit mir, was du willst, nur schlag mir nicht den Kopf ab.“ Und er erblickte das riesige Heer. „Ich will nichts von dir haben, nichts, was du gebracht oder nicht gebracht hast, ich will nichts haben, nur laß mich am Leben!“ „Nun gut.“ „Ich will dir meinen Thron übergeben, besteige den Thron, ich trete ab.“ Da sagte er zum Zaren: „Nun gut, ich lasse dir das Leben, aber du sollst vierzig Jahre Hirte sein.“ 338
Darauf pfiff er zweimal in sein Rohr, und das Heer war verschwunden. Dann gingen sie in den Palast des Zaren. Der Zar übergibt ihm in Ruhe alle Geschäfte und ging selbst unter die Hirten. Da bestieg Andrej der Jäger den Thron und begann Hochzeit zu feiern. Als die Hochzeit zu Ende war, regierte er das Zarenreich bis in sein hohes Alter.
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34 Als sich Mücke und Fliege bekriegten Mücke und Fliege bekriegten sich. Die Mücke biß die Fliege und die Fliege die Bremse. Die Bremse aber stach die Hornisse und die Hornisse den Sperling. Und es bekriegten sich alle Insekten, Vögel und Tiere. Das war der Vogel- und Tierkrieg. In einem kleinen Dorf lebte einmal ein armer, armer Jäger. Einmal nun kam es ihm in den Sinn, weit weg, in einem großen tiefen Wald auf Jagd zu gehen. Als er in den tiefen Wald kam, sieht er: Auf drei riesigen Eichen sitzt ein Vogel mit aufgesperrtem Rachen, so groß wie ein riesiges Haus. Der Jäger erschrak sehr über diesen Riesenvogel und denkt: „Er wird mich mitsamt meinem Gewehr verschlingen.“ Dann aber besann er sich: „Ich bin doch ein Jäger! Wovor habe ich denn Angst! Ich werde ihn einfach ins Maul schießen, und vielleicht töte ich ihn sogar.“ Er nahm sein Gewehr und zielte dem Vogel ins Maul. Und gerade, als er den Hahn abdrücken wollte, begann der Vogel auf einmal mit Menschenstimme zu sprechen und sagte: „Jäger, schieß nicht auf mich!“ – „Und warum nicht?“ – „Ich will dir viel erlegtes Wild geben.“ – „Nun, her damit!“ Und der Vogel zeigte ihm das Wild. Als er dieses Wild zusammengetragen und die Felle ab340
gezogen hatte, wurde er mit einem Male ein reicher Mann. Aber weil die Leute vom Gelde nie genug kriegen können, ging er wieder an jene Stelle, ob nicht vielleicht der Vogel noch dort sitzt. Als er an die Stelle kam, saß der Vogel wirklich dort. Und wieder zielte er, und der Vogel sagt zu ihm: „Jäger, schieß nicht auf mich!“ Er antwortet ihm: „Warum nicht?“ – „Schieß nicht auf mich, ich will dir viel erlegtes Wild geben.“ – „Nun, her damit!“ Und der Vogel zeigte ihm doppelt so viel wie beim erstenmal. Mit Hilfe der Nachbarn und anderer Leute trug er all diese kostbaren Tiere zusammen, zog die Felle ab und verkaufte sie. Da wurde er schon ein sehr reicher Mann. Aber weil die Leute vom Gelde nie genug kriegen können, beschloß er, ein drittes Mal hinzugehen: „Vielleicht gibt mir der Vogel noch einmal?“ Als er das dritte Mal hinkam, saß der Vogel wirklich noch immer auf den drei riesigen Eichen. Und wieder zielte er. Und gerade, als er den Hahn abdrücken will, sagt der Vogel zu ihm: „Jäger, schieß nicht auf mich!“ – „Und warum nicht?“ – „Schieß nicht auf mich, ich will dir viel erlegtes Wild geben.“ Und der Vogel zeigte ihm so viel, daß es einigemal mehr war als beim ersten Mal. Und dann sagte er zu ihm: „Jäger, du sollst mich für drei Jahre zur Erholung als Gast aufnehmen. Du siehst, wieviel von allem möglichen Getier hier liegt, und alles habe ich erlegt. Ich bin der Vogel-Zar. Ich brauche nicht viel: jeden Tag vierzig Eimer Wasser und sechzig Pud Fleisch. Und wenn du mich nicht aufnimmst, dann fresse ich dich.“ Dem Jäger war 341
der Gast nicht so ganz nach dem Herzen, aber es gab keinen Ausweg, und er lud ihn zu sich zu Gast. Und Leute dingte er nicht nur aus seinem eigenen Dorf, sondern auch aus allen umliegenden Dörfern, und er ließ einen riesigen Kübel machen, in dem er das Fleisch einsalzte, das er auf dem Schlachtfeld gesammelt hatte, das von dem Vogel erlegte, und er lagerte es in tiefen Gruben mit Quellwasser, wo es sich gut hielt, und so fütterte er den Vogel drei Jahre hindurch. Und der Vogel sagt zu ihm: „Nun, Jäger, bitte ich dich, drei Jahre mein Gast zu sein.“ Der Jäger verspürte zwar nicht allzuviel Lust, aber er konnte nichts machen. Er entschloß sich, Gast des Vogels zu sein. Der setzte ihn auf seinen riesigen Rücken wie auf ein weiches Federbett, und los ging’s, höher als die Wolken am Himmel. Der Vogel flog mit ihm davon. Und als sie in eine steinige Steppe hineinflogen, warf er den Jäger ab und ließ ihn fallen. Der fliegt und denkt: „Ich werde mich wohl auf diesen schrecklichen Steinen zu Tode stürzen, und niemand wird meine Knochen begraben.“ Und gerade als er auf die Erde fallen wollte, hielt ihm der Vogel seinen Rücken hin, und er fiel weich wie auf ein Federbett und hatte nicht den geringsten Schaden genommen. Dann flog der Vogel über dunkle, undurchdringliche Wälder, und wieder warf er den Jäger ab und ließ ihn über diesem dunklen tiefen Wald fallen. Der Jäger erschrak natürlich tüchtig und denkt: „Ich werde in diesen tiefen Wald fallen, und niemand wird mich finden, und die wilden Tiere werden nicht nur mein 342
Fleisch, sondern auch meine Knochen fressen und keine Spur von mir zurücklassen.“ Und gerade als er in den Wald fallen will, setzt sich der Vogel auf die Baumwipfel, die sich unter seiner Last bogen, und hält ihm seinen Rücken hin, und er fällt weich wie auf ein Federbett. Dann stieg der Vogel wieder empor, höher als vorher, und flog über einen großen Ozean, und er stieg so hoch, daß dem Jäger das Meer wie eine Tasse Wasser erschien. Und wieder ließ er ihn fallen, genau über dem tiefen Meer; das Meer hatte einen Wirbel, wenn ein Schiff dorthinein geraten wäre, es wäre in tausend Stücke gegangen. Der Jäger fliegt und denkt: „Nun, jetzt falle ich in dieses Meer, und niemand wird je etwas von mir hören oder eine Spur von mir finden. Die anderen Male hätte vielleicht noch zufällig einer vorbeikommen und wenigstens meine Knochen finden können, jetzt aber falle ich ins Wasser, und die Raubfische werden mich verschlingen, und es wird auch nicht die geringste Spur von mir übrigbleiben.“ Und gerade, als er ins Wasser fallen wollte, hielt ihm der Vogel plötzlich seinen Rücken hin, und er fiel weich wie auf ein Federbett, heil und gesund. Da fragt ihn der Vogel-Zar: „Nun, Jäger, bist du erschrocken?“ – „Ja, sehr erschrocken, wie hätte ich nicht erschrecken sollen, war ich doch schon beinahe ins Meer gefallen.“ – „Genauso war ich erschrocken, denn ich war ja auch nur um Haaresbreite vom Tode entfernt. Denn wenn du nur den Abzughahn berührt hättest, wäre der Schuß losgegangen, und ich wäre nicht mehr am Leben. Jetzt sind wir quitt, du 343
hast mich dreimal erschreckt und ich dich auch. Mehr werde ich dich nicht erschrecken.“ Als sie den großen Ozean überflogen hatten, fragt der Vogel den Jäger: „Jäger, sieh dich um, ist nichts zu sehen?“ Er sah sich um und sagte: „Ich kann nirgends etwas sehen, nur dort rechter Hand sehe ich etwas wie einen Feuerschein.“ – „Genau dorthin müssen wir fliegen, das ist mein Schloß.“ Als sie zum Schloß des Vogels kamen, da war es ein Kristallschloß, und das Dach war aus Gold, es glänzte wie ein Spiegel, und von weitem sah es aus wie Feuerschein. Und rings um das Schloß war ein herrlicher Garten mit verschiedenen Obstbäumen; manche Bäume blühten, und an manchen hingen nicht einfache Früchte und Äpfel, sondern goldene, und überall sangen und jubilierten paradiesische Vögel und spielte eine sehr lustige Musik, ohne Musikanten. Und woran der Jäger auch nur denken mochte, alles erschien vor ihm. Und er bekam solche Wunderdinge zu Gesicht, wie er sie noch nie gesehen hatte, ja, es war ihm nicht einmal eingefallen, so etwas zu denken (wie es mir in Moskau gegangen ist). Und der Jäger vergaß sogar seine liebe Heimat und seine liebe Frau. Und er merkte nicht, wie die drei Jahre vergingen. Und der Vogel sagt zu ihm: „Nun, Jäger, es ist für dich an der Zeit, nach Hause zu gehen, du bist drei Jahre bei mir zu Gast gewesen.“ – „Wozu erzählst du solche Märchen? Ich bin insgesamt nur drei Wochen bei dir zu Gast gewesen.“ – „Nein, Jäger, du könntest das ganze Leben bei mir verbringen und würdest es nicht 344
merken, weil das Leben bei mir zu kurzweilig und lustig für dich ist.“ Als der Vogel ihn an die Heimat erinnerte, besann er sich: „Ich kann ja jetzt auch zu Hause ein sehr schönes Leben führen, weil ich ein reicher Kaufmann geworden bin.“ Und erst da entsann er sich seiner lieben Frau, und der Vogel sagt zu ihm: „Ich gebe dir dieses alte verrostete Kästchen zum Geschenk, an dem ein verrostetes Schlüsselchen hängt, aber merke dir, ehe du zu Hause bist, darfst du’s nicht aufschließen und nicht öffnen, wenn du es aber aufschließt und nicht alles wieder hineintust, wirst du eines schrecklichen Todes sterben.“ Und er setzte den Jäger auf seinen Rücken, brachte ihn fast bis zu seinem Hause und setzte ihn im Walde ab. Das war an die fünfzig Werst vom Hause entfernt. Als sich der Jäger seinem Dorfe näherte – es fehlten noch an die fünf Werst – sah er eine sehr schöne Waldwiese, wo er ausruhen wollte, weil er sehr müde war. Er liegt da und denkt: „Was schleppe ich da für ein Kästchen, was ist darin? Der Vogel hat mir verboten, es aufzuschließen. Ich will doch einmal nachsehen.“ Und kurzerhand schloß er das Kästchen auf und öffnete es. Aus dem Kästchen kamen alle möglichen Insekten geflogen, und darauf kam Großvieh: Ochsen und Kühe, und es wurde eine so riesige Herde, daß man sie nicht zählen konnte; danach breitete sich ein Markt aus, und aller möglicher Handel wurde getrieben, und die Kaufleute mit den verschiedensten Waren schrien: „Kaufmann, hol dir dein Geld!“ Aber ihm stand der Sinn nicht nach Geld, er saß da und 345
dachte: „Wie soll ich eine so unermeßliche Menge in das Kästchen bringen?“ Und er begann bitterlich zu weinen. „Ich muß auf der Stelle eines schrecklichen Todes sterben.“ Da kommt auf einmal irgendwoher ein alter Mann mit einem großen grauen Bart, und seine Nase war aus Gußeisen. Der fragt: „Warum bist du so betrübt, guter Mann, und weinst so bitterlich?“ – „Wie sollte ich nicht weinen, Großvater? Ich habe dieses Kästchen hier vor der Zeit aufgeschlossen, es ist ein Geschenk vom Vogel-Zar, und er hat mir aufgetragen, es erst zu Hause zu öffnen. Ich habe es aber nicht ausgehalten, es aufgeschlossen und geöffnet. Er hat mir gesagt, wenn du’s aufschließt und nicht alles wieder hineintust, wirst du eines schrecklichen Todes sterben.“ – „Was gibst du mir? Ich werde alles einsammeln und in das Kästchen legen.“ – „Was du haben willst, das nimm, mir ist nichts zu schade für dich.“ – „Je nun, ich brauche im übrigen nicht viel. Gib mir nur das, was du zu Hause nicht kennst.“ Der Jäger dachte nach und nochmals nach: „Was ich zu Hause nicht kenne? Alles kenne ich, obwohl ich drei Jahre nicht zu Hause war. Und wenn ich schon etwas nicht kenne, dann ist es nichts Wichtiges.“ Und er schrieb ihm ein Papier und sagte: „Mach am kleinen Finger der rechten Hand einen Schnitt und unterschreibe mit deinem Blut: Ich gebe dir, was ich zu Hause nicht kenne, in fünfzehn Jahren.“ Und der Alte flüsterte irgend etwas, und alles wurde klein wie ein Pünktchen: Insekten, Kühe, Ochsen und Markt – alles ging in das Kästchen hinein. Und der 346
Zar-Wassermann, das Großväterchen, machte es zu, verschloß es und gab den Schlüssel dem Jäger zurück. Als der nach Hause kam, war die Freude seiner Frau unbeschreiblich; sie lief ihm mit ihrem drei Jahre alten blonden Jungen entgegen. Da erst entsann sich der Jäger, daß er vergessen hatte, daß er seine Frau schwanger zurückließ. Ein Märchen ist bald erzählt, eine Tat aber in Wirklichkeit nicht bald getan. Ihr Sohn wuchs heran und wurde ein tüchtiger, hübscher und kluger Bursche. Er lernte lesen und schreiben und verschiedene Sprachen. Und nun waren genau fünfzehn Jahre vergangen, seit der Jäger bei dem Vogel zu Gast gewesen und zurückgekehrt war, und es war an der Zeit, Kolja dem Großvater Wassermann zu übergeben; und die Eltern jammerten um ihn, härmten sich und weinten bitterlich. Kolja aber bemerkte ihren Kummer und fragte: „Warum weint ihr, Väterchen und Mütterchen? Was fehlt euch? Es scheint, wir haben alles in Fülle, ihr aber seid, wie ich sehe, traurig und weint immer. Seid ihr vielleicht krank?“ Doch sie antworteten ihm: „Das hat nichts auf sich, wir haben nichts Besonderes.“ Aber er glaubte ihnen nicht: „Ihr verbergt irgendein Geheimnis vor mir. Wir leiden keine Not. Geld haben wir viel. Nicht nur wir haben ein schönes Leben, sondern auch all unsere Nachbarn, sogar die Nachbardörfer, weil wir niemandem eine Bitte abschlagen, keinem Armen, ihr aber weint und jammert immer!“ Und einmal nun, als der Vater nicht da war, fragte Kolja die Mutter. Die Mutter aber konnte nicht mehr widerstehen 347
und sagte ihm das Geheimnis, daß „der Vater dich einem Großvater Zar-Wassermann gegeben hat, als er nicht wußte, daß ich dich habe.“ – „Aber warum weint und jammert ihr dann um mich? Das ist eben mein Schicksal. Trockne mir Zwieback, und ich will mich auf den Weg machen. Wo soll ich ihn aber suchen?“ Der Vater sagte zu ihm: „Geh nur nach Westen. Er hat mir gesagt, wohin du auch gehst, du gelangst zum Ziel, wohin du auch fährst, du gelangst zum Ziel. Und wenn du ihn suchst, wirst du ihn finden.“ Kolja nahm also Abschied von seinen Eltern und machte sich auf, den Großvater Zar-Wassermann zu suchen. Ein Märchen ist bald erzählt, aber Koljas Reise ging nicht so bald vonstatten. Schließlich aber gelangte er in einen dunklen, undurchdringlichen Wald. Lange ging er durch diesen dunklen tiefen Wald. Als ihm schon alle Eßvorräte ausgegangen waren und er solchen Hunger hatte, daß er fast am Umfallen war, sieht er plötzlich nicht weit ein Licht. Er ging auf dieses Licht zu, da stand eine Hütte auf Hühnerbeinen und drehte sich mit Blitzesschnelle im Kreise. Er sagt zu ihr: „Hütte, Hütte auf den Hühnerbeinen, stell dich zum Wald mit der Hinterseit und zu mir mit der Vorderseit!“ Und die Hütte blieb sogleich stehen. Er geht in die Hütte hinein, darin saß eine alte, steinalte Baba-Jagá. Sobald die ihn gesehen hatte, sagte sie: „Von Menschenfleisch bekommt man nichts zu riechen und nichts zu sehen, jetzt aber ist Menschenfleisch von selbst zu mir ins Haus gekommen. Ich werde dich gleich fressen!“ – „Halt 348
ein, alte Kröte! Ich bin vom Wege staubig, schmutzig und verschwitzt, du kannst an mir ersticken. Du solltest aber nicht so mit mir umgehen: solltest mir zuerst zu trinken und zu essen geben und fragen, wohin gehst du, wackerer Held, wohin führt dich dein Weg, gehst du aus eigenem Willen oder gezwungen?“ Die Hexe wunderte sich über diese furchtlose Antwort und verschonte ihn. Sie gab ihm zu trinken und zu essen und öffnete die Tür zum anderen Zimmer, wo es heiß und voller Dampf war. Er wusch sich. Sie gab ihm saubere Wäsche, er zog sich um, und darauf sagt sie zu ihm: „Nun, Kolja, du hast es verpaßt, zu deinem Großvater Zar-Wassermann zu gelangen. Er war vorgestern bei mir und hat zu Mittag gegessen und nach dir gefragt, ob du vielleicht vorbeigekommen bist.“ – „Dann sag bitte, wo wohnt er denn? Ich bin rechtzeitig von zu Hause weggegangen und kann überhaupt nicht herausbekommen, wo er wohnt.“ – „Ich weiß ja nicht, wo er wohnt, vielleicht weiß es meine ältere Schwester.“ – „Und wo wohnt deine ältere Schwester?“ – „Ich gebe dir ein Knäuel Roll-von-selbst. Wohin es rollt, folge ihm. Wenn du haltmachen mußt, bleib stehen, und das Knäuel bleibt auch stehen. Und es wird dich zu meiner älteren Schwester führen. Weil die aber noch böser ist als ich, gebe ich dir ein Taschentuch. Wenn sie über dich herfallen will, dann schwenke dieses Tuch und sage, ich bringe von der Schwester einen Gruß für dich und dazu dieses Taschentuch hier.“
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Als er zur zweiten Hexenhütte kam, drehte sich die Hütte genauso wie die erste. Er sagte: „Hütte, Hütte auf den Hühnerbeinen, stell dich zum Wald mit der Hinterseit und zu mir mit der Vorderseit!“ Und die Hütte blieb sogleich stehen. Als er in die Hütte hineinkam, saß da eine alte, steinalte BabaJagá und sagte: „Von Menschenfleisch bekommt man nichts zu riechen und nichts zu sehen, jetzt aber ist Menschenfleisch von selbst zu mir ins Haus gekommen. Ich werde dich gleich fressen.“ Sie riß ihren widerlichen schrecklichen Rachen auf und stürzte sich auf ihn. Aber Kolja schwenkte das Tuch und sagte: „Was tust du, alte Hexe? Ich bringe dir doch von deiner Schwester dieses Tuch hier und einen Gruß, und du willst mich fressen.“ Da verschonte ihn die Hexe und sagte: „Du hast den Großvater Zar-Wassermann verpaßt. Er hat gestern bei mir Abendbrot gegessen und von dir gesprochen, ob ich dich nicht gesehen hätte.“ – „Sag doch bitte, wo kann ich ihn finden?“ – „Ja, das weiß ich nicht, wo er wohnt. Vielleicht weiß es meine ältere Schwester.“ Kolja dachte: „Gibt es wirklich noch eine ältere als dich? Schon du siehst aus wie über neunhundert Jahre.“ – „Ich gebe dir ein Knäuel Roll-von-selbst, folge ihm, es wird dir zeigen, wo meine ältere Schwester wohnt. Da sie aber noch böser ist als wir, gebe ich dir ein Handtuch. Will’s das Unglück, und sie fällt über dich her, dann halte in der einen Hand das Taschentuch und in der anderen dieses gestickte Handtuch, schwenke die Arme und sage, ich bin gekommen, dir dieses Tuch und dieses Handtuch 350
von deinen Schwestern zu bringen und einen Gruß dazu. Dann wird sie dich verschonen.“ Schließlich also kommt er zur dritten BabaJagá; deren Hütte drehte sich ebenfalls schneller als der Blitz auf Hühnerbeinen, und er sagte: „Hütte, Hütte auf den Hühnerbeinen, stell dich zum Wald mit der Hinterseit und zu mir mit der Vorderseit!“ Und die Hütte blieb sogleich stehen. Als er die Hütte betrat, war niemand in der Hütte. Aber kaum war er drin, da hört er plötzlich einen unglaublichen Sturm und starken Wind, die Bäume neigten sich bis zur Erde, manche riß es mit den Wurzeln heraus, manche knickte es um. Und wie ein Sturm kam es in die Hütte geflogen, warf sich auf den Fußboden und verwandelte sich in eine abscheuliche fürchterliche Baba-Jagá; die riß ihren Rachen auf, spreizte ihre Finger mit langen Nägeln und wollte Kolja verschlingen; der aber schwenkte beide Arme, in der einen Hand das Tuch und in der anderen das Handtuch, und schrie mit lauter Stimme: „Warum willst du mich fressen? Ich habe dir von der einen Schwester ein Taschentuch gebracht, von der anderen ein Handtuch, und soll von beiden Schwestern grüßen.“ Da beruhigte sie sich und sagte: „Kolja, du hast den Großvater Zar-Wassermann verpaßt. Er war heute bei mir zum Frühstück und hat nach dir gefragt.“ – „Sag mir bitte, wo wohnt er?“ – „Er wohnt von hier noch ein ganz hübsches Stück entfernt, aber ich persönlich weiß nicht wo. Du mußt noch durch dreimal neun Länder ziehen, ins dreimal zehnte Zarenreich, dann siebzehn dunkle tiefe Wälder 351
durchqueren und siebzehn unbesteigbare Berge übersteigen und sechzehn schnelle Flüsse durchwaten, und schließlich wirst du zum siebzehnten schnellen Fluß gelangen, an dessen Ufer steht ein Weidenbusch. Um welche Tageszeit du auch dorthinkommst, du mußt warten, bis es elf Uhr vormittag ist. Um elf werden elf Tauben geflogen kommen, die verwandeln sich in elf schöne Mädchen. Du aber bleib hinter jenem Weidenbusch sitzen und rühr dich nicht, damit sie dich nicht bemerken. Wenn sie gebadet und sich angezogen haben, klopfen sie auf die Erde, verwandeln sich wieder in wunderschöne Tauben, schwingen sich in die Lüfte und fliegen davon; dann kommt die zwölfte Taube geflogen, wirft sich auf die Erde und verwandelt sich in ein wunderschönes Mädchen. Sie wird zweimal am Flußufer entlanggehen, sich danach ausziehen, sich ins Wasser werfen und baden. Sie wird sich nicht so sehr waschen als vielmehr untertauchen und unter Wasser schwimmen. Dann sei nicht faul, nimm leise und unbemerkt ihre Kleider und versteck dich schnellstens wieder hinter dem Busch. Wenn sie genug gebadet hat, wird sie ans Ufer kommen, ihre Kleider nicht sehen und sagen: ,Wer hat seinen Spaß mit mir getrieben? Bist du ein alter Mann, so sei mein Großvater, bist du eine alte Frau, so sei meine Großmutter, bist du aber in mittleren Jahren, so sei mein zweiter Vater oder meine zweite Mutter. Wenn du aber in meinem Alter bist, dann sei mein erwählter Bruder oder meine erwählte Schwester.’ Aber gib die Kleider nicht heraus, ehe 352
sie nicht schwört, daß sie dein treues Weib sein wird. Erst dann gib sie ihr, und sie wird sagen, wo Großvater Zar-Wassermann wohnt.“ Ein Märchen ist bald erzählt, aber Koljas Reise ging nicht so bald vonstatten, und schließlich kam er doch noch an diesen schnellen Fluß und fand den Weidenbusch. Als er sich hinter den Weidenbusch gesetzt hatte, brauchte er nicht lange zu warten, als er plötzlich den Flügelschlag der Tauben hört; sie kamen herangeflogen, warfen sich auf die Erde und verwandelten sich in elf wunderschöne Mädchen von unbeschreiblicher Schönheit. Sie zogen sich aus, warfen sich ins Wasser und begannen zu baden. Als sie fertig waren mit Baden, zogen sie ihre Kleider wieder an, klopften auf die Erde, verwandelten sich wieder in elf Tauben, schwangen sich in die Lüfte und flogen davon. Genau nach einer halben Stunde kam die zwölfte Taube geflogen, warf sich auf die Erde und verwandelte sich in ein wunderschönes Mädchen, in ein so schönes Mädchen, daß es sich mit Worten nicht sagen und mit der Feder nicht beschreiben läßt, sie war unbeschreiblich schön. Kolja hatte viele vornehme Fräuleins und Photographien gesehen, doch eine derartige Schönheit hatte er nirgends angetroffen und noch nicht gesehen, und er dachte: „Sollte ich wirklich ein solcher Glückspilz sein und eine solche Schönheit zur Frau haben?“ Sie ging zweimal am Flußufer auf und ab, ohne Eile, zog sich aus und warf sich ins Wasser. Und sie badete nicht so sehr als daß sie untertauchte und unter Wasser schwamm. Kolja aber sprang in 353
diesem Augenblick hinter dem Busch hervor, ergriff ihre Kleider und versteckte sich hinter dem Weidenbusch. Als sie genug gebadet hatte, kam sie ans Ufer. Da sie ihre Kleider nicht sah, konnte sie nicht aus dem Wasser herauskommen, und sie sagte: „Wer seinen Spaß mit mir getrieben hat, gebt mir bitte meine Kleider!“ Aber die Kleider wurden ihr nicht gegeben. Da wiederholte sie noch einmal: „Wer seinen Spaß mit mir getrieben hat, gebt mir bitte meine Kleider! Bist du ein alter Mann, so sei mein Großvater, bist du eine alte Frau, so sei meine Großmutter, bist du in mittleren Jahren, so sei mein zweiter Vater oder meine zweite Mutter, bist du in meinem Alter, so sei mein erwählter Bruder oder meine erwählte Schwester.“ Doch Kolja gab ihr die Kleider nicht. Da sagte sie: „Gib mir meine Kleider, Nikolaj Iwanowitsch, ich schwöre dir, daß ich auf ewig deine treue und verläßliche Frau sein werde, und du sollst auf ewig mein treuer und verläßlicher Mann sein.“ Da brachte Kolja die Kleider und legte sie an die Stelle, woher er sie genommen hatte. Als sie angezogen war, rief sie Kolja: „Komm her!“ Als er hervorkam, gab sie ihm ihre Hand und drückte die seine kräftig, mit dem anderen Arm aber drückte sie ihn an ihre weiße Brust und gab ihm einen kräftigen Kuß. Und er antwortete auf ihren heißen, brennenden Kuß unzählige Male. Und bei ihrem Anblick vergaß er alles auf der Welt, all seine Leiden, und er sagte: „Hier ist meine Heimat, hier ist mein Glück und mein Vaterland!“ Sie aber sag354
te zu ihm: „Jetzt habe ich keine Zeit, mit dir zu sprechen, sonst könnten mein Vater oder meine Schwestern etwas ahnen.“ Er hatte sogar vergessen, wohin er wollte, erst beim Abschied fiel es ihm ein, und er fragte: „Weißt du vielleicht, wo Großvater Zar-Wassermann wohnt? Ich muß zu ihm.“ – „Wie sollte ich es nicht wissen, er ist mein leiblicher Vater. Er wohnt an die fünf Werst von hier, nicht nur er, sondern wir alle zusammen, nur in verschiedenen Schlössern. Er wohnt rechter Hand, die elf Schlösser meiner Schwestern stehen beieinander, mein Schloß aber, das allerschönste, steht abseits von den anderen, du wirst es sofort erkennen. Du mußt aber bis fünf Uhr abends hierbleiben und pünktlich um sechs zuerst zu mir kommen, wo ich dich auf der vorderen Schloßtreppe erwarten werde.“ Und Kolja erschien diese Zeit länger als die ganze Reise, seit er von zu Hause ausgezogen war. So sehr hatte er sich in einem einzigen Augenblick in sie verliebt. Sie sagte ihm aber: „Ich heiße die schöne Nastasja.“ Eilig verabschiedete sie sich von ihm, warf sich auf die Erde, verwandelte sich in eine Taube, schwang sich in die Lüfte und flog davon. Als er bis fünf Uhr abends gewartet hatte, rannte er was die Beine hergaben dorthin, wo die schöne Nastasja wohnte. Und er erkannte sofort ihr schönes, glänzendes Schloß, und sie stand schon auf der vorderen Schloßtreppe, empfing ihn mit einem Lächeln, nahm seinen Arm und führte ihn ins Schloß. Als sie eingetreten war, ging sie zu einem Tisch, klopfte mit der Hand auf den Tisch, und es er355
schienen zwölf Prinzessinnen und fragten sie: „Was befehlt ihr, schöne Nastasja?“ Sie sagt zu ihnen: „Tragt uns die besten Leckerbissen auf und teure Weine aus dem Ausland, denn ich heirate, damit ich mich nicht schämen muß, wenn ich meinen auserwählten Bräutigam bewirte.“ Und es erschienen so viele verschiedene Getränke und Leckerbissen, daß Kolja zwar schon viel auf der Welt hier und da gesehen hatte, aber so etwas, was hier aufgetragen wurde, hatte er noch nicht gesehen. Und sie begannen zu trinken und zu essen. Danach legten sie sich als Neuvermählte unbesorgt zur Ruhe. Am Morgen weckt die schöne Nastasja ihren Kolja, der bis zum Morgen nicht geschlafen, sondern sich die ganze Nacht an ihrer Schönheit geweidet und ergötzt hat. Sie sagte zu ihm: „Es ist Zeit, zu meinem Vater zu gehen, aber merke dir, führ alles aus, was er zu tun verlangt. Verlangt er, daß du Mittag essen sollst, dann iß zu Mittag, verlangt er, daß du ausruhen sollst, dann ruh aus, verlangt er, daß du spazieren gehen sollst, dann geh spazieren, und verlangt er, daß du arbeiten sollst, dann arbeite. Wenn er dir aber zum Unglück eine zu schwere Arbeit gibt, dann komm zu mir!“ Er kommt also zum Großvater Zar-Wassermann und sagt: „Guten Tag, Großvater Zar-Wassermann, ich habe die Ehre, mich bei dir zu melden.“ – „Du kommst zu spät!“ – „Ich habe keine Schuld, Großvater Zar-Wassermann, ich bin rechtzeitig von zu Hause weggegangen, aber weil es allzuweit war und ich den Weg nicht wußte, habe ich dich lange nicht finden können.“ 356
– „Na schön, wenn auch mit Verspätung, so bist du doch gekommen, daher verzeihe ich dir! Setz dich, iß zu Mittag, du bist sicher von der Reise hungrig.“ Er gehorchte, aber essen wollte er nicht. Und als der Großvater Zar-Wassermann sagte: „Leg dich hin, ruh dich aus!“, da war er sehr froh, weil er die ganze Nacht nicht geschlafen, sich an der Schönheit der schönen Nastasja geweidet und ergötzt hatte. Als er am Abend aufwachte, sagte Großvater Zar-Wassermann zu ihm: „Jetzt wollen wir in meinen Lieblingsgarten spazieren gehen.“ Als sie den Garten betraten, da erschien ihm der Garten widerwärtig und tot. Die Bäume waren vertrocknet. An jedem vertrockneten Baum hing ein menschliches Skelett. Und die Knochen klapperten im Wind. Der Garten war ringsum mit einem Pfahlzaun umgeben, und nur auf zwei Pfählen waren keine Menschenköpfe. Als sie den Garten verlassen hatten, zeigt Großvater ZarWassermann mit der Hand: „Siehst du dort den Wald?“ Kolja sagte: „Ja.“ – „Er ist siebzehn Deßjatinen7 groß. Du sollst ihn bis zum Morgen ganz fällen, das Holz sortieren, die Äste zusammentragen und verbrennen, die Baumstümpfe herausziehen, pflügen, säen, Weizen zur Reife bringen, mähen, dreschen, das Stroh zusammentragen, das Korn mahlen und morgen früh zum Frühstück eine Pirogge backen und mit der heißen Pirogge zu mir kommen. Und wenn du das nicht tust, so 7
Deßjatine – Ehemaliges russisches Flächenmaß = 1,09 ha. (Anm. d. Redaktion.)
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sieh hin, – auf dem Zaun fehlen zwei Köpfe, dann wird dein Kopf hier an diesem Pfahl hängen.“ – „Wie soll denn ein einziger Mensch das in einer Nacht fertigbringen! Wie soll man denn Getreide in einer Nacht zur Reife bringen!“ Ihm schwindelte vor Kummer, er begann bitterlich zu weinen und fiel ohne Besinnung zu Boden. Und er weiß nicht, wie lange er dort gelegen hat, und als er zu sich kam, dachte er: „Ich habe am längsten auf dieser Welt gelebt.“ Plötzlich aber erinnerte er sich seiner schönen Nastasja und dachte: „Ich will gehen und wenigstens ein letztes Mal vor dem Tode von ihr Abschied nehmen.“ Er ging und konnte kaum ein Bein vor das andere setzen. Die schöne Nastasja aber empfing ihn mit einem Lächeln auf der vorderen Schloßtreppe und sagte zu ihm: „Warum gehst du so sehr traurig und betrübt, hat dir etwa mein Vater eine zu schwere Arbeit aufgegeben?“ – „Er ist nicht wert, daß du ihn Vater nennst, möge es ihn in Stücke zerreißen!“ – „Hat er dir vielleicht eine zu schwere Arbeit gegeben?“ – „Ja, er hat mir gesagt, ich soll siebzehn Deßjatinen Holz fällen, das Holz sortieren, die Äste verbrennen, die Stümpfe herausziehen, pflügen und Weizen säen, ihn zur Reife bringen, mähen, dreschen, das Stroh zusammentragen, das Korn mahlen, eine Pirogge backen und am Morgen mit der heißen Pirogge zum Tee kommen. Und wenn ich’s nicht tue, dann soll mein Kopf am Zaun hängen.“ – „Nun, mach dir nichts draus. Der Morgen ist klüger als der Abend, und wir beide werden gescheiter sein.“ Und sie nahm seinen Arm und führte ihn ins 358
Schloß. Während sie zu Mittag aßen und Tee tranken, war es schon zehn Uhr abends geworden. Sie nahm seinen Arm und sagte: „Wir wollen auf die Schloßtreppe hinausgehen.“ Als sie auf der Schloßtreppe waren, holte sie ein Pfeifchen aus der Tasche und pfiff, da kam plötzlich eine unzählbare Menge herbeigeflogen und stellte sich regimenterweise vor ihr auf. Als sie sich aufgestellt hatten, fragten sie: „Was befehlt Ihr uns zu tun, schöne Nastasja?“ – „Seht dort die siebzehn Deßjatinen Wald! Einige von euch müssen ihn fällen, andere die Äste verbrennen, andere das Holz sortieren, andere pflügen, andere die Stümpfe herausziehen, andere säen, andere den Weizen zum Wachsen bringen, andere gießen, andere mähen, das Stroh zusammentragen, den Weizen dreschen und mir das Mehl bis zwölf Uhr bringen, damit ich den Teig anrühren kann, damit meine Pirogge zum Morgen gut gelingt. Marsch, an die Arbeit! Und wenn ihr das nicht tut, dann bade ich euch alle in Weihwasser.“ Und sie flogen davon, stießen einander in die Seiten, flogen davon, daß die Funken von ihnen nur so sprühten, grüne, blaue und rote, fliegen und sagen: „Weswegen uns diese Strenge? Da haben wir doch ganz andere Dinge vollbracht. Das ist ja keine Arbeit, das ist Spielerei! Und niemals sonst hat sie dieses Wasser erwähnt.“ Das war für sie das allerhöchste Strafmaß. Und es war noch keine Stunde vergangen, als sie ihr schon das Mehl brachten. Am Morgen weckt sie ihren Kolja und sagt: „Es ist Zeit, zu gehen und meinem Vater die heiße Pirogge zu brin359
gen. Wenn er dir aber etwas sagt, dann wirf ihm kurzerhand die heiße Pirogge ins Gesicht.“ Er nahm die Pirogge und ging. Um diese Zeit aber setzte sich Großvater Zar-Wassermann gerade zum Tee, und er sagte: „Bist ein tüchtiger Kerl, Kolja, doch ich sehe, daß du das nicht mit eigenen Händen vollbracht hast.“ Da holte Kolja aus und schleuderte ihm die Pirogge ins Gesicht, so daß sie auseinanderbrach und die Stücke über den Fußboden flogen. Großvater Zar-Wassermann aber las alle Stücke auf und verschlang sie wie ein hungriger Wolf. Als er sich ausgeruht hatte, sagt er zu ihm: „Hebe rings um mein Schloß einen See aus, in die Länge wie in die Breite achtzehn Werst, und fülle ihn mit Wasser, so daß auf diesem See nicht nur einfache, sondern auch Seeschiffe fahren können. Und in der Mitte des Sees sollst du eine kristallene Brücke mit vergoldetem Geländer bauen, und alle drei Saschen einen Obstbaum pflanzen, so daß der eine Baum blüht und am anderen die Äpfel wachsen, nicht einfache Äpfel, sondern goldene. Und unter jedem Baum sollst du eine Quelle mit Quellwasser graben, damit ich etwas zum Waschen und zum Trinken habe, wenn’s das Unglück will und ich beim Spazierengehen in Schweiß gerate. Und wenn du das zum Morgen nicht fertig hast, wird dein Kopf an diesem Zaunpfahl hängen.“ Kolja dachte nach und begann bitterlich zu weinen. „Wie soll man denn das in einer Nacht schaffen können!“ Doch ging er in Tränen zu seiner schönen Nastasja, die ihn schon auf der Schloßtreppe erwartete. „Warum 360
bist du so sehr traurig, Kolja? Hat dir mein Vater vielleicht eine zu schwere Arbeit aufgegeben?“ – „Nenn diesen Auswurf nicht Vater, möge es ihn Stücke reißen oder möge ihn der Donner erschlagen!“ – „Warum so unfreundlich? Hat er dir etwa eine zu schwere Arbeit aufgegeben?“ – „Er hat mir gesagt, ich soll rings um sein Schloß einen See ausheben, in die Länge wie in die Breite achtzehn Werst, und ihn mit Wasser füllen, so daß auf ihm nicht nur einfache, sondern auch Seeschiffe fahren können, und in der Mitte des Sees soll ich eine kristallene Brücke mit vergoldetem Geländer bauen und alle drei Saschen Obstbäume pflanzen, so daß der eine Baum blüht und auf dem anderen goldene Äpfel wachsen, und unter jedem Baum soll ich eine Quelle mit Quellwasser graben, und wenn du das zum Morgen nicht fertig bringst, dann wird dein Kopf am Zaunpfahl hängen.“ – „Nun, mach dir nichts draus, der Morgen ist klüger als der Abend, und wir beide werden gescheiter sein; jetzt aber komm Mittag essen und Tee trinken.“ Als sie fertig waren mit Teetrinken, war es zehn Uhr abends. Sie nahm seinen Arm und sagte: „Wir wollen auf die Schloßtreppe gehen.“ Sie pfiff in ihr Pfeifchen, da kam eine unübersehbare Menge, ein riesiger Haufen herbeigeflogen und fragt: „Was befiehlst du uns zu tun, schöne Nastasja?“ Sie sagte zu ihnen: „Ihr müßt am großen Schloß einen See ausheben und mit Wasser füllen und Seeschiffe mit Besatzung darauf setzen und in der Mitte eine kristallene Brücke mit vergoldetem Geländer bauen und Obstbäume pflan361
zen, so daß der eine Baum blüht und am anderen goldene Äpfel wachsen, und unter jedem Baum eine Quelle mit Quellwasser graben. Denkt aber daran, wenn ihr das alles gemacht habt, dann treibt am Ende des Geländers den letzten Nagel bis zur Hälfte hinein und legt neben ihn einen Hammer von gewöhnlichem Gewicht, so daß ein gewöhnlicher Mensch mit ihm hämmern kann. Marsch, an die Arbeit! Und wenn ihr das nicht tut, dann bade ich euch alle in Weihwasser!“ Und sie flogen davon, stießen einander in die Seiten und stritten untereinander: „Was sind das für strenge Worte? Wir haben ganz andere Dienste für sie geleistet, aber so heftige Worte haben wir nie von ihr zu hören bekommen.“ Es ist das aber für sie die allerhöchste Strafe, wenn sie einen badet, dann ist er gleich tot. Und es war noch keine Stunde vergangen, als sie schon mit der Meldung geflogen kamen, daß die Brücke und alles fertig ist. Da weckt sie Kolja zeitig in der Frühe und sagt: „Geh, Kolja, es ist schon Zeit für dich zu gehen, sonst wirst du die Brücke nicht rechtzeitig überqueren. Wenn du zum Ende des Geländers kommst, wirst du dort einen Hammer von gewöhnlichem Gewicht liegen sehen, den mußt du in die Hände nehmen und warten, bis mein Vater, Großvater Zar-Wassermann, erscheint.“ Als er hinkam und gerade den Hammer ergriffen hatte, sieht er plötzlich Großvater Zar-Wassermann auf einem Feuerwagen einherjagen, und er schreit ihm zu: „He, Großvater Zar-Wassermann, fahre nicht weiter, die Brücke ist noch nicht fertig.“ Und 362
im Nu war er schon bei Kolja; Kolja aber schlug in diesem Augenblick mit dem Hammer auf den Nagel, und der Nagel fuhr bis zum Ende hinein. Kolja aber sagte unterdessen: „Fuh! Wie bin ich müde!“ Großvater Zar-Wassermann kletterte vom Wagen und sagte: „Bist ein tüchtiger Kerl, Kolja, doch ich sehe, daß du das nicht mit eigenen Händen vollbracht hast.“ – „Nun, alter Griesgram, alles ist dir nicht recht und nicht gut genug.“ Und er lief mit dem Hammer in Händen zu ihm hin, holte mit aller Jugendkraft, die er besaß, aus und schlug ihn auf die Nase, daß die Funken sprühten. Aber Großvater Zar-Wassermann sagte: „Genug des Spielens und Scherzens, du bist noch jung, ich aber bin schon zu alt, mir ist nicht nach Spaßen zumute.“ Da dachte Kolja: „Ich habe ihn totschlagen und seinen Schädel in tausend Stücke zertrümmern wollen, er aber denkt, ich mache ein Spiel mit ihm.“ Großvater Zar-Wassermann setzte Kolja in den Feuerwagen, und sie fuhren ins Schloß. Als sie zu Mittag gegessen und sich ausgeruht hatten, sagte er zu Kolja: „Du sollst mir bis zum Morgen mein Lieblingspferd zureiten, es steht hinter zwölf gußeisernen Türen und ist mit zwölf starken Ketten angeschmiedet. Es hat seit seiner Geburt das Tageslicht noch nicht gesehen und weiß nicht, daß es außer ihm noch ein Lebewesen auf der Welt gibt.“ Da geht Kolja fröhlich zu seiner schönen Nastasja. Die schöne Nastasja aber empfängt ihn auf ihrer Schloßtreppe und fragt: „Warum bist du heute so sehr lustig, Kolja? Hat dir mein Vater etwa eine leichte Arbeit aufgegeben?“ 363
– „Ja!“ – „Und was hat er dir aufgegeben?“ – „Er hat gesagt, ich soll den Hengst zureiten, der noch nie das Licht des Tages gesehen hat.“ – „Heute gerade solltest du weinen, du hast allen Grund dazu. Jene Aufgaben waren keine Aufgaben, das aber ist eine Aufgabe, das betrifft uns beide persönlich, unsere Hände. Nimm hier die drei Nadeln, geh in die Schmiedewerkstätten, laß aus der ersten Nadel eine Peitsche von einhundert Pud schmieden, aus der zweiten Nadel einen Zaum von dreihundert Pud und aus der dritten Nadel einen Sattel von sechshundert Pud.“ Als Kolja in die Schmiedewerkstätten kam und die Nadeln hingab und sagte, man soll ihm diese Dinge schmieden, lachten die Schmiede ihn aus, beschimpften ihn und stießen ihn hinaus, und er kam in Tränen zur schönen Nastasja zurück. Die fragte ihn: „Warum kommst du und weinst?“ – „Deine frechen Diener haben mich beinah verprügelt und mich hinausgestoßen.“ Kolja tat ihr leid, und mit schnellen Schritten ging sie mit ihm in die Schmiede-Werkstätten. „Welches Recht habt ihr, meinen treuen Diener zu kränken und zu beleidigen?“ So unerträglich leid tat ihr Kolja. „Und was sagt denn er? Kann man etwa aus einer Nadel solche Dinge schmieden?“ – „Nun, natürlich kann man das; nehmt die Zange und steckt sie wie gewöhnliches Eisen ins Schmiedefeuer, und es wird ein Stück Stahl daraus, aus dem ihr ohne weiteres diese Dinge schmieden könnt.“ Als sie die Nadeln ins Schmiedefeuer steckten, nahmen die Nadeln an Größe zu, und wirklich schmiedeten sie die 364
Peitsche, den Zaum und den Sattel. Sie sagte zu Kolja: „Nimm die Peitsche!“ Aber er konnte sie nicht aufheben, ja er konnte sie nicht einmal auf der Erde von der Stelle bewegen. Da nimmt sie alle drei Dinge auf den Arm, und sie gingen an die Stelle, wo unter der Erde der Hengst stand. Als sie die erste schwere Gußeisentür aufgebrochen hatten, spürte das Pferd: „Ich bin also nicht allein, es gibt ein Lebewesen auf der Welt, es gibt noch jemanden.“ Und es riß so stark, daß es alle zwölf Eisenketten zerriß und die Gußeisentüren zerbrach und ins Freie rennen wollte, als die schöne Nastasja es so heftig zwischen die Ohren auf den Kopf schlug, daß das Pferd in die Knie ging, und sie warf ihm den Zaum über den Kopf und legte ihm den Sattel auf den Rücken, sprang selbst auf das Pferd und jagte los über den lockeren Sand durch die Steppe. Wie sehr das Pferd auch sprang und rannte, die schöne Nastasja schlug es erbarmungslos mit der hundert Pud schweren Peitsche, daß das Fleisch stückenweise auf die Erde fiel und nur die Haut an ihm blieb und die nackten Knochen. Als es am Ende seiner Kräfte war, legte sie ihm einen einfachen Zaum an und legte einen gewöhnlichen Sattel auf seinen Rücken, gab Kolja ein gewöhnliches Tauende, setzte ihn auf den Sattel und sagte: „Nimm, und jetzt reite! Und wenn mein Vater herauskommt und dich beschimpft, dann spring aus dem Sattel und schlag das Pferd aus aller Kraft mit der Peitsche. Das Pferd, sobald es merkt, daß kein Reiter auf ihm ist, wird über die Steppe jagen. Meinem Vater aber wird es leid 365
um das Pferd sein, er wird ihm nachsetzen, du aber komm schnell zu mir gelaufen!“ Und kaum hatte er sich auf das Pferd gesetzt und den Hof noch nicht überquert, da erschien Großvater ZarWassermann bei Kolja. „Ach, du Lumperkerl, warum hast du mein Lieblingspferd so zuschanden geschlagen? Heißt das etwa zureiten? Dafür werde ich dir’s zeigen.“ Aber Kolja sagte zu ihm: „Dir ist alles nicht recht und nicht gut genug.“ Und er sprang aus dem Sattel und schlug das Pferd aus aller Kraft mit der Peitsche. Und das Pferd, sobald es sah und merkte, daß kein Reiter auf ihm war, jagte wie ein Sturmwind über die Steppe. Großvater Zar-Wassermann aber hatte keine Zeit, mit Kolja abzurechnen, er rannte hinter dem Pferd her. Und Kolja ging zu seiner schönen Nastasja. Die sagte zu ihm: „Wir beide können hier nicht mehr bleiben. Jetzt hat mein Vater alles erfahren, wie es ist. Wir müssen jetzt fortziehen, in deine teure, liebe Heimat zu deinen Eltern, und dort werden wir in Ruhe leben.“ Da erst erinnerte sich Kolja seiner Eltern. Bis dahin hatte er beim Anblick der schönen Nastasja seine teure Heimat und seine Eltern vergessen. Und er freute sich sehr, daß er seine Eltern wiedersehen würde. Und sie brachen auf und machten sich auf den weiten Weg. Und sie gingen also kurze oder lange Zeit, nah oder fern, und sie sagt: „Sieh mal nach und leg dich auf die Erde und höre, ob nicht die Verfolger hinter uns her sind.“ Er sah nach, legte sich auf die Erde, stand auf und sagte: „Ich höre nichts und sehe nichts.“ Sie legte sich auf die Erde 366
und sagte: „Dicht hinter uns sind die Verfolger. Ich werfe mich auf die Erde und werde zu einer Herde Ferkel, wirf auch du dich auf die Erde, und du wirst zu einem Schweinehirten. Es wird eine wilde Troika gefahren kommen, und die Leute darin werden fragen: ‚He, Schweinehirt! Hast du vielleicht gesehen, ob hier ein Kavalier mit seinem Fräulein vorbeigekommen ist?’ Du aber antworte, daß du nichts gesehen und nichts gehört hast.“ Sie warfen sich also auf die Erde, sie wurde zu einer Schweineherde und er zu einem Schweinehirten. Und sie hatten dies kaum getan, da kommt eine wilde Troika angejagt, und sie fragen: „Schweinehirt, hast du vielleicht gesehen, ob hier ein Kavalier mit seinem Fräulein vorbeigekommen ist?“ – „Nein, ich habe nichts gesehen und nichts gehört.“ Die Verfolger fuhren weiter, sie aber warfen sich auf die Erde und wurden, was sie früher gewesen waren. Die Troika aber fuhr noch eine gewisse Strecke, dann kehrte sie zum Großvater Zar-Wassermann zurück. Und Großvater Zar-Wassermann fragt sie: „Nun, habt ihr sie eingeholt?“ – „Nein, wir haben sie nicht eingeholt und nichts gesehen außer einem Schweinehirten, der hütete seine Schweineherde.“ – „Ach ihr Dummköpfe, ihr Satanskerle! Die hättet ihr pakken müssen, das sind sie. Fahrt jetzt los, und was immer euch auf dem Weg begegnet, merkt euch, das sind sie.“ Die schöne Nastasja sagt zu ihrem Kolja: „Hör, Kolja, sieh mal nach und leg dich mit dem Ohr auf die Erde, ob die Verfolger hinter uns her sind.“ Kolja lauschte ein wenig und sagte: 367
„Ich höre niemanden und sehe nichts.“ Sie legte sich auf die Erde und sagte: „Dicht hinter uns sind die Verfolger. Ich werfe mich auf die Erde und werde zu einer Kirche, und du wirfst dich auf die Erde und wirst zum Kirchendiener. Sie werden aber nicht merken, daß es keine richtige Kirche ist, ohne Glocken und Heiligenbilder, und sie werden Angst haben, sich der Kirche zu nähern.“ Und sie warf sich auf die Erde und verwandelte sich in eine Kirche, und er warf sich auf die Erde und verwandelte sich in einen Kirchendiener. Und kaum hatten sie dieses Stückchen vollbracht, da kommt plötzlich eine wilde Troika angejagt, macht gegenüber der Kirche halt und schreit: „He, Kirchendiener, hast du vielleicht gesehen, ob hier ein Kavalier mit seinem Fräulein vorbeigekommen ist?“ – „Nein, ich habe nichts gesehen.“ Und sie fuhren noch eine gewisse Strecke und kehrten dann um. Sie aber klopften auf die Erde, wurden, was sie früher gewesen waren, und zogen weiter. Als die Verfolger zu Großvater Zar-Wassermann kamen, fragt Großvater Zar-Wassermann sie: „Nun, habt ihr sie eingeholt und mitgebracht?“ – „Nein, wir haben sie nicht mitgebracht und niemanden eingeholt und nichts gesehen, nur eine Kirche haben wir gesehen und den Kirchendiener.“ – „Ach ihr Dummköpfe, ihr Satanskerle, das sind sie, die hättet ihr packen müssen.“ – „Wie konnten wir uns denn der Kirche nähern, sie hat Glocken und Heiligenbilder.“ – „Ach ihr Dummköpfe, ihr Satanskerle, es ist eine falsche Kirche, ohne Glocken und Heiligenbilder. 368
Nein, ich sehe schon, ihr holt sie niemals ein. Ich muß selber nach – auf dem Springer, der dreibeinigen Stute.“ Und Großvater Zar-Wassermann ritt auf seiner dreibeinigen Stute davon, die mit einem Satz dreihundert Werst zurücklegte. Die schöne Nastasja sagte zu Kolja: „Leg dich doch mal auf die Erde und lausche und sieh nach, ob die Verfolger hinter uns her sind.“ Kolja sah nach, legte sich mit dem Ohr auf die Erde und sagte: „Ich höre nichts und sehe nichts.“ Darauf legte sie sich auf die Erde und sagte: „Dicht hinter uns sind die Verfolger, und mein Vater selbst jagt uns nach, und vor ihm kann man sich nicht verbergen. Ich werfe mich auf die Erde und werde zu einem großen See, und du wirfst dich auf die Erde und wirst zu einem Barsch, er aber wird uns gewiß einholen, sich auf die Erde werfen und in einen Hecht verwandeln, und er wird dich jagen, um dich zu verschlingen. Du aber paß auf und sei auf der Hut, halt ihm nicht deinen Kopf hin, sondern halt deinen Schwanz hin, gegen die Wolle kann er einen Barsch nicht verschlingen. Jetzt hängt alles von dir ab, und wenn du nicht aufpaßt, sind wir beide verloren.“ Und sie warf sich auf die Erde und verwandelte sich in einen riesigen See. Er aber warf sich auf die Erde und verwandelte sich in einen Barsch. Und Großvater ZarWassermann kam auf dem Springer, seiner Stute, angeritten, warf sich auf die Erde, verwandelte sich in einen Hecht und jagte dem Barsch nach. Und als er ihn gerade verschlingen wollte, hielt der ihm den Schwanz hin, und an ein Verschlin369
gen war überhaupt nicht zu denken. Drei Tage und drei Nächte jagte der Hecht den Barsch, aber verschlingen konnte er ihn nicht, immer hielt der Barsch seinen Schwanz hin. Da war Großvater Zar-Wassermann ganz erschöpft und am Ende seiner Kraft, und er sagte mit drohender Stimme: „Du, meine liebe und abscheuliche Tochter, dafür sollst du drei Jahre ein Salzsee sein.“ – „Und du selbst sollst für diese Gemeinheit und Bosheit drei Jahre lang eine Salzsäule sein. Du aber, Kolja, du hast keinerlei Schuld, geh nach Hause, aber denke an den Eid, den du mir geschworen hast, heirate drei Jahre lang keine andere, und in drei Jahren komme ich zu dir.“ Und Kolja schwamm zum Ufer, warf sich auf die Erde und wurde, was er früher gewesen war. Am ersten Dorf angekommen, mietete er eine Posttroika und jagte davon in seine liebe Heimat. Es ist ganz unmöglich, zu erzählen oder auch nur zu beschreiben, wie Mutter und Vater ihren lieben Sohn empfingen, den sie schon längst tot geglaubt hatten. Und sie führten ein sehr schönes Leben, und ihr Lob war in aller Munde. Und nicht nur sie lebten in Reichtum, sondern auch die ganze Umgebung. Wer immer mit Nöten und Bitten zu ihnen kam, sie halfen allen. Und das Geld wurde bei ihnen nicht weniger, sondern mehr. Und es vergeht also ein Jahr, es vergeht auch das zweite, und es kommt das letzte und dritte. Doch Koljas Eltern reden die ganze Zeit: „Söhnchen, du mußt heiraten, solange wir noch leben, wir möchten wenigstens noch sehen, wie du mit 370
deiner jungen Frau leben wirst.“ Er aber schlug es immer mit Bestimmtheit ab und sagte: „Die Zeit ist noch nicht gekommen, laßt mir noch meine Freiheit; ich werde noch lange genug verheiratet sein.“ Weil ihm aber diese drei Jahre wie eine ganze Ewigkeit vorkamen, dachte er, es seien nicht erst drei Jahre, sondern ganze neun vergangen, und er beschloß, ein schönes Mädchen zu heiraten; mit der feierten sie und waren lustig, machten Polterabende und freiten etwa drei Monate. Und es war schon eine besondere Kirche für sie gebaut worden, damit sie in der Nähe ihres Hauses getraut werden konnten. Weil die Braut weit weg wohnte, mußte sie mit ihrem Gefolge allein gefahren kommen. Und als die Braut angekommen war, feierten sie ihre letzten Stunden und den Abend bei Kolja, dann aber sollten sie zur Trauung gehen; da kommt auf einmal zu seiner Taufmutter ein altes, steinaltes Weib auf zwei Krücken gegangen, mit schrecklichen Hauern, wie bei einem Wildschwein, und bittet um ein Nachtlager. Die Taufmutter antwortet ihr: „Ich ließe dich übernachten, aber ich will gerade zur Hochzeit gehen, mein Patenkind Kolja verheiraten. Und zu Hause bleibt niemand zurück, weil ich allein wohne.“ – „Nun, das macht doch nichts, mein Mütterchen, ich werde dir nichts wegnehmen, denn ich bin viel zu müde. Sperre mich mit starken Schlössern ein, ich werde mich auf den Ofen legen und bis zum Morgen schlafen.“ Und sie ließ sie bei sich 371
übernachten und gab ihr zu essen, was sie gerade da hatte. Die Alte aber aß und legte sich auf den Ofen schlafen. Und die Taufmutter machte sich fertig, zur Hochzeit zu gehen. Die Alte auf dem Ofen sagt zu ihr: „Werden bei euch auf den Hochzeiten auch Zauberstückchen gemacht?“ – „Was für Zauberstückchen? Wir sind Dorfleute und kennen nichts.“ – „Dann gib mir ein Stückchen Teig, ich werde dich ein Zauberstückchen lehren.“ Und die Taufmutter kratzte im Backtrog ein Stückchen Teig zusammen, und sie rollte es zu einer Kugel, wie ein Ei, dann brach sie’s in zwei Hälften und rollte zwei Kugeln. „Siehst du jetzt hier diese zwei Kugeln?“ – „Ja.“ Und sie warf sie auf den Tisch, da standen plötzlich eine Ente und ein Enterich da, keine einfachen, sondern Schwanz und Schnabel aus Gold. Und sie laufen auseinander zu den entgegengesetzten Tischenden, drehen sich gleichzeitig um, laufen in der Mitte des Tisches wieder zusammen und schlagen Schnabel gegen Schnabel. Die Ente sagt: „Wie?“, und der Enterich sagt: „Wie du willst.“ „Da hast du ein Zauberstückchen! Geh hin und zeig’s!“ Darauf nahm sie Ente und Enterich, warf sie auf den Tisch, und sie wurden wieder zwei Teigkugeln. Sie nahm diese zwei Kugeln, wickelte sie in ein Tuch, steckte sie in die Tasche und ging zur Hochzeit. Als sie hinkam, feierten die Gäste schon, tanzten, aßen und tranken. Und sie feierte
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ebenfalls mit ihnen und vergaß ihr Zauberstückchen. Vater und Mutter aber sagten: „Nun, genug gefeiert, es ist Zeit, Kinder, euch den Segen zu geben.“ Und sie riefen beide zur Kniebank und nahmen Heiligenbilder zum Segnen in die Hände. Da erst dachte die Taufmutter wieder an ihr Zauberstückchen und sagte: „Wartet ein wenig, ich will euch ein Zauberstückchen zeigen.“ Da sagten Koljas Eltern zur Taufmutter: „Hast du etwa nicht genug Zeit gehabt, dein Zauberstückchen zu zeigen? Auf was für Einfälle kommst du noch!“ – „Nein, bitte, laßt mich, ich zeige es euch jetzt gleich.“ – „Du kannst es doch zeigen, wenn sie getraut worden sind und wieder feiern und lustig sind.“ Doch das fröhliche Publikum war schon angeheitert und bat, mit dem Segnen zu warten: „Soll sie uns ihr Zauberstückchen zeigen!“ Und die Taufmutter ging zum Tisch, holte aus der Tasche die Teigkugel und sagte: „Seht ihr hier die Teigkugel?“ – „Ja!“ Sie brach sie in zwei Teile, rollte zwei Kugeln und zeigte sie. „Seht jetzt hier die zwei Teigkugeln!“ – „Na und? Was weiter?“ – „Paßt nur auf!“ Und sie warf die Kugeln auf den Tisch, da standen auf einmal eine Ente und ein Enterich da, keine einfachen, Schwanz und Schnabel aus Gold. Und sie laufen auf dem Tisch auseinander, der eine an das eine Tischende, der andere ans andere, drehen sich gleichzeitig um, laufen in der Mitte des Tisches wieder zusammen und schlagen Schnabel gegen Schnabel. Die Ente sagt: „Wie?“ Und der Enterich sagt: „Wie du willst.“ Dem Bräutigam ist, als hätte 373
ihn jemand mit Nadeln in den Hintern gestochen, er springt auf, läuft von seiner Braut weg und fragt die Taufmutter: „Taufmutter, wer hat dich dieses Zauberstückchen gelehrt?“ – „Bleib du ruhig auf deinem Platz neben der Braut sitzen. Ich kenne es selber.“ – „Nein, das hat dich jemand gelehrt.“ – „Bleib doch neben deiner Braut sitzen!“ – „Sag mir, wer es dich gelehrt hat. Und wenn du’s nicht sagst, nehme ich den Segen nicht an.“ Da sagte die Taufmutter: „Zu mir ist eine Alte auf zwei Krücken gekommen und hat mich dieses Zauberstückchen gelehrt.“ – „Nun, dann geh schnell zu ihr und bring sie schnell hierher auf die Hochzeit!“ – „Sie ist so alt und müde, daß sie wahrscheinlich nicht kommen wird.“ – „Wenn du sie bittest, wird sie kommen, wenn du aber nicht gehst, dann geh ich selber und hole sie.“ Und er wollte schon aufbrechen. Da sagte die Taufmutter zu ihm: „Setz dich auf deinen Platz neben der Braut, ich gehe nach der Alten.“ Als die Taufmutter nach Hause kam, lud sie die Alte zur Hochzeit ein und sagte zu ihr: „Bitte komm, der Bräutigam bittet dich zur Hochzeit.“ – „Ach, wo denkst du hin, meine Ernährerin, was bin ich für ein Hochzeitsgast. Ich bin so müde, daß ich froh bin, mich auf dem Ofen ausruhen zu können, und außerdem bin ich schon zu alt.“ – „Nein, sei so gut, komm! Der Bräutigam ist nämlich wie von Sinnen, er wollte selber laufen, dich zu holen, und will den Segen der Eltern nicht annehmen, ehe er dich nicht selber gesehen hat.“ – „In diesem Falle muß ich wohl gehen.“ Die Alte war aber ganz zerlumpt, 374
und der blaue Sarafan8 an ihr bestand aus lauter Flicken. Sie nahm die zwei Krücken an die Brust, die Taufmutter faßte sie unter die Arme und führte sie auf die Hochzeit. Und kaum hatten sie das Haus betreten, da sah sie der Bräutigam und stürzte der Alten in die Arme, und er begann sie zu umarmen und zu küssen und sagte: „Woher bist du gekommen, meine schöne, langerwartete Braut?“ Da erstarrten die Leute und alle Gäste vor Verwunderung und standen wie versteinert. Vater und Mutter aber sagen: „Sohn, wie kann sie deine Braut sein, sie ist doch mehr als siebenhundert Jahre alt, und du erst dreiundzwanzig. Sie ist für dich keine Großmutter mehr, sondern eine Urgroßmutter.“ – „Nein, da läßt sich nichts machen, das ist wohl mein Los. Sie hat mich vor dem gewissen Tod errettet. Und wenn sie nicht gewesen wäre, dann weilte ich schon lange nicht mehr unter den Lebenden. Nicht ich bin hier schuld, sondern ihr selber, und ich habe mich eurer elterlichen Gewalt gefügt. Und deswegen bitte ich und verlange, mich mit ihr zu segnen.“ Da sagten die Eltern zu der Alten: „Vielleicht willst du ihn nicht zum Manne haben. Großmütterchen, weil du gar zu alt bist, und er jung, und du bald sterben wirst?“ – „I wo, meine Besten, und wenn er wenigstens einen Tag mir gehört. Ich will mit dem jungen Burschen leben.“ – „Vielleicht nimmst du ein Abstandsgeld, Großmütterchen, wir geben dir, 8
Trachtenrock der russischen Bäuerin. (Anm. d. Redakti-
on.)
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soviel du willst: Gold, Silber oder Edelsteine.“ Sie sagte zu ihnen: „Ich brauche nicht allzuviel.“ Mit den Krücken zog sie Kolja heran, nahm ihn auf ihre Arme und sagte: „Mehr brauche ich nicht, nur diese eine Last hier.“ Da sehen Koljas Eltern, daß nichts sie auseinanderbringen kann, und sie sagten, wenn auch sehr widerwillig: „Nun gut, stellt euch unter unseren elterlichen Segen. An diesem Leid seid ihr selber schuld.“ Und sie nahmen ein Heiligenbild, um den Segen zu erteilen. Es waren aber viele Gäste da, und als die hörten, daß eine andere Braut aufgetaucht war, kam das ganze Haus herbeigelaufen, um zuzusehen, so daß auch das junge Paar gedrückt wurde. Die Alte aber schwang ihre Krücken und sagte zu den Leuten: „Ihr habt mich gedrückt, macht etwas Platz, ich bin alt und könnte sonst hinfallen, weil meine alten Beine mich schlecht tragen.“ Die Leute machten etwas Platz. Und die Alte warf sich auf den Fußboden und verwandelte sich in eine so wunderschöne Jungfrau, daß es sich weder mit Worten sagen noch mit der Feder beschreiben läßt, von so unbeschreiblicher Schönheit. Und neben ihr stehen zwölf Prinzessinnen und halten ihr Brautkleid und ihre Toiletten. Da sagt der Sohn zu seinen Eltern: „Seht euch jetzt meine schöne Nastasja hier an und vergleicht sie mit dieser meiner Braut. Sind sie sich etwa gleich?“ Die erste Braut aber war ihr gegenüber nicht einmal den kleinen Finger wert. Da stellten die Eltern, statt sie zu segnen, das Heiligenbild auf seinen Sims, warfen sich der schönen Nastasja zu Füßen und baten um 376
Vergebung und Verzeihung für die Kränkung. Sie vergab ihnen und sagte: „Das ist für mich schon nichts Neues mehr und geschieht nicht das erstemal.“ Und Kolja sagte zu seinem treuen Freund: „Nimm du meine erste Braut zur Frau, denn sie ist hübsch.“ Und die Braut liebte auch Koljas Freund und wußte, daß er genauso reich ist wie Kolja, und sie war gern einverstanden. Die Eltern gaben ihnen ihren Segen. Und danach wurden sie getraut und gaben ein Fest für alle Welt, und die zwei Paare lebten von nun an in Liebe und Eintracht. Auch mich luden sie zum Fest ein, ich trank Bier und Wein, ist alles um den Bart geronnen, der Mund hat nichts abbekommen.
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35 Die Froschzarin In alten Zeiten, es ist schon lange her, hatte ein Zar drei Söhne – alle waren schon erwachsen. Der Zar sagt: „Kinder! Macht euch jeder eine Armbrust und schießt: welche Frau den Pfeil bringt, die soll die Braut sein; wenn ihn niemand bringt, dann heißt das, der soll nicht heiraten.“ Der älteste Sohn schoß, den Pfeil brachte eine Fürstentochter; der mittlere schoß, den Pfeil brachte eine Generalstochter; aber dem kleinen IwanZarewitsch brachte den Pfeil aus dem Sumpf ein Frosch in seinen Zähnen zurück. Jene Brüder waren lustig und guter Dinge, Iwan-Zarewitsch aber versank in Trübsinn und begann zu weinen: „Wie soll ich mit einem Frosch zusammenleben? Ein Leben leben – das ist mehr als einen Fluß zu durchwaten oder ein Feld zu überqueren!“ Er weinte und weinte, aber es war nichts zu machen – er nahm den Frosch zur Frau. Sie wurden alle nach dem dortigen Brauch getraut; den Frosch trugen sie auf einem Teller. So leben sie nun. Der Zar wollte einmal an Geschenken von seinen Schwiegertöchtern sehen, welche von ihnen die geschickteste ist. Er erließ einen Befehl, die Schwiegertöchter sollen ein Hemd nähen und ihm bringen, um zu zeigen, welche am besten nähen kann. Iwan-Zarewitsch ver378
sank wieder in Nachdenken und weint: „Was wird nur mein Frosch machen! Alle werden spotten.“ Der Frosch kriecht über den Fußboden und quakt nur. Als Iwan-Zarewitsch eingeschlafen ist, ging er vors Haus, warf seine Haut ab, wurde zu einem schönen Mädchen und rief: „Ihr Ammen und Zauberinnen! Macht das und das!“ Die Zauberammen brachten auf der Stelle ein Hemd allerbester Arbeit. Sie nahm es, rollte es zusammen und legte es neben Iwan-Zarewitsch; sie selber aber wurde wieder zu einem Frosch, als wäre gar nichts gewesen! Iwan-Zarewitsch wachte auf, freute sich, nahm das Hemd und trug es zum Zaren. Der Zar nahm’s und betrachtete es: „Ja, das ist ein Hemd – das kann man am Ostersonntag anziehen!“ Der mittlere Bruder brachte ein Hemd; der Zar sagte: „Nur im Bad kann man darin gehen!“ Und vom ältesten Bruder nahm er das Hemd und sagte: „In einer Bauernhütte kann man es tragen!“ Die Zarensöhne gingen auseinander; die zwei aber reden untereinander: „Nein, wir haben gewiß umsonst über die Frau Iwan-Zarewitschs gespottet; sie ist kein Frosch, sondern irgendeine ganz Schlaue!“ Der Zar gibt wieder einen Befehl, die Schwiegertöchter sollen Brot backen und ihm bringen, um zu zeigen, welche am besten backen kann. Jene Schwiegertöchter hatten zuerst über den Frosch gespottet, jetzt aber, da die Zeit herankam, schickten sie ihre Kammerzofe, heimlich zu sehen, wie sie backen würde. Der Frosch merkte das aber, rührte kurzerhand den Teig an, rollte 379
ihn, meißelte den Ofen oben auf und schüttete den Teig geradewegs dorthinein. Die Kammerzofe sah’s, lief davon, erzählte es ihren Herrinnen, den Schwiegertöchtern des Zaren, und die machten es genauso. Aber der Frosch hatte sie nur genasführt; er kratzte alles sogleich wieder aus dem Ofen, machte ihn sauber, verschmierte ihn, als wäre gar nichts gewesen, ging auf die Schloßtreppe, schlüpfte aus seiner Haut und rief: „Ihr Ammen und Zauberinnen! Backt mir sogleich solche Brote, wie sie mein Vater nur an Sonn- und Feiertagen gegessen hat.“ Die Zauberammen brachten das Brot sogleich angeschleppt. Sie nahm es, legte es neben Iwan-Zarewitsch und wurde wieder zu einem Frosch. Iwan-Zarewitsch wachte auf, nahm das Brot und trug es zu seinem Vater. Der Vater war gerade dabei, die Brote von den älteren Brüdern entgegenzunehmen; ihre Frauen hatten die Brote genauso in den Ofen geworfen wie der Frosch, und daher war bei ihnen ein schreckliches Zeug herausgekommen. Der Zar nahm zuerst das Brot vom ältesten Sohn, sah es an und schickte es in die Küche; vom mittleren nahm er’s und schickte es ebendorthin. Nun war Iwan-Zarewitsch an der Reihe; er reichte sein Brot hin. Der Vater nahm’s, sah es an und sagt: „Das ist ein Brot, am Ostersonntag zu essen! Nicht so eines wie bei den älteren Schwiegertöchtern, mit Schliff!“ Danach gefiel es dem Zaren, einen Ball zu veranstalten, um zu sehen, welche von seinen 380
Schwiegertöchtern am besten tanzen kann. Alle Gäste und Schwiegertöchter waren versammelt bis auf Iwan-Zarewitsch; der überlegte: wohin soll ich mit dem Frosch fahren? Und unser IwanZarewitsch schluchzte laut auf. Da sagt der Frosch zu ihm: „Weine nicht, Iwan-Zarewitsch! Geh nur zum Ball. Ich werde in einer Stunde dasein.“ Iwan-Zarewitsch freute sich ein wenig, als er hörte, daß der Frosch sprechen kann; er fuhr davon, der Frosch aber ging, warf seine Haut ab und zog sich ganz wunderbar an! Er kommt auf den Ball; Iwan-Zarewitsch freute sich, und alle klatschten in die Hände: was für eine Schönheit! Sie begannen zu essen; die Zarin nagte immer ein Knöchelchen ab – und in den Ärmel damit, trank etwas – und den Rest in den anderen Ärmel. Jene Schwiegertöchter sehen, was sie tut, und sie stecken sich die Knochen auch in die Ärmel, trinken etwas, und den Rest schütten sie in die Ärmel. Dann kam das Tanzen an die Reihe; der Zar schickt seine älteren Schwiegertöchter, aber die schieben den Frosch vor. Der faßte sogleich Iwan-Zarewitsch an und ging; und er tanzte und tanzte, drehte und drehte sich – alle waren starr! Er schwenkte den rechten Arm – da entstanden Wälder und Gewässer, schwenkte den linken – da flogen verschiedenartige Vögel heraus. Alle verwunderten sich. Als er zu tanzen aufhörte, war nichts davon mehr da. Die anderen Schwiegertöchter gingen tanzen und wollten es genauso machen: die eine schwenkt den rechten Arm, da fliegen die Knochen nur so heraus, und mitten unter die Leute, aus dem lin381
ken Ärmel spritzt Wasser heraus, ebenfalls mitten unter die Leute. Dem Zar mißfiel das, und er schrie: „Genug, genug!“ Die Schwiegertöchter hörten auf. Der Ball ging dem Ende zu. IwanZarewitsch fuhr voraus, fand dort irgendwo die Haut seiner Frau, nahm sie und verbrannte sie. Sie kommt, vermißt die Haut: nicht da! – verbrannt. Sie legte sich mit Iwan-Zarewitsch schlafen; vor Morgengrauen sagt sie zu ihm: „Nun, Iwan-Zarewitsch! Ganz hast du es nicht ausgehalten; ich wäre die deine gewesen, aber jetzt – das weiß nur Gott. Leb wohl! Suche mich hinter dreimal neun Ländern, im dreimal zehnten Zarenreich!“ Und damit war die Zarin verschwunden. Ein Jahr war vergangen, Iwan-Zarewitsch sehnt sich nach seiner Frau, und aufs zweite Jahr rüstete er sich zur Reise, erbat von Vater und Mutter den Segen und zog los. Er geht schon lange, da trifft er auf einmal auf eine Hütte – zum Wald mit der Vorderseite, zu ihm mit der Hinterseite. Er sagt: „Hütte, Hütte! Steh wie früher, wie die Mutter dich gestellt hat – zum Wald mit der Hinterseit’ und zu mir mit der Vorderseit’!“ Die Hütte drehte sich. Er ging in die Hütte; da sitzt eine Alte und sagt: „Fuh, fuh! Von Menschenfleisch war nichts zu riechen und nichts zu sehen, heute ist Menschenfleisch von selber auf den Hof gekommen! Wohin willst du, Iwan-Zarewitsch?“ – „Erst gib mir zu trinken und zu essen. Alte, dann frag nach Neuigkeiten!“ Die Alte gab ihm zu trinken und zu essen und legte ihn schlafen. IwanZarewitsch sagt zu ihr: „Großmütterchen! Ich bin 382
ausgezogen, die schöne Jelena zu suchen.“ – „Ach, mein Kind, wie lange hast du auf dich warten lassen. Sie hat in den ersten Jahren oft an dich gedacht, jetzt aber schon nicht mehr, und sie war auch schon lange nicht mehr bei mir. Geh weiter zu meiner mittleren Schwester, die weiß mehr.“ Iwan-Zarewitsch machte sich am Morgen auf den Weg, gelangte zu einer Hütte und sagt: „Hütte, Hütte! Steh wie früher, wie die Mutter dich gestellt hat – zum Wald mit der Hinterseit’ und zu mir mit der Vorderseit’!“ Die Hütte drehte sich. Er ging hinein und sieht: eine Alte sitzt da und sagt: „Fuh, fuh! Von Menschenfleisch war nichts zu riechen und nichts zu sehen, aber heute ist Menschenfleisch von selbst auf den Hof gekommen! Wohin willst du, Iwan-Zarewitsch?“ – „Je nun, Großmütterchen, die schöne Jelena holen.“ – „Ach, Iwan-Zarewitsch“, sagte die Alte, „wie lange hast du auf dich warten lassen! Sie hat schon begonnen, dich zu vergessen, sie heiratet einen anderen: bald ist Hochzeit! Sie lebt jetzt bei meiner großen Schwester, geh dorthin, aber paß auf, wenn du in ihre Nähe kommst, merken sie es an ihr, und Jelena wird sich in eine Spindel verwandeln, und das Kleid an ihr wird zu Gold. Meine Schwester wird das Gold wickeln; wenn sie die Spindel abgewickelt und in einen Kasten gelegt und den Kasten abgeschlossen hat, dann such den Schlüssel, öffne den Kasten, zerbrich die Spindel, wirf die Spitze hinter dich und das Unterteil vor dich; dann wird sie vor dir stehen.“ 383
Iwan-Zarewitsch ging los, kam zu dieser Alten, ging in die Hütte, sie wickelte Gold, wickelte es ab. Die Spindel legte sie in einen Kasten, verschloß ihn und legte den Schlüssel irgendwohin. Er nahm den Schlüssel, öffnete den Kasten, nahm die Spindel heraus und zerbrach sie, genau wie es ihm gesagt worden war, warf die Spitze hinter sich, das Unterteil aber vor sich. Plötzlich stand die schöne Jelena da und begrüßte ihn: „Ach, wie lange hast du auf dich warten lassen, IwanZarewitsch! Ich hätte beinahe einen anderen geheiratet.“ Jener Bräutigam aber mußte bald kommen. Die schöne Jelena nahm einen fliegenden Teppich von der Alten, sie setzten sich darauf und fuhren los, flogen davon wie ein Vogel. Auf einmal kam der Bräutigam an, erfuhr, daß sie fort waren; er war auch ein Pfiffikus! Er setzte ihnen kurzerhand nach, jagte und jagte sie, und es fehlten nur zehn Saschen, daß er sie eingeholt hätte: sie flogen auf dem Teppich nach Rußland hinein, er aber konnte aus irgendeinem Grunde nicht nach Rußland und machte kehrt; sie flogen nach Hause, alle freuten sich, und von nun an lebten sie vergnügt und wurden reich, und ihr Lob war in aller Munde.
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36 Die Tochter des Zaren In einem Zarenreich, in einem Staat lebte ein Zar. Der hatte eine einzige Tochter. Und die verschwand jede Nacht, unbekannt wohin. Der Zar ließ überall bekannt machen: „Wer meiner Tochter auf die Schliche kommt, dem gebe ich sie zur Frau und gebe ihm das halbe Zarenreich, kommt er ihr aber nicht auf die Schliche, verliert er seinen Kopf.“ Rings um das Haus stand ein Pfahlzaun, der war beinahe ganz mit Menschenköpfen behangen: kein Tag verging, ohne daß ein neuer Kopf auf einen neuen Pfahl kam. Und es diente ein Soldat in einem Regiment. Des Dienens war er überdrüssig. Er stand auf Wache, nahm sein Gewehr und ging auf gut Glück los. Ging er nun lange oder kurze Zeit, nah oder fern, jedenfalls kam er auf eine Waldwiese, die war glatt wie geeggt: da stehen drei Waldgeister und teilen drei Dinge: eine Tarnkappe, ein Tischtuch-deck-dich und einen fliegenden Teppich. „Gott helf euch, ihr drei Waldgeister, die drei Dinge zu teilen!“ – „Danke, Soldat! Teile uns diese Dinge!“ Der Soldat lud sein Gewehr und sagt: „Ich schieße, wer vorn die Kugel fängt, bekommt die drei Dinge!“
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Der Soldat schoß, aber er hatte das Gewehr einfach umgedreht. Die Kugel flog nach hinten, die Waldgeister aber rannten nach vorn, die Kugel zu haschen. Der Soldat, nicht faul, setzte die Tarnkappe auf, setzte sich auf den fliegenden Teppich und flog auf gut Glück los. Er kommt in eben das Reich geflogen, wo immer die Zarentochter verschwand. Er nahm alle diese Dinge, knüllte sie zusammen, steckte sie in seinen Beutel und ging zum Zaren. „Ich will auf eure Tochter aufpassen, aber nicht nur eine Nacht, sondern drei Nächte!“ Der Zar sagte: „Wenn du ihr auf die Schliche kommst, gebe ich sie dir zur Frau, kommst du ihr aber nicht auf die Schliche, schlage ich dir den Kopf ab und hänge ihn an einen Zaunpfahl.“ Er führte den Soldaten zur Zarentochter ins Schlafzimmer. Das hatte eine Zwischenwand: in dem einen Teil ist der Wächter untergebracht, in dem anderen die Zarentochter. Kaum hatte sich der Soldat ausgezogen und aufs Sofa gesetzt, kommt die Zarentochter heraus und gießt ihm ein Glas Schnaps ein: „Trink, Soldat!“ Der Soldat nahm das Glas, tat, als trinkt er’s aus – drehte sich um und goß es kurzerhand aus. Darin hatte sie ein Schlafpulver gehabt, das hatte der Soldat erraten: er war nicht dumm. Als er der Zarentochter das leere Glas gegeben hatte, fiel er hintenüber und tat, als sei er eingeschlafen. Die Zarentochter guckte durch ein Loch in der Wand ihres Zimmers – der Soldat schnarchte schon. 386
Sie rief mit leiser Stimme ihre Dienerinnen und sagt: „Bringt mir zwölf Paar Schuhe und zwölf Paar Strümpfe!“ Sie brachten’s ihr. Unter ihrem Bett aber war eine Geheimtür zum Keller. Sie drückte eine Feder, und die Tür ging auf: sie steigt hinab. Aber der Soldat hatte inzwischen seinen Beutel geöffnet, die Tarnkappe genommen, setzte sie auf den Kopf und war nicht mehr zu sehen. Die Zarentochter ging in den Keller, er hinterher. Unten lag eine Zauberplatte. Die Zarentochter hob sie hoch und stieg hinab unter die Erde. Und der Soldat hinterher. Sie wollte zum Zaren der Unterwelt. Einige Zeit lief sie, hielt an – da war dort ein kupferner Garten: ein kupferner Apfelbaum, aus Kupfer auch die Äpfel. Kaum war sie in den Garten hineingesprungen, schwupp, riß der Soldat einen kupfernen Apfel ab und steckte ihn in seinen Beutel. Plötzlich begannen Glocken zu läuten und Kanonen und Gewehre zu schießen: es wurde Alarm gegeben. Die Zarentochter erhielt keinen Durchlaß. Sie kehrte also heim. Sie betritt ihr Schlafzimmer, aber der Soldat liegt schon auf seinem Lager, er war vor ihr herausgerannt (die Gärten des Unterweltszaren sehen nur aus wie Gärten, es sind Vorposten). Die Zarentochter guckte durch das Loch: „Schlaf nur, Soldat, in zwei Tagen wird dir mein Vater den Kopf abschlagen!“ Am Morgen singt noch kein Vogel, aber der Soldat brüllt schon aus vollem Halse: „Los, mein 387
Mittagessen her. Wein und Samowar!“ Und es ist alles für ihn bereit, sie bringen’s. Er heizte den ganzen Tag ein. Am Abend aber kommt die Zarentochter heraus, bringt ihm ein goldenes Glas voll Schnaps: „Trink, Soldat!“ Der Soldat nahm das Glas, tat so, als trinkt er’s aus – drehte sich um und goß es kurzerhand aus. Als er der Zarentochter das leere Glas gegeben hatte, fiel er hintenüber, als wäre er eingeschlafen. Der Zarentochter wurden zwölf Paar Schuhe und zwölf Paar Strümpfe gebracht, sie stieg hinab unter die Erde und lief los. Der Soldat hinterher. Den kupfernen Garten hatte sie schon hinter sich. Sie kam zu einem silbernen. Ein silberner Apfelbaum, aus Silber auch die Äpfel. Der Soldat riß einen Apfel ab, knüllte ihn zusammen und steckte ihn in seinen Beutel. Plötzlich begannen Glocken zu läuten, es wurde Großalarm gegeben. Sie erhielt wieder keinen Durchlaß. Sie kehrte heim, der Soldat aber war schon wieder vor ihr auf seinem Lager. Sie guckte durch das Loch und sprach zu sich: „Schlaf nur, Soldat, noch einen Tag, und mein Vater wird dir den Kopf abschlagen!“ Am Morgen singt noch kein Vogel, aber der Soldat brüllt schon aus vollem Halse: „Los, mein Mittagessen her. Wein und Samowar!“ Und es wird ihm alles gebracht. Am dritten Abend kommt die Zarentochter heraus und bringt ihm einen goldenen Becher voll Schnaps mit einem Pulver. Der Soldat denkt: „Ein wenig will ich kosten!“ Er schluckte einen Schluck 388
hinter, den Rest goß er aus: kaum hatte er der Zarentochter den Becher gegeben, da fiel er hintenüber und schlief ein. Der Zarentochter wurden zwölf Paar Schuhe und zwölf Paar Strümpfe gebracht; sie stieg hinab unter die Erde und lief los, der Soldat aber blieb zurück. Drei Minuten später wachte der Soldat auf und sieht: die Zarentochter ist fort. Er nahm seine Tarnkappe, setzte sie auf den Kopf, drückte die Feder: die Geheimtür ging auf, und der Soldat stieg hinab in den Keller. Dort begann er, die Platte herumzuwälzen. Die Platte war schwer, und er konnte sie nicht sofort hochheben. Schließlich nahm er all seine Kräfte zusammen, hob die Platte recht und schlecht hoch und stieg hinab unter die Erde. Er durchlief den kupfernen Garten, den silbernen Garten durchlief er, aber die Zarentochter war nicht da. Er kommt zu einem goldenen Garten, auch hier ist die Zarentochter nicht. Er pflückte einen goldenen Apfel. Wieder wurde Alarm gegeben. Weil aber die Zarentochter schon durch war, konnten sie sie nicht aufhalten, der Soldat aber war in seiner Tarnkappe – er war nicht zu sehen und ging weiter. Er kommt zum Meer und sieht: die Zarentochter steigt einen Berg empor. Dort war ein Kristallberg. Dieser Berg ist das Meeresufer. Hier erreichte der Soldat die Zarentochter. Die Zarentochter trat an den Rand des Berges und sagt: „Erscheine, Wagen ohne Achsen und ohne Räder, einfach so in der Luft!“ Der Wagen erschien, die Zarentochter setzte sich hinein, der Soldat ihr auf die 389
Knie, und sie fuhren davon übers Meer zum Zaren von jenseits des Meeres. Der Zar empfängt die Zarentochter und sagt: „Ljubuschka, warum bist du zwei Tage nicht bei mir gewesen?“ – „Deine verfluchten Diener haben mich ja nicht durchgelassen!“ – „Ich werde sofort befehlen, alle Diener abzulösen.“ Er nahm ihren Arm und führte sie in seinen Palast. Und der Soldat hinterher. Er setzte sie auf einen Stuhl; er hatte aber eine Karaffe Biet-selbst-an: sie gießt selber ein und bietet selber an. Der Zar sagte: „Karaffe, biete an!“ Die Karaffe sprang aus dem Schrank, ehe man sich’s versah. Gießt selber ein und bietet selber an, zuerst dem Zaren, dann der Zarentochter und übergeht auch den Soldaten nicht. Der Zar fragt: „Ljubuschka, was ist denn das, wir sind nur zwei, sie aber gießt dreimal ein, wem bietet sie denn an?“ – „Ich weiß nicht. Nur als ich heute übers Meer fuhr, war auf meinen Knien eine schreckliche Last.“ „Nun denn, gehen wir jetzt. Was für ein Kleid und was für Schuhe ich für dich besorgt habe!“ Er nimmt’s aus dem Schrank und zeigt’s der Zarentochter. Kleid und Schuhe waren von unbeschreiblicher Schönheit. Der Soldat aber nahm alles, knüllte’s zusammen und steckte es in seinen Beutel. „Nun, Ljubuschka, jetzt wirst du nicht mehr so zu mir kommen: wir beide werden jetzt heiraten!“ – „Um nichts in der Welt! Ich muß noch einmal bei meinem Vater sein“, sagt sie. „Warum?“ – „Ich 390
muß zusehen, wie mein Vater dem Soldaten den Kopf abschlägt!“ Sie unterhielten sich ein Weilchen. Der Zar von jenseits des Meeres begleitete die Zarentochter. Als sie ans Meeresufer kamen, sagte sie: „Erscheine, Wagen ohne Achsen und ohne Räder, einfach so in der Luft!“ Der Wagen erschien, die Zarentochter setzte sich hinein, der Soldat aber kam nicht dazu, sich ihr auf die Knie zu setzen, weil er schon ordentlich beschwipst war. Der Wagen flog davon, und der Soldat konnte gerade noch hinten die Stangen erhaschen (es waren da wohl irgendwelche Stangen angebracht). Er erwischte sie und wurde mitgezogen. Sie fuhren übers Meer. Dann ergriff er den Wagen, knüllte ihn zusammen und steckte ihn in seinen Beutel. Die Zarentochter lief – sie trug schon das letzte Paar Schuhe und das letzte Paar Strümpfe; als sie in ihr Schlafzimmer kam, sah sie durch das Loch nach dem Soldaten; der Soldat schlief schon auf seinem Lager. Da lachte die Zarentochter: „Schlaf nur, Soldat, morgen früh wird dir mein Vater den Kopf abschlagen!“ Am anderen Tag singt noch kein Vogel, der Soldat aber brüllt aus vollem Halse – er verlangt Wein, sein Mittagessen und den Samowar. Der Zar kommt selber, zieht den Säbel und will dem Soldaten den Kopf abschlagen. Der Soldat sprang beiseite: „Da hört sich doch alles auf! Wegen solcher Schweinehunde die Köpfe abschlagen!“
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Er setzte seine Tarnkappe auf – und war nicht mehr zu sehen. Und er sagt: „Zar, du denkst, ich habe deine Tochter entwischen lassen?! Nein, ich weiß alles. Versammle alle deine Generäle, dann werde ich es schon erklären.“ Als alle versammelt waren, bat der Soldat zu verbürgen, wer seine Rede unterbricht, der soll hundert Rubel zahlen und hundert Rutenhiebe bekommen. Alle waren’s einverstanden. Da erzählte der Soldat, wie alles war… Als er zu dem kupfernen Garten kam, sagte ein General: „Das ist nicht wahr, so etwas gibt es nicht!“ Der Soldat öffnet seinen Beutel: „Und was ist das?“ sagt er. Sogleich wurde der General auf den Fußboden gelegt und durchgebläut; und sie bläuten ihn durch, daß es eine Art hatte! Als er zu dem silbernen Garten kam, sagte der zweite General: „So etwas gibt es nun aber bestimmt nicht! Einen kupfernen Garten, meinetwegen, das haben wir schon gesehen, aber einen silbernen hat man noch nie gesehen!“ Der Soldat öffnet seinen Beutel: „Und was ist das?“ sagt er. Sogleich wurde der General auf den Fußboden gelegt und durchgebläut; und sie bläuten ihn durch, daß es eine Art hatte. Als er zum goldenen Garten kam, sagte der dritte General: „So etwas gibt es nun aber bestimmt nicht! Einen kupfernen, einen silbernen haben wir schon gesehen, aber goldene hat man noch nie gesehen!“ Der Soldat öffnet seinen Beutel: „Und was ist das?“ sagt er. Sogleich wurde
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der General auf den Fußboden gelegt und durchgebläut!… „Wir kamen zum Zaren von jenseits des Meeres. Und der Zar hat eine Karaffe Biet-selbst-an: die gießt selber ein und bietet selber an.“ Er stellt sie auf den Tisch und sagt: „Karaffe, biete an.“ Die Karaffe bot allen an. Und alle lobten ihn. Darauf holte er das Kleid heraus. Erklärte alles. Der Zar befahl sogleich seiner Tochter, sich für die Trauung mit dem Soldaten zu schmücken. Den Bräutigam fragt er: „Nun, Soldat, fährst du nach Hause, oder willst du hierbleiben?“ – „Nach Hause“, sagte der. Der Zar belohnte ihn reichlich. Und sie machten sich auf einem Schiff auf die Heimfahrt. Die Zarentochter fragt den Soldaten: „Warum fährst du nach Hause?“ – „Ich werde mähen, mit der Sense, und dich werde ich auch dazu zwingen.“ Die Zarentochter sagt: „Was fällt Euch ein, haben wir etwa bei meinem Vater nicht genug zum Leben?“ – „Laß nur, sonst läßt du dir’s einfallen, zum Unterweltszaren von jenseits des Meeres zu fliehen!“ Da bat die Zarentochter den Soldaten unter Tränen, er solle sie nicht fortbringen, und schwor, ihm auf ewig treu zu sein. Der Soldat kehrte zum Zaren zurück, und als der Zar starb, wurde er Zar.
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37 Die Schafe im Meer In einem Zarenreich, in einem Staat lebte einmal ein alter Mann; er lebte in Armut, aber er hatte drei Söhne – der älteste war klug, der mittlere war nicht gerade klug, aber doch kein Dummkopf, der jüngste aber war ganz und gar ein Dummkopf. Die Not peinigte sie, daß es nicht mehr zum Aushalten war, und der älteste Sohn sagt: „Lag mich fort, Vater, ich will gehen und Arbeit suchen.“ Nun, der Vater wollte ihn nicht gleich fortlassen: „Wohin willst du denn gehen?“ „Je nun, ehe ich so lebe, will ich lieber arbeiten gehen.“ „Nun, geh mit Gott!“ Der Älteste ging los und kommt an einen Fluß, der war nicht gerade tief, aber breit; am Ufer sitzt eine Alte und bittet: „Wackerer Bursche, trag mich auf die andere Seite hinüber!“ „Hol dich der und jener, alter Satan, wenn ich nur selber hinüberkomme!“ Er watete durch den Fluß und ging weiter. Ging er nun nah oder fern, niedrig oder hoch, jedenfalls erblickte er eine kleine Hütte, und in der Hütte war ein alter Mann: „Wohin willst du, wackerer Bursche?“ „Arbeit suchen, Großvater.“ 394
„Verding dich zu mir, bei mir ist die Arbeit leicht – Schafe hüten; hütest du drei Tage und bekommst heraus, was die Schafe fressen – dreihundert Rubel, kriegst du’s nicht heraus – dreihundert Peitschenhiebe.“ Er dachte: „Wie soll ich das nicht herausbekommen, was die Schafe fressen?“ „Ich krieg’s heraus“, sagt er. Nun, sie tranken Kwaß, beteten zum Heiland und legten sich schlafen. Am Morgen stand er auf und trieb die Schafe aus. Die Schafe gingen zum Meer, der schwarze Schafbock sprang ins Meer und die Schafe ihm nach. Da steht der Bursche und überlegt, was er tun soll. Er weinte und weinte, wie er sich aber helfen soll in seiner Not, weiß er nicht. Am Abend stiegen die Schafe aus dem Meer, er trieb sie heim und sagte dem Alten nichts. Am anderen Tag genauso, und am dritten trieb er sie wieder heim, rupfte aber vorher Gras und steckte es unters Hemd. Wie er die Schafe eintreibt, fragt der Alte: „Nun, hast du herausbekommen, was die Schafe fressen?“ „Ja.“ Und er zeigt das Gras. Da band ihn der Alte an einen Pfahl und gab ihm dreihundert Peitschenhiebe. Der Bursche schleppte sich mit knapper Not nach Hause. Auch der zweite begann zu betteln, aber der Vater wollte ihn nicht gehen lassen: „Der ist schon krank zurückgekommen, und jetzt willst du fort.“ Aber er gehorchte nicht und ging.
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Ging er nun nah oder fern, niedrig oder hoch, jedenfalls kommt er an einen Fluß, der ist nicht gar so tief, aber breit. Am Ufer sitzt eine Alte und sagt: „Wackerer Bursche, trag mich auf die andere Seite hinüber!’ „Hol dich der und jener, alter Satan, wenn ich nur selber hinüberkomme!“ Und er watete hindurch. Wie er drüben ist, geht er weiter und sieht eine kleine Hütte, und in der Hütte sitzt ein alter Mann. „Wohin willst du, wackerer Bursche?“ „Ich gehe Arbeit suchen, Großvater.“ „Verding dich zu mir, bei mir ist die Arbeit leicht – drei Tage Schafe hüten; kriegst du heraus, was die Schafe fressen – dreihundert Rubel, kriegst du’s nicht heraus – dreihundert Peitschenhiebe.“ „Nun“, denkt er, „wie soll ich das nicht herauskriegen; ich krieg’s heraus“, und er schlug ein. Es endete genauso wie bei dem älteren Bruder. Mit Mühe und Not schleppt er sich nach Hause; der Vater sah’s und wurde böse. „Da siehst du, was du dir verdient hast.“ Aber auch der erzählte nicht, was mit ihm gewesen war. Da wollte Iwan der Dummkopf gehen. „Wohin willst du denn gehen, du siehst doch, wieviel deine Brüder verdient haben.“ „Nun, ich gehe trotzdem.“ Und er ging.
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Ging er nun nah oder fern, niedrig oder hoch, jedenfalls geht er und sieht einen Fluß, nicht tief, aber breit. Am Ufer sitzt eine Alte und bittet: „Wackerer Bursche, trag mich auf die andere Seite hinüber.“ „Setz dich nur auf meine Schultern!“ Die Alte saß auf, er trug sie flink ans andere Ufer, und die Alte sagt zu ihm: „Nun höre, Iwan, wenn du mich einmal brauchst, dann sage nur: ,Wo ist mein Großmütterchen?’ Ich werde zur Stelle sein.“ Iwan ging weiter. Er geht – da steht auf einmal eine kleine Hütte, und in der Hütte ist ein alter Mann. „Wohin willst du, junger Mann?“ „Arbeit suchen, Großvater.“ „Verding dich zu mir, bei mir ist die Arbeit leicht – Schafe hüten; kriegst du heraus, was die Schafe fressen – dreihundert Rubel, kriegst du’s nicht heraus – dreihundert Peitschenhiebe.“ „Nun gut, ich will’s versuchen.“ Bei sich aber denkt er: „Hier ist es wohl gewesen, wo es meine Brüder erwischt hat.“ Sie tranken Kwaß, beteten zum Heiland und legten sich schlafen. Am Morgen stand er auf und trieb die Schafe aus. Kaum waren sie ans Meer gekommen, sprang der Schafbock ins Wasser und die Schafe hinterher. Iwan steht da und denkt: „Da hast du die Bescherung, was nun?“ Am Abend stiegen die Schafe aus dem Meer, und Iwan trieb sie heim. Am zweiten Tag dasselbe. Iwan weiß nicht, was er 397
tun soll, er ist dicht am Weinen: „So verdiene ich mir ja dreihundert Peitschenhiebe“, und da fiel ihm ein: „Wo ist mein Großmütterchen?“ „Ich bin zur Stelle“, steht sie schon neben ihm. Da erzählte er ihr, daß die Schafe ins Meer verschwinden und er nicht herausbekommen kann, was sie fressen. Sie sagt zu ihm: „Du mußt folgendes machen, Iwan: Wenn du die Schafe austreibst, geh hinter dem schwarzen Schafbock her; wenn er ins Meer springt, pack ihn an den Hörnern und setz dich auf ihn drauf. Und dort paß gut auf: was sie geben werden, das nimm, dann wirst du herausbekommen, wovon sich die Schafe ernähren. Das ist noch nicht alles: wenn du die Schafe heimgetrieben hast und dem Alten gibst, wovon sich die Schafe ernähren, dann nimm von ihm weder Gold noch etwas anderes, sondern erbitte von ihm den Sack Schüttel-dich, den Beutel Schüttel-dich, die Kappe Sieh-michnicht und die Stiefel Laufe-schnell.“ Den dritten Tag trieb Iwan die Schafe zum Meer und wich nicht von dem schwarzen Schafbock; sobald der ins Meer springen will, packt Iwan ihn bei den Hörnern, sitzt auf seinem Rücken und springt so mit dem Bock ins Meer. Der Schafbock war plötzlich ein Pope und die Schafe Menschen, und er hielt eine Messe, und nach der Messe verteilten sie Weihbrote, und alle gaben Iwan ein ganzes Weihbrot; er nahm’s und steckte alles unters Hemd; darauf wurden alle wieder zu Schafen und der Pope zum Schafbock. Iwan packte den 398
Schafbock bei den Hörnern und stieg aus dem Meer. Er trieb die Schafherde heim, und der Alte fragt: „Nun, wie ist’s, hast du herausgekriegt, wovon sich die Schafe ernähren?“ „Ja“, und er holte die Weihbrote aus seinem Hemd hervor und gab sie dem Alten. Bei dem Alten wurden die Weihbrote zu Steinen. Da will er Iwan Gold geben, der aber sagt, daß er kein Gold braucht, sondern den Sack Schüttel-dich, den Beutel Schüttel-dich, die Kappe Sieh-mich-nicht und die Stiefel Laufe-schnell. Wie sich der Alte auch winden mochte, er mußte alles herausgeben. Iwan nahm’s und machte sich auf den Heimweg, da war die Alte zur Stelle: „Nein, es ist noch zu früh für dich, nach Hause zu gehen, komm mit in die Stadt.“ Er ging mit der Alten in die Stadt, da sagt sie: „Höre, schüttle deinen Sack Schüttel-dich, schüttle eine hübsche Menge Geld zusammen und miete Zimmerleute, ein Schiff zu bauen, miete tüchtige Ruderer und laß das Segel hissen.“ Sie machten das Schiff, und die Alte fuhr mit Iwan los. Die Alte gibt ihm ein Fernrohr: „Sieh durch“, sagt sie, „du hast jüngere Augen.“ Er sah durch und sagt: „Irgend etwas Schwarzes ist dort in der Ferne zu sehen.“ „Genau dorthin laß das Schiff fahren.“
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Das Schiff machte eine Wendung und fuhr dorthin; sie kamen an eine Insel. Da sagt die Alte: „Nun, geh über diese Insel und sieh, was es dort Interessantes gibt.“ Iwan ging lange auf der Insel umher, fand nichts Interessantes, sah dort nur Zarenvögel und Kaiserfedern, sammelte die Eier und zerschlug sie an Baumstümpfen; dann fand er irgendwelche Ruinen, Ziegel liegen herum. Er kehrte zum Schiff zurück, und das Großmütterchen fragt ihn: „Nun, was hast du dort Interessantes oder Lehrreiches gesehen?“ „Nichts habe ich gesehen, Großmütterchen, habe nur Zarenvögel und Kaiserfedern gesehen; Eier habe ich gesammelt und an den Baumstümpfen zerschlagen.“ „Und weiter hast du nichts gesehen?“ „Ich habe noch irgendwelche Ruinen gesehen, Ziegel liegen herum.“ „Das eben brauchen wir; schicke die Ruderer, sie sollen diese Ziegel bis auf den letzten zusammentragen und hierherbringen.“ Iwan schickte die Ruderer, die trugen alle Ziegel zusammen und brachten sie aufs Schiff. Sie fuhren in ein Zarenreich, einen Staat. Sie kamen dort an, da schickt die Alte Iwan: „Bring dem Zaren ein Geschenk“, und sie nahm ein paar Ziegel, verbot ihm aber, sie bei offenen Fenstern zu zeigen. Iwan kommt zum Zaren und bittet, ihn zu melden. Der Zar befahl, ihn vorzulassen: 400
„Was hast du mir zu sagen, Bursche?“ „Hier, Kaiserliche Majestät, habe ich dir ein Geschenk gebracht, man darf es aber nicht bei offenen Fenstern ansehen, die Fensterläden müssen geschlossen werden.“ Der Zar befahl, die Läden zu schließen. Iwan öffnete sein Bündel, da war es, als wenn in dem Gemach die Sonne erstrahlte – so hell wurde es; die Steine brennen wie Feuer und schillern in den verschiedensten Farben. Der Zar freute sich, bedankte sich bei dem Dummkopf und erteilte ihm die Erlaubnis, durch das ganze Reich zu gehen und sich alles anzusehen. Iwan geht durch die Stadt und sieht, was es dort Nützliches, was es dort Lehrreiches gibt. Auf einmal sieht er, es steht da eine große, riesengroße, hohe und nochmals hohe Säule, und an der Säule ist eine große Tafel, auf der geschrieben steht: „Wer mir erklären kann, wo die Königstochter zwölf Paar Schuhe in einer Nacht durchtanzt, dem gebe ich sie zur Frau.“ Iwan kommt nach Hause, und das Großmütterchen fragt ihn: „Wie ist’s, warst du beim König?“ „Ja, er hat mir die Erlaubnis gegeben, durch die ganze Stadt zu gehen und mir alles anzusehen.“ „Nun, was hast du dort Nützliches und Lehrreiches gesehen?“ „Nichts habe ich gesehen, nur eine hohe und nochmals hohe, große, riesengroße Säule habe ich gesehen, daran eine große Tafel, und auf der stand geschrieben: ‚Wer mir erklären kann, wo 401
die Königstochter in einer Nacht zwölf Paar Schuhe durchtanzt, dem gebe ich sie zur Frau.’“ „Nun siehst du, das ist etwas Lehrreiches und Nützliches; setz die Kappe Sieh-mich-nicht auf und zieh die Stiefel Laufe-schnell an und geh ins Schloß zur Königstochter; was sie tun wird, das tu du auch.“ Er machte alles so. Kommt zur Königstochter, und sie gibt Befehl, zwölf Paar Schuhe zu putzen, darauf befahl sie, ihr Tee zu bringen; man setzte sich zum Tee, und Iwan sitzt daneben und trinkt auch. Sie gießen eine Tasse ein, da ist sie schon leer; er stößt die Zarentochter an, sie verschüttet oder zerschlägt die Tasse. „Was ist mit mir los“, sagt die Zarentochter, „ich verschütte und zerbreche alles.“ Nach dem Tee besprengte sie sich aus einem Parfümfläschchen, warf sich auf den Fußboden und flog fort. Dann ging sie zum Ufer. Iwan tat dasselbe – und ihr nach; sie rief Ruderer herbei, ein Boot fuhr vor, sie setzte sich in das Boot, fuhr zu einer Insel, und Iwan mit ihr. Sie kamen an, die Königstochter stieg ans Ufer, schwenkte ein Tuch, und sogleich erschien ein Schloß. Sie ging in das Schloß hinein und begann, die Türen aufzuschließen, eine nach der anderen, zwölf Türen. Sie kamen ins zwölfte Zimmer; sie stieß eine Truhe auf, ließ einen Hasen heraus, schlug ihn auf die Backe, aus dem Hasen wurde ein Musikant, der begann zu spielen und die Zarentochter zu tanzen. Sie tanzt und tanzt ohne Pause. Am Morgen sind alle zwölf Paar durchgetanzt. Die Königstoch402
ter schlug den Musikanten auf die Backe, es wurde ein Hase aus ihm, sie sperrte ihn in die Kiste, ging hinaus, schwenkte ihr Tuch – das Schloß war weg, nur ein Ei war geblieben; sie nahm das Ei in ihr Tuch, ging zum Ufer, setzte sich ins Boot, und sie fuhren davon. Unterwegs fragt sie die Ruderer: „Wie kommt’s, daß das Boot heute so schwer von der Stelle kommt?“ „Ja, wir rudern mit Mühe, als ob irgendeine Last darin wäre.“ Sie stieg an Land, warf sich auf die Erde und flog davon. Und Iwan flog auch davon. Am anderen Tag dasselbe, nur während sie tanzte, nahm Iwan das Tuch, verschloß die Zimmer, ging hinaus, schwenkte das Tuch, legte das Ei hinein und steckte’s in die Tasche. Er kommt nach Hause und erzählt alles dem Großmütterchen. Da sagt sie zu ihm: „Geh und sag dem Zaren, er soll alle ausländischen Gäste versammeln, dann erklärst du ihm, wo die Zarentochter in einer Nacht zwölf Paar Schuhe durchtanzt.“ Iwan ging zum Zaren und sagte: „Ich kann erklären, wo die Zarentochter in einer Nacht zwölf Paar Schuhe durchtanzt, nur ladet alle ausländischen Gäste dazu ein.“ Das sagte er, damit der Zar sein Wort nicht zurücknahm und ihm die Zarentochter gab. Als alle ausländischen Besucher versammelt waren, bat Iwan alle, ihm zu folgen. Sie kamen ans Ufer, er rief die Ruderer herbei, sie fuhren zur Insel hinüber, dann schwenkte Iwan das Tuch, 403
sofort wuchs das Schloß empor, sie gingen alle mit ihm ins Schloß, er öffnete alle elf Türen, kommt zur zwölften, schließt auf, und alle sahen sogleich, daß die Königstochter noch immer tanzte. Alle Schuhe waren schon durchgetanzt, ihre Füße waren ganz blutig, aber sie tanzte immer weiter. Da ging Iwan zu dem Musikanten, schlug ihn auf die Backe, und er wurde wieder zum Hasen; er setzte ihn in den Kasten und schloß ab. Die Zarentochter brachten sie ins Schloß, Iwan aber schwenkte das Tuch, und das Schloß war verschwunden, das Ei aber steckte er in die Tasche. Danach blieb dem Zaren nichts anderes übrig, als Iwan die Königstochter zur Frau zu geben. Er erklärte ihn zu seinem Erben, und sie lebten herrlich und in Freuden und wurden reiche Leute.
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38 Der weise Iwan In einem Zarenreich, in einem Staat hatte ein Zar einen Sohn Iwan-Zarewitsch. Und sobald der volljährig war, begann er seinen Vater zu bitten, er wolle eine Braut suchen gehen. Und zog los. Er kommt zu einem König, der hat drei Töchter, dieser König. Und er hätte es schon gern gesehen, wenn Iwan-Zarewitsch irgendeine Tochter genommen hätte; er empfängt ihn mit großer Freude. Alle sind sehr froh und setzen sich zum Essen. Iwan-Zarewitsch sagt zu seinem Hofmeister: „Hofmeister, geh und stelle fest, wo die Königstöchter ihre Schlafzimmer haben!“ Der Hofmeister ging und stellte es fest. Das Abendessen war zu Ende. Iwan-Zarewitsch fuhr mit seinem Hofmeister davon. „Wenn ich doch hören könnte“, sagt er, „was sie über mich reden werden!“ Der Hofmeister führte Iwan-Zarewitsch zu ihrem Schlafzimmer. In dieses Schlafzimmer kamen alle drei Königstöchter und waren voll Freude. „Ach, wenn IwanZarewitsch mich nähme, ich würde ihm aus einer einzigen Handvoll Flachs Hemd und Hose spinnen.“ Und die zweite sagt: „Ach, wenn IwanZarewitsch mich nähme, ich würde ihm aus einem einzigen Rocken Flachs Hemd und Hose spinnen.“ Die dritte aber sagt: „Da habt ihr was Rechtes ge405
funden, euch zu brüsten! Wenn Iwan-Zarewitsch doch mich nähme, ich würde ihm sechs Söhne gebären und als siebenten einen weisen Iwan, die Arme bis zu den Ellbogen in Gold, die Beine bis zu den Knien in Silber und an jedem Haar eine Perle.“ Iwan-Zarewitsch sagt: „Hofmeister, hörst du, was sie reden?… Jetzt werde ich freien.“ Am Morgen kommt er zum König. „Mir gefällt Eure älteste Tochter sehr“, sagt er. Der Zar freut sich; bei Zaren braucht es kein Bierbrauen und kein Weinbrennen, es ist alles bereit: sie feierten Hochzeit. Sie feierten etwa eine Woche. Er sagt: „Wie steht’s, Seelchen, du hast versprochen, aus einer einzigen Handvoll Flachs Hemd und Hose zu spinnen?“ – „Wie sollte so etwas möglich sein?! Es wird so manches unter Mädchen geredet!“ Er schickte sie kurzerhand ins Kloster und freit um die zweite. Der König gab sie ihm. Wieder feierten sie; dann sagt er: „Nun, wie steht’s, Seelchen, du hast versprochen, aus einem einzigen Rocken Flachs Hemd und Hose zu spinnen?“ – „Kann man denn das überhaupt? Es wird so manches unter Mädchen geredet!“ Nun, er schickte auch diese ins Kloster. Er freit um die jüngste und nimmt die letzte Tochter. Mit der fuhr er zu seinen Eltern. Sie kamen nach Hause, leben herrlich, alles ist gut. Aber die anderen Schwestern hassen sie. „Wir haben nur eine Woche gelebt“, sagen sie, „sie aber ein Jahr. Alle Kräfte werden wir aufwenden, um sie zu beseitigen.“ So hatte sie ein Jahr gelebt, da wurde sie schwanger. Jene sind bitterböse, aber ins Schloß zu gehen wagen sie nicht, 406
solange der Zar da ist. Der Fürst fuhr fort, da kommen sie zu ihr. „Ach, liebes Schwesterchen! Jetzt seid Ihr schwanger. Ihr braucht ein gutes Großmütterchen… Hier taugen sie alle nichts, wir haben eine Bekannte, die ist sehr tüchtig, du wirst keinen Schmerz spüren.“ Sie vertraute den Schwestern. „Liebe Schwestern! Seid so gut, schickt sie her!“ Es war aber eine Zauberin, ihre Bekannte. Diese Zauberin also kommt zu ihr, gab ihr ein Pulver zu trinken, sie fiel in Ohnmacht und gebar zwei Söhne, die Arme bis zu den Ellbogen in Gold, die Beine bis zu den Knien in Silber; und an jedem Haar eine Perle. Die Zauberin nahm diese Kinder zu sich, an ihrer Stelle aber brachte sie dem Zaren einen jungen Kater und einen jungen Hund. „Was hast du da gebracht? War’s wenigstens ein gewöhnliches Kind!“ – „Was denn, Väterchen, was geboren wird, muß man nehmen.“ Die Fürstin erfuhr’s, weinte und weinte. Der Zar war lange böse, lange brauchten sie, ihn zu besänftigen. Schließlich verzieh er ihr; er liebte sie schrecklich, und alle im Lande liebten sie. Nach einiger Zeit wurde sie wieder schwanger. Die Schwestern hassen sie noch mehr, weil er wieder mit ihr lebt. Sobald der Fürst nicht da ist, kommen sie wieder und sind wer weiß wie zärtlich zu ihr… „Damals hast du doch gut geboren?“ – „Gut“, sagt sie, „habe keinerlei Schmerz gespürt.“ – „Nun, wir werden dir wieder dieses Großmütterchen schicken!“ – „Ich weiß nicht recht…“, sagt sie. „Nein, nein, unbedingt. Wechseln darf man nicht…“ Wieder kam diese Zauberin, gab ihr ein 407
Pulver, und sie schlief ein… Im Schlaf gebar sie zwei Söhne, die Arme bis zu den Ellbogen in Gold, die Beine bis zu den Knien in Silber, und an jedem Haar eine Perle; sie versteckte sie und legte einen Frosch und eine Maus hin. Sie kam wieder zu sich. „Nun, wie ist’s“, sagt sie, „was habe ich geboren?“ – „Einen Frosch und eine Maus!“ – „Ach, liebes Großmütterchen! Hat nicht irgend jemand in unserem Reich geboren, daß ich die Kinder statt der meinen annehmen kann?“ – „Aber, aber!“ Sie wusch Frosch und Maus und brachte sie zum Zaren. „Was hast du da wieder gebracht?“ – „Einen Frosch und eine Maus.“ – „Alte Schachtel! Was willst Du damit?“ – „Sie zeigen, Väterchen, sie zeigen!“ Die Zarin weinte und weinte. Es kommen die Generals- und Senatorenfrauen… „Ihr solltet eine andere Wärterin nehmen“, sagen sie. „Ja“, sagt sie, „aber die Schwestern empfehlen sie…“ – „Die hassen Euch ja.“ Den Zaren mußten sie lange Zeit besänftigen… Der Zar verzieh ihr wieder; sie ging wieder aus dem Haus. Nach einiger Zeit wurde sie wieder schwanger. „Gäbe der Herrgott doch wenigstens ein gewöhnliches Kind!“ Wieder drängten ihr die Schwestern jenes Weib auf, die legte statt der Kinder eine Schlange und irgendein Tierjunges ins Bett. „Großmütterchen, was habe ich geboren?“ – „Eine Schlange, Mütterchen, eine Schlange!“ – „Ach, großer Gott…“ – „Nun, wie ist’s?“… „Was geboren wird, muß man nehmen…“ Lange war der Zar zornig, zum letztenmal verzieh er ihr… Und wieder wurde sie schwanger, gebar den weisen Iwan… 408
Sie wurde zusammen mit diesem weisen Iwan in ein Faß gesteckt und ins Wasser geworfen… Der weise Iwan wächst im Faß nicht von Tag zu Tag, sondern von Stunde zu Stunde und war schon so weise und so klug. Er streckte sich, schlug gegen den Boden, der Boden flog heraus. Sie waren auf einer Insel. Sie gehen über diese Insel, da erhob sich so ein kalter Wind… „Wie ist mir kalt!“ sagt sie. Sogleich machte er ein Feuer an… „Wärmt Euch ein wenig“, sagt er, „ich will in den Wald gehen und einen Vogel oder ein Tier fangen.“ Er lief an einem See entlang, lief über eine Wiese, lief weiter und sieht eine winzige Hütte. Er ging hinein: niemand da; sogleich begann er nach Eßbarem zu suchen; guckte in den Ofen, nichts… „Warte, ich werde mich unter dem Ofen verstecken!“ Er kroch drunter und sitzt unter dem Ofen… Ein grauhaariger Alter kommt herein, setzte sich auf die Bank, nahm einen Knüppel und warf ihn auf den Fußboden. „Knüppel, ans Werk!“ Sogleich kamen irgendwoher Speisen und Getränke… „Diesen Knüppel müßte ich haben!“ Der Alte aß und trank sich satt, stellte den Knüppel in die Ecke, fing an zu schnarchen und war fest eingeschlafen. Der weise Iwan aber kam hervor, nahm den Knüppel und rennt nach Hause… Rennt an dem gleichen See vorbei und über die gleiche Wiese. Da kommt ein Bäuerlein… „Was trägst du da?“ – „Ein Beil!… Willst du ein Haus bauen, ist’s gleich fertig…“ Und der weise Iwan zeigte ihm den Knüppel… „Tauschen wir!“ Sie tauschten. Der Alte geht hurtig mit dem Knüppel davon. Iwan409
Zarewitsch sagt: „Beil! Kann man dem Alten da meinen Knüppel nicht wieder wegnehmen?“ – „Warum nicht?“ sagt das Beil. „Das kann man!“ Es flog davon und nahm dem Alten den Knüppel weg. Der weise Iwan kommt mit Beil und Knüppel zu seiner Mutter und erzählt der Mutter alles. Die Mutter ist froh, betet zu Gott. Der weise Iwan legt sich schlafen und befiehlt dem Beil und dem Knüppel, sie sollen ein Schloß bauen, genauso eines wie bei seinem Vater. Am Morgen wacht er in dem Schloß auf; die Dienerschaft steht bereit, und alles ist so wie in Vaters Schloß. Sie staunen nur. Am anderen Abend legt sich der weise Iwan schlafen und befiehlt, am Morgen solle auf der Insel ein Anlegeplatz fertig sein… Er steht früh auf, alles ist fertig. Am nächsten Tag fährt ein Schiff an der Insel vorbei; und die Kaufleute staunen: „Kein Vogel ist hier geflogen, und jetzt steht ein Schloß da.“ Der weise Iwan geht zum Anlegeplatz. „Ihr Herren Kaufleute, kommt bitte!“ Und die Kaufleute staunen, gehen mit zu ihm ins Schloß; er bewirtete sie und fragt: „Wohin fahrt ihr und mit was für Waren?“ – „Wir gehen nach Rußland mit den und den Waren. Übrigens“, sagen sie, „hat uns der Zar befohlen, Zobel, Marder und Füchse zu beschaffen.“ – „Ja“, sagt er, „ich habe welche!“ Sie legten sich schlafen. Der weise Iwan befiehlt dem Beil und dem Knüppel, die allerbesten Zobel, Marder und Füchse sollten zur Stelle sein. Am Morgen steht der weise Iwan auf, und sie trinken Tee. Nach 410
dem Tee sagt er: „Nun, meine Herren Kaufleute, kommt in mein Arbeitszimmer, die Tiere ansehen.“ Sie gingen, die Kaufleute staunten nur. „Wir haben auch schon viel gekauft“, sagen sie, „aber so etwas haben wir noch nicht gesehen. Wie ist euer Vor- und Vatersname?“ – „Iwan Iwanytsch“, sagt er, „ich wohne mit meiner Mutter hier.“ Und sie fragen ihn: „Wie ist denn“, sagen sie, „der Preis?“ – „Ich schenk sie euch so“, sagt er, „nur nehmt mich mit in euer Land!“ Sie blieben noch einen Tag bei ihm, dann fuhren sie ab, und er mit ihnen. Das Schiff fliegt wie ein Vogel; war es sonst zwei Wochen gefahren, so jetzt zwei Tage… Sie kamen an; er verabschiedete sich und verließ sie. Dann verwandelte er sich in eine Fliege, setzte sich diesen Kaufleuten auf die rechte Schulter und sitzt nun dort. Sie kommen zum Zaren. „Befehlt nicht“, sagen sie, „uns hinzurichten, befehlt, ein Wort zu sagen.“ – „Redet, redet!“ – „Im Meer auf einer Insel lebt eine Mutter mit ihrem Sohn, mit Iwan Iwanytsch. Und sie haben genauso ein Schloß wie Ihr. Wir haben“, sagen sie, „drei Tage dort gewohnt: das sind so edelmütige, umgängliche Leute…“ – „Meine Herren Kaufleute, wendet eure Schiffe, wir fahren hin!“ Die Tanten kamen sofort herbeigesprungen. „Ach, was hört Ihr auf einen gewöhnlichen Bauern vom Dorfe… Kommt lieber mit uns übers Meer; wir haben dort fremdländische Kater!“ – „Schön“, sagt er, „morgen!“ Die Kaufleute schenkten dem Zaren die Tiere und gingen nach Hause… Der weise Iwan sagt: „Beil und Knüppel! Ich will zu Hause 411
sein!“ Sogleich brachten sie ihn nach Hause; er legt sich schlafen. „Beil und Knüppel! Daß morgen ja jene fremdländischen Kater bei mir sind!“ Am anderen Tag kommt wieder ein Schiff an der Insel vorbei. „Meine Herren Kaufleute! Kommt bitte zu mir!“ Die haben Angst: nichts ist dagewesen, und nun das alles… Er lud sie ein, bewirtete sie; sie bestaunen in einem fort das Schloß und die fremdländischen Kater: das Fell schmiegt sich nur so an… Auch diese Kaufleute blieben drei Tage, er gab ihnen Zobel, Füchse und Marder, noch bessere als den ersten, und fuhr mit ihnen davon. Sie fuhren also; eine solche Stille ist auf dem Meere, aber das Schiff fliegt wie ein Vogel… Die Kaufleute denken: „Das ist ein Engel“, sagen sie, „und kein Mensch; ein Heiliger, ganz bestimmt…“ Der weise Iwan kommt mit ihnen an, verabschiedete sich von ihnen, verwandelte sich in eine Fliege und setzte sich dem einen Kaufmann auf den Kopf. Die Kaufleute gingen zum Zaren und bringen ihm Zobel, Füchse und Marder, noch bessere als das erstemal. Der Zar staunt. Die Kaufleute sagen: „Auf einer Insel im Meer steht genauso ein Schloß wie bei Euch; und sie haben dort fremdländische Kater. Es lohnt, sich das anzusehen.“ – „Meine Herren Kaufleute, wendet eure Schiffe, wir fahren zu der Insel!“ Wieder sagen die Tanten: „Ach, was hört ihr auf jeden Knasterbart! Fahrt lieber mit uns: bei der Tante im Garten gibt es Paradiesvögel, die singen herrliche Lieder.“ – „Ergebensten Dank! Damals“, sagt er, „bin ich die fremdländischen Kater ansehen gefahren und ha412
be nichts gesehen!“ – „Nun, die konnten davonrennen, aber die Vögel werden nirgends hinrennen! Fahrt lieber mit uns…“ – „Nun schön“, sagt er. Die Kaufleute gingen nach Hause. Der weise Iwan sagt: „Beil und Knüppel, ich will bei meiner Mutter sein!“ Sie brachten ihn auf die Insel; er legt sich schlafen: „Beil und Knüppel! Daß morgen ja die Paradiesvögel bei mir sind und herrliche Lieder singen!“ Er wacht am Morgen auf und hört: herrliche Musik. Sie lauschten und lauschten… Danach kommt ein drittes Schiff an der Insel vorbei. Wieder lud Iwan-Zarewitsch die Kaufleute ein, gab ihnen Zobel, Marder und Füchse. Sie blieben drei Tage bei ihm, fuhren los, und er mit ihnen. Das Schiff fliegt wie ein Vogel… Sie kamen an; er verabschiedete sich und ging fort; dann verwandelte er sich in eine Fliege und setzte sich dem einen Kaufmann auf den Kopf. Die Kaufleute kommen zum Zaren und überreichen die Füchse, Marder und Zobel. Der Zar sagt: „Das sind mir Zobel! Eine Augenweide!“ – „Da haben wir ganz andere Dinge gesehen!“ sagen sie. „Im Meer auf einer Insel steht genauso ein Schloß wie Eures; dort lebt eine vornehme Dame mit ihrem Sohn Iwan Iwanytsch. Sie haben dort fremdländische Kater, und Paradiesvögel singen herrliche Lieder…“ – „Ach, Kaufleute, wendet eure Schiffe; ich will mit euch fahren!“ Und wieder die Tanten: „Ach, wie seid ihr leichtgläubig! Fahrt lieber mit uns; wir haben sechs Söhne, strahlend wie die Falken, die Arme bis zum Ellbogen in Gold, die Beine bis zum Knie in Silber, und an jedem Haar 413
eine Perle; die können bestimmt nicht verschwinden, sie werden nur zur Mittagszeit für zwei Stunden herausgelassen.“ Der Zar dachte an seine Söhne. „Schön“, sagt er, „fahren wir…“ Die Kaufleute gingen nach Hause. Der weise Iwan aber stach die eine Tante ins Auge und die andere in den Kopf… „Ach“, sagt die, „mich hat etwas in den Kopf gestochen!“ Das Blut lief sogleich, und sie band ein Tuch darum. Der weise Iwan aber verwandelte sich in eine Fliege und flog nach Hause. „Nun, Mutter, backt mir zu morgen sechs Kuchen!“ Da buk sie ihm sechs Kuchen. Er sagt: „Beil und Knüppel! Daß ich ja genau zur Mittagszeit dort bin!“ Sie brachten ihn dorthin; jene Zauberin ließ alle sechs Söhne heraus. Ach, wie sie umherrannten… Die Arme bis zu den Ellbogen in Gold, die Beine bis zu den Knien in Silber, und an jedem Haar eine Perle. Er warf ihnen einen Kuchen hin, dann den zweiten, den dritten, alle… Sie griffen danach und begannen zu essen. „Ach“, sagen sie, „wie schmecken die, wie schön sind sie, als hätten Mutters Hände sie gebacken.“ Da sahen sie den Bruder… „Versteck dich“, sagen sie, „so schnell wie möglich!“ Und die Zauberin sagt: „Ah, weiser Iwan! Auch du willst zu mir.“ Er sagt: „Beil und Knüppel! Hackt sie in kleine Stücke und werft sie alle ins Wasser!“ Sie zerhackten sie und warfen die Stücke ins Wasser… Da freuten sich alle Brüder, daß sie die Zauberin los waren. „Beil und Knüppel! Wir wollen an unserem Haus sein.“ Sogleich waren sie alle an ihrem Haus. Die Mutter kam heraus und erkannte sie alle. Sie fielen alle 414
auf die Knie: „Mutter, Mutter!“ – „Bedankt euch beim Jüngsten…“, sagt sie. Und der Zar war wieder nicht zu ihnen gekommen: die eine Tante sah nur noch auf einem Auge, und der anderen war der Kopf angeschwollen wie ein Bierkessel. Wieder kommen Kaufleute auf Schiffen gefahren; sie staunen. Der weise Iwan kommt heraus und lädt sie ein: „Kommt bitte!“ Die Brüder hatten noch keine Menschen gesehen, sie sind ganz verwundert… Die Kaufleute bestaunen sie noch mehr. Sie blieben drei Tage und kommen zum Zaren. „Ach, Väterchen, Eure Kaiserliche Majestät! Im Meer auf einer Insel steht genauso ein Schloß wie Eures, und es wohnen darin sechs Brüder, die Arme bis zum Ellbogen in Gold, die Beine bis zu den Knien in Silber, und an jedem Haar eine Perle; der siebente Bruder aber ist der weise Iwan. Es gibt dort auch fremdländische Kater, und Paradiesvögel singen herrliche Lieder.“ – „Ach, Brüder, wendet Eure Schiffe, wir wollen fahren!“ Die Tanten aber sind nicht da, sie liegen im Bett… Sie fuhren los. Nach einer Woche kommen sie zu dieser Insel. Der Zar staunt selber… Zu seiner Begrüßung kommt der weise Iwan mit seinen Brüdern und seiner Mutter heraus… Der Zar fiel auf die Knie und begann vor Freude zu weinen… Und der Zar schickte sofort einen Erlaß, sie sollten spurlos verschwinden (die Tanten nämlich). Der Zar kam zurück. Zur Begrüßung kam ihm die ganze Stadt entgegen, die Senatoren, und die Zarin wurde an den Händen geführt… Der weise Iwan sagt: „Beil 415
und Knüppel! Daß mir ja alles hier ist: die Paradiesvögel und die fremdländischen Kater!“ Was war das für eine Freude, und wie bestaunte das Volk diese seltsamen Dinge und die Zarenkinder!
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39 Der Adler-Zarewitsch und sein Sohn Es lebten einmal eine Maus und ein Sperling. Nun, die Maus hatte sich in der Erntezeit mit allem versorgt, der flatterhafte Sperling aber mit nichts. Und der Winter war diesmal hart, schneidend und kalt. Der Sperling wußte nicht, wie er sich retten sollte, und kam zur Maus ins Loch: „Liebste Gevatterin, nimm mich auf, solange der grimmige Frost dauert!“ „Oh“, sagt sie, „mein Proviant wird nicht reichen.“ Nun, er bettelt sie: „Laß mich bitte, bitte ein, Maus!“ „Na, ich will gehen und meine Vorräte ansehen: wenn es reicht, lasse ich dich ein.“ Sie besah ihre Kornkästen und erklärte sich einverstanden ihn einzulassen. „Satt werden wir zwar nicht, aber Hungers werden wir auch nicht sterben.“ Nun, sie machten aus, zusammen zu leben. „Und im Sommer werden wir zusammen arbeiten. Du wirst Weizen sammeln, und ich werde ihn mit dem Schnabel dreschen und forttragen.“ Der Frühling kam, der Sperling schwang sich in die Lüfte und flog davon. Die Maus war gekränkt, sie ging zu ihrem Gemeindeältesten, den Sperling verklagen. Ihr großes Gericht trat zusammen. Alle 417
waren versammelt, auch die Vögel waren alle gekommen, und auch das kleine Getier, die Mäuse und Maulwürfe. Und das Gericht begann. Ein Gericht war ihnen noch nicht genug, sie eröffneten untereinander den Krieg. Zwei Tage bekriegten sie sich. Nun, und ihr Gericht lief auseinander; einem Adler hatten sie die Flügel angeschossen – er blieb auf einem Baumstumpf sitzen. Einmal ging Iwan der Kaufmannssohn auf die Jagd und sieht diesen Adler, nimmt die Flinte herunter und zielt, um ihn zu erlegen. Da antwortet ihm der Adler mit Menschenstimme: „IwanKaufmannssohn, schieß nicht auf mich, ich bin genauso ein Mensch wie du, nur für einige Zeit verwünscht; nimm mich lieber mit und füttere mich, ich werde dir von Nutzen sein.“ Iwan der Kaufmannssohn geht hin und fragt: „Und muß ich dich lange füttern?“ – „Ein Jahr“, sagt er, „muß ich gefüttert werden.“ – „Und welche Speise ißt du denn?“ – „Am Tag einen Hammel.“ Nun, der Kaufmannssohn nahm den Adler und bringt ihn seinem Vater: „Hier, so und so, das habe ich gefunden.“ Und erzählt alles. Der Vater schwieg eine Weile. „Das ist teuer“, sagt er. Nun, wiederum, wenn er auch brummt, so ist es doch sein einziger Sohn – er möchte es ihm nicht verbieten. Etwa ein halbes Jahr hatte er ihn gefüttert, da begann der Vater zu schimpfen: „Das ist doch zu stark – am Tag einen Hammel! Zu welchem Nutzen fütterst du ihn?“ Darauf wurde der Vater böse, wartete, bis der Sohn einmal fortgegangen 418
war, befahl, den Adler in eine Schlucht zu werfen, und verbot zu sagen, wohin sie ihn geworfen hatten. Aber das Stubenmädchen hatte es gemerkt, wohin sie ihn gebracht hatten, und sagte es ihm heimlich. Und er holte den Adler aus der Schlucht und brachte ihn in die Hütte einer alten Frau. Er bringt täglich einen Hammel und füttert ihn heimlich, ohne Wissen des Vaters. Bis zum Jahr fehlt nur noch ein Monat, aber der Vater hat erfahren, daß der Sohn ihn trotzdem füttert; er wurde böse auf den ungehorsamen Sohn und jagte ihn kurzerhand im bloßen Rock aus dem Haus. Der Kaufmannssohn kommt mit bitteren Tränen zum Adler: „Nicht nur, daß ich nichts habe, dich zu füttern“, sagt er, „ich selber habe jetzt nichts mehr zu essen.“ – „Nun, was macht’s, sagt der Adler, „dann gehen wir eben, unsere Kräfte versuchen.“ Sie kamen dort auf einen Platz. „Nun“, sagt der Adler, „setz dich auf mich und halte dich schön fest.“ Und er trug ihn auf seinem Rücken bis unter die Wolken, trug ihn bis unter die Wolken und ließ ihn herunterfallen. Iwan der Kaufmannssohn war dicht daran, sich zu Tode zu stürzen, da ließ er ihn nicht zu Boden fallen und fing ihn wieder auf. Als sie dann haltgemacht hatten: „Was hast du eigentlich gedacht“, fragt der Adler den Kaufmannssohn, „als du so flogst?“ – „Was soll ich gedacht haben? Ich habe gedacht: Wenn ich auf die Erde falle, stürze ich mich zu Tode.“ – „Damit habe ich Euch die erste Schuld vergolten. Als ich auf dem Baumstumpf saß und du auf mich zieltest, 419
habe ich auch gedacht, es wird mein Tod sein. Nun, dann setz dich auf meinen Rücken und laß uns fliegen, wohin uns der Weg führt.“ Flogen sie nun lange oder kurze Zeit, jedenfalls kommen sie zu einer Stadt und machen vor den Toren halt. „Jetzt hör zu, Iwan-Kaufmannssohn, schenk mir dreimal deinen Schweiß, leiste mir einen Dienst.“ – „Und wo kann ich denn in Schweiß kommen?“ antwortet der. „Klettre hier auf den Zaun!“ Er kletterte hinauf. „Jetzt schüttle mich an den Ohren, bis dir Arme und Beine versagen.“ Nun, er schüttelte und schüttelte – er konnte schon nicht mehr. Der Schweiß fließt in Strömen an ihm herunter. „Nun, ruh dich etwas aus“, sagt er. „Noch zweimal schenk mir deinen Schweiß!“ sagt er. Und aus seiner Haut ragten schon bis zum Knie Menschenbeine heraus. Und wieder schüttelte er ihn aus Leibeskräften. Schüttelte und schüttelte. Er konnte schon nicht mehr. Der Schweiß fließt in Strömen an ihm herunter, aber es waren schon die Brustwarzen zu sehen. „Nun, jetzt schüttle zum letzten Mal, bis die Haut in deinen Händen bleibt. Wenn du aber nicht durchhältst, ist für uns beide alles verloren!“ Er schüttelte ihn aus dieser Haut heraus, und der Adler trat als junger Bursche vor ihn hin. „Nun, jetzt wollen wir Brüderschaft schließen.“ Sie schlossen Brüderschaft und gelobten, einander nicht zu verlassen. „Jetzt geh in das und das Haus, da steht die und die Aufschrift, und bitte um ein Almosen. In diesem Hause wohnt meine älteste Schwester. Geh zum Fenster und bitte um 420
ein Almosen nicht um Christi willen, sondern um des Adler-Zarewitschs willen. Und die Frau wird fragen: ,Was für ein Almosen willst du denn?’ Bitte dann um die goldenen Schlüssel vom Keller und hör zu, was sie dir sagt, falls sie dir die Schlüssel nicht gibt.“ Er geht hin und beginnt, um ein solches Almosen zu bitten, nicht um Christi willen, sondern für den Adler-Zarewitsch. Und am Fenster stand das Stubenmädchen und bügelte Wäsche. Nun, was die Beine hergaben, rannte die zu ihrer Herrin: „Was ist das für eine neue Art, um Almosen zu bitten?“ Die Herrin ahnte die Geschichte, ging selber zum Fenster, er erzählte ihr die ganze Geschichte und bittet um die Schlüssel. Sie hörte sich die Geschichte an und sagt: „Wie lange ich auch den Bruder nicht gesehen habe, ich will ihn lieber noch einmal genauso lange nicht sehen, aber die Schlüssel gebe ich nicht.“ Nun, er kommt zu ihm und erzählt’s. „Macht nichts, hier ist es nicht gelungen, gehen wir zur zweiten Schwester, in die zweite Stadt.“ Nun, kurz erzählt, dort wurden sie auch abgewiesen. Sie gingen in die dritte Stadt, zur jüngsten Schwester; wieder ging Iwan der Kaufmannssohn, um das gleiche Almosen zu bitten. Die freute sich von ganzem Herzen. „Und wo ist er denn, der Adler-Zarewitsch?“ – „Gib mir nur die Schlüssel, und ich bringe dich zu einem Wiedersehen mit ihm.“ Sie gab ihm die Schlüssel. Nun, und dann kam er mit dem Adler wieder, sie unterhielten sich und feierten ein Fest. Bei der jüngsten 421
Schwester also war das Wiedersehen mit dem Bruder. Nun, und danach traute der AdlerZarewitsch Iwan den Kaufmannssohn mit seiner Schwester. „Ich aber“, sagt er, „will gehen und mein Glück suchen.“ Und er übergab IwanZarewitsch alle zwölf Keller, in denen war viel von allem möglichen Gold und Silber. Und der Adler-Zarewitsch kommt in eine fremde Stadt. In dieser Stadt lebte der unsterbliche Kastschej, der herrschte über diese Stadt. Und er hatte eine Kaufmannstochter geraubt, die hielt er bei sich gefangen. Einige Zeit lebte der Adler-Zarewitsch in dieser Stadt und begann, die Frau Kastschejs zu besuchen, wenn Kastschej nicht in der Stadt war. Und Kastschejs Frau wurde von ihm schwanger. Und einmal erwischte der unsterbliche Kastschej den Adler bei sich im Schloß und schlug ihm den Kopf ab. Sie aber war von ihm schwanger. Und als Kastschej weggefahren war, gebar sie in seiner Abwesenheit. Und sie weiß nicht wohin mit dem Kind. Kastschej würde es sowieso umbringen. Und sie kam auf den Gedanken, es in ein Eichenfaß zu legen; auf das Faß schrieb sie, daß es ein ungetauftes Kind ist, und warf’s ins Meer. Und eben der Kaufmannssohn, der die Schwester des Adlers geheiratet hatte, hatte einen Traum, an seinem Ankerplatz hätten neue Schiffe angelegt. Und er weckt früh am Morgen seine Frau. „Was ist das für ein Traum? Ich will zum Ankerplatz fahren. Ob dort alles in Ordnung ist?“ Er kommt zum Ankerplatz, da schwimmt an sei422
nem Ankerplatz ein Faß. Nun, er fischte dieses Faß heraus, sieht die Aufschrift, daß es ein ungetauftes Kind ist, nimmt das Faß und bringt’s nach Hause zu seiner Frau. Sie nahmen beide das Faß, machten es auf, holten das Kind heraus, und da lag ein Zettel, daß es vom Adler-Zarewitsch gezeugt ist. Und beide freuten sich: „Nein so was, von unserem Bruder.“ Und sie feierten Taufe. Tauften’s und gaben ihm den Namen Wassili. Und er hatte schon selber zwei Jungen. Und er zog’s mit seiner Frau auf wie sein eigenes. Er wächst bei ihnen nicht von Jahr zu Jahr, nicht von Tag zu Tag, sondern geradezu von Stunde zu Stunde. Und sie gaben ihn zusammen mit ihren Kindern in die Schule. Sie lassen ihn nichts merken, „daß du nicht unserer bist.“ Wenn die Kinder aus der Schule gelaufen kommen, treiben sie ihren Mutwillen. Wassili stößt sie ein klein wenig – das ist für sie schon zu viel. Sie kommen, beklagen sich: Hier, Wasja ärgert uns. Nun, sie sagen ihm nichts. Kinder sind eben Kinder. Einmal hatten sich die Kinder verzankt – der älteste Junge sagt zu ihm: „Du bist nicht von uns, dich haben wir gefunden.“ Der lief mit Tränen zu Vater und Mutter. Die wollen es ihm ausreden; aber er wiederholt immer das eine: „Laßt mich fort: wenn ich nicht euer Kind bin, dann will ich in die Welt ziehen.“ Nun, irgendwie besänftigten sie ihn. Er blieb. In der Schule war er der beste. Mancher lernt drei Jahre, er hatte in einem Jahr alles begriffen.
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Einmal spielten die Kinder mit Pfeilen, und seine Pfeile waren auf einen alten, zerfallenen Schuppen gefallen. Er ging, seinen Pfeil zu holen, sah dieses Faß und las die Aufschrift. Und er geht jetzt zu Vater und Mutter. „Nein, ihr habt die Unwahrheit gesagt. Hier ist dieses Faß. Laßt mich fort, ich will in alle vier Himmelsrichtungen gehen und mein Glück suchen.“ Sie aber schmerzte es, ihn fortzulassen. Sie mühten sich einige Zeit mit ihm ab, können nichts mit ihm anfangen und erzählen ihm nun von selbst alles ausführlich, wer er ist und wessen Sohn er ist. Und er ging in die Stadt, wo dieser unsterbliche Kastschej wohnte. Jetzt aber hatte der Kastschej schon eine Mauer rings um die Stadt machen lassen: läßt niemanden durch. Genau gegenüber dem Schloß Kastschejs lebte eine alte Frau in einer elenden Hütte. Zu dieser Alten kommt eben dieser Wasja und bittet um ein Nachtlager. Die Alte ließ ihn ein und setzte ihm vor, was sie da hatte. „Wer herrscht über Eure Stadt hier, Großmütterchen?“ fragt er. „Oh, mein Kind, der unsterbliche Kastschej herrscht über diese Stadt! Er hat das Volk schon fast zu Tode gepeinigt!“ – „Warum, Großmütterchen, ist diese Stadt so stark bewacht?“ fragt er. „Oh, mein Kind, früher war das einfach, alle liefen und fuhren einfach so ein und aus. Das ist alles aus einem bestimmten Grunde geschehen.“ – „Aus welchem Grunde denn?“ – „Der Kastschej hat eine Frau, die hat er den Russen gestohlen; und hier hat ein Ritter ge424
lebt, der hat die Frau Kastschejs immer besucht, Kastschej aber hat die ganze Geschichte herausbekommen und ihm den Kopf abgeschlagen, danach aber hat er hier die Wachen ausgestellt. Und die Frau Kastschejs war vom Adler-Zarewitsch schwanger, und ich weiß nicht, wo sie das Kleine verborgen hat.“ Wasja aber schrieb sich alles hinter die Ohren. „Höre, liebes Großmütterchen, sei du mir eine zweite Mutter, ich habe ein Anliegen an dich. Geh auf den Markt, kauf mir Frauenkleider und eine Geige, und hier hast du Geld, kauf mir etwas zu essen. Und sage niemandem etwas, einfach: eine Frau ist bei mir zu Besuch, und fertig!“ Die Alte ging also auf den Markt, kaufte ihm Frauenkleider und eine Geige. Er zog die Frauenkleider an und bat die Alte, bat sie inständig, sie solle nicht sagen, daß er männlichen Geschlechts sei. Er setzte sich auf den Hof unters Fenster, dem Kastschej gegenüber, und begann, auf der Geige zu spielen – Kastschej gefiel die Musik. Er lauschte und lauschte, fing auf seinem Balkon an zu tanzen und schickt seine Diener: „Geht hin und fragt dieses Mädchen, ob sie nicht am Abend zu mir spielen kommen will.“ Die Diener fragen das Mädchen, aber die, das heißt Wasja, sagt: „Ich verstehe es nicht, für euren Herrn zu spielen, ich bin von einfachen Leuten. Eine gewöhnliche Landstreicherin. Wie sollte ich für ihn spielen können?“ Wieder schickt er die Diener, sie solle es nicht abschlagen, denn ihr Spiel gefalle sehr. Nun, er versprach zu spielen und schreibt ein Briefchen 425
für seine Mutter. „Euer Sohn, der im Faß war, hat sich gefunden, ich bin beim Onkel aufgewachsen. Und, meine liebe Mutter, frage den Kastschej, wo sein Tod ist. Er wird zweimal lügen, das dritte Mal sagt er die Wahrheit. Und hat er gesagt, wo sein Tod ist, dann sei recht aufmerksam zu ihm.“ Und die Diener kamen und riefen dieses Mädchen, sie solle spielen. Kastschej gefiel sie sehr. Sie spielt schön und ist ein sehr kluges und ehrerbietiges Mädchen. Aber seine Frau zeigt er ihr nicht einmal, hält sie im zwölften Stockwerk gefangen, wegen ihres Fehltritts. Aber Wasja schlug ihm trotzdem ein Schnippchen, schickte der Mutter durch die Kammerzofe das Briefchen. Als das Tanzen zu Ende ist, begleiten die Diener das Mädchen nach Hause, Kastschej gibt ihm fünfzig Rubel, aber er übergab dieses Geld heimlich der Kammerzofe, damit diese das Briefchen abliefere. Nun, und weil er, Kastschej, nach Herzenslust getanzt hatte und herumgehopst war, schläft er am nächsten Morgen lange. Das hatte es bei Kastschej noch nie gegeben: ihr wurde der Tee gebracht, sie weckt ihn und bittet ihn ganz zärtlich, Tee zu trinken. Kastschej freute sich sehr darüber. Sonst liebte sie ihn nicht, und jetzt ruft sie ihn, mit ihr Tee zu trinken. Und beim Tee begann sie eine Unterhaltung mit ihm: „Solange wir auch schon miteinander leben, mein Liebster, so haben wir doch nie miteinander gesprochen. Und was macht dir das für Vergnügen, diese Abende zu veranstalten, dich bis zu einem solchen Grade
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abzuquälen, und jetzt bist du müde. Und wo befindet sich denn. Liebster, Euer Tod?“ Kastschej mußte lachen: „Wozu braucht Ihr denn meinen Tod?“ – „Was für eine Frau kann ich dir denn sein“, sagt sie, „wenn ich nichts weiß.“ – „Mein Tod“, sagt er, „ist bei der Kuh in den Hörnern.“ – „Bei welcher?“ – „Bei der gescheckten“, sagt er und flog davon. Sie befahl sogleich, diese gescheckte Kuh zu ihr aufs Stockwerk zu bringen. Sie stellte sie auf einen kostbaren Teppich, steckte ihr alle möglichen Blumen an und band ihr die verschiedensten Bänder um. Nun kommt Kastschej heim, sah’s: „Was hast du dir denn da wieder einfallen lassen?“ – „Nun, was ist das denn für eine Art, Liebster, paßt es sich etwa für deinen Tod, sich auf den Höfen herumzutreiben? Sie können deinen Tod noch umbringen, und ich bleibe als Witwe zurück. Lieber will ich ihn selber pflegen, mich um ihn kümmern, statt irgendwelcher Diener.“ Kastschej war gerührt. „Führ sie hinaus, Närrin, nicht hier ist mein Tod!“ Nun, die Kuh wurde weggetrieben, die Blumen wurden abgenommen, sie begann zu weinen: „Warum willst du nicht die Wahrheit sagen?“ Kastschej aber weiß vor Freude nicht wohin, daß ihn sein Weib liebgewonnen hat. Wieder veranstaltet er einen Abend, wieder lädt er jenes Mädchen ein zu spielen, und wieder hat der Sohn ein Briefchen geschrieben: „Frag noch mehr, wo der Tod ist.“ Nun, kurz gesagt, Kastschej tanzte wieder nach Herzenslust, legte sich wieder schlafen, und wieder weckt sie ihn 427
früh und fragt nach seinem Tod: „Was für eine Frau kann ich Euch denn sein, wenn ich nichts weiß.“ – „Mein Tod ist beim Bock auf den Hörnern“, sagte er und flog davon. Sie befahl sogleich, diesen Bock zu ihr nach oben zu tragen, stellte ihn auf einen Teppich und umwand ihn mit Perlen und Gold. Wieder kommt Kastschej heimgeflogen und sah’s: „Was ist denn das wieder?“ – „Nun, was ist denn das für eine Art, Liebster, ist es etwa gut für deinen Tod, sich auf den Höfen herumzutreiben?“ Er aber lacht: „Du Närrin und nochmals Närrin, führe ihn weg von hier!“ Da begann sie zu weinen: „Auf der Stelle, wenn du mich nicht liebst und nicht gutwillig die Wahrheit sagst, nehme ich mir das Leben. Ich komme zu dir mit meinem ganzen Herzen, und du liebst mich nicht und sagst nicht die Wahrheit.“ Nun, und heulte los. Kastschej sagte nun die Wahrheit: „Nun, Närrin und nochmals Närrin! Höre, wo mein Tod ist: Mein Tod ist hinter drei Ländern, auf einer wilden Steppe, niemand geht dorthin, niemand fährt dorthin, über das Meer. Jenseits dieses Meeres steht eine Hütte, in dieser Hütte ist eine Kiste angeschmiedet, in dieser Kiste ist eine Schachtel, in dieser Schachtel eine Ente, in dieser Ente ein Ei, in diesem Ei – mein Tod. Wenn dieses Ei zerbricht, das wird mein Tod sein.“ Sie schrieb das alles gleich auf ein Papier und schickte es mit der Kammerzofe ihrem Sohn. Der Sohn erhielt dieses Briefchen und wurde sehr froh. 428
Nun, von der Alten nahm er Abschied – ließ ihr etwas Kapital zurück und sagt: „Großmütterchen, sag niemandem etwas und trag es nicht hinaus, vielleicht sehen wir uns einmal wieder, aber ich gehe jetzt auf die Wanderschaft.“ Ging er nun lange oder kurze Zeit, jedenfalls kam er in eine Gegend, wo es weder etwas zu kaufen noch etwas zu mieten gab, und er hatte Hunger. Irgendeinen schimmligen Zwieback hatte er noch. Er denkt: „Ich will ihn im Meer aufweichen und essen.“ Kaum war er am Ufer und hatte ihn aufgeweicht, kommt ein Fisch heran und entreißt ihm dieses Stückchen. „Warum hast du mir, einem Wandersmann, das letzte Stückchen weggenommen?“ Nun, er zuckte die Achsel und ging weiter. Es war ein klarer, heißer Tag. Der größte Fisch kam heraus, sich an der Sonne zu trocknen. Liegt da, wie ein großer Berg. Da denkt er bei sich: „Ich will meinen Stock danach werfen, irgendein Stück wird von diesem Fisch abbröckeln, und ich kann es essen.“ Der Fisch antwortete ihm: „Denke das nicht, Wanderer, du wirst von meinem Stück nicht ewig satt sein, mir aber wird es ewig weh tun, und ich kann dir besser nützlich sein.“ Er ging weiter und rührte den Fisch nicht an. Ertrug den Hunger. Ein Hund kommt gelaufen, der hat drei Welfen bei sich, und er ist so hungrig, daß er mit dem Stock den einen Welfen totschlagen will. Der Hund antwortet ihm: „Für ewig wirst du dich an meinem Welfen nicht satt essen, ich aber werde ewig Kla429
ge gegen dich führen. Und ich kann dir noch nützlich sein.“ Nun, er ging weiter, wieder seinen Weg, und kommt an eben das Meer, wo die Hütte steht. Am Meer aber ist weder eine Fähre noch ein Boot – nichts. Er setzte sich hin, ließ den Kopf hängen und sitzt da. Da sieht er: das Meer bewegt sich. Derselbe Fisch, von dem er ein Stück hatte abschlagen wollen, kam heran und brachte ihm auf seinem Rücken die Hütte angeschleppt. „Nun, bist du zufrieden mit meinem Dienst?“ – „Danke!“ sagt er. Er geht in die Hütte hinein, bricht die Kiste auf, hat die Kiste aufgebrochen – aber er hatte in der Hütte die Tür nicht zugesperrt, die Ente sprang aus der Schachtel und flog davon in die Steppe. „Was für eine Dummheit!“ Er setzte sich hin und ließ den Kopf noch ärger als das erste Mal hängen. „Hab sie in den Händen gehabt und sie nicht halten können.“ Irgendwoher bringt ihm der Hund, dessen Welfen er verschont hatte, die Ente angeschleppt; er hatte ihr im Flug den Hals durchgebissen. – „Nun, siehst du, Wandersmann, auch ich bin dir nützlich gewesen.“ Er verneigte sich vor dem Hund bis zum Gürtel. Setzte sich hin, die Ente aufzuschneiden: die Ente hatte er zwar aufgeschnitten, aber das Ei rollte zurück ins Meer. „Was bin ich nur für ein Narr, was für ein Dummkopf!“ Plötzlich sieht er, das Meer bewegt sich, und der Fisch, der ihm den Zwieback entrissen hatte, bringt ihm das Ei angeschleppt. Er steckte das Ei ein und ging zurück.
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Nun, und Kastschej ging es zu Hause schlecht. Der Tod hatte ihn angerührt. Nun, kurz erzählt, er kommt wieder zu dieser Alten, bei der er das erste Mal gewesen war. „Nun, Großmütterchen, was gibts Neues bei uns?“ – „Das gibt es Neues, daß Kastschej im Bett liegt, schon ohne Bewegung liegt.“ Er übernachtete bei der Alten. Am anderen Tag geht er geradenwegs ins Schloß zu Kastschej, geht schon furchtlos. Kastschej bittet ihn um Gnade: „Gib mir dieses Ei, nimm meinen Platz ein, ich gehe fort von hier.“ Er hörte nicht darauf, nahm das Ei, zerschlug’s, und Kastschej mußte ins Gras beißen. Da verbrannte er Kastschej, streute die Asche in alle Winde, verstreute sie bis aufs letzte Körnchen. Das ganze Volk atmete auf. Nun gab es ein Läuten, Singen und Freude. Er aber ging, den Vater ausgraben. Grub den Vater aus, bestrich ihn mit diesem Ei, und sein Vater wurde wieder lebendig. Nun, und nun lebten sie herrlich und in Freuden und wurden reiche Leute. Auch der Onkel, bei dem er gelebt hatte, kam, zu diesem Fest.
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40 Das goldene Ei In einem Zarenreich, in einem Staat lebte einmal ein sehr reicher Bauer. Der hatte drei Söhne: zwei kluge und als dritten Iwan den Dummkopf. Der Alte wurde krank und trägt seinen Söhnen auf: „Falls ich sterbe, setzt mir ja den Iwan nicht hintan!“ Der Alte starb. Der Leichenschmaus war vorbei, die Seelenmesse gelesen. Jetzt lebten die Söhne allein. Nun, die Brüder leben ganz gut miteinander, in Frieden, aber die Schwägerinnen fingen an sich zu zanken. Die Brüder, die großen, hatten keine Kinder, Iwan der Dummkopf aber hatte ihrer sieben. Die Schwägerinnen sagen: „Wozu sollen wir fremde Kinder füttern. Wir wollen Iwan abfinden! Mag er mit seiner Familie allein leben.“ Die Brüder fanden Iwan ab, und als Haus gaben sie ihm nur das Waschhaus. An Getreide gaben sie ihm drei Maß Roggen. Das war sein Anteil – auf schöne Art hatten sie Iwan nicht hintangesetzt! Die drei Maß Roggen ließ er mahlen; aß sie auf – nicht einmal für drei Wochen reichte es. Mehr zu essen war nicht da, und zum Kaufen hatte er kein Geld. „Ich will zum großen Bruder gehen“, sagt er. „Vielleicht gibt er mir ein Maß Roggen.“ Er kam zum großen Bruder. „Bruder, ich habe nichts zu essen! Kannst du mir nicht ein Maß Roggen geben?“ Der Bruder nahm die Schlüssel, 432
ging in die Scheune und schüttete ihm ein Maß Roggen auf. Der Dummkopf fuhr zur Mühle und ließ es mahlen. Seine Frau verbuk’s und sie aßen auch dieses Maß auf. Wieder war nichts zu essen da. Iwan ging wieder zu seinem Bruder, ob er ihm nicht noch ein Maß gibt. Er kam zum Bruder. „Bruder, ich habe dein Maß aufgegessen! Kannst du mir nicht noch eins geben?“ Der Bruder sagte: „Was denn, Iwan, willst du immer so nach einem Maß zu mir kommen? Du hast dein Maß bekommen, nun verdiene selber!“ Aber er schüttete ihm trotzdem ein Maß Roggen auf. „Da, aber komm nicht wieder zu mir!“ Der Bruder ging zur Mühle, brachte das Maß hin und ließ es mahlen. Seine Frau verbuk’s, und sie aßen’s wieder auf. An einem Maß ißt man nicht lange, neun Mäuler gehörten ja zur Familie. Und wieder war nichts zu essen da. „Ich will zum Bruder gehen“, sagt er. „Vielleicht gibt er mir noch ein Maß.“ Er kommt zum Bruder. „Bruder, ich habe nichts zu essen. Kannst du mir nicht noch ein Maß geben?“ Auf einmal stürzten sich die Schwägerinnen auf ihn und begannen zu schreien: „Sollen wir dich und deine Familie durchfüttern? Willst du immer nach einem Maß zu uns kommen?“ Nun, der Bruder hatte trotzdem Mitleid und gab ihm noch ein Maß. Er ließ das Maß mahlen und aß es wieder auf. Es ist nichts mehr zu essen da, und zum Kaufen hat er kein Geld. Zum Bruder zu gehen, getraut er sich nicht mehr, der hat’s verboten. Es war an einem Sonntag. Er machte sich fertig und ging los. „Ich gehe“, sagt er, „wohin der Weg mich führt!“ Er 433
kam an einen kleinen Wald. Der Wald war an die vierzig Werst entfernt. Er hört, wie seitwärts jemand Holz hackt. Er bleibt stehen und denkt: „Was denn, heute ist Sonntag, aber jemand hackt Holz, macht nicht Feiertag! Ich will doch mal hingehen“, sagt er, „und sehen, wer da hackt.“ Er bog vom Weg ab und ging zu der Stelle, wo gehackt wurde. Kommt hin – da hackt eine Alte Holz. „Was machst du da, Alte? Heute ist Feiertag, und du arbeitest!“ Die Alte wetterte los: „Wie du dich herumtreibst, Herumtreiber, so sollen sich wohl alle herumtreiben! Ich bin deines Bruders Schicksal. Dein Bruder, weißt du, strengt sich an bei der Arbeit, und ich bin sein Schicksal, ich helfe ihm. Du aber, nicht nur am Feiertag, auch am Werktag arbeitest du nicht, und deswegen hast du auch nichts. Und dein Schicksal gibt sich mit seinem Liebsten ab!“ – „Und wo kann ich mein Schicksal finden?“ – „Setz dich auf mich, ich bring dich hin, dann wirst du dein Schicksal finden!“ Iwan der Dummkopf setzte sich der Alten auf die Schultern. Die Alte trug ihn aus dem Wald, brachte ihn aufs freie Feld und stellte ihn auf einen Weg. „Hier, geh diesen Weg lang! Du wirst zu einer Schmiede kommen – geh in die Schmiede hinein und bitte, dir drei Eisenstangen zu schmieden. Wenn die Stangen geschmiedet sind, dann geh diesen Weg weiter. Du wirst zu einem Haus kommen. Es ist ein dreistöckiges Haus, und in diesem Haus sitzt dein Schicksal im Zimmer und gibt sich mit seinem Liebhaber ab. Geh in dieses Haus, bete zu Gott, bekreuzige dich und setz dich 434
auf die Bank. Wenn dein Schicksal aufspringt, zu dir kommt, dich fragt und dich bewirtet, dann trink zwei Gläschen aus, das dritte aber trink nicht! Sie wird dich zwingen wollen, du aber gerb ihr mit diesen Stangen das Fell und gerb es ihr, bis sie sich dir unterwirft.“ So machte er sich auf den Weg. Kam zu der Schmiede und ließ sich drei Eisenstangen schmieden. Er kommt zu dem Haus. Es ist ein dreistöckiges Haus. Ging in dieses Haus. Da sitzt ein Mann mit einer Frau am Tisch. Er trat ein, betete zu Gott, verbeugte sich vor ihnen und setzte sich auf die Bank. Auf einmal kam die Frau mit einer Karaffe zu ihm. Begann ihn zu bewirten. Sie goß ihm ein Gläschen ein, er trank’s, sie goß ein zweites ein, er trank das zweite, sie goß ein drittes ein, das dritte nahm er nicht. Sie wollte ihn zwingen; er packte sie und prügelte munter auf sie ein. „Was fällt dir ein, mich zu zwingen!“ Als er sie zu prügeln begann, sprang ihr Liebster aus dem Fenster. Er prügelte und prügelte; die eine Eisenstange hatte er zerbrochen, er nahm die zweite und zerbrach die zweite. Die zweite hatte er zerbrochen, er nahm die dritte. Da flehte ihn die Frau an: „Hör auf mit Prügeln, ich will dir helfen!“ Da hörte er auf, sie zu prügeln. Sie gab ihm eine Henne mit goldenem Kamm. „Da, trag diese Henne nach Hause, setze sie ins Nest! Sie wird dir goldene Eier legen.“ Iwan nahm die Henne und machte sich auf den Rückweg. Er kommt an die Stelle, wo er die Alte verlassen hatte. Die setzte ihn auf ihre Schultern und brachte ihn dorthin, wo sie Holz gehackt hatte. Die Alte blieb zurück und 435
hackte Holz, er aber ging zur Straße. Er kam auf die Straße und machte sich auf den Heimweg. Kam nach Hause, da weinen die Kinder: „Wir haben Hunger! Gib uns Brot, Vater!“ Vater hatte kein Brot mitgebracht – iß, was du willst. Schnell setzte er die Henne ins Nest. Die Henne legte ein goldenes Ei. Am zweiten Tag legte sie ein zweites. Am dritten Tag legte sie das dritte. Da ging Iwan der Dummkopf zu seinen Brüdern. Die Brüder wollen gerade auf Schiffen in fremde Länder fahren. „Brüder, nehmt meine drei Eier mit! Wenn ihr in die fremden Länder kommt, vielleicht wird man euch dort einen Sack Getreide für jedes geben.“ – „Ach, du Dummkopf, bei uns stehen ganze Spreukörbe voll Eier! Wenn es einen Sack für jedes gäbe, würden wir sie alle dorthin mitnehmen!“ Der Bruder begann zu weinen. „Trotzdem, was sie auch geben werden, nehmt sie trotzdem mit!“ Aber er erklärt nicht, was für Eier es sind. Nun, Brüder, da kann man nichts machen: „Bring sie aufs Schiff, leg sie irgendwo in eine Ecke!“ Iwan der Dummkopf ging nach Hause, wickelte sie in die allerschmutzigsten Lappen, brachte sie aufs Schiff und legte sie hin, wo sie nicht zerdrückt werden konnten. Die Brüder machten sich mit ihren Schiffen auf in die fremden Länder. Sie kamen in den fremden Ländern an und machten am Ankerplatz halt. Dann nehmen sie die allerbesten Geschenke und bringen sie dem König. Brachten die Geschenke hin und gaben sie dem König. Der König lobte die Geschenke sehr und erlaubte ihnen, in seiner Stadt 436
Handel zu treiben. Nun verkauften die Brüder alle Waren sehr bald und hatten großen Gewinn. Sie kauften Waren und beluden ihre Schiffe. Sie wollen wieder in ihre Stadt fahren. Schon hatten sie die Schiffe bestiegen und wollten losfahren, da fiel ihnen ein: „Wie denn, Brüder, wir haben ja die Eier nicht verkauft. Wo liegen sie denn?“ Gleich suchten sie die Eier; wickelten die Lappen ab, da fielen die drei Eier heraus. „Ach, der Dummkopf, woher hat er denn solche Eier? Warum hat er uns denn das nicht erklärt?“ Sie nahmen diese drei Eier, gingen in die Stadt, legten sie auf einen goldenen Teller, brachten sie zum König und sagten, daß das „ein Geschenk von unserem Bruder für Euch ist“. Der König freute sich sehr über dieses Geschenk, so etwas hatte er in seinem Leben noch nicht gesehen. Er bedankte sich für das Geschenk und belud Iwan dem Dummkopf drei Schiffe für die Eier. „Hier“, sagt er, „bringt Iwan dem Dummkopf von mir ein Geschenk für sein Geschenk.“ Jetzt hatten sie sechs Schiffe, und sie machten sich auf den Weg. Es tat ihnen leid, die Schiffe dem Bruder zu geben. „Der Bruder hat einen Sack für jedes Ei haben wollen, geben wir ihm zwei für jedes und behalten die Schiffe für uns!“ So machten sie aus. Plötzlich blieben die Schiffe stehen, bewegten sich nicht von der Stelle. Stehen einen Tag, den zweiten, den dritten, stehen einen Monat und bewegen sich nicht von der Stelle. Die Brüder erschraken darüber: „Deswegen sind unsere Schiffe stehengeblieben, weil wir dem Bruder die Schiffe nicht geben wollten! 437
Herrgott, mach unsere Schiffe flott, wir geben sie dem Bruder!“ Plötzlich fuhren die Schiffe weiter. Sie sind bald zu Hause, sahen also ihre Heimat – und beratschlagten wieder: „Wir geben dem Bruder die Schiffe nicht.“ Die Schiffe blieben wieder stehen. Einen Tag um den anderen und eine Woche stehen die Schiffe und bewegen sich nicht von der Stelle. Die Brüder jammerten: „Mach uns flott, unsere eigenen geben wir hin, nicht nur seine.“ Da fuhren die Schiffe plötzlich weiter. Sie kamen zum Ankerplatz. Die Brüder ließen die Köpfe hängen, gingen nach Hause und waren betrübt: schade, daß der Reichtum nicht mehr ihnen gehörte. Auf einmal kommt Iwan der Dummkopf ihnen entgegengerannt: „Wie ist’s, Brüder, habt ihr meine Eier verkauft?“ – „Ja, ja! Lauf zum Ankerplatz, Iwan, alles was dort ist, alles gehört dir für die Eier.“ Iwan läuft zum Ankerplatz. Die Leute, die über die Waren gesetzt waren, sagen: „Da kommt unser Herr gerannt!“ Die Schiffsleute nahmen ihren Herrn bei den Händen und führten ihn auf die Schiffe. „Laß dir erklären, Iwan, – alles das ist dein Besitz! Alle sechs Schiffe! Weise uns unseren Platz an, und dann wollen wir Handel treiben.“ Sie rissen Iwan dem Dummkopf seine elenden Kleider herunter und zogen ihm schöne an. „Du mußt ein Herr sein, Iwan, nicht so ein abgerissener Kerl!“ Iwan freute sich, lief zu seiner Frau, brauchte keinerlei sonstigen Reichtum. Kam zu seiner Frau. „Frau, vornehme Dame, sieh, wie sie mich für das Ei zurechtgeputzt haben!“ Seine Frau ergriff einen Knüppel und ging auf ihren 438
Mann los: „Putz brauchst du, du Hund, und die Kinder brauchen kein Brot!“ – „So geh doch hin zum Ankerplatz, du niederträchtiges Ding, wenn du neidisch bist!“ Die Frau ließ den Knüppel fahren und rannte voll Freude zum Ankerplatz. Iwans Frau kommt zum Ankerplatz gelaufen. Die Handelsdiener riefen: „Ist das unsere Herrin, die da gerannt kommt, so zerlumpt?“ Sogleich ergriffen sie sie bei den Händen, rissen ihr die elenden Kleider herunter und putzten sie als Herrin an. Und sie rannte nach Hause und brauchte nichts weiter. Dann sahen die Handelsdiener, daß sie von ihrer Herrschaft nichts Vernünftiges erwarten konnten und fingen selber an, Läden zu bauen. Sie bauten die Läden, luden die Waren aus und trieben fleißig Handel. Dann nahmen sich Iwans Söhne des Handels an. Und dann begann auch Iwan selber, in den Laden zu gehen. So trieben sie Handel. Verdienten gut, schafften sich ein großes Vermögen an. Dann schaffte sich Iwans Frau einen Liebhaber an. Dieser Liebhaber nun geht überall herum. Kaum waren sie in den Laden gegangen, Handel zu treiben, kam er zu ihr und lief herum und fand die Henne mit dem goldenen Kamm. Die Henne hatte auf ihrem Kamm eine Aufschrift: „Wer diesen Kamm ißt, wird Zar, und wer von der Henne den Magen ißt, der wird Gold spucken.“ So merkte dieser Freund, woher der ganze Putz kam. Es verlangte ihn, die Henne zu essen. Da sagt er: „Liebste, schlachte diese Henne, und essen wir sie zusammen.“ Sie sagte: „Nein, diese Henne will ich nicht schlachten!“ – 439
„Und warum willst du sie nicht schlachten?“ – „Darum will ich’s nicht, weil wir durch diese Henne zu leben begonnen haben.“ – „Nun, wenn du die Henne nicht schlachten willst, dann will ich dich auch nicht lieben! Ich komme in Ewigkeit nicht wieder zu dir!“ – „Ob du mich nun liebst oder nicht, die Henne schlachte ich nicht!“ Auf einmal sprang ihr Liebhaber auf und lief aus dem Haus. „Ich komme in Ewigkeit nicht wieder zu dir, du niederträchtiges Ding!“ Es tat ihr aber leid. „Komm zurück“, sagt sie, „Liebster! Ich will die Henne für dich schlachten!“ Da kam er zurück. Sie schlachtete die Henne, nahm sie aus und briet sie sogleich. Setzte sie aufs Feuer. Er sagt: „Nun, Liebste, wir wollen das Bad heizen! Erst waschen wir uns, und dann essen wir die Henne.“ Gleich heizte sie das Bad, und sie gingen ins Bad. Auf einmal kamen ihre zwei kleinen Söhne angerannt, Mischka und Grischka, und wollten etwas zu essen. „Ach“, sagen sie, „Mutter ist nicht da, und wir haben Hunger.“ Mischka sagt: „Komm, Grischka, sieh nach, was im Ofen ist, es macht nichts, daß Mutter nicht da ist!“ Grischka machte den Ofen auf und sieht die Pfanne mit dem Braten stehen. „Och“, sagt Mischka, „da steht eine Pfanne mit Braten!“ – „Los, trag ihn auf den Tisch, wir werden ihn sowieso essen!“ Grischka zog die Pfanne heraus, stellte sie auf den Tisch, und sie putzten sie leer. Nahmen die Knochen, legten sie in die Pfanne und stellten sie in den Ofen. Dann rannten sie aus dem Haus und sehen, wie ihre Mutter mit dem Liebhaber aus dem Bad ins Haus geht. 440
„Komm, wir wollen hören, ob Mutter auf uns schimpft, daß wir die Henne gegessen haben.“ Ihre Mutter kam mit dem Liebhaber. Sie wollen die Henne essen: sie greift in den Ofen und sieht nur die Knochen. „Ach, Liebster, jemand hat die Henne aufgegessen, nur die Knochen liegen in der Pfanne. Sicher haben Mischka und Grischka sie gegessen. Laß sie nur nach Hause kommen, ich ziehe ihnen bei lebendigem Leibe das Fell herunter!“ Grischka und Mischka hören diese Reden. „Ach, wie Mutter auf uns schimpft; da laufen wir lieber von zu Hause fort!“ Sie gingen aus der Stadt hinaus, drehten sich jeder eine Zigarette und fingen an zu rauchen. Sie rauchten. Mischka spuckte aus, da war Gold aus seinem Munde gekommen. Sie wunderten sich. Er spuckte noch einmal – wieder ein Goldstück, und so weiter, immer spuckt er Gold aus. Soviel hatte er zusammengespuckt, daß er alle Taschen vollgestopft hatte, nicht mehr wußte, wohin damit, und zu spucken aufhörte. „Oh, Mischka, jetzt können wir ein schönes Leben führen! Volle Taschen“, sagt er, „und im Mund noch mehr.“ So gingen sie weiter und weiter. Gingen und gingen, immer den Weg entlang. Sie kommen in eine Stadt und wissen nicht, was für eine Stadt das ist. Sie fanden am Stadtrand eine Alte. „Großmütterchen, laß uns bitte übernachten!“ – „Herzlich gern, übernachtet! Nur zu essen kann ich euch nichts geben, es ist nichts vorbereitet.“ Da steht Mischka auf, holt eine Handvoll Goldstücke heraus und gibt sie der Alten. „Da nimm, Großmütterchen! Nimm diese 441
Handvoll Goldstücke und kaufe uns etwas zum Abendbrot!“ Die Alte lief in die Stadt, kaufte alles mögliche ein, brachte es auf einer Fuhre an, heizte sogleich den Ofen an und gab den Kindern zu trinken und zu essen. So leben sie etwa einen Monat bei diesem Großmütterchen. Es geht ihnen gut, und der Alten auch. Dann haben sie mit der Alten eine Unterhaltung: „Großmütterchen“, sagen sie, „was gibt es Schönes in Eurer Stadt?“ – „Kinder“, sagt sie, „bei uns wird heuer der Zar gewählt: wir haben keinen Zaren in unserem Staat.“ – „Und wie wird er denn gewählt, Großmütterchen?“ – „Am festgesetzten Tag kommt das ganze Volk zusammen, und alle bekommen eine Kerze, und bei wem die Kerze sich entzündet, der wird Zar.“ – „Großmütterchen, da bleiben wir noch solange hier, warten solange.“ – „Bleibt nur, Kinderchen, bleibt! Ich bin froh, wenn ihr bleibt!“ Sie blieben also noch einen ganzen Monat bei der Alten. Dann kam der festgesetzte Tag, und Mischka und Grischka begaben sich zum Versammlungsplatz. Es war so viel Volk versammelt, daß man es nicht einmal zählen konnte, und alle bekamen eine Kerze in die Hände. Bei Grischka fing die Kerze in den Händen zu brennen an. Alles Volk blickte sich um: bei diesem Lausejungen ist die Kerze angebrannt – er soll also Zar sein. Das ganze Volk begann zu lärmen: „Vielleicht ist er ein Zauberer? Die Sache muß auf ein anderes Mal verschoben werden!“ Sie verschoben die Sache auf ein anderes Mal. Das andere Mal versammelte sich wieder das ganze Volk, und wieder bekamen 442
alle eine Kerze. Wieder entzündete sich in Grischkas Händen die Kerze. Das Volk begann wieder zu lärmen: „Was soll das heißen, bei diesem Lausejungen ist die Kerze zum zweitenmal angebrannt!“ Wie sehr das Volk aber auch lärmte, das Gericht sagte: „Was das Gesetz bestimmt, das muß auch geschehen! Bei Grischka hat sich die Kerze entzündet, so muß er auch Zar werden!“ So setzten sie Grischka auf den Zarenthron. Ein Märchen ist bald erzählt, aber eine Tat nicht so bald getan. Er war nun schon zwanzig Jahre alt. Da bestieg er also den Zarenthron. Der Zar heiratet und lebt mit seiner Frau, und Mischka wohnt bei ihm. „Bruder Grischka, du schläfst mit deiner Frau, ich aber alleine! Ich will heiraten.“ – „Aber gewiß, Bruder, wenn du heiraten willst, – welche du willst, die kannst du dir auch nehmen.“ – „Nein, Bruder, hier will ich nicht heiraten! Hier finde ich keine Braut, die ich liebe. Ich will jetzt fort; wo ich eine Braut finde, die ich liebe, dort will ich heiraten.“ – „Nein, Bruder“, sagt er, „ich würde dir nicht raten, fortzugehen: du gehst fort und bist ohne mich verloren!“ – „Nein, Bruder, ich glaube nicht, daß ich verloren bin! Selbst wenn sie mir’s aus der Tasche stehlen, so habe ich in mir selber viel. Wie kann ich da verloren sein?“ – „Nun“, sagt er, „geh mit Gott! Geh, zieh umher, wenn du nicht auf mich hören willst!“ So machte sich Bruder Mischka auf den Weg. „Leb wohl, Bruder Grischka“, sagt er. Sie nahmen voneinander Abschied, und er machte sich auf den Weg. Ging er nun eine große oder eine kleine Strecke – je443
denfalls verirrte er sich. Er ging und ging, bekam Hunger, aber es ist nichts zu bekommen; Geld hat er zwar, aber nirgends kann er etwas kaufen. Da dachte er an seinen Bruder. „Freilich, der Bruder hat gesagt, daß ich ohne ihn verloren bin!“ Dann kam er an ein Flüßchen. Das Flüßchen eilt dahin, und am Ufer steht ein Büschel Gras. Er aß von diesem Gras – da wurde er ganz schlapp und welk und wurde krank. „Ach, lieber Gott! Was ist mit mir geschehen. Jetzt bin ich verloren! Nun, da läßt sich nichts machen. Ich will an diesem Flüßchen entlanggehen; sollte es mich wirklich zu keiner Behausung führen?“ Er ging an dem Flüßchen entlang, und wieder fand er ein Büschel Gras. „Ich will mich ein wenig setzen“, sagt er, „und etwas essen: man stirbt nur einmal!“ sagt er. Er setzte sich neben das Büschel und aß dieses Gras. Er hatte von dem Gras gegessen – da fiel die ganze Krankheit von ihm ab, er wurde ganz rein, wurde gesund und schön, schöner als vorher. „Gott sei Dank!“ sagt er. „Gott ist nicht ohne Erbarmen: hat mir die Gesundheit wieder gegeben.“ Er pflückte so viel wie möglich von diesem Gras und steckte’s in die Tasche. Kehrte zurück zu dem anderen und pflückte auch davon. Dann ging er den Fluß entlang und kam auf eine große Straße. Ging die große Straße entlang und kommt so in eine Stadt. In dieser Stadt fand er am Stadtrand eine Alte. „Großmütterchen, laß mich bei dir übernachten!“ sagt er. „Herzlich gerne. Übernachte nur, mein Kind! Nur zu essen kann ich dir nichts geben.“ Mischka steckte die Hand in die Tasche und gibt 444
der Alten eine Handvoll Gold. „Nimm“, sagt er, „und kauf mir etwas zum Abendbrot!“ Die Alte freute sich, nahm die Goldstücke und lief in die Stadt; kaufte alles mögliche zusammen und brachte’s mit einer Fuhre an. Gleich heizte sie den Ofen, buk und kochte und gab ihrem Logiergast zu essen. Dann fragt Mischka die Alte: „Was gibt es Schönes bei Euch?“ – „Was es Schönes gibt? Von unserem König die Tochter ist dreißig Jahre krank, und niemand kann sie gesundmachen; aus fremden Ländern haben sie Doktoren geholt – niemand kann sie gesundmachen.“ – „Melde mich mal an. Großmütterchen! Kann ich sie denn nicht gesundmachen?“ – „Ach, mein Kind“, sagt sie, „wie willst du sie denn gesundmachen? Verschiedene Doktoren haben sie behandelt und haben sie nicht gesundmachen können. Wenn du sie nämlich behandelst und nicht gesund machst, kostet es dich den Kopf! Alle die Zaunpfähle hier sind mit Köpfen behangen, ein einziger Pfahl ist noch übrig, wohl für deinen Kopf.“ – „Ach nein. Großmütterchen, melde mich trotzdem an: vielleicht mache ich sie gesund!“ Die Alte lief zum König. Sie kam zum Schloß, die Diener halten sie an: „Was willst du, Großmütterchen?“ – „Hier, so und so, bei mir übernachtet einer und will versuchen, eure Tochter gesundzumachen.“ Die Diener meldeten es gleich dem König. Der König befahl, der Logiergast der Alten solle sofort kommen. Der meldete sich sogleich beim König. Der König fragt: „Nun, mein Freund, willst du’s versuchen, meine Tochter zu behandeln?“ – „Jawohl“, sagt er, „ich 445
werde Eure Tochter gesundmachen.“ – „Nun, wenn du meine Tochter gesundmachst“, sagt er, „belohne ich dich mit all meinem Vermögen, wenn aber nicht – kostet es deinen Kopf! Hier der eine Zaunpfahl ist schon bereit. Wie willst du sie denn behandeln?“ – „Es müssen zwei Bäder geheizt werden“, sagt er, „und sie wird gesund sein.“ Der König befahl, das Bad zu heizen. Das Bad wurde geheizt, sie führten die Königstocher mit dem Doktor ins Bad. Mischka holte sogleich das Gras heraus, von dem er krank geworden war, legte es in das warme Wasser und wusch sie mit diesem Gras am ganzen Körper. Darauf wurde sie noch schlimmer krank. Man führte sie aus dem Bad. Der König sah sie an. „Noch schlimmer hat’s der Doktor gemacht, hat meine Tochter bis auf den Tod geheilt! Besser schlage ich ihm gleich den Kopf ab, statt das zweite Bad heizen zu lassen, er bringt meine Tochter sonst noch ganz um. Oder soll ich nochmal heizen lassen? Was wird noch daraus werden?“ Der König ließ das zweite Bad heizen. Und die Königstochter wurde mit dem Doktor ins zweite Bad geführt. Mischka nahm das Gras, von dem er gesund geworden war, weichte es im Wasser auf und hieß sie, von dem Wasser zu trinken. Und dann wusch er sie mit diesem Wasser. Mit einemmal war die ganze Krankheit von ihr abgefallen, sie wurde gesund und schön, er hätte sie die ganze Zeit nur ansehen mögen. Da nimmt die Königstochter Mischka bei den Händen, küßt ihn auf den Mund und sagt: „Sei du mein lieber Gemahl!“ Sie faßten sich an den wei446
ßen Händen und gehen aus dem Bad geradewegs ins Schloß. Der König sah aus dem Fenster, sieht den Doktor kommen, aber an seine Tochter wagt er gar nicht zu denken, traut seinen Augen nicht. „Sollte dieser Doktor wirklich meine Tochter gesundgemacht haben und jetzt mit ihr kommen?“ Da kommt seine Tochter heran. „Guten Tag, Vater und Mutter! Dieser Doktor hat mich gesundgemacht. Ich möchte seine Frau werden!“ sagt sie. Der König dachte nicht lange nach, ließ gleich Hochzeit feiern. Er traute sie. So leben sie nun. Dann begann sie ihn zu bedrängen. „Warum“, sagt sie, spuckst du Gold?“ – „Ich spucke von Natur Gold“, sagt er, „bei uns spuckt alles Gold!“ Nun, wie sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nichts erreichen. Da veranstaltete sie ein Fest, braute Bier, ließ alle möglichen Weine kommen, lud eine Menge Gäste ein und bat sie: „Könntet ihr meinen Mann nicht irgendwie dazu verleiten, ein Gläschen Wein zu trinken!“ (Er trank aber nicht.) Die Gäste also tranken auf dem Fest, aber ihn konnten sie auf keine Weise verleiten, auch nur einen Tropfen Wein zu trinken. So gingen alle Gäste auseinander und hatten nichts mit ihm anfangen können. Sie aber wollte der Sache trotzdem gar zu gern auf den Grund kommen. Sie heizte also ein Bad. Am Morgen ging er ins Bad, sie setzte den Samowar an, kochte Tee, goß ihm ein Glas Tee ein und goß in dieses Glas von den allerteuersten Weinen hinzu. Dann kommt Mischka aus dem Bad und setzt sich, um Tee zu trinken. Hatte sich zum Tee gesetzt, trank das Glas 447
aus, wurde betrunken und fiel um. Seine Frau sagt: „Diener, tragt ihn ins Schlafzimmer: er hat gewiß Rauch geschluckt.“ Die Diener legten ihn auf seine Lagerstatt, auf ein Federbett. Er lag dort einige Zeit, es wurde ihm übel, und er spie diesen Magen aus, durch den er Gold spuckte. Seine Frau sah’s sogleich, wusch den Magen ab, aß ihn und spuckte – ein Goldstück sprang heraus. „Ach, deswegen also hat er immer Gold gespuckt! Diener“, sagt sie, „nehmt ihn und tragt den Trunkenbold auf den Abtritt!“ Die Diener nahmen ihn und warfen ihn auf den Abtritt. Er kam dort wieder zu sich und sagt: „Du lieber Gott, wie bin ich hierher gekommen? Habe beim Tee gesessen und finde mich jetzt auf dem Abtritt. Gewiß ist irgend etwas Schlimmes passiert. Wohin soll ich denn jetzt gehen – nackt und ganz voll Schmutz? Ich muß mich ja schämen, unter die Leute zu gehen.“ Er wickelte sich kurzerhand in eine Bastmatte und ging aus der Stadt. Er kam an einen Graben, wusch sich und ging weiter. Lief und lief, immer durch Wald und immer durch Wald. Lief so lange, bis er zu müde zum Weitergehen war. Da steht ein Apfelbaum und hat so schöne Äpfel – er hätte sie die ganze Zeit ansehen können. Gleich pflückte er von diesen Äpfeln und aß sich satt. Auf einmal war er ganz mit Hörnern bedeckt. „Lieber Gott, was ist mit mir passiert? Jetzt bin ich verloren! Freilich, der Bruder hat’s gesagt. Jetzt habe ich kein Geld und bin ganz mit Hörnern bedeckt! Wohin soll ich jetzt gehen?“ So schleppte er sich weg von dem Apfel448
baum, aber die Hörner hindern ihn: sie bleiben überall an den Bäumen hängen. Er kam zu einem anderen Apfelbaum, pflückte einen Apfel, aß ihn – ein Horn fiel ab. Da aß er sich an diesen Äpfeln satt – und alle Hörner fielen ab. Sogleich pflückte er eine Menge von diesen Äpfeln. Dann zu jenem Apfelbaum und von jenen gepflückt. Und er kehrte wieder in die Stadt zurück. Kam in die Stadt und suchte wieder seine Alte am Stadtrand auf. „Großmütterchen, laß mich übernachten!“ sagt er. „Herzlich gern, mein Kind! Übernachte!“, sagt sie. Er blieb also und übernachtete dort. Die Alte gab ihm Abendbrot und legte ihn schlafen. „Großmütterchen, hast du nicht vielleicht einen neuen Korb? Bring diese Äpfel hier zur Königstochter und verkaufe sie!“ Das Großmütterchen brachte einen Korb. Er stopfte ihn ganz voll Äpfel. Sie brachte sie zur Königstocher. Die Dienerinnen kommen heraus: „Großmütterchen, was bringst du da?“ – „Hier die Äpfel zum Verkauf!“ Die Königstochter freute sich und kaufte die Äpfel. Kaufte sie, und gleich in ihr Zimmer und gegessen! Hat sie einen Apfel gegessen, wächst ein Horn, wächst ein Horn. So war sie ganz mit Hörnern bedeckt. Die Dienerinnen liefen nach einem Doktor. Die Doktoren kamen mit Sägen und begannen die Hörner abzusägen. Haben sie ein Horn abgesägt, so wächst ein noch größeres nach mit einer Gabel. Sie plagten und plagten sich und können nichts machen. Sie meldeten’s dem König. Der König wurde traurig, weiß nicht, wie er diese Hörner abnehmen soll. Sogleich 449
schickt er eine Bekanntmachung in alle Teile des Landes, in alle Gouvernements, wer kann, soll zum König kommen. Da kamen Doktoren aus allen Gegenden und begannen die Hörner abzusägen. Ein Horn haben sie abgesägt, da wächst gegenüber ein noch größeres, mit einer Gabel. Sie plagten und plagten sich, konnten mit den Hörnern nichts machen und fuhren wieder fort. Da schickt der Logiergast seine Alte: „Geh zum König und sage, ich habe einen Logiergast, der will die Hörner abnehmen.“ Der König befahl dem Logiergast, sofort zu ihm ins Schloß kommen. Der Logiergast kam ins Schloß. Der König fragt: „Wie ist’s, Logiergast, kannst du die Hörner meiner Tochter abnehmen?“ – „Ja“, sagt er. „Wie willst du sie denn abnehmen?“ – „Es muß ein Bad geheizt und die Hörner müssen aufgeweicht werden, dann werde ich sie abnehmen. Und sie muß ins Bad gebracht und eingeschlossen werden, und das Bad darf nicht eher aufgeschlossen werden, als ich es sage, und wenn Ihr es früher aufschließt, dann macht Ihr alles zunichte, und ich kann die Hörner nicht abnehmen.“ So machten sie es mit dem König aus. Der König befahl, das Bad zu heizen. Das Bad wurde geheizt. Aber wie bringt man sie hin? Sie kommt ja nicht aus dem Zimmer heraus. Sogleich wurde allen Sägern befohlen, sie sollten die Hörner zu gleicher Zeit absägen und die Königstocher durch die Tür zerren. Gleich versammelten sich alle Säger; sie hatten sie noch nicht durchgezerrt – da war sie wieder ganz mit Hörnern bedeckt. So sägten sie an jeder Tür die Hör450
ner ab und zerrten sie durch. So brachten sie sie auch ins Bad. Sogleich wurde die Tür verschlossen und rings ums Bad eine Wache aufgestellt. Er warf sie auf die Schwitzbank und machte Dampf, die Hörner aufzuweichen. Er machte so viel Dampf, daß er selber im Bad keine Luft mehr kriegte. Dann hatte er drei Eisenstangen vorbereitet, mit denen behandelt er sie. Behandelte, behandelte und behandelte sie, daß sie die Besinnung verlor. Sie schrie, schrie und hörte auf zu schreien. Die Wache, die am Bad stand, meldete dem König: „Deine Tochter hat im Bad geschrien, geschrien und aufgehört.“ Der König wollte aus Ungeduld das Bad aufschließen, dann besann er sich, daß ausgemacht war, das Bad dürfe nicht aufgeschlossen werden, ehe es der Doktor erlaubt. Dann spuckte die Königstochter den Hühnermagen aus. Er nahm den Magen, wusch ihn in warmem Wasser und verschluckte den Magen. Spuckte, und ein Goldstück sprang heraus. Dann gab er ihr von den Äpfeln, von denen er selber gesund geworden war. Sie begann diese Äpfel zu essen, und die Hörner begannen von ihr abzufallen. Sie aß sich an den Äpfeln satt – alle Hörner waren abgefallen, sie war gesund. Sie sah diesen Doktor an und sieht, daß es ihr Mann ist. Sogleich fiel sie auf die Knie: „Oh, Liebster, vergib mir meine Schuld! Ich habe böse an dir gehandelt, meinen Spott getrieben!“ – „Nun“, sagt er, „Gott wird dir vergeben! Vergib du mir!“ Sie vergaben einander und begannen wie früher zu leben. Dann riefen sie auf einmal: „Schließt das Bad auf!“ Es wurde 451
aufgeschlossen. Sie gehen Hand in Hand geradewegs ins Schloß. Der König freute sich darüber, daß die Tochter gesund geworden war und mit ihrem Mann kommt. Da gab er ein Fest für alle Christenwelt. Sie tranken, feierten und waren tagelang lustig. Dann wollte Mischka seinen Bruder Grischka besuchen. Und seine Frau bettelte: „Ich trenne mich nicht von dir, nimm mich mit!“ – „Nun, fahren wir, warum nicht!“ Sie machten sich bereit und fuhren los. Kamen in den Staat, wo der Bruder lebt. Der Bruder freute sich sehr. Sie blieben zwei, drei Tage zu Gast, dann erinnerten sie sich ihres Vaters. „Wir müssen unseren Vater besuchen fahren, wie es ihm geht!“ Also brachen die beiden Brüder auf und fuhren los – beide hochangesehene Leute, der eine König, der andere Zar. Sie kommen zu jener Stadt, da hütet ein Hirt eine Herde Schweine. Sie sehen diesen Hirten und rufen: „Komm mal her, Alter, zu uns!“ Der Alte erschrak, begann zu zittern, weiß nicht, was er tun soll. Sie sehen, daß der Alte erschrocken ist, und rufen ihm zu: „Komm nur, komm, Alter, hab keine Angst!“ Der Alte kam heran. Sie fragen: „Höre Alter, in dieser Stadt war ein Iwan-Dummkopf, lebt der noch oder nicht?“ – „Er lebt, er lebt, meine Lieben. Ich selbst bin’s!“ – „Bist wirklich du selber Iwan der Dummkopf?“ – „Ja, meine Lieben!“ – „Wie bist du denn unter die Hirten geraten? Er war doch reich.“ – „Das ganze Hab und Gut ist noch da, aber meine Frau lebt mit ihrem Liebsten zusammen, und mich haben sie gezwungen, die Schweine zu hüten.“ – „Nun, Alter, steig zu uns in 452
den Wagen, wenn es so ist, wenn du wirklich Iwan der Dummkopf bist!“ Der Alte erschrak, wagt nicht einzusteigen, weiß nicht, was er tun soll. „Steig ein, steig ein!“ sagen sie, „wovor hast du Angst?“ – „Die Schweine werden mir davonlaufen“, sagt er. „Nun, der Teufel soll die Schweine holen, genug der Schweine! Steig ein!“ Der Alte setzte sich zu ihnen in den Wagen. Sie kamen zu ihrem Haus. Gingen ins Haus hinein. Ihre Mutter sitzt mit ihrem Liebsten am Tisch, sie schmusen miteinander. Sie packten ihre Mutter, traten ihr auf den einen Fuß, ergriffen den anderen und rissen sie mitten auseinander; und den Liebhaber banden sie an die Tür und erschossen ihn. Das Hab und Gut ließen sie ihren Brüdern, den Alten aber nahmen sie mit und fuhren dann jeder in sein Königreich. Sie lebten herrlich und in Freuden und wurden reiche Leute. Und leben noch heute. Aus ist die Mär, zu erzählen ist nichts mehr.
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41 Von Nikita dem Herumtreiber Es lebten ein alter Mann und eine alte Frau. Der Mann und die Frau hatten drei Söhne, zwei vernünftige und als dritten den Dummkopf Nikita. Der Alte hatte eine neue Hütte gebaut und sagt zum ältesten Sohn: „Geh und bring eine Nacht dort zu: wenn du etwas Schönes im Traum siehst, ziehen wir in die neue Hütte, wenn aber etwas Schlechtes, dann nicht, dann verkaufen wir sie.“ Der älteste Sohn verbrachte eine Nacht darin und sagt: „Ach, Väterchen“, sagt er, „wie reich werden wir sein!“ Darauf schickt der Alte den mittleren Sohn. Der mittlere Sohn sagte dasselbe. Darauf schickt er den Dummkopf Nikita: „Nun, geh, Nikita! Was wirst du sehen?“ Nikita sah im Traum, er säße auf einem Zarenthron. Am anderen Tag fragt der Vater: „Nun, Nikita, was hast du gesehen?“ Nikita dachte bei sich: „Was für einen Zaren gibt ein Dummkopf ab?“ Und sagt: „Das ist nicht wahr! Und was ich gesehen habe, sage ich nicht!“ Der Vater verprügelte den Sohn und führte ihn vors Tor. Auf der Straße kam ein Kaufmann gefahren. „Weswegen prügelst du deinen Sohn, Bauer?“ – „Er hat im Traum etwas gesehen und sagt es nicht!“ – „Prügle ihn nicht! Verkauf ihn mir!… Wieviel willst du haben?“ – „Gib wenigstens einen Ei454
sengroschen, dafür gebe ich ihn her!“ Der Kaufmann gab den Eisengroschen, setzte den Dummkopf Nikita auf den Wagen und fuhr weiter. Nach einer Weile fragte auch der Kaufmann: „Was hast du im Traum gesehen?“ Nikita sagt es nicht. Der Kaufmann begann ihn zu prügeln. Da kam auf dieser Straße der Zar gefahren. „Weswegen prügelst du deinen Sohn oder Knecht, Kaufmann?“ – „Er hat im Traum etwas gesehen und sagt es nicht.“ – „Prügle ihn nicht, verkauf ihn mir! Wieviel willst du haben?“ – „Hundert Rubel.“ Der Zar gab das Geld, nahm Nikita mit und brachte ihn zu sich nach Hause. Weil er viele Male gekauft worden war, gaben sie ihm den Namen „Nikita der Herumtreiber – der neugekaufte Diener“. Der Zar schickte ihn in den Pferdestall, den Pferdeknechten zu helfen. So lebte Nikita etwa ein halbes Jahr. Da fragte der Zar ihn: „Sag, Nikita, was hast du im Traum gesehen?“ – „Was geht das dich an? Was ich gesehen habe, sage ich nicht!“ (Ein Dummkopf ist eben ein Dummkopf, was will man mit ihm anfangen.) Der Zar prügelte ihn nicht, aber warf ihn in eine steinerne Schandsäule auf dem Hof. Dieser Zar aber hatte einen Sohn, Iwanuschka. Er wollte ihn verheiraten. Er freite um eine Braut in einem anderen Königreich. Iwanuschka wohnte dort, bei der Braut. Jener König aber hatte nur eine einzige Tochter, Söhne hatte er nicht. Und auch dieser Zar, Iwanuschkas Vater, hatte nur einen einzigen Sohn, keine Töchter, niemanden sonst. Der König will ihn überreden, zu seiner 455
Tochter zu ziehen, der Zar aber will, daß sie mit seinem Sohn zu ihm kommt. Da sagt die Königstochter zu ihnen: „Ich schicke Euch drei Rätsel: ratet Ihr sie, ziehe ich mit zu Euch, ratet Ihr sie nicht, soll er bei mir wohnen bleiben!“ Der Zar war’s einverstanden. Die Königstochter schickte einen Baumstamm; der war sorgfältig zugerichtet – was unten und was oben war, konnte man nicht unterscheiden. Es soll geraten werden, was unten und was oben ist. Der Zar machte in der ganzen Stadt bekannt, man solle kommen, das Rätsel zu raten. Wieviel Leute auch kamen, niemand konnte es erraten. Zuletzt kommt ein Alter über den Hof gegangen, wo Nikita der Herumtreiber in der Säule festgebunden ist Nikita sieht ihn und fragt: „Wo bist du gewesen, Großvater?“ – „Beim Zaren, Rätsel raten.“ – „Das sind mir Helden: der Zar sitzt auf dem Zarenthron und kann ein Rätsel nicht erraten! Ich hätte es längst erraten!“ sagt Nikita. Der Alte meldete dem Zaren, daß „bei dir einer in der Säule sitzt und sagt: Ich hätte es längst erraten.“ Der Zar ahnte, daß das Nikita ist, und schickt einen Diener nach ihm. Der Diener kam und sagt: „Nikita, komm mit zum Zaren, ein Rätsel raten!“ – „Wer nach jemandem schickt, der kann auch selber kommen“, sagt der. Der Zar stieg in seine Kutsche, kommt an, setzt Nikita neben sich und fährt mit ihm los. Als sie ankamen, nahm Nikita der Herumtreiber – der neugekaufte Diener, ein Beil, schlug ein Eisloch in den Fluß und warf den Stamm ins Wasser; der 456
drehte sich mit dem Unterteil nach oben und mit dem Oberteil nach unten. Da machten sie Zeichen, was unten und was oben ist. Und schickten ihn der Königstochter. Die Königstochter bekam ihn und sagt: „Das hat er nicht von selber erraten, sondern ein anderer.“ Nikita kehrte wieder an seinen Platz zurück. Nach einer Weile schickt die Königstocher das zweite Rätsel. Hundertfünfzig Hengste schickte sie – von zwei und anderthalb Jahren, alle mit gleichem Fell und gleich groß. Wie viele Leute auch kamen, um zu raten, niemand konnte es erraten. Schließlich kommt der Alte über den Hof gegangen. Nikita sah ihn und fragt: „Wo bist du gewesen, Großvater?“ – „Beim Zaren, Rätsel raten.“ – „Das sind mir Helden: der Zar sitzt auf dem Zarenthron und kann ein Rätsel nicht erraten! Ich hätte es längst erraten!“ Der Alte ging und meldete das dem Zaren. Der Zar schickte einen Diener nach ihm. Der Diener kam und sagt: „Nikita, komm mit, ein Rätsel raten.“ – „Wer nach jemandem schickt, der kann auch selber kommen.“ Der Zar setzte sich in seine Kutsche und kommt hin: „Nun, Nikita, komm mit, ein Rätsel raten!“ Sie setzten sich in die Kutsche und fuhren los. Sie kommen an den Fluß, er schlug ein großes Eisloch und ließ alle heran, um zu trinken, die Hengste. Das Ufer war steil. Die zweijährigen können das Wasser nicht erreichen und gehen auf die Knie, die einjährigen aber kommen so heran. Da brannten sie ihnen Zeichen ein. Schickten sie der Königstocher. 457
Seitdem lief Nikita der Herumtreiber – der neugekaufte Diener, frei herum: der Zar hatte ihn freigelassen. Einmal kommt er zum Zaren und sagt: „Eure Kaiserliche Majestät, schickt mich in das Königreich, wo Euer Sohn Iwan ist. Ich habe im Traum gesehen, als ob er arge Sehnsucht nach mir hat.“ Der Zar sagt: „Warum nicht, geh!“ – „Nur folgendes, Majestät, gib mir dreißig Soldaten und suche sie so aus, daß sie alle so groß sind wie ich, und die Haare wie bei mir, und daß sie mir von Gesicht alle ähnlich sind!“ Man holte von allen Regimentern Soldaten zusammen und wählte dreißig Mann aus, die Nikita dem Herumtreiber ähnlich sahen. Als sie dann aufgestellt waren, konnte nicht einmal der Zar selber erkennen, welcher Nikita der Herumtreiber war. (Kleidung hatten sie die gleiche an – alle Soldatenkleidung.) Und Nikita begab sich mit seinen Soldaten zu dem König, wo Iwanuschkas Braut war. Sie gingen eine Weile. Da stehen drei Brüder und teilen eine Tarnkappe. „Was macht ihr hier?“ sagte Nikita. „Wir teilen die Kappe hier.“ – „Gebt her, ich werde sie euch teilen.“ Nikita legte einen Pfeil auf seinen Bogen (früher gab es noch Bogen) und schoß ihn ab: „Wer zuerst hinkommt, dem gehört die Kappe.“ Alle drei Brüder rannten davon. Nikita der Herumtreiber nahm die Kappe, setzte sie auf den Kopf, und von allen dreißig war nichts mehr zu sehen. Sie gingen weiter und weiter, da teilen drei Brüder ein perlenbesticktes Tischtuch und einen Krug mit vierzig Schneppen: aus jeder Schneppe 458
fließen verschiedene Getränke und Süßigkeiten. Nikita der Herumtreiber sagt: „Was macht ihr da?“ – „Wir teilen den Krug hier.“ – „Gebt her, ich werde ihn teilen!“ – „Wie willst du ihn teilen?“ – „Ich werde einen Pfeil von meinem Bogen schießen: wer zuerst hinkommt, dem gehört der Krug.“ Die Brüder rannten los, Nikita nahm den Krug, setzte die Tarnkappe auf – und es war nichts mehr von ihnen zu sehen. Sie gingen ein wenig weiter und sahen: drei Brüder teilen einen fliegenden Teppich. „Was macht ihr da?“ – „Wir teilen den fliegenden Teppich hier.“ – „Gebt her, ich teile ihn!“ – „Wie willst du ihn teilen?“ – „Ich werde einen Pfeil von meinem Bogen schießen: wer zuerst hinkommt, dem gehört der fliegende Teppich.“ Die Brüder rannten los, Nikita aber setzte die Tarnkappe auf, trat auf den Teppich, stampfte mit dem Fuß, der Teppich löste sich und flog davon, und alle Soldaten mit. Als sie in das Königreich geflogen kamen, wo sich die Braut Iwanuschkas und Iwanuschka selbst befanden, war nicht weit von der Stadt ein riesiger Eichenhain. Der Teppich ließ sich auf zwölf riesigen Eichen nieder (er war schon ganz schön groß, wie man sieht). Nikita der Herumtreiber – der neugekaufte Diener, ließ seine Gefährten auf dem Teppich zurück und ging in die Stadt, Iwanuschka zu suchen. Geht durch die Stadt, da begegnet ihm Iwanuschka. „Guten Tag, Iwanuschka!“ – „Guten Tag, Nikita-Herumtreiber.“ – „Ich bin gekommen, dir zu helfen.“ Iwan dachte
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nur: „Welche Hilfe kann von dir Dummkopf kommen?“ Aber er sagte nichts. „Nun, wird eure Hochzeit bald sein?“ fragt Nikita. „Wer kann’s wissen? Heute gehen sie Stoff für das Kleid kaufen: wenn ich besseren kaufe, kommt sie mit mir, wenn der König besseren kauft, muß ich bei ihr bleiben.“ – „Wo werden sie denn den Stoff fürs Kleid kaufen?“ – „Hier in diesem Geschäft“, zeigte Iwanuschka. Und Nikita der Herumtreiber verabschiedete sich von Iwanuschka und ging fort. Als der König mit seiner Tochter und Iwanuschka in das Geschäft kamen, wartete Nikita schon auf sie in seiner Tarnkappe. Die schönsten Stoffe, wie viele es nur in dem Geschäft gab, kaufte der Zar seiner Tochter für ihr Kleid. Solche gab es in der ganzen Stadt nicht mehr. Der König verließ das Geschäft und begab sich mit seiner Tochter ins Schloß, Nikita der Herumtreiber aber, und Iwanuschka mit ihm, – zum Teppich. Als die Nacht gekommen war, setzte Nikita die Tarnkappe auf und begab sich zum König. Beim König nähten ein Schneider und eine Schneiderin das Kleid für die Tochter, und Nikita sitzt mit ihnen am Tisch – sie sehen ihn nicht. Als sie das ganze Kleid fertig hatten, legten sie es auf ein Präsentierbrett, und Schneider und Schneiderin gingen schlafen; Nikita aber nahm das Kleid und begab sich auf seinen Teppich. Er kommt an: „Da nimm, Iwanuschka, dieses Kleid hier!“ (Iwanuschka war noch bei ihm zu Gast, er hat ja genug anzubieten). 460
Der Schneider und die Schneiderin wurden früh am Morgen munter, sehen hin – das Kleid ist nicht da. „Was sollen wir jetzt machen, Schneider?“ – „Ich weiß nicht, Schneiderin, was wir machen sollen!“ – .Wir wollen schnell eines aus Flicken nähen!“ Sie schnitten’s recht und schlecht zu, flickten’s mit groben Stichen zusammen und legten’s an die gleiche Stelle. Am anderen Tag wurde der König munter, da war Iwanuschka schon bei ihm. Der König bringt der Tochter das Kleid auf dem Präsentierbrett, Iwanuschka trägt sein Kleid auf seinem Präsentierbrett. Die Königstochter ging zu ihrem Vater, nahm das Kleid und versuchte es anzuziehen, konnte es aber nicht anbekommen (aus Flicken zusammengenäht, wie sollte es anders sein). Sie warf dieses Kleid beiseite, ging zu ihrem Bräutigam, nahm’s, zog’s an, wie nach Maß genäht: akkurat und richtig. Da fragt Iwanuschka: „Nun, wann wird unsere Hochzeit sein?“ – „Zur Hochzeit muß doch ein Trauring gekauft werden? Wenn du einen besseren kaufst, komme ich mit dir; wenn mein Vater einen besseren kauft, ziehst du zu mir!“ Iwanuschka begab sich auf den Teppich zu Nikita dem Herumtreiber und sagte ihm, daß „wer den besseren Ring kauft: wenn ich, dann muß sie mit mir kommen, wenn ihr Vater, muß ich zu ihr ziehen.“ Nikita der Herumtreiber setzte die Tarnkappe auf und ging los. Der König kam in den Laden des Goldschmieds; welcher der schönste Goldring war, den kauften sie, und es gab weiter keinen solchen 461
Ring. Der König ging nach Hause, und Nikita der Herumtreiber hinter ihm her. Als es Abend geworden war, legte sich der König schlafen, zog den Ring ab und legte ihn aufs Fensterbrett, Nikita der Herumtreiber aber nahm den Ring und legte einen aus Stroh dorthin – hatte ihn aus Stroh geflochten und legte ihn hin. Jenen aber brachte und gab er Iwanuschka. „Nun, Iwanuschka, soll der König morgen seiner Tochter ein Geschenk bringen, und bring du deiner Braut ein Geschenk!“ Am anderen Tag kommt Iwanuschka mit seinem Geschenk: auf einem goldenen Teller trägt er einen goldenen Ring, der König aber trägt einen aus Stroh. Die Königstochter trat zu ihrem Vater, nahm den Ring, er paßt nicht an ihren Finger, sie trat zu ihrem Bräutigam, nahm den Ring, setzte ihn auf – genau, als sei er für sie ausgewählt worden. Da fragt Iwanuschka: „Nun, wird unsere Hochzeit bald sein?“ – „Ja, ich bin schlau und klug, aber du hast jemanden, der schlauer ist als ich. Du machst das doch nicht selber, Iwanuschka, sondern ein anderer. Nun, laß nur, komm morgen mit deinen Gefährten zu uns zu Gast, wieviele es auch sind. Danach kommen wir zu dir zu Gast. Wenn wir euch besser bewirten, ziehst du zu mir, und wenn du besser, dann komme ich zu dir.“ Iwanuschka kam und eröffnete dies Nikita dem Herumtreiber. Nikita sagt: „Nur Mut, Iwanuschka, wir werden sie schon besser bewirten. Und jetzt leg dich schlafen!“ 462
Sie legten sich auf den Teppich schlafen. Die Königstochter aber dachte bei sich: „Ich will doch mal hingehen: was ist das für einer“, sagt sie, „der bei ihm solche Stückchen vollbringt.“ Sie kommt auf den Teppich und sieht sich alle an. Alle schlafen. Auch Nikita der Herumtreiber schläft, die Tarnkappe hat er unter dem Hemd. Da erriet’s die Zarentochter und sagt zu sich selbst: „Das ist er wohl, mein Widersacher!“ Sie nahm ihren Ring ab und schlug ihn gegen seine Stirn. Da bildete sich bei ihm auf der Stirne ein Stern: der funkelt nur so. Und sie ging nach Hause. Nikita der Herumtreiber wachte auf, sperrte seine Augen auf, es leuchtete wer weiß wie von ihm. „Ach, die Fliegen sollen dich fressen, jetzt sitze ich in der Patsche!“ Er sprang vom Teppich auf und lief zum König ins Schloß. Er wußte, in welchen Gemächern sich die Königstochter befindet; er drang dort ein, stahl den Ring, ging wieder zu sich auf den Teppich und versah alle Soldaten auf der Stirn mit diesem Zeichen. Den Ring aber brachte er wieder fort und legte ihn auf die alte Stelle. Am Morgen kommen Boten vom König und bitten Iwanuschka mit seiner Begleitung zu Gast zum König. Unterwegs sagt Nikita der Herumtreiber zu seinen Gefährten: „Wenn wir hinkommen, wird die Königstochter wahrscheinlich sagen, daß, welcher der älteste Bruder ist, der soll sich an den Ehrenplatz setzen. Ihr wißt, daß ich euer ältester Bruder bin, aber tut das nicht! Sondern jeder soll 463
sagen: ‚Ich bin der älteste Bruder, ich bin der älteste!’ und sich an den Ehrenplatz drängen. Dann findet sie sich unter uns nicht zurecht.“ Als sie zum König kamen, sagt die Königstochter: „Wer der älteste Bruder ist, der soll sich an den Ehrenplatz setzen!“ Der eine sagt: „Ich bin der älteste Bruder!“ Der andere: „Ich bin der älteste Bruder!“ Und sie begannen einander vom Tisch wegzuzerren – warfen den Tisch um und stießen alles, was darauf war, herunter. Da sagte die Königstochter: „Setzt euch, wie jeder will!“ Als sie sich gesetzt hatten, begann sie, jedem einen Becher Wein zu reichen. Als sie dem ersten reichte, warf sie ihm die Haare aus der Stirn und sagt: „Vater, das ist mein Widersacher!“ Sie reichte dem zweiten – dasselbe; dem dritten – genau dasselbe. Da sagt sie: „Ich bin schlau und klug, aber du, Iwanuschka, hast jemanden, der noch schlauer ist als ich!“ Sie waren dort eine Weile zu Gast und gingen dann zu Iwanuschka auf den Teppich zu Gast. Als sie hinkamen, breitete Iwanuschka das perlenbestickte Tischtuch aus und stellte den Krug mit den vierzig Schneppen darauf – aus jeder Schneppe kamen alle möglichen Getränke geflossen. Die Bewirtung war besser als beim König. Nun, da fragt Iwanuschka: „Ist es jetzt soweit, daß wir heiraten?“ – „Es ist jetzt soweit!“ sagt sie. „Mehr weiß ich nicht, nur paßt auf, wohin ihr noch fahren müßt: es ist hier ein Meer, und in diesem Meer wohnt ein Meereszar, hat einen Menschenblick und goldene Locken auf dem Kopf – von dem 464
müßt ihr Locken für mich unter den Brautkranz erbitten!“ Der König machte sich bereit und ging zum Ufer, und die Königstochter vertraute nicht einmal ihrem eigenen Vater und ging ihn begleiten. Der König setzte sich in ein Boot, und die Zarentochter steht am Ufer und sieht zu. Nikita der Herumtreiber aber setzt sich in seiner Tarnkappe vor den König ins Boot. Der König rudert, und Nikita der Herumtreiber zweimal so viel. Der König sagt: „Sieh, wie mir eine göttliche Kraft hilft! Wie sehr ich auch rudere, das Boot schnellt zweimal schneller voran!“ Er kam in die Mitte des Meeres und rief: „Meereszar mit dem Menschenblick, gib mir Locken für die Tochter unter den Brautkranz!“ Der Meereszar steckte seinen Kopf heraus, der ganze Kopf war voll Gold und voller Locken. Und er sagt: „Zupfe immer ein Haar heraus, und zwar an den Schläfen, die kürzesten. Mein ganzer Kopf ist schon abgezupft und tut weh.“ Der König nimmt ein Haar von der Schläfe, Nikita der Herumtreiber aber eine ganze Handvoll und vom Hinterkopf – schwupp! Der Zar brüllte auf und verschwand im Wasser. Der König begann zu bitten: „Laß mich wenigstens noch zwei Haare herausziehen!“ Der Zar steckte wieder seinen Kopf heraus. Der König nimmt ein Haar, Nikita der Herumtreiber aber wieder – schwupp, eine Handvoll. Und beim drittenmal genauso. Der Zar brüllte auf, fuhr zurück ins Meer und sagte: „Von heute an gebe ich in Ewigkeit niemandem mehr auch nur ein einziges 465
Haar!“ Der König kommt nach Hause und sagt zu seiner Tochter: „Nun, Tochter, bestimmt kann Iwanuschka nirgends Haare beschaffen: drei Haare habe ich erbettelt, und auch die nur mit Mühe und Not, und der Zar hat geschworen, von heute an in alle Ewigkeit keine mehr zu geben.“ Am anderen Tag bringt der König als Geschenk für seine Tochter auf einem goldenen Teller drei goldene Haare, Iwanuschka aber einen ganzen Teller voll (Nikita hatte sie für ihn gezupft). „Nun, Iwanuschka, ich bin schlau und klug, aber du hast jemanden, der ist schlauer als ich! Jetzt ist es Zeit für uns zu heiraten, mehr weiß ich nicht!“ Sie feierten Hochzeit, rüsteten ein Schiff, und Iwanuschka machte sich auf den Weg in sein Zarenreich zu seinem Vater. Nikita der Herumtreiber aber fliegt mit seinen Gefährten auf dem fliegenden Teppich über ihnen und ruft von dort: „Ach, Iwan der Zarewitsch fährt mit seiner Vermählten, wie schön!“ Iwanuschka hörte’s und sagt zu seiner Frau: „Hörst du, weil wir beide fahren, freuen sich die Engel über uns!“ (Er denkt: von oben – das müssen Engel sein.) Sie antwortet ihm: „Ein Teufel, aber keine Engel“, sagt sie, „das ist mein Widersacher, der sich freut!“ Und sie denkt bei sich: „Wenn Iwanuschka nicht wäre, würde ich ihn heiraten: er ist sogar schöner als Iwanuschka und klüger und schlauer.“ (Sie hat sich in diesen Nikita den Herumtreiber geradezu verliebt.) Dann sagt sie zu ihrem Mann: „Höre, Iwanuschka, wenn wir nach Hause kommen, dann sage deinem Vater: „Wozu hast du den Dumm466
kopf zu mir geschickt? Seinetwegen wäre ich beinahe ums Leben gekommen.“ Und sie denkt bei sich: „Soll er nur Nikita den Herumtreiber hinrichten! Wenn ich ihn nicht mehr sehe, wird mir leichter ums Herz sein.“ Als sie zu Hause ankamen, kam der König mit seinem Gefolge heraus, den Sohn und die junge Schwiegertochter zu begrüßen. Aber Nikita der Herumtreiber war schon längst beim König. Als sie vom Schiff kamen, sagt Iwanuschka: „Vater, wozu hast du den Dummkopf Nikita zu mir geschickt? Seinetwegen wäre ich beinah ums Leben gekommen!“ Der Zar wurde böse auf Nikita, zog seinen Säbel und wollte ihm den Kopf abschlagen. Da setzte Nikita der Herumtreiber seine Tarnkappe auf und begann mit dem Zaren zu sprechen. „Eure Majestät, wenn ich nicht gewesen wäre, dann wäre dein Sohn nicht nach Hause gekommen!“ Und er erzählte ihm: „Das und das habe ich dort gemacht, und das und das habe ich gemacht!“ Alles erzählte er ihm. Und die junge Schwiegertochter bekräftigte seine Worte. Da schlug der Zar im Zorn seinem Sohn den Kopf ab. Und auf Wunsch der Braut traute er sie mit Nikita dem Herumtreiber – dem neugekauften Diener. Als er selber zu alt wurde, gab er sein Reich Nikita dem Herumtreiber. Da erst sagte Nikita der Herumtreiber zum Zaren: „Folgendes habe ich im Traum gesehen: ich säße auf dem Zarenthron.“ Sein Traum war in Erfüllung gegangen. Ich war auch auf der Hochzeit hier, trank Honig und Bier. Allen Gästen wurde mit dem Schöpflöffel 467
eingeschenkt, mich haben sie mit dem Stiel getränkt; bei der Nase faßten sie mich, unter die Brücke warfen sie mich; ich rollte fort und immer fort, war plötzlich hier an diesem Ort.
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42 Die Zarin ohne Arme In einem Zarenreich, in einem Staat lebte einmal ein Zar mit seiner jungen Zarin. Der Zar hatte seine junge Zarin sehr lieb, er war wie von Sinnen vor Liebe zu ihr. Die Schwester des Zaren dagegen haßte sie, und häufig verleumdete sie die junge Frau bei ihrem Bruder. Doch der glaubte ihr nicht. Und nun fährt er in seinen Zarenangelegenheiten eines schönen Tages in ein anderes Zarenreich und nimmt seinen Schwager mit. Als sie fort waren, gebar die Zarin kurze Zeit später einen Knaben. Die Schwägerin aber schrieb kurzerhand an ihren Bruder, den Zaren, und an den Bruder der Zarin, daß „Eure Frau und Schwester einen sehr schönen Knaben geboren hat, ihn aber danach genommen und aufgegessen hat.“ Der Zar schrieb einen Brief und sagte: „Rührt meine Frau bis zu meiner Ankunft nicht an! Wenn ich wieder da bin, werde ich selbst mit ihr abrechnen.“ Die Schwester aber erbrach den Brief und steckte in den Umschlag ein anderes, von ihr vorbereitetes Papier, daß „der Zar befohlen hat, dir für ein so gemeines Verbrechen, daß du dich mit anderen herumtreibst, die Arme bis zu den Ellenbogen abzuschneiden und dich mit deinem neugeborenen Balg aus dem Zarenschloß zu verjagen.“ Da setzten die Wächter des Zaren sie in eine dunkle Kut469
sche, fuhren sie weit weg in einen tiefen Wald, setzten sie dort ab und fuhren wieder in ihre Residenzstadt. Das Kind aber hatten sie ihr an die Brust gebunden, und so lief sie mit ihm durch den dunklen Wald. Sie hatte weniger Hunger, als daß der Durst sie quälte – es verlangte sie sehr zu trinken. Und auf einmal kommt sie an einen schnellen Fluß, und sie hätte so gern getrunken, aber das war auf keine Weise möglich; wenn sie sich vorgebeugt hätte, hätte sie das Kind ertränkt, weil sie keine Hände hatte und das Kind nicht festhalten konnte. Und sie betete zu Gott, und auf einmal vernahm sie eine Stimme: „Trink, es wird nichts geschehen.“ Und sie begann zu trinken, und auf einmal fiel ihr das Kind ins Wasser; da schrie sie: „Herr! Wenn ich’s gewußt hätte, ich hätte lieber nicht getrunken, denn ich habe mein Kind ertränkt!“ Und wieder vernahm sie eine Stimme: „Nimm das Kind aus dem Wasser.“ – „Ich würde es nehmen, aber ich habe keine Hände!“ – „Nimm’s nur mit deinen Stümpfen!“ Und als sie die abgehackten Arme ins Wasser tauchte, da wuchsen ihr plötzlich wieder Arme und Hände an, und sie nahm ihr Kind. Lange irrte sie in der weiten Welt umher, und schließlich kam sie in eine Stadt, wo sie sich als Dienstmagd verdingte. Und der Knabe wuchs nicht von Tag zu Tag, sondern von Stunde zu Stunde. Und nach ziemlich langer Zeit kommt auf einmal zu diesem reichen Herrn, wo sie lebte, der Zar und kommen ihr Bruder und die Schwägerin gefahren. Sie erkannte sie sofort, aber sie konn470
ten sie nicht erkennen. Sie gab sich ihnen dort nicht zu erkennen, weil sie noch gar zu weit vom Hause entfernt waren. Als ihr Knabe herangewachsen war, schon gut mit ihr gehen konnte, nahm sie den Knaben, kündigte ihrer Herrschaft und beschloß, wieder in ihre Residenzstadt zu ziehen. Und sie kaufte sich einen Hirsch und eine Hirschkuh und ritt auf dem Hirsch und der Hirschkuh durch die tiefen Wälder. Und wo sie nun zum Füttern haltmachte, bat sie immer: „Verkauft mir doch für den Hirsch einen Laib Brot und für die Hirschkuh eine Schale Glut!“ Und man antwortet ihr: „Wie soll denn die Hirschkuh das fressen? Es wird ihr doch zu heiß sein.“ – „Und als beim Zaren die Zarin ihr Kind gegessen hat, ist ihr gewiß weh gewesen, aber sie hat’s doch gegessen.“9 Und auf diese Weise nun erreichte sie schließlich ihre Residenzstadt. Als sie in die Stadt kam, hielt sie nahe beim Schloß an und sagt wieder: „Verkauft mir für den Hirsch einen Laib Brot und für die Hirschkuh eine Schale Glut!“ Man sagt ihr: „Wie soll denn die Hirschkuh das fressen, es wird ihr doch zu heiß sein.“ – „Und als die Frau des Zaren ihr Kind gegessen hat, ist ihr gewiß weh gewesen, aber sie hat’s gegessen.“ Und die Kunde von dieser Frau kam bald dem Zaren zu Ohren. Der Zar befahl sie zu sich ins Schloß und sagte: „Wanderin, du hast, wie ich sehe, viel erlebt; erzähle uns bitte!“ Sie sagt zu ih9
Im Russischen ergeben die Wörter „heiß“ und „weh“ ein Wortspiel: жарко – жалко. (Anm. des Übers.)
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nen: „Ich habe viel erlebt, aber ich habe Angst, es könnte jemandem ein Ärgernis sein.“ – „Nein, es wird niemandem ein Ärgernis sein.“ – „Gebt mir Euer Zarenwort, wenn ich erzähle, daß mich niemand unterbricht!“ Der Zar war damit einverstanden. Da beginnt sie zu sprechen: „Es lebte ein Zar mit seiner jungen Zarin. Er hatte eine Schwester. Der Zar liebte seine Frau sehr, die Schwester aber dagegen haßte sie; der Neid hatte sie gepackt, daß der Bruder seine Frau sehr liebt, und oft verleumdete sie die Zarin bei ihrem Bruder, sie wäre untreu.“ Die Schwester hörte das und sagte: „Das lügst du!“ Der Zar aber sagte: „Fahre fort“, und der Schwester gebot er zu schweigen. Sie spricht weiter: „Einmal fährt der Zar mit seinem Schwager in seinen Zarenangelegenheiten ins Ausland. Und in seiner Abwesenheit gebar die junge Zarin einen schönen Sohn. Die Schwester aber schrieb ihm einen Brief, daß ‚deine junge Frau es schlimm treibt, dir untreu geworden ist und viele andere Liebhaber gehabt hat, und weil ihr der neugeborene Sohn hinderlich war, hat sie ihn genommen und aufgegessen.’“ Und die Schwester sagt wieder: „Du lügst!“ Aber der Zar gebot seiner Schwester zu schweigen und sagte: „Wanderin, setze deine Erzählung fort!“ – „Und da wurde der Zar auf seine Frau böse und befahl, ihr die Arme bis zu den Ellbogen abzuschneiden, sie in eine dunkle Kutsche zu setzen und in die dunklen Wälder zu fahren, den wilden Tieren zum Fraß. Das Kind aber hatten sie ihr an die Brüste gebunden. Und als sie nun durch den tiefen Wald ging, quälte sie 472
starker Durst. Als sie zu einem Fluß kam, wollte sie trinken, weil sie aber keine Hände hatte, hätte sie das Kind ertränken können. Da betete sie zu Gott: ‚Herr! Wie sehr möchte ich trinken!’ Sie vernahm eine Stimme: ‚So trinke!’ Als sie trank, verlor sie das Kind von der Brust. Da begann sie wieder, sich über ihr Schicksal zu beklagen, und sagte: ‚Hätte ich’s gewußt, dann hätte ich nicht getrunken, aber jetzt habe ich mein Kind ertränkt.’ Wieder vernimmt sie eine Stimme: ‚Nimm dein Kind mit deinen Stümpfen!’ Und als sie ihre abgehackten Arme ins Wasser tauchte, da wuchsen ihr wieder Arme und Hände an. Und ich – ich bin ebendiese Frau, und dies hier ist mein Mann, und das mein Bruder, und das meine Schwägerin, die so grausam an mir gehandelt hat. Aber weil ich nicht wußte, wie ich zu euch gelangen konnte, habe ich mir einen Hirsch und eine Hirschkuh gekauft. Für den Hirsch habe ich um Brot gebeten, für die Hirschkuh aber um eine Schale Glut. Und die Leute haben zu mir gesagt: ‚Wie soll sie’s denn fressen, es ist doch zu heiß?’ Und ich habe ihnen geantwortet: ‚Die Zarin hat doch auch ihr Kind gegessen, es ist ihr weh gewesen, aber sie hat’s gegessen. So auch die Hirschkuh; es ist zwar heiß, aber sie muß es fressen.’“ Da sperrte der Zar seine Schwester für dieses Verbrechen ins Gefängnis. Seine junge Frau aber hielt er noch mehr in Ehren als früher. Und seinen Sohn lehrte er das Lesen und Schreiben. Und zu Ehren all dessen gab er ein Fest für alle Welt; auch mich luden sie ein, ich trank Bier und Wein, ‘s ist um 473
den Bart geronnen, der Mund hat nichts abbekommen.
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43 Fürst Pjotrs treue Gemahlin In einem Zarenreich, in einem Staat, die alten Leute sagen, in dem, in dem wir leben, es ist schon lange her, als er noch ein Fürstentum war, da lebten einmal zwei Brüder – ein Fürst Michail Lexandrytsch und ein Fürst Pjotr Lexandrytsch. Der ältere Bruder Michail war verheiratet. Seine Gemahlin war klug und schön, und sie lebte mit Michail in Liebe und Eintracht. Oft fuhr Fürst Michail in seinen Angelegenheiten fort, sogar in andere Länder, die Fürstin aber war immer zu Hause. Einmal nun war der Fürst für lange Zeit weggefahren, und jemand begann die Fürstin zu besuchen, irgendeine unsichtbare Macht. Zuerst fürchtete sich die Fürstin, dann aber begann sie, sich mit dieser unsichtbaren Macht zu unterhalten. Und so ging es lange Zeit. Als der Fürst zurückkam, sieht er – sie ist sehr elend geworden. Er fragt: „Was hast du, was ist mit dir, bist du krank?“ Sie sagt: „Nein. Irgendeine unsichtbare Macht besucht mich, ein Zauberer vielleicht, oder ein Geist; auch wenn du zu Hause bist, kommt sie: kaum geht Ihr hinaus, erscheint irgendeine unsichtbare Macht, 475
ein Zauberer oder sonst etwas, sieht aus wie ein Mann, kommt zum Fenster hereingeflogen und beunruhigt mich, ich fürchte mich!“ Und ihr Mann sagt zu ihr: „Und kann man ihn nicht irgendwie umbringen?“ „Ach, er ist gar zu groß und mächtig!“ „Nun, bring in Erfahrung, wodurch er sterben kann. Frag so, daß er’s nicht merkt!“ Wieder erscheint bei ihr die unsichtbare Macht, und sie sagt: „Es tut mir leid um Euch, denn mein Mann ist zu Hause, er kann Euch umbringen.“ Der Unhold aber sagt: „Nein, er kann mich nicht töten. Ich kann nur durch seinen Verwandten den Tod leiden – von Pjotrs Arm und einem Damaszenerschwert. Das Schwert aber ist schwer zu holen, Wächter sind darüber gestellt.“ „Und wo ist es denn, dieses Schwert?“ „Es ist im Kloster der Jungfrau, eingemauert, in der Stadt Kiew“ (oder Woronesh, oder vielleicht Jerusalem, wie ihr wollt). Als er fortgeflogen war, sagte’s die Fürstin dem Fürsten. Und der dachte: „Ist vielleicht Pjotr dieser Verwandte? Er ist sehr mächtig, schön und stark.“ Er rief Pjotr und erzählte ihm: „Zu meiner Frau kommt eine unreine Macht geflogen, und getötet kann sie nur von Euch werden, mit einem Damaszenerschwert, das Schwert aber ist im Kloster der Jungfrau eingemauert.“ 476
Pjotr spannte sofort sein Pferd an und fuhr nach Jerusalem ins Jungfrauenkloster. Brachte in Erfahrung, in welcher Mauer es versteckt ist, bestach die Wächter, opferte ihnen eine Menge Gold für ihr Kloster. Sie beschafften ihm dieses Schwert, er stieg wieder ein und fuhr los. Er kam mit diesem Schwert zurück und verbarg sich im Schlafzimmer der Fürstin. Kaum war er erschienen, die unreine Macht, da traf ihn Pjotr mit aller Kraft, wie man Zauberer erschlägt, am Hals. Der Kopf des Zauberers rollte unter das Hintertor, sein Blut aber spritzte empor und bespritzte Pjotr am ganzen Leibe. Er, dieser Teufel, wurde weggeschafft, es wurde alles gewaschen, saubergerieben, und im Hause wurde es still und ruhig. Niemand beunruhigt die Fürstin. Nach einigen Tagen – fünf oder sechs – zeigen sich bei Pjotr an den Händen und im Gesicht Bläschen. Sie näßten und juckten, es war ein schreckliches Jucken, und bald war der ganze Körper mit Schorf bedeckt. Wohin Pjotr sich auch wandte – alle Ärzte in seinem Fürstentum fuhr er ab – niemand konnte ihn heilen. Nun, er wußte nicht mehr ein noch aus. Der Fürst hatte einen alten, steinalten Diener, der sagt zu ihm: „Fürst, Ihr solltet Euch an die alten Frauen wenden, vielleicht kann eine Eure Krankheit besprechen oder heilen, da die Doktoren es ohne Umschweife abgelehnt haben. Euch zu heilen.“ Dazu entschloß sich Pjotr, sie spannten vier Pferde vor seine Kutsche und fuhren von Dorf zu 477
Dorf, eine Alte zu suchen, vielleicht, daß eine ihn heilt. Sie fuhren einen Tag, zwei und drei, kamen in ein Dorf und fragen in der ersten Hütte: „Gibt es vielleicht bei euch so ein Großmütterchen, das heilen kann?“ „Ja, fragt hier in unserem Dorf, da ist eine Wehmutter. Sie bringt die Kinder zur Welt, und sie heilt auch; sie heißt Domna.“ Sie fahren durchs Dorf und fragen. Fanden sie. Kommen zu ihr. „Domna, hier der Fürst ist krank, die Doktoren haben’s abgelehnt.“ „Wo ist er?“ „Dort in der Kutsche.“ „Bringt ihn zu mir!“ Sie brachten ihn herein. Die Alte sah ihn an: „Nein, das verstehe ich nicht zu heilen, diese Krankheit. Daß sie nur nicht überhaupt unheilbar ist!“ Sie fuhren weiter. Kommen in ein anderes Dorf. Fragen. Man sagt ihnen: „Wir haben einen Alten, Afanassi Pawlytsch, am Ende des Dorfes, der heilt!“ Sie fuhren zu ihm. Kommen hin. Bitten: „Afanassi Pawlytsch, wollt Ihr nicht versuchen, unseren Fürsten zu heilen, alle Doktoren haben’s abgelehnt.“ „Nein“, sagt er, „diese Krankheit verstehe ich nicht zu heilen. Aber ich habe gehört – an die dreißig Werst von unserem Dorf entfernt ist eine Straße, fahrt diese Straße entlang, und ihr kommt in ein Dorf, dort ist ein Mädchen, schön, einen Zopf von zwei Arschin, und die Arme keine ge478
wöhnlichen Arme, sondern von den Fingern bis zum Ellenbogen aus Gold. Die bittet!“ Der Diener bedankte sich bei dem Alten für den Rat, und sie fuhren nach diesem Dorf. Kommen in dieses Dorf und fragen. „Ja“, sagen die Leute, „es gibt ein solches Mädchen. Fahrt weiter, da steht eine Hütte, bis zur Hälfte in die Erde versunken, und Fenster und Tür ganz schief. Dort wohnt sie. Dieses Mädchen hat manchen geheilt. Nun, sie ist eine Schönheit, die Brauen schwarz, die Haare voll Locken wie bei einem Lamm, das Gesicht weiß, die Brust hoch, und der Mutter flink zur Hand; bei uns im Dorf haben wir ihr den Namen Semidelka10 gegeben. Sie kann drei Dinge auf einmal tun.“ „Wie denn das?“ „Nun so: mit dem einen Fuß schaukelt sie ein Kind in der Wiege, mit dem anderen dreht sie das Spinnrad, hält die Spule unter den Arm geklemmt und dreht die Fäden, in der Schürze aber hat sie ein Knäuel und in den Händen einen Strumpf, den strickt sie. Das haben wir selber viele Male gesehen, mit eigenen Augen.“ Nun, sie fuhren weiter. Sie fahren und halten die Augen offen. Und sahen: dort ist sie, die Hütte, zur Hälfte in die Erde versunken; sie hielten das Pferd an, und der Diener ging hinein. Tritt ein: „Sei gegrüßt, schönes Mädchen!“ 10
Semidelka – etwa: „die Siebenerlei machen kann“. (Anm. d. Übers.)
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„Sei gegrüßt, guter Mann!“ „Habt Ihr nicht davon gehört, Fürst Pjotr (seinen Familiennamen habe ich vergessen) ist krank.“ „Und wo ist er?“ „Dort, im Wagen!“ „Ruf ihn herein, ich will mal sehen, was für eine Krankheit er hat!“ Als der Fürst eintrat, wurde ihm gleich warm, und das Jucken hörte auf. Ihm wurde gleich leichter. Als er eintrat, saß sie da und spann Flachs. Sie richtete sich auf und sah sich’s an: „Ja, das werde ich heilen, aber unter folgender Bedingung: wenn ich es geheilt habe, daß du mich zur Frau nimmst; wenn aber nicht, dann werde ich von Euch nichts mehr nehmen und Euch nicht heilen.“ Der Fürst betrachtete sie, und sie gefiel ihm sehr. Sie erschien ihm so besonders lieb. Er sagte: „Gut, wenn du mich geheilt hast, heirate ich dich!“ Das Mädchen nahm ein Glas, legte ein Klümpchen Butter und ein Kügelchen Quecksilber hinein und ließ den Fürsten die Butter mit dem Quecksilber vermischen, bis das Quecksilber sich ganz in der Butter verteilt hat. Er verreibt die Butter mit dem Quecksilber, und sie spinnt. Sie kam zu ihm, sah nach: „Nein, reibt weiter, es sind noch glänzende Pünktchen zu sehen!“ Als er es so vermischt hatte, daß das Quecksilber mit dem bloßen Auge nicht zu sehen war, ging 480
sie zum Geschirrschrank und goß oder schüttete noch etwas hinzu. Er hatte es nicht bemerkt. Sie rührte um, gab’s ihm und sagte: „Hier könnt Ihr nicht behandelt werden; wenn Ihr zu Hause angekommen seid, dann wascht Euch mit warmem Wasser, wascht und trocknet alles ab, streicht die ganze Salbe auf und laßt nur den Nabel auf dem Bauch frei; das Glas aber werft über den Fluß!“ Was ihm gesagt worden war, das machte Pjotr alles, und nach drei Tagen blätterte alles von ihm ab, wie Schale, als sei überhaupt nichts gewesen. Da begann Pjotr zu überlegen, wie er sich nun verhalten sollte – heiraten oder nicht heiraten. Sie gefiel ihm ja gar zu sehr, aber würden seine Höflinge zufrieden sein, würden sie sie als Fürstin anerkennen? Er beschloß, ihr Geschenke zu schikken. Zwölf Fuhren ließ er beladen und Samt, Seide und Manchester darauflegen (sie würde sich sehr freuen, denn sie ist ein armes Bauernmädchen). Und er schickte einen Brief. „Lest ihr vor, daß ich sie nicht heiraten kann, weil sie von Bauernstand ist!“ Sie bringen ihr diese Geschenke, einer geht zu ihr hinein und sagt: „Hier, Mädchen, haben wir Euch Geschenke gebracht, zwölf Fuhren, was Euer Herz begehrt, dafür, daß Ihr den Fürsten Pjotr geheilt habt; aber heiraten kann er Euch nicht. Ihr seid ein einfaches Mädchen, ein Bauermädchen, er aber ist ein Fürst.“ 481
Sie sagt: „Und welcher Unterschied ist zwischen einem Bauernmädchen und einem Fürsten? Sie sollen zwei Herzen sein und ein Geist.“ „Aber unser Väterchen Fürst ist gelehrt, und du hast nichts gelernt.“ „Kennt ihr denn nicht das alte Sprichwort: ‚Der Gelehrten sind viele, aber der Klugen wenige?’ Sag dem Fürsten Dank, aber ich nehme nichts. Ein Versprechen ist teurer als Geld.“ Sie drehten um und brachten die Fuhren zurück. Kaum hatten sie die Pferde gewendet, da begann beim Fürsten das Jucken, und er wurde krank, und wieder begann es zu nässen. Als sie ankamen, war er wieder genauso, fast verfault. Der Fürst ließ die Kutsche anspannen, sie spannten sechs Pferde vor und fuhren wieder zu ihr. Kamen zu ihr, der Fürst faßte sie gleich bei der Hand, fiel auf die Knie und sagt: „Ihr sollt meine Gemahlin sein, und ich will fürs ganze Leben Euer treuer Gemahl sein. Nun heilt mich!“ Und sie antwortete: „Und ich will dir fürs ganze Leben eine treue Gemahlin sein. Wir wollen unser ganzes Leben zusammensein, einander lieben und noch bei Lebzeiten unseren Sarg bestellen: wenn wir sterben müssen, legen wir uns zusammen hin.“ Und er nahm sie auf der Stelle und fuhr mit ihr nach Hause: wenn er geheilt ist, soll’s gleich an die Hochzeit gehen. Er brachte sie in sein Fürstentum. Nach drei Tagen war er gesund, geheilt, und 482
befahl ihr, sich zur Trauung zu rüsten. Sie hielten Gottesdienst in der Nikon-Kathedrale, empfingen die goldenen Ringe und lebten nun in Liebe und Eintracht. Die Frauen der Höflinge liebten Jefrossinja Nikitischna nicht. Sie flüstern und tuscheln miteinander und sagen zu ihren Männern: „Wir werden uns ihr nicht unterordnen, sie ist eine einfache Bäuerin.“ „Aber sie ist schön und klug.“ „Was heißt das schon, daß sie schön ist: Dem schönen Gesicht soll man nicht nachlaufen – das ist nicht ziemlich.“ Die Männer aber sagen: „Und Klugheit und Verstand kann man nicht kaufen, er ist nicht käuflich. Seht doch, wie klug sie ist!“ Und die Frauen wieder: „Was denn, trägt man seinen Verstand etwa vor sich auf einem Teller her?“ Die Höflinge begannen auf Pjotr einzureden, sie solle fort. „Wir können sie nicht ansehen – das Bauernweib!“ Die Männer gingen zum Fürsten, kommen hin und bitten ihn: „Du unser Fürst Pjotr, Väterchen, wir sind mit einer Bitte zu Euch gekommen. Unsere Frauen wollen Jefrossinja auf keine Weise mehr sehen. Im Schloß wollen sie sich ihr nicht unterordnen. Kann sie nicht zurückgebracht werden, wo sie war? Kannst du denn etwa keine reiche, adlige, 483
belesene Frau finden? Sie ist doch nur eine unwissende Bäuerin.“ Und Pjotr sagt: „Ich kann ihr das nicht sagen, sprecht selber mit ihr. Wenn sie einverstanden ist, soll es sein, wie ihr wollt.“ Sie freuten sich. Kamen zu ihren Frauen und sagen: „Pjotr ist einverstanden, nur, sagt er, sprecht selber mit ihr.“ Die Frauen freuten sich. Sie beschlossen, sich am Abend zu versammeln: „Wir werden schöne Sachen kochen, das Volk einladen, uns schön anziehen und Pjotr mit Jefrossinja einladen.“ Alle tanzen, sind fröhlich, dann aber bildeten sie einen Kreis um sie und sagen: „Gnädige Fürstin Jefrossinja Nikolajewna, worum wir dich bitten werden, das schlag uns nicht ab!“ Und sie sagte: „Ich werde’s nicht abschlagen, was wollt ihr?“ „Verlag unser Fürstentum, fahr in dein Dorf zurück und nimm dir, was du willst. Denn für uns ist es kränkend, dich Fürstin zu nennen. Du bist von bäuerlicher Geburt, wir aber sind adlig. Und wir schenken dir, was du dir wünschst.“ Sie sagt: „Schön! Nur müßt ihr mir geben, worum ich bitte!“ „Schön, nimm, was du willst!“
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„Ich bitte nicht Gold oder Silber von euch, nicht Seide oder Samt, ich brauche nichts. Nur gebt mir Fürst Pjotr mit!“ Sie sagten: „Nimm ihn nur, Hauptsache, daß du nicht hierbleibst.“ Pjotr war einverstanden, wollte zwölf Gespanne mitnehmen und losfahren. Aber Jefrossinja sagt: „Laß, Pjotr, nimm nichts mit, spann nur einen Wagen an, dann fahren wir los, werden leben und es gut haben.“ Sie spannten ein Ackerpferd vor einen Erntewagen, setzten sich drauf und fuhren los. Sie waren noch keine fünf Werst gefahren, da kam ein Bote angesprengt und schrie Fürst Pjotr zu: „Krieg ist ausgebrochen, die Feinde kommen, erschlagen jung und alt, brennen Dörfer und Städte!“ Die Bojaren kamen angesprengt und drängten: „Du unser Väterchen, Fürst Pjotr, und Fürstin Jefrossinja, verlaßt uns nicht in dieser Not, die Feinde kommen, erschlagen jung und alt, brennen Dörfer und Städte!“ Pjotr wollte nicht umkehren, aber Jefrossinja sagte: „Das darf man nicht tun. Die Heimat läßt niemand im Stich!“ Sie kehrten zurück. Pjotr sammelte sein starkes Heer, und alle zogen aus – Alte und Junge, Männer und Frauen, und sie schlugen den Feind aufs Haupt. Und von nun an lebten sie in Frieden. Sie waren schon alt geworden und grau. Pjotr wurde 485
krank. Sie hatten sich schon in jungen Jahren gelobt, zusammen zu sterben, an einem Tag und zu einer Stunde. Er lag krank, sie aber stickte an einer Abendmahlsdecke. Er schickt einen Diener zu ihr ins andere Zimmer: „Sagt Jefrossinja, daß ich gleich sterbe.“ Sie sagt: „Sagt Pjotr, er soll ein wenig warten, ich nähe gerade eine Abendmahlsdecke, bin gleich fertig. Aber wenn ich nicht mehr da bin, stickt sie keiner zu Ende.“ Der treue Diener kam zurück und sagte’s Pjotr. Der wartet eine Weile, dann sagt er: „Geh, sag Jefrossinja, daß ich das Zeitliche segne. Ich hauche mein Leben aus, atme nicht mehr ein.“ Der Diener ging und sagt: „Jefrossinja Nikolajewna, Väterchen Pjotr segnet schon das Zeitliche.“ Jefrossinja stand auf, steckte die Nadel in die Abendmahlsdecke und wickelte die Seide darum. Legte sie auf den Tisch und ging. Kam zu ihm und verneigte sich bis zum Gürtel: „Nun, Pjotr, ich bin bereit!“ Sie legte sich neben ihn, und sie starben. Alle trauerten um sie. Pjotr hatte hinterlassen, man solle sie in einem Sarg begraben, aber die Bojaren machten zwei Särge und stellten sie nebeneinander in der Kirche auf. Am Morgen kommen sie, aber sie sind in einem Sarg, und der andere ist leer. Zweimal war das so, beim drittenmal aber sagte der Bischof: 486
„Also soll es so sein!“ Er ließ einen breiten Sarg machen, man legte sie nebeneinander und begrub sie. Und auf das Grab pflanzten sie einen Faulbeerbaum. Dieser Faulbeerbaum wächst und blüht noch heute.
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44 Schwesterchen Aljonuschka und Brüderchen Iwanuschka Es lebten einmal ein Zar und eine Zarin; die hatten einen Sohn und eine Tochter, der Sohn hieß Iwanuschka und die Tochter Aljonuschka. Da starben der Zar und die Zarin; die Kinder blieben allein zurück und zogen durch die weite Welt. Sie gingen und gingen und gingen…; sie gehen und sehen einen Teich, und an dem Teich weidet eine Herde Kühe. „Ich habe Durst“, sagt Iwanuschka. „Trink nicht, Brüderchen, sonst wirst du ein Kälbchen“, sagt Aljonuschka. Er gehorchte, und sie gingen weiter; sie gingen und gingen und sehen einen Fluß, und daneben eine Herde Pferde. „Ach, Schwesterchen! Wenn du wüßtest, wie mich dürstet!“ „Trink nicht, Brüderchen, sonst wirst du ein Füllen!“ Iwanuschka gehorchte, und sie gingen weiter; sie gingen und gingen und sehen einen See, und an seinem Ufer tummelt sich eine Herde Schafe. „Ach, Schwesterchen! Ich habe fürchterlichen Durst l“ – „Trink nicht, Brüderchen, sonst wirst du ein Schafböckchen!“ Iwanuschka gehorchte, und sie gingen weiter; sie gingen und gingen und sehen ein Flüßchen, daneben aber werden Schweine gehütet. „Ach, Schwesterchen, 488
ich trinke; ich habe schrecklichen Durst!“ – „Trink nicht, Brüderchen, sonst wirst du ein Ferkelchen!“ Iwanuschka gehorchte wieder, und sie gingen weiter; sie gingen und gingen und sehen: am Wasser weidet eine Herde Ziegen. „Ach, Schwesterchen, ich trinke!“ – „Trink nicht, Brüderchen, sonst wirst du ein Böckchen!“ Er hielt’s nicht aus, gehorchte der Schwester nicht, trank und wurde ein Böckchen, springt vor Aljonuschka her und schreit: „Mek-mek-mek! Mek-mek-mek!“ Aljonuschka band ihm einen seidenen Gürtel um und führte es daran, und sie weinte und weinte bitterlich… Das Böckchen lief und lief und lief in den Garten zu einem Zaren. Die Leute sahen’s und meldeten sogleich dem Zaren: „Bei uns, Eure Kaiserliche Majestät, ist im Garten ein Böckchen, ein Mädchen hält es an einem Gürtel, das ist aber ein schönes Kind!“ Der Zar befahl zu fragen, wer sie ist. Die Leute fragen sie: woher sie ist und welcher Herkunft? „So und so“, sagt Aljonuschka, „es war ein Zar und eine Zarin, die starben, wir Kinder blieben zurück, ich, die Zarentochter, und mein Brüderchen hier, der Zarewitsch; er hielt’s nicht aus, hat Wasser getrunken und ist ein Böckchen geworden.“ Die Leute meldeten das dem Zaren. Der Zar rief Aljonuschka und befragte sie über alles; sie gefiel ihm, und der Zar wollte sie heiraten. Bald machten sie Hochzeit, lebten miteinander, und das Böckchen mit ihnen – tummelt sich im Garten und trinkt und ißt zusammen mit dem Zaren und der Zarin.
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Einmal ritt der Zar auf die Jagd. Zu dieser Zeit kam eine Zauberin und behexte die Zarin; Aljonuschka wurde krank, so elend und so bleich. Am Hofe des Zaren wurde alles traurig; die Blumen im Garten welkten, die Bäume vertrockneten, und das Gras wurde dürr. Der Zar kehrte zurück und fragt die Zarin: „Bist du krank?“ – „Ja, ich bin krank“, sagt die Zarin. Am anderen Tag ritt der Zar wieder auf die Jagd. Aljonuschka liegt krank; da kommt die Zauberin zu ihr und sagt: „Willst du, daß ich dich heile? Geh zu dem und dem Meer um die und die Zeit und trink dort Wasser!“ Die Zarin gehorchte und ging in der Dämmerung zum Meer, die Zauberin aber wartet schon auf sie, packte sie, band ihr einen Stein um den Hals und warf sie ins Meer. Aljonuschka sank auf den Grund; das Böckchen kam gelaufen und weinte bitterlich. Die Zauberin aber nahm die Gestalt der Zarin an und ging ins Schloß. Der Zar kam zurück und freute sich, daß die Zarin wieder gesund war. Sie deckten den Tisch und setzten sich zum Essen. „Und wo ist das Böckchen?“ fragt der Zar. „Ich will es nicht haben“, sagt die Zauberin, „ich habe verboten, es einzulassen; es riecht so nach Bock.“ Am anderen Tag, kaum daß der Zar auf die Jagd gefahren war, schlug die Zauberin das Böckchen, prügelte und prügelte’s und droht ihm: „Warte nur, wenn der Zar zurückkommt, bitte ich, dich zu schlachten.“ Der Zar kam; die Zauberin bedrängt ihn: Befiehl doch nur, das Böckchen zu schlachten; es ist mir über, ist mir ganz zuwider geworden! Dem Zar tat das Böckchen leid, aber 490
was wollte er machen, sie läßt ihm keine Ruhe, bittet so, daß der Zar schließlich einverstanden war und erlaubte, es zu schlachten. Das Böckchen sieht: schon schliffen sie die stählernen Messer, und es begann zu weinen, lief zum Zaren und bettelt: „Zar! Laß mich ans Meer gehen, Wasser trinken und meine Därme spülen!“ Der Zar ließ es gehen. Da lief das Böckchen zum Meer, stellte sich ans Ufer und schrie kläglich: Aljonuschka, mein Schwesterchen! Komm doch, komm ans Ufer her. Es brennen die Feuer, die brennenden, Es kochen die Kessel, die kochenden. Sie schleifen die Messer, die stählernen. Und wollen, ach wollen mich schlachten! Sie antwortet ihm: Iwanuschka, mein Brüderchen! Ein schwerer Stein zieht mich zum Grunde, Eine grimmige Schlange hat’s Herz ausgesaugt! Das Böckchen weinte und lief zurück. Zur Mittagszeit bettelt es den Zaren wieder: „Zar! Laß mich ans Meer gehen, Wasser trinken und meine Därme spülen!“ Der Zar ließ es gehen. Da lief das Böckchen zum Meer und schrie kläglich: Aljonuschka, mein Schwesterchen! 491
Komm doch, komm ans Ufer her. Es brennen die Feuer, die brennenden. Es kochen die Kessel, die kochenden. Sie schleifen die Messer, die stählernen, Und wollen, ach wollen mich schlachten! Sie antwortet ihm: Iwanuschka, mein Brüderchen! Ein schwerer Stein zieht mich zum Grunde, Eine grimmige Schlange hat’s Herz ausgesaugt! Das Böckchen weinte und lief wieder nach Hause. Der Zar denkt: Was bedeutet das wohl, das Böckchen läuft immer zum Meer? Da bettelte das Böckchen zum drittenmal: „Zar! Laß mich ans Meer gehen, Wasser trinken und meine Därme spülen!“ Der Zar ließ es fort und ging ihm nach; kommt zum Meer und hört – das Böckchen ruft sein Schwesterchen: Aljonuschka, mein Schwesterchen! Komm doch, komm ans Ufer her. Es brennen die Feuer, die brennenden. Es kochen die Kessel, die kochenden. Sie schleifen die Messer, die stählernen. Und wollen, ach wollen mich schlachten! Sie antwortet ihm: Iwanuschka, mein Brüderchen! 492
Ein schwerer Stein zieht mich zum Grunde, Eine grimmige Schlange hat’s Herz ausgesaugt! Das Böckchen rief sein Schwesterchen nochmals. Aljonuschka kam nach oben geschwommen und zeigte sich über dem Wasser. Der Zar ergriff sie, riß den Stein von ihrem Hals, zog Aljonuschka ans Ufer und fragt: „Wie ist das geschehen?“ Sie erzählte ihm alles. Der Zar freute sich, und das Böckchen auch – es springt umher, und im Garten wurde alles grün und begann zu blühen. Die Zauberin aber befahl der Zar hinzurichten: sie errichteten auf dem Hof einen Scheiterhaufen und verbrannten sie. Danach lebten Zar und Zarin mit dem Böckchen herrlich und in Freuden, wurden reiche Leute und tranken und aßen zusammen wie früher.
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45 Junker Frost Es lebten einmal ein Mann und eine Frau. Der Mann und die Frau hatten drei Töchter. Ihre älteste Tochter liebte die Frau nicht (es war ihre Stieftochter), sie schalt sie oft, weckte sie frühzeitig und lud die ganze Arbeit auf sie ab. Das Mädchen tränkte und fütterte das Vieh, trug Holz und Wasser in die Hütte, heizte den Ofen, verrichtete ihre Gebete, fegte die Hütte und räumte noch vor Tage alles auf. Doch die Alte war auch dann nicht zufrieden und brummte über Marfuscha: „So ein faules Ding, so eine Schlampe! Und der Besen ist nicht an seinem Platz, und das steht nicht richtig da, und schmutzig ist’s in der Hütte…l“ Das Mädchen schwieg und weinte; sie bemühte sich auf alle Weise, es der Stiefmutter recht zu machen und ihren Töchtern gefällig zu sein; aber die Schwestern sahen’s von der Mutter ab und setzten Marfuschka in allem hintenan, suchten Zank mit ihr und brachten sie zum Weinen: das war ihnen ein Vergnügen! Sie selber standen immer spät auf, wuschen sich mit dem bereitstehenden Wasser, trockneten sich mit einem sauberen Handtuch ab und setzten sich an die Arbeit, nachdem sie zu Mittag gegessen hatten. So wuchsen nun unsere Mädchen heran, wurden groß und kamen ins Brautalter. Ein Märchen ist bald erzählt, 494
aber eine Tat nicht so bald getan. Dem Alten tat seine älteste Tochter leid; er liebte sie, weil sie gehorsam und arbeitsam war, nie eigensinnig, was man ihr sagte, auch machte, und nie auch nur mit einem Wort widersprach; aber der Alte wußte nicht, wie er dem Kummer abhelfen sollte. Er selber war krank, die Alte ein Zankteufel, und ihre Töchter waren faul und widerspenstig. Nun begannen unsere Alten zu überlegen: der Alte, wie er seine Töchter unter die Haube bringen kann, und die Alte, wie sie die Älteste loswerden kann. Einmal sagt die Alte zu ihrem Alten: „Nun, Alter, wir wollen Marfuscha verheiraten!“ – „Ist gut“, sagte der Alte und trollte sich auf den Ofen; die Alte aber ruft ihm nach: „Alter, steh morgen frühzeitig auf, spann die Stute vor den Schlitten und fahr mit Marfuscha los; und du, Marfuscha, pack deine Sachen in den Reisekorb und zieh ein weißes Hemd an; du fährst morgen zu Besuch!“ Die gutmütige Marfuscha freute sich über das Glück, daß man sie zu Besuch fährt, und schlief süß die ganze Nacht; am Morgen stand sie zeitig auf, wusch sich, betete zu Gott, holte alles zusammen und packte es ordentlich ein, zog sich selbst festlich an und war ein Mädchen – nun, eine Braut, wie sie sich einer nur wünschen kann! Die Geschichte war aber im Winter, und draußen war eine beißende Kälte. Der Alte spannte früh, ehe es noch tagte oder dämmerte, die Stute vor den Schlitten und führte sie bis an die Tür; er selber kam in die Hütte, setzte sich auf die Türbank und sagte: „Nun, ich 495
habe alles vorbereitet!“ – „Setzt euch an den Tisch und freßt!“ sagte die Alte. Der Alte setzte sich an den Tisch und ließ auch die Tochter sich hinsetzen; der Brotteller stand auf dem Tisch, er nahm einen Laib und schnitt für sich und die Tochter ab. Die Alte aber brachte unterdessen in einer Schüssel alte Krautsuppe und sagte: „Nun, mein Täubchen, iß und scher dich dann fort, ich habe dich lange genug hier gesehen! Alter, bring Marfuschka zu ihrem Bräutigam; paß aber auf, alter Tropf, fahr geradeaus den Weg entlang und biege dann rechts vom Wege ab, in den Wald hinein, du weißt schon, gerade zu der großen Fichte, die auf dem Hügel steht, und gib Marfuschka dort dem Junker Frost zur Frau!“ Der Alte riß Augen und Maul auf und hörte auf zu löffeln, das Mädchen aber begann zu heulen. „Nun, was plärrst du hier herum! Das ist doch ein schöner und reicher Bräutigam! Sieh nur, was er alles besitzt: alle Tannen, Fichten und Birken tragen einen Pelz; ein beneidenswertes Leben, und er selber ist ein Prachtkerl!“ Der Alte verpackte schweigend die Habseligkeiten, hieß die Tochter einen Schafspelz überwerfen und machte sich auf den Weg. Fuhr er nun lange, kam er bald an – ich weiß es nicht; ein Märchen ist bald erzählt, eine Tat aber nicht so bald getan. Schließlich kam er zum Wald, bog vom Wege ab und fuhr einfach über den verharschten Schnee; als er tief in den Wald hineingefahren war, hielt er an und hieß die Tochter heruntersteigen, er selber stellte den Reisekorb unter eine riesige Fichte und 496
sagte: „Bleib hier sitzen und warte auf den Bräutigam; paß aber auf, empfang ihn recht zärtlich!“ Und er wendete das Pferd und fuhr nach Hause. Das Mädchen sitzt und zittert: es schüttelte sie am ganzen Leibe. Sie wollte jammern, aber die Kräfte reichten nicht aus: nur ihre Zahne klapperten in einem fort. Auf einmal hört sie: nicht weit von ihr knallt Junker Frost auf einer Tanne, springt von einer Tanne auf die andere und knistert. Plötzlich war er auf der Fichte, unter der das Mädchen sitzt, und sagt zu ihr von oben: „Ist dir warm, Mädchen?“ – „Warm, Väterchen, warm Junker Frost!“ Junker Frost ließ sich weiter herab, knallte und knisterte noch mehr. Der Frost fragte das Mädchen: „Ist dir warm, Mädchen? Ist dir warm, du Schöne?“ Dem Mädchen verschlägt es bald den Atem, aber es sagt noch: „Warm, Junker Frost, warm, Väterchen!“ Der Frost knallte noch mehr, knisterte noch stärker und sagte zu dem Mädchen: „Ist dir warm, Mädchen, ist dir warm, du Schöne, ist dir warm, mein Herzchen?“ Das Mädchen war schon ganz erstarrt und sagte kaum hörbar: „Oj, so warm, liebster Junker Frost!“ Da empfand der Junker Frost Mitleid, hüllte das Mädchen in Pelze und wärmte es mit Decken. Am Morgen sagt die Alte zu ihrem Alten: „Fahr los, alter Trottel, und wecke das junge Paar!“ Der Alte spannte das Pferd ein und fuhr los. Als er bei der Tochter ankam, fand er sie noch am Leben; sie hatte einen schönen Pelz an, ein kostbares Seidentuch um und einen Korb mit reichen Geschenken. Ohne ein Wort zu sagen, lud der Alte 497
alles auf den Schlitten, stieg mit der Tochter auf und fuhr nach Hause. Sie kamen zu Haus an, und das Mädchen fiel der Stiefmutter zu Füßen. Die Alte war höchst verwundert, wie sie das Mädchen noch am Leben sah, dazu den neuen Pelz und den Korb Wäsche. „Ach, du Hündin! Du sollst mich nicht zum besten haben!“ Nach einer kleinen Weile sagt die Alte zu ihrem Alten: „Bring nun auch meine Töchter zum Bräutigam; der wird sie noch ganz anders beschenken!“ Eine Tat ist nicht so bald getan, aber ein Märchen ist bald erzählt. Früh am Morgen also gab die Alte ihren Kindern reichlich zu essen, schmückte sie, wie sich’s gehört, für die Hochzeit und schickte sie auf den Weg. Der Alte brachte die Mädchen auf dem gleichen Wege unter die Fichte. Unsere Mädchen sitzen dort und spotten: „Was hat sich Mutter da ausgedacht – beide auf einmal in die Ehe wegzugeben? Gibt’s etwa in unserem Dorfe keine Burschen? Will’s das Unglück, kommt irgendein Teufel, und du weißt nicht wer!“ Die Mädchen waren in Schafspelzen, und doch war ihnen kalt. „Wie geht’s, Paracha? Mich kneift der Frost schon auf der Haut. Nun, wenn unser Auserwählter nicht kommt, können wir hier erfrieren!“ – „Hör auf, Maschka, und erzähl keinen Unsinn! Ist es etwa üblich, daß sich die Bräutigame so zeitig einfinden? Jetzt ist draußen erst Mittag.“ – „Nun, Paracha, wenn nur einer kommt, wen wird er nehmen?“ – „Na, vielleicht dich, du Närrin?“ – „Aber dich ganz bestimmt!“ – Natürlich, mich!“ – „Dich? Hör auf, mich zu foppen und Mär498
chen zu erzählen!“ Junker Frost hatte ihnen die Hände erstarren lassen; unsere Mädchen wärmten ihre Hände an der Brust und fingen wieder an: „Ach du, Schlafmütze, Zankteufel, Schmutzfink! Zu spinnen verstehst du nicht, und vom Weben hast du gleich gar keine Ahnung!“ – „Och, du Prahlerin! Und was kannst du? Dich in den Lauben herumtreiben und dich abschlecken lassen. Wir werden ja sehen, wen er zuerst nimmt!“ So unterhielten sich die Mädchen und froren ganz schrecklich; auf einmal sagten sie wie aus einem Munde: „Warum kommt er so lange nicht? Du bist schon ganz blau!“ Da begann in der Ferne Junker Frost zu knallen, von Tanne zu Tanne zu springen und zu knistern. Den Mädchen schien es, daß jemand gefahren kommt. „Horch, Paracha! Er kommt schon, und dazu noch mit Schellen.“ – „Scher dich fort, Hündin! Ich höre nichts, mich zwickt der Frost!“ – „Und du willst heiraten!“ Und sie begannen, auf ihre Finger zu hauchen. Junker Frost kommt immer näher und näher; schließlich war er auf der Fichte, über den Mädchen. Er sagt zu den Mädchen: „Ist euch warm, ihr Mädchen? Ist euch warm, ihr Schönen? Ist euch warm, meine Täubchen?“ – „Oj, Junker Frost, uns ist sehr kalt! Wir sind ganz erfroren, warten auf den Auserwählten, aber der verfluchte Kerl läßt sich nicht blicken!“ Junker Frost ließ sich weiter herab, knallte noch mehr und knisterte noch häufiger. „Ist euch warm, ihr Mädchen? Ist euch warm, ihr Schönen?“ – „Geh zum Teufel! Bist du vielleicht blind, du 499
siehst doch, daß uns Hände und Füße abgefroren sind.“ Junker Frost ließ sich noch weiter herab, gab ihnen einen harten Schlag und sagte: „Ist euch warm, ihr Mädchen?“ – „Scher dich zu allen Teufeln, verrecke im Moor, verfluchter Kerl!“ – und die Mädchen waren starr und steif. Am Morgen sagt die Alte zu ihrem Mann: „Spann den Stadtschlitten an, Alter; leg einen Armvoll Heu darauf und nimm eine Pelzdecke mit. Die Mädchen werden wohl durchfroren sein, es ist ein schrecklicher Frost draußen! Und mach schnell, alter Trottel!“ Der Alte kam nicht einmal dazu, ein paar Bissen zu essen, da war er schon draußen und auf dem Wege. Fährt, die Töchter zu holen, und findet sie tot. Er lud seine Kinder auf, hüllte sie in die Decke und legte eine Bastmatte darüber. Die Alte sah den Alten schon von weitem, kam ihm entgegengelaufen und fragte: „Was ist mit den Kindern?“ – „Im Schlitten!“ Die Alte hob die Bastmatte auf, nahm die Decke weg und fand ihre Kinder tot. Da fuhr die Alte los wie ein Gewitter und schimpfte auf den Alten: „Was hast du angerichtet, alter Hund? Hast meine Töchter zugrunde gerichtet, meine, meine Kinder, meine lieben, meine schönen, meinen Augentrost. Ich werde dich mit der Ofengabel prügeln, mit dem Schürhaken erschlagen!“ – „Hör auf, altes Weibsstück! Das hast du davon, daß du so versessen auf Reichtum warst und daß deine Kinder so eigensinnig waren! Bin ich vielleicht schuld? Du hast’s nicht anders gewollt!“ Die Alte war eine Weile böse, schimpfte 500
eine Weile, danach aber söhnte sie sich mit der Stieftochter aus, und von nun an lebten sie herrlich und in Freuden, wurden reiche Leute und gedachten des Bösen nicht mehr. Der Nachbar kam als Freier, sie feierten Hochzeit, und Marfuscha führt ein glückliches Leben. Der Alte drohte den Enkeln mit dem Junker Frost und ließ keinen Eigensinn zu. Auch mich luden sie zur Hochzeit ein, ich trank Bier und Wein; ‘s ist alles um den Bart geronnen, der Mund hat nichts abbekommen.
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46 Iwaschko und die Hexe Es lebten einmal ein Mann und eine Frau, die hatten ein einziges Söhnchen, Iwaschetschko; sie hatten es so lieb, daß es gar nicht zu sagen ist. Einmal bittet Iwaschetschko Vater und Mutter: „Laßt mich gehen, ich will fahren und Fische fangen!“ – „Ach du lieber Gott! Du bist noch zu klein, könntest vielleicht ertrinken und wer weiß was noch!“ – „Nein, ich werde nicht ertrinken, ich werde euch Fische fangen; laßt mich!“ Die Frau zog ihm ein weißes Hemdchen an, band ihm ein rotes Gürtelchen um und ließ Iwaschetschko gehen. Da stieg er ins Boot und sagt: Boot, Boot, schwimm recht weit! Boot, Boot, schwimm recht weit! Das Boot schwamm weit, weit weg, und Iwaschko fing Fische. War nun wenig Zeit vergangen oder viel – die Frau schleppte sich ans Ufer und ruft ihr Söhnchen: Iwaschetschko, Iwaschetschko, mein Söhnchen! Komm, komm ans Ufer gefahren, Ich habe dir Essen und Trinken gebracht. 502
Und Iwaschetschko sagt: Boot, Boot, schwimm ans Ufer hin: Das ist die Mutter, die ruft. Das Boot kam ans Ufer; die Frau nahm die Fische, gab ihrem Sohn zu essen und zu trinken, wechselte ihm Hemdchen und Gürtelchen und ließ ihn wieder fort, Fische zu fangen. Da stieg er ins Boot und sagt: Boot, Boot, schwimm recht weit! Boot, Boot, schwimm recht weit! Das Boot schwamm weit, weit weg, und Iwaschko fing Fische. War nun wenig Zeit vergangen oder viel – der Mann schleppte sich ans Ufer und ruft sein Söhnchen: Iwaschetschko, Iwaschetschko, mein Söhnchen! Komm, komm ans Ufer gefahren. Ich habe dir Essen und Trinken gebracht. Und Iwaschko: Boot, Boot, schwimm ans Ufer hin: Das ist der Vater, der ruft. Das Boot kam ans Ufer; der Mann nahm die Fische, gab seinem Sohn zu essen und zu trinken, 503
wechselte ihm Hemdchen und Gürtelchen und ließ ihn wieder fort, Fische zu fangen. Eine Hexe hörte, wie der Mann und die Frau Iwaschko riefen, und sie wollte den Knaben in ihre Gewalt bringen. Sie kommt also ans Ufer und schreit mit heiserer Stimme: Iwaschetschko, Iwaschetschko, mein Söhnchen! Komm, komm ans Ufer gefahren; Ich habe dir Essen und Trinken gebracht. Iwaschko hört, daß das nicht die Stimme seiner Mutter ist, sondern die der Hexe, und singt: Boot, Boot, schwimm recht weit, Boot, Boot, schwimm recht weit: Das ist nicht die Mutter, die ruft, das ist die Hexe, die ruft. Die Hexe sah, daß sie Iwaschko mit der gleichen Stimme rufen muß, mit der seine Mutter ihn ruft; sie lief zum Schmied und bittet ihn: „Schmied, Schmied! Schmiede mir ein so feines Stimmchen, wie Iwaschkos Mutter es hat; sonst fresse ich dich!“ Der Schmied schmiedete ihr ein solches Stimmchen, wie Iwaschkos Mutter es hatte. Da kam die Hexe nachts ans Ufer und singt: Iwaschetschko, Iwaschetschko, mein Söhnchen! Komm, komm ans Ufer gefahren; 504
Ich habe dir Essen und Trinken gebracht. Iwaschko kam; sie nahm die Fische, packte ihn und trug ihn davon zu sich. Sie kam nach Hause und gebietet ihrer Tochter Aljonka: „Heiz den Ofen recht heiß und brate Iwaschko recht schön, ich will gehen, die Gäste – meine Freunde – zusammenzuholen!“ Aljonka heizte also den Ofen heiß und sagt zu Iwaschko: „Los, setz dich auf die Schaufel!“ – „Ich bin noch zu klein und dumm“, antwortet Iwaschko, „ich weiß und verstehe noch gar nichts; zeige mir, wie ich mich auf die Schaufel setzen muß!“ – „Schön“, sagt Aljonka, „da gibt’s nicht viel zu zeigen!“ Und kaum hatte sie sich auf die Schaufel gesetzt, da warf Iwaschko sie in den Ofen, machte die Ofenklappe zu, ging aus der Hütte, versperrte die Tür und kletterte auf eine hohe, hohe Eiche. Die Hexe kommt mit den Gästen und klopft an die Hütte; niemand macht ihr die Tür auf. „Ach, verfluchte Aljonka! Sicher ist sie irgendwohin spielen gegangen.“ Die Hexe kletterte durchs Fenster, öffnete die Tür und ließ die Gäste ein; alle setzten sich an den Tisch, die Hexe öffnete die Ofenklappe, holte die gebratene Aljonka heraus – und auf den Tisch: sie aßen und aßen, tranken und tranken, gingen hinaus und wälzten sich im Grase. „Ich kugle mich, ich wälze mich, voll von Iwaschkos Fleisch“, schreit die Hexe, „ich kugle mich, ich wälze mich, voll von Iwaschkos Fleisch!“ Iwaschko aber äfft ihr von der Eiche herunter nach: „Kugle dich nur, wälze dich nur, voll von 505
Aljonkas Fleisch!“ – „Ich habe irgend etwas gehört“, sagt die Hexe. „Das sind die Blätter, die rauschen.“ Wieder sagt die Hexe: „Ich kugle mich, ich wälze mich, voll von Iwaschkos Fleisch!“ Und Iwaschko wieder: „Kugle dich, wälze dich, voll von Aljonkas Fleisch!“ Die Hexe guckte nach oben und sah Iwaschko; sie sprang auf und begann, die Eiche durchzunagen – eben die Eiche, wo Iwaschko saß, sie nagte und nagte – brach sich die zwei vorderen Zähne aus und lief zur Schmiede. Kam hin und sagt: „Schmied, Schmied, schmiede mir eiserne Zähne, sonst fresse ich dich!“ Der Schmied schmiedete ihr zwei Eisenzähne. Die Hexe kam zurück und begann wieder, die Eiche durchzunagen; nagte und nagte und hatte sie gerade durchgenagt, da sprang Iwaschko schnell auf eine andere, benachbarte Eiche hinüber, die aber, die die Hexe durchgenagt hatte, stürzte zu Boden. Die Hexe sieht, daß Iwaschko schon auf der anderen Eiche sitzt, knirschte vor Wut mit den Zähnen und machte sich von neuem daran, den Baum durchzunagen; nagte und nagte – brach sich die zwei unteren Zähne aus und lief zur Schmiede. Kam hin und sagt: „Schmied, Schmied! Schmiede mir eiserne Zähne, sonst fresse ich dich!“ Der Schmied schmiedete ihr noch zwei Eisenzähne. Die Hexe kam zurück und begann wieder, die Eiche durchzunagen. Iwaschko weiß nicht, was er jetzt tun soll; da sieht er wilde Schwäne fliegen, und er bittet sie: Schwäne ihr, meine weißen! 506
Nehmt mich auf eure Flügel, Tragt mich zu Väterchen, zu Mütterchen; Bei Väterchen, bei Mütterchen, Gibt’s Trinken und Essen, ist’s gut! „Die mittleren sollen dich nehmen“, sagen die Vögel. Iwaschko wartet; es kommt eine andere Herde geflogen, er bittet wieder. Schwäne ihr, meine weißen! Nehmt mich auf eure Flügel, Tragt mich zu Väterchen, zu Mütterchen; Bei Väterchen, bei Mütterchen, Gibt’s Trinken und Essen, ist’s gut! „Die hinteren sollen dich nehmen.“ Iwaschko wartet wieder; es kommt eine dritte Herde geflogen, er bittet: Schwäne ihr, meine weißen! Nehmt mich auf eure Flügel, Tragt mich zu Väterchen, zu Mütterchen; Bei Väterchen, bei Mütterchen, Gibt’s Trinken und Essen, ist’s gut! Die wilden Schwäne ergriffen ihn und trugen ihn nach Hause, kamen zur Hütte und setzten Iwaschko auf dem Dachboden ab. Die Frau stand frühzeitig auf, um Pfannkuchen zu backen; bäckt und denkt dabei an ihr Söhnchen: „Wo mag nur mein Iwaschetschko sein? Wenn ich ihn doch wenigstens einmal im Traum 507
sähe!“ Der Mann aber sagt: „Ich habe geträumt, wilde Schwäne hätten unseren Iwaschko auf ihren Flügeln hergetragen.“ Die Frau hatte ihre Pfannkuchen gebacken und sagt: „Nun, Alter, wollen wir die Pfannkuchen teilen: das – für dich, Mann! Das – für mich; das – für dich, Mann! das – für mich…“ – „Und für mich nichts?“ ließ Iwaschko sich hören. „Das – für dich, Mann! Das – für mich…“ – „Und für mich nichts?“ – „Nanu, Alter!“ sagt die Frau, „sieh doch mal nach, was das ist!“ Der Mann kletterte auf den Dachboden und holte Iwaschko von dort herunter. Der Mann und die Frau freuten sich, ließen sich alles, alles von ihrem Sohn erzählen und lebten von nun an herrlich und in Freuden und wurden reiche Leute.
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47 Die wilden Schwäne Es lebten einmal ein alter Mann und eine alte Frau; die hatten ein Töchterchen und ein kleines Söhnchen. „Töchterchen, Töchterchen!“ sagte die Mutter, „wir gehen auf Arbeit, bringen dir eine Semmel mit, nähen dir ein Kleid, kaufen dir ein Tüchlein; sei klug, paß aufs Brüderchen auf, und geh nicht vom Hof!“ Die Eltern gingen, das Töchterchen aber vergaß, was ihr befohlen worden war: sie setzte das Brüderchen aufs Gras unter dem Fenster und lief hinaus auf die Straße, spielte und tummelte sich. Da kamen wilde Schwäne geflogen, ergriffen den Kleinen und trugen ihn auf ihren Flügeln davon. Das Mädchen kam, – da war das Brüderchen nicht da! Sie erschrak, stürzte hierhin und dorthin – nichts! Sie rief, zerfloß in Tränen, jammerte, es würde etwas setzen von Vater und Mutter, – das Brüderchen gab keine Antwort! Sie lief hinaus aufs freie Feld; in der Ferne flogen wilde Schwäne und verschwanden hinter dem dunklen Wald. Die wilden Schwäne hatten sich schon lange einen üblen Ruf erworben, hatten viel Unheil angerichtet und kleine Kinder gestohlen; das Mädchen erriet, daß sie ihr Brüderchen entführt hatten, und stürzte ihnen nach. Sie lief und lief, da steht ein Ofen: „Ofen, Ofen! Sag mir, wohin die wilden Schwäne 509
geflogen sind!“ – „Wenn du von meiner Roggenpirogge ißt, sag ich’s.“ – „Oh, bei meinem Väterchen werden nicht einmal welche aus Weizen gegessen!“ Der Ofen sagte’s nicht. Sie lief weiter, da steht ein Apfelbaum. „Apfelbaum, Apfelbaum! Sag, wohin die wilden Schwäne geflogen sind!“ – „Wenn du von meinen Holzäpfeln ißt, sag ich’s.“ – „Oh, bei meinem Väterchen werden nicht einmal Gartenäpfel gegessen!“ Sie lief weiter, da fließt ein Flüßchen aus Milch, hat Ufer aus Brei. „Milchflüßchen, Breiufer! Wohin sind die wilden Schwäne geflogen?“ – „Wenn du von meinem einfachen Brei mit Milch ißt, sag ich’s.“ – „Oh, bei meinem Väterchen wird nicht einmal Sahne gegessen!“ Und lange hätte sie über die Felder laufen und durch den Wald streifen müssen, aber zum Glück lief ihr ein Igel in den Weg; sie wollte ihm einen Stoß versetzen, fürchtete aber, sich zu stechen, und fragt: „Igelchen, Igelchen, hast du nicht gesehen, wohin die wilden Schwäne geflogen sind?“ – „Dorthin!“ zeigte er. Sie lief weiter – da steht eine Hütte auf Hühnerbeinen, steht und dreht sich im Kreise. In der Hütte sitzt eine Baba-Jagá, die Fratze wie Leder, die Beine aus Lehm; da sitzt auch das Brüderchen auf einer Bank und spielt mit goldenen Äpfelchen: Die Schwester sah ihn, stahl sich heran, nahm ihn auf den Arm und trug ihn fort – die wilden Schwäne aber hinter ihr her! Sie holen sie gleich ein, die Bösewichter, wo soll sie sich verstecken? Da eilt das Milchflüßchen mit den Breiufern dahin. „Flüßchen, Mütterchen, versteck mich!“ – „Iß von meinem Brei!“ Es blieb ihr 510
nichts anderes übrig, sie aß. Das Flüßchen setzte sie unters Ufer, und die wilden Schwäne flogen vorbei. Sie kam hervor, sagte: „Danke!“ und läuft mit dem Brüderchen weiter; die wilden Schwäne aber waren umgekehrt und fliegen ihr entgegen. Was tun? Unglück! Da steht der Apfelbaum! „Apfelbaum, Mütterchen Apfelbaum, versteck mich!“ – „Iß meinen Holzapfel!“ Schnell aß sie ihn. Der Apfelbaum breitete seine Zweige über sie und deckte sie mit seinen Blättern zu; die wilden Schwäne flogen vorbei. Sie kam hervor und läuft mit dem Brüderchen weiter, die wilden Schwäne aber sahen sie – und ihr nach. Sie sind ganz nah, schon schlagen sie sie mit ihren Flügeln; ehe du dich’s versiehst, werden sie ihr’s aus den Händen reißen. Zum Glück steht der Ofen auf dem Wege. „Ofen, gnädiger Herr, versteck mich!“ – „Iß von meiner Roggenpirogge!“ Das Mädchen steckte schnell die Pirogge in den Mund, und dann in den Ofen hinein und ins Ofenloch gesetzt. Die wilden Schwäne flogen und flogen, schrien und schrien und flogen ohne Beute davon. Sie aber lief nach Hause, und es war nur gut, daß sie rechtzeitig kam, denn Vater und Mutter kamen auch gerade.
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48 Daumengroß In einem Zarenreich, in einem Staat lebten einmal ein alter Mann und eine alte Frau. Sie waren arm und hatten nur ein elendes Pferdchen. Der Alte fuhr pflügen. Die Alte packte ihm Brot und Salz in einen Beutel, etwas Hirse in ein Säckchen und einen Krug mit Wasser. Der Alte fuhr los. Der Alte kam aufs Feld, spannte das Pferd vor den Pflug und begann zu pflügen. Pflügte und pflügte und war ganz ermattet. Er ließ das Pferd in einer Furche stehen, setzte sich hin, brach sich ein Stück Brot ab, salzte es und ißt. Nun, und nahm einen Schluck aus dem Krug. Er aß und aß, und wie er einmal niest und die Äugen wieder aufgemacht hat, steht ein kleiner Junge vor ihm, so groß wie ein Finger, in einem goldenen Mützchen, und sagt: „Väterchen, ruh ein wenig aus, ich will pflügen gehen!“ „Wie denn, du kleines Kerlchen?“ „Sehr einfach, ich krieche dem Pferd ins Ohr und werde pflügen.“ „Nun, geh!“ Er ging los, aber da war ein Wasser. „Väterchen, ich komme hier nicht drüber.“ Nun, er trug ihn über die Pfütze.
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Er kam zum Pferd, kletterte ins Ohr und pflügt. Da kommt auf einmal ein vornehmer Herr in einer Troika gefahren. Der sieht: der Alte sitzt, und das Pferd pflügt allein. Er befahl dem Kutscher, zu dem Alten hinzulenken. Sie hielten an, und der Herr fragt: „Dein Pferd?“ „Meins!“ „Wie pflügt es denn allein?“ „Mein Sohn ist dort.“ „Wo?“ „Im rechten Ohr des Pferdes sitzt er.“ Der Herr ging nachsehen, und im Ohr des Pferdes sitzt der Kleine im goldenen Mützchen. Dem Herren gefiel das goldene Mützchen, und er sagt: „Junge, gib mir das goldene Mützchen zum Heiraten!“ „Ich geb’ dir’s und du gibst’s nicht zurück!“ „Doch, ich geb’s zurück!“ „Nein, du gibst’s nicht zurück!“ „Doch, ich geb’s zurück; in zwei Tagen bring’ ich’s wieder!“ Der Junge gab das Mützchen hin, der Herr nahm’s, stieg ein und fuhr davon. Der Junge hat den Acker zu Ende gepflügt, kommt nach Hause und sagt: „Nun, Mütterchen, Väterchen, bleibt ihr zu Hause, ich aber will zu dem Herrn nach dem goldenen Mützchen gehen. Ich sehe, er ist ein Spitzbube und gibt’s im guten nicht zurück.“ Und er ging los. Ging und ging durch den Wald, da steht auf einmal ein Fuchs: 513
„Daumengroß, gehst du weit?“ „Zum Herrn nach dem goldenen Mützchen.“ „Nimm mich mit!“ „Du kommst ja doch nicht bis hin.“ „Doch, ich komme bis hin!“ „Nun, komm mit!“ Sie gingen und gingen; der Fuchs sagt: „Daumengroß, ich bin ganz matt.“ „Kriech in meinen Sack.“ Er geht weiter, da steht auf dem Wege ein Wolf. „Daumengroß, gehst du weit?“ „Ich – zum Herrn nach dem goldenen Mützchen.“ „Nimm mich mit!“ „Du kommst ja doch nicht bis hin.“ „Ich komme bis hin!“ „Nun, komm mit!“ Sie gingen und gingen, da sagt der Wolf: „Junge, ich bin ganz matt!“ „Kriech in meinen Sack!“ Er geht weiter durch den tiefen Wald und trägt seinen Sack auf den Schultern. Da steht auf dem Wege ein Bär. „Daumengroß, gehst du weit?“ „Zum Herrn nach dem goldenen Mützchen, Michail Iwanowitsch.“ Der Bär brummte: „Nimm mich mit!“ „Du kommst ja doch nicht bis hin.“ „Doch, ich komme bis hin!“ „Nun, komm mit!“ 514
Sie gingen und gingen; der Bär sagt: „Junge, ich bin fast ganz matt!“ „Nun, kriech in meinen Sack!“ Sie gingen weiter. Da ist auch schon der Kaufmannshof. Ein hohes Haus. Der Junge kletterte aufs Tor und schreit: „Herr, Herr, gib das goldene Mützchen zurück, sonst schaffe ich Leid, daß es deiner Herrin leid tun wird!“ Der Herr befahl den Dienern: „Werft ihn den Gänsen vor, sollen sie ihn zu Tode zwicken!“ Sie taten’s, aber er ließ den Fuchs aus dem Sack. Der Fuchs lief, erwürgte eine nach der anderen, alle Gänse, und jagte davon in den Wald. Er kommt aus dem Hof, klettert aufs Tor und schreit: „Herr, Herr, gib das goldene Mützchen zurück, sonst schaffe ich Leid, daß es euch beiden leid tun wird!“ Der Herr befiehlt den Dienern: „Packt den Jungen und werft ihn unter die Pferde!“ Sie taten’s. Aber er ließ aus seinem Sack den Wolf heraus, der biß einem nach dem anderen die Gurgel durch und rannte davon in den Wald. Er kam aus dem Hof, kletterte aufs Tor und schreit: „Herr, Herr, gib das goldene Mützchen zurück, sonst schaffe ich Leid, daß es dir und der Herrin leid tun wird!“ Der Herr befiehlt: 515
„Werft ihn auf den Viehhof!“ Sie warfen ihn auf den Viehhof, unter die Ochsen, aber er ließ aus seinem Sack den Bären heraus, der Bär erschlug alle mit seiner Tatze und rannte davon in den Wald. Der Junge kam aus dem Hof, kletterte aufs Tor und schreit: „Herr, Herr, gib das goldene Mützchen zurück, sonst schaffe ich Leid, daß es dir und der Herrin leid tun wird!“ Der Herr befiehlt: „Werft ihn in den Brunnen!“ Sie warfen den Jungen in den Brunnen, da sagt er: „Sack, Sack, nimm das Wasser! Sack, Sack, nimm das Wasser!“ Der Sack nahm das ganze Wasser. Der Junge kletterte aufs Tor und schreit: „Herr, Herr, gib das goldene Mützchen zurück, sonst schaffe ich Leid, daß es allen Herren leid tun wird!“ „Werft ihn in den Ofen, er wird im Feuer verbrennen!“ Sie stießen ihn in den Ofen, aber der Junge konnte noch sagen: „Sack, Sack, gieß das Wasser auf die Ziegel! Sack, Sack, gieß das Wasser auf die Ziegel!“ Das Wasser floß heraus, und das Feuer erlosch auf der Stelle. Der Junge kam heraus, kletterte aufs Tor und schreit:
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„Herr, Herr, gib das goldene Mützchen zurück, sonst schaffe ich Leid, daß es allen Adligen und großen und kleinen Herren leid tun wird!“ „Steckt ihn in einen Kasten und schüttet ihn mit Geld zu. daß er dort erstickt, der Nichtsnutz!“ Der Junge aber sagt: „Sack, Sack, nimm das Geld! Sack, Sack, nimm das Geld!“ Der Sack steckte alles ein. Der Junge kam heraus, machte sich auf den Heimweg und brachte den Sack voll Gold mit. „Nun, Großvater, Großmutter, macht einen Dreschplatz zurecht, breitet Sackleinwand aus, wir wollen den Sack dreschen.“ Sie machten einen Dreschplatz zurecht. Der Alte schlägt einmal mit dem Dreschflegel zu, da rollte das Geld wie die Erbsen klirrend in alle Richtungen. Der Herr aber sagt: „Werft den Jungen heraus, sonst fängt er noch an zu riechen!“ Sie öffneten den Kasten, aber dort war weder Junge noch Geld. Er jagte hinterher. Kam zu dem Dreschplatz gesprengt, und das Geld machte ding, ding, ding. Der Herr stürzte hinzu, aber der Alte, ob nun aus Versehen oder mit Absicht, versetzte dem Herrn mit dem Dreschflegel eins vor den Kopf, daß er gleich tot umfiel. So lebten der Alte und die Alte bis an ihr Ende. Die Enkel aber leben gewiß noch heute.
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Jetzt, ohne Herrn, sind bessere Tage, jetzt darf keiner ‘nen Jungen schlagen.
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49 Der Soldat und der Teufel Ein Soldat stand auf Wache, und er wollte gern einmal für eine Weile in der Heimat sein. „Und wenn mich“, sagt er, „der Teufel dorthin trüge!“ Der war sogleich zur Stelle. „Du hast mich gerufen?“ sagt er. „Ja.“ „Erlaube“, sagt er, „gib dafür deine Seele!“ „Aber wie kann ich denn den Dienst verlassen, von Wache weglaufen?“ „Ich werde für dich Wache stehen.“ Sie beschlossen, daß der Soldat ein Jahr in der Heimat bleibt und der Teufel die ganze Zeit den Dienst macht. „Nun, runter das Zeug!“ Der Soldat warf alles ab, und ehe er sich’s versah, war er zu Hause. Der Teufel aber steht auf Wache. Kommt der General und sieht, daß alles an ihm nach Vorschrift ist, aber eines nicht: Die Riemen auf der Brust sind nicht über Kreuz, sondern alle auf einer Schulter. „Was ist das?“ Der Teufel zieht hier und zupft dort, er kann sie nicht anlegen. Einer gibt ihm einen Nasenstüber, und dann setzt’s Prügel. Und sie prügelten den 519
Teufel jeden Tag. Sonst – in allem ein guter Soldat, aber die Riemen immer auf einer Schulter. „Was ist mit diesem Soldaten passiert?“ sagen die Vorgesetzten. „Zu nichts mehr zu gebrauchen, und früher war alles in Ordnung.“ Sie prügelten den Teufel das ganze Jahr. Das Jahr war herum, der Soldat kommt den Teufel ablösen. Der hat sogar die Seele vergessen: kaum hatte er ihn gesehen, warf er alles von sich. „Bleib mir vom Leibe“, sagt er, „mit eurem Soldatendienst! Wie haltet ihr das bloß aus?“ Und rannte davon.
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50 Der Hexenmeister In einem Zarenreich, in einem Staat lebte einmal ein Matrose; er diente dem Zaren in Treue, führte sich ordentlich, und deswegen kannten ihn auch die Vorgesetzten. Einmal bat er um Landurlaub, um ein wenig in der Stadt umherzugehen, zog seine Matrosenbluse an und ging in ein Gasthaus; setzte sich an den Tisch und verlangte Wein und etwas zu essen; ißt, trinkt, und läßt sich’s gut sein! Schon hat er für etwa zehn Rubel auffahren lassen, aber er gibt noch immer keine Ruhe: bald bestellt er das, bald etwas anderes. „Hör mal, Matrose“, sagt der Kellner zu ihm, „bestellen tust du viel, aber hast du auch genug zum Bezahlen?“ – „Ach, Bruderherz! Am Geld zweifelst du? Geld hab ich mehr als genug!“ Sogleich holte er ein Goldstück aus der Tasche, warf’s auf den Tisch und sagt: „Hier, zahlen!“ Der Kellner nahm das Goldstück, zog alles richtig ab und bringt ihm den Rest zurück. Aber der Matrose sagt zu ihm: „Nichts da zurück, Bruderherz! Behalt’s als Trinkgeld!“ Am anderen Tag bat der Matrose wieder um Urlaub, kehrte im gleichen Gasthaus ein und verjubelte noch ein Goldstück; am dritten Tag dasselbe, und er kam von nun an fast jeden Tag, bezahlte immer mit Goldstücken, nimmt aber 521
nichts zurück, sondern schenkt’s dem Kellner als Trinkgeld. Da wurde der Gastwirt selber aufmerksam auf ihn, und es kamen ihm Zweifel: „Was hat das zu bedeuten? Ein lumpiger Matrose – nichts Besonderes, aber mit dem Gelde wirft er um sich, Donnerwetter! Eine ganze Schatulle voll Gold hat er schon hergetragen!… Ihren Sold kenne ich, keine Angst – damit kann man keine großen Sprünge machen! Sicher hat er irgendwo die Staatskasse bestohlen; man muß den Vorgesetzten Meldung davon machen; will’s das Unglück, gerät man noch in eine so böse Geschichte hinein, daß man hinterher nicht mehr ein noch aus weiß und womöglich noch nach Sibirien kommt.“ Also erstattete der Gastwirt einem Offizier Meldung, und der brachte es bis vor den General. Der General ließ den Matrosen zu sich kommen: „Gib’s ehrlich zu“, sagt er, „wo hast du das Gold her?“ – „Ha, von diesem Gold gibt’s in jeder Müllgrube genug!“ – „Was erzählst du für Märchen?“ – „Keine, Euer Exzellenz! Nicht ich erzähle Märchen, sondern der Gastwirt; soll er doch mal das Gold zeigen, das er von mir bekommen hat!“ Sogleich wurde die Schatulle gebracht; sie machen sie auf, aber sie war mit lauter Knöpfen vollgestopft. „Wie denn das, mein Freund: Bezahlt hast du mit Gold, und jetzt liegen Knöpfe drin? Zeig, wie hast du das gemacht?“ – „Ach, Euer Exzellenz! Seht dort, unser letztes Stündlein ist gekommen…“ Sie sehen auf, da strömte durch Fenster und Türen das Wasser nur so herein; immer höher und höher, es reicht schon bis zum Hals. 522
„Herrgott! Was sollen wir jetzt tun? Wohin können wir uns retten?“ fragt erschrocken der General. Und der Matrose gibt zur Antwort: „Wenn Ihr nicht ertrinken wollt. Euer Exzellenz, dann kriecht mir in den Schornstein nach.“ Sie krochen also hinein, kletterten bis aufs Dach, stehen da und sehen nach allen Richtungen: die ganze Stadt unter Wasser! Eine solche Überschwemmung, daß an niedrigen Stellen überhaupt keine Häuser zu sehen sind; und das Wasser steigt und steigt. „Nun, mein Freund“, sagt der General, „da werden wir beide wohl nicht heil davonkommen!“ – „Weiß nicht; was sein soll, wird sein!“ – „Mein letztes Stündlein ist gekommen!“ denkt der General, steht da, ist gar nicht mehr er selbst und betet zu Gott. Auf einmal kommt irgendwoher eine Jolle vorbeigeschwommen, verfängt sich am Dach und bleibt an eben der Stelle stehen. „Euer Exzellenz“, sagt der Matrose, „steigt schnell in die Jolle, wir wollen abfahren; kann sein, wir kommen davon, vielleicht fällt das Wasser.“ Sie setzten sich beide in die Jolle, und der Wind trieb sie über das Wasser hin; sie treiben einen Tag, treiben einen zweiten, und am dritten begann das Wasser zu fallen, und zwar so schnell – wohin war es nur geraten? Ringsum wurde es trocken; sie stiegen aus der Jolle und fragten gute Menschen: Wie heißt das Land, und hat es sie weit getrieben? Es hatte sie aber durch dreimal neun Länder getrieben, ins dreimal zehnte Zarenreich; ein ganz fremdes, unbekanntes Volk. Was nun tun, wie wieder in die 523
Heimat kommen? Geld haben sie keinen Groschen bei sich, nichts, um sich fortzuhelfen. Der Matrose sagt: „Wir müssen uns als Knechte verdingen und etwas Geld zusammenkratzen; ohne das ist an eine Heimkehr nicht einmal zu denken.“ – „Das ist gut für dich, mein Freund! Du bist seit je an Arbeit gewöhnt, aber ich? Du weißt doch, daß ich General bin, zu arbeiten verstehe ich nicht.“ – „Macht nichts, ich werde eine Arbeit finden, bei der man nichts zu verstehen braucht.“ Sie machten sich auf ins Dorf und boten sich als Hirten an, – die Gemeinde war einverstanden und stellte sie für einen ganzen Sommer ein; der Matrose ging als Oberhirt, der General als Hirtenjunge. So hüteten sie immerhin bis zum Herbst das Vieh des Dorfes; danach sammelten sie von den Bauern ihr Geld ein und begannen zu teilen. Der Matrose teilte das Geld in zwei gleiche Hälften: wieviel für sich, soviel auch für den General. Wie der General sieht, daß der Matrose ihn sich gleichstellt, war er gekränkt und sagt: „Was stellst du mich denn dir gleich? Ich bin doch General, und du – immerhin nur einfacher Matrose!“ – „Sieh mal an! Ich müßte drei Teile machen: zwei mir nehmen, und für Euch ist einer genug: denn ich war ein richtiger Hirte, Ihr aber – der Hirtenjunge.“ Der General wurde böse und fing an, den Matrosen auf jede erdenkliche Weise zu beschimpfen; der Matrose aber hielt an sich und nochmal an sich, dann holte er aus und stieß ihm die Faust in die Seite: „Kommt zu Euch, Euer Exzellenz!“ Der General kam zu sich und sieht: alles 524
ist wie vorher; wie er in seinem Zimmer gewesen war, so hatte er es auch nicht verlassen! Er spürte kein Verlangen mehr, den Matrosen zu richten, entließ ihn, und der Gastwirt stand mit leeren Händen da.
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51 Der Soldat im Jenseits In vergangenen Zeiten nämlich dienten die Soldaten fünfundzwanzig Jahre. Es ging einer als Junger fort und kam erst als Alter wieder. Nun, wie man so sagt, in fünfundzwanzig Jahren hat der Soldat mancherlei gelernt und nicht wenig hinter sich gebracht. Und nun kommt also für ihn die Zeit, nach Hause zu gehen. Da sagt der Offizier zum Soldaten: „Du hast dem Zaren treu gedient“, sagt er, „und jetzt ist die Zeit herum, und es ist Befehl, dich nach Hause zu entlassen. Der Kaiser gibt dir einen leeren Brotbeutel und fünfundzwanzig Kopeken Reisegeld.“ Der Soldat denkt bei sich: „Nun, da habe ich also in fünfundzwanzig Jahren fünfundzwanzig Kopeken und einen leeren Brotbeutel verdient. Was werde ich nun unterwegs anfangen? Ich werde um Gotteslohn betteln müssen.“ Nun, als der Soldat seine Papiere schon bekommen hatte, die fünfundzwanzig Kopeken und einen alten, uralten Brotbeutel, nur noch zum Wegwerfen, nun, auch das ist ein Verdienst, hing er ihn kurzerhand um, legte zweimal Wäsche in seinen Tornister und machte sich auf den Weg. Er geht einen Tag, geht zwei, geht drei – da ist er mit allem am Ende und hat auch das Geld ausgegeben. Was ist das schon 526
für Geld? Er hat Tabak gekauft, Seife, und damit Schluß. „Was soll ich jetzt anfangen?“ denkt er. „Bis nach Hause ist es noch weit.“ Früher gab es keine Züge und auch keine Autos – nichts. Nun, er mußte also zu Fuß gehen, zu Fuß aber sind es mindestens an die sechs Monate bis nach Hause. Der Soldat dachte nach und dachte nach und denkt: „Ein lebender Mensch geht nicht unter, ich werde schön langsam gehen.“ Hier und da erbettelt er einen Bissen, geht eine Woche, geht eine zweite, gelangt so in ein Dorf und kommt in eine Hütte. Dort ist ein alter Mann und eine alte Frau. Er sagt: „Großväterchen“, sagt er, „laß mich bitte übernachten!“ „Och“, sagt er, „bitte, bitte, mein Bester, übernachte!“ Der Soldat nahm den Brotbeutel und den leeren Tornister ab. – Und nun setzte er sich also hin, um sich mit dem Alten und der Alten zu unterhalten, sie aßen zu Abend, und er legte sich auf den Hängeboden schlafen. Der Alte aber wurde in der Nacht munter, und es kam ihm in den Sinn, einmal nachzusehen, was der Soldat in Brotbeutel und Tornister hat. Er macht den Tornister auf, sieht hinein – leer. „Hm“, denkt er, „was ißt er denn?“ Er begann den leeren Brotbeutel zu öffnen. Und kaum hatte er ihn offen, da sprang plötzlich ein Teufelchen heraus. „Was mußt du mich behelligen, Alter?“ sagt es. „Mich“, sagt es, „behelligt mein Herr nicht, wieviele Tage und wieviele Wochen er schon unterwegs 527
ist, und du“, sagt er, „hergelaufener Kerl, behelligst mich!“ Nun, unser Alter machte den Brotbeutel wieder zu, legte sich schlafen und spricht ein Gebet. „Nein so was“, sagt er, „Herrgott, der Soldat hat mit dem Teufel Umgang.“ Nun, am Morgen also wird der Soldat munter, steht auf, wäscht sich, geht, wie er’s gewöhnt ist, zum Heiligenbild und betet zu Gott. Der Alte sieht, daß der Soldat nach Christenart sein Morgengebet spricht. Er fragt den Soldaten: „Soldat?“ „Was, Großväterchen?“ „Was hast du in dem Brotbeutel?“ „Nichts“, sagt er, „Großväterchen. Der Brotbeutel ist leer.“ „Ach, du lügst, Soldat, in deinem Brotbeutel ist der Teufel.“ Da erriet der Soldat, was los war. „Nun“, sagt er, „das hat dir nur geträumt.“ „Ich weiß nicht“, sagt er, „aber ich habe den Teufel genau gesehen.“ Da hatte die Alte Pfannkuchen gebacken und setzte den Soldaten an den Tisch. Er aß, warf Tornister und Brotbeutel über und machte sich auf den Weg. Nun, er war etwas gegangen, da überraschte ihn die Nacht. Er versuchte nicht erst, ein Dorf zu erreichen, sondern blieb über Nacht im Wald. Als er über Nacht im Wald war, kam ihm in den Sinn, den Brotbeutel zu öffnen und sich zu überzeugen, ob es mit dieser Geschichte seine Richtigkeit hatte oder nicht. Als er 528
den Brotbeutel geöffnet hatte, sprang das Teufelchen heraus und sagt: „Nun höre, Soldat, du bist mein Herr, und ich bin dein Diener. Was möchtest du jetzt haben?“ Der Soldat sagt: „Bring mir irgend etwas zu essen!“ Das Teufelchen schoß sogleich wie eine Kugel ins Dorf, beschaffte ihm Brot, beschaffte Fleisch, einen Topf, einen Löffel und alles, was sonst noch dazugehört. Der Soldat machte schnell ein Feuer und beginnt das Fleisch zu kochen. Als das Fleisch gekocht war, sagt er: „Nun, Teufelchen, komm, setz dich und iß!“ Das Teufelchen setzte sich, und die beiden aßen. Der Soldat machte den Brotbeutel zu, und das Teufelchen legte sich hinein. Jetzt, in aller Herrgottsfrühe, macht der Soldat den Brotbeutel auf, und das Teufelchen kam herausgesprungen. „Was steht zu Diensten, Soldat?“ „Höre, Teufelchen“, sagt er, „ich habe mich müde gelaufen, ich brauche ein Pferd.“ „Schön“, sagt es, „das Pferd wird sofort da sein.“ Er ging zum Pfarrer, stahl ein Pferd mit Sattel und bringt’s zum Soldaten: „Steig auf, Soldat!“ Der Soldat stieg auf, umritt auf einem anderen Wege dieses Dorf und reitet gemächlich seine Straße. Ritten sie nun lange oder kurze Zeit, jedenfalls machten sie schließlich halt, und er sagt zum Teufelchen: „Teufelchen, Teufelchen, ich hätte Lust, in jener Welt zu sein und ins Paradies zu kommen.“ 529
Als das Teufelchen diese Worte hörte: „Nun, warum nicht“, sagt es, „wenn du Lust hast, wirst du gleich dort sein. Setz dich auf mich!“ sagt es. Der Soldat setzte sich auf den Teufel, der Teufel stieg zum Himmel empor und sagt: „Dort“, sagt er, „geh zu diesem Tor, dort steht der Erzengel, sag ihm, daß deine Seele ins Paradies will.“ Nun, er kommt also ans Tor, da steht der Erzengel. Der Soldat sagt: „Höre, Erzengel, meine Seele will ins Paradies!“ Das Tor wurde natürlich aufgemacht, und der Soldat betritt das Paradies. Sieht, dort ist es sehr schön, einfach großartig – Blumen, verschiedene Früchte. Nun, fürs erste gefiel es dem Soldaten. Wie schön ist es doch im Paradies! Als er sich aber zwei, drei Tage dort aufgehalten hatte, war es ihm dort so zuwider, daß er dieses Paradies schon nicht einmal mehr ansehen mochte. Er setzte sich also auf eine Bank und denkt: ja, lustig und schön ist’s hier, aber eines ist schlecht – keine Wirtshäuser sind hier und kein Tabak. Er dachte nach und dachte nach und sagt: „Warte!“ Nimmt seine Schnüre ab und beginnt den Platz zu vermessen. Da kommt der Engel zu ihm: „Was willst du machen, Soldat?“ sagt er. „Ach“, sagt er, „in eurem Reich ist es zwar sehr schön und lustig, aber“, sagt er, „ich möchte noch etwas Lustigkeit hinzufügen: an dieser Stelle will
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ich Tabak säen, und an dieser Stelle ein Wirtshaus bauen.“ „Oh, Soldat, wenn das der Herrgott hört, jagt er dich aus dem Paradies.“ Nun, der Soldat ließ sich natürlich nicht beirren und begann Bäume zu fällen; er versteht zu bauen. Der Erzengel hatte ihn eingelassen und muß dem Herrgott darüber Meldung machen. Er geht also und sagt: „Herr“, sagt er, „ich habe einen Soldaten ins Paradies aufgenommen, und dem“, sagt er, „hat es wahrscheinlich nicht gefallen in unserem Paradies, er hat angefangen, ein Wirtshaus zu bauen, und hat Tabak gesät.“ Gott wurde natürlich böse. „Hinaus mit ihm aus dem Paradies“, sagt er, „und das Tor verschließen!“ Der Soldat ging auf der Stelle aus dem Paradies. Jetzt, da er das Paradies verlassen hat und sich – ich weiß nicht wo – befindet, denkt er: warum ist’s mir im Paradies nicht gut genug gewesen, wohin soll ich jetzt gehen!? Da ist schon das Teufelchen mit seinem Tornister zur Stelle, setzt ihn wieder auf und sagt: „Nun, Soldat, so in Gedanken?“ Jetzt, nachdem das Teufelchen ihm den Tornister wieder aufgesetzt hat, sagt es zu ihm: „Willst du vielleicht in die Hölle, Soldat?“ Der Soldat erschrak zwar vor der Hölle, aber immerhin ist es doch interessant, sich auch die Hölle mal anzusehen. „Ich will“, sagt er. „Nun, dann komm mit!“ 531
Nun, als sie am Höllentor waren, stürzte das Teufelchen zum Satan: „Herr“, sagt er, „Satan, ich habe einen Soldaten in die Hölle gebracht!“ „Nun“, sagt der, „bring ihn mir mal her!“ Nun, der Soldat wurde gebracht. Satan besah ihn sich von allen Seiten. „Na schön, führ ihn hinein!“ Das Teufelchen führt ihn in die Hölle. Der Soldat geht und sieht: manche sind an der Zunge aufgehangen, andere kochen in einem Kessel. Dem Soldaten wurde ängstlich zumute: och, denkt er, wenn ich nur nicht auf einem heißen Brattiegel tanzen muß. Nun, schön. Er sagt zu dem Teufelchen: „Nun, hör mal. Teufelchen, ruf sofort alle Teufel zusammen!“ Alle Teufel sind jetzt versammelt. Der Soldat sagt also zu den Teufeln: „Nun“, sagt er, „seid ihr meine Untergebenen, und ich bin euer Vorgesetzter.“ Er stellte alle Teufel in Reih und Glied auf und sagt: „Ich werde euch jetzt Kommandos geben, und ihr führt sie aus.“ Die Teufel waren hiermit einverstanden. Da kommandierte er: „Rechts – um!“ Sie drehen sich nicht nach rechts um. Der Soldat ergriff einen Knüppel und begann, sie mit diesem Knüppel zu bearbeiten.
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„Was fällt euch ein“, sagt er, „das Wort des Kommandeurs nicht zu beachten und dem Kommando nicht zu gehorchen!“ Die Teufel heulten auf. Das Teufelchen kam zu ihm gesprungen: „Höre“, sagt es, „Soldat, hör auf, sie zu schlagen, sie werden sich nicht nach rechts drehen, sie können es gar nicht; gib ihnen das Kommando ,Linksum!’“ Er gab ihnen das Kommando „Links – um!“ Sie drehten sich, er kommandierte: „Im Gleichschritt Marsch!“ und begann sie zu jagen. Jagte und jagte sie also; sie waren schon so matt, daß sie den Soldaten zu betteln begannen: „Soldat, entlaß uns, wir sind sehr müde!“ „Nun, schön“, sagt er, „geht und ruht euch bis morgen früh aus!“ Jetzt brachte der Soldat noch einige Tage in dieser Hölle zu, sah sich alles an und überlegte, wie er die Menschen von solcher Qual befreien könnte. Da begann er, die Teufel jeden Tag zu jagen. Und dann sagt er zu ihnen: „Nun, wie steht’s, gefällt euch das?“ „Ach, Soldat, wir haben das alles über.“ „Dann will ich euch mal was sagen.“ „Sprich!“ „Und ihr werdet’s ausführen?“ „Ja, nur jag uns nicht mehr!“ „Geht also zum Satan und sagt, der Soldat bittet den Satan, alle Sünder aus der Hölle freizulassen. Dann werde ich euch nicht mehr jagen. Wenn er aber“, sagt er, „das nicht ausführt, dann“, sagt 533
er, „werde ich eure Gegend, die ganze Hölle, auf der Stelle weihen“, sagt er, „und hier eine Kirche bauen.“ Sprach’s und schickte die Teufel fort. Die Teufel rennen einer schneller als der andere zum Satan. Kommen hin und sagen: „Oj, Satan, Satan“, sagen sie, „was für ein Soldat ist zu uns geraten, niemandem“, sagen sie, „gönnt er Ruhe. Wir sind gekommen“, sagen sie, „dich zu bitten, alle Sünder aus der Hölle freizulassen.“ Der Satan sagt: „Das“, sagt er, „kann ich nicht machen, wer bleibt denn dann noch bei uns?“ Da sagen die Teufel zu ihm: „Dann will er“, sagen sie, „unsere Hölle weihen und eine Kirche bauen.“ Der Satan, versteht sich, erschrak. „Schön“, sagt er, „mag er alle seine Leute mitnehmen und von hier fortführen.“ Als der Soldat also diese Anweisung erhalten hatte, machte er das Höllentor auf und beginnt zu rufen: „Das ganze sündige Volk, ‘raustreten aus der Hölle!“ Nun, das gab ein Gedränge, einer stößt den anderen, und sie freuten sich, daß man sie aus der Hölle entließ. Alle bis auf den letzten Mann gingen aus der Hölle. Die Hölle war leer geworden. Nun, jetzt hatte der Soldat die Hölle verlassen und hatte das Paradies verlassen. Was sollte er jetzt tun? Er setzte sich hin und überlegte: wie kann ich auf 534
die Erde und nach Hause kommen? Er überlegte und überlegte und ging dann zum Satan. „Satan“, sagt er, „wie könnte ich wohl auf die Erde kommen, – ich möchte“, sagt er, „gern mal nach Hause.“ Der Satan sagt zu ihm: „Du hast mir“, sagt er, „keinen einzigen Menschen in der Hölle gelassen. Gib mir wenigstens ein paar“, sagt er, „dann schicke ich dich auf die Erde.“ Der Soldat überlegte: jeder einzelne tut ihm leid, jeder einzelne ist ihm teuer. Jetzt setzte er sich hin und denkt nach. Da sieht er auf einmal einen Mönch kommen, und hinter ihm kommt ein Pope. „Das freilich“, sagt er, „sind überflüssige Menschen!“ Er stellte alle in Reih und Glied auf und schickte sie in die Hölle. Der Satan freute sich auch hierüber, sandte das Teufelchen zu ihm, und das schickte ihn auf die Erde und nach Hause. Der Soldat lebte von nun an herrlich und in Freuden. Die Popen und Mönche nämlich konnte er nicht leiden.
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52 Der Schmied und der Teufel Wenn ein Schmied an den Frischfeuern arbeitete, sich vierzehn Stunden lang abgeschunden und am Feuer gestanden hatte und ganz mit schwarzem Ruß beschmiert war, sah er wirklich dem Teufel ähnlich. Nun, und was wollte ein Schmied danach anfangen, wohin konnte man gehen außer ins Wirtshaus? Und wer trank schon nicht? Damals trank jeder. Kam der Schmied ins Wirtshaus, betrank er sich auf Kredit und fing an zu krakeelen. Dann packte ihn der Wirt am Kragen und setzte ihn auf die Straße: „Geh, dreckiger Teufel!“ Und er kreidete ihm einen halben Rubel zuviel an. Der Schmied ging nach Hause. Elend war ihm zumute, und er zog, wie es ihm gerade einfiel, über die Aufseher, den Fabrikherrn, das Wirtshaus, alle Teufel, nun, mit einem Wort: über alle her, die ihm das Blut aus den Adern sogen. Es hat viele „Geschichtchen“ über dieses Leben gegeben. Erzählen durfte man sie ja nicht: wollte’s das Unglück, dann hörte es irgendein Schweinehund und hinterbrachte es dem Aufseher. Dann konnte man sehen, wie man die Sache wieder in Ordnung brachte. 536
An eine erinnre ich mich vielleicht noch so einigermaßen, habe nur dieses oder jenes Wort vergessen. Einmal hatten sie einen Schmied aus dem Wirtshaus geworfen. „Geh, Teufel, Leuteschreck!“ Der Schmied ging die Straße entlang, geht und denkt bei sich: „Der Teufel bin ich zwar nicht, wäre aber mit größtem Vergnügen bereit, der Teufel zu sein und in der Hölle zu leben. Soll doch der Teufel mal an meiner Stelle leben und erfahren, wie es uns geht.“ Der Teufel aber ist bekanntlich der Teufel. Du sprichst von ihm, und er ist gleich zur Stelle. Er hörte, wie der Schmied den Teufel im Munde führte, und denkt: „Warte, mein Freund, du kennst anscheinend mein Leben nicht; ich werde dich mal in die Hölle führen, du wirst daran denken!“ Der Teufel kommt zum Schmied und sagt: „Sei gegrüßt, Schmied, ich habe dich schon lange mal besuchen wollen!“ „Wer bist du denn?“ fragt der Schmied. Der Teufel ringelte seinen Schwanz, zwinkerte mit dem Auge und sagt: „Erkennst mich nicht, was? Du wolltest doch mit mir tauschen. Ich bin der Teufel in eigener Person.“ Auf den Schmied machte das keinen Eindruck – der Teufel, dann eben der Teufel. Der Schmied liebte es nicht, lange Reden zu halten, und sagt: „Los, tauschen wir: ich gehe zu dir, das heißt in die Hölle, und du zu mir – an die Frischfeuer. Bei dir ist’s besser!“ 537
Der Teufel sagt:. „Du warst noch nicht in der Hölle, hast den Tod noch nicht kennengelernt, deswegen sprichst du so.“ Mit einem Wort, der Teufel beharrte auf seinem Standpunkt, der Schmied auf seinem. Da wurde der Teufel böse auf den Schmied wegen seiner Querköpfigkeit und zerrte ihn in die Hölle: ihm die Gefolterten und die Sünder zu zeigen, die in den Pechkesseln sieden. Sie kamen in die Hölle, und der Teufel führte den Schmied durch die Feuerhölle, zeigt ihm alles und denkt, daß der Schmied sich entsetzt und umkehrt; der Schmied aber bleibt völlig gelassen und fühlt sich wie zu Hause. „Für manchen die Hölle, für mich ein Paradies“, sagt er. Sie gingen und gingen, und der Teufel fragt den Schmied: „Nun, wie ist’s… schrecklich? Siehst du die Sünder, wie sie leben – in Pechkesseln sieden?“ Da wurde der Schmied böse und sagt zum Teufel: „Mach’s mit deiner Mutter“, das heißt mit der Teufelsmutter, „und erzähle mir keine Märchen. Komm mit, ich will dir eine Hölle zeigen. Etwas Reelles, während wir hier nur die Zeit vergeuden, und es kommt nichts heraus dabei.“ Der Schmied schleppte den Teufel zu den Frischfeuern. Sie kommen also hin. Gehen durch die Herdhalle, in der ist aber schwarze Nacht vor Staub und Ruß: hundert Frischfeuer brennen; vierhundert Hämmer dröhnen. Die Arbeiter gehen
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umher, haben Gesichter, wie nicht anders zu erwarten – keine Haut auf dem Gesicht. Der Schmied geht voran, der Teufel hinterher. Da begannen sie gerade, die Frischstücke einzubringen und dem Meister auf der Schaufel zu reichen. Die Funken sprühten aus den Augen, der Teufel kriegt schon keine Luft mehr. Da geschieht vollends ein Unglück: der Fabrikherr hatte den Schmied gesehen und schrie: „Was spazierst du untätig herum, du Teufel, ich werde dir die Fresse einschlagen!“ Der Teufel erschrak und fragt den Schmied: „Was macht der hier, he?“ „Die Fressen will er allen einschlagen, und dir wird er sie auch einschlagen“, sagte der Schmied und wollte dabei einen Blick auf den Teufel werfen. Kaum hatte er über die Schulter geschielt, da machte der Teufel schon kehrt, um zu verschwinden. Da sagt der Schmied zum Teufel: „Wohin willst du, Teufel, das ist noch nicht alles – du solltest dir wenigstens einmal ansehen, wie’s der Fabrikherr uns heimzahlen wird. Lerne“, sagt er, „wie man mit den Sündern in der Hölle umgehen muß!“ „Nein“, sagt der Teufel, schlug mit seinem Schwanz einen Kreis und war nicht mehr zu sehen. Der Schmied aber dachte noch lange daran, wie er den Teufel zu den Frischherden geführt hatte, und schwor sich, mit Teufeln kein Wort mehr zu wechseln. 539
53 Vom Hammerschmied und dem Teufel In Bilimbai in der Fabrik hat der Mann gearbeitet, von dem ich erzählen will. Sah man ihn an – ein ganz gewöhnlicher Mensch, aber er war der beste Meister. Wo war er nicht überall gewesen: am Hochofen hatte er gearbeitet, am Frischeisenhammer hatte er gestanden. Besser als er konnte keiner das Frischeisen packen; und was ganz seltsam war – er hatte dauernd mit Feuer zu tun, aber im Gesicht hatte er auch nicht einen einzigen Fleck. Kein Zweifel, er verkehrte mit dem Teufel. So sagten die Leute. Dann ging er weg von der Fabrik – wurde entlassen. Wieder eine unklare Sache. Er war ein Mann in vollem Saft, unverbraucht, aber er wurde entlassen. Wieder eine unsaubere Sache. Und was denkt ihr? Er befaßte sich mit der Goldsucherei, fand eine reiche Stelle, wo – das sagte er nicht. Kehrte zurück und ging wieder auf Arbeit. Baute sich ein Häuschen – ein schönes, von zwei Stockwerken. Mit seiner Frau lebte er einträchtig, gut lebte er. Einen Sohn hatte er, der arbeitete als Schmied in der Fabrik. So ein Kräftiger, Lustiger. Bei Prügeleien der erste. Den Vater liebten die Arbeiter nicht, hinter dem Sohn aber standen sie; wenn nötig, deckten sie ihn sogar gegenüber den 540
Vorgesetzten. Der Sohn war nicht abgeneigt, eine halbe Flasche oder ein Achtel auszutrinken, der Vater aber – um nichts in der Welt ging er auch nur in ein Wirtshaus. Und daß er einmal den Teufel erwähnt hätte – Gott behüte! Ein komischer Kerl. Sagte ihm einer: „Mach’s mit des Teufels Mutter“, antwortete er: „Das würde ich gern, aber sie läßt mich nicht zu sich. Sie ist eine hochgeborene Frau.“ Er war schon hoch in den Jahren, da stellten sie den Alten an den Wasserhammer. Die Leute wurden aufmerksam. Am Feiertag deckte er das Rad zu, aber der Hammer geht von selber. Verständlich, „Er“ arbeitete für ihn. So kam es auch heraus. Der Alte hatte in seinem neuen Hause, das er von seiner Goldsucherei gebaut hatte, einen Teufel an die Wand gemalt, einen ganz richtigen: kleine Hörner, Hufe an den Füßen und ein Schwänzchen – alles wie es sich gehört. Und jeden Tag, wenn der Meister auf Arbeit ging, holte er sein ganzes Werkzeug zusammen und vergaß nicht – trat vor den Teufel, vor den, der an der Wand war, verneigte sich und schwang den Hammer. So ging das die ganze Zeit. Als der Alte völlig von Kräften gekommen war, ruft er seinen Sohn und sagte zu ihm: „Es ist wohl jetzt die Zeit zu sterben für mich gekommen – so höre, mein lieber Sohn; viel zu sagen habe ich dir nicht, eines nur bitte ich dich: Wenn ich gestorben bin, vergiß nicht das Väterchen Teufel; ehe du auf Arbeit gehst, verneige 541
dich vor ihm und schwinge den Hammer. Ohne das wirst du im Leben kein Glück haben.“ Der Sohn sieht – der Alte ist schon im Hinscheiden. Er wollte dem Alten Achtung erweisen und versprach ihm, den Teufel nicht zu vergessen. Damit starb der Alte. Seit jener Zeit, wenn der Sohn dieses Meisters auf Arbeit ging, nahm er sein Werkzeug zusammen, ging an dem Teufel vorbei, gab ihm eins mit dem Hammer in die Fratze und ging. So wurde jene Stelle an der Wand mit jedem Mal mehr abgeschlagen. Eines Tages hatte er dem Teufel an der Wand eins mit dem Hammer versetzt, da war an der Stelle ein Loch in der Mauer – an der Stelle des Portraits. Aus dem Loch kam der Teufel heraus. „So und so“, sagt er, „weswegen peinigst du mich so? Erweist mir keine Achtung? Ich werde dir dafür kein Glück geben. Dein ganzes Leben wirst du Not leiden!“ Der Meister aber lacht den Teufel aus. „Nichts kannst du“, sagt er. „Das ist alles leeres Gerede!“ Der Teufel sagt ihm seines; er dem Teufel seines. So stritten sie. „Ehe du herumstreitest“, sagt der Meister, „mach das, was ich nicht machen kann, dann will ich dir glauben. Siehst du dort die Alte mit dem Stock humpeln? Mach, daß sie wie eine Junge rennt!“ Der Teufel ist gleich bereit. Er sammelt schnell Kräuter, kocht eine Suppe, gibt sie der Alten zu trinken und so weiter.
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Die Alte trank’s aus, klatschte in die Hände, warf den Stock beiseite und rannte los. Der Teufel frohlockte: „Nun, wie ist’s – glaubst du jetzt, daß ich alles kann?“ Der Meister schüttelte den Kopf: „Die hat von deiner Suppe das Laufen gekriegt. So etwas bringe ich auch zustande. Ich will dir etwas zu trinken geben, und du wirst rennen. Und wenn du auch nicht willst. Aber mache jetzt, daß unser Gastwirt mir Bücklinge machen kommt und um ein Stück Brot bittet.“ Der Teufel hörte nicht zu Ende und rannte davon. Am Morgen, kaum daß der Meister auf die Straße getreten war, sagen sie ihm, daß der Gastwirt völlig zum Bettler geworden ist. „Alle Habe, die er besaß, ist hin. Sie haben den Wirt ratzekahl ausgeplündert. In seinem Wirtshaus ist eine Prügelei angefangen worden, und sie haben eine Suppe eingerührt, daß Gott behüte! Während er hierhin und dorthin rannte und die Obrigkeit zusammenrief, haben sie ihn so ausgeplündert, daß nur die nackten Wände übrig geblieben sind. Alles haben sie fortgetragen. Und wer – weiß man nicht, haben sie nicht herausbekommen.“ Der Meister brach in Lachen aus und sagt zum Teufel: „Mach mir keinen blauen Dunst vor, im Prügeln bin ich auch Meister, und nicht der letzte, und einen solchen Hundsfott auszuplündern finden sich immer viele bereit. Ein solches Wunder kann ich auch vollbringen und ohne den Teufel. Aber bring es fertig, aus unserem Herrn“, dem Fabrik543
herrn nämlich, aus Bilimbai, „einen Menschen zu machen – dann will ich dir glauben.“ Dem Teufel wurde etwas flau, er begann zu winseln und rannte los. Lange machte er sich am Herrenhaus zu schaffen, versuchte alle Teufelskunststückchen – ohne Erfolg. Er kam zu dem Meister zurück und ließ den Schwanz hängen. „Nein“, sagt er, „ich will tun, was du willst; aber aus eurem Herrn einen Menschen machen kann ich nicht.“ Und damit verschwand er.
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54 Die Sorge In einem kleinen Dorf lebten einmal zwei Bauern, zwei leibliche Brüder; der eine war arm, der andere reich. Der reiche zog in die Stadt, baute sich ein großes Haus und wurde ein Kaufmann; der arme aber hat bisweilen nicht einmal ein Stück Brot, und seine Kinder – eines kleiner als das andere – weinen und betteln um etwas zu essen. Es geht ihm wie den Fischen unter der Eisdecke: vom Morgen bis zum Abend plagt er sich nach oben zu kommen, aber immer vergebens. Einmal sagt er zu seiner Frau: „Ich will doch in die Stadt gehen und den Bruder bitten, ob er uns nicht ein wenig helfen will.“ Er kam zu dem Reichen: „Ach, lieber Bruder! Hilf mir ein wenig in meiner Not: Weib und Kinder sitzen ohne Brot und haben tagelang nichts zu essen!“ – „Arbeite diese Woche bei mir, dann will ich dir helfen.“ Was tun? Der Arme machte sich an die Arbeit, fegt den Hof, striegelt die Pferde, fährt Wasser und hackt Holz. Nach einer Woche gibt ihm der Reiche einen Laib Brot. „Hier, das ist für deine Arbeit!“ – „Auch dafür Dank!“ sagte der Arme, verneigte sich und wollte schon nach Hause gehen. „Warte noch! Besuche mich doch morgen mal und bring deine Frau mit: morgen ist doch mein Namenstag.“ – „Ach, Brüderchen, was soll ich da? Du weißt ja 545
selbst: zu dir kommen Kaufherren in Lederstiefeln und Pelzen, ich aber gehe in Bastschuhen und einem schäbigen grauen Rock.“ – „Das macht nichts, komm nur! Auch für dich wird Platz sein.“ – „Gut, Brüderchen, ich werde kommen!“ Der Arme kam nach Hause, gab seiner Frau den Laib Brot und sagt: „Höre, Weib! Für morgen sind wir beide eingeladen.“ – „Was heißt eingeladen? Von wem?“ – „Von meinem Bruder. Er hat morgen Namenstag.“ – „Warum nicht, gehen wir!“ Am Morgen standen sie auf und gingen in die Stadt, kamen zum Reichen, wünschten ihm Glück und Gesundheit und setzten sich auf eine Bank. Am Tisch saßen schon viele vornehme Gäste; der Hausherr bewirtet sie aufs beste, seinen armen Bruder aber und seine Frau hat er völlig vergessen – gibt ihnen nichts; sie sitzen da und sehen nur zu, wie die anderen trinken und essen. Das Mahl war zu Ende; die Gäste kamen hinter dem Tisch hervor und bedankten sich beim Hausherrn und der Hausfrau, und der Arme gleichfalls – stand auf von seiner Bank und verneigt sich vor dem Bruder bis zum Gürtel. Die Gäste machten sich betrunken auf die Heimfahrt, sind lustig, lärmen und singen Lieder. Der Arme aber geht mit leerem Magen zurück. „Komm“, sagt er zu seiner Frau, „auch wir wollen ein Lied singen!“ – „Ach du Dummkopf! Die anderen singen, weil sie gut gegessen und viel getrunken haben; und was hast du für Grund zu singen?“ – „Nun, immerhin bin ich bei meinem Bruder zum Namenstag gewesen; ich schäme mich, ohne ein Lied nach Hause zu 546
gehen. Wenn ich singe, wird jeder denken, ich bin auch bewirtet worden…“ – „Dann singe, wenn du willst; ich tue nicht mit!“ Der Bauer stimmte ein Lied an, da schien ihm, er hört zwei Stimmen. Er hört auf und fragt seine Frau: „Hast du eben leise mitgesungen?“ – „Was fällt dir ein? Nicht einmal in Gedanken!“ – „Ja, wer denn dann?“ – „Ich weiß nicht“, sagte die Frau. „Sing mal weiter, ich will aufpassen!“ Er fing wieder zu singen an; singt allein, und doch hört man zwei Stimmen; er blieb stehen und fragt: „Bist du es, Sorge, die mitsingt?“ Die Sorge ließ sich vernehmen: „Ja, Bauer! Ich bin es, die mitsingt.“ – „Nun, Sorge, dann wollen wir zusammengehen!“ – „Gehen wir, Bauer! Ich weiche jetzt nicht mehr von dir.“ Der Bauer kam nach Hause, da ruft ihn die Sorge ins Wirtshaus. Er sagt: „Ich habe kein Geld!“ – „Ach du einfältiger Bauer! Wozu brauchst du denn Geld? Sieh doch, du hast einen Schafspelz an, und wozu ist der nütze? Bald ist Sommer, dann trägst du ihn sowieso nicht mehr! Komm, wir gehen ins Wirtshaus und lassen den Schafspelz dort…“ Bauer und Sorge gingen ins Wirtshaus und vertranken den Schafspelz. Am anderen Tage jammerte die Sorge, vom Rausch tut ihr der Kopf weh, und wieder ruft sie den Bauern zum Branntwein. „Kein Geld“, sagt der Bauer. „Aber wozu brauchen wir Geld? Nimm Schlitten und Wagen, das reicht für uns!“ Es ist nichts zu machen, der Bauer kann die Sorge nicht loswerden: er nahm Schlitten und Wagen, zog sie zum Wirtshaus und vertrank sie zusammen mit der Sorge. Am Morgen jammerte 547
die Sorge noch mehr und ruft den Bauern zu einem Katertrunk, der Bauer vertrank auch Egge und Pflug. Noch war kein Monat vergangen, da hatte er alles durchgebracht: sogar seine Hütte hatte er dem Nachbarn verpfändet und das Geld ins Wirtshaus getragen. Die Sorge macht sich wieder an ihn heran: „Komm mit, komm mit ins Wirtshaus!“ – „Nein, Sorge, mach was du willst, aber ich habe nichts mehr, was ich forttragen kann.“ – „Was heißt nichts? Deine Frau hat zwei Sarafane: einen läßt du ihr, der andere aber muß vertrunken sein!“ Der Bauer nahm den Sarafan, vertrank ihn und denkt: „Jetzt ist gar nichts mehr da. Weder Haus noch Hof, weder Schafspelz noch Sarafan!“ Am Morgen wachte die Sorge auf, sieht, daß beim Bauern nichts mehr zu holen ist, und sagt: „Bauer!“ – „Was, Sorge?“ – „Hör zu: Geh zum Nachbarn und bitte ihn um Ochsen und Wagen.“ Der Bauer ging zum Nachbarn und bittet: „Gib mir für eine Weile ein Paar Ochsen und einen Wagen: ich will dafür, wenn’s sein muß, eine ganze Woche für dich arbeiten!“ – „Was willst du damit?“ – „In den Wald nach Holz fahren!“ – „Dann nimm; aber lade nicht zu schwer auf!“ – „Wie kannst du das nur denken, mein Ernährer!“ Er brachte das Ochsengespann an, setzte sich zusammen mit der Sorge auf den Wagen und fuhr aufs freie Feld. „Bauer“, fragt die Sorge, „kennst du auf diesem Felde den großen Stein?“ – „Wie sollte ich ihn nicht kennen!“ – „Wenn du ihn also kennst, dann fahr geradewegs zu ihm!“ Sie kamen an die Stel548
le, hielten an und kletterten vom Wagen. Die Sorge befiehlt dem Bauern, den Stein hochzuheben; der Bauer hebt an, die Sorge faßt mit zu; jetzt haben sie ihn oben, unter dem Stein aber ist eine Grube ganz voll Gold. „Nun, was guckst du?“ sagt die Sorge zum Bauern, „trag’s nur schnell auf den Wagen!“ Der Bauer machte sich an die Arbeit und schüttete das Gold auf den Wagen, auch den letzten Dukaten holte er aus der Grube heraus; sieht, daß nichts mehr darin ist, und sagt: „Sieh doch einmal nach, Sorge, ist wirklich kein Geld mehr dringeblieben?“ Die Sorge beugte sich vor: „Wo? Ich kann nichts sehen!“ – „Dort hinten in der Ecke glänzt etwas!“ – „Nein, ich sehe nichts!“ – „Klettere in die Grube, dann wirst du’s sehen!“ Die Sorge kletterte in die Grube; kaum war sie unten, da wälzte der Bauer den Stein darauf. „So wird’s besser sein!“ sagte der Bauer. „Nehme ich dich mit, bittere Sorge, dann vertrinkst du, wenn auch nicht so bald, sogar dieses Geld!“ Der Bauer kam nach Hause, schüttete das Geld in den Keller, brachte dem Nachbarn die Ochsen zurück und überlegte, wie er sein Leben einrichten könnte; er kaufte Holz, baute sich ein großes Haus und lebte zweimal so reich wie sein Bruder. War nun lange oder kurze Zeit vergangen, – jedenfalls fuhr er in die Stadt, den Bruder mit seiner Frau zum Namenstag einzuladen. „Da hast du was Rechtes ausgedacht!“ sagte der reiche Bruder zu ihm. „Hast selber nichts zu essen und willst noch Namenstag feiern!“ – „Nun, es gab eine Zeit, da 549
hatte ich nichts zu essen, aber jetzt – Gott sei’s gedankt! Ich habe nicht weniger als du; komm nur und sieh selbst!“ – „Nun gut, ich komme!“ Am andern Tag machte sich der reiche Bruder mit seiner Frau auf den Weg und fuhr zum Namenstag; da sehen sie: der arme Habenichts hat ein neues Haus, hoch, wie mancher Kaufmann es nicht besitzt! Der Bauer lud sie an seinen Tisch, bewirtete sie mit allen erdenklichen Leckerbissen und gab ihnen alle erdenklichen süßen Schnäpse und Weine zu trinken. Der Reiche fragt den Bruder: „Sag mir doch, wie bist du so reich geworden?“ Der Bauer erzählte ihm treuherzig, wie sich die bittere Sorge an ihn herangemacht und wie er mit ihr all sein Hab und Gut bis auf den letzten Rock im Wirtshaus vertrunken hatte: nur Leib und Seele waren noch sein eigen; wie ihm die Sorge schließlich den Schatz auf dem Felde gezeigt, wie er diesen Schatz genommen hat und die Sorge losgeworden war. Der Reiche wurde neidisch: „Ich will doch aufs freie Feld fahren“, denkt er, „den Stein hochheben und die Sorge herauslassen – soll sie den Bruder an den Bettelstab bringen, damit er sich nicht erdreistet, vor mir mit seinem Reichtum zu prahlen.“ Er schickte seine Frau nach Hause und jagte selbst aufs Feld; kam an den großen Stein, wälzte ihn zur Seite und beugt sich vor, um nachzusehen, was dort unter dem Stein ist. Er hatte den Kopf noch nicht richtig vorgebeugt – da war die Sorge schon herausgesprungen und saß ihm auf dem Nacken: „Ah“, schreit sie, „du hast mich hier 550
umbringen wollen! Nein, jetzt weiche ich um nichts in der Welt mehr von dir!“ – „Höre, Sorge!“ sagte der Kaufmann, „das war ja nicht ich, der dich unter den Stein gesteckt hat…“ – „Und wer denn, wenn nicht du?“ – „Mein Bruder hat dich druntergesteckt, und ich bin gerade deswegen hergekommen, um dich herauszulassen!“ – „Nein, du lügst! Einmal hast du mich betrogen, ein zweitesmal sollst du mich nicht betrügen!“ Die Sorge setzte sich dem reichen Kaufmann fest auf den Nacken; er brachte sie nach Hause, und in seiner Wirtschaft ging nun alles drunter und drüber. Die Sorge machte sich schon am frühen Morgen an ihr Werk; jeden Tag ruft sie den Kaufmann zum Katertrunk; viel Hab und Gut ging den Weg ins Wirtshaus. „Das ist ein kostspieliges Leben“, denkt der Kaufmann bei sich, „mir scheint, die Sorge hat sich genug mit mir vergnügt; es wäre an der Zeit, sich von ihr zu trennen, aber wie?“ Er dachte nach und dachte nach und hatte einen Einfall: er ging auf den weiten Hof, schnitzte zwei Eichenkeile zurecht, nahm ein neues Rad und trieb von der einen Seite her einen Keil fest in die Nabe hinein. Er kommt zur Sorge: „Warum liegst du immer auf der faulen Haut, Sorge?“ – „Was soll ich denn sonst anfangen?“ – „Was anfangen! Komm mit auf den Hof, Blindekuh spielen!“ Der Sorge war’s nur recht; sie gingen auf den Hof hinaus. Zuerst versteckte sich der Kaufmann – die Sorge hatte ihn gleich gefunden; danach war die Sorge an der Reihe, sich zu verstecken: „Nun“, sagt sie, „mich wirst du nicht so bald finden. Ich 551
zwänge mich in jeden Spalt hinein!“ – „Was redest du da!“ antwortet der Kaufmann. „Du kannst nicht einmal in dieses Rad hineinkriechen, geschweige denn in einen Spalt!“ – „Ich kann nicht in das Rad hineinkriechen? Paß mal auf, wie ich mich verstecke!“ Die Sorge kroch in das Rad; der Kaufmann, nicht faul, trieb von der anderen Seite her einen Eichenkeil in die Nabe, hob das Rad empor und warf’s zusammen mit der Sorge in den Fluß. Die Sorge ertrank, und der Kaufmann lebte von da an wieder wie früher.
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Heldenmärchen – Historische Märchen – Abenteuermärchen 55 Nikita der Gerber In der Nähe von Kiew war ein Drache aufgetaucht, der nahm von den Leuten keinen geringen Tribut: von jedem Hof ein schönes Mädchen; nahm das Mädchen und fraß es. Die Reihe, zu diesem Drachen zu gehen, kam an die Tochter des Zaren. Der Drache packte die Zarentochter und schleppte sie zu sich in die Höhle, fraß sie aber nicht: sie war sehr schön, so nahm er sie zur Frau. Flog der Drache auf seine Beutezüge, dann häufte er rings um die Zarentochter Baumstämme auf, damit sie nicht fortginge. Diese Zarentochter hatte ein Hündchen, das hatte schon zu Hause sehr an ihr gehangen. Bisweilen schrieb die Zarentochter ein Briefchen an Vater und Mutter und band es dem Hündchen an den Hals; und es rannte an den richtigen Ort und brachte sogar Antwort wieder. Einmal nun schreiben Zar und Zarin an die Zarentochter: Bring in Erfahrung: wer ist stärker als der Drache? Die Zarentochter wurde freundlicher zu ihrem Drachen und versuchte, von ihm herauszubekommen, wer stärker ist als er. Er sagte lange nichts, einmal aber versprach er sich, daß in der Stadt Kiew ein Gerber wohnt – und der
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ist stärker als er. Die Zarentochter hörte’s und schrieb an ihren Vater: sucht in der Stadt Kiew Nikita den Gerber und schickt ihn, mich aus der Gefangenschaft zu erlösen. Der Zar, nachdem er diese Nachricht erhalten hatte, ließ Nikita den Gerber suchen und ging dann selber, ihn zu bitten, er solle sein Land von dem grimmigen Drachen befreien und die Zarentochter erlösen. Nikita gerbte gerade Häute, zwölf Häute hielt er in den Händen; wie er sah, daß der Zar selber zu ihm gekommen war, begann er vor Furcht zu zittern, die Hände begannen ihm zu fliegen, – und er zerriß die zwölf Häute. Aber wie sehr der Zar und die Zarin den Gerber auch baten, er zog nicht gegen den Drachen. Da kamen sie auf den Einfall, fünftausend kleine Kinder zusammenzuholen, und die ließen sie den Gerber bitten; vielleicht würde er sich von ihren Tränen rühren lassen! Die Kleinen kamen zu Nikita und baten ihn unter Tränen, er solle gegen den Drachen ziehen. Nikita brach selber in Tränen aus, als er ihre Tränen sah. Er nahm dreihundert Pud Hanf, tränkte ihn in Pech, wickelte sich ganz hinein, damit der Drache ihn nicht fressen konnte, und machte sich auf den Weg zu ihm. Nikita kommt zur Drachenhöhle, aber der Drache hat sich eingeschlossen und kommt nicht zu ihm heraus. „Komm lieber heraus aufs freie Feld, sonst schlage ich deine Höhle kurz und klein!“ sagte der Gerber und fing schon an, die Türen einzuschlagen. Der Drache sah das unausweichliche Unglück und kam heraus zu ihm aufs freie 554
Feld. Kämpfte Nikita der Gerber nun lange oder kurze Zeit mit dem Drachen, jedenfalls warf er den Drachen zu Boden. Da begann der Drache Nikita zu betteln: „Schlag mich nicht tot, Nikita! Stärker als wir beide ist keiner auf der Welt; laß uns die ganze Erde teilen, die ganze Welt in zwei gleiche Teile: du sollst in der einen Hälfte leben und ich in der anderen.“ – „Schön“, sagte der Gerber, „wir müssen eine Grenze ziehen!“ Nikita machte einen Hakenpflug von dreihundert Pud, spannte den Drachen davor und begann von Kiew aus eine Grenzfurche zu pflügen; Nikita zog die Furche von Kiew bis zum Kaustrichen [Kaspischen?] Meer. „Nun“, sagte der Drache, „jetzt haben wir die ganze Erde geteilt!“ – „Die Erde haben wir geteilt“, sagte Nikita, „jetzt wollen wir das Meer teilen, sonst sagst du noch, man nimmt dein Wasser.“ Der Drache fuhr auf die Mitte des Meeres hinaus, Nikita der Gerber erschlug ihn und versenkte ihn im Meer. Diese Furche ist noch jetzt zu sehen; eine Höhe hat die Furche von zwei Saschen. Um sie herum pflügen die Leute, aber die Furche rühren sie nicht an; und die nicht wissen, woher diese Furche stammt, nennen sie Erdwall. Nikita der Gerber, nachdem er seine Heldentat getan hatte, nahm für die Arbeit nichts und ging wieder Leder gerben.
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56 Die Mär von Ilja Muromez Das war in der Stadt Muron, im Dorf Karatscharowo. Da lebte einmal ein Bauer namens Iwan Timofejewitsch mit seiner Gemahlin Jefrossinja Jakowlewna. Sie hatten fünfzig Jahre miteinander gelebt, aber Kinder hatten sie nicht. Oft waren die Alten traurig, daß niemand da war, im Alter für sie zu sorgen. Endlich wurde ihnen ein Sohn geschenkt. Sie gaben ihm den Namen Ilja. Und sie leben nun mit ihrem Sohn Ilja, leben und können sich gar nicht genug freuen. Es verging ein Jahr, es verging ein zweites. Da erlebten die Alten einen großen Kummer: der Sohn müßte anfangen zu laufen, aber er sitzt da wie ein Klotz. Seine Beine waren wie Stricke: die Arme gebraucht er, aber die Beine kann er auf keine Weise bewegen. Es verging ein drittes Jahr, aber mit Ilja wurde es nicht im geringsten besser. Die Beine sind wie Stricke, bewegen sich überhaupt nicht. Die Alten jammerten noch mehr: haben einen Sohn, aber er ist zu nichts zu gebrauchen – sie müssen für ihn sorgen. Und Ilja lebte lange Zeit als ein solcher Klotz und konnte kein Bein bewegen.
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Dreißig Jahre hatte er so gelebt. Und da mußte Iwan Timofejewitsch eines schönen Tages Stubben roden, um Weizen säen zu können. Die Alten gingen in die Wälder und ließen Ilja allein im Hause zurück. Ilja war das schon gewöhnt – dazusitzen und das Haus zu bewachen. Es war ein sehr heißer Tag. Ilja sitzt schweißgebadet da. Und auf einmal hört er – jemand ist ans Fenster getreten und klopft ans Fenster. Irgendwie reckte sich Ilja Muromez in die Höhe, öffnete das Fenster und sieht – zwei Wanderer stehen da, beide sehr alt. Ilja betrachtete sie und sagt: „Was wollt ihr, Wanderer?“ Und sie sagen: „Gib uns doch etwas Hopfenbier zu trinken. Wir wissen, du hast Hopfenbier im Keller. Und bring uns eine Schale, anderthalb Eimer11 groß!“ Ilja gibt ihnen zur Antwort: „Ich würde euch ja gern Hopfenbier bringen, aber ich kann nicht laufen: meine Beine können nicht gehen.“ Und sie sagen: „Laß das, Ilja, uns zu belügen! Erst versuch’s, und dann rede!“ Ilja bewegte das eine Bein – es läßt sich bewegen. Er bewegte das andere – es läßt sich bewegen. Er sprang von der Bank, ergriff eine Schale von anderthalb Eimern und rannte, als hätte er 11
Eimer – Flüssigkeitsmaß, etwa 12 Liter. (Anm. d. Übers.)
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schon immer rennen können, in des Vaters tiefen Keller. Ließ aus dem Faß die Schale vollaufen, bringt sie den Greisen und sagt zu ihnen: „Nehmt und laßt’s euch wohl bekommen, Wanderer. Ich freue mich sehr – ihr habt mich laufen gelehrt.“ Und sie sagen: „Komm, Ilja, trink zuerst selber.“ Ilja Muromez widersprach nicht, ergreift die Schale von anderthalb Eimern und trinkt sie auf der Stelle in einem Zug aus. „Und jetzt, wackerer Held, Ilja Muromez, sage, wieviel Kraft fühlst du in dir?“ „Ich fühle sehr viel Kraft in mir“, antwortet Ilja. „Kraft genug!“ Die Greise beratschlagten miteinander und sagen: „Nein, es ist doch noch zu wenig Kraft. Geh, Ilja, und bring noch eine Schale!“ Ilja ergriff die Schale von anderthalb Eimern und stürzte davon in seinen Keller. Ließ die zweite Schale vollaufen und bringt sie den Greisen. Er wollte sie ihnen reichen, da sagen sie: „Nun, wackerer Held, trink selber!“ Ilja Muromez widersprach nicht, nimmt die Schale und trinkt sie in einem Zug aus. „Und nun, Ilja, kühner Recke, sage, fühlst du viel Kraft in dir?“ Und er antwortet den Wanderern: „Ach, viel Kraft fühle ich!“ „Und wie mißt du die Kraft?“
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„Nun, wenn eine Säule am Himmel wäre, und an dieser Säule wäre ein Ring – ich ergriffe diesen Ring und würde das ganze russische Land um und umkehren.“ Die Wanderer beratschlagten miteinander und sagen: „Ach nein, zuviel Kraft haben wir ihm gegeben. Es könnte nichts schaden, etwas wegzunehmen. Ilja! Lauf in den Keller, bring noch eine Schale von anderthalb Eimern.“ Ilja widersprach nicht und lief sogleich in den Keller. Als er die Schale brachte, sagen die Greise: „Nun, Ilja Muromez, trink zuerst selber.“ Ilja Muromez widerspricht nicht und trinkt die Schale aus. Als er ausgetrunken hatte, fragen die Wanderer wieder: „Nun, kühner Recke, sage, fühlst du viel Kraft in dir?“ Da antwortet Ilja Muromez wie folgt: „Ich fühle – meine Kraft hat um die Hälfte abgenommen.“ Da beratschlagten die Wanderer miteinander und sagen: „Das ist genug Kraft für dich, Ilja Muromez.“ Und sie schicken ihn nicht mehr nach Hopfenbier, sondern sprachen zu ihm wie folgt: „Höre, wackerer Held, Ilja Muromez! Wir haben dir Beine gegeben, wir haben dir Reckenkraft gegeben – nichts hindert dich, durchs russische Land zu reiten. Aber merke dir: Kränke nicht die 559
Schutzlosen, sondern schlage den Dieb und Räuber, und kämpfe nicht gegen das Geschlecht Mikulow: die kühle Mutter Erde liebt es. Und kämpfe auch nicht gegen Swjatogor den Recken: ihn trägt die kühle Mutter Erde nur mit Mühe. Und jetzt, Ilja Muromez, brauchst du ein Reckenpferd. Aber das Reckenpferd mußt du dir selbst heranziehen, weil die Pferde dich nicht ertragen.“ „Und wo kann ich ein solches Pferd bekommen, das mich erträgt?“ sagt Ilja Muromez. „Wir werden’s dich gleich lehren. An eurem Haus wird eines schönen Tages ein Bauer ein grindiges, jämmerliches Füllen am Halfter vorbeiführen, um es zu erschlagen. Du aber laß es nicht aus den Augen und erbitte von dem Bauern dieses Füllen, stell’s in den Stall und füttre’s mit Weizen. Und führe es jeden Morgen hinaus in den Tau – soll es sich im Tau wälzen. Und wenn es drei Jahre alt ist, dann führ’s hinaus aufs Feld und lehre es, über große Gräben und über hohe Zäune springen!“ Ilja Muromez hörte das alles aufmerksam an und wollte sich kein einziges Wort entgehen lassen. „Nun“, sagen die Wanderer, „was wir wußten, haben wir alles gesagt. Denke daran, die Schutzlosen sollst du nicht kränken, den Dieb und Räuber nicht laufen lassen. Und denke daran, dir ist vom Schicksal beschieden – getötet kannst du nicht werden. Du wirst eines natürlichen Todes sterben.“
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Ilja Muromez dankte ihnen, lud sie ein, etwas zu essen, doch sie schlugen alles ab und gingen fort. Er blieb mutterseelenallein zurück und wollte nach Vater und Mutter sehen, ihnen bei der Arbeit helfen. Er kommt zum Vater, aber dort sind nach der schweren Arbeit alle eingeschlafen. Er wollte sein Beil versuchen und begann Holz zu schlagen. Jedesmal, wenn er mit dem Beil zugeschlagen hatte, fuhr es bis zum Beilrücken hinein. Ilja hatte Riesenkräfte. Ilja Muromez fällte den Wald und schlug das Beil in einen Baumstumpf. Und das Beil verschwand bis zum Beilrücken. Da schlug er nacheinander alle Beile in Baumstümpfe und versteckte sich dann hinter einem Baum. Als die Männer ausgeruht hatten und kamen, wollten sie ihre Beile nehmen, aber wie sehr sie auch zogen, sie konnten sie aus den Baumstümpfen nicht herausziehen. Er hatte sie vielleicht nur so zum Scherz hineingeschlagen, die Beile, aber er hatte eben zu viel Kraft. Ilja sieht, sie schaffen es nicht, kam aus seinem Versteck hervor und geht zu Vater und Mutter. Und die trauen ihren Augen nicht: Muromez war ein Krüppel und ist gesund geworden. Ilja Muromez zog alle Beile heraus und begann den Eltern zur Hand zu gehen. Der Vater kann sich gar nicht genug freuen, wie er ihn arbeiten sieht. Sie beendeten die Arbeit, kamen nach Hause und lebten von nun an zufrieden.
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Doch Ilja Muromez paßte immer auf, wann der Bauer das grindige Füllen vorbeiführt. Und einmal sieht er – richtig, der Bauer kommt. Ilja läuft hinaus und fragt: „Wohin führst du das Füllen?“ Und er antwortet: „Es ist sehr schlecht geraten, ich muß es erschlagen.“ Da bat Ilja Muromez den Bauer dringend, er solle ihm das Füllen abtreten, es nicht erschlagen. Und der Bauer fragt: „Was willst du mit einem solchen Füllen, ein so starker Held? Es ist nicht einmal für einen Bauern zu gebrauchen.“ Ilja Muromez ließ nicht nach und bat wieder: „Verkauf mir das Füllen!“ Der Bauer trat Ilja Muromez das Füllen ab und nahm von Ilja nicht einmal irgendeine Bezahlung. Ilja Muromez führte das Füllen nach Hause, stellte es in den Stall und begann es zu tränken und zu füttern, wie die Wanderer ihn gelehrt hatten. Bald machte sich Ilja Muromez’ Pflege an dem Füllen bemerkbar, und es begann sehr schnell zu wachsen. Und als es drei Jahre alt war, war es ein starkes Pferd geworden. Ilja Muromez führte es nun aufs freie Feld und lehrte es, über breite Gräben, Schluchten und Zäune zu springen. Und er wunderte sich selber, wie stark und tüchtig sein Pferd war. Nun suchte er sich einen Panzer, auch einen Köcher mit Pfeilen, einen straffen Bogen und ein 562
Schwert. Was immer er haben wollte, er fand alles nach seiner Stärke. Und als alles fertig war, ging Ilja Muromez zu Vater und Mutter und sagt: „Teuerster Vater Iwan Timofejewitsch, teuerste Mutter Jefrossinja Jakowlewna! Schon lange wollte ich die weite Welt durchstreifen, mir die Menschen ansehen und mich hervortun! Segnet mich, ich reite!“ „Und wohin willst du reiten?“ fragt ihn der Vater. „In die Thronstadt Kiew, dem Fürsten WladimirStrahlende-Sonne zu dienen.“ Vater und Mutter jammerten: „Ach, lieber Sohn, wir haben geglaubt, dich uns zum Trost aufzuziehen. Aber wir sehen – den Falken kann man nicht im engen Käfig zurückhalten. Da läßt sich nichts machen, reite zum Fürsten Wladimir und denke daran, tritt ein für die Schwachen, kränke nicht die Schutzlosen und schlage den Dieb und Räuber!“ Ilja Muromez legte den Reckenpanzer an, setzte den gefiederten Helm auf und gürtete sich mit dem Schwert. Darauf sattelte er sein Pferd, stieg auf und ritt davon. Er ritt und ritt und kam zur Stadt Tschernigow. Er sieht und traut seinen Augen nicht: rings um die Stadt Tschernigow steht ein unübersehbares Heer. Drei Zarewitsche der Ungläubigen waren vor die Stadt Tschernigow gezogen, und jeder Zarewitsch hatte dreihunderttausend Mann. Ilja Muromez sah – die Stadt ist eingeschlossen, und die Männer von Tschernigow werden 563
durch die Ungläubigen mit dem Hungertod bedroht. Ilja hatte Mitleid mit den Männern von Tschernigow. Straffer zog er seinen Sattel an, ergriff das stählerne Schwert und fiel wie ein Sturmwind über die ungläubigen Feinde her. Er hieb auf sie ein, so schnell, als haue er Gras. Sie sehen – die Kräfte sind ungleich, und stürzten sich in die Flucht. Der eine hierhin, der andere dorthin flohen sie durcheinander. Von der Mauer aus sehen Tschernigows Männer – irgendein Recke hat sich auf ihre Seite geschlagen. Ilja aber fand keinen mehr, den er niederhauen konnte. Er ritt zu den weißen Leinenzelten – da stehen die drei Zarewitsche der Ungläubigen, mehr tot als lebendig, bleich wie Leinen und zittern wie Espenlaub. Ilja ritt zu ihnen – sie fielen auf die Knie und baten um Gnade. Da sprach Ilja Muromez zu ihnen wie folgt: „Warum bedroht ihr die Männer? Wäret ihr älter, ich schlüge euch die übermütigen Häupter ab. Aber ihr seid gar zu jung! Kehrt heim und sagt euren Eltern: noch gibt es in Rußland Männer, für die russische Erde zu kämpfen.“ Er nahm ihnen einen Eid ab, daß sie nie mehr gegen das russische Land reiten wollten. Und sie waren froh, daß sie begnadigt wurden, bestiegen ihre Pferde und machten sich aus dem Staube, ihrem Heere nach. Es sahen all dies von den Stadtmauern aus die Männer von Tschernigow. Sie sehen – sie sind frei. Sie öffnen die Tore, bringen dem Recken die
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Schlüssel auf goldenem Teller und bieten ihm an, was er will. Doch Ilja Muromez war nicht gierig auf Schätze: alle diese schlug er ab. Tschernigows Männer baten ihn, zu ihnen zu kommen und mit ihnen zu sprechen. Aber auch das schlug Ilja Muromez ab, weil seine Seele sich nach Weite sehnte. Da fragen die Männer von Tschernigow: „Wohin reitest du, kühner Recke?“ „Ich reite in die Thronstadt Kiew“, sagt Ilja Muromez, „zum Fürsten Wladimir-StrahlendeSonne.“ Und Tschernigows Männer sagen: „Höre, reite nicht den geraden Weg!“ „Und warum soll ich nicht den geraden Weg reiten?“ „Weil hier seit langem Nachtigall der Räuber im Hinterhalt liegt. Er tötet nicht mit der Kraft der Waffe, sondern mit seinen verwegenen Pfeilen. Wenn er brüllt wie ein Tier und zischt wie eine Schlange, dann stürzen alle Menschen zu Boden.“ Da verabschiedete sich Ilja Muromez von den Männern und ritt den geraden Weg, beachtete nicht, was sie ihm gesagt hatten. Er reitet seinen Weg und hält immer Ausschau, wo des Räubers Nachtigall Hof ist. Auf einmal sieht er zwölf Eichen stehen, die Wipfel zu einem verflochten. Und ihre Wurzeln sind mit dickem Eisen beschlagen. Noch war Ilja drei Werst entfernt, da hörte er auf einmal das Pfeifen einer Nachtigall, das Brüllen eines Tieres, 565
und all das wurde überdeckt vom Zischen einer Schlange. Und von diesem Pfeifen der Nachtigall, diesem Brüllen des Tieres und diesem Zischen der Schlange stürzte Ilja Muromez’ Pferd auf die vorderen Knie. Da sagt Ilja Muromez zu seinem Pferd: „Warum stürzt du auf die Knie, flinkes Roß? Bist du denn noch nicht geritten durch die Wälder, die tiefen? Hast du denn noch nicht gehört das Brüllen des Tieres? Hast du denn noch nicht gehört das Zischen der Schlange? Hast du denn noch nicht gehört das Pfeifen der Nachtigall?“ Das Pferd schämte sich vor seinem Herrn und erhob sich auf die flinken Beine. Und Ilja Muromez nimmt seinen stählernen Bogen von der Schulter, legt einen stählernen Pfeil auf die Sehne und schießt ihn auf Nachtigall den Räuber. Aufstieg der Pfeil und traf Nachtigall den Räuber gerade ins rechte Auge, so, daß Nachtigall der Räuber aus seinem Nest herausflog wie eine Garbe Hafer. Ilja Muromez ritt zu Nachtigall dem Räuber, packte ihn und band ihn an seinen Steigbügel. Und ritt weiter. Er mußte gerade am Hof Nachtigalls des Räubers vorbeireiten, wo die Töchter des Räubers mit ihren Männern lebten. Sie traten auf den Balkon hinaus und sehen – es kommt jemand geritten. Die älteste Tochter sagt: „Seht, liebe Schwestern, unser Vater kommt geritten, und er zieht noch einen Recken hinter sich her, der an den Steigbügel gebunden ist!“
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Die jüngste Tochter sah hin und begann sogleich zu jammern: „Ach, liebe Schwestern, nicht unser Vater kommt geritten, sondern irgendein Recke zieht unseren Vater am Steigbügel hinter sich her!“ Die Schwestern brachen in Jammern aus und stürzten davon, ihrem Vater zu helfen. Sie liefen vom Balkon nach unten, die Schwiegersöhne aber bewaffneten sich und zogen los, ihren Schwiegervater zu befreien. Kaum sah Nachtigall der Räuber seine Schwiegersöhne, rief er ihnen zu: „Habt Dank, liebe Schwiegersöhne, daß ihr mich befreien wollt, aber reizt den Recken lieber nicht – ihr könnt ihn nicht überwinden. Doch bittet ihn in die Stube, bewirtet ihn mit Wein und Speisen und fragt ihn, ob er nicht von euch Lösegeld für mich nehmen will!“ Aber Ilja Muromez, als er all das hörte, dachte: „Sie locken mich noch in eine Falle.“ Er wies alles zurück, bog nach links ab und ritt nach der Thronstadt Kiew. Als er angekommen war, betrat er den weißen steinernen Palast und sieht: Fürst WladimirStrahlende-Sonne und seine Fürstin sitzen mit ihren Recken zusammen und bewirten die Recken. Ilja Muromez verneigte sich tief vor Fürst Wladimir. Und die Fürstin sagt: „Ich sehe noch einen Gast!“ Alle wandten sich um und erblickten den starken Recken Ilja Muromez. Und Fürst Wladimir fragt: 567
„Wer seid Ihr, wackerer Mann? Woher kommt Ihr, und wohin führt Euch der Weg?“ Ilja Muromez antwortet: „Ich komme aus der Stadt Muron, aus dem Dorf Karatscharowo, und will in die Thronstadt Kiew, zu Wladimir-Strahlende-Sonne.“ Und Fürst Wladimir fragt: „Und auf welchen Wegen seid Ihr geritten, und wieviel Zeit habt Ihr gebraucht?“ Und Ilja Muromez spricht die folgenden Worte: „Die Morgenmesse habe ich im Dorf Karatscharowo gehört, die Mittagsmesse aber bei Euch in der Stadt Kiew.“ „Und welchen Weg seid ihr geritten?“ „Den geraden Weg bin ich geritten.“ Kaum hatten das die Recken gehört, sagen sie zu Fürst Wladimir: „Glaub diesem Burschen nicht; er schneidet wirklich gar zu sehr auf. Kann man denn auf diesem Wege reiten? Dort liegt doch schon dreißig Jahre Nachtigall der Räuber im Hinterhalt und läßt weder Reiter noch Fußwanderer durch. Dort kommt kein Tier vorbeigerannt und kein Vogel vorbeigeflogen. Wie hat denn der an Nachtigall dem Räuber vorbeireiten können?“ Fürst Strahlende-Sonne wendet sich Ilja Muromez zu und spricht die folgenden Worte: „Ach, man kann dir nicht glauben, wackerer Recke! Schon dreißig Jahre liegt dort Nachtigall der Räuber im Hinterhalt, niemand kann an ihm vorbeigehen oder vorbeireiten. Es ist deutlich zu sehen, daß du gelogen hast.“ 568
Da ließ sich Ilja Muromez nicht auf langes Reden ein und sagte nur: „Aber willst du dir nicht gleich einmal Nachtigall den Räuber ansehen? Ich habe ihn auf unseren Hof gebracht, und er hängt jetzt festgebunden an meinem Steigbügel.“ Das hörten die Recken und waren alle gleich entsetzt. Daß dieser Recke es vermocht hatte, einen solchen Räuber herzubringen – das konnten sie nicht glauben. Da sagt Fürst Strahlende-Sonne zu Ilja Muromez: „Aber sage, kühner Recke, wie heißt du?“ „Ich heiße Ilja Muromez.“ Und der Fürst sagt wieder: „Und könnten wir uns Nachtigall den Räuber nicht einmal ansehen?“ „Es ist mir eine Ehre“, erklärte sich Ilja Muromez bereit und führte sie alle auf den weiten weißen Hof, wo sein flinkes Pferd graste. Und an den Steigbügel des Pferdes war ein Quersack gebunden, in dem sich Nachtigall der Räuber befand. Ilja Muromez kommt mit dem ganzen Gefolge, mit allen Recken heraus, bindet den Sack vom Steigbügel los und zieht Nachtigall den Räuber heraus. Kaum hatten die Recken ihn erblickt, da entsetzten sie sich; kaum hatten der Fürst und seine Gemahlin ihn erblickt, da verwunderten sie sich. Und Fürst Wladimir spricht die folgenden Worte:
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„Nun, Dieb Rachmatowitsch, Räuber Nachtigall, pfeife wie eine Nachtigall, unterhalte mich und meine Frau, unterhalte meine starken Recken!“ Da sprach Nachtigall der Räuber die folgenden Worte: „Nicht dir diene ich, Fürst Wladimir, sondern ich habe meinen Recken, – niemanden sonst erkenne ich an!“ Da wendet sich Fürst Wladimir an Ilja Muromez und sagt: „Nun, kühner Recke, zwinge diesen Räuber, wie eine Nachtigall zu pfeifen, mich und meine Fürstin und meine starken Recken zu unterhalten!“ Ilja Muromez befielt Nachtigall dem Räuber, mit halber Stärke wie eine Nachtigall zu pfeifen, mit halber Stärke wie ein Tier zu brüllen, mit halber Stärke wie eine Schlange zu zischen, er selbst aber faßt den Fürsten und die Fürstin unter die Arme. Nachtigall der Räuber nahm alle Kraft zusammen und pfiff wie eine Nachtigall, aber nicht mit halber Stärke, sondern mit ganzer. Und von diesem Nachtigallenpfiff hingen Fürst und Fürstin in Iljas Armen, von den Recken aber war nicht einer auf den Füßen geblieben, sie fielen alle der Reihe nach um, und von dem steinernen Palast rollten durch diesen Nachtigallenpfiff alle goldenen Kuppeln herunter. Da schrie der Fürst StrahlendeSonne: „Nun, Ilja Muromez, bändige diesen Dieb und Räuber! Solche Späße brauchen wir nicht!“
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Da ergriff Ilja Nachtigall den Räuber und warf ihn mit seiner starken Hand so hoch, daß Nachtigall der Räuber fast bis zu den ziehenden Wolken flog, auf den weißen Hof prallte und seinen Geist aushauchte. Und Ilja Muromez befahl einen Scheiterhaufen anzuzünden, Nachtigall den Räuber zu verbrennen und die Asche in den Wind zu streuen. Wieder gehen sie in den weißen steinernen Palast, setzen sich an die Eichentische und machen sich über die süßen Speisen und die honigsüßen Getränke her. Ilja Muromez setzte sich auf ein Bänkchen am äußersten Ende. Aber wie er ein wenig schob und stark nachdrückte, fielen alle Recken der Reihe nach auf den Fußboden, und Ilja saß auf einmal an der Mitte des Tisches. Alle Recken sehen, daß Ilja Muromez sehr viel Kraft hat, und nicht einem fiel es ein, sich ihm zu widersetzen. Die Recken hatten ein wenig getrunken und fingen an zu prahlen, was ein jeder konnte. Und wieder gefiel dies Ilja Muromez nicht. Er dachte einen kühnen Gedanken – durch die weite Welt zu ziehen. Und er gedachte, Swjatogor dem Recken zu begegnen. Ilja verabschiedete sich von Fürst Wladimir und den Recken und ritt los durch die weite Welt, Swjatogor den Recken zu suchen. Er ritt lange. Reitet und hält Ausschau, ob er nicht irgendwo Swjatogor den Recken sieht. Und auf einmal sieht er ein großes braunes Pferd. Er reitet näher – da liegt dort ein schlafender Recke. 571
Und es war das Swjatogor der Recke. Ilja stieg vom Pferd, ging zu Swjatogor und stellte sich neben sein Haupt. Und er erschien gegen diesen Recken wie ein kleines Kind. Der Recke lag in tiefem Schlaf, und Ilja konnte es nicht erwarten, daß Swjatogor aufwacht. Da gab ihm Ilja einen leichten Schlag. Der Recke wachte auf und sagt: „Wer wirft da mit Steinchen nach mir?“ Da trat Ilja Muromez noch näher und sagt: „Ich bin aus der Stadt Muron, aus dem Dorf Karatscharowo gekommen, man nennt mich Ilja Muromez. Ich wollte Euch einmal sehen, aber konnte es nicht erwarten. Da habe ich Euch geweckt.“ Swjatogor der Recke sagt: „Warum brauchst du mich so dringend?“ Und Ilja antwortet: „Ich habe von Eurer großen Stärke gehört, da wollte ich Euch einmal sehen.“ „Vielleicht hast du Lust, deine Kräfte mit mir zu messen?“ fragt Swjatogor. „Nein“, antwortet Ilja, „ich weiß wohl, daß ich meine Kräfte nicht mit Euch messen kann!“ „Wenn das so ist“, sagt Swjatogor12, „dann wollen wir einen Spazierritt durch die heiligen Berge machen!“ Er pfiff seinem Pferd, das Pferd kam gelaufen und blieb wie angewurzelt vor ihm stehen.
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Swjatogor – etwa „der von den heiligen Bergen“. (Anm. d. Übers.)
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Ilja Muromez rief gleichfalls sein Pferd herbei, und sie ritten zusammen los. Ilja erzählte, wie er in der Thronstadt Kiew war. Aufmerksam hörte Swjatogor diesen Bericht an. Und danach fragt Ilja Muromez Swjatogor: „Warum habe ich dich in ganz Rußland gesucht, aber dich nicht finden können?“ „Deswegen“, sagt Swjatogor, „weil ich nicht mehr durch Rußland reite, seit ich von den heiligen Bergen gekommen bin. Ich sehe – die Erde beugt sich unter mir wie unterwürfig. Und die Menschen laufen vor mir nach allen Seiten davon wie vor einem schrecklichen Tier. Es war mir sehr zuwider, daß sie mich so fürchten. Ich ritt und ritt und verfiel ins Nachdenken: ‚Ach, zuviel unüberwindliche Kraft habe ich in mir! Gäbe es eine Säule, und in der Säule wäre ein Ring, ich würde den Ring drehen und das ganze russische Land um und umkehren!’ Kaum hatte ich’s gedacht, da blieb mein Pferd stehen. Ich sehe – gerade vor mir liegt ein kleiner Quersack, so klein, daß man nicht einmal darauf spucken kann. Ich sprang vom Pferd, wollte diesen kleinen Sack aufheben, griff mit der rechten Hand zu, und wie ich zog – bewegte er sich nicht. Ich griff mit der linken Hand zu, zog – er bewegte sich nicht. Ich griff mit beiden Händen zu, und wie ich zog, versank ich bis zu den Knien in die Erde. Da begriff ich: die Mutter, die kühle Erde, will mich nicht auf sich tragen. Daher reite ich nicht durch das russische Land, sondern reite durch die heiligen Berge.“
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Sie ritten beide in diese Berge, Ilja und Swjatogor. Sie ritten und ritten und sehen – auf dem höchsten Bergesgipfel steht ein riesiger Sarg. Sie ritten zu diesem Sarg, und Swjatogor sagt: „Nun, Ilja Muromez, miß diesen Sarg. Vielleicht ist er für dich gemacht?“ Ilja Muromez legte sich in den Sarg, und er erschien darin wie eine kleine Fliege. Da sagt Swjatogor: „Nein, Ilja, dieser Sarg ist wohl nicht für dich gebaut.“ Jetzt steigt Swjatogor vom Pferd und will den Sarg selber messen. Er streckte sich im Sarg aus – der Sarg war wie für ihn gemacht. Swjatogor der Recke wollte sich aus dem Sarg erheben. Aber auf einmal war er ganz schwach geworden und flehte zu Ilja Muromez: „Nun, Ilja Muromez, mein kleiner Bruder, hilf mir aus dem Sarg steigen! Ich bin ganz schwach geworden.“ Ilja Muromez sprang hinzu, gerade wollte er Swjatogor den Recken aufrichten, da hatte sich der Deckel des Sarges dicht geschlossen. Ilja Muromez packte den Deckel, wollte ihn mit seiner gewaltigen Kraft abreißen, aber wie sehr er auch zog – der Deckel bewegte sich nicht von der Stelle. Vor Wut ergriff Ilja Muromez sein Schwert und begann auf den Sarg einzuhauen. Wie er das erstemal zugeschlagen hatte, erschien ein eiserner Reif und schloß sich rings um den Sarg. Das zweitemal schlug er zu – da erschien ein zweiter Ei574
senreif. Wieviele Male er auch zuschlug, immer erschienen eiserne Reifen. Und Ilja Muromez hört – aus dem Sarg dringen dumpfe Worte zu ihm: „Leb wohl, Ilja Muromez, ich bin wohl das letzte Mal mit dir durch die heiligen Berge geritten!“ Ilja Muromez war weh ums Herz wegen Swjatogor, er sieht – er kann den großen Bruder nicht befreien. Und er hört, wie Swjatogor zum letztenmal leicht aufseufzt und keinen Laut mehr von sich gab. Ilja brach in Tränen aus und ritt fort aus den heiligen Bergen in die Thronstadt Kiew. Er war dort nicht lange. Da kommt ein Ungläubiger mit einem Brief geritten und überreicht diesen Brief dem Fürsten Wladimir. Der Fürst begriff – hier ist etwas Unerfreuliches. Er erbrach das Siegel und beginnt, den Brief zu lesen, im Brief aber ist geschrieben: „Es kommt Batu mit seinen großen Scharen, der Goldenen Horde, gezogen, und mit ihm zieht Heidengötze, der starke Recke.“ Da war bei allen Recken der Rausch verflogen, und sie wissen nicht, was sie tun sollen. Wie sollen sie reiten, wie solch großer Feindesmacht begegnen? Das sagt Ilja Muromez: „Ach, starke Helden, feige seid ihr wie die Hasen! Ihr möchtet nur immer Feste feiern und zechen. Wozu seid ihr nütze? Wenn die feindlichen Heere kommen, dann zittert ihr wie die Blätter an der Espe. Auf, zieht mit mir, laßt uns reiten, der Tatarenmacht zu begegnen!“ 575
Die Recken erschraken, aber da war nichts zu machen: sie mußten Ilja Muromez folgen. Sie kamen an ihre Grenze. An der Grenze aber steht eine Feldwache. Und in dieser Feldwache waren Recken als Grenzwächter. Hier war als Ältester Samson Samsonowitsch, hier war auch sein Gehilfe Dobrynja Nikititsch, und es war noch der Feldhauptmann Aljoscha Popowitsch da… Ilja Muromez kam zu dem weißen Leinenzelt geritten und sieht – es stehen drei Recken an der Feldwache. Der Recke Samson erblickte Ilja Muromez und verneigte sich tief vor ihm: „Sei mir gegrüßt, Ilja Muromez, wie lange habe ich dich nicht gesehen! Und weswegen hast du dich hierher bemüht zu unserer Feldwache?“ Und Ilja Muromez sagt: „Habt ihr denn nicht gehört, Grenzwächter, daß eine große Streitmacht gegen unseren Fürsten Wladimir gezogen kommt?“ Da erschrak Samson Samsonowitsch, und erschrak Dobrynja Nikititsch, und erschrak noch mehr der Feldhauptmann Aljoscha Popowitsch. Da sagt Ilja Muromez: „Habt ihr denn nicht gehört, Samson Samsonowitsch, wie hier ein Ungläubiger mit seinem Brief nach der Thronstadt durchgekommen ist? Wie habt ihr das nicht gesehen von eurer Feldwache aus?“ Da begann Samson Samsonowitsch zu sprechen:
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„Vergib uns Ilja Muromez, irgendwie haben wir zu dieser Zeit gerade geschlafen, und so haben wir diesen Ungläubigen eben nicht gesehen.“ Hier sagte Ilja Muromez: „Wir müssen die große Streitmacht, die ungläubige, erwarten, wir müssen, wie es sich gehört, für unser russisches Land kämpfen. Stellt noch jemanden vorn auf“ (als vorgeschobenen Beobachtungsposten, ganz genauso). Und die Recken hielten Rat, wen sie als Wache aufstellen sollten. Samson Samsonowitsch wollte Aljoscha Popowitsch aufstellen. Da sprach Ilja Muromez die folgenden Worte: „Nein, Samson Samsonowitsch, Aljoscha Popowitsch dürfen wir nicht bestimmen, dem sind die Rockschöße schon so zu lang. Wir müssen Dobrynja Nikititsch bestimmen.“ Dobrynja Nikititsch ritt nach vorn und stellte eine besondere Wache an der Stelle auf, wo die Streitmacht der Ungläubigen durchziehen mußte. Sie warteten und warteten auf das Heer der Ungläubigen, aber vergebens. Es verging ein Tag, es verging der zweite, aber von der Streitmacht der Ungläubigen ist noch nichts zu sehen. Am dritten Tag, kaum daß die Sonne aufgegangen war, bemerkten sie am Horizont ein großes Heer. Von diesem Heer wurde die Sonne durch dichten Staub verdunkelt. Dobrynja Nikititsch hält Ausschau und sieht – voran reitet ein starker Rekke, und das Pferd unter ihm ist ganz in goldenem Zaumzeug, er selber aber ist wie ein großer Getreideschober. Er kam auf Dobrynja Nikititsch zu577
geritten, und der weiß nicht, was er tun soll. Und er sieht – der Recke wirft seine lange Lanze bis unter die ziehenden Wolken, bis über den ragenden Wald. Und der Recke fängt die Lanze mit der anderen Hand auf und sagt dabei: „So leicht ich die Lanze werfe, so leicht werde ich mit Dobrynja Nikititsch fertigwerden.“ Dobrynja Nikititsch erschrak vor diesem Recken und jagte auf seinem Pferd zu der Feldwache, wo Samson Samsonowitsch und Ilja Muromez waren. Und er betet, sein Pferd möge nicht straucheln. Er kam zur Feldwache, fiel vor Samson Samsonowitsch auf die Knie und spricht die folgenden Worte: „Vergib mir, Samson Samsonowitsch, daß ich keine Heidenköpfe zu eurer Feldwache bringen konnte. Und solch ein Ritter ist dort zu uns gekommen, daß er eine lange Lanze fast bis unter die ziehenden Wolken, fast bis über den ragenden Wald wirft und dabei die folgenden Worte sagt: ‚So leicht ich die Lanze schleudere, so leicht werde ich mit Dobrynja Nikititsch fertigwerden.’ So bin ich eben mit leeren Händen zu euch zur Feldwache gekommen.“ Ilja Muromez und alle Recken hielten Rat, wer reiten soll, dem Ungläubigen zu begegnen. Sie dachten nach und wollten einen wählen. Doch wen immer sie vorsahen, Ilja Muromez hinderte’s. Da bestimmten sie Aljoscha Popowitsch, aber Ilja Muromez widersetzte sich auch hier. „Wir dürfen Aljoscha Popowitsch nicht schicken: er wird auf das goldene Zaumzeug schielen, und 578
in diesem Augenblick werden die Feinde seine Popenseele aus dem Sattel werfen.“ Sie wollten raten, Samson Samsonowitsch solle reiten. Aber auch hier sprach Ilja Muromez die folgenden Worte: „Nein, schon gar zu alt ist Samson Samsonowitsch, wir müssen einen anderen wählen.“ Aber die Recken konnten auf keine Weise eine Wahl treffen. Und sie wollten nun das Los werfen – wer dem ungläubigen Heiden begegnen solle. Wie sie das Los warfen, fiel es auf Ilja Muromez. Da sattelte Ilja Muromez sein Pferd, bestieg es, nahm Abschied von seinen Recken und ritt dem ungläubigen Heiden entgegen. Als er bis auf eine Werst an ihn herangekommen war, sah er den bösen Ungläubigen; der warf mit der rechten Hand eine lange Lanze und brüstete sich sogleich: „So leicht ich mit meiner Lanze umgehe, so leicht werde ich auch mit Ilja Muromez fertigwerden!“ Ilja Muromez dachte nicht lange nach, gab seinem Pferd die Sporen und stürzte gegen den bösen Tataren. Der Kampf begann am frühen Morgen. Ihre Pferde wurden müde, ihre Schwerter wurden stumpf; aber die Recken sitzen im Sattel, und keiner von ihnen schwankt auch nur. Es war schon zwölf Uhr mittags. Die Pferde der Recken strauchelten, und die Recken fielen sogleich zu Boden. Sie hatten ihre langen Lanzen zerbrochen und hatten ihre stählernen Schwerter zerbrochen. Sie hatten nichts mehr, aufeinander 579
einzuhauen. Da gingen sie mit den bloßen Händen aufeinander los. Sie kämpften so heftig, daß der Staub von ihren Füßen wie eine Säule aufgewirbelt wurde. Schon neigte sich die Sonne zum Untergang, da glitt Ilja Muromez aus und fiel auf den Rücken, und der ungläubige Heide setzte sich auf ihn. Er zog sein Messer aus dem Gürtel und wollte Ilja Muromez die Kehle durchschneiden. Da fielen Ilja seine beiden greisen Wanderer ein und er dachte: „Da haben die Greise wohl nicht die Wahrheit gesagt, daß mir kein Tod im Kampf beschieden ist: ich muß von der Hand eines ungläubigen Heiden sterben.“ Kaum hatte er das gedacht, da fühlte er in sich so große Kraft wie damals, als er die drei Glas Hopfenbier getrunken hatte. Er machte seine rechte Hand frei und versetzte dem Ungläubigen einen gewaltigen Stoß gegen seine Heidenbrust. Da flog der Ungläubige bis über den ragenden Wald, bis unter die ziehenden Wolken und fuhr bis zur Brust in die Erde hinein. Ilja Muromez entreißt dem Ungläubigen das stählerne Messer und schlägt ihm den Kopf bis zu den Schultern ab. Er nahm diesen Kopf, steckte ihn auf ein Stück Lanze und ritt los, geradenwegs zur Feldwache. Er kam zurück zur Feldwache – da wunderten sich alle Recken, wie Ilja Muromez den Ungläubigen überwältigt hatte. Sie warteten und warteten und glaubten, das feindliche Heer werde gleich kommen. Aber von dem Heer war nichts zu sehen. Sie zogen die Recken wieder von der Feldwa580
che ab und ritten zum Fürsten WladimirStrahlende-Sonne. Nur die Grenzwächter blieben zurück. Ilja Muromez brachte dem Fürsten Wladimir ein Geschenk in die Thronstadt Kiew – den Kopf des ungläubigen Heiden. Fürst Wladimir rief alle Recken zusammen, lud sie ein und bewirtete sie. Und alle Recken bewirtete er reichlich und belohnte alle mit Geschenken. Alle hatte er belohnt, Ilja Muromez aber, den Wichtigsten, hatte er vergessen. Ilja Muromez wurde darüber sehr zornig. Er lief hinaus auf den weißen Hof und rief alles betrunkene Volk zu sich. Und er sprach zu ihnen die folgenden Worte: „Es ziemt mir, einem Bauernrecken, nicht, hier zu schmausen und zu zechen, aber es ziemt mir, mit euch zu feiern.“ Er nimmt einen straffen Bogen und legt einen stählernen Pfeil auf die Sehne. Und er sendet diesen Pfeil gegen das goldgedeckte Schloß. Da traf der Pfeil die goldenen Kuppeln, und die Kuppeln fielen herunter auf den weißen Hof. Ilja Muromez aber befahl dem Volk, die Kuppeln zu sammeln und dafür Branntwein zu kaufen. Von der Wucht dieses Pfeiles erzitterte das Schloß Fürst Wladimirs und waren die Recken mehr tot als lebendig. Und Fürst StrahlendeSonne wurde sehr zornig auf Ilja. Aber ein Recke spricht zu ihm die folgenden Worte:
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„Nicht recht tust du, Fürst Strahlende-Sonne: alle Recken hast du bewirtet und beschenkt, Ilja Muromez aber hast du mit nichts beschenkt!“ Da begriff Fürst Strahlende-Sonne, daß er nicht richtig gehandelt hatte. Er nahm seinen Zobelpelz, trägt ihn hinaus auf den weißen Hof, reicht ihn Ilja Muromez und spricht die folgenden Worte: „Nimm’s nicht übel, Ilja Muromez, daß ich dich mit nichts beschenkt habe! Hier schenke ich dir meinen Zobelpelz.“ Ilja Muromez wurde zornig und ergriff den Zobelpelz, ergriff den einen Ärmel, ergriff den anderen Ärmel und riß den Pelz entzwei. Reißt ihn entzwei und sagt dabei: „Wie ich die ungläubigen Heiden zerrissen habe, Fürst Wladimir, so zerreiße ich auch deinen Zobelpelz!“ Fürst Wladimir wagte nicht, ihm zu widersprechen. Er kannte seine große Stärke. Ilja Muromez ging zu seinen Gesellen, kaufte für die goldenen Kuppeln Branntwein und bewirtete das betrunkene Volk. Bald aber gefielen ihm auch diese Gesellen nicht. Er sattelte sein Pferd und brach auf aus der Thronstadt Kiew, verabschiedete sich nicht von den Recken und verabschiedete sich nicht von Fürst Wladimir. Er sprengte los durch das russische Land. Als Ilja Muromez aus Kiew weggeritten war, kam Khan Heidengötze nach Kiew, vertrieb alle Recken, brachte das ganze Zarenreich Fürst Wladimirs in seine Gewalt und machte den Fürsten selber zu seinem Diener. 582
Schwer war es für Fürst Wladimir, das von Heidengötze zu erdulden, aber es war nichts zu machen. Oft dachte er an Ilja Muromez: „Wäre Ilja Muromez hier gewesen, das wäre nicht geschehen, und ich brauchte Heidengötze nicht zu dienen.“ Lange mußte Fürst Wladimir so dienen, aber Ilja Muromez wußte nichts davon. Einmal war er unterwegs, da begegnete ihm ein Wanderer. Dieser Wanderer trug einen Hut von zehn Pud, und einen Wanderstab hatte dieser Wanderer von vierzig Pud. Er begegnete Ilja Muromez und sprach die folgenden Worte: „Ach, wackerer Recke Ilja Muromez! Warum streifst du durchs russische Land und reitest nicht in die Thronstadt Kiew? In der Stadt Kiew ist großes Unheil geschehen. Khan Heidengötze ist über Kiew gekommen. Alle Recken hat er einen nach dem anderen aus dem Zarenreich hinausgejagt, das Zarenreich Fürst Wladimirs in seine Gewalt gebracht, und der Fürst selbst ist jetzt sein Diener.“ Ilja Muromez sagte zu dem Greis: „Und wie kann ich dich nennen, Greis?“ Der Greis antwortete: „Man nennt mich Iwanistsche. Mein Hut wiegt zehn Pud. Mein Wanderstab wiegt vierzig Pud.“ Da sagte Ilja Muromez zu Iwanistsche: „Tritt mir deinen Wanderstab von vierzig Pud ab! Ich will in die Stadt Kiew reiten und ihn Heidengötze zu kosten geben.“ Iwanistsche gab ihm freudig den Stab. 583
Ilja nahm den Stab und ritt zur Thronstadt Kiew. Als Ilja in den weißen Hof geritten war, suchte er aus erster Pflicht Fürst Wladimir auf. Als der Fürst Ilja Muromez sah, freute er sich gleich und spricht zu ihm die folgenden Worte: „Wie lange, Ilja Muromez, bist du nicht zu uns gekommen! Sieh, was sich bei uns zugetragen hat! Auf dem Thron sitzt Khan Heidengötze, und ich diene ihm als sein Diener.“ Da sagt Ilja Muromez: „Warte noch, Fürst Strahlende-Sonne, mir Vorwürfe zu machen! Heidengötze wird nicht einmal bis zum Abend auf deinem Throne sitzen!“ Ilja Muromez ging in den weißen steinernen Palast, wo Heidengötze saß. Kam zu Heidengötze und bat ihn um ein Almosen: „Zar, gib mir Bettler ein Almosen – ich leide wirklich große Not!“ „Lauf in die Küche“, sagt Heidengötze, „dort wird den Bettlern gegeben!“ Aber Ilja Muromez sagte: „Ich will, daß Ihr mir hier ein Almosen gebt!“ Da sprach Heidengötze wie folgt: „Du ziehst viel durch die weite Welt, Greis; hast du nicht irgendeinmal Ilja Muromez gesehen?“ „Wie soll ich Ilja Muromez nicht gesehen haben, wenn wir beide uns sehr oft sehen?“ „Und was für einer ist Ilja Muromez?“ fragt Heidengötze. „Wenn du Ilja Muromez sehen willst, dann sieh mich an, wir sind beide aus dem gleichen Holz geschnitzt!“ 584
Da sagt Heidengötze: „Und ißt Ilja Muromez viel?“ „Ilja Muromez ißt nur eine Semmel und trinkt nur ein Gläschen.“ Da lachte Heidengötze und sagte: „Warum ist denn Euer Recke Ilja Muromez so berühmt? Nimm mich, ich esse sehr viel. An Brot esse ich drei Laibe, an Fleisch esse ich beinah einen ganzen Hammel, und ich trinke drei große Gläser.“ Und Ilja Muromez spricht die folgenden Worte: „Ach, mein Onkel hatte eine Kuh, die trank und fraß viel. Einmal hatte sie so gefressen, daß sie platzte. Paß auf, daß mit dir nicht einmal das gleiche geschieht!“ Da wurde Heidengötze wütend, ergriff sein stählernes Schwert und warf es mit aller Kraft nach Ilja Muromez. Ilja Muromez wich ihm aus, und das Schwert durchschlug die Wand und flog ins Freie. Da ergriff Ilja Muromez seinerseits den Wanderstab von vierzig Pud und traf Heidengötze mit Macht auf den Scheitel. Er zerschmetterte Heidengötze den Schädel. Ilja trat hinaus auf den Hof zu Fürst Wladimir und sagte zu ihm die folgenden Worte: „Schafft Heidengötze weg und richtet das ganze Reich wie früher ein!“ Und Fürst Wladimir Strahlende-Sonne bestieg wieder den Thron seines Zarenreiches. Wieder herrschte er als Zar. Und danach gab er ein Fest für alle Welt.
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Zu dieser Zeit aber wollte ein junger Bojar, Djuk Stepanowitsch mit Namen, in den Dienst des Fürsten treten und nahm Abschied von seiner Mutter. Er kam zu Fürst Wladimir. Fürst Wladimir nahm ihn auf und setzte ihn an seinen Tisch, mit den Recken zu feiern. Er bewirtete Djuk Stepanowitsch. Aber Djuk Stepanowitsch trank so: ein Gläschen trank er aus, und das andere goß er unter den Tisch, eine Semmel aß er, und die andere warf er unter den Tisch. Das bemerkte der Fürst Strahlende-Sonne, und er sagte zu Djuk Stepanowitsch: „Warum, junger Bojar, trinkst du ein Gläschen aus und gießt das andere unter den Tisch, ißt eine Semmel und wirfst die andere unter den Tisch? Gefällt dir vielleicht etwas nicht?“ Djuk Stepanowitsch antwortet dem Fürsten: „Ja, Wladimir Strahlende-Sonne, deine Semmeln sind schon etwas hart, und das Bier riecht schon sehr muffig… Bei meiner lieben Mutter werden die Semmeln in der Backstube alle honigsüß gebacken: die eine ißt du, nach der zweiten streckt sich die Hand aus, die zweite ißt du, die dritte weicht dir nicht aus dem Sinn. Und das Bier steht bei Euch wohl ungepflegt in Fässern und Kellern. Bei meiner Mutter aber ist das Bier in den Fässern aufgehängt, an hohen Ketten. Die Winde kühlen die hohen Fässer, und das Bier kann nicht muffig werden. Ein Gläschen trinkst du, nach dem zweiten streckt sich die Hand von selber aus, das zweite trinkst du – das dritte weicht dir nicht aus dem Sinn. Bei Euch, Fürst Wladimir, hat auch der 586
Ofen die Farbe verloren. Bei uns aber in der Stube sind die Öfen mit Glasur überzogen. Und die Kleider bei Euch, Fürst Wladimir Strahlende-Sonne, sind dunkel und abgetragen, bei meiner Mutter aber sind die Kleider jeden Tag neu.“ Es war da ein Recke, saß am Tisch, mit Namen Tschurila Plenkowitsch. Tschurila Plenkowitsch hörte diese Worte und war sehr gekränkt. Und er sagt zu Fürst Wladimir: „Fürst Wladimir Strahlende-Sonne, laß mich mit ihm eine Wette abschließen. Daß wir beide jeden Tag in neuen Kleidern erscheinen. Ob er wohl für ein ganzes Jahr genügend neue Kleider hat?“ Da hielten die Bojaren Rat und erlaubten ihnen, eine Wette abzuschließen. Und sie wetteten – wenn bei einem die Kleider nicht für ein Jahr reichen, dem soll es den Kopf kosten. Djuk Stepanowitsch wollte nach Hause reiten, um Kleider für ein ganzes Jahr zu holen. Aber Tschurila Plenkowitsch widersetzte sich dem. Er spricht die folgenden Worte: „Ich bin nicht einverstanden damit, Djuk Stepanowitsch nach Hause zu beurlauben. Er könnte die Kleider nicht zu Hause, sondern an anderen Stellen beschaffen. Mag er der Mutter einen Brief nach Hause schreiben, und die wird ihm die Kleider schicken.“ Djuk Stepanowitsch mußte sich fügen. Er setzt sich an die eichenen Tische, nimmt Tintenfaß und Feder und beginnt, der Mutter einen Brief zu schreiben. Und er steckte diesen Brief in einen
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Sack und band den Sack seinem klugen Braunen an den Sattel. Und er trug ihm folgendes auf: „Kluger Brauner, bringe den Brief zu meiner Mutter. Sie soll mir dicke Ballen schicken, damit ich für jeden Tag ein ganzes Jahr lang genügend Kleider habe.“ Und er führte den klugen Braunen hinaus und zeigte ihm den Weg nach Hause. Der Braune lief schnell, wie ein stählerner Pfeil, der vom Bogen geschossen wurde. Der Braune kam auf den weiten Hof, zu Djuk Stepanowitschs Mutter. Die Mutter erschrak sehr – das Pferd kam allein angerannt, und vom Sohn nirgends eine Spur. Sie nahm den Mantelsack herunter, wickelte ihn auf und sieht – auf einem Papier ist etwas geschrieben. Als sie’s durchgelesen hatte, da ahnte sie: der Sohn hat irgend etwas Dummes angestellt. Sie trug alle Kleider zusammen und bemaß sie genau für ein ganzes Jahr. Sie steckte die Kleider in Säcke, band die Säcke dem klugen Braunen auf und schickte ihn zu ihrem Sohn Djuk Stepanowitsch. Der kluge Braune kehrte bald zu seinem Herrn Djuk Stepanowitsch zurück. Djuk Stepanowitsch wurde der Tag genannt, an dem die Recken in neuen Kleidern erscheinen mußten. Und ein ganzes Jahr gingen sie immer in anderen Kleidern. Und am letzten Tag traten beide – Djuk Stepanowitsch und Tschurila Plenkowitsch – in kostbaren Kleidern ein, aus Zobelfell. Tschurila Plenko588
witsch hatte ein sehr kostbares Gewand an, aber Djuk Stepanowitsch ein noch viel besseres: auf dem Rock Djuk Stepanowitschs war ein Ritter mit einem Fräulein. Wenn er seinen Rock zuknöpfte, dann umarmten sich Fräulein und Ritter, wenn er ihn aufknöpfte, küßten sich Fräulein und Ritter. Tschurila Plenkowitsch hielt Rat: „Urteilt, gute Leute! Wer von uns hat seinen Kopf verspielt?“ Und sie fällten ihnen das Urteil und entschieden, daß Tschurila Plenkowitsch seinen Kopf verwettet hatte. Sie wollten ihn auf den Richtplatz hinausführen, aber da trat Ilja Muromez für ihn ein: „Es ist nicht nötig, daß wir Christenblut vergießen, aber es ist nötig, Tschurila Plenkowitsch einen starken Verweis zu geben.“ Tschurila Plenkowitsch gab aber keine Ruhe, begann wieder Streit anzuzetteln, wollte eine neue Wette abschließen. Man beriet – Djuk und Tschurila sollen wieder miteinander wetten. Tschurila Plenkowitsch sagt: „Wer von uns wird auf seinem Pferd den Dneprfluß überspringen? Wer ihn nicht überspringt, dem soll der Kopf abgeschlagen werden.“ Aber auch hier zeigte sich Djuk Stepanowitsch nicht feige, wenn er auch jung war. Und sie ritten auf ihren Pferden, den Dnepr zu überspringen. Da sagt Tschurila Plenkowitsch: „Spring du zuerst, Djuk Stepanowitsch!“ Aber hier widersetzte sich Ilja Muromez:
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„Verloren hast du deinen Kopf, Tschurila, also spring du zuerst!“ Tschurila Plenkowitsch hatte keine Zeit zu widersprechen. Er trieb sein schnelles Pferd an und bohrte seinem Pferd die Sporen in die Weichen. Da machte sein Pferd einen hohen Sprung und schlug mitten auf dem Dnepr auf. Der schnelle Fluß trug das Pferd davon. Da sprang auch Djuk Stepanowitsch. Wie schlug er seinem Pferd in die Weichen! Sein kluger Brauner warf sich auf die andere Seite. Djuk Stepanowitsch packte Tschurila an seinen schwarzen Locken und zog ihn auf die andere Seite. Da sagten alle Recken gleichzeitig: „Djuk Stepanowitsch, schlag Tschurila den Kopf ab, zweimal hat er ihn verspielt!“ Aber Djuk Stepanowitsch wollte dies nicht tun. So blieb Tschurila Plenkowitsch am Leben. Alle Recken kehrten in die Thronstadt Kiew zu Fürst Wladimir zurück und setzten sich wieder an die eichenen Tische. Sie tranken wieder honigsüße Getränke und aßen süße Speisen. Seit jener Zeit wurde es in Kiew immer ruhiger. Keine ungläubigen Feinde wagten es, die Stadt Kiew zu bekriegen. Und Ilja Muromez beschloß, fortzureiten und das russische Land zu durchstreifen. Er ritt weit weg von der Stadt Kiew. Auf einmal kommt er an drei Wege. Und an der Wegkreuzung lag ein riesiger Stein. Und auf dem Stein waren drei Aufschriften:
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„Wer nach rechts reitet – der wird erschlagen werden, und wer nach links reitet – der wird reich werden, und wer geradeaus reitet – der wird verheiratet werden.“ Da überlegte Ilja Muromez: „Zum Heiraten bin ich schon gar zu alt, und Reichtum brauche ich überhaupt nicht. Ich will dorthin reiten, wo man erschlagen werden soll, mir ist vom Schicksal der Tod nicht beschieden.“ Er wendete sein starkes Pferd und sprengte den rechten Weg entlang. Er kommt auf eine breite Lichtung, und auf dieser Lichtung stand eine mächtige Eiche. Unter dieser Eiche saßen vierzig Räuber. Als sie Ilja Muromez sahen, machten sie untereinander aus, ihn zu umringen und zu erschlagen. Aber Ilja Muromez sagte zu ihnen: „Und weswegen wollt ihr mich erschlagen? Reichtümer habe ich nicht bei mir. Mein Pferd kostet fünfhundert Rubel, das Zaumzeug am Pferd kostet hundert Rubel.“ Und er nimmt den straffen Bogen von der Schulter und holt einen stählernen Pfeil aus dem Köcher. Und er legt den Pfeil auf die Sehne. Und er schießt den Pfeil nach der grünen Eiche. Und der Pfeil traf die grüne Eiche, und die Eiche flog splitternd auseinander. Sehr viele Räuber wurden da verwundet. Die übrigen Räuber stürzten nach allen Seiten davon, so daß Ilja Muromez niemanden mehr fand, den er erschlagen konnte. Ilja Muromez kehrte wieder zu dem weißen Stein zurück und löschte hier die alte Aufschrift. 591
Er schrieb eine neue Aufschrift: „Ilja Muromez ist den rechten Weg geritten, aber nicht erschlagen worden.“ Jetzt denkt Ilja Muromez: „Ich muß den Weg reiten, wo man verheiratet wird, denn Reichtum brauche ich nicht.“ Und er ritt den Weg geradeaus. Er kommt zu einem großen Schloß, und in diesem Schloß lebte eine Zarentochter, die lockte immer Freier zu sich. Sie lud sie ein in ihr neues Schlafzimmer und legte die Freier auf ein gefedertes Bett. Ilja Muromez ging in das neue Gemach, und die Zarentochter faßte ihn an seinen weißen Händen und forderte ihn auf, sich auf das gefederte Bett zu legen. Aber Ilja Muromez packte die Zarentochter und legte sie auf das gefederte Bett. Und wie er sie hingelegt hatte – da brach das gefederte Bett durch den Fußboden. Ilja Muromez sah nach unten und sieht – da sind tiefe Keller, und in den Kellern waren viele Menschen. Ilja Muromez lief auf den weiten Hof, suchte die Tür zu den tiefen Kellern, schlug die Tür schnell ab und ließ die Menschen aus den dunklen Kellern. Da bedankten sich alle demütig bei Ilja: „Du unser Retter, Ilja Muromez! Du hast uns vor einem schrecklichen Tode bewahrt!“ Da packte Ilja Muromez die Zarentochter am Zopf und zog sie auf den weiten Hof hinaus; er befahl, auf der Stelle einen Scheiterhaufen anzuzünden, die Zarentochter ins Feuer zu werfen und zu verbrennen. 592
Ilja Muromez ritt wieder zu dem gleichen weißen Stein. Er löscht hier die alte Aufschrift und schreibt eine neue Aufschrift: „Ilja Muromez ist jenen Weg geritten, aber nicht verheiratet worden.“ Jetzt bekam Ilja Muromez Spaß an der Sache: sollte er nicht den dritten Weg reiten? Wird es dort nicht irgendeinen Betrug geben? Und Ilja Muromez ritt den dritten Weg entlang. Ilja Muromez erblickte riesige Keller. Und an diesen Kellern hingen Glocken. Wer Reichtum braucht, der muß am Strick ziehen. Ilja schlug kurzerhand an eine Glocke. Irgendwoher kommt ein Mann mit einem goldenen Stab. Der Mann sperrt die tiefen Keller auf und sagt die folgenden Worte: „Nimm Reichtum, wackerer Held, soviel du brauchst!“ Da ging Ilja in die tiefen Keller, sah sich um und wunderte sich: überall liegt in Unordnung Gold herum. Ilja Muromez hatte sich nie von Gold verlocken lassen. Er nahm auch kein bißchen Gold und ritt wieder zu dem weißen Stein. Er löschte hier die alte Aufschrift und schrieb eine neue Aufschrift: „Ilja Muromez ist hier geritten, aber nicht reich geworden.“ Damit endeten die Taten Ilja Muromez’. Und insgesamt hat Ilja Muromez einhundertfünfzig Jahre gelebt.
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57 Jeruslan Lasarewitsch In einem Zarenreich, in einem Staat, und zwar in dem, in dem wir leben, lebten einmal zwölf Rekken. Das ist noch nicht das Märchen, sondern erst die Einleitung. Das Märchen kommt noch, nach dem Mittagessen, nach dem weichen Vesperbrot. Also gut, es lebten einmal zwölf Recken. Und der stärkste von ihnen war ein Recke namens Lasar Lasarewitsch. Als Lasar Lasarewitsch zwanzig Jahre alt war, begannen Vater und Mutter, ihm eine Braut zu suchen. Aber da gab es bei ihnen folgenden Streit: Fand Lasar Lasarewitsch eine Braut für sich – gefällt sie Vater und Mutter nicht; fanden Vater und Mutter eine – sagt sie Lasar Lasarewitsch nicht zu. Daher verzichtete Lasar Lasarewitsch aufs Heiraten. Und so bat er Vater und Mutter, er wolle durch die weite Welt reiten, sich die Menschen ansehen und sich hervortun. Er ritt und ritt durch verschiedene Länder und kam in ein Zarenreich. Und er hört in diesem Reich heftiges Jammern von Menschen. Aber als er in die Stadt kam, hatte sich das Jammern schon entfernt. Er fragte die ersten Leute, die ihm begegneten: „Was ist hier los, warum haben sie so heftig gejammert?“
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Da erklärten sie ihm: Eine Jungfrau ist zum Fraß für einen Drachen weggeführt worden. Und wegen dieser Jungfrau haben sie so heftig gejammert. Lasar Lasarewitsch fragte: „Warum ist diese Jungfrau zum Fraß weggeführt worden? Vielleicht für ein Verbrechen?“ „Nein, ein Drache hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, bei uns herumzufliegen, und er fraß jeden Tag sechs bis sieben Menschen. Und da ist mit dem Drachen ein Vertrag gemacht worden, sie wollten ihm jeden Tag einen Menschen geben. Und nun ist das Los heute auf sie gefallen.“ Lasar Lasarewitsch gab seinem Pferd die Sporen und ritt zu dem Ort, wo sich der riesige Drache befand. Und dort stand eine Hütte, wohin die zum Fraß Bestimmten geführt wurden. Lasar Lasarewitsch blickte in diese Hütte und sieht – da sitzt eine schöne Jungfrau mit verweinten Augen. Lasar Lasarewitsch trat in die Hütte, aber die schöne Jungfrau bemerkte ihn nicht. Da begann Lasar Lasarewitsch zu sprechen: „Warum, schöne Jungfrau, weinst du?“ Die schöne Jungfrau hob die Augen, erblickte den schönen Recken und antwortete wie folgt: „Wie soll ich nicht weinen, wackerer Held? Gleich wird aus dem See ein riesiger Drache kommen und mich fressen. Geh im guten von hier weg, ehe es zu spät ist, sonst frißt er uns beide! Auf mich ist wenigstens das Los gefallen, aber du würdest unschuldig verderben.“ Aber Lasar Lasarewitsch sagte zu ihr: 595
„Weine nicht, schöne Jungfrau! Hab keine Angst! Bleibe nur ich am Leben, dann bleibst auch du am Leben!“ Er trat zu ihr und bat, sie möge ihm den Kopf kraulen und ihn, sobald das Meer zu schäumen beginnt, wecken. Sie begann ihm den Kopf zu kraulen, und Lasar Lasarewitsch versank in kürzester Zeit in einen tiefen Schlaf. Die schöne Jungfrau aber blickt aufs Meer und sieht – das Meer schäumte und schlug Wellen. Sie erschrak und begann Lasar Lasarewitsch zu wecken. Doch wie sehr sie ihn auch zu wecken suchte, den tiefen Schlaf konnte sie nicht stören. Und auf einmal sah sie den Drachen, wie er ans Ufer stieg, ganz voll Schaum. Da zerfloß die Jungfrau in bitteren Tränen. Und der Strom ihrer Tränen traf gerade auf das weiße Antlitz Lasar Lasarewitschs. Von den brennenden Tränen erwachte Lasar Lasarewitsch und sagt: „Ach, wie lange hast du mit dem Wecken gewartet!“ Er blickte auf die Jungfrau, aber sie lag schon in Ohnmacht. Der Drache aber, als er zwei Menschen sah, sprach mit Menschenstimme: „Aha, anscheinend sind die Menschen hier reicher geworden: statt eines haben sie zwei geschickt!“ Darauf sagte Lasar Lasarewitsch folgendes: „Wie denn, du gedenkst uns aufzufressen, ja?“ Der Drache antwortet:
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„Ich habe nicht nur zwei auf einmal gefressen, sondern schon sieben auf einmal gefressen!“ Da rief Lasar Lasarewitsch: „Und jetzt wirst du wohl schon an einem erstikken!“ Und mit aller Reckenkraft stürzte er sich auf den Drachen, und es entbrannte zwischen ihnen ein heftiger Kampf. Wie lange sie kämpften – wir wissen es nicht. Nur, wie sehr der Drache auch über Lasar Lasarewitsch herfiel – er konnte ihn nicht überwinden. Und auf einmal wurde der Drache ganz schwach und konnte sich nur noch mit Mühe auf Lasar Lasarewitsch werfen. Das bemerkte Lasar Lasarewitsch, nahm all seine Reckenkraft zusammen und schlug dem Drachen mit dem Schwert den Kopf ab. So verendete der Drache unter heftigen Krämpfen. Lasar Lasarewitsch sieht – der Drache liegt entseelt; er kehrte wieder zu der schönen Jungfrau zurück. Aber die lag noch immer in Ohnmacht. Er besprengte sie mit Wasser. Die schöne Jungfrau kam zu sich. Sie sieht – vor ihr steht ein Recke. Sie fragt Lasar Lasarewitsch: „Sage, wunderbarer Recke, wohin ist denn der Drache geraten?“ Und Lasar Lasarewitsch antwortet: „Ich habe dir doch gesagt, schöne Jungfrau: bleibe nur ich am Leben, dann bleibst auch du am Leben. Sieh nur – der Drache liegt entseelt!“ Als die schöne Jungfrau auf den Drachen blickte, entsetzte sie sich und sprach: 597
„Lieber Recke, komm mit zu meinem Vater! Meine Augen wollen dieses Ungeheuer nicht sehen!“ Sie kamen zur ersten Wegkreuzung, und Lasar Lasarewitsch wollte nach rechts abbiegen. Da bat die schöne Jungfrau: „Warum gehst du fort, wunderbarer Recke? Laß uns zu meinem Vater reiten. Er wird dich mit allem belohnen, was du dir nur wünschst.“ Lasar Lasarewitsch entschloß sich, mit der Jungfrau zu reiten. Und als sie zu ihrem Hause kamen, stürzte der Vater ihnen entgegen und fragte die Tochter: „Was ist das, liebes Töchterchen? Ist denn der Drache zu unserem Glück heute nicht herausgekommen?“ „Doch, Vater, der Drache ist herausgekommen, aber es hat sich hier dieser Recke gefunden und den Drachen erschlagen.“ Der Vater lud Lasar Lasarewitsch zu sich ein, und als sie am Tisch saßen, bewirtete er ihn mit dem, was Gott beschert hatte, wie man so sagt. Und danach fragt er: „Wie kann ich Euch danken, wackerer Ritter, für die Rettung unserer Tochter?“ Lasar Lasarewitsch blickte auf die schöne Jungfrau und sagt: „Erlaubt mir, ein Wort zu sagen, und werdet nicht zornig. Ich habe großen Gefallen an Eurer Tochter. Segnet uns zur Ehe, wenn ihr nicht widersprechen wollt!“
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Der Vater widersprach Lasar Lasarewitsch nicht. Er segnete ihn zur Ehe mit seiner Tochter. Und Lasar Lasarewitsch brachte seine junge Frau nach Hause zu seinen Eltern. Lasar Lasarewitsch hatte mit seiner Gemahlin ein Jahr gelebt, da wurde ihnen ein Sohn geboren. Sie gaben ihm den Namen Jeruslan. Als Jeruslan anderthalb Jahre alt war, sah er aus wie ein großer Junge und war so eigenwillig, daß die Mutter ihm nur irgend etwas nicht recht zu machen brauchte, und gleich riß er die Seidenvorhänge und Seidenschnüre der Wiege in Fetzen. Jeruslan wuchs heran und begann auf den weißen Hof zu gehen und sich mit den Bojarenkindern, seinen Altersgenossen, zu tummeln. Und folgendes Unglück trug sich immer wieder mit ihm zu: Wen er an den Arm faßte – dem wurde der Arm abgerissen, wen er mit der Hand schlug – der fiel um und rührte sich nicht mehr, und wen er am Kopf ergriff – der stand ohne Kopf da. Die Altersgenossen aber waren alle Bojarenkinder. Da gingen die Bojaren zu Lasar Lasarewitsch. Sie sagen zu ihm: „Wir sind zu dir mit einer Bitte gekommen. Du hast einen Sohn Jeruslan. Er kommt zu unseren Kindern auf den weißen Hof zum Spielen. Aber er ist gar zu stark: wen er am Arm faßt – dem wird der Arm abgerissen, wen er mit der Hand schlägt – der stürzt zu Boden, und wen er am Kopf packt – der steht ohne Kopf da. Viel Kraft hat Jeruslan, viel! Nur daß bei uns wegen seiner Kraft die Trä-
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nen fließen. Wir bitten dich, erweise uns die Gnade, schick ihn von hier fort!“ Lasar Lasarewitsch kam zu seiner Frau. Seine Frau fragte ihn: „Was ist mit Euch, mein lieber Mann? Ihr seid so sehr bekümmert.“ „Wie soll ich nicht bekümmert sein, mein liebes Weib“, antwortet Lasar Lasarewitsch; „bei guten Menschen werden die Söhne geboren, in der Jugend zur Freude, im Alter zur Stütze und nach dem Tode zum Gedenken. Aber uns bereitet mein Sohn Jeruslan nur großen Kummer. Die Bojaren beschweren sich über ihn, bitten, ihn von Hause wegzuschicken. Sie sagen, er verfährt ungebührlich mit den Bojarenkindern.“ So sagte er, und seine Frau weinte. Und Jeruslan hörte, wie Vater und Mutter ihr Schicksal verfluchten. Da trat er in ihr Gemach, verneigte sich tief bis zur Erde und sagte: „Teure Eltern, scheltet mich nicht und murrt nicht über euer Schicksal. Ich weiß, daß die Bojaren zornig auf euch sind, und ich selbst werde meiner Kraft nicht froh. Es scheint, ich muß durch die weite Welt streifen, mir die Menschen ansehen und mich hervortun. Nur brauche ich ein stählernes Schwert und eine Reckenrüstung, und dann kann ich mich auf den Weg machen.“ Das hörte die Mutter und begann noch mehr als vorher zu weinen. Aber Jeruslan trat zu seiner Mutter und redete ihr gut zu.
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„Weine nicht, liebes Mütterchen, all das ist zum besten. Mir ist gar nicht weh ums Herz. Ich reite mit großer Lust, nur schade, daß es mir an einem Reckenpferd fehlt!“ Da wunderte sich Lasar Lasarewitsch: .Was heißt das? Pferde habe ich viele in meinem Stall. Du kannst dir aussuchen, welches du willst!“ Aber Jeruslan Lasarewitsch widersprach ihm: .Mein lieber Vater! Schon längst habe ich die Pferde in unserem Pferdestall geprüft. Sobald ich meine Hand auf ein Pferd lege, hört dieses Pferd auf zu atmen. Das eben ist mein Kummer, daß in unserem Stall kein schnelles Pferd für mich ist!“ „Nun gut, Jeruslan! Wenn diese für dich nicht taugen, dann reite in die Bannwiesen. Ein Wächter ist dort, Iwaschka mit Namen. Mein Pferdeknecht ist er, hütet die Pferde schon dreißig Jahre. Bei ihm kannst du dir ein gutes Pferd aussuchen.“ Jeruslan Lasarewitsch machte sich fertig zur Reise. Er nahm einen türkischen Sattel mit, eine Riemenpeitsche und eine Pferdedecke, dazu eine lange Lanze und ein stählernes Schwert. Nahm Abschied von Vater und Mutter und trat froh aus dem weißen, steinernen Palast. Ging er nun lange oder kurze Zeit, nah oder fern – ein Märchen ist bald erzählt, aber eine Tat wird nur mühsam getan. Er ging und ging und stieß plötzlich auf eine breite Straße. Die Straße war von Pferdehufen zerstampft. Der Recke sah’s und wunderte sich: Was heißt das? Wer reitet auf dieser Straße? Eine 601
große Streitmacht, oder hat ein Recke die Straße so zerstampft? Aber er brauchte nicht lange zu überlegen: er sah eine Pferdeherde gerade auf sich zukommen. Die Pferde jagten im Galopp vorbei. Jeruslan Lasarewitsch weidete sich am Anblick der Pferde, aber zu fangen wagte er sie nicht. Und wieder sieht er: hinter der Herde kommt ein Recke geritten, und das Pferd unter ihm ist ein starker Schecke. Der Recke ritt neben Jeruslan Lasarewitsch, hielt sein Pferd an und verneigte sich tief vor ihm: „Viele Jahre Gesundheit wünsche ich dir, Jeruslan Lasarewitsch!“ Jeruslan Lasarewitsch wunderte sich: „Woher weißt du denn, wackerer Recke, wer ich bin?“ „Wie soll ich das nicht wissen?“ antwortet der Recke. „Ich habe dich doch schon von klein auf gesehen. Wußte, wie du in der Wiege gelegen und die Seidenvorhänge zerrissen hast. Ich bin der treue Wächter deines Vaters, man nennt mich Iwaschka, mein Pferd aber – Siw Alotjagilej. Und nun, Jeruslan Lasarewitsch, sage, aus welchem Grunde bist du hier? Hat der Vater dich geschickt, oder bist du von selber gekommen?“ Da sagte Jeruslan Lasarewitsch: „Nicht der Vater hat mich geschickt, und nicht von selber bin ich gekommen. Ich will durch die weite Welt streifen, mir die Menschen ansehen und mich hervortun. Nur die eine Sorge habe ich, daß ich kein Reckenpferd habe.“ Darauf sagte Iwaschka das folgende:
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„Sei nicht traurig, Jeruslan Lasarewitsch, das läßt sich in Ordnung bringen. Ich werde dir helfen, ein Pferd zu finden. Es wird ein gutes Pferd sein. Warte bis morgen: mit Sonnenaufgang werde ich meine Herde zur Tränke treiben. Versteck dich in einem Hinterhalt nahe der Straße. Es wird ein schwarzes Pferd gerannt kommen – Schwarzer Sturmwind mit Namen –, das mußt du fangen. Vermagst du’s zu fangen, wird es dein Pferd. Vermagst du’s nicht, wirst du das Pferd nicht zu sehen bekommen.“ Am Morgen versteckte sich Jeruslan vor Sonnenaufgang in einem Hinterhalt nahe der Straße. Als sich am Horizont die rote Sonne zeigte, erblickte er eine ganze Herde Pferde. Die Pferde kamen an ihm vorbei. Jeruslan hält Ausschau: wo ist denn hier das Reckenpferd Schwarzer Sturmwind? „Aha, dort läuft es!“ Der Schwarze Sturmwind lief zum Fluß und trank das kalte Wasser. Als er sich satt getrunken hatte, schlug er mit seinem Huf die Erde. Unter seinen Hufen sprühten die Funken, und eine große Flamme fuhr empor. Und vor diesem Hufschlag verbargen sich alle Tiere in ihren Höhlen, und die Vögel flogen zum Himmel empor. Das Pferd wandte sich um und jagte dorthin, wo Jeruslan Lasarewitsch ihm im Hinterhalt auflauerte. Sobald es auf gleicher Höhe mit Jeruslan Lasarewitsch war, kam Jeruslan aus seinem Hinterhalt hervorgeflogen wie ein schneller Pfeil vom straffen Bogen, packte das Pferd an der langen Mähne und 603
zog mit seiner mächtigen Hand so stark, daß das Pferd nicht standhielt und auf die Vorderbeine stürzte. Es ließ zu, daß Jeruslan Lasarewitsch ihm den geflochtenen Zügel anlegte, den türkischen Sattel und die Decke, und ließ Jeruslan Lasarewitsch gefügig aufsitzen. Jeruslan Lasarewitsch bestieg das Pferd, und sein Herz begann zu schlagen, und seine Seele drängte in die unüberschaubare Ferne. Gerade wollte Jeruslan Lasarewitsch reiten, da erschien Iwaschka auf seinem Siw Alotjagilej. Jeruslan Lasarewitsch hielt sein Pferd zurück und wartete auf Iwaschka. Der kam, und Jeruslan Lasarewitsch dankte ihm für seinen Rat und sagte: „Dieses Pferd wird für mich das richtige sein!“ Und er sagte noch: „Sobald du zum Vater kommst, Iwaschka, – überbringe ihm meinen ergebenen Gruß und sage: ‚Dein Sohn hat ein herrliches Pferd gefunden und ist in ferne Länder geritten, das Glück zu suchen.’“ Iwaschka sah sich um, aber Jeruslan Lasarewitsch war schon längst nicht mehr zu sehen. Jeruslan Lasarewitsch ritt lange Zeit, kommt auf ein weites Feld und sieht – auf dem Felde liegt eine große Streitmacht, völlig geschlagen. Er ritt in die Mitte des Feldes und rief: „Nun, ist keiner in diesem Heer am Leben?“ Und aus dem Berg toter Körper erhebt sich ein Krieger und fragt: „Was willst du, wackerer Recke?“
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„Sage mir doch, wackerer Mann, wem gehört diese große Streitmacht?“ „Diese große Streitmacht gehört dem Fürsten Fedoul Smejewitsch13. „Und wer hat sie geschlagen?“ „Geschlagen hat sie Iwan der russische Recke.“ „Und in welche Richtung ist Iwan der russische Recke geritten?“ fragt Jeruslan Lasarewitsch. „Reite rings um dieses Feld, und du wirst die Spuren Iwans des russischen Recken sehen. Denn sein Pferd wühlt mit den Hufen ganze Hügel auf. Nur wirst du ihn wohl nicht einholen: sein Pferd – Wunder über Wunder, Staunen über Staunen – steigt beinahe höher als der ragende Wald und streift beinahe die ziehenden Wolken.“ Jeruslan Lasarewitsch wendete sein Pferd und stieß bald auf die Spuren Iwans des russischen Recken. Er ließ seinem Pferd die Zügel schießen, ritt und ritt und stieß auf eine andere große Streitmacht. Und die lag gleichfalls geschlagen. Jeruslan Lasarewitsch ritt in die Mitte und rief laut: „Ist einer am Leben in der großen Streitmacht?“ Da erhebt sich aus dem Berg toter Körper ein Krieger und sagt: „Was willst du, wunderbarer Recke?“ „Ich möchte gern wissen, wem diese große Streitmacht gehört und wer sie geschlagen hat.“
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Smejewitsch – etwa „Schlangensohn“ oder „Drachensohn“. (Anm. d. Übers.)
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„Diese große Streitmacht gehört dem Fürsten Fedoul Smejewitsch, und geschlagen hat sie Iwan der russische Recke.“ „Und in welche Richtung ist Iwan der russische Recke geritten?“ „Reite rings um das Feld und du wirst bald seine Spur finden. Denn er hat ein Wunderpferd. Ganze Hügel wühlt sein Pferd mit den Hufen auf. Du wirst ihn wohl bald einholen, denn ich sehe – das eine Pferd ist besser als das andere, und der eine Held ist kühner als der andere.“ Jeruslan Lasarewitsch ritt um das Feld herum, stieß bald auf die Spur Iwans des russischen Rekken und jagte seinen Schwarzen Sturmwind in vollem Galopp der Spur nach. Er ritt und ritt lange Zeit, und endlich sieht er – auf einer Wiese ist ein weißes Leinenzelt aufgeschlagen. Und an diesem Zelt steht ein Pferd angebunden und frißt Mais. Jeruslan Lasarewitsch stieg von seinem Pferd, ließ es laufen, und der Schwarze Sturmwind ging zu dem Mais. Das andere Pferd witterte das starke Pferd und ging weg von dem Mais. Und Jeruslan Lasarewitsch betritt das weiße Leinenzelt und sieht: da liegt ein Recke und ruht in tiefem Schlaf. Jeruslan betrachtete ihn, wollte ihn wecken, besann sich aber und wollte den süßen Schlaf des Recken nicht unterbrechen. Er streckte sich in seiner ganzen Größe aus und sank gleichfalls in tiefen Schlaf. Und als er aufwachte, sieht er – vor ihm steht ein Recke. Und das war Iwan der russische Recke.
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Iwan der russische Recke sieht, daß der unbekannte Gast aufgewacht ist, nimmt einen Becher, füllt ihn mit funkelndem Wein und sagt: „Nach unserer russischen Sitte möchte ich dich bewirten, wunderbarer Recke. Wer bist du und woher kommst du?“ Jeruslan Lasarewitsch dankte Iwan dem russischen Recken für das freundliche Wort und den berauschenden Wein, leerte den Becher und begann, alles der Reihe nach von sich zu erzählen. Und folgendes sagte zu Iwan dem russischen Recken Jeruslan Lasarewitsch: „Ich habe geglaubt, ich werde keinen in der Welt finden, der mir gleich ist, aber jetzt sehe ich, es gibt auf der Welt einen viel Stärkeren als mich. Vergib mir und laß uns beide Brüderschaft schließen. Sei du mir der ältere Bruder, und ich will dir der jüngere Bruder sein!“ Sie schlossen Brüderschaft und begannen wieder zusammen zu essen und einander mit funkelndem Wein zu bewirten. Und als sie getrunken hatten, fragte Jeruslan Lasarewitsch Iwan den russischen Recken: „Warum hast du auf dem Felde die zwei großen Heere geschlagen?“ Iwan der russische Recke antwortet: „Wie hätte ich denn handeln sollen, lieber Bruder? Ich liebe Kandaula, die Tochter Fedoul Smejewitschs mehr als die helle Sonne und bin geritten, um sie zu freien; aber ihr Vater hat mich mit einem unzählbaren Heer empfangen. Da haben wir gekämpft – und du siehst, wieviele Krieger bei 607
Zar Fedoul gefallen sind. Und jetzt habe ich beschlossen, ihm folgendes zu sagen: ,Hör auf, Fedoul Smejewitsch, das Leben unschuldiger Menschen zu opfern, gib mir Kandaula Fedoulowna zur Frau und laß uns im guten auseinandergehen!’“ Iwan der russische Recke ritt zurück zum Zarenreich Fedoul Smejewitschs, bei Fedoul um die Hand seiner Tochter zu bitten. Und Jeruslan Lasarewitsch ritt zusammen mit ihm, um zu sehen, wie das Freien Iwans des russischen Recken enden würde. Ein kleines Stück vor der Stadt blieb Jeruslan Lasarewitsch unter einer breitastigen Eiche zurück. Iwan der russische Recke aber ritt bis an die Stadt heran, wo Fedoul Smejewitsch mit seinem Heer stand. Iwan der russische Recke stieß in sein Kriegshorn. Und Fedoul Smejewitsch, als er die Töne des Horns gehört hatte, sammelte sein Heer. Er führte das Heer aus dem Stadttor und stellte es in Kampfordnung auf. Aber Iwan der russische Rekke gab Zeichen, daß er friedliche Verhandlungen führen will. Dagegen hatte Fedoul Smejewitsch nichts einzuwenden, er erinnerte sich, wie Iwan der russische Recke ihm zwei große Heere geschlagen hatte. Iwan der russische Recke kam zu ihm und sagte: „Warum, Fedoul Smejewitsch, vergießt du das Blut unschuldiger Menschen? Warum willst du mir deine Tochter Kandaula Fedoulowna nicht zur Frau geben? Weißt du denn nicht: ich werde sowieso 608
die Oberhand über dich behalten, und die wunderschöne Kandaula wird meine Frau werden. Machen wir es doch lieber so: gib mir deine Tochter Kandaula Fedoulowna zur Frau – und wir kommen ohne Blutvergießen aus!“ Wie Fedoul Smejewitsch auf Iwan den russischen Recken und auf sein Heer blickte, dachte er: zu stark ist dieser Recke, man kann ihn nicht bezwingen. Und er war auf der Stelle einverstanden, ohne den Kampf zu eröffnen. Und alle ritten als Gäste zu Fedoul Smejewitsch. Fedoul Smejewitsch gab ein Fest und bewirtete Iwan den russischen Recken – seinen künftigen Schwiegersohn – und Jeruslan Lasarewitsch. Sie tranken aus und begannen ein Gespräch: wie kann Iwan der russische Recke möglichst schnell mit Kandaula Fedoulowna getraut werden? Fürst Fedoul war nun mit allem einverstanden, und bald fand die Hochzeit seiner Tochter mit Iwan dem russischen Recken statt. Nach der Trauung setzten sich alle zu Tisch und begannen wieder zu feiern. Und Jeruslan Lasarewitsch wandte sich mit den folgenden Worten an die Fürstin Kandaula Fedoulowna: „Teure Kandaula Fedoulowna! Sage, gibt es in der Welt eine, die schöner ist als du?“ Kandaula Fedoulowna sagte: „Was bin ich schon für eine Schönheit? Aber im Debrischen Zarenreich – dort gibt es eine Schönheit. Es steht auf dem Felde ein weißes Leinen609
zelt. Und in diesem Zelt wohnen drei Schwestern. Von diesen drei Schwestern die jüngste – die ist schöner als ich.“ „Und sage, Fürstin, gibt es in der Welt einen, der stärker ist als ich, außer Iwan dem russischen Recken?“ Da sagte die Fürstin zu ihm: „Ich habe gehört, im Zarenreich Dalmatien gibt es einen Wächter Iwaschka, genannt Weißer Mantel, Sorotschinsker Mütze. An dem kann kein einziges Tier vorbeilaufen, kein einziger Vogel vorbeifliegen und kein einziger Recke vorbeireiten. Alle besiegt er. Aber ich kann nicht sagen, wer von euch stärker ist – Iwaschka oder du!“ Da sagt Jeruslan Lasarewitsch: „Ich danke dir, Fürstin, für den guten Rat!“ Und begann sich zu verabschieden. Sie wollten ihn überreden, wenigstens noch einen Tag zu bleiben. Aber Jeruslan Lasarewitsch blieb bei seinem Entschluß und ritt nach dem Debrischen Zarenreich zu den drei Schwestern. Er reitet auf dem Wege, von dem ihm die Fürstin gesprochen hat. Er ritt sehr lange und erblickte schon von ferne das weiße Leinenzelt. Er kam zu diesem Zelt, stieg vom Pferd und trat ins Zelt. Die drei schönen Schwestern saßen an ihrer Handarbeit: die eine nähte, die andere schnitt die kostbaren Kleider zu. Sie erblickten den teuren Gast, wurden verwirrt, begannen hin und her zu laufen und wußten nicht, was sie tun sollten. Da sagte Jeruslan Lasarewitsch:
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„Habt keine Angst, ihr Schönen! Ich bin nicht als Feind zu euch gekommen. Im Gegenteil, ich habe von euch viel Gutes gehört und wollte euch kennenlernen!“ Da erröteten die Jungfrauen und betrachteten den Recken. Er aber trat zur jüngsten, Leila mit Namen, und sagte folgendes: „Liebe Leila, sag doch, gibt es auf der Welt eine, die schöner ist als du?“ Da sagte Leila: „Was bin ich schon für eine Schönheit! Aber Fürst Wachramej hat eine Tochter, Nastasja Wachramejewna, das ist eine Schönheit: auf der Stirn brennt ihr ein Stern, unter dem Zopf glänzt ein Mond, und wenn sie zu sprechen beginnt, ist’s, als ob ein Bächlein rauscht, und wenn sie blickt – als ob sie einen Silberrubel schenkt.“ „Und sage, teure Leila, gibt es auf der Welt einen, der stärker ist als ich, außer Iwan dem russischen Recken?“ „Ich habe gehört“, sagt Leila, „im Zarenreich Dalmatien gibt es einen Recken, genannt Iwaschka Weißer Mantel, Sorotschinsker Mütze. An dem, sagt man, ist noch kein Tier vorbeigelaufen, noch kein Vogel vorbeigeflogen und noch kein Recke vorbeigeritten. Doch wer von euch stärker ist, kann ich nicht sagen: ihr habt eure Kräfte noch nicht miteinander gemessen.’ Jeruslan Lasarewitsch unterhielt sich noch ein wenig und verabschiedete sich dann. Er trat hinter das weiße Leinenzelt, wo ihn das Pferd Schwarzer Sturmwind erwartete, sprang auf 611
sein Pferd und sprengte rasch davon wie ein stählerner Pfeil, der vom straffen Bogen geschossen wurde. Die wunderschöne Leila aber blickte ihm lange nach, und die Tränen rollten ihr über die Wangen: gar zu sehr hatte ihr Jeruslan der Recke gefallen. Jeruslan Lasarewitsch ritt und ritt und wollte ins Zarenreich Dalmatien reiten, dann aber änderte er seinen Sinn und dachte an Zar Wachramej und an Nastasja Wachramejewna. Und was ist, wenn ich zum Zaren Wachramej reite und Nastasja Wachramejewna mir gefällt? Aber ich habe meine Eltern nicht um den Segen gebeten! Ich will doch lieber zu meinen Eltern reiten und ihren Segen erbitten. Das tat er auch. Er wendete sein Pferd und sprengte davon in seine Stadt. Es war nicht mehr sehr weit bis zu seiner Stadt, da sieht er auf einmal und traut seinen Augen nicht: rings um seine Stadt steht ein unübersehbares feindliches Heer. Und er erfuhr, daß Fürst Danilo Bely vor die Stadt gezogen ist. Und er will ihr Zarenreich zerschlagen, keinen Stein auf dem anderen lassen und alle Recken in die Gefangenschaft führen. Sobald Jeruslan Lasarewitsch das erfahren hatte, wurde er sehr zornig, zog seinen Sattel fester an, nahm die lange Lanze, das stählerne Schwert und stürzte sich in das feindliche Heer. Die Krieger der Horde schrien auf, ließen ihren Kriegsruf erschallen, umringten Jeruslan Lasare-
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witsch von allen Seiten und begannen auf ihn einzudringen. Jeruslan Lasarewitsch nahm sein Schwert und begann rechts und links ein Gemetzel. Und doch erschlug er mit seinem Schwert nicht so viel Feinde, wie sein Pferd mit dem Huf zertrat. Lange gaben sich die Feinde nicht geschlagen, aber endlich wurden sie matt und begannen zu weichen. Aber Jeruslan Lasarewitsch schonte keinen einzigen Feind, sondern schlug immer stärker und stärker zu. Und auf einmal sieht er den Fürsten Danilo Bely. Er setzte ihm nach, holte ihn ein und warf ihn aus dem Sattel. Fürst Danilo Bely bat um Gnade, und Jeruslan Lasarewitsch nahm ihm einen Eid ab – nie mehr gegen die Stadt zu ziehen, wo Lasar Lasarewitsch lebte. Und zum Zeichen des Eides aß Danilo Bely eine Handvoll Erde. Und Jeruslan Lasarewitsch ließ Danilo Bely frei. Das alles aber hatten sie von der Stadt aus gesehen, doch wußten sie nicht, wer die feindlichen Horden vernichtet hatte. Als Jeruslan Lasarewitsch ans Tor geritten kam, sperrten sie es auf und ließen den Recken mit großen Ehren ein. Er trat ein und begrüßte seine Eltern. Vater und Mutter freuten sich sehr über ihn, daß sie nicht imstande waren, die Tränen zurückzuhalten. Und zu Ehren der Ankunft des Sohnes gaben sie ein 613
Fest, daß die ganze Stadt drei Tage lang fröhlich war. Nach dem Fest aber sagte Jeruslan Lasarewitsch folgendes: „Ich danke euch, Vater und Mutter, für das Fest – ich habe schön gefeiert. Nur bitte ich, mir zu vergeben. Ich habe noch nicht genug gefeiert. Mein ungestümes Herz gebietet mir, durch die weite Welt zu streifen, mir die Menschen anzusehen und mich hervorzutun.“ Da sagt der Vater: „Man kann den Falken nicht im engen Käfig zurückhalten!“ Sie segneten ihn und rüsteten ihn aus für die Reise. Und Jeruslan Lasarewitsch ritt fort ins dalmatische Zarenreich mit der Absicht, danach Nastasja Wachramejewna zu besuchen. Er ritt und ritt, und das dalmatische Reich war schon zu sehen. Er sieht sich um: und wo ist der Wächter Iwaschka Weißer Mantel? Hat jemand ihn erschlagen, oder ist er eines natürlichen Todes gestorben? Er sah sich noch weiter um und sagt: „Ach, da ist ja Iwaschka! Ich erkenne ihn am weißen Mantel und der Sorotschinsker Mütze.“ Er ritt zu Iwaschka und sieht: Iwaschka hat sich auf seinen langen Speer gestützt und schläft fest. Und in diesem Augenblick nimmt Jeruslan Lasarewitsch seine Peitsche, schlägt Iwaschka auf seine Sorotschinsker Mütze und sagt dazu:
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„Warum schlaft Ihr im Stehen? Wackere Recken schlafen nicht im Stehen!“ Iwaschka wachte auf und begann mit grober Stimme zu sprechen: „Was bist du denn für ein Recke? Was hast du hier zu suchen? Weißt du nicht, daß an meiner Grenzwache kein Tier vorbeirennt, kein Vogel vorbeifliegt und kein Recke vorbeireitet? Und du hast dich erdreistet, mich mit der Peitsche zu schlagen. Was bist du eigentlich für ein Naseweis?“ Jeruslan Lasarewitsch sagt: „Ich will Euer dalmatisches Zarenreich besuchen, aber ohne deine Genehmigung kann ich das nicht.“ Und Iwaschka sagt: „Nein, so lasse ich dich nicht fort. Wir wollen unsere Kräfte messen. Wenn du siegst – lasse ich dich vorbei. Wenn du nicht siegst, hast du am längsten gelebt.“ Jeruslan Lasarewitsch beschloß zu versuchen, wer stärker ist. Sie ritten auseinander und flogen dann aufeinander zu. Jeruslan traf Iwaschka mit dem stumpfen Lanzenende. Und von diesem Stoß flog Iwaschka ohnmächtig aus dem Sattel. Und das Pferd Jeruslan Lasarewitschs trat Iwaschka auf den Halsschutz der Rüstung und drückte ihn gegen die Erde. Da setzt Jeruslan Lasarewitsch seine Lanze auf Iwaschkas Brust und sagt: „Nun, wie ist’s, Iwaschka, läßt du mich ein ins dalmatische Zarenreich oder nicht?“ Iwaschka sagte: 615
„Du kannst gehen, wohin du willst.“ Jeruslan Lasarewitsch ritt nun geradewegs in die Hauptstadt zum dalmatischen Zaren. Kam in die Stadt und bat, ihn vorzulassen. Der Zar befahl, Jeruslan Lasarewitsch vorzulassen, und fragt: „Sage, wackerer Held, wie heißt du?“ „Ich heiße Jeruslan Lasarewitsch.“ „Und wie bist du denn, wunderbarer Recke, an meiner Grenzwache vorbeigekommen, und wie hat sich mein treuer Wächter Iwaschka Weißer Mantel, Sorotschinsker Mütze, erdreistet, dich vorbeizulassen? An ihm ist noch kein Tier vorbeigerannt, noch kein Vogel vorbeigeflogen und noch kein Mensch vorbeigeritten!“ Jeruslan Lasarewitsch antwortet: „Es ist richtig, dein Wächter hat mich nicht vorbeilassen wollen. Aber wir haben unsere Kräfte gemessen, und er war schwächer als ich, da mußte er mich vorbeilassen.“ Der dalmatische Zar erschrak und sagte zu sich: „Es ist da ein Recke angekommen, ich weiß nicht warum und weswegen. Gewiß will er sich mein Zarenreich aneignen. Wenn er schon Iwaschka besiegt hat, dann wird er mein Heer wie Krautköpfe zusammenhauen und sich mein Zarenreich aneignen.“ Er sprach freundlich mit Jeruslan Lasarewitsch und bewirtete ihn mit allen erdenklichen Weinen. Jeruslan Lasarewitsch läßt sich bewirten und sieht, daß der dalmatische Zar ihn fürchtet. Er 616
dankte ihm für die Gastfreundschaft und ritt sogleich aus dem dalmatischen Zarenreich. Jeruslan Lasarewitsch ritt mit der Absicht, Nastasja Wachramejewna aufzusuchen, und auf einmal begegnet ihm ein Wanderer. Dieser Wanderer verneigte sich tief vor Jeruslan Lasarewitsch und sagte: „Viele Jahre Gesundheit, Jeruslan Lasarewitsch!“ Jeruslan Lasarewitsch hörte diese Worte, hielt sein Pferd an und fragte: „Woher kennst du mich denn, Greis?“ „Wie soll ich dich nicht kennen? Du bist doch aus einer Stadt mit mir.“ „Und bist du schon lange von dort fort, Alter?“ „Schon einen Monat.“ „Und was geht dort vor sich?“ „Ach, Jeruslan Lasarewitsch! Ich sehe, du hast keine Ahnung. Ein solches Unglück ist über unsere Stadt hereingebrochen! Fürst Danilo Bely ist vor die Stadt gezogen und hat sie ganz zerstört, keinen Stein auf dem anderen gelassen. Alle Recken hatte er in die Gefangenschaft geführt, deinem Vater und den Recken die Augen ausgestochen!“ Als Jeruslan Lasarewitsch das gehört hatte, war ihm, als würde ihm das ungestüme Herz herausgerissen. Er wendete sein Pferd und jagte ins Zarenreich des Fürsten Danilo Bely. Er kam zu dem Gefängnis, in dem sein Vater, seine Mutter und alle Recken eingeschlossen waren. Aber die Wächter ließen ihn nicht heran. Da sagt er von ferne: 617
„Viele Jahre Gesundheit dir, liebe Mutter, und dir, lieber Vater, und allen Recken!“ Das hörte Lasar Lasarewitsch und sagt: „Treibe nicht deinen Spott, guter Mann. Du bist nicht mein Sohn. Wenn mein Sohn hier wäre, dann säßen wir nicht in diesem Gefängnis und erlitten nicht solche Qualen.“ „Glaube mir, teurer Vater, ich bin in Wahrheit Euer Sohn. Einen Eid hatte mir Danilo Bely geschworen, unsere Stadt nicht anzutasten. Und danach ist er gegen Euch gezogen und hat Euch die Augen ausgestochen. Lieber Vater, ich bin bereit, alles auf der Welt zu opfern, um Euch die Augen zurückzugeben, aber ich bin nur ein schwacher Mensch.“ „Es scheint, ich erkenne ihn: das ist mein Sohn, Jeruslan Lasarewitsch! Das bist du, mein lieber Sohn“, schrie Lasar Lasarewitsch. „Reite nach der Stadt Stschetin, in dieser Stadt regiert ein Zar mit Namen Feuerschild-Flammenspeer. Wer diesen Zaren erschlägt und seine Galle nimmt und in den Bergen noch das Wasser des Lebens findet und mit diesem Wasser des Lebens die Augen wäscht, der gibt uns das Augenlicht wieder.“ Sobald Jeruslan Lasarewitsch das gehört hatte, beschloß er, sogleich nach der Stadt Stschetin zu reiten. Er ging weg vom Gefängnis, bestieg sein Pferd und sprengte davon. Er ritt und ritt und stieß plötzlich auf eine große geschlagene Streitmacht. In ihrer Mitte aber lag ein Kopf von gewaltiger Größe, wie ein Heuschober, und dieser Kopf schnarchte in allen Tonarten. 618
Jeruslan Lasarewitsch rief: „Wie steht’s, ist auf diesem Schlachtfeld noch einer am Leben oder nicht?“ Der Kopf öffnete die Augen und gähnte: „Was willst du, starker Recke?“ „Sage doch bitte, wem gehört diese große Streitmacht?“ „Diese große Streitmacht gehört einem Zaren mit Namen Feuerschild-Flammenspeer.“ „Und wer hat diese große Streitmacht geschlagen?“ „Geschlagen habe ich sie, Roslanja der Recke“, antwortet der Kopf. „Ja, wie hat sich denn das zugetragen? Die große Streitmacht hast du geschlagen und liegst jetzt selber hier?“ „Das hat sich wie folgt zugetragen“, antwortet der Kopf. „Mein Vater hatte früher einen heftigen Kampf mit dem Vater des Zaren FeuerschildFlammenspeer. Er schlug meinen Vater. Ich war noch zu klein. Aber als ich herangewachsen war, wollte ich am Mörder meines Vaters Rache nehmen und wollte Feuerschild mit Krieg überziehen. Mein Bruder sagte mir folgendes: ‚Überziehe Feuerschild nicht mit Krieg. Wenn du auch tüchtig bist, aber Feuerschild wird dich besiegen, weil ihm kein Schwert etwas anhaben kann. Wenn du aber siegen willst, dann reite zuerst durch dreimal neun Länder auf die Insel Bujan. Dort liegt in einem Keller ein stählernes Schwert. Hast du dieses Schwert geholt, kannst du Feuerschild besiegen.’ Ich überlegte nicht lange, machte mich auf nach 619
dieser Insel Bujan, suchte dort den Keller, riß ihn ein und fand das stählerne Schwert. Ich nahm diese Waffe voll Freude und dachte – der Sieg wird auf meiner Seite sein. Ich ritt vor die Stadt Stschetin und stieß in mein Kriegshorn. Als Feuerschild erfuhr, was los war, sammelte er sein Heer und zog selbst gegen mich zu Felde. Aber sie sind alle auf dem Schlachtfeld geblieben. Feuerschild sah, daß sein ganzes Heer geschlagen war, und flog ungestüm auf mich zu. Er hoffte, kein Schwert werde ihm etwas anhaben können. Doch ich traf ihn mit dem Schwert, und er stürzte aus dem Sattel. Da begannen die Diener Feuerschilds zu sprechen: ‚Auf, Held! Schlag nur noch einmal zu, damit er merkt, mit wem er es zu tun hat!’ Ich schlug kurzerhand noch einmal zu. Wie ich zugeschlagen hatte, geschah ein großes Wunder: das Schwert sprang von selbst zurück und schlug mir den Kopf ab. Da merkte ich, daß ich nicht mehrmals schlagen durfte. Mein Bruder sprang rechtzeitig herzu, riß mir das Schwert aus den Händen und legte es mir unter den Kopf. Viele vorbeiziehende Recken wollten das Schwert unter meinem Kopf hervorholen. Doch niemandem habe ich dieses Schwert überlassen. Auch jetzt ist es unter meinem Kopf verwahrt.“ All das erzählte der Kopf Roslanjas des Recken dem Jeruslan und fragte ihn: „Und wohin reitest du?“ Jeruslan Lasarewitsch sagte: 620
„Ich reite gerade zu diesem FeuerschildFlammenspeer.“ „Und weswegen reitest du dorthin?“ „Unsere Stadt hat Fürst Danilo Bely überfallen, hat Vater, Mutter und alle Recken in die Gefangenschaft geführt und ihnen die Augen ausgestochen. Da haben sie mir gesagt: du mußt in die Stadt Stschetin reiten, dort Wasser holen und damit die Augen bestreichen. Dann werden mein Vater, meine Mutter und alle Recken wieder sehen. Deswegen also reite ich.“ „Nein, Jeruslan Lasarewitsch, wenn du auch reitest, so erreichst du doch nichts.“ „Und warum?“ „Darum, weil dieser Feuerschild freiwillig niemals etwas gibt. Er hat die Gewohnheit, seine Kräfte zu messen. Siegst du – gibt er, siegst du nicht – gibt er nicht. Besiegen aber kannst du ihn nicht, weil ein einfaches Schwert ihm nicht einmal eine kleine Schramme zufügt. Ich werde dir mein Schwert überlassen. Ohne dieses Schwert kannst du Feuerschild auf keine Weise bezwingen. Aber leiste mir einen Dienst: wenn du ihn erschlagen hast, nimm ihm die Galle heraus, bestreiche mit ihr meinen Hals, füge meinen Kopf daran – und ich werde wieder aufstehen.“ Jeruslan Lasarewitsch gab Roslanja dem Recken das eidliche Versprechen, Wasser des Lebens zu bringen und auch die Galle Feuerschilds zu holen. Sogleich fuhr der Kopf Roslanjas des Recken von dem Schwert herunter, und Jeruslan Lasarewitsch erblickte dieses kostbare, unbezwingbare 621
Schwert. Jeruslan Lasarewitsch nahm das Schwert und ritt zur Stadt Stschetin. Er ritt bis zur Grenze, doch hier wollten sie ihn nicht durchlassen. Jeruslan Lasarewitsch bat, sie sollten ihn vor Feuerschild lassen. Sobald die Diener ihrem Zaren von ihm berichtet hatten, kam der Zar selber an der Spitze eines kleinen Heeres zur Grenze geritten. Sie begannen miteinander zu verhandeln. Aber wie sehr Jeruslan Lasarewitsch ihn auch bat, er konnte keinen Tropfen Wasser von ihm erbitten. Es blieb Jeruslan Lasarewitsch nichts anderes übrig, als mit Feuerschild-Flammenspeer zu kämpfen. Sie stellten ihre schnellen Pferde einander gegenüber auf und jagten aufeinander los. Wie Jeruslan Lasarewitsch mit seinem Schwert zuschlug, wurde es Feuerschild schwarz vor Augen, und er sank ohnmächtig zu Boden. Die Krieger Feuerschild-Flammenspeers aber schrien sogleich: „Drauf, Held, drauf! Schlag noch einmal zu, damit er merkt, mit wem er es zu tun hat!“ Aber Jeruslan Lasarewitsch dachte an die Lehren Roslanjas des Recken und sagte: „Ein wackerer Recke schlägt einmal zu, aber richtig!“ Und steckte das Schwert in die Scheide. Die Krieger warfen sich auf Jeruslan Lasarewitsch und wollten ihn überwinden. Aber sie fielen alle von seiner Hand. Jeruslan Lasarewitsch sieht – auf keiner Seite gibt es noch Widerstand; er nahm Feuerschild die 622
Galle heraus und ritt danach in die Berge nach dem Wasser des Lebens. Schöpfte ein Fläschchen voll Wasser des Lebens, verschloß es fest, legte es in seinen Mantelsack und ritt zurück zur Hauptstadt des Fürsten Bely. Er kam zum Kopf Roslanjas, bestrich ihm den Hals mit der Galle, rollte den Kopf zum Rumpf, fügte beides dicht zusammen und sprengte aus dem Fläschchen Wasser des Lebens darauf. Roslanja der Recke begann zu atmen und stand bald wieder auf den Füßen. Er dankte Jeruslan Lasarewitsch dafür, daß er ihn wieder lebendig gemacht hatte. Und Jeruslan Lasarewitsch dankte ihm für das stählerne Schwert. Er wollte Roslanja das Schwert zurückgeben, aber Roslanja schenkte Jeruslan Lasarewitsch dieses Schwert als Zeichen des Dankes. Und Jeruslan Lasarewitsch sprengte auf seinem Pferd davon nach dem Reich Danilo Belys. Als er ankam, ging er sogleich in den Kerker zu den Gefangenen. Er betrat den Kerker, bestrich allen die Augen mit der Galle und besprengte sie mit dem Wasser. Bald konnten sein Vater, seine Mutter und alle Recken wieder sehen. Da übergab Jeruslan Lasarewitsch den Danilo Bely wegen seines Eidbruchs dem Tode, er selber aber ritt nach dem Zarenreich des Zaren Wachramej. Jeruslan Lasarewitsch trat vor den Zaren Wachramej. Aber der Zar war in großer Bestürzung und sagte folgendes: „Warum, wackerer Recke, seid Ihr zu uns ins Zarenreich gekommen, und wie seid Ihr nicht in 623
Gefahr geraten? Wir können nicht vor das Stadttor gehen.“ „Warum könnt Ihr nicht vor das Stadttor gehen?“ fragte Jeruslan Lasarewitsch. „Deswegen“, sagte Wachramej, „weil ein dreiköpfiger Drache unser Zarenreich überfallen hat und jeden Tag drei Menschen frißt. Schon viele Menschen hat er in meinem Reich gefressen. Wir haben uns eingeschlossen und gehen nicht mehr aus der Stadt heraus. Und es erwartet uns der Hungertod.“ Jeruslan Lasarewitsch fragt: „Wo befindet sich denn bei Euch dieser Drache? Ist irgendwo sein Pfuhl?“ „Und wozu braucht Ihr diesen Pfuhl, wackerer Recke?“ „Ich möchte den Drachen sehen, und vielleicht wage ich es, mit ihm zu kämpfen.“ Zar Wachramej freute sich: „Wenn Ihr den Drachen erschlüget, belohnte ich Euch mit dem halben Zarenreich!“ Jeruslan Lasarewitsch ritt durch das Stadttor, geradewegs zu einem See, der von der Stadt vier Werst entfernt war, und stieß in sein Kriegshorn. Diesen Ruf hörte das Ungeheuer, erschien an der Oberfläche des Sees und schwamm zum Ufer. Und als es ans Ufer sprang, erschrak das Pferd Jeruslan Lasarewitschs und scheute. Jeruslan Lasarewitsch zog die Zügel an, und das Pferd ging widerwillig dem Drachen entgegen. Das Pferd kam näher, Jeruslan Lasarewitsch zog sein stählernes Schwert, stürzte sich auf den Drachen und schlug 624
nach ihm. Doch der Drache war dem Hieb ausgewichen, packte Jeruslan Lasarewitsch mit den Zähnen am Bein, zerrte ihn aus dem Sattel und schleppte ihn nach dem See. Groß war die Kraft des Drachen, doch Jeruslan Lasarewitschs Kraft war größer. Jeruslan Lasarewitsch sprang auf einem Bein heran, packte mit beiden Händen die Kiefer des Drachen und zog sie so weit auseinander, daß sein Bein freikam; dann sprang er dem Drachen auf den Rücken, holte mit seinem Schwert aus und wollte dem Drachen den Kopf abschlagen. Da begann der Drache mit Menschenstimme zu sprechen und bat Jeruslan Lasarewitsch, er solle ihn nicht dem Tode übergeben und ihm nicht den Kopf abschlagen. Aber Jeruslan Lasarewitsch holte mit dem Schwert aus und wollte ihm wieder den Kopf abschlagen. Da versprach der Drache Jeruslan Lasarewitsch verschiedene Geschenke und sogar einen kostbaren Ring, das Wertvollste, was es auf der ganzen Welt gab. Da befahl Jeruslan Lasarewitsch: „Gib erst das Geschenk, dann können wir über dich sprechen!“ Aber er klettert nicht von dem Drachen herunter. Der Drache tauchte mit Jeruslan Lasarewitsch geradewegs in den See, und Jeruslan Lasarewitsch fand sich im Neste des Drachen. Der Drache holte einen herrlichen Ring hervor und bot ihn Jeruslan Lasarewitsch an.
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Jeruslan Lasarewitsch gefiel dieses kostbare Geschenk, und er befahl dem Drachen, ihn ans Ufer zu tragen. Und der Drache war unter Jeruslan Lasarewitsch schon gefügiger als ein Hühnerhund geworden, und was immer Jeruslan Lasarewitsch befahl, das machte er alles. Schnell brachte er den Recken ans Ufer. Er hatte ihn ans Ufer gebracht, da fragte Jeruslan Lasarewitsch den Drachen: „Wirst du wieder ins Zarenreich Wachramejs gehen und Menschen fressen?“ „Nein, wunderbarer Recke, ich schwöre jeden Eid, den du willst, daß ich nicht einen einzigen Menschen im Zarenreich Wachramejs anrühren werde.“ „Und wovon willst du dich dann ernähren?“ Der Drache antwortet: „Ich werde mich allein von Fischen ernähren.“ Da sagte Jeruslan Lasarewitsch: „Ich glaube nicht, daß du keinen einzigen Menschen mehr anrührst.“ Er holte mit dem Schwert aus, und die Köpfe flogen vom Drachen wie die Kapseln vom Mohn. Jeruslan Lasarewitsch nahm diese Köpfe, steckte sie an seine Lanze und ritt in die Hauptstadt des Zaren Wachramej. Mit großem Triumph wurde Jeruslan Lasarewitsch begrüßt, und von allen Seiten schrien sie „Hurra!“ Und dem Zaren Wachramej wurde mitgeteilt, irgendein Recke hat den Drachen erschlagen und trägt alle drei Köpfe auf seiner Lanze.
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Zar Wachramej ging Jeruslan Lasarewitsch entgegen und führte ihn ins schönste Zimmer, wo Tische mit allen möglichen Speisen und herrlichen Getränken gedeckt waren. Sie setzten Jeruslan Lasarewitsch an einen Tisch, trugen ihm auf und bemühten sich, ihn aufs beste zu bewirten. Sie bewirteten Jeruslan Lasarewitsch, aber er sah immer auf Nastasja Wachramejewna. Als eine günstige Stunde gekommen war, sprach Zar Wachramej die folgenden Worte: „Was willst du dafür, wunderbarer Recke, daß du uns vom unvermeidlichen Verderben gerettet und den Drachen erschlagen hast? Sprich ohne Scheu, alles, was du willst, wird ausgeführt werden!“ Jeruslan Lasarewitsch blickte auf Nastasja Wachramejewna und erkühnte sich, die folgenden Worte auszusprechen. „Ich habe gehört, Ihr hättet dem, der den Drachen tötet, das halbe Reich angeboten. Versagt mir nicht die Hand Eurer Tochter!“ Zar Wachramej blickte auf seine Tochter und erkannte, daß sie mit einem solchen Antrag einverstanden war. Es wurde der Tag der Trauung festgesetzt, und am ändern Tag zwölf Uhr mittags wurden Jeruslan Lasarewitsch und Nastasja Wachramejewna miteinander getraut. Da gaben sie ein Fest, wie man so sagt, für alle Welt. Kein einziger in der Stadt blieb ohne Bewirtung oder wurde übergangen. Alle wurden aufs beste bewirtet.
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Jeruslan Lasarewitsch lebte gut mit seiner jungen Gemahlin Nastasja Wachramejewna. Und als er ein Jahr so gelebt hatte, bekam er Sehnsucht nach Vater und Mutter. Er wollte hinreiten und sehen, wie es ihnen geht. Er forderte Nastasja Wachramejewna auf mitzukommen. Aber sie antwortete wie folgt: „Froh wäre ich, mich nicht von dir zu trennen, Jeruslan Lasarewitsch, aber du siehst ja, was für eine Zeit jetzt für mich kommt!“ Da holte Jeruslan Lasarewitsch den kostbaren Ring hervor, den ihm der Drache gegeben hatte, und sagte: „Hier, mein liebes Weib: wird dir eine Tochter geboren, dann heb ihr den Ring bis zur Hochzeit auf. Wird aber ein Sohn geboren, dem kannst du diesen Ring sogleich schenken.“ Er nahm Abschied von seiner Frau, sattelte sein Pferd und ritt davon. Nastasja Wachramejewna blickte ihm nach, er verneigte sich zum letztenmal vor ihr und entschwand ihren Augen. Jeruslan Lasarewitsch ritt lange Zeit und kam schließlich auf eine weite Lichtung. Und inmitten dieser weiten Lichtung war ein herrliches Schloß, und rings um das Schloß ein herrlicher Park. Es war schon spät, und als Jeruslan Lasarewitsch das Schloß betrachtete, erblickte er eine schöne Jungfrau, Pulichurija mit Namen. Und er hört, die Jungfrau singt mit wunderbarer Stimme irgendein Lied.
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Jeruslan Lasarewitsch wendet sein Pferd und reitet zum Schloß. Kaum war er angekommen, band er sein Pferd an den Ehrenpfahl und wurde von Pulichurija begrüßt, die den Gast in ihr herrliches Schloß führte, an einen Tisch setzte und ihn mit den kostbarsten Speisen bewirtete. Und diese Pulichurija verstand es, Jeruslan Lasarewitsch so zu umgarnen, daß er ein Jahr bei ihr blieb, und das Jahr war ihm wie ein Tag vorgekommen. Im zweiten Jahr wollte er weiterreiten, ihm aber schien es der zweite Tag zu sein. Pulichurija verstand es wieder, ihn zu umgarnen, und sagt: „Warum bleibt Ihr nicht noch für einen Tag? Ihr kommt schon noch zu Vater und Mutter – Ihr habt genügend Zeit!“ Jeruslan Lasarewitsch erklärte sich einverstanden, noch einen Tag ihr Gast zu sein, und als er den zweiten Tag geblieben war, hatte er selbst nicht gemerkt, daß schon zwei Jahre vergangen waren. Er entschloß sich, am dritten Tag zu reiten, aber Pulichurija zog sich so prächtig an und war so zärtlich zu ihm, daß Jeruslan Lasarewitsch sich einverstanden erklärte, einen dritten Tag bei ihr zu bleiben. Und weiß selber nicht, daß er schon das dritte Jahr bei ihr lebt. So lebte nun Jeruslan Lasarewitsch einen Tag um den anderen bei der wunderschönen Pulichurija. Und es schien ihm, er lebt bei ihr neun Tage, in Wirklichkeit aber sind es neun Jahre. Er entschloß sich, den zehnten Tag zu bleiben. Und da erschien in Pulichurijas Bannwiesen plötzlich ein junger schöner Recke.
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Als Pulichurija sah, daß irgendein Recke auf und ab durch ihre Bannwiesen reitet, schickt sie ihre Leibwächter, dem Jüngling eine Lehre zu erteilen. Ihr Leibwächter ritt hinaus, doch kaum war er zu dem Jüngling gekommen, da lag er schon tot auf der Erde. Pulichurija erschrak und schickte einen zweiten Recken. Und den zweiten Recken ereilte das gleiche Geschick. Da schickte Pulichurija den dritten Recken. Und der dritte fiel gleichfalls von der Hand des Jünglings. Pulichurija hatte keine Recken als Leibwächter mehr. Sie kam zu Jeruslan Lasarewitsch und bat ihn, er solle reiten und dem Jüngling eine Lehre erteilen. Jeruslan Lasarewitsch sattelte sein Pferd, nahm seine Lanze und ritt auf die Wiese. Kaum war er bei dem Jüngling und wollte ihm einen Schlag versetzen, da erhielt er im gleichen Augenblick einen so heftigen Stoß gegen die Brust, daß er im Sattel schwankte. Doch der Jüngling konnte sich gleichfalls nicht halten und flog aus dem Sattel wie eine Garbe Hafer. Jeruslan Lasarewitschs Pferd aber trat dem Jüngling auf den Halsschutz der Rüstung und drücke ihn gegen die Erde. Jeruslan Lasarewitsch wendet seine Lanze, setzt sie mit dem stumpfen Ende dem Jüngling auf die Brust und sieht plötzlich, Wunder über Wunder, Staunen über Staunen, an der Hand des Jünglings einen Ring glänzen. Jeruslan Lasarewitsch nahm die Lanze von der Brust des Jünglings und fragt ihn: „Sage, Jüngling, wie heißt du?“ 630
„Ich heiße Jeruslan Jeruslanowitsch.“ „Und aus welchem Zarenreich bist du?“ „Aus dem Zarenreich Wachramejs.“ Jeruslan Lasarewitsch springt vom Pferd, umarmt den jungen Recken und sagt: „Bist du’s, mein lieber Sohn? Beinahe wäre ich dein Mörder geworden!“ Jeruslan Lasarewitsch und sein Sohn küßten sich, und erst da begriff er, daß er bei Pulichurija nicht neun Tage, sondern neun Jahre gelebt hatte. Von einer solchen Verführerin wollte er sich nicht einmal verabschieden und ritt mit Jeruslan Jeruslanowitsch zu seiner jungen Frau. Er kam nach Hause und sieht: seine Frau Nastasja Wachramejewna ist ganz abgehärmt, und ihre Haare sind weiß geworden. Er bekannte ihr reuig sein Vergehen. Und seit der Zeit gab Jeruslan Lasarewitsch sich selbst das Wort, niemals von seiner Frau Anastasija Wachramejewna fortzureiten, ihr keinen Kummer zu bereiten. Und nun setzt sich Jeruslan Lasarewitsch an den Tisch, nimmt Feder und Papier und beginnt, drei Briefe zu schreiben. Den ersten Brief schrieb er an Vater und Mutter, den zweiten Brief an Iwan den russischen Recken, seinen älteren Wahlbruder, und den dritten an den Recken Roslanja, der ihm das kostbare stählerne Schwert geschenkt hatte. Und er rüstete seinen Sohn zur Reise und sagt ihm folgendes: „Bringe diesen Brief meinem Vater Lasar Lasarewitsch, deinem Großvater, und übergib ihn persönlich. Und wenn du eine Weile bei ihnen zu Gast 631
gewesen bist, dann bringe den zweiten Brief meinem Wahlbruder Iwan dem russischen Recken. Und den dritten Brief bringe ins bragilsche Zarenreich und übergib ihn Roslanja dem Recken!“ Jeruslan Jeruslanowitsch sattelte sein Pferd, nahm Abschied von Vater und Mutter und machte sich auf den Weg. Er ritt und ritt und sah endlich die Stadt, wo Lasar Lasarewitsch lebte. Jeruslan kam zum Hof Lasar Lasarewitschs und bat, sie sollten ihn einlassen. Obwohl er noch sehr jung war, ließ man ihn trotzdem ein. Jeruslan Jeruslanowitsch überreichte Lasar Lasarewitsch den Brief, und Lasar Lasarewitsch sieht vor sich einen Enkel, nicht schlechter als der Vater Jeruslan Lasarewitsch. Er bewirtete ihn nicht mit Kornbranntwein, sondern nur mit süßen Getränken. Jeruslan Jeruslanowitsch blieb eine Weile zu Gast bei seinem Großvater und ritt dann zu Iwan dem russischen Recken. Er überreichte Iwan dem russischen Recken den Brief, und als Iwan der Recke ihn gelesen hatte, schrieb er auf der Stelle auch seinerseits einen Brief und befahl, ihn Jeruslan Lasarewitsch zu übergeben. Jeruslan Jeruslanowitsch ritt weiter und kam zu Roslanja dem Recken. Er blieb eine Weile bei ihm zu Gast, und als er sich zur Heimreise rüstete, bat Roslanja der Recke, er möge seinen Brief Jeruslan Lasarewitsch übergeben.
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Jeruslan Jeruslanowitsch brachte seinem Vater alle drei Briefe. Seine Eltern setzten sich an den Tisch und begannen die Briefe zu lesen. Zuerst von Lasar Lasarewitsch. Und in diesem Brief war folgendes geschrieben: „Gesundheit wünschen wir dir für viele Jahre, unser lieber Sohn! Wir sind sehr froh, daß wir einen solchen Recken zum Enkel haben und daß wir ihn vor unserem Ende gesehen haben.“ Sie nahmen den zweiten Brief. Und darin war folgendes geschrieben: „Viele Jahre Gesundheit dir, Jeruslan Lasarewitsch. Dein Bruder, Iwan der russische Recke, schickt dir seinen Gruß und wünscht dir alles Gute! Und über Euer Söhnchen sage ich das folgende: ,Ich bin sehr froh, daß du einen solchen Sohn hast.’“ Als sie den dritten Brief ansahen, war darin folgendes geschrieben: „Viele Jahre Gesundheit Euch, Jeruslan Lasarewitsch! Ich, der Recke Roslanja, schicke Euch meinen ergebenen Gruß! Ich wünsche Euch das Allerbeste auf dieser Welt. Euer Recke Roslanja.“ Damit waren die Heldentaten Jeruslan Lasarewitschs zu Ende. Und nie mehr hat er sich von seiner Nastasja Wachramejewna getrennt und mit ihr in Liebe und Eintracht bis zum Tode gelebt.
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58 Erzählung von Bowa dem Königssohn, dem ruhmreichen und starken Recken Weit weg von uns war es, nicht zu sehen, sondern nur von den Alten zu hören. In alten Zeiten lebte einmal ein Zar Kirbidon, der hatte eine einzige Tochter, die Militrissa Kirbitjewna hieß und die ihr Vater mehr als alles andere liebte. Sie war im vollen Alter, und um sie freite ein König, der hieß Gwidon. Ihr Vater hatte nicht gezögert, sie dem König Gwidon zu geben, sie aber wurde nicht gar zu gern Gwidons Frau, sie schrieb sich mit einem anderen König, der Dodon hieß, doch das väterliche Wort konnte sie nicht ändern; und sie wurde Gwidons Frau. Aber sie liebte ihn nicht so wie Dodon. Und sie lebten ein Jahr zusammen, da wurde sie schwanger und bekam einen Knaben, den nannten sie Bowa Königssohn. Ihr Vater Kirbidon starb bald nach ihrer Hochzeit. Den Staat regierte nun Gwidon, ihr Sohn Bowa Königssohn aber war ein sehr schöner Knabe. Es ist mit Worten nicht zu sagen und mit der Feder nicht zu beschreiben – er wuchs nicht von Jahr zu Jahr, sondern von Stunde zu Stunde, wie ein Hefeteig aufgeht. Aber eines schönen Tages nun brachte Militrissa Kirbitjewna es fertig, einen Brief zu schreiben und an Dodon zu schicken, er 634
solle mit einem Heer ausziehen und an einer angegebenen Stelle ihren Mann Gwidon erwarten. „Ich werde es einrichten und ihn allein ausschikken, und Ihr tötet Gwidon, dann werde ich Eure Frau.“ Und so wurde es auch gemacht. Militrissa Kirbitjewna kam eines schönen Tages hinterhältig zu ihrem Mann und sagte: „Mein teurer Mann, ich fühle mich schwanger, und mein Zustand quält mich so: ich hätte gern etwas, von Eurer Hand zu essen und daß Ihr selber einen wilden Eber tötet und ihn nach Hause bringt!“ Ihr Mann antwortete nichts, ging in den Pferdestall, befahl sein Pferd zu satteln, und ritt davon. Kaum war er aus der Stadt heraus, da befahl seine Frau den Dienern, die Zugbrücke über den Fluß hochzuziehen und das Stadttor zu schließen, sie selber aber beobachtete ihren Mann vom Balkon aus. Gwidon war gerade an den Waldrand gekommen und bemerkte, ein gewaltiges Heer warf sich ihm entgegen. Gwidon wendete sein Pferd zum Rückweg, die Verfolger waren nahe, Gwidon wußte nicht wohin, die Zugbrücke über den Fluß war hochgezogen. Er gab seinem Pferd die Sporen und sprang in den Fluß, doch der Fluß war sehr breit und reißend. Sein Pferd konnte nicht hinüberschwimmen und ertrank zusammen mit Gwidon. Da befahl Militrissa Kirbitjewna den Dienern, die Zugbrücke herunterzulassen und das Stadttor zu öffnen: alles wurde getan, und Zar Dodon reitet mit seinem Heer in die Stadt ein. Militrissa Kirbitjewna begrüßt ihn und führt ihn in den Zarenpalast, setzt ihn an die Eichentische, vor süße Ge635
tränke, und sie begannen zu trinken, zu feiern und lustig zu sein drei Tage lang. Feierten, waren lustig, setzten nach dem Feiern die Hochzeit an, und bald heirateten Dodon und Militrissa, und den Staat regiert von nun an Dodon. Und so leben sie ein Jahr, und ein zweites und so weiter. Die Zeit fließt dahin, eilt wie ein Fluß. Bowa Königssohn aber wächst und wächst, wird von Tag zu Tag immer schöner und schöner. Ein Zuhause hatte Bowa nicht mehr – der Vater ist ein Fremder. Nur ein einziger Mensch hatte Mitleid mit Bowa und liebte ihn, der Onkel seines Vaters. Immer wenn er Bowa sah, sagte er zu Bowa: „Mein liebes Kind, die Mutter und der Stiefvater werden dich verderben!“ Aber eines schönen Tages sah der Onkel nur einen Ausweg – in eine fremde Stadt zu reiten und dadurch Bowas Leben zu retten. So beschloß er es auch, ging mit Bowa auf den Pferdehof und befahl den Pferdeknechten, Pferde zu satteln: für Bowa einen Paßgänger, für sich selber einen Renner; und sie stiegen auf und ritten weg, unbekannt wohin. Am anderen Tage wurden Dodon und Militrissa stutzig – Bowa ist nicht da! Sie begannen Bowa zu suchen, gingen auf den Pferdehof und fragten, ob Bowa nicht hier gewesen sei. „Sie sind fortgeritten“, erklärten die Pferdeknechte, „es ist der Onkel seines Vaters gekommen, hat befohlen, Pferde zu satteln, für Bowa einen Paßgänger, und für sich selber einen Renner, und dann sind sie losgeritten, unbekannt wohin.“
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Jetzt befahl Dodon, hundert Reiter zu nehmen, Bowa einzuholen und wieder nach Hause zu bringen. Die Verfolger hatten sich bald versammelt und machten sich an die Verfolgung. Am dritten Tage bemerkte der Onkel die Verfolger hinter sich und spornte die Pferde zum vollen Galopp an, aber Bowa war noch zu klein – neun Jahre, er konnte sich auf dem Paßgänger nicht halten und fiel herunter. Die Kanoniere hoben Bowa auf, dem Onkel setzten sie nicht nach, weil sie merkten, daß er nicht einzuholen war, kehrten wieder um, brachten Bowa mit und übergaben ihn dem Stiefvater. Es verging eine Zeit, da hatte Dodon einen Traum, Bowa sei erwachsen und griffe ihn zu Pferde an, zöge sein Schwert und schlüge ihm den Kopf ab für den Tod des Vaters. Am Morgen stand Dodon auf, versammelte die Senatoren und erläuterte ihnen seinen Traum. Einige sagen, das ist ein bedeutungsloser Traum, man braucht dem Traum nicht zu glauben, er geht auch so vorüber. Aber einer der Höflinge sagte, daß der Traum wahr sei. Wenn Bowa erwachsen ist, kann er für den Tod des Vaters Rache nehmen. Seit der Zeit wurde Dodon unfroh, war immer in Gedanken; aber seine Frau Militrissa Kirbitjewna wurde aufmerksam auf ihren Mann und fragte eines schönen Tages ihren Mann: „Warum, mein teurer Mann, seid Ihr traurig?“ Er antwortet ihr auf ihre Frage: „Ich habe einen Traum gehabt: Bowa war erwachsen und kam auf einem stattlichen Roß geritten und schlug mir für den Tod seines Vaters den Kopf ab; ich habe die Senatoren versammelt, 637
sie haben mir gesagt, daß das von Bowa aus durchaus geschehen kann: Euer Traum ist wahr. Daher kann ich nicht mehr mit Euch zusammen leben.“ Seine Frau versuchte ihn zu überzeugen, daß all dies Unsinn sei, aber er sagte zu ihr: „Wenn Ihr mit mir leben wollt, so tötet Euern Sohn! Dann bleibe ich für immer, aber sonst kann ich nicht weiter hier leben.“ Militrissa Kirbitjewna dachte über diese Frage nach und antwortete ihrem Manne: „Überlegt doch selbst, mein lieber Mann, die Schlange sticht ihr eigenes Fleisch nicht, wie kann ich denn Hand an meinen eigenen Sohn legen und ihn töten! Wenn du willst, kann ich ihn nur ins Gefängnis stecken und dem Hungertod preisgeben, aber mehr kann ich nicht tun.“ Doch Dodon war mit diesem Vorschlag einverstanden: „Gut, führe ihn hin und stecke ihn ins Gefängnis!“ Nun, natürlich, das mütterliche Herz – sie zog es immer von einem Tag zum andern hin, hatte immer Mitleid mit ihrem Sohn, doch Dodon beharrte auf seinem Verlangen: „Wenn du Bowa heute nicht ins Gefängnis führst, dann reite ich von dir weg!“ Aber Militrissa liebte ihren Mann sehr und verriet ihren Sohn Bowa. Sie befahl den Dienern, Bowa ins Gefängnis zu bringen und dort zurückzulassen. Die Diener führten Bowa fort, versperrten die Tür mit einem Schloß und gaben den Schlüssel der Mutter; aber Dodon war mißtrauisch, nach einiger Zeit prüfte er selber nach und überzeugte sich, daß Bowa wirklich dem Hungertod preisgegeben war.
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Nach einiger Zeit zog Militrissa Kirbitjewna ein schönes Kleid an und ging im Schloß spazieren, und sie mußte an dem Gefängnis vorbei, in dem Bowa saß – dem Hungertod preisgegeben. Und dort war ein kleines Fenster, durch das Bowa seine Mutter sah, und er sagte traurig: „Liebe Mutter, erbarme dich meiner, gib mir ein Stück Brot und ein Glas Wasser!“ Die Mutter hörte das klägliche Stöhnen, ihr Herz begann zu klopfen, sie kehrte schnell um und brach in Tränen aus: kam nach Hause, gab der Dienerin ein Stück Brot und etwas Wasser und sagte: „Nimm, bring dies ins Gefängnis, übergib es Bowa, aber sag niemandem etwas!“ Der Tag neigte sich gegen Abend, die Dienerin nahm alles und brachte es ins Gefängnis zu Bowa. Sie öffnete die Tür und reichte es Bowa, Bowa nahm alles und dankte der Mutter. Aber er aß noch nicht, weil er es nicht hinterschlucken konnte, nur einige Schluck Wasser nahm er und bat die Dienerin, sie solle die Tür nicht mit dem Schloß versperren; doch sie fürchtete sich, die Tür offenzulassen, hatte aber auch Mitleid mit Bowa. Da tat sie’s doch, schloß die Tür nicht dicht zu, kehrte um und ging zurück. Sie kam zu Militrissa Kirbitjewna und erfand noch selbst einige Worte hinzu: „Bowa hat Euch nach jedem Bissen Brot gedankt.“ Da brach die Mutter in Tränen aus und sagte der Dienerin nichts mehr, ging hinaus. Bowa aber merkte, daß die Tür nicht dicht geschlossen war, ein kleiner Spalt leuchtete, er sprang aus dem Gefängnis und floh aus der Stadt. Bowa wur639
de von der dunklen Nacht überfallen, er ging weiter und stieß auf eine Bande von Räubern, die ihn fingen und sich sehr freuten, weil der Knabe sehr schön war. „Etwas Besseres als diese Beute hätten wir nicht finden können.“ Die Räuber fragten den Knaben: „Wie heißt du und welchen Geschlechtes und Stammes bist du?“ Er antwortete ihnen: „Ich bin einfachen Geschlechtes und Stammes: meine Mutter ist Wäscherin, mein Vater Musikant, und ich heiße Bowa.“ Doch sie berieten untereinander, man müsse Bowa auf ein Schiff bringen und ihn an Schiffsleute verkaufen. So machten sie es auch: sie brachten Bowa in der gleichen Nacht noch auf ein Schiff und verkauften Bowa den Schiffsleuten, die bezahlten viel Geld wegen seiner Schönheit. Die Räuber waren über diesen Gewinn sehr froh. Und das Schiff trat seine Reise an. Sie fragten Bowa: „Welchen Geschlechtes und Stammes bist du und wie heißt du?“ Er antwortete ihnen dasselbe, was er den Räubern gesagt hatte: „Ich bin einfachen Geschlechtes und Stammes, meine Mutter ist Wäscherin, mein Vater Musikant; ich heiße Bowa.“ Sie fahren übers Meer, nicht einen Tag, nicht zwei, sondern Wochen und Monate; und Bowa kleideten sie in ein schönes Gewand, und er wurde noch um viele Male schöner, sie können sich an seiner Schönheit nicht satt sehen. Bowa war sehr diensteifrig und darauf bedacht, es jedem recht zu machen. Und eines schönen Tages nun hatten sich die Schiffsleute betrunken. Und Bowa tat zu dieser Zeit, als sei er eingeschlafen, lauschte aber auf ihr Gespräch. 640
Und sie, betrunken, hatten einen Streit wegen Bowa: der eine sagt: „Bowa muß mir dienen“, und der zweite: „Nein, mir muß er dienen“, und der dritte sagt dasselbe und so weiter: es war ein großer Streit. In diesem Augenblick streckte sich Bowa, tat, als wache er auf, schob die Decke zurück und fragte sie: „Worüber streitet ihr, Freunde?“ Sie antworteten ihm, daß „um dich der Streit geht“; er antwortete ihnen höflich: „Das ist kein Grund zum Streiten, Freunde, ich muß euch allen gefällig sein, soviel ich kann.“ Nun, sie hörten auf zu streiten und gewannen Bowa noch mehr lieb als vorher. So lebt Bowa bei den Schiffsleuten, wie der Käse in der Butter schwimmt. Es verging ein Jahr, das zweite begann, und seine Schönheit wurde mit jedem Tag größer. Eines schönen Tages kamen die Schiffsleute in der Hauptstadt des Zaren Sensewej Andronowitsch an. Sie machten ihr Schiff im Hafen fest. Vom Hafen aus wurde dem Zaren Sensewej Andronowitsch gemeldet, daß ein fremdes Schiff angekommen ist. Der Zar schickt seinen Diener, zu fragen, was es Neues gibt, und sich die Waren anzusehen. Der Diener setzte sich in eine Kutsche und fuhr zum Hafen. Als er das Schiff betrat, erblickte er den schönen Knaben und war auf der Stelle vor Staunen stumm. Als der Diener wieder zur Besinnung kam, hatte er keine Zeit zu fragen, womit handelt ihr, er ging schnell vom Schiff, bestieg seine Kutsche und fuhr mit seiner Meldung zum Zaren Sensewej Andronowitsch. Er kam in den Zarenpalast, und der Zar fragte ihn, was es 641
Schönes auf dem Schiff gäbe. Der Diener antwortete: „Väterchen Zar, befiehl nicht, mich hinzurichten, sondern befiehl zu berichten. Als ich aufs Schiff kam, habe ich bei ihnen einen schönen Knaben gesehen und bin vor Staunen so verstummt, daß ich nichts gefragt habe.“ Da setzten sie sich zu zweit in die Kutsche und fuhren zum Hafen; Zar Sensewej betrat das Schiff, erblickte den Knaben und war von seiner Schönheit gleichfalls von Sinnen. Als er wieder zu sich kam, fragte er nicht, womit handelt ihr, sondern begann in erster Linie um den Knaben zu handeln. „Verkauft ihn mir, ich will euch viel für ihn bezahlen und euch zollfreien Handel in meinem Staat geben!“ Die Schiffsleute aber liebten Bowa sehr, und es tat ihnen leid, Bowa zu verkaufen, doch der Zar erklärte ihnen: „Wenn ihr ihn nicht verkauft, dann nehme ich euch den Knaben im bösen weg und verbiete euch, Handel zu treiben.“ Sie wußten, daß der Zar Sensewej sehr streng war, ihnen den Handel in seinem Staat verbieten kann, und erklärten sich einverstanden, Bowa zu verkaufen. Der Zar bezahlte ihnen dreißig Pfund Gold für ihn und gab ihnen die Erlaubnis, ohne Abgaben Handel zu treiben, und das ist für sie ein großer Vorteil Abgaben Handel zu treiben. Da setzte Sensewej Andronowitsch den Knaben zu sich in die Kutsche, und sie fuhren zu dritt los. Als sie zurückkamen, führte der Zar Bowa in den Zarenpalast, bewirtete ihn, zog ihm schöne Kleider an und fragte: „Wessen Geschlechts und Stammes seid Ihr, und wie heißt Ihr? Wenn ihr nicht einfachen 642
Geschlechts seid, dann bleibt Ihr am Hof bei mir, wenn aber einfachen Geschlechtes, dann gehst du in den Pferdestall und sollst oberster Pferdeknecht sein.“ Aber der Knabe antwortete dem Zaren-. „Ich bin einfachen Geschlechtes, meine Mutter ist Wäscherin und mein Vater Musikant, ich heiße Bowa.“ Da befahl der Zar dem Diener, Bowa in den Pferdestall zu führen und ihn dort zu lassen, soll er dort oberster Pferdeknecht sein! Der Diener führte Bowa in den Pferdestall, und er mußte ihn gerade an Drushewna Sensewejewna vorbeiführen, und sie sah durchs Fenster, daß ein Knabe auf den Pferdehof gebracht wurde, und sie wandte sich sogleich an ihren Vater. Der Diener aber hatte Bowa im Pferdestall gelassen und gesagt: „Da habt ihr einen Jungen, er soll oberster Pferdeknecht sein!“ Drushewna verneigte sich tief vor ihrem Vater und sagte: „Liebes Väterchen, ich habe heute gesehen – ein schöner Knabe ist in den Pferdestall geführt worden, ich bin zu Euch gekommen, ihn für mich zu erbitten, daß er bei mir bleibt, und ich werde ihn erziehen. Wozu einen so schönen Knaben verderben? Ich denke, Ihr werdet einverstanden sein mit meinen Worten.“ Sensewej Andronowitsch liebte seine Tochter mehr als alles und war einverstanden mit ihrer Rede und befahl ihr, Bowa zu sich zurückzuholen, und sie verneigte sich tief vor ihrem Vater und ging in ihr Zimmer und befahl dem Diener, Bowa zu ihr zurückzubringen. Der Diener brachte Bowa zu Drushewna Sensewejewna. Nicht einmal drei Tage hatte Bowa auf dem Pferdehof zugebracht. 643
Drushewna Sensewejewna wusch Bowa, kleidete ihn schön, und er wurde ein so schöner Bursche, daß sie sich an seiner Schönheit gar nicht satt sehen konnte. Sie fragte ihn, wessen Geschlechtes und Stammes er sei und wie er heißt: aber er antwortet immer ein und dasselbe: einfachen Geschlechtes, meine Mutter ist Wäscherin, der Vater Musikant, ich heiße Bowa. So verbringt Bowa seine Tage, ist lustig und froh. Seine Schönheit wird immer größer, und er bemüht sich, Drushewna gefällig zu sein, so gut er’s irgend kann. Und er war hierzu sehr geschickt. Hatten sie nun lange oder kurze Zeit so gelebt, einmal jedenfalls rief der Zar die Tochter zu sich und sagte ihr, daß „morgen abend bei mir im Palast ein Ball sein wird, alle Generale, Admirale, Minister und Kaufleute werden sich versammeln, und du und Bowa, ihr sollt in erster Linie bei mir sein!“ Drushewna sagte: „Ist gut, liebes Väterchen“, verneigte sich tief und ging hinaus. Sie ging in ein Geschäft, kaufte Stoff, ging in eine Werkstatt und gab Auftrag, ein Gewand für Bowa zu nähen. Am Morgen stand Drushewna Sensewejewna auf, ging selbst in die Werkstatt, brachte das kostbare Gewand und gab es Bowa. „Hier dieses Gewand müßt Ihr heute anziehen, mein Vater hat am Abend einen Ball, und wir müssen dort auf dem Ball sein!“ Bowa nahm das Gewand, verneigte sich tief vor Drushewna und sagte: „Ist gut, ich werde am Abend kommen.“ Der Abend kam, Drushewna Sensewejewna zog Bowa an und ging selber voraus. Die Zeit kam heran, die Gäste wa644
ren zum Ball beim Zaren versammelt, und bald kam Bowa, verneigte sich tief vor Väterchen Zar Sensewej Andronowitsch und vor den Gästen besonders. Da befahl Drushewna Sensewejewna, Bowa solle den Gästen ausländischen Wein reichen; Bowa brachte jedem ein Glas Wein, verbeugte sich tief vor Väterchen Zar und den Gästen. Alle blickten auf Bowa und konnten sich an seiner Schönheit nicht satt sehen. Der Ball dauerte bis über Mitternacht hinaus, und Bowa bemühte sich, jedem General gefällig zu sein. Die Gäste gingen auseinander. Und Drushewna ging mit Bowa auch nach Hause, und sie liebte Bowa von nun an noch mehr als früher. Es vergingen einige Jahre, Bowa war im vollen Alter, ist von Wohlleben umgeben und kennt keine Sorgen. Die Zeit verging, da kam eine traurige Stunde für Väterchen Zar Sensewej Andronowitsch. Zar Markobrun zog mit einem gewaltigen Heer ins Feld, lagerte sich in den Bannwiesen nahe der Stadt des Zaren Sensewej, schrieb einen Brief und sandte einen Boten mit dem Brief an Zar Sensewej, im guten zu bitten, er solle seine Tochter Drushewna Sensewejewna dem Markobrun zur Frau geben: „Wenn du sie im guten nicht gibst, dann überziehe ich dich mit Krieg.“ Sensewej Andronowitsch las den Brief und überlegte: die Tochter dem Markobrun zu geben tat ihm leid. Er gebot, ins Kriegshorn zu blasen, ein Heer von hunderttausend Mann zu sammeln und den Krieg zu eröffnen. „Vielleicht werde ich den Feind so los.“ Das Heer von hunderttausend Mann war versammelt, 645
und das Blutvergießen begann. Der Kampf ging viele Tage. Aber Markobrun schlug das Heer Sensewejs, nur eine kleine Zahl blieb übrig, und sie kehrten zurück. Das Stadttor befahl Sensewej zu schließen. Rings um die Stadt war eine Festungsmauer gezogen, so daß es schwierig war, hineinzukommen. Markobrun lagerte sich mit seinem Heer nahe der Stadt, Sensewej Andronowitsch aber sitzt in seiner Festung. Bowa hörte, daß das ganze Heer Sensewejs erschlagen worden ist, da begann das Heldenblut in der jungen Brust sich zu regen, da begann die Reckenhand zu zucken, so daß Bowa Kraft in sich spürte und ins Zimmer zu Drushewna Sensewejewna ging: „Mein Mütterchen, Drushewna Sensewejewna, erlaube mir, mit diesem Schurken abzurechnen wegen unseres Väterchens Zar Sensewej Andronowitsch!“ Drushewna Sensewejewna antwortete Bowa: „Ihr seid noch zu jung, es ist noch nicht an der Zeit für Euch, Krieg zu führen, ich kann Euch keineswegs gehen lassen, mein lieber Bowa.“ Drushewna begann ihm gut zuzureden, aber Bowa wurde zornig, sagte nichts, machte kehrt und ging geradewegs in den Pferdestall, wählte sich ein Pferd, sattelte es, ergriff einen eisernen Besen, setzte über die Festungsmauer, jagte geradewegs gegen das Heer und begann, nach links und rechts mit seinem Besen zu schlagen. Zu dieser Zeit beobachtete Drushewna Sensewejewna vom Balkon aus durch ein Fernrohr die Heldentat Bowas. Das ganze Heer wurde von Bowa zusammengeschlagen. Nur eine 646
kleine Zahl war übrig geblieben, die flohen heimwärts. Nach dem Sieg kehrte Bowa ins Zarenreich Sensewejs zurück, das Tor wurde aufgemacht, der Zar und Drushewna faßten Bowa an den Händen und führten ihn in den Zarenpalast, an die Eichentische, zu den berauschenden Getränken, und sie tranken, feierten und gratulierten Bowa zu seinem Sieg. Nach dem Fest gingen alle Gäste nach Hause, und auch Bowa und Drushewna gingen in ihre Zimmer; Bowa lebt so dahin und kennt keine Sorgen, Drushewna aber liebt ihn immer mehr. So verging ein Jahr, vielleicht auch zwei oder drei, und wieder kam ein trauriger Tag: gegen Zar Sensewej Andronowitsch zog ein anderer Zar, Sultan Sultanowitsch, zu Felde, mit einem gewaltigen Heer und mit drei Recken, und er selbst war der vierte. Sein Kopf war wie ein riesiger Heuschober, und zwischen den Augen hatte eine gespreizte Hand Platz. Und er lagerte sich nahe der Stadt Sensewejews und sendet einen Boten mit einem Brief und bittet den Zaren, er soll Sultan Sultanowitsch seine Tochter Drushewna Sensewejewna zur Frau geben: „Gibst du sie nicht im guten, überziehe ich dich mit Krieg und zerschlage Euer ganzes Zarenreich, nehme Drushewna gefangen, entführe sie in meinen Staat und heirate sie!“ Zar Sensewej las den Brief und überlegte, doch die Tochter herzugeben tat ihm leid, und er gebot, ins Kriegshorn zu blasen, ein Heer von hunderttausend Mann zu sammeln und gegen Sultan aus647
zurücken. Und so wurde das Heer gesammelt. „Vielleicht kann ich den Feind zurückschlagen.“ Es entbrannte ein schrecklicher Kampf, sie schlugen sich eine Weile, doch Sultan Sultanowitsch besiegte das Heer Sensewejews, nur eine kleine Zahl blieb übrig und warf sich in die Flucht. Da befahl der Zar, das Stadttor zu schließen und in der Festung zu bleiben. Sultan aber lagerte sich mit seinem Heer in den Bannwiesen und droht und höhnt. Doch Bowa wußte wieder nichts, und Drushewna sagt ihm nichts. Und einmal mußte er irgendwie in die Stadt, und dort erfuhr er alles, und er kam zu Drushewna und bat sie: „Mütterchen Drushewna Sensewejewna, laß mich ziehen und mit diesem Schurken abrechnen. Wie lange soll er noch höhnen, und wollt Ihr etwa die Ehe mit ihm eingehen, mit dieser Satansbrut!“ Da begann Drushewna Sensewejewna Bowa zuzureden: „Ihr könnt ihm nicht standhalten, er hat ein gewaltiges Heer und drei Recken, und er ist selber ein gewaltiger Recke, sein Kopf ist so groß wie ein Heuschober, und zwischen den Augen hat eine gespreizte Hand Platz.“ Bowa wurde zornig und sagte: „Ich bin damals auf Väterchen Zar zornig gewesen, daß er mir nichts erklärt hat, und jetzt soll ich ihn im Stich lassen? Väterchen Zar hat für mich dreißig Pfund Gold bezahlt, als ich ein Jüngling war. Und es hat ihm nicht leid getan, und er hat sie nur für meine Schönheit gegeben. Nein, ich kann’s nicht dulden, mach, was du willst, meine Brust drängt sowieso nach dem Schlachtfeld.“ Da sagte Drushewna Sensewejewna: „Nun gut, 648
reise mit Gott, weil ich damals Eure Heldentat beobachtet habe!“ Da gingen sie zusammen hinaus – Bowa und Drushewna. Sie führte ihn in den Keller und legte selbst Bowa die Reckenrüstung an, gürtete ihn und setzte ihm einen gefiederten Helm auf, der war sehr alt, und das stählerne Schwert war noch vom Urgroßvater verzaubert worden. Als sie Bowa gerüstet hatte, war er noch zweimal schöner geworden, und Drushewna Sensewejewna konnte sich nicht bezwingen, sie küßte ihn und weinte und fragte Bowa: „Sage mir die ganze Wahrheit, mein lieber Bowa, welchen Geschlechtes und Stammes du bist; Gott weiß, ob du vom Schlachtfeld zurückkehrst oder nicht.“ Da erzählte Bowa alles, wie es gewesen war: „Ich bin nicht einfachen Geschlechtes. Meine Mutter ist Militrissa Kirbitjewna, und mein Vater war der Zar Gwidon, ich bin Bowa Königsohn.“ – „Das habe ich gespürt, daß du nicht einfachen Geschlechtes bist, aber herausbekommen habe ich es bis heute nicht können, doch jetzt werde ich’s wissen und warten.“ Dann zeigte sie ihm rechts einen Keller und sagte: „Geh dorthin, dort steht ein Rappe, ein Reckenhengst, hinter zwölf Türen und an zwölf Ketten – sollen die Pferdeknechte ihn herausführen!“ Da verabschiedeten sich Drushewna und Bowa und gingen auseinander. Bowa ging zu jenem Keller, wo das Pferd stand, kam hin und sagte zu den Pferdeknechten: „Steht hier der Rappe?“ Sie antworteten: „Hier! Wozu braucht Ihr ihn? Willst du ihn dir ansehen?“ Bowa sagte grob: 649
„Nein, nicht ansehen, sondern reiten will ich!“ – „Wie wollt Ihr auf ihm reiten, bis jetzt hat ihn noch keiner geritten, alle fürchten ihn. Was fällt Euch ein, ihr könnt Euch auf ihm nicht halten!“ – „Ich habe gesagt, führt das Pferd heraus, wiederholen kann ich es nicht, oder ich schlage Euch die Köpfe ab!“ Da gingen die Pferdeknechte, nahmen die Schlösser ab und öffneten die Tür; das Pferd aber spürte das Klirren und Klopfen und begann an den Ketten zu reißen. Sechs Mann führen das Pferd, drei Mann auf jeder Seite, sie führten das Pferd heraus, sein Hals geht im Kreise, aus den Ohren steigt Rauch wie eine Säule, aus den Nüstern strömt Dampf, und es will sich losreißen, doch sie halten es fest, warfen ihm einen Tscherkessensattel auf und legten ihm zwölf Gurte an wegen seiner Reckenstärke. Und Bowa trat heran, klopfte ihm mit der Hand den Hals und sagte: „Bist ein gutes Pferd, doch auch der Reiter auf dir wird nicht schlecht sein!“ Hatte es kaum gesagt, aufs Pferd hinauf – und schon sitzt er. Die Pferdeknechte hatten noch nicht mit den Augen gezwinkert, da sagte er: „Zügel loslassen“, und das Pferd machte drei Sätze, konnte den Reiter nicht abwerfen und jagte davon wie ein Sturmwind, die Pferdeknechte schlugen nur die Hände zusammen und wunderten sich, so ein Reiter war das! Es hatte niemand geglaubt, niemand geahnt, daß er obenbleiben würde. Bowa aber gab seinem Pferd die Sporen, setzte über die Mauer und flog wie ein Pfeil davon, von den Hufen blieben tiefe Gräben zurück, und er 650
stürmte dem Heer Sultans entgegen. Sultan Sultanowitsch erblickte Bowa und lachte: „Einen besseren Recken hat Sensewej nicht – hat einen Knaben geschickt“, sagte Sultan zu seinem kleinsten Recken. „Reite du und gib’s diesem Milchbart!“ Der Recke sprang aufs Pferd und jagte auf Bowa los, doch Bowa ließ ihn nicht nahe herankommen und erschlug den Recken. Sultan schickte den zweiten – auch den zweiten tötete Bowa. Sultan wurde wütend, daß der Milchbart zwei erschlagen hatte, schickt vor Wut den dritten Rekken, und den ereilte das gleiche Schicksal wie jene zwei. Da wurde Sultan noch wütender als vorher und ritt selbst gegen Bowa, doch es waren nicht zwei Wolken, die sich treffen, sondern zwei Recken, die sich schlagen, und Sultan versetzte Bowa mit der Lanze einen Stoß vor die Brust, und es klang wie ein starker Donnerschlag. Aber Bowa hielt sich auf dem Pferde und stöhnte nur schwer von dem schweren Stoß, aber weil der Stahlpanzer stark war, konnte Sultan ihn nicht durchschlagen. Dann stieß Bowa den Sultan Sultanowitsch mit seiner Lanze gegen die Brust, und Sultan wurde ohnmächtig und stürzte vom Sattel, und Bowa zog sein Schwert und trennte den Leichnam bis zum Sattelkissen mitten durch, und Sultan stürzte zu beiden Seiten des Pferdes auf die kühle Erde. Bowa hatte den Kampf mit den vier Recken beendet und warf sich auf das gewaltige Heer Sultans und begann mit dem Schwert dreinzuhauen: schlug rechts, und es entstand eine Gasse, schlug links, und es entstand eine zweite Gasse. Wieviele 651
Krieger Bowa erschlug, soviele hilft ihm auch sein Pferd mit den Beinen zertrampeln: so hatte Bowa Königssohn das ganze Heer zusammengeschlagen. Nur eine kleine Zahl war übriggeblieben, sie konnte gerade noch zurückfliehen in Sultans Staat. Als sie ankamen, erklärten sie dem Sultan, daß irgendein junger Recke gekommen ist und hat die drei Recken erschlagen und Sultan Sultanowitsch selber in zwei Teile zerhackt, sich auf das Heer geworfen und alles erschlagen, „wir konnten nur noch fliehen!“ Da wurde Zar Sultan traurig, aber er sagte: „Da kann man nichts machen, wir haben niemanden mehr, mit dem wir angreifen könnten.“ Als Bowa gekämpft hatte, da hatte Drushewna Sensewejewna vom Balkon aus durch ein Fernrohr zugesehen und war sehr froh, daß Bowa so gut zurechtkam, daß er die drei Recken und als vierten Sultan selbst erschlagen hatte und rechts und links das Heer hinmähte. Nach dieser Schlacht kehrte Bowa zurück in die Stadt des Zaren Sensewej. Da wurde das Stadttor aufgemacht, Bowa ritt in die Stadt ein, Zar Sensewej und Drushewna begrüßten Bowa Königssohn mit großer Freude, nahmen ihn bei den Händen und führten ihn in den Zarenpalast. Zar Sensewej setzte Bowa neben sich an den Tisch. Es wurde ein Abend veranstaltet, Generale und Kaufleute kamen, und man trank, feierte und war lustig. Alle gratulierten Bowa Königssohn zu seinem Sieg, und einzig Neid und Bosheit trank nicht, sondern ging umher, spann Pläne und knirschte mit den Zähnen. Zar Sensewej Andronowitsch hatte einen 652
Günstling gehabt, der hatte immer an einem Tisch mit ihm geplaudert, und erst jetzt war er entfernt worden und mußte die Gäste und Bowa bedienen, aber das war nicht nach seinem Geschmack. Und der ging den ganzen Abend umher und überlegte immer, wie er Bowa einen Streich spielen könnte, und sagt zu sich: „Warte nur, ich werde mein Mütchen noch kühlen dafür, daß ich Bowa bedienen mußte, diesen Milchbart!“ Und das Fest ging zu Ende, die Gäste gingen alle nach Hause, auch Zar Sensewej ging in sein Schlafzimmer, und Bowa und Drushewna gingen in ihre Zimmer. Bowa hatte sich noch nicht ausgezogen, er saß und dachte an die schwere Schlacht mit den Recken, wie er hatte kämpfen müssen; Bosheit und Haß aber hatten es fertig gebracht, ins Schlafzimmer des Zaren einzudringen. Er legte dessen Gewand an, schrieb eine Depesche, versiegelte sie und schickte einen Diener: „Da, übergib’s Bowa, daß er es gleich zu Sultan bringt und ihm selbst in die Hand gibt!“ Bowa liebte es nicht, fremde Briefe zu lesen und zu entsiegeln, auch Depeschen nicht, er nahm die Depesche, steckte sie in die Tasche und sagte: „Ist gut, ich reite sofort!“ Legte sein Schwert an, erhob sich und ging in den Pferdestall, sattelte sein Reckenpferd, ließ sich bei Drushewna Sensewejewna nicht melden, sondern ritt in der gleichen Nacht los. Am Morgen standen Zar Sensewej und Drushewna auf und stutzten – wo ist Bowa und wohin ist er geraten? Niemand konnte es wissen, nur der Höfling allein wußte es, der früher mit dem Zaren zusammen an einem 653
Tisch gesessen hatte, und er sagte es niemandem. Der Zar und Drushewna trauerten um Bowa: wohin war Bowa geraten, worüber war er erzürnt? Sie waren traurig und bekümmert, und damit ließen sie es bewenden. Bowa ritt eine Nacht und einen Tag und war schon weit. Am dritten Tag war es sehr heiß, und er hatte heftigen Durst, aber nirgends war eine Quelle zu sehen; und auf einmal sieht er rechts in der Ferne eine große Eiche stehen, und unter der Eiche bemerkte er einen grauhaarigen Alten, der trinkt Wasser. Und Bowa wendete sein Pferd, ritt zu dem Greis, begrüßte ihn freundlich und sagte: „Ich sehe, daß Ihr Wasser trinkt, und mich quält der Durst, ich möchte auch gern trinken. Erbarm dich und gib mir zu trinken, sei so gut, Alter!“ Aber der Alte antwortete nichts, goß das Wasser aus, schöpfte frisches Wasser, wandte sich ab, schüttete Schlafpulver in den Krug und reichte Bowa den Krug voll Wasser. Und Bowa trank gierig das ganze Wasser aus, verneigte sich tief vor dem Alten, sagte Dank, lenkte sein Pferd wieder auf den Weg und ritt weiter; doch es waren noch keine fünf Minuten vergangen, als Bowa der Schlaf überwältigte, und er stieg vom Pferd, legte sich ins Gras und fiel in einen tiefen Schlaf. Zu dieser Zeit aber, als Bowa schlief, kam zu ihm derselbe Alte, der Bowa Wasser gegeben hatte, und nahm ihm das stählerne Schwert ab, führte das Pferd von Bowa weg, übergab das Pferd Markobrun, das Schwert aber gab er ihm nicht, behielt es selber und sagte zu Markobrun: „Du 654
kannst den Staat Sensewejews wieder mit Krieg überziehen, ich habe den Recken Bowa entwaffnet, er hat jetzt nichts mehr, womit er kämpfen kann!“ Und damit verschwand der Alte. Bowa aber erwachte und weiß selber nicht, hat er lange oder kurze Zeit geschlafen, nur merkte er plötzlich, daß sein stählernes Schwert nicht bei ihm ist, und das Pferd ist auch nicht da; da begriff Bowa, was los war, daß der Alte ihm nicht bloß so zu trinken gegeben hatte, und er sagte: „Was für ein alter Teufel, wie hat er mich angeführt; wenn er mir in den Weg käme, ich würde ihn in Stücke reißen!“ Bowa grämte sich, war traurig, aber es war nichts zu machen, er mußte seinen Weg fortsetzen. Bowa erhob sich und ging zu Fuß weiter. Ging nicht einen Tag, nicht zwei, sondern einen Monat, kam durch viele Dörfer und Städte, gelangte aber schließlich zu Sultans Zarenreich, ging in die Stadt und fragte den ersten, der ihm begegnete: „Sage, wem gehört diese Stadt?“ Der Mann antwortete: „Diese Stadt gehört Sultan selber.“ Bowa sagte: „Den brauche ich gerade. Habt Dank, daß Ihr’s gesagt habt!“ Bowa ging weiter, kam zum Schloß und fragte den Wachposten: „Laßt mich ein zu Zar Sultan, ich bringe ihm eine Depesche vom Zaren Sensewej!“ Der Wachposten ließ Bowa ein, und Bowa ging ins Arbeitszimmer des Zaren Sultan, verneigte sich und überreichte ihm die Depesche. Sultan saß auf einem goldenen Sessel hinter einem Tisch, nahm von Bowa die Depesche, erbrach das Siegel und las sie. Und dort stand geschrieben: „Das ist derselbe Recke, 655
er heißt Bowa, der Eure drei Recken und Euren Sohn Sultan Sultanowitsch getötet und das ganze Heer zusammengeschlagen hat.“ Und Bowa steht vor ihm wie eine Kerze und wartet auf Antwort von Sultan. Sultan las die Depesche durch, und seine Augen füllten sich mit Blut, die Haare standen ihm zu Berge, und er schrie: „Diener, hierher!“ Die Diener kamen sogleich gerannt, und Sultan schrie Bowa an: „Er ist selber gekommen, dieser Schurke, packt ihn, dieser Schurke hat meinen Sohn und die drei Rekken getötet und das ganze Heer erschlagen, führt ihn ins Gefängnis, steckt ihn hinein, und morgen werden wir ihn zusammen zum Galgen führen!“ Die Diener ergriffen Bowa, führten ihn ins Gefängnis, ließen Bowa dort hinter einer Eisentür zurück und legten ein Schloß davor. Da kamen Bowa trübe Gedanken, er wurde traurig, und die Tränen schüttelten Bowa. Als Bowa sich etwas beruhigt hatte, sagte er: „Warum nur ist Väterchen Zar Sensewej zornig auf mich? Ich habe ihn zweimal aus dem Unglück gerettet, und er hat mich in den sicheren Tod geschickt. Es wird mir leicht werden, in der Luft zu tanzen.“ Bowa blickte nach allen vier Himmelsrichtungen, ob nicht irgendwo ein Stück Eisen liegt – nirgends etwas zu sehen. Bowa wurde traurig: „Wenn ich wenigstens mein Schwert bei mir hätte, dann wäre es noch gut, aber man kann nichts machen, ich habe Arme und Beine, irgendwie werden wir’s versuchen.“ Die Nacht war vorbei. Sultan schickte sechzig Mann, mit Säbeln ausgerüstet: „Bringt 656
Bowa zu mir, wir wollen ihn zum Galgen führen!“ Die Eskorte nahm Aufstellung, und sie gingen, Bowa zu holen; sie kamen ins Gefängnis, nahmen das Schloß ab, rissen die Tür auf, und einer von ihnen schrie: „Komm ‘raus!“ Bowa war nicht ängstlich, er sprang aus dem Gefängnis, entriß dem ersten den Säbel und ließ ihn nach links und rechts niedersausen. Schnell war die ganze Eskorte bis auf den letzten Mann niedergehauen, er ging vor die Stadt und gedenkt, so schnell wie möglich zu entfliehen. Sultan wartet auf die Eskorte mit Bowa und kann es nicht erwarten, schickt einen Boten: „Lauf schnell zum Gefängnis, sie bringen Bowa so lange nicht!“ Der Bote kam hin, aber dort lag die ganze Abteilung auf der Erde. Er rannte wieder zurück zum Sultan und sagte: „Alle Soldaten sind totgeschlagen!“ Da ergrimmte Sultan noch mehr als vorher und befahl, ins Horn zu stoßen und das Heer zu versammeln. Es wurde ins Horn gestoßen, und das Heer versammelte sich. Sultan bestimmte einhundert Mann Reiterei, Bowa, koste es, was es wolle, einzuholen und lebendig zu ihm zurückzubringen. Die Reiterei eilte schnell davon, sie holten Bowa, der zu Fuß war, bald ein, umringten ihn und brachten ihn zurück. Bowa wurde zum Sultan gebracht. Sultan sagte: „Du wirst mir nicht davonlaufen, du Schurke, du entgehst dem Galgen nicht!“ Und er befahl, Bowa ins Gefängnis zu führen. „Und morgen hängen wir ihn auf!“ sagte Sultan. Die Diener brachten Bowa nach dem Gefängnis und führten Bowa 657
gerade an seiner Tochter vorbei. Die erblickte Bowa durchs Fenster, seine Schönheit gefiel ihr, und Bowa tat ihr leid. Sie ging zu ihrem Vater und sagte: „Liebes Väterchen, ich bin zu dir mit einer Bitte gekommen: töte diesen Recken nicht, jetzt kannst du deinen Sohn nicht wieder lebendig machen, und die drei Recken kannst du auch nicht zurückholen, die er getötet hat. Ich denke, er wird mich zur Frau nehmen und mein Mann sein. Euer Schwiegersohn, und er wird auch unseren Staat schützen. Er ist weit stärker als sie, und er muß sich mit meinen Worten einverstanden erklären, weil ihm morgen der Tod droht. Und für mich ist es an der Zeit, jemanden zu heiraten.“ Sultan liebte seine Tochter sehr und sagte: „Du kannst die Ehe eingehen. Ich gebe meinen Segen, wenn er sich einverstanden erklärt.“ Sie verneigte sich tief vor ihrem Vater und ging. Bowa war im Gefängnis gelassen worden. Die Tochter Sultans kam in ihr Zimmer, schickte Diener nach Bowa und trug den Dienern auf: „Sagt Bowa, die Zarentochter verlangt nach Euch!“ Die Diener gingen zu Bowa, erklärten ihm, daß „die Zarentochter nach Euch geschickt hat.“ Bowa war einverstanden, mit ihnen zu gehen. Als sie Bowa zu ihr geführt hatten, verneigte er sich tief vor ihr, sie setzte Bowa an einen Tisch und bewirtete ihn. Und seine Schönheit zog sie so an, daß sie zu ihm zu sprechen begann: „Ich bin heute bei meinem Vater gewesen und habe Euch vor der Todesstrafe bewahrt, und ich denke, daß ihr einverstanden sein werdet mit meinen Worten: ehe Ihr Eure Jugend 658
verderbt, Euer kühnes Haupt in die Schlinge steckt, wenn Ihr also mich zur Frau nehmt, werden wir in Freiheit leben.“ Bowa überlegte ein wenig und antwortete: „Zarentochter, ich bin noch zu jung und habe nicht die Absicht zu heiraten.“ Lange redete die Zarentochter Bowa zu, aber sie konnte es auf keine Weise erreichen, daß Bowa sie heiratet. Bowa sagte: „Lieber sterben als heiraten!“ Da befahl die Zarentochter den Dienern, Bowa wieder ins Gefängnis zu führen. Die Diener führten Bowa ins Gefängnis und ließen ihn dort. Die Zarentochter aber ging mit ihrem Bericht zum Väterchen Sultan und sagte: „Liebes Väterchen, ich habe Bowa zu mir bringen lassen und ihm zugeredet, daß er mich heiratet, aber ich habe ihn auf keine Weise dazu bringen können. Jetzt geschehe Euer Wille, was ihr wollt, das tut mit Bowa!“ Sultan hörte die Rede seiner Tochter, wurde noch wütender als vorher und sagte zu ihr: „Morgen hängen wir ihn auf!“ Die Zarentochter verneigte sich tief vor ihrem Vater, drehte sich um und ging in ihr Zimmer. Die Nacht ging vorbei, der Morgen kam, Zar Sultan befahl, eine Hundertschaft Soldaten zusammenzuholen, mit Säbeln bewaffnet, und Bowa zu ihm zu bringen. Die Eskorte nahm Aufstellung und ging wieder, Bowa zu holen. Bowa aber hörte das Geräusch der Schritte und sah von einer Ecke in die andere, irgendein Türband zu suchen oder ein schweres Stück Eisen. Und plötzlich sah er: in der Ecke steht dieses sein stählernes Schwert, das er in den Kämpfen gebraucht hatte. Mit großer Freude ergriff Bowa 659
seinen treuen Freund, preßte es an die Brust und küßte es. Die Eskorte kam an, sie nahmen das Schloß ab, öffneten die Tür und schrien: „Komm raus ins Freie!“ Aber Bowa kam herausgesprungen, und wie er sein Schwert schwang, hatte er eine Gasse gemacht, und er streckte alle bis auf den letzten Mann zu Boden, er selber aber ging vor die Stadt und rannte schnell davon. Er hält gerade auf den Hafen zu. Sultan wartet auf die Eskorte und kann’s nicht erwarten, er schickt einen Diener: „Geh zum Gefängnis, warum die Diener Bowa noch immer nicht bringen!“ Der Diener kam zum Gefängnis, da liegt die ganze Abteilung dort tot am Boden. Er kehrte zurück und meldet Sultan: „Dort ist keiner mehr am Leben, alle erschlagen!“ Da wurde Sultan noch wütender als vorher und befahl, ins Kriegshorn zu stoßen, das Heer zu versammeln und Bowa nachzueilen. Sie stießen ins Horn, versammelten fünfhundert Soldaten Reiterei, und Sultan gab Befehl, Bowa, koste es, was es wolle, einzuholen und lebendig vor Gericht zu bringen. Aber Bowa hatte unterdessen auch nicht geschlafen, sondern sich angestrengt, zum Hafen zu kommen, und er war gerade zum Hafen gekommen, und in derselben Minute legte ein Schiff vom Ufer ab. Bowa konnte noch auf das Schiff springen und bat die Kapitäne und Matrosen höflich: „Nehmt mich mit!“ Die Kapitäne sagten: „Schön, wir nehmen dich mit.“ Als das Schiff einige Saschen vom Ufer entfernt war, strömte das Heer zum Meere, und sie schrien: „Lenkt das Schiff zurück und gebt uns diesen Mann heraus!“ 660
Der Kapitän wollte das Schiff schon zurücklenken, aber Bowa zog sein Schwert aus der Scheide und schlug dem Kapitän den Kopf ab, dem zweiten befahl er: „Fahr weiter: wer nicht gehorcht, dem geschieht das gleiche!“ Da bekamen alle Angst und unterwarfen sich Bowa; sie lenkten das Schiff in die Mitte des Meeres, zogen die Segel hoch, brachten das Schiff auf volle Fahrt, zum Glück wehte günstiger Wind, und sie fuhren weiter. Das Heer aber stand eine Weile am Ufer, sah dem Schiff nach und ritt zurück zu Sultan. Sie kamen an und erklärten, wie die Sache war. Sultan kratzte sich am Hinterkopf und sagte: „Da kann man nichts machen. Der Feind hat entkommen können.“ Und dabei blieb es. Bowa aber setzte sich in den Besitz des ganzen Schiffes, und sie fahren einen Tag, einen zweiten und mehrere Monate: viele Dörfer und Städte sahen sie auf ihrer Fahrt an der Küste. Und nun näherten sie sich einer Stadt; Bowa befahl, das Schiff auf die Stadt zuzulenken, die sie in der Ferne sahen, und das wurde vom Kapitän auch getan. Und es begegneten ihnen schon Fischer in ihren Booten. Bowa befahl, das Schiff anzuhalten. Der Kapitän gab den Matrosen Anweisung, Anker zu werfen. Und als sie den Anker geworfen hatten und das Schiff hielt, rief Bowa die Fischer heran, kaufte ihnen ihre Fische ab, gab die Fische den Schiffsleuten und sagte: „Da, kocht die Fische und eßt sie!“ Bowa selber aber fragte die Fischer, wem diese Stadt gehört: „Markobrun!“ Bowa fragte noch einmal: „Und was hört man Schönes in der Stadt?“ Die 661
Fischer gaben ihm zur Antwort: „Schönes das, daß morgen der Zar heiratet.“ Bowa fragte: „Und wen?“ Sie antworten: „Drushewna Sensewejewna!“ Als Bowa diese Worte hörte, krampfte es ihm das Herz zusammen, und in seiner Brust kochte das Reckenblut. Da bat Bowa die Fischer, ihn zu jenem Ufer zu bringen, zur Stadt. Sie waren einverstanden, ihn überzusetzen. Und da verabschiedete sich Bowa von dem Kapitän und den Matrosen und setzte sich zu den Fischern ins Boot. Das Schiff aber fuhr weiter. Als Bowa mit den Fischern fuhr, fragte er, wie es in der Stadt zugehe. Sie erklärten ihm, daß Markobrun einen Befehl erlassen hatte, Bowa nicht zu erwähnen. „Und warum?“ – „Er hat Drushewna gewaltsam entführt, und sie jammert um irgendeinen Bowa, und wer ihn nur erwähnt, den kostet es den Kopf.“ Sie brachten Bowa ans Ufer, er bedankte sich bei den Fischern und ging näher an die Stadt heran. Geht so dahin und denkt, wie er die Sache anfangen soll und wie er Drushewna sehen kann. Und auf einmal kommt Bowa derselbe Greis in den Weg, der ihm unterwegs Wasser zu trinken gegeben und ihn eingeschläfert hatte. Bowa begrüßte ihn und sagte zu ihm: „Jetzt habe ich dich erwischt, Alter, jetzt werde ich dich in zwei Hälften zerreißen!“ Der Alte fiel auf die Knie und sagte: „Vergib mir, um Gottes willen, meinen bösen Streich. Ich will dich unterweisen, wie du Drushewna bekommen kannst, sie lebt hier bei Markobrun; er hat nach Eurer Abreise gehört, daß Ihr nicht mehr bei Sensewej Andronowitsch seid, ist 662
mit seinem Heer ausgezogen, hat den Staat Sensewejs zerstört und Drushewna entführt, morgen werden sie getraut. Aber du sollst sie heute sehen!“ – „Und wie kann ich sie sehen?“ fragte Bowa den Alten. Der Alte holte drei Pulver hervor, gab sie Bowa und sagte: „Dieses eine Pulver hier schütte in Wasser und wasche dich, da wirst du alt, die Haare werden weiß, das Gesicht runzlig, aber deine Kraft und die Zähne verlierst du nicht. Nach diesem Pulver schütte von diesem hier in reines Wasser und wasche dich – du wirst wieder der gleiche Held wie vorher.“ Da nahm Bowa diese Pulver, führte alles aus, überzeugte sich von den Worten des Alten und sagte: „Ist gut, Alter, ich vergebe dir alles!“ Bowa hatte ein weiches Herz und war gutmütig. Er verabschiedete sich von dem Alten, und der Alte rief ihm nach: „Dein Pferd steht im Pferdestall bei Markobrun. Kannst es nehmen!“ – drehte sich um, ging und war bald verschwunden. Bowa aber ging in die Stadt und hatte bald einen Mann eingeholt, der eine Bürde Holz trug und einen alten Bauernkittel anhatte. Bowa sagte zu ihm: „Gib mir zum Tausch deinen Kittel und nimm mein Gewand, ich brauche deinen Kittel!“ Da drehte sich der Mann zu Bowa um und sagte: „Ihr seht aus wie ein guter Mensch, aber einen armen Mann verspottet Ihr. Wie könnt Ihr einverstanden sein, ein solches Gewand gegen solche Lumpen herzugeben.“ Bowa sagte zu ihm: „Wenn du ihn im guten nicht gibst, nehme ich ihn im bösen!“ Der Mann zog seinen Bauernkittel aus und gab ihn Bowa: „Wenn Ihr meinen Bauernkittel 663
braucht, nehmt ihn!“ Bowa nahm den Kittel, zog sein Gewand aus und gab es ihm: „Hier nimm, guter Mann, und trag es zu deinem Besten, und willst du’s nicht tragen, dann verkauf’s wenigstens.“ Der Bauer freute sich, sagte Bowa viele Male Dank, und sie gingen auseinander. Bowa näherte sich der Stadt, da stieß er unterwegs auf eine Wasserquelle; er schöpfte reines Wasser in den Krug, schüttete das Pulver in das Wasser, wusch sich mit diesem Wasser und sah aus wie ein grauhaariger Alter. Sein Gesicht hatte Runzeln bekommen, der Hals auch, und an den Händen waren die Knochen zu sehen; danach geriet aus Versehen ein Wassertropfen auf das Schwert, das wurde alt und ganz verrostet, aber seine Kraft hatte Bowa nicht verloren. Er zog den Bauernkittel an, verdeckte sein Schwert unter den Rockschößen und ging in die Stadt Markobruns. Auf dem Wege war eine Bäckerei, dort buken sie Brot für Markobruns Hochzeit. Bowa ging hinein und bat um ein Almosen, aber nicht um des Essens willen, sondern Bowa wollte etwas erfahren, und er sagte: „Habt Erbarmen, gebt mir ein Almosen, nicht um meinetwillen, sondern um Bowa des Königssohns willen!“ Da hörte der Meister der Bäckerei diese Worte und schrie ihn an: „Bist du verrückt geworden, Alter, bist du etwa des Lebens überdrüssig, erwähnst Bowa, hier ist ein Befehl vom Zaren erlassen, keinesfalls Bowa zu erwähnen. Wer ihn erwähnt, den kostet es den Kopf!“ Da tat Bowa, als wüßte er von nichts, und bat um Vergebung: „Vergebt, um Gottes willen, einem alten 664
Mann, ich habe diese Anweisung nicht gekannt und habe das so hingeschwatzt!“ – „Nun gut, Großväterchen, weil Ihr sehr alt seid, werde ich es dem Zaren nicht melden. Ich bitte Euch aber, paßt auf und erwähnt nirgends mehr Bowa, sonst schlagen sie dir den Kopf ab.“ Und nun zeigte ihm der Meister der Bäckerei den Weg: „Geh, heute gibt Drushewna den Bettlern Almosen!“ Der Alte sagte für alles Dank und ging dorthin zur Verteilung der Almosen. Kam hin, aber da stand eine lange Reihe, einer hinter dem anderen; er fragte: „Worauf wartet ihr hier?“ Die Bettler antworteten ihm: „Drushewna gibt zu Ehren ihrer Hochzeit Almosen, manchen drei Rubel, manchen fünf Rubel.“ Bei Bowa kocht das Blut in der Brust, er begann sich zunächst behutsam durchzudrängen, da schreit die Bettlerschar: „Was drängst du dich vor, stell dich in die Reihe!“ Aber Bowa stößt mit dem Ellenbogen in die eine Richtung, und fünf Mann liegen auf der Erde, stößt in die andere Richtung, noch mehr wälzen sich auf der Erde, und so war es nicht schwer für ihn, bis zu Drushewna durchzukommen. Die Bettler aber schimpfen: „Der Teufel hole ihn, ist selber klapprig, aber wenn er mit dem Ellbogen stößt, dann liegt ein ganzer Haufen auf der Erde, woher kommt ihm nur solche Stärke?“ Er drängte sich schnell zu Drushewna durch und sagte: „Mütterchen Drushewna Sensewejewna, gib mir ein Almosen, nicht um meinetwillen, sondern um Bowa des Königssohns willen!“ Sie hörte diese Worte, stellte die Verteilung der Almosen ein, nahm den Bettler bei der Hand und rief 665
ihn in ihr Zimmer. Die Bettler aber begannen zu schimpfen: „Der Teufel soll diesen Alten holen, was hat er hier zu suchen, jetzt ist alles hin, ein solches Almosen bekommt man in Ewigkeit nicht mehr. Nein, denkt nur, manchen drei Rubel und manchen sogar fünf Rubel. Aber jetzt hat’s keinen Sinn zu warten, wir müssen auseinandergehen.“ Und so ging die Menge bald auseinander. Drushewna Sensewejewna aber fragte den Bettler: „Kennt Ihr denn etwa Bowa, Großväterchen?“ Er gab ihr zur Antwort: „Wie denn, ich kenne ihn gut, wir haben zusammen im Gefängnis gesessen.“ – „Was sagt Ihr da, ist er denn noch am Leben! Ich denke schon nicht mehr, daß Bowa noch lebt!“ sagte sie und begann um ihn zu jammern; und in diesem Augenblick trat Markobrun ein und fragte Drushewna: „Worüber weinst du, meine Liebe?“ Sie gab ihm zur Antwort: „Dieser Alte hier ist aus unserer Stadt und hat mir die Nachricht gebracht, daß mein lieber Vater gestorben ist.“ Da sagte Markobrun zu ihr: „Weine nicht, wozu weinen und die Augen naß machen, er war schon alt, hat seine Zeit gelebt, jetzt kannst du ihn nicht zurückholen. Nun gut, besprich mit dem Alten, was nötig ist!“ Und er ging von ihnen weg. Da fragte sie der Alte: „Wie ist’s denn, liebt Ihr Bowa oder nicht? Er hat Euch oft erwähnt.“ Drushewna brach wieder in Tränen aus und sagte zu dem Alten: „Wenn ich wüßte, daß Bowa lebt, ich liefe durch dreimal neun Länder ins dreimal zehnte Zarenreich zu ihm.“ Der Alte hörte sich die Worte Drushewnas an und sagte zu ihr: „Bowa 666
befindet sich hier in der Stadt, aber er hat Angst, sich zu zeigen, und hat mich zu Euch geschickt.“ Drushewna sagte: „Wie kann ich ihn denn sehen?“ Der Alte sagte zu ihr: „Ich will Euch in dieser Sache helfen, ich gebe Euch ein Schlafpulver; geht Ihr gleich heute in den Garten, pflückt die schönste Rose und steckt sie an das Hemd, in dem Euer Bräutigam mit Euch zur Trauung gehen soll, und streut von dem Pulver auf die Rose und mach das gleich heute, zieh ihm das Hemd an und laß ihn an der Rose riechen! Wenn er an der Rose gerochen hat, wird er schlafen wollen und drei Tage und drei Nächte schlafen.“ Und der Alte holte das Pulver aus der Tasche und gab es Drushewna. Und er wiederholte, sie müsse es unbedingt heute tun, ihn vor der Trauung einschläfern. Dann sagte er zu ihr: „Nun gut, inzwischen viel Glück! Ich gehe jetzt zu Bowa, am Morgen aber erwartet mich.“ Und er verließ Drushewna. Sie ging sogleich in den Garten, pflückte die am stärksten duftende Rose, steckte sie an das Hemd, streute das Schlafpulver hinein, rief ihren Bräutigam, zog ihm das Hemd an und sagte: „Morgen werdet Ihr darin zur Trauung gehen, seht, wie schön Ihr darin ausseht und was für eine hübsche und duftende Rose das ist, versucht mal daran zu riechen!“ Und er sog den Duft durch alle Nasenlöcher, und der Duft der Rose gefiel ihm sehr, und er sagte: „Sehr schöner Duft!“ Und Markobrun hatte noch keine fünf Minuten bei Drushewna gesessen, da sagte er: „Schön, schlaft ein wenig, ich will auch etwas ruhen gehen!“ Stand auf, ging in sein Schlafzim667
mer und fiel in einen festen Schlaf. Nach einer kleinen Weile ging Drushewna und sah nach ihrem Bräutigam. Markobrun war fest eingeschlafen, Drushewna aber konnte keine Ruhe finden. Sie verbringt die Nacht auf den Knien und sieht zum Fenster hinaus, ob es nicht bald zu tagen beginnt. Mit großer Mühe erwartete sie den Tag, und die Sonne war schon aufgegangen, aber der Alte will nicht kommen. Und endlich nun kam der Alte. Drushewna freute sich, und er fragte sie: „Hast du getan, was ich dir aufgetragen habe?“ Sie gibt ihm zur Antwort: „Gleich gestern habe ich’s getan, Markobrun schläft.“ – „Das ist schön, daß er schläft, er wird drei Tage und Nächte schlafen; wir haben keine Zeit zu verlieren, komm, mach dich fertig!“ sagte der Alte, „ich führe Euch zu Bowa!“ Drushewna war schnell bereit, sie nahm nichts mit, nur ein kleines Kästchen ergriff sie und ging mit dem Alten. Ehe sie zum Pferdestall kamen, blieb der Alte stehen und fragte Drushewna: „Liebt Ihr Bowa sehr?“ Sie gab ihm zur Antwort: „Wenn ich ihn nicht liebte, wäre ich nicht mitgekommen.“ Er sagte zu ihr: „Vielleicht könnt Ihr mich an Stelle Bowas lieben?“ Sie wich vor ihm zurück und sagte: „Was fällt Euch ein, Euern Spaß mit mir zu treiben, Alter, Bowa war ein schöner junger Bursche, Ihr aber seid schlohweiß.“ Und sie brach in Tränen aus. Der Alte sagte: „Schon gut, weint nicht!“ Er nahm einen Krug und sagte ihr: „Schöpft Wasser!“ Sie schöpfte Wasser und gab es dem Alten, der streute ein Pulver ins Wasser, wusch sich mit dem Wasser, ging beiseite und 668
wurde, was er früher gewesen war, ein schöner junger Held; und er wusch sein Schwert, und es wurde wie früher. Da erkannte Drushewna, daß wirklich Bowa-Königssohn vor ihr steht, und sie hing sich an seinen Hals und umarmte Bowa und küßte ihn und sagte: „Mein lieber BowaKönigssohn, ich habe nicht geglaubt, daß wir uns wiedersehen.“ Jetzt sagte Bowa: „Wir haben keine Zeit zu verlieren, wir müssen zum Pferdestall gehen.“ Als sie hinkamen, befahl Bowa den Pferdeknechten: „Sattelt den besten Paßgänger für Drushewna, gehorcht meiner Anweisung, sonst kostet es Euch den Kopf!“ Er selber aber ging und holte sein treues Pferd. Das Pferd erkannte Bowa und fing kläglich zu wiehern an. Bowa sattelte sein Pferd, und auch für Drushewna war das Pferd fertig; sie stiegen auf und ritten los. Sie reiten einen Tag, den zweiten, und am dritten Tag machten sie Rast an einer Quelle, schlugen ein Zelt auf und ruhten sich aus, tauschten ihre Ringe, wurden wie Mann und Frau und erzählten einander ihre Erlebnisse. Markobrun aber wurde am dritten Tag abends munter, die Sonne war im Untergehen, und er dachte im Halbschlaf, daß sie aufgeht, und sagte: „Ich muß aufstehen, heute muß ich zur Trauung gehen.“ Die Diener sagten zu ihm: „Zu spät, die Sonne ist im Untergehen!“ – „Und warum habt ihr mich nicht früher geweckt?“ Sein Diener sagte zu ihm: „Wir haben’s versucht, konnten Euch aber nicht munter bekommen. Ihr seid am dritten Tag aufgewacht.“ Er fragte: „Und wo ist Drushewna?“ 669
Der Diener antwortete Markobrun: „Sie ist mit Bowa fortgeritten!“ Da griff er sich an den Kopf und sagte: „Jener Alte hat mir einen Streich gespielt, der mit ihr im Zimmer gestanden hat. Aber nun ist nichts mehr zu machen, ich muß ein Heer von hunderttausend Mann sammeln und ihnen nachschicken.“ Und er befahl den Dienern, ins Kriegshorn zu stoßen und das Heer zu sammeln. Und sie stießen ins Horn, sammelten ein gewaltiges Heer, und Markobrun befahl, Bowa und Drushewna, koste es, was es wolle, einzuholen und lebendig zu ihm zu bringen. Das Heer machte sich an die Verfolgung Bowas, Bowa aber und Drushewna hatten sich drei Tage ausgeruht. Bowa stützte sich mit dem Ellenbogen auf die Erde, und es war der Hufschlag von Pferden zu hören, und er sagte zu Drushewna: „Sicher kommen Verfolger hinter uns her, bleibt Ihr ein wenig hier, ich will reiten und mit ihnen abrechnen.“ Stand auf, ging, fing sein Reckenpferd ein, sattelte es, sprang aufs Pferd und jagte wie ein Sturmwind den Feinden entgegen, zog sein Schwert und schlug nach rechts und links und erschlug alle, nur eine kleine Zahl blieb übrig und floh. Als sie zu Hause ankamen, erklärten sie Markobrun: „Bowa hat alle erschlagen, nur wir konnten entkommen.“ Nach der Schlacht kehrte Bowa zu Drushewna zurück, sattelte ihr das Pferd, sie stiegen auf und ritten weiter. Auf ihrem Wege kamen sie zu einer Stadt, ritten hinein, gingen in die Kirche, ließen sich trauen und ritten weiter, dem Zarenreich Sensewejs entgegen. Lange Zeit waren 670
Mann und Frau geritten, und wieder wollten sie ausruhen, schlugen ihr Zelt auf, ließen die Pferde im grünen Gras weiden und ruhten sich aus. Markobrun aber hatte die Senatoren versammelt und beriet mit ihnen: „Wir müssen ein Heer sammeln und Bowa nachschicken!“ Da sagte ein alter Diener zu Markobrun: „Bei dir sitzt wegen eines Vergehens schon viele Jahr ein Recke im Gefängnis, man nennt ihn Polkan: seine eine Hälfte ist ein Pferd, die andere Mensch.“ Markobrun befahl, Polkan den Recken zu ihm zu bringen. Die Diener gingen und brachten Polkan zu Markobrun. Der sagte zu ihm: „Ich hebe die Haft auf, hole, koste es, was es wolle, Bowa und Drushewna ein und bring sie zu mir!“ Polkan sagte: „Gut, zu Befehl!“ Er war froh, daß sie ihn freiließen, und jagte Bowa nach, wie der Sturmwind fliegt. Bowa aber und Drushewna ruhten zu dieser Zeit wieder aus und hörten wieder Hufschlag. Bowa sagte zu Drushewna: „Sicher sind wieder Verfolger hinter uns her. Bleibt ein wenig hier, ich will ihnen entgegenreiten und mir ansehen, was für Verfolger das sind.“ Und er stand auf, ging, fing sein treues Pferd ein, sattelte es und ritt den Verfolgern entgegen. Als Polkan Bowa erblickte, riß er eine hundertjährige Eiche heraus und warf sie auf Bowa, doch Bowa hatte sich rechtzeitig gebückt, und die Eiche flog über Bowa hinweg, weit fort, und grub sich in die Erde ein. Bowa aber richtete sich auf, stürzte sich auf Polkan und stieß ihn mit der Lanze so heftig vor die Brust, daß Polkan sich auf keine Weise auf den Füßen halten konnte und zu Boden 671
fiel. Da drehte Bowa die Lanze mit dem spitzen Ende nach unten und wollte Polkan erstechen, doch der erhaschte die Lanze mit der Hand und flehte: „Erstich mich nicht, Bowa, sondern laß mich leben, wozu soll ich Markobrun schützen, laß lieber uns wie zwei leibliche Brüder sein, zwei Recken, die auf dem ganzen Erdball unbesiegbar sind.“ Bowa war sehr gutherzig und hatte Mitleid mit Polkan. Er sprang vom Pferd, half Polkan auf die Füße, küßte ihn und sagte: „Schön, ich verzeihe Euch. Ich will mit dir Brüderschaft schließen.“ Bowa bestieg sein Pferd und ritt zusammen mit Polkan zu Drushewna ins Zelt. Als sie hinkamen, sagte Bowa: „Drushewna, ich habe einen Bruder gewonnen. Jetzt wollen wir weiterreiten, es wird uns niemand mehr verfolgen.“ Er sattelte ihr das Pferd, und sie machten sich wieder auf den Weg. Waren Bowa, Drushewna und mit ihnen Polkan nun lange oder kurze Zeit geritten, jedenfalls wollten sie an einem steilen Gebirge am Waldrand rasten und schlugen ihr Zelt auf. Sie ruhten sich aus; Bowa hatte sich ein wenig ausgeruht und wollte in den Wald reiten, sich das Waldinnere ansehen, und er sagte zu Polkan und Drushewna: „Bleibt ihr ein wenig hier, ich will etwas im Wald spazierenreiten und bin bald zurück.“ Stieg auf, ritt davon und blieb lange im Wald. Unterdessen aber erschien irgendwoher ein riesiges Tier, ein Löwe, und fiel über sie her. Polkan begann mit ihm zu kämpfen, sie packten sich gegenseitig, der Löwe schlug ihm die Krallen in die Kehle, und Polkan riß ihm mit den Händen das Maul auf; beide 672
versanken bis zu den Knien in die Erde, stürzten dann zu Boden und verendeten beide. Bowa aber war noch immer nicht zurück; da wurde Drushewna besorgt und konnte es gar nicht erwarten, daß ihr Mann zurückkommt, und vor Furcht machte sie sich auf und ritt davon. Nicht weit war eine Stadt, sie machte dort halt, um auf ihren Mann zu warten. Nun kam Bowa aus dem Waldinneren zum Zelt zurück, aber dort ist alles leer. Da überlegte Bowa, ob etwa Polkan Drushewna bedroht hatte und sie, unbekannt wohin, fortgeritten wären. Er ritt einen kleinen Kreis und sah seinen Wahlbruder Polkan zusammen mit dem Löwen tot daliegen. Da begriff er, was geschehen war. Bowa trauerte um seinen treuen Kameraden, nahm Abschied von dem Leichnam und ritt los, seine Frau zu suchen, kam in die Stadt, wo sich Drushewna befand, und fragte Stadtbewohner, ob nicht jemand so und so eine gesehen hätte. Man erklärte ihm, sie ist hier, seht, dort wohnt sie. Bowa kam zu seiner Gemahlin, und sie freute sich sehr über ihren Mann: „Ich habe geglaubt. Ihr seid schon nicht mehr unter den Lebenden“, und sie erklärte, wie Polkan und der Löwe den Tod fanden, wie sie Angst bekommen hatte, in die Stadt geritten war und beschlossen hatte, auf ihn zu warten. Bowa antwortete ihr: „Ich bin gar zu lange im Wald geblieben, ich hätte nicht zugelassen, daß Polkan etwas geschieht.“ Drushewna spürte, daß sie bald gebären würde, und sie blieben noch einige Zeit, und sie gebar einen Knaben, den tauften sie, und der Vater gab ihm auch den Namen Bowa. Als 673
Drushewna wieder genesen war, ritten sie ohne Aufenthalt in ihren Staat und kamen bald nach Hause zu Väterchen Zar Sensewej Andronowitsch. Hier empfing sie Zar Sensewej mit großer Freude, es gab Feste und frohe Feiern. Dieser Bosheit und Haß aber, der Bowa zu Sultan geschickt hatte, hörte, daß Bowa wieder nach Hause gekommen war, und verschwand, unbekannt wohin. Zar Sensewej wurde alt, konnte das Zarenreich nicht mehr regieren und übergab es Bowa-Königssohn. Da begann Bowa-Königssohn das Reich zu lenken. Und Zar Sensewej Andronowitsch lebte nicht lange mehr und starb. Ihr Sohn aber wuchs nicht von Jahr zu Jahr, sondern von Stunde zu Stunde und war genauso schön und stark wie sein Vater. Nach einer Weile entbrannte Bowa-Königssohn das Herz, und er beschloß, in seine Heimat zu reiten, seine Mutter Militrissa Kirbitjewna und seinen Stiefvater Dodon aufzusuchen und Rache zu nehmen für den Tod seines Vaters; und er sagte zu seiner Gemahlin: „Bleibt Ihr solange mit unserem Sohn Bowa zu Hause und regiert zusammen den Staat, ich aber will in meine Heimat reiten, meine Mutter besuchen und mit dem Stiefvater abrechnen wegen Vaters Tod.“ Und Bowa-Königssohn befahl den Dienern, ihm sein treues Pferd zu satteln, legte seine Reckenrüstung an, nahm das stählerne Schwert, verabschiedete sich von seiner Frau und seinem Sohn Bowa, stieg auf und trat seine lange Reise an. War Bowa-Königssohn nun lange oder kurze Zeit geritten, jedenfalls kam er endlich in seine Heimatstadt, überlegte nicht lan674
ge, sondern schlug dem Stiefvater sogleich den Kopf ab. Die Mutter aber begrüßte er freundlich. Einige Zeit blieb Bowa im väterlichen Zarenpalast, dann nahm er seine frühere Mutter Militrissa Kirbitjewna mit sich. Der Bevölkerung der Stadt aber sagte er: „Euch wird mein Sohn regieren, der Bowa heißt“, und sie saßen auf und ritten davon zu seiner Gattin und seinem Sohn. Als BowaKönigssohn mit seiner Mutter zurückkam, gab es ein Fest für alle Welt, drei Tage und drei Nächte feierten sie. Nach dem Fest aber schickte er seinen Sohn Bowa in Großmutters Staat, dort den Staat zu regieren. Bowa-Königssohn aber regierte bis zum hohen Alter das Zarenreich Sensewejews. Ich ging von ihrem Feste heim, stolperte und brach mir’s Bein, nun fällt mir leider nichts mehr ein, bin im Kopf ganz verworr’n, hab den Faden verlor’n.
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59 Wie eine Löwin einen Zarensohn aufzog Ein Zar hatte ein großes Zarenreich. Der Zar regierte sein reiches Land nicht gar zu lange. Und zum Glück hatten sie nur einen Sohn (für einen zweiten war nichts zu tun). Der Zar lebte bis zu seinem vierzigsten Jahr und starb. Sein Sohn blieb unmündig zurück. An Stelle des Zaren regierte da seine Mutter den Staat (es war sonst keiner da), bis der junge Zar herangewachsen war. Der junge Zar war neunzehn Jahre alt geworden. Die Mutter übergab ihm alle Zarengeschäfte, ließ sich aber trotzdem um Rat fragen, denn sie vertraute dem Sohn noch nicht: er war noch zu jung; der Zar regierte sein Reich nach den Ratschlägen seiner Mutter. Und einmal gedachte er, in den Nachbarstaat zu reisen und sich anzusehen, was dort vor sich geht. Lange Zeit reiste er durch mehrere Zarenreiche. Bei einem Zar lebte er drei Monate. Dieser Zar aber hatte eine Tochter, und die gefiel ihm. Da wollte er sie heiraten. Aus diesem Zarenreich kehrte er heim zu seiner Mutter und sagte: „Mutter, ich will heiraten, es ist Zeit für mich!“ Der Mutter behagte es nicht, daß der Sohn heiratet: wenn er heiratet, dann wird er sich mit seiner Frau beraten und nicht mit der 676
Mutter. Deswegen wollte die Mutter nicht, daß er heiratet. Da machte sich der Zar über diese Sache trübsinnige Gedanken, wurde traurig und unwirsch. Da bemerkten die Diener, daß der Zar schwermütig und unzufrieden ist, und beschlossen, daß eine Versammlung einberufen und er befragt werden soll, womit er unzufrieden ist in unserem so mächtigen Staate, und worüber er traurig ist. Der Zar wollte es geheimhalten und nichts sagen, und er sagt: „Alles ist schön, mit allem bin ich zufrieden, aber etwas fehlt mir in meinem Leben.“ Da fragen ihn die Diener: „Was fehlt dir, sag’s uns, wir beschaffen dir alles und wollen alles tun, damit du alles hast.“ Da antwortet der Zar: „Ich will euch über diese Sache nichts sagen, will es nur allein wissen.“ – „Sage, wer dich mit Krieg bedroht oder etwas anderem. Wir sind bereit, für dich unser Leben hinzugeben.“ Der Zar überlegte eine Weile und beschloß, ihnen seine ganze Not zu erzählen und zu sagen, was ihm fehlt. Und er erzählte ihnen: „Ich war im Nachbarreich, und die Tochter des Zaren hat mir gefallen. Und ich möchte sie nun heiraten, aber die Mutter erlaubt es mir nicht und gibt mir nicht ihre Einwilligung.“ Da beschlossen die Diener, die Mutter auf ihre Versammlung zu rufen und zu fragen, was los ist, warum sie diese Einwilligung nicht gibt, den Sohn zu verheiraten. Sie riefen die Mutter auf die Versammlung und begannen zu fragen. Die Mutter sagte, daß er doch den Staat noch nicht regieren 677
kann und daher nicht heiraten darf. Die Diener antworten, da er schon regiert, ist es für ihn schon an der Zeit zu heiraten. Endlich gab die Mutter ihr volles Einverständnis, ihren Sohn zu verheiraten. Und da schickten sie einen Boten, um die Braut im Nachbarreich zu freien. Der Bote ritt mit einem Brief zu dem Zaren, und der Zar freute sich sehr, daß ein so reicher Zar um seine Tochter freit. Als der Zar den Brief gelesen hatte, fragt er seine Tochter, ob sie die Frau dieses Zaren werden will. Die Tochter antwortet: „Ich will!“ Gibt gleichfalls ihr volles Einverständnis. Da schrieben sie einen Brief an den Bräutigam und übergeben die Antwort dem Boten, der die Antwort seinem Zaren bringt. Der junge Zar empfängt seinen Boten mit großer Freude, weil ihm der Bote den Brief bringt, und er begann, den Brautzug zu rüsten, um die Braut zu holen. Nun fuhr der junge Zar zu dem Zaren, seine Braut zu holen. Der junge Zar wurde sehr gut empfangen, und sie hatten eine großartige Hochzeit. Die Hochzeit hatten sie gefeiert, und nun leben die jungen Leute in ihrem Reich. Und einmal ging der junge Zar allein im Garten spazieren. Und auf einem hohen Baum war das Nest eines kleinen Vogels. In diesem Nest aber waren zwei kleine Vogeljunge, und auf einmal kam ein Habicht geflogen und entführte das eine. Der Zar hatte diesen ganzen Vorgang gesehen. Und er fiel in tiefes Nachdenken hierüber. Und er versammelte seine
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Diener und erzählte ihnen die Erscheinung, und was das ihm für die Zukunft wohl voraussage. Keiner der Diener konnte diese Sache deuten oder entscheiden, wozu und weswegen er diese Erscheinung hatte. Nur ein alter Diener sagt zu ihm: „Eure Kaiserliche Majestät, bei uns im Wald ist ein alter Einsiedler, der kann es sagen.“ Da schickten sie nach diesem alten Einsiedler in den Wald. Sie brachten den Alten aus dem Wald, und der Zar erzählte ihm diese ganze Erscheinung. Der Einsiedler nun erklärte ihm, daß ihn in der Zukunft ein großes Unglück erwartet, danach aber Glück. Aber alles erklären und sagen, was es genau bedeutet, konnte er nicht. Nun zu der alten Zarin. Paßt auf, was unterdessen mit der alten Zarin geschieht. Die alte Zarin war schrecklich wütend auf diese Geschichte, daß der Sohn nur wenig zu ihr kam, um sich mit ihr zu beraten, aber um so mehr zu seiner Frau. Sie hatte eine schreckliche Wut. Die alte Zarin sann darauf, ihre Schwiegertochter, gleich wie, aus dem Wege zu räumen. Die hatte ihm aber schon zwei Söhne geboren. Was für Verleumdungen die alte Zarin auch immer vorbrachte, der Sohn glaubte ihr nicht. Die alte Zarin sieht, daß er ihr nicht vertraut, seine junge Frau aber liebt und mit ihr ins Zimmer geht, sich an ihren Kindern erfreut und Spaß mit ihnen macht. Und er war in dieser Zeit schrecklich lustig. Für die Mutter war das alles schrecklich kränkend, und eine große Wut ergriff sie.
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Da dachte die Mutter bei sich: „Warte nur, ich werde das alles schon machen!“ Einmal steht sie früh von ihrem Bett auf, geht zur Schwiegertochter ins Schlafzimmer, nimmt ihren Rock mit und zeigt ihn dem jungen Zaren, ihrem Sohn: „Wie oft habe ich dir gesagt, daß sie dich nicht liebt und daß das nicht deine Kinder sind. Gerade war ich bei ihr im Schlafzimmer, und auf ihrem Bett saß irgendein junger Mann. Sicher einer von deinen vertrautesten Würdenträgern. Und aus diesem Rock hier, aus der Tasche, habe ich ein Fläschchen mit Gift genommen, mit dem sie dich vergiften wollte.“ Da glaubte der junge Zar seiner Mutter, wurde sehr, sehr böse auf seine Frau und übergab sie dem Gericht. Ohne auch nur mit seinen Würdenträgern zu sprechen, wollte er seine Frau bestrafen, und er steckte sie sogar ins Gefängnis. Da kommt die Polizei zu seiner jungen Frau und sagt: „Mach dich fertig, nimm deine Kinder und kommt, wir bringen euch ins Gefängnis!“ Die Zarin weint bitterlich und sagt zu den Polizisten: „Geht und sagt eurem jungen Zaren, daß ich mich von ihm verabschieden will und daß er mich ohne jeden Grund so ‚freigebig’ bestraft!“ Doch der Zar hörte sich diese Worte nicht einmal an, daß sie sich von ihm verabschieden will, und er jagte den Diener fort und schrie den Diener laut an: „Bring sie unverzüglich fort, ich will sie nicht einmal mehr sehen wegen ihrer gemeinen Tat!“ Sie aber weiß von nichts.
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Die Mutter des jungen Zaren aber freute sich sehr über diese Sache, daß der Zar seine Frau so hart bestraft, und sie gab sich Mühe, ihm um so mehr Respekt zu erweisen, damit der Sohn kein Mitleid mit seiner Frau bekommt. Und sie begann, ihm noch schlimmere Verleumdungen einzuflüstern. Die Würdenträger indessen rissen alle die Augen auf. Was ist denn das, warum bestraft der Zar seine Frau? Da versammelte der Zar seine Würdenträger und hielt Gericht über seine Frau. Und der Zar erzählte, sie hätte ihn vergiften wollen. Doch die Diener glaubten ihm nicht und sagten, das ist Lüge, das ist Verleumdung. Aber der Zar führte die Sache zu dem Ende, daß er befahl, sie mit ihren Kindern unverzüglich in eine ferne Gegend zu bringen. Und die Diener wagten es nicht, sich dem Willen des Zaren zu widersetzen, und entschieden, die Zarin an den bestimmten Ort bringen zu lassen. Am festgesetzten Tag versammelten sich die Diener und das ganze Volk, der Zarin das Geleit zu geben. Das ganze Volk und die Diener waren versammelt, und sie weint bitterlich, und auf ihren beiden Armen hat sie die Kinder. Und sie wollte sich gern vom Zaren verabschieden, aber der Zar ließ sie nicht einmal vor und wollte keinen Abschied. Da führten sie die Zarin mit ihren Kindern in die Einöde. Sie brachten sie ein Stück vor die Stadt, das Volk begleitete sie, aber dann ging sie schon nur noch mit der Polizei weiter, das Volk kehrte zurück. Die Polizei bringt sie zur bestimmten Stel681
le, verabschiedet sich von ihr und läßt sie mit ihren Kindern allein im tiefen Wald zurück. Und die Zarin weinte bitterlich, ging in den tiefen Wald und denkt bei sich, wo sie nicht für sich, aber für ihre Kinder einen Unterschlupf finden kann. Und um so schwerer war es für die Zarin, allein durch den Wald, durch die Einöde zu ziehen. Nirgends fand sie eine Hütte oder sonst etwas. Sie mußte im Wald unter einem Baum übernachten. Sie pflückte Gras, legte ihre Kinder darauf, sie selber aber sitzt und hält Wache. Und in diesem einsamen Wald waren Löwen und Tiger. Die ganze Nacht streiften die wilden Tiere an ihr vorbei und fletschten die Zahne. Schrecklich war es für die Zarin, solche Not zu erleiden, und es fiel ihr schwer, diesen schwierigen Augenblick zu überstehen. Und eine Weile lebte sie in dieser Einöde und nährte sich nur von Wurzeln zur Stärkung für ihre Kinder, damit Milch in den Brüsten war, ihre Kinder zu säugen. Und in einer dunklen Nacht zog ein heftiges Gewitter herauf. Die wilden Tiere brüllten und rannten umher, fauchten an der Zarin vorbei, und sie war mehr tot als lebendig. Der Donner krachte, der Regen strömte. Das Gewitter ging vorüber, der Wind legte sich, und es begann hell zu werden. Die wilden Tiere hatten sich alle beruhigt. In diesem Augenblick wandte sich die Zarin von ihren Kleinen ab, um Wurzeln als Nahrung zu suchen. Auf einmal kam irgendwoher eine riesige Löwin und packte ein Kleines. Die Zarin stürzte dieser riesigen Löwin nach und weinte bitterlich, 682
aber sie konnte nichts tun, denn die Löwin war im Gebüsch verschwunden. Da nahm die unglückliche Mutter ihr Kind, drückte es heftig an die Brust, küßte es und sagt: „Nun siehst du, wie euer Vater, dieser Bösewicht, mich bestraft hat: ein Kind hat die Löwin geraubt!“ Und sie ging weiter durch den Wald. Ging und ging und kommt schließlich zu einer Stadt; da erkennt sie, daß das eine Stadt ist, die ihrem Mann gehört. Die Zarin wollte keinen Verrat begehen, weinte bitterlich, ging zurück in den Wald und stieß auf einen alten Einsiedler, der schon einige Jahre im Walde lebte. Sie bat ihn, er soll sie übernachten lassen. Und er ließ sie gern ein. Sie bleibt einen Tag bei ihm, bleibt zwei Tage und denkt bei sich: „Ich muß aufbrechen und fortgehen, ich tu’s nicht gern, aber es bleibt mir nichts anderes übrig.“ Sie beginnt aufzubrechen und weint. Der Alte aber sieht, daß die junge Frau aufbricht und so bitterlich weint, und er sagt zu ihr: „Warum weinst du so bitterlich?“ – „Wie soll ich nicht weinen, Großvater? Ich weiß nicht, wohin ich mein Haupt legen soll.“ Da sagt der Großvater zu ihr: „Nun schön, bleib bei mir als meine Tochter. Wenn ich sterbe, begräbst du mich.“ Die Zarin war’s gern einverstanden und blieb eine Weile bei dem Alten. Jetzt lebt also die Zarin bei dem Alten. Nun wollen wir von dem Sohn sprechen, den die Löwin der Zarin geraubt hatte. In dieser Zeit hatte die Löwin ein Löwenjunges gehabt, aber das war gestorben, und die Löwin 683
hatte das Kind davongeschleppt und begann, es mit ihren Brüsten zu säugen. Und sie säugte es bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr. Und die Löwin war mit ihm nicht an der Stelle geblieben, wo sie der Mutter das Kind geraubt hatte, sondern war auf eine andere Insel gegangen und hatte es auf dieser Insel aufgezogen. Und als es siebzehn Jahre alt war, kamen Ausländer auf einem Schiff gefahren und machten an dieser Insel halt. Sie stiegen vom Schiff und gingen umher. Da sehen sie einen jungen Mann stehen. Und er steht nackt, keinerlei Gewand hat er an, und bei ihm liegt eine riesige Löwin. Da begannen die Ausländer zu rufen: „Komm her zu uns!“ Doch er verstand diese Sprache nicht. Nun begannen sie, ihn mit den Händen heranzuwinken, und endlich verstand er die russische Sprache und begann zu sprechen. „Ich kann unmöglich zu euch kommen.“ Da reißt einer von ihnen sein Obergewand herunter und wirft es ihm zu. Er nimmt das Gewand und kommt zu ihnen, und sie beginnen, ihn zu fragen: „Wer bist du?“ Er antwortet ihnen: „Ich kenne weder meine Heimat noch sonst etwas, ich erinnere mich nur, daß die Löwin mich mit ihrer Brust säugte.“ Die Ausländer fordern ihn auf, zu ihnen aufs Schiff zu kommen. Und er war’s gern einverstanden, mit ihnen zu fahren, und fuhr davon. Er kommt in das Zarenreich, wo sein Vater wohnt, doch der Vater weiß nicht, daß er einen Sohn hat. Als die Ausländer in seiner Stadt ankamen, interessiert sich der Zar dafür, womit sie 684
gekommen sind und was sie mitgebracht haben. Er schickt seinen Boten, um zu erfahren, was die Ausländer mitgebracht haben. Der Bote ging zum Hafen und sah nach diesem Schiff. Und er sieht: ein Jüngling geht auf dem Schiff umher, und hinter ihm eine riesige Löwin, und sie hat keine Angst vor den Menschen. Und die Leute gehen an ihm vorbei und haben auch keine Angst. Nur daß er sie warnt, verbietet, sie anzurühren. Sonst kann sie sich auf einen stürzen und ihn zerreißen. Der Bote kommt zum Zaren und erzählt die ganze Geschichte, was er gesehen hat. Der Zar macht sich selbst auf den Weg, kommt zum Hafen und kauft diesen Jüngling und die Löwin. Der Jüngling lebt nun mit der Löwin bei seinem Vater, doch der Zar weiß nicht, daß es sein Sohn ist. Nun, und jetzt wollen wir von dem Zaren sprechen, was inzwischen mit ihm geschehen ist. Der Zar war niedergeschlagen, als er seine Zarin in die Einöde geschickt hatte. Und er beschloß, auf die Jagd zu reiten, und ließ sein Pferd satteln. Man sattelte ihm sein Pferd, und der Zar ritt mit seinen Vertrauten in den Wald auf die Jagd. Sie kommen in den Wald und sehen auf einmal ein Menschenungeheuer, das brüllt wie ein Affe und ist ganz mit Haaren bedeckt. Da wurde der Zar neugierig, was das für ein Ungeheuer ist, und sie riefen es an. Nun reitet der Zar zu ihm hin und fragt, was das für ein Mensch ist und warum er mit Haaren bewachsen ist. Da setzte sich das Menschenungeheuer hin und begann, von seinem Schicksal und seinem Leben 685
zu erzählen; wie er, den Worten seiner Mutter folgend, seine Frau verhöhnt und mißhandelt und sie ins Grab getrieben hatte. Der Zar hörte sich das aufmerksam an, die Worte dieses Menschen. Und das Ungeheuer erzählte: „Wenn meine Mutter bei mir war, erzählte sie mir alle möglichen Verleumdungen. Ich hörte auf die Mutter, schlug meine Frau, jagte sie vom Hof, und nun wurde meine Frau davon krank und ist schließlich gestorben. Und ich begrub sie und fühlte, daß ich meine Frau ohne Grund verjagt habe, und ich begann, an alle möglichen Gräber zu gehen und zu weinen. Und so ist diese Geschichte mit mir passiert. Ich bin ganz mit Haaren bewachsen und so ein Mensch geworden.“ In diesem Augenblick sprang das Menschenungeheuer auf und rannte davon durch den Wald und schrie mit durchdringender Stimme. Das erschien dem Zaren schrecklich, und der Zar denkt bei sich: „Also habe auch ich meine Frau grundlos in die Einöde geschickt.“ Und der Zar konnte sich nicht von der Stelle erheben, in den Sattel steigen und in sein Zarenreich zurückreiten, wegen dieser Erschütterung. Jetzt heben die Diener den Zaren in die Höhe, setzen ihn in den Sattel, und er reitet unverzüglich in sein Reich. Der Zar kommt nach Hause und befiehlt unverzüglich, die Diener zu versammeln, in die Einöde zu reiten und seine Frau zu suchen. Doch es war schon zu spät. Eine Abteilung ritt in die Einöde, ritt ganze zwei Monate umher, und sie konnten nichts finden. Sie kehren zurück und 686
berichten dies. Dem Zar wurde elend zumute, weil er seine Frau nicht gefunden hatte. Und er versank wegen dieser Geschichte oft in trübsinnige schwere Gedanken. Es war ihm nicht so sehr wegen seiner Frau elend zumute wie wegen der unmündigen Kinder. Mit dem Zaren sind wir jetzt fertig. Kehren wir zurück zu der Zarin, die mit ihrem einzigen Sohn bei dem Einsiedler in einer Erdhütte wohnt. Sie lebt eine Weile dort. Der Alte starb, der Einsiedler. Sie blieb allein zurück. Der Sohn ist jetzt siebzehn Jahre alt, hat sich einen Bogen hergerichtet und geht auf die Jagd. Die Mutter blieb dann immer allein zurück, und in diesem Falle hatte sie einen Ring seines Vaters, den sie noch von ihrem Mann hatte. Und wenn sie den Sohn auf die Jagd ziehen läßt, nimmt sie diesen Ring, betrachtet ihn und weint. Und einigemal hatte der Sohn sie dabei überrascht. Und er wurde aufmerksam, was das ist, daß die Mutter ständig mit diesem Ring weint. Da fragt er die Mutter, warum das so ist. „Warum sagst du mir nicht, Mutter, wer mein Vater ist?“ Die Mutter sagt zu ihm: „Dein Vater ist im Meer ertrunken, als wir auf einem Schiffe fuhren. Und es hatte sich ein starker Sturm erhoben und das Schiff zerschellen lassen, uns beide aber hat es ans Ufer geworfen. Und so leben wir nun in dieser Not.“ Der Sohn kennt ja seinen Vater nicht und glaubt der Mutter sein ganzes Schicksal. Und wieder lebt er unbekümmert und behütet seine Mutter. Einmal ging der Sohn auf die Jagd und sieht 687
in der Nähe eine Stadt liegen. Vor der Stadt versammelte sich ein Heer, und es begegnet ihm ein älterer Mann. Da fragt er diesen Mann, wem diese Stadt gehört. Und er erzählte vom Zaren, daß sein Zarenreich von einem anderen Zarenreich angegriffen und mit Krieg überzogen wird. Aber der Zar sucht kühne Männer zur Verteidigung seines Reiches. Und dieser Jüngling wollte gern mitziehen, dieses Zarenreich zu verteidigen. Jetzt kommt der Jüngling zu seiner Mutter und bittet sie, ihn gehen zu lassen, diesen Zaren zu schützen. Die Mutter beginnt ihren Sohn mit Tränen in den Augen zu bitten: „Wie kannst du mich in meinem Alter allein lassen?“ Doch der Sohn antwortet der Mutter: „Mutter, sei unbesorgt, ich komme dich besuchen!“ Und er begann seine Mutter zu bitten, aber die Mutter läßt ihn nicht fort. „Wenn du mich nicht freiwillig gehen läßt, dann gehe ich so fort.“ Da dachte die Mutter bei sich: „Nun, was ist da zu tun, ich muß den Sohn freiwillig ziehen lassen, sonst geht er so fort“, und sie ließ ihn ziehen. Statt des Segens schenkte sie ihm diesen Ring. Da nahm der Jüngling Abschied von seiner Mutter und zog los, den Zaren zu schützen. Der Jüngling wußte nicht, daß das sein Vater ist. Der Jüngling kommt zum Zaren und erklärt, daß er ausziehen will, den Zaren zu schützen. Der Zar wurde neugierig: kommt da irgendwoher ein junger Mann und will sein Zarenreich verteidigen. Da gab er ihm eine Reckenrüstung, ein Pferd – alles, was er zum Kriegsdienst brauchte. 688
Der Jüngling rüstete sich zum Aufbruch, und mit ihm ritt der, den die Löwin aufgezogen hatte. Und so brachen die beiden Jünglinge auf und zogen aus gegen den Feind. Die Löwin aber wich keinen Schritt von dem anderen Jüngling. Und die beiden Jünglinge stürmen durch die Reihen des Feindes wie zwei edle Falken. Der Jüngling überwand noch weniger, als die Löwin zerriß. Und der Sieg war auf ihrer Seite. Sie hatten den Gegner besiegt und sich zur Siegesfeier im Zarenschloß versammelt. Sie feierten den Sieg, und der Zar reichte diesen Jünglingen Gläser mit Wein. Nun war der Jüngling, der bei der Mutter gewesen war, schon lange auf dem Fest und denkt bei sich: „Nun, ich bin hier am Leben geblieben und prasse, aber wie es meiner Mutter geht, weiß ich nicht. Ich muß zu ihr reiten und sie besuchen, in meiner vollen Kriegsuniform.“ Da fragt der Zar: „Und wo befindet sich deine Mutter?“ – „Meine Mutter befindet sich in der Erdhütte eines verstorbenen alten Einsiedlers.“ – „Erzähle, wie du in den Wald geraten bist, in die Erdhütte zu dem Einsiedler.“ Er antwortet ihm: „Ich kann es dir nicht erzählen, das weiß nur meine Mutter, ich kann mich nicht erinnern.“ Der Zar denkt bei sich: „Ob das zufällig meine Frau ist?“ Da zieht der Sohn den Ring von seinem Finger, gibt ihn dem Zaren und sagt: „Die Mutter hat mir einen goldenen Ring zum Geschenk gemacht.“ Da sagt der Zar: „Ich will mir den Ring doch mal ansehen.“ Der Zar sieht ihn an: „Das ist 689
doch mein Ring! Wo ist denn deine Mutter? Ich möchte sie besuchen, und ich will fahren, sie zu besuchen.“ Jetzt gibt der Zar Anweisung: eine großartige Equipage! Der Sohn aber weiß noch nicht, daß der Zar fahren will. Sein Sohn legt seine Kriegsuniform an, besteigt sein Pferd und reitet hinter ihm her. Sie fahren und reiten und kommen in den Wald, wohin sie der Sohn führt. Sie kommen zu der Erdhütte, er steigt vor Pferd, und die Mutter begrüßt schon mit großer Freude den Sohn, wirft sich an seinen Hals und beginnt ihn zu küssen. (Sie starb fast vor Freude, daß ihr Sohn noch lebte.) Der Zar betrachtet sich dieses Bild und erkennt seine Frau. Und mit großer Ungeduld springt er aus seiner Kutsche, kniet nieder und bittet sie: „Vergib mir, daß ich ein solches Verbrechen begangen und dich ganz ohne Grund bestraft und in die Einöde geschickt habe. Und mach dich gleich bereit, wir fahren in mein Zarenreich!“ Da machte sich die Zarin reisefertig, stieg ein und fuhr in sein Zarenreich. Sie kommen an. Der Zar gab ein großartiges Gastmahl, ein großes Fest für das ganze Reich. Sie hatten ein fröhliches Mahl. Zu dritt feierten sie: Vater, Mutter und Sohn. Und noch der Jüngling war bei ihnen, den die Löwin aufgezogen hatte, und er wurde sehr traurig. Und er sagt zu seinem Kameraden: „Nun sieh nur, was für ein Glück! Du hast Vater und Mutter gefunden; bei 690
mir aber sieht alles nach wilden Tieren aus, von meiner Mutter her.“ Nun, die Mutter sah sich trotzdem diesen Jüngling etwas näher an und glaubte ihn zu erkennen. Und sie fragten ihn, wie diese Geschichte war. Doch er konnte es nicht erzählen, und für ihn erzählte der Vater, wie er ihn von ausländischen Reisenden auf einem Schiff gekauft hatte, zusammen mit der Löwin. Da erkannte die Mutter auch diesen Sohn, warf sich in seine Arme und küßte ihn. Und da nun war die Freude wirklich groß bei ihnen, daß die ganze Familie beisammen war. Die Schwiegermutter aber war schon im Grab, war gestorben. Und von nun an lebte er sorglos bis ins hohe Alter. Sie verheirateten ihre Kinder und legten das Reich in ihre Hände. Und jetzt regieren die Kinder dieses Zarenreich.
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60 Die zwei Kaufleute In einem Zarenreich, in einem Staat, und zwar in dem, in dem wir wohnen, lebten einmal in der Hauptstadt zwei Kaufleute. Der eine hieß Iwanow, der andere Kowaljow. Kowaljow war viel reicher als Iwanow. Alle großen Geschäfte in der Hauptstadt und auch die Hotels und Restaurants gehörten Kowaljow. Aber Kowaljow und Iwanow waren Freunde. Sie reisten oft zusammen ins Ausland, um Waren einzukaufen, und Kowaljow lieh Iwanow nicht selten Geld. Dieser Kowaljow nun hatte einen einzigen Sohn, der gerade das letzte Jahr studierte. Die Eltern sagten oft zu ihm: „Du solltest ein wenig ausgehen, Sohn, irgendwohin fahren, dich vergnügen. Aber du sitzt die ganze Zeit zu Hause, liest, schreibst oder zeichnest irgend etwas.“ Doch Kolja antwortete seinen Eltern immer, daß „noch nicht die Zeit fürs Ausgehen gekommen ist, weil ich studieren muß.“ Insbesondere sagte die Mutter oft, er solle sich vergnügen. Weil er in einem anderen Zimmer als die Eltern wohnte, interessierte sich die Mutter dafür, zu welcher Stunde er morgens aufsteht und ob er immer bis in die späte Nacht hinein lernt. Und einmal stand sie früh am Morgen auf und ging nachzusehen, wie ihr lieber Sohn schläft, aber der Sohn schlief nicht mehr, er kroch im bloßen Hemd 692
auf den Knien über den Fußboden und zeichnete irgend etwas auf Papier. Die Mutter begann vor Erbarmen sogar zu weinen und sagte: „Kolja, warum mühst du dich so ab, du kannst doch krank werden! Laß dein Studieren, heirate lieber!“ Doch Kolja lächelte und sagte der Mutter: „Ehe ich mein Studium nicht beendet habe, gehe ich nicht aus und werde nicht heiraten.“ Als er sein Studium beendet hatte, drängte ihn die Mutter, er solle sich vergnügen. Er sagt: „Schön, gib mir zehntausend Rubel, ich will heute ausgehen.“ Und er hielt sich nun hier und da im Kreise junger Leute auf und ging sehr oft aus. Einmal fragt ihn die Mutter: „Sage, Söhnchen, wieviel Geld hast du heute verjubelt?“ – „Hunderttausend!“ Die Mutter bekreuzigte sich vor Freude: „Gepriesen seist du, Gott, das Söhnchen ist zur Vernunft gekommen!“ Aber sie hatten Geld – sie wußten selber nicht wieviel. Und als Kolja nun alle großen Etablissements und Restaurants besucht hat, wo das junge Volk verkehrte, besonders die Fräuleins – aber ihm gefielen sie alle nicht –, da beginnt er, durch die Außenviertel der Stadt zu fahren, und fuhr in die allerschmutzigste Straße hinein. Auf einmal sieht er in einer Gasse eine Bettlerin gehen, mit einem Korb in der Hand und ganz in Lumpen. Sie war so schön, daß Kolja sie sofort liebgewann und zu ihr sagt: „He, du, Bettlerin, warte!“ Die Bettlerin blieb stehen und dachte, sie werde von ihm ein Almosen bekommen, aber er sagt zu ihr: „Willst du meine Frau werden?“ Die Bettlerin 693
antwortet ihm: „Hört auf, Euren Spott zu treiben, Nikolaj Iwanowitsch, ich bin zwar eine arme Bettlerin, aber ich habe meine Ehre!“ Die Kowaljows waren der Bettlerin bekannt. Und augenblicklich war sie in einem Haus verschwunden. Kolja wartete und wartete und hatte nicht bemerkt, wohin sie verschwunden war. Am nächsten Tag fährt er wieder an diese Stelle. Und auf einmal, nachdem er einige Stunden gestanden hatte, sieht er sie wieder kommen. Er sagt zu ihr: „Nun, wie ist’s, schönes Mädchen, hast du dir’s nicht überlegt, meine Frau zu werden?“ Sie antwortet ihm: „Treib nicht deinen Spott, Nikolaj Iwanowitsch, ich wäre nicht nur froh, Eure Frau zu werden, ich wäre schon glücklich, wenn Ihr mich als Gehilfin für Eure letzte Köchin nähmt.“ Er aber sagt zu ihr: „Wo wohnst du denn? Ich will mit meinem Heiratsantrag zu deinem Vater gehen.“ – „Dort diese kleine Hütte, ganz mit Lehm beschmiert – das ist unser Haus.“ Da fährt der Kaufmannssohn zu dieser Hütte und geht mit dem Mädchen in diese kleine Hütte. Und dort lag mitten auf dem Fußboden ihr Vater mit einem tüchtigen Rausch. Ihr Vater war an sich ein schöner Mann mit einem großen Bart, rundem Gesicht, blauen Augen und schwarzen Brauen. Er sagt: „Ich bin zu Euch mit einem Heiratsantrag gekommen, daß Ihr mir Eure Tochter zur Frau gebt!“ – „Hört auf zu spotten! Wenn meine Tochter auch nur eine arme Bettlerin ist, so ist sie doch ein gehorsames und anständiges Mädchen. Sie leidet nämlich und geht Almosen betteln nur wegen meiner Trunksucht, denn wenn ich an694
fange zu zechen, dann vertrinke ich alles, nicht nur das Meine, sondern auch, was sie nach Hause bringt. Sieh nur, jetzt liege ich auf dem Fußboden und sterbe bald, so betrunken bin ich.“ Da holt Kolja zehntausend hervor und gibt sie dem Schmied. „Nimm, geh und kauf Schnaps, um einen auf deinen Rausch zu trinken! Und wenn du einverstanden bist, dann machen wir ein kleines Trinkgelage, und ich trinke mit Euch ein Gläschen.“ Als der Schmied eine so große Summe Geld bekommen hatte, wie er sie sich im ganzen Leben nie hatte träumen lassen, rannte er augenblicklich davon, kaufte teuren Schnaps und etwas Schönes zu essen dazu. Und er denkt bei sich: „Mag er meine Tochter nur schänden, wenn sie erst einmal schön angezogen ist, dann findet sich mit Geld auch ein anderer Bräutigam.“ Der Schmied trank natürlich einen auf seinen Rausch, Nikolaj Iwanowitsch aber goß sich und seiner verlobten Braut Mascha nur ein kleines Gläschen ein. Und darauf gibt er ihr noch fünfundzwanzigtausend Rubel und sagt: „Geht mit Eurem Vater in unser Geschäft Nummer soundso und kauft die und die Kleider, Euch und auch für sie. Und wenn sie die Kleider hat, dann wollen wir beide mit ihr fahren, und ich werde ihr nach meinem Ermessen schöne Kleider auswählen.“ Er verabschiedete sich von ihnen und fuhr nach Hause. Nach drei Tagen kommt er wieder und sieht seine Mascha angeputzt wie eine Puppe. Und der Schmied hatte schon sein schmutziges Gesicht gewaschen und war auch anständig angezogen 695
und sitzt vor einer Karaffe Schnaps und trinkt. Da nimmt er den Schmied und bringt ihn ins Hotel „Rossija“, das in der Hauptstadt das erste Hotel war. Er mietet dieses Hotel ganz für den Grafen Scheremetjew, der aus dem Ausland zurückgekommen ist. Und er ging selber aufs Amt und bezahlte dort viel Geld, damit sie in den Zeitungen veröffentlichten, daß aus dem Ausland Graf Scheremetjew gekommen ist und das größte Hotel „Rossija“ bezieht. Das wurde gegen wahnsinniges Geld alles für sie gemacht. Und da zog der Schmied mit seiner Tochter in dieses elegante Hotel, wo sie eine Menge des verschiedensten Bedienungspersonals hatten. Und Mascha wurden zwei Lehrer beigegeben. Sie konnte zwar lesen und schreiben, aber nicht besonders viel. Und ein anderer Lehrer brachte ihr die verschiedenen Tänze bei, und er kam täglich zu ihnen gefahren. Als Mascha sich davon überzeugt hatte, daß er sie nicht nur zum Spaß liebgewonnen hatte, sondern wirklich, da liebte sie ihn von ganzer Seele und mit ihrem ganzen reinen Herzen. Aber anfangs hatte sie ihm nie geglaubt. Und ein Jahr nun, nachdem sie sich kennengelernt hatten, sagt Nikolaj zu seinen Eltern: „Ihr müßt heute einen Abend veranstalten und alle unsere Bekannten zu diesem Abend einladen. Sonst fahre nur immer ich zu allen anderen, feiere und bin bei ihnen zu Gast, zu mir aber lade ich nie ein!“ Die Mutter sagt: „Das hättest du schon lange tun sollen, Sohn“, sagt sie, „wir freuen uns sehr, wenn du dich vergnügst.“ Und sie trafen alle möglichen 696
Vorbereitungen. Der Vater aber fragt Kolja: „Kommt zu unserem heutigen Abend irgend jemand ganz besonderes? Vielleicht stellen wir den vergoldeten Sessel mit den Goldrädern hinein?“ – „Nein, so besonders hervorragende Leute werden nicht kommen.“ Und seiner Mascha hatte er gesagt: „Du kommst erst, wenn ich einen Boten mit einem Brief zu dir geschickt habe!“ Als sich alle Gäste versammelt hatten und das Fest schon auf dem Höhepunkt war, kommt plötzlich in einer rasenden Troika die Grafentochter Manja an. Als sie aus der Kutsche stieg, hielten ihr sechs schöne Mädchen die Toiletten und Kleider. Da kam der alte Kowaljow zur Begrünung herausgerannt, und auch sein Sohn Kolja kam heraus. Als er eine so schöne Gräfin erblickte, stieß er den Sohn sogar in die Seite: „Ich habe dich doch gefragt! Jetzt ist sie gekommen, und der vergoldete Sessel steht nicht da! Und ihn vor den Leuten hineinzufahren ist unschicklich.“ Der Sohn aber antwortet: „Laß nur, Vater, sie wird sitzen, wo alle sitzen, auf gewöhnlichen Möbeln.“ Als sie hereinkam, wo sich die Gäste befanden, standen alle auf und verneigten sich tief vor ihr. Als die Musik zu spielen anfing, forderten die Offiziere und Generale und die verschiedenen Beamten, bald der eine, bald der andere, sie zum Tanz auf, sogar um die Wette. Und Kolja sitzt da und denkt: „Als sie eine Bettlerin war, hat sie keiner beachtet. Und jetzt, da ich sie angezogen und ein wenig unterrichtet habe, wollen alle sie haben“ (wie Tatjana). Als der Abend zu Ende war, trat sie zu Kolja und heftete 697
ihm einen Strauß Rosen an die Brust. Zu jener Zeit aber bedeuteten diese Sträuße das Zeichen heißer Liebe. Der Vater erbleichte sogar vor Schreck. „Wohin verirrst du dich, mein lieber Sohn; nicht zu hoch hinaus!“ Die Gäste waren abgefahren, und Vater und Mutter sagen: „Das führt zu nichts, Sohn, daß du dich mit der Tochter des Grafen Scheremetjew einläßt. Er wird doch niemals zustimmen, sie dir zu geben. Wenn wir auch vielleicht mehr Reichtum besitzen als er, so sind wir doch einfache Kaufleute, haben keinen Ehrentitel und Rang.“ Er aber sagt: „Nun, was soll ich mit ihr anfangen, wenn sie mir den Strauß angesteckt hat, ich habe sie doch nicht darum gebeten!“ Einmal kam Kolja zum Grafen Scheremetjew und sagt zu ihm: „Wir kommen bald zu Euch, um meine liebe Manja zu freien. Paß auf, daß du nicht alles verpatzt. Aber geh mit meinen Eltern auch nicht allzu streng um!“ – „Nein, der Vater geniert sich sehr vor Euch, aber er hält sich wie ein Graf.“ Und der Graf sitzt da, trinkt und wirft seinen schönen Vollbart zur Seite. „Keine Angst, Nikolaj Iwanowitsch, alles wird erledigt werden. Wenn es ernst wird, verpatze ich nichts.“ Er ging wenig aus dem Haus. Saß immer in seinem Zimmer bei einer Karaffe der verschiedensten teuren Schnäpse. Aber er betrank sich schon nicht mehr, trank mehr mit Maß. Als Kolja wieder zu Hause war, sagt er zu seinen Eltern: „Ich habe beschlossen zu heiraten; fahrt mit mir zum Grafen Scheremetjew und freit um seine Tochter!“ – „Was fällt dir ein. 698
Söhnchen, bist du übergeschnappt? Er kann uns für eine solche Beleidigung ins Gefängnis stekken.“ – „Die Liebe fragt nach nichts und kennt keine Furcht. Ihr habt mir doch selber mehr als einmal gesagt, vergnüge dich und such dir eine Braut. Und da ich eine nach meinem Sinn gefunden habe, wollt ihr nicht um sie freien.“ – „Wir freuen uns von ganzem Herzen, dich zu verheiraten, aber wir fürchten nur und haben Angst, daß du zu hoch hinaus willst.“ Trotzdem aber beschlossen sie zu fahren. Als sie mit der Brautwerberin ins Hotel „Rossija“ kamen, meldete der Portier dem Grafen, ob der Kaufmann Kowaljow den Grafen Scheremetjew sprechen kann. „Bitte sie herein!“ Als sie hereingekommen waren und sich ein wenig umgesehen hatten, sagt der Kaufmann Kowaljow zum Grafen Scheremetjew: „Ich entschuldige mich in aller Öffentlichkeit bei Euch, vielleicht beleidige ich Euch und kränke außerdem noch Eure Ehre, aber mein lieber einziger Sohn Kolja hat mir keine Ruhe gelassen, wir sollten mit einem Heiratsantrag zu Euch fahren.“ Da warf der Graf seinen Bart nach beiden Seiten. „Nun sieh mal einer an, darum also handelt es sich!“ Und man führt sie ins Gästezimmer und setzte ihnen teure Weine und schöne Leckerbissen vor. Und dann sagte er: „Nun ja, Liebe nimmt auf nichts Rücksicht. Ich persönlich habe nichts dagegen. Alles hängt von meiner Tochter ab.“ Da war dem Kaufmann Kowaljow gleichsam ein Mühlstein vom Herzen gefallen, und er denkt bei sich: „Dank dir, Herrgott, das hatte ich vom Grafen Scheremetjew 699
nicht erwartet. Ich weiß, daß seine Tochter meinen Sohn schon lange liebt.“ Und als sie die jungen Leute nebeneinander gestellt hatten, fragt der Graf seine Tochter: „Nun, wie ist’s, Manja? Willst du oder willst du nicht?“ – „Ja, gib mich ihm, Vater, mir gefällt der Bräutigam!“ – „Nun, was soll man da machen! Zwar waren sie dem Rang nach unser nicht würdig und haben vielleicht auch weniger Kapital als wir, aber da er nach deinem Sinn ist, so habe ich nichts dagegen.“ Und da setzten sie sich zu einem Festmahl, und dann feierten sie auch bald Hochzeit. So hatten sie zwei Jahre gelebt, da wurde plötzlich der alte Kowaljow schwer krank und starb, und die Mutter nahm das so mit, und sie härmte sich so, daß sie bald seinem Beispiel folgte. Nun war dieses junge verliebte Paar allein zurückgeblieben. Und sie führten ihr Handelsgeschäft genauso. Einmal kommt der Kaufmann Iwanow und sagt: „Nun, wie führst du deine Geschäfte, junger Chef? Und wie steht’s mit den Vorräten an Auslandswaren? Dein seliger Vater und ich sind früher fast immer zusammen ins Ausland gefahren, um ausländische Waren einzukaufen. Ich will nun jetzt gerade fahren und bin deswegen gekommen, dich davon in Kenntnis zu setzen. Wenn du willst, können wir zusammen fahren. Ich kann dich mit den ausländischen Kaufleuten bekannt machen.“ Kolja sagt: „Ja, ich muß fahren, denn die Ware geht schon zu Ende.“ Sie brachen also auf und fuhren davon. Als sie an die dreißig Werst von ihrer 700
Hauptstadt entfernt waren, hatte es sie in der Kutsche tüchtig durchgerüttelt. Iwanow sagt zu Kowaljow: „Wir wollen uns in dieser Stadt etwas ausruhen und danach weiterfahren.“ Sie mieteten im Gasthof ein Zimmer und ruhten sich aus. Iwanow aber hänselte die ganze Zeit den jungen Kowaljow: „Du bist wirklich kein ängstlicher Bursche; warum nur hast du deine junge schöne Frau allein unter den vielen Handelsdienern und vielen anderen jungen Leuten zurückgelassen? Wenn sie sich nun plötzlich in deiner Abwesenheit in einen anderen verliebt?“ Doch Kolja sagt: „Ich bürge für meine Frau, daß sie das nicht zuläßt.“ Der Kaufmann aber antwortet mit hämischem Lächeln: „Man kann sich für seine Frau nicht verbürgen.“ – „Mancher kann’s nicht, aber ich kann’s!“ – „Verbürg dich lieber nicht. Ich glaube, wenn ich in der Nähe deiner Frau wäre, obwohl ich schon ein ziemlich alter Kerl bin, ich könnte sie, glaube ich, verführen!“ Kowaljow konnte die Späße Iwanows nicht länger ertragen und sagt: „Wir wollen für einen Monat wetten: wenn du meine Frau verführen kannst, dann geb ich dir all meinen Reichtum: Häuser, Geschäfte und alles Geld bis auf die letzte Kopeke. Kannst du sie aber nicht verführen, dann nehme ich deinen Besitz.“ Und sie setzten ein Papier auf, unterschrieben es und ließen es von einem Notar beglaubigen. Und als Beweis sollte ihr Verlobungsring dienen. Als Nikolaj Iwanowitsch ihr diesen Ring geschenkt hatte, hatte er ihr gesagt, daß „dieser Ring nie auf einer fremden Hand sein darf. Nur dann wirst du mir treu sein.“ Iwa701
now fährt in seine Stadt zurück, und Kowaljow bleibt in der Kreisstadt. Als Iwanow angekommen ist, geht er geradewegs zu dem Haus, wo Manja wohnt, läßt ihr seine Ankunft melden und sie bitten, ihn zu empfangen. Manja war sehr erschrocken und dachte: „Gewiß ist meinem lieben Mann ein Unglück zugestoßen.“ Als er ins Haus kam, bewirtete sie ihn und fragte, warum er zurückgekommen sei. Und er sagte zu ihr: „Ich bin deswegen zurückgekehrt, weil ich kein Geld hatte, und Nikolaj Iwanowitsch hatte auch keine überflüssigen Beträge mitgenommen, und ich schämte mich, Schulden zu machen, und bin deshalb umgekehrt. Er läßt dir durch mich einen Gruß senden und dir befehlen, mich aufzunehmen wie ihn selbst.“ – „Nun, so rede doch, Iwanow, was wünschst du, für dich wird alles getan werden.“ Er aber sitzt und trinkt die ganze Zeit und beginnt, ihr eine Liebeserklärung zu machen. Doch sie sagt zu ihm: „Meine Seele gehört mir, aber mein Leib gehört ganz allein meinem lieben und teuren Kolja, über ihn kann ich nicht verfügen.“ Da wurde der Kaufmann zudringlich, und sie rief die Diener, und die hätten ihn um ein Haar vom zweiten Stock die Treppe hinuntergeworfen. Und wie oft er auch kam, es war immer dasselbe. Beim letztenmal kam er mit einer Entschuldigung: „Verzeih, ich habe immer so viel getrunken, und betrunken bin ich ekelhaft.“ Aber als er sich vollgetrunken hatte, begann er wieder, sie zu bedrängen. Da rief sie die Handelsdiener herein und sagt: „Werft diesen Schur702
ken hinaus und laßt ihn nie mehr zu mir ins Haus!“ Und da stießen ihn die Handelsdiener die steile Treppe hinab, daß er jede Stufe der zwei Stockwerke mit dem Kopf zählte. Als er nach Hause kam, lief ihm als erster der Hofknecht über den Weg. Der war an nichts schuld. Da fängt er an, ihn zu beschimpfen, ihm alle möglichen Namen an den Kopf zu werfen, und er beschimpfte sogar seine eigene Familie. Dann ging er vor Kummer in den Garten spazieren. Sitzt da und sinnt: „Was habe ich angerichtet! Dank meiner Dummheit habe ich aus einem Kaufmann einen Bettler aus mir gemacht.“ Auf einmal kommt ein altes Weib zu ihm und bittet ihn um ein Almosen. Er dachte: „Ich habe sowieso alles verloren“ – holt ein Goldstück hervor und gab es der Alten. Als die Alte ein so großes Almosen erhielt, bedankte sie sich bei Kaufmann Iwanow: „Möge dir der Herrgott alles schicken, was du dir wünschst und worum du den Herrgott bittest.“ Und noch vieles, vieles sagte ihm die Alte. Als der Kaufmann Iwanow die Worte der Alten gehört hatte, sagte er: „Großmütterchen, wenn mein Wunsch in Erfüllung ginge, den ich habe, dann würde ich dich höher achten als meine eigene Mutter, würde dir zu trinken und zu essen geben, was dein Herz nur immer begehrt, und dich anputzen wie eine Puppe. Aber das geht nie in Erfüllung, Großmütterchen.“ – „So erzähle mir doch, was für Kummer und Sorgen du hast!“ – „Das hat keinen Zweck, du kannst mir in meiner Not nicht helfen.“ – „Aber vielleicht kann ich dir doch helfen. Es kommt doch vor, daß auch arme 703
alte Frauen helfen.“ – Der Kaufmann sagt zu ihr: „Kennst du Maria Iwanowna Kowaljowa?“ – „Wie soll ich sie nicht kennen! Sie ist eine entfernte Verwandte von mir, eine Nichte! Wir haben zusammen früher Abfälle gesammelt. Sie ist doch die Tochter eines versoffenen Schmiedes.“ – „Nun hör mal, Alte, rede mir keinen Unsinn: sie war niemals so eine, sie ist eine Gräfin.“ – „Na schön, ich will mit dir nicht streiten, aber erkläre mir, worum es geht.“ – „Ich muß ihren Verlobungsring haben!“ – „Da ist nichts dabei, den beschaffe ich dir. Kaufe einen großen geflochtenen Korb, in den mußt du dich setzen; und gib mir irgendwelche alten Kleider und Lumpen, ich decke dich damit zu; da sie mich kennt, werde ich mich ihr zu Füßen werfen, mich vor ihr verneigen, mit bitteren Tränen, daß sie mich bei sich übernachten läßt und diesen Korb in ihr Schlafzimmer stellt. Und wenn sie schläft, nimmt sie wahrscheinlich alle diese kostbaren Dinge ab. Du nimmst dann ihren Ring und gehst leise hinaus. Dann gehen wir aus dem Haus und fahren davon.“ Iwanow gab augenblicklich Anweisung, einen solchen Korb zu kaufen und einen Fuhrmann kommen zu lassen, mit dem schlechtesten Pferd. Als alles vorbereitet ist, setzt sich Iwanow in den Korb, und die Alte deckt ihn mit abgetragenen Lumpen zu. Den Korb stellten sie auf den Wagen des Fuhrmanns und fuhren zur Frau des Kaufmanns Kowaljow. Als sie ankamen, brannten schon die Laternen. Sie hoben den Korb herunter und stellten ihn auf den Hof. Die Alte aber ging in Manjas Gemächer, warf sich 704
ihr zu Füßen, verneigte sich und bittet unter Tränen: „Maria Iwanowna, verlaß mich arme alte Frau nicht, sei so barmherzig und gut und laß mich bei dir übernachten!“ – „Aber warum bittest du denn so, Großmütterchen? Habe ich dich denn jemals nicht eingelassen? Immer habe ich dich eingelassen und dir nichts abgeschlagen, wozu also mußt du dich mir zu Füßen werfen und mich so bitten?“ – „Siehst du, ich besitze ein paar Habseligkeiten, die sind auf dem Hof in einem Korb; ich habe mein ganzes Leben lang gebettelt und gesammelt und habe nun einiges an abgetragenen Kleidern in diesem Korb. Aber ich habe beschlossen, aufs Dorf zu ziehen, und habe diesen Korb mitgenommen. Sei also so gut, gestatte mir, ihn in Euer Schlafzimmer zu stellen.“ – „Aber Großmütterchen, auch auf dem Speicher oder in den Lagern wird dir niemand dein Gut wegnehmen. Dort wird doch abgeschlossen.“ – „Ich kann die ganze Nacht nicht einschlafen. Sieh nur diese Flegel an, deine Handelsdiener: einer hat schon an den Korb gestoßen und eine Ecke vom Boden abgeschlagen. Erinnere dich, als du betteln gegangen bist, wie wertvoll jede erbettelte Kopeke war.“ Und die Alte weinte noch mehr als vorher und wälzte sich zu Manjas Füßen. Manja aber argwöhnte nichts von ihrer heimtückischen Absicht und dachte: „Kinder und alte Leute sind töricht!“ Und sie gab Anweisung, man solle ihren Korb in ihr Schlafzimmer stellen. Und Arbeiter schleppten ihn hinein und stellten ihn hin. Die Alte legte sich in der Küche schlafen, Maria 705
Iwanowna aber nahm, als es Schlafenszeit war, ohne Hast ihre Armbänder, die teure Halskette und alle wertvollen Dinge und den Fingerring ab und legte alles auf ein Tischchen. Und sie zog sich aus und legte sich ins Bett. Als sie im ersten tiefen Schlaf lag, kletterte Iwanow behutsam aus dem Korb, nahm ihren Ring und ging leise hinaus zu der Alten. Und die Alte flüsterte: „Hast du ihn?“ Er antwortete: „Ja!“ Und diese alte Kröte wurde gleichsam wieder jung und rannte die steile Treppe hinunter, als sei sie ein junges Mädchen, und vor Freude liefen ihre Beine wie von selbst. Draußen aber wartete schon ein Kutscher auf ihn. Und als er nach Hause gekommen war, zog er der Alten die teuersten Seidenkleider an und gab ihr die allerbesten Mäntel und sagte: „Sorgt für dieses Großmütterchen besser als für eure leibliche Mutter. Was immer sie auch wünscht und bittet, erfüllt ihr alles!“ Und als er sich von allen Verwandten verabschiedet hatte, jagte er zu Kowaljow, weil die Frist ablief. Als er zu Kowaljow kam, sagte er mit hämischem Lächeln: „Na also, gar zu sehr hast du dich für deine Frau verbürgt! Ist das der Ring deiner Frau?“ Kowaljow sah ihn sich an, wurde weiß wie ein Toter und antwortete: „Ja, er ist’s! Nie im Leben hätte ich geglaubt, daß sie mir untreu wird!“ Und er übergab ihm alles Geld, das er bei sich hatte, und gab ihm auch alle seine Kleider. Aber Iwanow nahm seine Kleider nicht und gab ihm dreitausend Rubel. Dann gingen sie zum Notar und machten alles fest. Iwanow jagte in seine Hauptstadt, Kowaljow aber ging, wohin 706
der Weg ihn führte. Als Iwanow in seiner Stadt ankam, ging er zum Gouverneur und zeigte ihm die Dokumente, und der Gouverneur gibt seinen Untergebenen von der Polizei Anweisung, überall alle Schilder mit der Aufschrift „Kowaljow“ abzunehmen und durch „Iwanow“ zu ersetzen. Und schließlich gingen sie zu dem Haus, wo die junge Kaufmannsfrau Kowaljowa wohnte, und baten sie, das Haus zu verlassen. Sie sagt: „Habe ich denn jemandem etwas Schlimmes angetan, daß ihr mich verhaften wollt?“ Und die Polizei sagt zu ihr: „Da du deinem Mann die Treue gebrochen hast, mußt du hinausgehen wie du bist, und darfst weder Geld noch sonst etwas mitnehmen. Das ist jetzt alles an den Kaufmann Iwanow übergegangen.“ Da erst begriff sie seinen heimtückischen Plan, und sie fiel in eine Ohnmacht, man trug sie ohne Umstände auf den Händen hinaus auf die Straße und legte sie auf die Erde. Doch an der frischen Luft kam sie zu sich und weiß nicht, ob sie lange gelegen hat. Da geht sie zu ihrem Vater, dem Grafen, erklärte ihm alles, und beide weinten lange Zeit bitterlich. Und sie sannen auf einen Plan, wie sie Kowaljow finden und retten könnten. Kowaljow aber war in der Hauptstadt ins schlechteste Restaurant gegangen und hatte alles Geld, das er besaß, in einer Nacht verjubelt und auch seine ganze Kleidung verjubelt; er hatte jetzt nur noch ein Paar schäbige Stiefel und einen schäbigen Rock, und er verfluchte die Stadt und besonders den Ort, wo sie haltgemacht hatten, um sich auszuruhen. Und er zog weiter, wohin der Weg 707
ihn führte. Und so ging er einen Tag, ging einen zweiten und einen dritten, ohne zu trinken und ohne zu essen. Und er war so müde und hatte solchen Hunger, daß er keine Kraft mehr hatte, weiterzugehen. Aber um einen Bissen betteln mochte er nicht. „Eher will ich Hungers sterben als mich zum Betteln entschließen.“ Er geht durch die Felder und sieht, Soldaten haben ein Lager aufgeschlagen. Und die Soldaten saßen gerade am Tisch und aßen Mittag. Und er sah mit solcher Gier zu ihnen hin, daß sogar die Soldaten es merkten und zu ihm sagen: „Komm, Landsmann, iß zur Gesellschaft mit!“ Er war natürlich sehr froh und setzte sich, um mit ihnen zu essen. Sie gossen ihm eine Schüssel Krautsuppe ein und gaben ihm ein Kochgeschirr Grütze, und wie lange er auch schon auf der Welt gelebt hatte, noch nie im Leben hatte ihm ein Essen so gut geschmeckt wie bei diesen Soldaten. Als er satt war, sagt er: „Habt ihr nicht irgendeine Arbeit? Ich würde bei euch arbeiten nur für dieses Essen, dafür, daß ihr mich verpflegt und mir vielleicht noch irgendwelche alten Sachen von euch gebt zum Anziehen.“ Hiervon machte der Zugführer dem Kompanieführer Meldung. Und der Kompanieführer kam und sagt: „Wir haben etwas, und ich kann dich nehmen, dir zu trinken, zu essen, Schuhwerk und Bekleidung geben. Nur weiß ich nicht, ob du das kannst.“ – „Und was ist’s?“ – „In unseren Winterquartieren in der Kaserne taugen die Öfen alle nichts, einige müssen repariert, einige ganz neu gesetzt werden.“ Kowaljow antwortet: „Ich werde 708
das übernehmen und machen. Nur besorgt mir bitte Papier und einen Bleistift, zeigt mir diese Kaserne und gebt mir die Werkzeuge, die ich brauche.“ Was er forderte, wurde alles erledigt. Als er allein war, besah er sich sorgfältig einen Ofen, nahm ihn, wo es nötig war, auseinander, machte sich auf dem Papier eine Zeichnung und trug alle Rauchzüge ein. Dann grub er Lehm, zog seine schäbigen Stiefel aus, krempelte die Hosen bis zu den Knien hoch, fühlte sich zum erstenmal im Leben er selber und begann, diesen Lehm zu stampfen. Dann fing er an, die Öfen auseinanderzunehmen und wiederherzurichten. Erst machte er kleine Reparaturen, und als er das gut beherrschte, begann er auch neue zu setzen. Weil er aber die Zeichnungen gut kannte, war das für ihn nicht schwer. Schlecht war nur das, daß seine zarten Hände im Lehm schmutzig wurden und mit den schweren Ziegeln umgehen mußten. Graf Scheremetjew aber hatte sich entschlossen, mit seiner Tochter das Hotel „Rossija“ zu verlassen und in ein einfaches Gasthauszimmer zu ziehen; sie dingten einige Detektive, koste es, was es wolle, herauszubekommen, wo sich Kowaljow befindet. Und nach geraumer Weile erscheint der eine Detektiv und meldet dem Grafen, daß sich Kowaljow in der und der Stadt bei dem und dem Regiment befindet und die Öfen in den Kasernen instandsetzt. Da begann seine wunderschöne Frau Manja noch mehr als vorher zu jammern: „Aber das ist doch unmöglich – ein so zarter Mensch, der in seinem ganzen Leben nicht einmal einen schmut709
zigen Gegenstand in die Hand genommen hat, und jetzt kratzt er Ruß und Lehm zusammen! Immer schmutzig und voll Staub, gewiß ist sein ganzer Körper von Schmutz zerfressen.“ Als sie sich satt geweint und wieder beruhigt hatte, ging sie zu einem Friseur, ließ sich ihren wunderschönen langen Zopf abschneiden und auf eine Perükke kleben, kaufte sich Männerkleider, meldete sich bei der Polizei und sagt: „Nehmt mich als Freiwilligen für den Militärdienst!“ Da sie schon Bildung hatte, wurde sie als Freiwilliger angenommen und sofort auf eine Offiziersschule geschickt. Die beendete sie und erhielt den untersten Offiziersrang. Darauf aber wurde bald ein Krieg erklärt. Und im Kriege schonte sie ihr Leben nicht, sondern meldete sich immer freiwillig, an die gefährlichsten Stellen zu gehen. Und immer war der Sieg auf ihrer Seite. Und sie wurde mit mehreren Orden für Tapferkeit ausgezeichnet und bekam den Rang eines Obersten des Regiments Seiner Majestät verliehen. Der Krieg war zu Ende, sie kehrte in die Hauptstadt zurück und nahm einen dreimonatigen Urlaub. Noch einmal schickte sie einen Detektiv, um sich davon zu überzeugen, daß Kowaljow noch lebt und wo er sich befindet. Die Detektive kamen zurück und sagen: „Er repariert noch immer in dem gleichen Regiment überall die Öfen.“ Da schreibt sie einen Brief an den Kommandeur jenes Regiments und bittet ihn um unverzügliche Entsendung: „Der Ofensetzmeister ist zwecks Reparierens von Öfen zum Regiment 710
Seiner Majestät zu entsenden. Oberst des Regiments Seiner Majestät, Jermolajew.“ Als der Oberst den Brief bekommen hatte, gibt er dem Kompanieführer sofort Anweisung, Kowaljow eine Uniform auszuhändigen und ihn sogleich in die Hauptstadt zum Kommandeur des Regiments Seiner Majestät zu schicken. Als man Kowaljow das erklärte, hatte er gar keine Lust, und er bat: „Ich habe gar keine Lust, dorthin zu fahren, kann ich nicht bei euch bleiben?“ Aber man antwortete ihm: „Du kennst doch die militärische Disziplin, und wir müssen einen Befehl von Vorgesetzten unbedingt ausführen.“ Doch er dachte: „Ganz gleich, es ist schon viel Zeit vergangen, vielleicht erkennt mich keiner. Aber es wird sehr schwer für mich sein, wenn ich alles wiedersehe, was mir lieb war.“ Wenn auch ungern, so fuhr er doch los. Als er ankam, suchte er den Kommandeur auf und meldete seinem Burschen, daß der Ofensetzer aus dem und dem Regiment eingetroffen ist. Der Kommandeur des Regiments befahl ihm augenblicklich, zu ihm ins Zimmer zu kommen. Kowaljow aber hatte schon militärische Schulung. Er legte die Hand an die Mütze und sagt: „Habe die Ehre, mich zu melden. Euer Hochwohlgeboren: Ofensetzer aus dem und dem Regiment!“ – „Nun gut, setz dich her, iß zu Mittag und trink Tee!“ Der Regimentskommandeur setzte sich auch mit hin. Es wurde eine Karaffe mit Schnaps auf den Tisch gestellt und etwas Schönes zu essen dazu. Er selber trinkt ein winziges Gläschen, man braucht nur mit dem kleinen Finger hineinzustippen, und der 711
ganze Schnaps fließt aus dem Glas; dem Ofensetzer aber gießt er ein Weinglas voll ein. Der Ofensetzer denkt: „Da bin ich anscheinend an einen gutmütigen Kommandeur geraten, obwohl er noch sehr jung ist.“ Und so lebt er einen Monat, lebt auch den zweiten, aber Öfen setzt er nicht. Und der Kommandeur gibt ihm zu trinken, zu essen, bewirtet ihn mit Schnaps und gibt ihm außerdem noch Trinkgelder. Ihm aber wird es peinlich, und er bittet: „Gib mir Arbeit!“ – „Nun, du wirst noch zeitig genug zu tun bekommen.“ Als er sich gut erholt hatte, begann sich in ihm sein junges Blut zu regen, und er bittet eines Abends den Regimentskommandeur, er möge ihm Ausgang geben. Der sagt zu ihm: „Wohin willst du denn?“ – „Und wenn ich mich wenigstens mit den hiesigen Mädchen bekanntmache.“ – „Bist du denn ledig?“ – „Ich weiß selber nicht, was ich jetzt bin“ (er hatte etwas getrunken). „Was heißt, du weißt es nicht? Woher bist du?“ – „Ach, frag nicht! Die Wahrheit zu sagen ist für mich schwerer als Öfen zu setzen und Lehm zu kneten.“ – „Warum? Sage mir die Wahrheit! Wenn es ein Geheimnis ist, so sag ich’s nicht weiter.“ – „Ich will’s sagen, aber unter der Bedingung, daß es weiter niemand erfährt, nur du allein, und wenn ich danach über mich reden höre, dann nehme ich mir das Leben und werde nicht mehr bei euch sein. Siehst du, überall und allerorts in der Stadt tragen die Restaurants und Hotels und die allerbesten Handelsunternehmen den Namen Iwanow, und das hat alles mir gehört.“ – „Wie ist denn das gekom712
men?“ – „Das hat alles meine Frau, die treulose, fertiggebracht.“ – „Und was würdest du machen, wenn du sie wiedersähest?“ – „Ich würde sie erschlagen wie einen tollen Hund!“ – „Aber vielleicht ist sie schuldlos?“ – „Wenn sie schuldlos gewesen wäre, hätte sie nicht einem anderen ihren Verlobungsring gegeben!“ Er ging aus, sie aber weinte bitterlich und ging in ein anderes Zimmer, damit niemand sie bemerkt. Und er bummelte die ganze Nacht durch und übertrat seinen Urlaub. Als er zurückkam, fragt ihn der Kommandeur: „Wo bist du denn gewesen?“ – „Verzeiht, ich habe mir bei den Mädchen die Zeit vertrieben. Ihr seid ja selber schuld, warum habt ihr mir immer Trinkgeld gegeben. Ich habe früher fast überhaupt keinen Schnaps getrunken, und wenn – nur eine kleine Dosis. Wenn ich aber jetzt Geld habe, dann ertränke ich meinen Kummer nur in Branntwein, und deswegen bitte ich Euch um Verzeihung.“ Der Kommandeur verzieh ihm und gab ihm noch einen Schnaps auf seinen Rausch, damit er keine Kopfschmerzen bekommt. Und einige Tage danach sagt er zum Ofensetzer: „Kowaljow, du mußt heute dort und dort sein und den Gästen die Mäntel abnehmen. Bei mir wird heute ein großer Ball sein. Und zu diesem großen Ball laden wir vornehme Gäste ein und werden sogar den Zaren selber bitten. Auch alle reichen Kaufleute werden bei mir sein und auch dein Rivale Iwanow.“ – „Dann zwing mich lieber nicht dazu, soll ich etwa einem mir so verhaßten Menschen den Mantel abnehmen? Schlag mir lie713
ber den Kopf ab, das wird leichter für mich sein, als ihm den Mantel abzunehmen!“ – „Nun, ihn kannst du unter irgendeinem Vorwand auslassen und brauchst dich ihm nicht zu zeigen, und hinter den Garderobeständern wird er dich nicht erkennen. Du wirst aber dafür viele Trinkgelder bekommen, und mit dem Geld kannst du wieder ausgehen.“ Und da erklärte sich Kowaljow, wenn auch nicht sehr gern, doch einverstanden, den Befehl des Regimentskommandeurs auszuführen. Als alles für den Ball bereit war und auch die Visitenkarten versendet waren, wurde auch zum Zaren geschickt, den der Regimentskommandeur wegen einer wichtigen Sache bittet. Zur angegebenen Stunde begannen die Gäste zusammenzuströmen, unter ihnen auch der Zar. Kowaljow nahm allen die Mäntel ab und hängte sie an die Haken. Aber sobald er Iwanow erblickte, lief er fort auf die Toilette und nahm ihm den Mantel nicht ab. Als die Gäste schön getrunken hatten, begannen sie, die verschiedensten Geschichten zu erzählen und die verschiedensten Fragen zu erörtern. Der Regimentskommandeur bat seinerseits den Zaren um die Erlaubnis, ihm eine interessante Geschichte zu erzählen unter der Bedingung, daß niemand ihn unterbricht, wozu der Zar seine Einwilligung gab. Er sprach lange über dies und das, und schließlich bat er den Kaufmann Iwanow, allen Gästen zu erklären, wie er den ganzen Besitz Kowaljows gewonnen habe. Kowaljow aber hört, daß von ihm die Rede ist, und er stand wie auf Nadeln, es stach ihn am ganzen Körper. Und Iwa714
now antwortete mit einem Lächeln: „Sehr einfach. Wir hatten gewettet: wenn ich seine Frau verführe, dann übergibt er mir seinen ganzen Besitz, und wenn nicht, ich ihm den meinen. Und die Wette hat dieser ihr Verlobungsring entschieden.“ Und er zeigte seine Hand, an der der Ring steckte. „Und du hast es auch bestimmt fertiggebracht?“ – „Ja, bestimmt!“ Da bittet der Oberst Jermolajew den Zaren, er möge ihm erlauben hinauszugehen. Der erlaubte es. Und der Oberst geht in sein Ankleidezimmer, zieht alle seine Kleider aus, nimmt die Maske vom Gesicht, zieht sein Frauengewand über, heftet den schönen langen Zopf an, die ruhmreiche Uniform aber nimmt er über den Arm und geht wieder hinein zum Zaren. „Seht, Eure Kaiserliche Majestät, was für ein Oberst ich bin und wie schwer es mir geworden ist, diese Kriegsuniform und den von Euch verliehenen Rang zu erwerben. Doch es ist für mich vielleicht noch leichter, das alles zu tun, wenn ich auch jede Minute mein Leben aufs Spiel gesetzt habe – aber wie war meinem Manne zumute, der keinerlei Schuld hat, Ruß zusammenzukratzen und Lehm zu kneten und Öfen zu setzen und zu reparieren. Schäme dich, Kaufmann Iwanow, so frech zu lügen: er hat mir meinen Verlobungsring nämlich gestohlen, mit Hilfe eines alten Weibes, das mich gebeten hatte, ihren Korb in mein Schlafzimmer zu stellen, und du hast darin gesessen! Als ich eingeschlafen war, hast du meinen Verlobungsring gestohlen. Sag dem Zaren und allen Anwesenden die ganze Wahrheit ins Gesicht, daß du mich nicht 715
verführt, sondern den Ring gestohlen hast!“ Da warf sich der Kaufmann Iwanow ihr zu Füßen und bat um Vergebung: „Ich bin schuldig!“ Als er zu ihren Füßen lag, rief sie ihren lieben Kolja. Kolja kam und hatte natürlich alles gehört, wie dieser Schuft Iwanow sie beide betrogen hatte. Und er konnte sich nicht zurückhalten, er warf sich in die Arme seiner lieben Frau und überschüttete sie mit brennenden, heißen Küssen. Der Zar aber befahl, die ruhmreiche Uniform des Obersten, weil sie eine Frau war, dem Ofensetzer Kowaljow anzuziehen; und diesen Kaufmann und die Alte hinrichten zu lassen. Das Urteil wurde vollstreckt. Die Alte wurde in kleine Stücke zerhackt, die übergossen sie mit Pech und verbrannten sie auf der Richtstätte zusammen mit dem Kaufmann. Alle Schilder mit der Aufschrift „Iwanow“ wurden überall und allerorts abgenommen und überall „Kowaljow“ angebracht. Da sagt Kowaljow: „Seht nun alle, die auf diesem Ball anwesend sind, ich habe mir eine Bettlerin zur Frau gewählt, und aus ihr ist eine gute und liebe Frau geworden. Wenn ich eine aus der reichen Klasse und mit großer Bildung genommen hätte, dann hätte die es gewiß nicht für nötig befunden, mich zu retten, denn es war für sie schrecklich und schwer, und sie hätte ihr Leben nicht aufs Spiel gesetzt. Aber weil sie arm war und gewohnt, allen schweren Kummer zu ertragen, hat sie mich, wie ihr seht, ganz im Gegenteil gerettet, die Liebe.“ Die Gäste lobten alle ihren Heldenmut und gingen nach Hause; da trug der Zar Kowaljow auf, ein zweites Fest für das 716
arme Volk zu geben, und belohnte alle aufs freigiebigste. Auch mich luden sie zu dem Feste ein, ich trank Bier und Wein, es ist alles um den Bart geronnen, der Mund hat nichts abbekommen.
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61 Des Zaren Handwerksmeister In einem Zarenreich, nicht in unserem Königreich, lebte einmal ein großer Zar, der hatte zwei Handwerksmeister: der erste war, sagen wir mal – Goldschmied, und der zweite, sagen wir mal – Tischler. Die arbeiteten Sachen für den Zaren und meldeten ihm jeden Morgen, was jeder gemacht hatte. Der Goldschmied meldete: „Ich habe soundsoviel gemacht.“ Und der Tischler meldete: „Und ich soundsoviel.“ Einmal kamen sie zur gleichen Zeit hin und hatten beide einen kleinen Rausch. Kamen zum Zaren zum Rapport und gerieten einander in die Haare. Der Goldschmied sagt zum Tischler: „Mich, Bruder, hat der Zar lieber: ich mache ja goldene Sachen!“ Der Tischler aber sagte genauso: „Aus Gold kann auch ein Narr etwas machen: Gold ist schon so schön; aber mach du mal etwas aus Holz und dazu noch etwas Schönes! Dann wirst du sehen, wer dem Zaren lieber ist!“ Der Goldschmied sagte, „daß mich der Zar mehr liebt“, und der Tischler sagte: „Das ist gelogen! Mich liebt er mehr!“
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Sie schrien und schrien, gingen aufeinander los, und schon war eine Prügelei im Gange. Der Zar hörte auf dem Korridor Lärm und fragte: „Was ist da los?“ Da ergriffen die Wächter die beiden, ergriffen sie, packten sie am Kragen und schleppten sie zum Zaren. Der Zar fragte sie: „Was macht ihr für einen Lärm bei mir?“ Sie drucksten und drucksten und sagen: „Wer von uns ist dir der liebste?“ „Nun, wer mir das schönste Ding macht, der wird mir auch der liebste sein!“ Der Goldschmied kehrte in seine Goldschmiede zurück und begann nachzudenken, was für ein schönes Ding er machen könnte. Der eine sagt dies, der andere das (die Lehrjungen nämlich). Und unter den jungen Burschen war ein Lehrling, ein junger Kerl, aber gewaltig flink bei der Arbeit – der dachte nach und sagte: „Hört, Herr Meister, was für ein prächtiges Ding ich mir ausgedacht habe: wir wollen einen goldenen Enterich gießen – er soll auf dem Wasser schwimmen und auf dem Hof des Zaren umherfliegen können.“ Der Tischler war in seine Tischlerei gekommen, hatte sich griesgrämig an den Tisch gesetzt, ließ seinen Brausekopf hängen und denkt: „Was für ein auserlesenes und unübertreffliches Ding kann ich dem Zaren nur machen?“ Er ruft seine Lehrjungen:
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„Hört, Burschen, denkt einmal nach, was für ein schönes Ding können wir aus Holz machen und dem Zaren als Geschenk bringen?“ Alle dachten nach, es fiel ihnen nichts ein, und sie sagten: „Was sollen wir schon aus Holz machen? Nehmen wir lieber Gold: Gold ist schon so schön.“ Ein Junge war da, der war mit siebzehn Jahren Lehrling geworden, der sagte sogleich: „Hört, Onkel Meister, wir wollen ein Paar Flügel machen, so, daß sie an Drähten durch die weite Welt fliegen können.“ Da begannen sie kleine Federn zurechtzuschneiden und auf einen Draht zu ziehen. Sie schnitten die Flügel zurecht, zogen sie auf einen Draht und gaben sie dem Meister. Der Meister zog sich aus, band sich die Flügel um, warf einen Soldatenmantel darüber, und dann ging er los in des Zaren Schloß. Kam zum Schloß, stieg keck die Schloßtreppe zum Zaren hinauf, steht da und wartet. Da kommt der Goldschmied und bringt ein Ding aus Gold. Dem Zaren wird gemeldet: „Die Meister sind zu Euch gekommen und haben Euch ein Geschenk mitgebracht!“ Der Zar tritt auf die Schloßtreppe hinaus: „Seid gegrüßt, Kinder!“ „Unseren Gruß Euch, Kaiserliche Majestät!“ „Nun, seid ihr da?“ „Wir sind da!“ „Habt ihr’s mit?“ „Wir haben’s mit!“ Der Goldschmied sagt: 720
„Kaiserliche Majestät, befehlt, diesen Zuber hier mit Wasser zu füllen!“ Und auf der Stelle wurde Wasser in den Zuber gegossen. Der Goldschmied schlug die Rockschöße auseinander, holte den goldenen Enterich unter den Schößen hervor und setzte ihn aufs Wasser in den Zuber. Der Enterich schwamm ein Weilchen hin und her, dann hob er sich in die Lüfte und kam an einem Draht wieder in den Zuber zurück. Und die junge Zarentochter war da, die strampelte mit den Füßen und klatschte in die Hände! „Das kann nicht sein! Einer aus Gold kann nicht fliegen! Du hast einen lebendigen Enterich vergoldet!“ Der Goldschmied sagte: „Eure Kaiserliche Majestät! Laßt mich nicht richten und hängen, sondern laßt mich ein Wort sagen! Er kann auseinandergenommen werden und wird dann wieder durch die Luft fliegen.“ Der Zar sagte: „Habe Dank, Goldschmied! Sehr schön, sehr gut! Und du, Tischler, was hast du gemacht?“ Der Tischler sagt: „Eure Kaiserliche Majestät! Befehlt, im höchsten Stockwerk zwei Fenster zu öffnen!“ Die zwei Fenster wurden aufgemacht, da warf der Tischler seinen Soldatenmantel ab und flog hoch ins oberste Stockwerk. Flog zum einen Fenster hinein, zum anderen heraus und ließ sich wieder auf der gleichen Schloßtreppe nieder, wo er vorher gestanden hatte. Da dankte Väterchen 721
Zar ihnen, schenkte ihnen einen Wodka ein, schickte sie nach Hause und sagte: „Ihr seid mir beide lieb!“ Die Dinge nahm er an sich; sie zogen mit langen Gesichtern ab. Den gegossenen Enterich nahm die Zarentochter und verschloß ihn in einem Kästchen, die Flügel aber nahm Väterchen Zar und verschloß sie in einer Truhe. Unser Väterchen Zar hatte einen einzigen Sohn; der nahm die Flügel heimlich weg, band sie um, erhob sich in die Lüfte, flog davon und flog weit weg in ein anderes Land. Die Flügel band er sich unters Hemd und lief in der Stadt umher, und niemand konnte ihn erkennen. Er geht über den Markt, und die wackeren Kaufleute blicken auf ihn. „Wer bist du, kühner Bursche?“ fragen sie ihn. Sie betrachten ihn und sehen, daß er guter Herkunft und seine Rede anmutig und schön ist. „Ich bin von weit her!“ Ein vornehmer reicher Kaufmann hatte keine Kinder, besaß aber ein großes Kapital: „Kommt doch hierher, junger Bursche! Wir wollen ein Glas Tee miteinander trinken und gute Worte voneinander hören. Wer bist du?“ „Ich bin ein Landstreicher!“ Diese seine Worte glaubt er ihm nicht und dingt ihn als Gehilfen. Als Gehilfe verdingte er sich für ein Jahr und wird ein guter Verkäufer. Alle Kaufleute kennen ihn und schätzen ihn als guten Handelsdiener. Die Käufer strömen in Massen zu ihm, er kann ihnen die Ware gar nicht schnell genug
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geben. Sein Herr aber sitzt in seinem Laden, hat seine Freude daran und betrachtet ihn: „Ach, du tüchtiger Verkäufer! Komm doch zu mir und sei mein Sohn!“ Und von da an lebten sie zusammen und wurden immer reicher. In der gleichen Stadt nun hatte ein anderer Zar ein Töchterchen, die war von unermeßlicher Schönheit, nur im Kopf etwas schwach. Die machte sich auf zum Markt, ging in den Laden zu dem jungen Handelsdiener und sagte: „Junger Handelsdiener! Begleite mich nach Hause!“ Der Handelsdiener überlegt und sagt: „Schönes Fräulein! Ich kann dich nicht nach Hause begleiten, aber wenn Ihr mich zu sehen wünscht, dann macht Euer Fenster auf.“ In der gleichen Nacht nun band sich der Junge in tiefer Mitternacht die Flügel um, schwang sich in die Luft und flog los, kam zum Fenster geflogen und flog hinein. Und da tranken und feierten sie, spielten Karten, knackten Walnüsse und warfen die Schalen zum Fenster hinaus. Nun, ein Märchen ist bald erzählt, eine Tat aber nicht so bald getan – es ging viel Zeit dahin. Und dieses vornehme Fräulein, die Zarentochter, wurde von ihm schwanger; und die Leute sagen, unser Zar hat eine schwangere Tochter. Das Gerede kam vor den Zaren. Die Zarentochter weiß es ja, sagt aber dem Zaren nichts. Der Zar verlangte nun nach zwei Doktoren, einem Hauptdoktor und seinem Gehilfen. Die Za723
rentochter nun, nicht dumm, bestach den Doktor, dem Gehilfen aber bot sie nicht einmal ein Gläschen an. Der Doktor nun befühlte und betastete sie und sagte zum Zaren: „Sie ist jung, und dick wird sie davon, daß sie ins heiratsfähige Alter kommt.“ (Ins heiratsfähige Alter! Dabei ist sie schon im sechsten Monat!) Der Doktor und sein Gehilfe waren auf dem Heimweg, kehrten in einer Schenke ein und tranken einen über den Durst; tranken sich einen Rausch an, machten sich auf den Heimweg und begannen unterwegs eine Prügelei. Der Doktor warf den Gehilfen zu Boden und hämmerte mit den Fäusten auf seiner Visage herum. Der Gehilfe wurde böse auf ihn, rannte zu Väterchen Zar und sagt: „Ich habe etwas für Euch, Väterchen Zar. Eure Tochter wird nicht dick, sondern ist im sechsten Monat schwanger. Ich kann auch den Übeltäter angeben!“ Väterchen Zar war’s einverstanden: „Und wo ist er?“ „Er klettert zum Fenster hinein!“ Er machte aus giftigen Kräutern einen Leim; wenn er sich mit den Knien aufstützt, reißt er sich Stoffetzen von der Hose; und er sagte zum Zaren: „Morgen fangen wir ihn!“ Der Tochter sagten sie nichts; sie machten das Fenster auf und bestrichen es mit den Giftkräutern. Er nun, der wackere Bursche, kommt in tiefer Mitternacht zum Fenster geflogen; klopfte – 724
sie machte ihm ein wenig auf. Er kletterte zum Fenster hinein, küßte sie dreimal, drückte sie fest an sein Herz und sagt: „Sei gegrüßt und leb wohl! Ich habe heute keine Zeit, es mir gut sein zu lassen: muß sogleich auf den Markt fahren.“ Und flog davon. Der Morgen graute – da ließ der Zar den Doktorgehilfen rufen. Der Gehilfe öffnete ihm das Fenster und wies auf zwei Stoffetzen. „Hier, Väterchen Zar, Ihr könnt ihn suchen und mit ihm machen, was ihr wollt!“ Da ließ der Zar ins Horn stoßen, die Becken schlagen, alle auf den Hof rufen und ihnen die Hosen ausziehen: er suchte den Schuldigen. Der wackere Bursche war aber nicht an der Schloßtreppe. Schließlich aber, nach allen anderen, kommt dieser kühne Bursche: Die Rockschöße wehen ihm nach beiden Seiten, und an den Hosen sind kleine Löcher zu sehen. Sie ergriffen ihn kurzerhand und schleppten ihn zum Galgen. Der Zar befahl, seine Tochter neben ihn zu stellen und zusammen mit ihm zu erdrosseln. Es wurden seidene Schlingen und eine hohe Leiter gemacht ; man führte die beiden auf die hohe Leiter. Der wackere Bursche rief mit lauter Stimme: „Väterchen Zar! Laßt mich nicht richten und hängen, laßt mich ein Wort sagen und vor dem endgültigen Ende von der Zarentochter Abschied nehmen!“ Der erlaubte es zuerst nicht, aber einige waren bestochen und überredeten ihn. Er küßte die Za725
rentochter und drückte sie fest an sein Herz; er entfaltete die Flügel, schwang sich in die Luft und flog mit ihr davon. Da sagte Väterchen Zar: „Ladet vierzig Kanonen und schießt nach ihnen!“ Aber es gab nur ein heilloses Durcheinander. Er kam zu seinem Vater ins Schloß geflogen und lebt nun dort mit seiner Gemahlin.
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62 Der Töpfer Ein Töpfer fährt und träumt bei seinen Töpfen vor sich hin. Zar Iwan Wassiljewitsch holte ihn ein. „Friede dem Reisenden!“ Der Töpfer sah sich um. „Wir danken in Demut!“ „Hast wohl geträumt?“ „Hab geträumt, großer Zar! Fürchte nicht den, der Lieder singt, doch fürchte den, der träumt!“ „Was bist du kühn, Töpfer! Solche habe ich gern, Kutscher, fahr langsamer! Wie ist’s, Töpfer, lebst du schon lange von diesem Handwerk?“ „Von Jugend auf, und jetzt bin ich schon in den mittleren Jahren.“ „Hast du Kinder zu versorgen?“ „Ja, Eure Kaiserliche Majestät! Ich pflüge nicht, ich mähe nicht, ich ernte nicht, und der Frost schlägt mich nicht.“ „Schon gut, Töpfer, aber trotzdem geht’s auf der Welt nicht ohne Übel ab.“ „Ja, Eure Kaiserliche Majestät! Drei Übel gibt’s auf der Welt.“ „Und welche drei Übel sind das, Töpfer?“ „Das erste Übel ist ein schlimmer Nachbar, das zweite Übel – ein schlimmes Weib, und das dritte Übel ein schlimmer Verstand.“
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„Aber sag mir, welches Übel ist das schlimmste?“ „Einem schlimmen Nachbar kann ich entfliehen, einem schlimmen Weib auch, wenn Kinder da sind; einem schlimmen Verstand aber kannst du nicht entfliehen, er bleibt immer bei dir.“ „So ist’s, Töpfer! Du hast einen gescheiten Kopf. Höre! Du für mich, und ich für dich. Wenn die Gänse aus Rußland geflogen kommen, sollst du sie rupfen, doch eine Schwanzfeder übriglassen!“ „Wenn’s taugt, laß ich sie übrig, wie’s kommt. Vielleicht aber auch ratzekahl.“ „Nun Töpfer, warte einen Augenblick! Ich will mir dein Geschirr ansehen!“ Der Töpfer hielt an; begann die Ware auszubreiten. Der Zar betrachtete sie, und drei Tonteller gefielen ihm. „Machst du mir solche?“ „Wieviel sind Eurer Kaiserlichen Majestät gefällig?“ „An die zehn Fuhren brauche ich!“ „Wieviel Zeit gibst du?“ „Einen Monat.“ „Ich kann sie auch in zwei Wochen liefern, auch in die Stadt. Ich für dich und du für mich!“ „Danke, Töpfer!“ „Und wo wirst du sein, Zar, wenn ich die Ware in die Stadt bringe?“ „Ich werde im Haus des Kaufmanns zu Gast sein.“
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Der Zar kam in die Stadt und befahl, es dürfe auf allen Festen kein silbernes, kein zinnernes, kein kupfernes noch auch hölzernes Geschirr geben, sondern alles sollte aus Ton sein. Der Töpfer beendete den Auftrag des Zaren und brachte die Ware in die Stadt. Ein Bojar kam auf den Markt zum Töpfer gefahren und sagt zu ihm: „Gott mit deinen Waren, Töpfer!“ „Untertänigsten Dank!“ „Verkauf mir deine Ware l“ „Das geht nicht, sie ist bestellt!“ „Was kümmert’s dich, du bekommst dein Geld – man wird dich deswegen nicht schelten, wenn du kein Handgeld für die Arbeit bekommen hast. Nun, wieviel willst du?“ „Soviel: jedes Gefäß mit Geld vollschütten!“ „Nun hör aber auf, Töpfer, das ist zuviel!“ „Na schön: eins vollschütten, zwei bekommen – willst du?“ Und sie wurden handelseinig. „Du für mich, und ich für dich.“ Sie schütten ein und schütten aus. Schütten und schütten – das Geld war alle, Geschirr aber war noch viel da. Der Bojar, Schlimmes ahnend, fuhr nach Hause und brachte neues Geld. Wieder schütten und schütten sie – noch immer ist viel Ware da. „Was soll ich tun, Töpfer?“ „Nun, reicht’s nicht? Das macht nichts, du bleibst für mich ein Ehrenmann, nur weißt du was? Zieh mich auf dem Wagen zu diesem Hof da – dann will ich dir die Ware und alles Geld geben.“ 729
Der Bojar wandt sich hin und wandt sich her: das Geld tat ihm leid, und er selbst tat sich leid; doch es blieb ihm nichts übrig – sie wurden handelseinig. Das Pferd wurde ausgespannt, der Bauer stieg auf, der Bojar zog ihn: das war gelungen. Der Töpfer stimmte ein Lied an, der Bojar zieht und zieht. „Wie weit soll ich dich denn ziehen?“ „Dort bis zu jenem Hof und zu jenem Haus.“ Der Töpfer singt lustig, und vor dem Haus sang er ganz laut. Der Zar hört’s kam vor die Tür gelaufen und erkannte den Töpfer. „Da sieh mal an! Sei gegrüßt, Töpfer, und willkommen!“ „Danke, Eure Kaiserliche Majestät.“ „Womit kommst du denn da gefahren?“ „Mit einem schlimmen Verstand, Zar!“ „Nun, hast einen gescheiten Kopf, Töpfer, hast es wohl verstanden, deine Ware zu verkaufen. Bojar, zieh deine Uniform und deine Stiefel aus, und du, Töpfer, zieh deinen Rock und deine Bastschuhe aus; die ziehst du an, Bojar, und du, Töpfer, zieh seine Uniform an. Hast’s verstanden, deine Ware zu verkaufen! Nur kurze Zeit hast du gedient, aber schon große Verdienste. Und du hast es nicht verstanden, dein Bojarentum zu wahren. Nun, Töpfer, sind die Gänse aus Rußland geflogen gekommen?“ „Sind geflogen gekommen!“ „Hast du sie gerupft, aber eine Schwanzfeder übriggelassen?“
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„Nein, großer Zar, ratzekahl hab ich sie gerupft!“
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63 Peter der Große und der Soldat Peter der Große ritt auf Jagd. Er ritt und ritt – und hatte sich verirrt. Nun, solange er zu Pferde war, war ihm leicht zumute. Aber dann im Wald war es schwierig zu reiten, er kletterte vom Pferd und begann das Pferd zu führen. Und das Pferd folgt ihm. Das Wetter war trübe, die Sonne schien nicht. Er sagt: „Mein seliger Vater hat mir gesagt, man kann nach bestimmten Merkzeichen aus einem Wald herauskommen. Auf der Nordseite wachsen weniger Äste, auf der Südseite aber sind mehr Äste.“ Er begann, nach diesen väterlichen Zeichen Ausschau zu halten. Er sah, daß „ich also so gehen muß, in diese Richtung. Wo weniger Äste sind, komme ich auf den Weg, denn als ich in den Wald hineinritt, war die Sonne vor mir. Nun, und jetzt muß ich vorwärts gehen.“ Und er ging los. Lief und lief – und war wieder abgekommen. Da sieht er auf einem Baumstumpf einen Mann sitzen. Er geht zu diesem Mann. Dort sitzt aber ein Soldat. „Was sitzt du hier, Soldat?“ sagt er. „Hab mich verirrt. Weiß nicht, in welche Richtung ich gehen muß. Schon zwei Tage laufe ich
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umher und kann mich auf keine Weise herausfinden.“ Und er sagt: „Auch ich habe mich verirrt. Komm, wir wollen den Weg suchen!“ „Für Euch“, sagt der Soldat, „ist das einfach, den Weg zu suchen. Gehst ein Stück, setzt dich auf dein Pferd, und es wird wieder leichter.“ Der Soldat fragt: „Was bis du für einer?“ Peter der Große antwortet: „Ich bin ein Jäger des Zaren.“ „Aha, deswegen sprichst du auch so dreist. Also schön, wenn du ein Jäger bist, ein guter, dann klettre mal auf diesen Baum und sieh dich um, vielleicht ist irgendein Licht zu sehen, dann wollen wir auf dieses Licht zugehen. Ist aber nichts zu sehen, dann müssen wir unter diesem Baum übernachten.“ Der Jäger des Zaren kletterte los (da der Soldat es befiehlt, muß er klettern). Er kletterte hoch. Der Soldat aber denkt: „Der Jäger ist nicht ohne etwas losgeritten, er hat Proviant mitgenommen.“ Und schnell langte er in die Satteltasche. Dort ist zu essen und zu trinken. „Aha, das ist gut! Jetzt will ich mich ein wenig stärken. Kommst du herunter, wirst du nichts merken, und wenn wir übernachten, sollst du mir noch etwas geben.“
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Er trank und aß ein wenig, stillte seinen ersten Hunger – zwei Tage war er umhergestreift und hatte sich von Beeren ernährt –, und es wurde ihm wohler zumute. Peter aber klettert höher. Kletterte bis zum höchsten Wipfel. Der Soldat ruft ihm zu: „Wie ist’s? Ist was zu sehen oder nicht?“ „Ich bin noch nicht ganz oben!“ „Nun, klettre nur schnell weiter“, sagt er. „Wenn ich geklettert wäre, ich wäre schon längst wieder unten!“ Peter der Große kletterte bis zum Gipfel und hält ringsum Ausschau. Sieht irgendwo dort ein Licht brennen. Er sagt zu dem Soldaten: „Da sieh, wie mein Pferd steht, aufs Hinterteil des Pferdes – dort brennt in gerader Richtung irgendwo ein Licht!“ „Nun, so komm herunter, ich habe schon einen Zielpunkt gewählt“, sagt der Soldat. Der Jäger des Zaren kletterte herunter und sagt zu ihm: „Nun los, Soldat, führe nach Soldatenart!“ „Ich werde dich schon führen“, antwortet ihm der Soldat. „Wir machen es nicht so wie ihr – andere anstellen und sich selber drücken! Der Soldat, wenn er sich irrt, wird bestraft, für einen Jäger aber setzt sich der Zar selber ein, mag er sich auch geirrt haben.“ Der Jäger des Zaren antwortete: „Nun, führ nur zu, mach schnell!“ (Er ahnte schon, daß der Soldat in seiner Satteltasche gewesen war.) 734
Sie gehen also. Der Soldat ging voran, der Jäger mit seinem Pferd hinterher. Sie kommen auf eine Lichtung. Da steht ein Haus, mit einem großen Zaun umgeben, so daß das Licht nicht mehr zu sehen ist. Sie stellten sich ans Tor und klopften um Einlaß. Eine Alte kommt heraus, macht ihnen das Tor auf und sagt zu ihnen: „Da sind die Gäste ja selber gekommen!“ Peter der Große hatte nichts bemerkt, dem Soldaten aber kam es irgendwie verdächtig vor, was sie von Gästen gesagt hatte: das Haus steht mitten im Wald, das ist ein guter Platz. Er schweigt und sagt dem Jäger nichts. Die Alte sagt: „Nun, kommt herein, werte Gäste!“ Die Gäste traten ein. Der Soldat sagt: „Großmütterchen, du könntest deinen Gästen etwas zu essen geben!“ „Es ist nichts da, mein Bester. Geht auf den Boden, ruht euch aus, ich will euch etwas zurechtmachen, und dann rufe ich euch.“ Sie ließen ihr Pferd stehen und stiegen auf den Boden. Der Soldat sagt zu Peter dem Großen: „Du, als Jäger des Zaren, bist auf dem Pferd geritten, bist also nicht sehr müde, zieh du jetzt auf Wache und paß auf, ich will mich ausruhen. Hast du eine Stunde gestanden, weckst du mich, dann werde ich Wache stehen.“ Der Jäger des Zaren hielt also Wache, und der Soldat legte sich hin, um auszuruhen. Der Soldat sieht, daß der Jäger des Zaren auf Posten sitzt und träumt (der Soldat schläft nicht), er steht auf. 735
„Nein“, sagt er, „Jäger, so hält man nicht Wache. Wenn du mal beim Zaren Wache gestanden hättest, hättest du’s gelernt. Wir haben auf Wache gestanden und nicht geträumt, sondern die Wachhabenden sind uns immer kontrollieren gekommen, da war es nichts mit Träumen. Du aber brauchst nur eine halbe Stunde zu stehen, und schon fängst du zu träumen an. Leg dich also schlafen, ich will selbst Wache halten!“ Der kaiserliche Jäger gibt ihm seinen Säbel und legt sich schlafen, der Soldat aber paßt sogleich scharf auf und lauscht, was sich tut. Auf einmal wird geklopft. Da kommen drei Kerle geritten. Sie (die Alte) macht ihnen das Tor auf und sagt zu ihnen: „Wir haben schon zwei Gäste, ich habe sie auf den Boden geschickt, sie sollen sich ausruhen.“ „Nun, dann sind diese Gäste schon in unserer Hand“, antworten sie. Und der Soldat hört das alles, weckt aber den Jäger des Zaren nicht. Nach einer Viertelstunde klopft es wieder. Wieder geht die Alte und macht das Tor auf. Jetzt erscheinen schon vier Kerle. Sie erstattet ihnen Meldung: „Wir haben zwei Gäste, sie schlafen auf dem Dachboden.“ „Sollen sie schlafen. Wir essen etwas, dann werden wir uns ihrer annehmen.“ Diese gehen in die Hütte hinein. Sie aßen zu Abend. Die Alte sagt zu ihnen: „Sie haben mich um Essen gebeten. Der eine ist gewiß ein Soldat,
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der andere anscheinend ein Herr. Von dem Herrn steht das Pferd dort.“ „Nun, das ist einfach, sie zu kriegen. Sollen sie noch etwas schlafen!“ Sie aßen. Der Hauptmann sagt: „Nun, klettre auf den Boden, erledige sie!“ Der Soldat aber belauscht das alles. Einer kletterte nun die Leiter hoch. Kaum hatte er den Kopf hereingesteckt, da schlug ihm der Soldat den Kopf ab. Und der Jäger des Zaren schläft und hört nichts. Nach einer Weile sagt der eine: „Was macht er sich dort so lange zu schaffen? Gewiß unterhält er sich mit ihnen oder so etwas. Sieh mal schnell nach!“ Der zweite klettert auf den Boden. Er fertigt ihn genauso ab: der Kopf bleibt auf dem Dachboden, und der Rumpf fällt unter die Leiter. Der Hauptmann schickt den dritten: „Geh du mal! Was schaffen sie nur so lange dort?“ Auch der dritte geht. Er empfängt auch den dritten so. Die Zeit verstreicht, und vom dritten keine Spur. Er schickt den vierten: „Geh schnell, erledigt ihn und kommt dann wieder her!“ Auch der vierte geht. Der Soldat trennt auch dem vierten den Kopf ab. Er schickt den fünften. Der Soldat schlägt auch dem fünften den Kopf ab. Er brüllt dem sechsten zu:
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„Geh du, Wanka, rechne mit ihnen ab! Was machen sie nur dort; haben wohl einen Freund getroffen und sind ins Schwatzen gekommen!“ Auch Wanka rannte los. Der Soldat schlug auch diesem den Kopf ab. Auch der flog herunter. Nun war er allein noch übrig. Er sagt: „Ich will gleich mal gehen! Was sitzen sie solange dort. Als könnten sechs Mann nicht mit zweien fertigwerden!“ Auch dieser kletterte hoch. Und er schlug auch diesem den Kopf herunter, und auch dieser Rumpf fiel unter die Leiter. Und er denkt bei sich: „Jetzt heißt es warten. Heraus können wir nicht, ehe es nicht Tag wird. Und auch den Jäger kann ich nicht wecken, den einfältigen Kerl; mag er noch schlafen, vielleicht ist gar noch einer dort.“ Es wurde schon hell. Er weckte den Jäger des Zaren: „Nun, steh auf, Jäger!“ Der Jäger wacht auf. Er sagt zu ihm: „Zähle mal, wieviel Köpfe hier sind!“ Der fuhr in die Höhe: „Sieben. – Was ist denn los?“ sagt er. „Das ist los“, sagt er, „daß unser beider Köpfe hier lägen, wenn du Posten gestanden hättest und nicht ich!“ Der Zar sagt: „Weil ich ein Jäger bin, lebe ich eben so dahin, und nichts geht mich etwas an. Nun aber hab Dank, Soldat, du wenigstens weißt, was Disziplin ist!“
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„Nun, Jäger des Zaren, jetzt wollen wir nach unten gehen, es ist hell geworden. Es scheint keiner von denen mehr da zu sein, und mit der Alten kommen wir schon zurecht.“ Die Alte aber hatte sich schon umgetan und gesehen, daß alle unter der Leiter liegen. Sie kommen vom Boden herunter und gehen in die Stube. Der Soldat sagt: „Nun los, alter Satan, zeig uns mal deine Schätze! Wieviel Menschen habt ihr hier umgebracht?“ Die Alte sagt: „Niemanden, Väterchen, niemanden!“ Er sagt: „Was heißt ‚niemanden’? Uns hast du ja auch aufgelauert Wir haben dich um etwas zu essen gebeten, aber du hast uns gesagt, daß ,nichts da ist, steigt auf den Dachboden, in einer halben Stunde habe ich etwas zurechtgemacht und rufe euch’. Und wir sind auf dem Dachboden eingeschlafen. Da höre ich, wie es klopft. Du hast das Tor aufgemacht und gesagt: ,Wir haben zwei Gäste hier.’ Sie haben dir geantwortet, daß ,sie schon in unserer Hand sind’. Da war es nichts damit, nach Soldatenart zu schlafen. Ich habe gelauscht. Da schickt der Hauptmann den ersten. Ich habe ihm den Kopf abgeschlagen. Er schickt den zweiten, ich habe auch dem zweiten den Kopf abgeschlagen. Nun, und habe sie bis auf den letzten Mann erledigt. Nun, und jetzt zeig uns, alte Hexe, was du besitzt!“ „Aber nichts, mein Bester, nichts!“ „Was heißt hier ‚nichts’? Auch zu essen nichts?“ 739
„Zu essen werde ich etwas finden.“ „Nun, dann nur zu!“ Sie gab ihnen zu essen, rannte ins Zimmer und kommt mit einem Revolver wieder herausgesprungen. Der Soldat sagt: „Sieh mal einer an, diese alte Hexe! Einen kannst du so umbringen, der andere aber bleibt übrig und wird dich umbringen.“ Holt seinen Revolver heraus und legt auf sie an: „Zeig, was du hast!“ Sie sieht, daß sie nichts machen kann, der Tod aber ist etwas Fürchterliches. So führte sie die beiden und zeigte ihnen, was sie hatte. Sie kommt in den Keller. Da liegt ein Haufen Goldstücke. „Jetzt habe ich euch alles gezeigt, mehr gibt es nicht zu zeigen.“ „Nun, dann zeig uns den Weg, wie wir hier herauskommen!“ „Geht dort diesen Weg, und ihr kommt auf die Poststraße, und dort könnt ihr in jeder Richtung gehen, wie ihr’s braucht.“ Der Soldat sagt: „Nun los, Jäger des Zaren, nimm Geld, soviel du kannst. Wenn wir in die Stadt kommen, werden wir etwas haben, es uns gut sein zu lassen. Und wenn wir auf der Poststraße sind, machen wir ein Zeichen auf dem Weg zur Hütte und sagen’s dem Zaren. Wir führen ihn her und nehmen, was hier übriggeblieben ist!“ Der Soldat nimmt Geld, soviel er kann, alle Taschen voll. Der Jäger aber sagt: 740
„Ich nehme nur ein wenig, für mich langt’s.“ Und sie gingen diesen Weg. Ein wenig waren sie gegangen – da war schon die Poststraße. Der Jäger sagt zum Soldaten: „Nun Soldat, laß dir Zeit, hier am Wege ist ein Wirtshaus. Kehre in dieses Wirtshaus ein, iß und ruh dich aus, ich will dem Zaren sagen, er soll dir ein Zweigespann schicken.“ Der Soldat antwortet: „Wie kann ich dich denn dort erkennen?“ „Wenn du dorthin zum Zaren kommst, werden alle die Mütze abnehmen, ich aber werde die Mütze aufbehalten, dann kannst du mich erkennen.“ Hier gab Peter der Große seinem Pferd die Sporen. Er kommt zu diesem Wirtshaus und sagt dem Wirt: „Paß auf, es wird ein Soldat kommen und hier einkehren, um sich zu stärken; gib ihm ruhig, das Geld bezahle ich.“ Nun, der Wirt wußte, daß es der Zar war, der das befahl. Bis zur Stadt ist es noch weit zu laufen. Der Soldat kehrt in diesem Wirtshaus ein. Dort erwartet man den Soldaten schon. „Was Ihr braucht, was Ihr essen wollt – wir tragen’s sogleich auf.“ Der Soldat sagt: „Die wissen wohl, daß ich viel Geld habe, drum sind sie so gefällig. Nun, dann dies her und das“, verlangte der Soldat.
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Der Soldat trank und aß ordentlich. Greift in die Tasche und hält das Geld hin, der Wirt aber nimmt es nicht. „Warum nimmst du denn kein Geld von mir, Wirt?“ Der Wirt antwortet dem Soldaten: „Ich habe in den Zeitungen gelesen, daß der Zar gesagt hat: einem durchziehenden Soldaten muß überall umsonst gegeben werden, und wir dürfen nicht abändern, was der Zar gesagt hat.“ Der Soldat ging von diesem Wirtshaus weiter nach der Stadt. Unterwegs begegnet ihm ein Zweigespann, und man fragt ihn: „Bist du das, der mit dem Jäger des Zaren zusammengewesen ist?“ „Ja!“ „Nun, dann steig ein, wir fahren dich zu dem Jäger!“ Der Soldat stieg ein. Der Soldat hatte Lust, auch im zweiten Wirtshaus einzukehren. „Komm, Kutscher, ich will in diesem Wirtshaus einkehren!“ „Es sind ja nur noch fünf Werst bis zur Stadt. Wozu noch einkehren?“ Nun, der Kutscher schlug’s nicht ab. Er trank selber eins und gab auch dem Kutscher zu trinken. Der Wirt aber nimmt kein Geld, antwortet, daß von durchziehenden Soldaten kein Geld genommen wird. Er sagt: „Die wissen, daß der Soldat Geld hat, drum haben sie eine solche Anordnung erlassen.“ 742
Nun, der Kutscher trieb die Pferde heftiger, denn er hatte einen Rausch. Der Zar aber hatte zu seiner Begrüßung zwei Regimenter Soldaten aufstellen lassen. Kaum kam er angefahren, rief der Zar: „Mützen ‘runter!“ Alle warfen die Mützen herunter, er aber steht in seiner Mütze da. Und der Soldat meldet sich bei dem, der seine Mütze aufhat, und sagt zu ihm: „Verzeiht, Eure Kaiserliche Majestät, daß ich so grob mit Euch umgegangen bin.“ „Nichts da“, sagt der, „du bist nicht grob gewesen, du hast deine Disziplin gehalten. Wäre nicht deine Disziplin gewesen, dann schliefen wir beide jetzt dort. Aber dem Soldaten hat seine Disziplin herausgeholfen, sie hat dich gerettet und mich. Dafür gebe ich dir den ganzen Platz dort und das Geld, das dort geblieben ist, es gehört alles dir. Und ich werde dir eine große Leibwache geben, und wir bauen ein Schloß an der Stelle, und du wirst dort herrlich und in Freuden leben und ein reicher Mann werden. Und du wirst alle kennen, und alle werden sich vor dir verbeugen!“ Da habt ihr ‘nen Soldaten ohne Furcht und Graus! Und das Märchen ist aus.
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Satirische Alltagsmärchen 64 Das Hühnchen Tataruschka Es lebten einmal ein alter Mann und eine alte Frau: die hatten ein Hühnchen Tataruschka. Das legte ein Ei, schwarz, bunt, rot und blau, sie legten es in der Vorratskammer auf ein gerades Wandbrett auf Stroh. Die Katz’ machte einen Satz, wedelte mit dem Schwanz, stieß ans Brett dabei, schlug das Ei entzwei. Der Alte begann zu weinen, die Alte begann zu greinen; sie heizten die Stube, machten die Türen auf, und die Mühlsteine begannen zu mahlen. Eine Frau geht Wasser holen und sagt zu dem Großväterchen: „Warum weinst du, Großväterchen?“ „Weißt du nichts von meinem Leid, Töchterchen?“ „Was hast du für Leid?“ „Ich hatte ein einziges Hühnchen Tataruschka, es legte mir ein Ei, schwarz, bunt, rot und blau; die Katz’ machte einen Satz, wedelte mit dem Schwanz, stieß ans Brett dabei, schlug das Ei entzwei; da fing ich an zu weinen, die Alte fing an zu greinen, wir haben die Stube geheizt, die Türen aufgemacht, und die Mühlsteine begannen zu mahlen.“
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Die Frau begann vor Kummer ihre Eimer zu zerschlagen. Kommt der Küster und fragt: „Warum weinst du, Großväterchen?“ „Weißt du nichts von meinem großen Leid?“ „Was hast du für großes Leid?“ „Ich hatte doch ein einziges Hühnchen Tataruschka, es legte mir ein Ei, schwarz, bunt, rot und blau; die Katz’ machte einen Satz, wedelte mit dem Schwanz, stieß ans Brett dabei, schlug ein Ei entzwei; ich fing an zu weinen, die Alte fing an zu greinen, wir haben die Stube geheizt, die Türen aufgemacht, und die Mühlsteine begannen zu mahlen; die Frau ist gekommen, Wasser zu holen, und hat angefangen ihre Eimer zu zerschlagen.“ Der Küster rannte davon und fing an, wegen des Großväterchens Kummer die Glocke zu schlagen. Kommt der Diakon gerannt. „Was machst du da, du Dummkopf, warum schlägst du die Glocke?“ Der Küster sagt: „Du kennst unser großes Leid nicht: das Großväterchen hier hat ein einziges Hühnchen Tataruschka gehabt, es legte ein Ei, schwarz, bunt, rot und blau; die Katz’ machte einen Satz, wedelte mit dem Schwanz, stieß ans Brett dabei, schlug das Ei entzwei, der Alte fing an zu weinen, die Alte fing an zu greinen, sie haben die Stube geheizt, die Türen aufgemacht, und die Mühlsteine begannen zu mahlen; die Frau ist Wasser holen gekommen, hat angefangen ihre Eimer zu zerschlagen, und ich schlage die Glocke!“ 745
Und der Diakon sagt: „Ich will wegen des Großväterchens Kummer alle Bücher zerreißen!“ Kommt der Pope, geht zum Küster. „Was machst du da, Küster?“ „Väterchen, sag nichts, sei still, – du weißt nichts von unserem großen Leid. Das Großväterchen hatte ein einziges Hühnchen Tataruschka, das legte ein Ei, schwarz, bunt, rot und blau; die Katz’ machte einen Satz, wedelte mit dem Schwanz, stieß ans Brett dabei, schlug das Ei entzwei; der Alte fing an zu weinen, die Alte fing an zu greinen, sie haben die Stube geheizt, die Türen aufgemacht, und die Mühlsteine begannen zu mahlen; die Frau ist Wasser holen gekommen und fing an ihre Eimer zu zerschlagen, ich schlage die Glocke, und der Vater Diakon zerreißt seine Bücher!“ Da fing der Pope an sie zu prügeln, was das Zeug hielt, den Küster mit einem Eichenknüppel, den Diakon mit einem aus Ulmenholz. – Das Märchen ist aus!
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65 Das besprochene Wasser Wie ist’s, meine Lieben, wird bei euch in der Stadt auch Wasser besprochen? Habt ihr davon gehört oder nicht? Besprochenes Wasser heißt es, und es ist wer weiß wie heilkräftig, dieses liebe Wässerchen! Hilft gegen alles. Halt mal, warte – ich brauche nicht weit zu gehen, von mir selber kann ich erzählen, wie mir dieses Wasser geholfen hat… Und wie es geholfen hat!… Besser kann es gar nicht sein. Hört also, wie die Sache gewesen ist… Ich hatte mit meinem Alten von Jugend an in bester Eintracht gelebt… Wie er aber nun ins Alter kam, passierte doch etwas Schlimmes mit ihm: er wurde ein so widerspenstiger alter Querkopf, Gott bewahre mich. Du sagst ihm dies, und er dir das… Du gibst ihm ein Wort, und er dir zwei… Nun, und ich, meine Besten, war keine von den Schüchternen: er mir zwei… ich fünf… er fünf… und ich zehn… Und so war bei uns manchmal ein Sturm, daß es selbst die Heiligen aus der Stube fegen konnte… Und wenn wir anfingen, der Sache auf den Grund zu gehen – keiner war schuld! „Woher kommt das bloß bei uns. Alte?“ – „Das bist doch immer du, du Zankteufel, querköpfiger… immer du!“ – „Nun hör aber auf! Ich!?? Und du?! Mit deiner bösen Zunge…“ – „Nicht ich, du bist’s!“ – „Du,
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und nicht ich!“ Und nun ging es wieder von vorne los, daß es in allen Ecken nur so krachte. Und es war so weit gekommen, meine Lieben, daß der Alte morgens nur seine Beine vom Ofen herunterzuhängen brauchte, und es ging los… und ging los, daß es zum Davonlaufen war. Ja, Gott sei Dank – ein altes Weiblein hat mich auf das Richtige gebracht… Eine Tagelöhnersfrau, sie wohnte nur drei Häuser weiter… Die hörte das, hörte’s und sagt: „Liebe Maremja, was hast du mit deinem Alten immer Zank und Streit? Du solltest einmal zu dem Einsiedler auf den Berg gehen, Mütterchen! – Der Einsiedler bespricht Wasser… hilft so den Menschen… Vielleicht kann er auch dir helfen!“ „Ja, wirklich“, denke ich, „ich will mal hingehen, mir kann keiner helfen, wenn nicht der liebe Gott.“ Ich ging also zu diesem alten Einsiedler. Komme hin – da steht mutterseelenallein ein kleines Hüttchen. Ich klopfe ans Fenster, und der Einsiedler kam heraus. So ein kleiner… verhutzelt, mit einem kleinen spitzen Bärtchen… „Was willst du, Magd Gottes?“ sagt er. „Ach, Väterchen“, sage ich, „hilf mir!… Mein Alter und ich zanken uns immer…“ „Warte ein Weilchen“, sagt er. Und, was meint ihr, meine Lieben, er brachte mir in einer Schöpfkelle etwas Wasser heraus und flüsterte vor mir darauf… Ich will mich nicht von der Stelle rühren können, ich lüge nicht… Er
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schlug ein Kreuz darüber, goß das Wasser in ein Fläschchen und sagt: „Hier, Magd Gottes, wenn du nach Hause kommst und dein Alter zu brummen anfängt, dann nimm etwas von dem Wasser in den Mund, spuck’s aber nicht aus und verschluck’s auch nicht, sondern behalte’s mit einem Gebet zum Herrn Jesus im Mund, bis er sich beruhigt hat… Alles wird aufs beste gehen…“ Ich verbeugte mich vor dem alten Einsiedler, nahm das Fläschchen und machte mich auf nach Hause. Kaum habe ich diesen Fuß hier über die Schwelle gesetzt, da ist mein Alter wie aus dem Häuschen… Er war nämlich, mein Seliger, ganz versessen auf Tee… Man brauchte es nur um eine Minute mit dem Samowar verpassen… und ich hatte mich bei dem Einsiedler ganz ordentlich verspätet… Er also vom Ofen herunter: „Och, dieses Weibervolk, diese verfluchten Klatschweiber!… Gehen fort und sind wie vom Erdboden verschwunden…“ Ich aber, meine Besten, nahm etwas Wasser in den Mund und – wie’s der Einsiedler gesagt hatte – spucke es nicht aus, schluckte es nicht hinter, sondern behalte es mit einem Gebet zum Herrn Jesus im Mund… Und richtig – mein Alter wurde still! Dem Himmel sei Dank – so heilkräftig ist das Wasser. Ich steckte das Fläschchen hinter die Gottesmutter und machte mich an den Samowar, da fällt mir doch das Röhrchen herunter… Meinem Alten sprangen fast die Augen aus dem Kopf… er ist ganz außer sich: 749
„Ach, du Unglücksweib… dir haben sie die Arme verkehrt eingesetzt…“ Ich aber schnell wieder zum Wasser… nahm etwas in den Mund… behalte es drin… und mein Alter wurde still… Und was soll ich sagen, meine Lieben, es zog Ruhe und Frieden bei uns ein und Gottes Segen!… Er will schimpfen, und ich nehme mein Wasser… Ja, dem Himmel sei Dank! Alles ging, wie es im Buche steht. Das also macht dieses Wasser, meine Besten. Mein Alter aber, mein Seliger, war einen Klafter breit in den Schultern und fürchterlich groß… Hier den Querbalken über der Tür hätte er mit der Stirn herausgestoßen… Und so ein kleines Schlückchen hat ein solches Ungeheuer gezähmt… Da sieht man, was für eine Kraft dieses besprochene Wasser hat…“
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66 Der Topf Du sagst, die Leute bei uns sind faul… Da hör einmal, was bei uns so vorkommt. So faules Volk kannst du suchen und nochmal suchen. Sind nur darauf aus, die Arbeit auf fremde Schultern abzuwälzen – nur nichts selber machen… So faul sind sie… und so faul waren sie im ganzen Kreis… Nicht einmal die Haustür sperrten sie mit dem Haken zu: „Hol der und jener den Haken! Steht man morgens auf, heißt es die Hände ausstrecken und ihn wieder aushaken… Wir leben auch so…“ So eine kochte einmal Brei. Und der Brei war gut geraten! Braun und locker, die Körnchen fielen nur so auseinander. Die Frau holte den Brei aus dem Ofen, stellte ihn auf den Tisch, goß Butter drauf; sie aßen den Brei und leckten sich die Lippen. Im Topf aber war so an der Seite und am Boden etwas Brei angebacken, der Topf mußte ausgewaschen werden. Die Frau sagt zum Mann: „Nun, Mann, ich habe das meine getan, hab den Brei gekocht, den Topf auswaschen ist deine Sache!“ „Nun hör aber auf! Ist Aufwaschen etwa Männersache? Wasch ihn nur selber aus!“ „Ich denke nicht daran!’ „Ich auch nicht!“ 751
„Wenn du’s nicht machst, mag er so stehen bleiben!“ Sprach’s, schob den Topf auf die Herdplatte und legte sich auf die Ofenbank. Der Topf steht unaufgewaschen da. „Frau, Frau! Der Topf steht doch noch unaufgewaschen da!“ „Wer an der Reihe ist, der soll ihn aufwaschen, ich mach’s nicht!“ Der Topf blieb bis zur Nacht stehen. Der Mann will sich schlafen legen, klettert auf den Ofen, aber der Topf steht noch immer da. „Frau, Frau! Der Topf muß ausgewaschen werden!“ Die Frau legte los wie ein Sturmgewitter: „Ich hab’s gesagt – das ist deine Sache, du mußt ihn aufwaschen!“ „Nun hör zu, Frau! Vorrede ist besser als Nachrede: wer morgen zuerst aufsteht und das erste Wort sagt, der soll auch den Topf auswaschen.“ „Schön, klettre auf deinen Ofen, wir werden ja sehen!“ Sie legten sich hin. Der Mann auf den Ofen, die Frau auf die Ofenbank. Die dunkle Nacht kam. Am Morgen steht keiner auf. Er rührt sich nicht, sie rührt sich auch nicht – keiner will den Topf auswaschen. Die Frau müßte die Kuh tränken, melken und auf die Weide treiben, doch sie rührt sich nicht von ihrer Bank. Die Nachbarinnen hatten ihre Kühe auf die Weide getrieben. „Du lieber Gott! Malania ist ja gar nicht zu sehen. Ob jemand krank ist?“ 752
„Ach, sie ist schon manchmal zu spät gekommen. Gehen wir zurück, vielleicht treffen wir sie.“ Sie gehen zurück – von Malania keine Spur. „Nein, aber wirklich! Sicher ist etwas passiert!“ Die nächste Nachbarin guckte in die Stube. Da hat man’s! Nicht einmal die Tür ist zugesperrt. Irgend etwas stimmt nicht. Sie ging hinein und bekreuzigte sich. „Malania, Mütterchen!“ Doch die Frau liegt auf der Ofenbank, hat die Augen aufgerissen, rührt sich aber nicht. „Warum hast du deine Kuh nicht auf die Weide getrieben? Bist du krank?“ Die Frau schweigt. „Ja, was ist denn mit dir los? Warum sagst du nichts?“ Die Frau ist stumm wie eine Tote. „Herr, erbarme dich! Wo ist denn dein Mann! Wassili, he, Wassili!“ Sie sah auf den Ofen, da liegt Wassili, die Augen offen, und rührt sich nicht. „Was ist mit deiner Frau? Ist sie krank?“ Der Mann schweigt, als hätte er Wasser im Mund. Es hatte doch, verstehst du wohl, keiner Lust, den Topf auszuwaschen, keiner will das erste Wort sagen. Die Nachbarin wurde ganz aufgeregt. „Gott behüte, sind sie vielleicht behext? Ich will doch gehen und es den Frauen sagen.“ Sie rannte durchs Dorf. „Ach, Frauen! Bei Malania und Wassili stimmt etwas nicht. Geht nur hin und seht’s euch an – sie 753
liegen und rühren sich nicht, sie auf der Ofenbank und er auf dem Ofen. Mit den Augen sehen sie umher, sprechen aber kein Wort. Ob sie behext worden sind?“ Die Frauen kamen gelaufen, fast alle versammelten sich und lamentieren um Malania und Wassili herum: „Mütterchen! Was ist nur mit euch los? Malania! Wassili! Malania! Warum sagt ihr nichts? Was ist passiert?“ Beide schweigen und schweigen wie zwei Tote. „Lauft doch zum Popen, Frauen! Er muß sie gesund beten. Die Sache sieht ja schlimm aus!“ Einige rannten los. Der Pope kam. „Was gibt’s. Rechtgläubige?“ „Sieh nur, Väterchen, irgend etwas ist passiert. Beide liegen da, rühren sich nicht, haben die Augen offen, bringen aber kein Wort über die Lippen. Ob sie behext sind? Müssen sie nicht gesundgebetet werden?“ Der Pope strich seinen Bart und ging zum Ofen. „Wassili, Knecht Gottes! Was ist passiert?“ Der Mann bleibt stumm. Der Pope geht zur Ofenbank. „Magd Gottes! Was ist mit deinem Mann?“ Die Frau bleibt stumm. „Müßte nicht das Sterbegebet gesprochen werden? Sollen wir nicht nach dem Sarg schicken?“ Beide sind stumm wie Tote. Die Frauen nun hatten lamentiert und lamentiert und sich davongemacht. Das lohnte sich ja nicht – eine mußte
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den Ofen heizen, eine die Kinder füttern, die hatte Kücken, jene hatte Ferkel: Der Pope aber sagt: „Nun, Rechtgläubige, sie so alleinzulassen ist gefährlich. Es muß schon jemand dabeibleiben.“ Die hat zu tun, jene hat zu tun, und die dritte hat keine Zeit. „Soll doch Stepanida dableiben, bei der weinen keine Kinder, sie ist allein!“ Diese Stepanida aber stemmt die Hand in die Hüfte und verneigt sich: „Nur, heutzutage, Väterchen, arbeitet niemand umsonst; setzt mir ein Gehalt aus, dann will ich hierbleiben.“ „Ja, was soll ich dir denn für ein Gehalt aussetzen?“ fragt der Pope und ließ die Augen durch die Stube schweifen. An der Tür aber hängt an der Wand Malanias alte zerrissene Jacke, die Watte hängt in Fetzen herunter. „Dort“, sagt der Pope, „nimm die Jacke. Schlecht hin, schlecht her – um die Beine zuzudecken, taugt sie noch immer!“ Nun, meine Besten, kaum hatte der Pope das gesagt, da sprang die Frau von der Bank, als hätte man sie mit kochendem Wasser übergossen, stellte sich mitten in die Stube und stemmte die Hände in die Seiten: „Was soll denn das heißen“, sagt sie, „das gehört schließlich mir, und ich bin noch nicht am Sterben! Ich kann sie noch selber tragen, und wenn ich sie aus meinen warmen Händen lasse, dann kriegt sie der, dem ich sie gebe!“
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Alle waren erstarrt. Der Mann aber ließ vorsichtig die Beine vom Ofen herunterbaumeln, beugte sich herab und sagt: „Na also, Frau, du hast das erste Wort gesagt, du mußt auch den Topf auswaschen.“ Da spie der Pope aus und ging seines Wegs. Da seht ihr, meine Lieben, was für Leute es auf der weiten Welt gibt. Und nirgends solche wie hier um Ustjushnaja.
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67 Das zanksüchtige Weib Ein Mann hatte eine Frau, die war so zanksüchtig, daß sie ihm immer widersprach. Sagte er zum Beispiel „Bart scheren!“ schon schrie sie unbedingt „Haare schneiden!“ Jeden Tag hatten sie Zank miteinander! Der Mann bekam die Frau über, und so begann er nachzudenken, wie er sie loswerden könnte. Sie kommen einmal an einen Fluß, und statt einer Brücke liegt ein Brett über dem Wehr. Warte, denkt er, jetzt muß sie dran glauben. Kaum hatte sie die ersten Schritte auf dem Brett gemacht, sagt er: „Paß auf, Frau, wackle nicht, sonst ertrinkst du!“ – „Nun werde ich gerade wackeln!“ Sie wackelte und wackelte, und plumps war sie ins Wasser gefallen. Dem Manne tat seine Frau leid: er stieg ins Wasser, begann sie zu suchen, und geht im Wasser flußaufwärts. „Was suchst du hier?“ sagen die vorübergehenden Bauern zu ihm. „Meine Frau ist ertrunken, hier von dem Brett ist sie heruntergefallen!“ – „Dummkopf, Dummkopf! Flußabwärts hättest du gehen müssen, nicht aufwärts; jetzt hat es sie sicher schon davongetragen!“ „Ach, Brüder seid still; sie hat mir immer alles zum Trotz gemacht, bestimmt ist sie auch jetzt gegen den Strom geschwommen.“
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68 Das geschwätzige Weib Es lebten einmal ein Mann und eine Frau. Die Frau war furchtbar schwatzsüchtig, immer hatte sie etwas zu plappern. Er ging in den Wald, fand dort einen Schatz und fürchtet sich, es seiner Alten zu erzählen: die plappert es allen aus. Schließlich sagt er zu seiner Frau: „Frau, ich habe einen Schatz gefunden. Nur sag es niemandem sonst setzt es für mich und für dich etwas von unserem Herrn!“ „Nein“, sagt sie, „ich werde niemandem etwas sagen.“ In der Nacht nahmen sie einen Spaten und gingen, den Schatz ausgraben. Sie kamen hinaus aufs Feld. Die Frau hebt einen Pfannkuchen auf. „Mann! Was ist denn das?“ „Halt den Mund! Heute hat es Pfannkuchen und Piroggen geregnet.“ Sie gehen weiter. Nun mußten sie eine Brücke überqueren; sie gehen über die Brücke. Im Fluß windet sich ein Hase im Fischnetz. Sie fragt ihn: „Mann, was ist das?“ „Die Fischer unseres Herrn haben im Fluß einen Hasen gefangen!“ Sie gehen weiter. In einem Fuchseisen auf dem Felde windet sich ein Hecht. 758
„Mann, was ist das?“ „Die Jäger unseres Herrn haben einen Hecht im Fuchseisen gefangen!“ Sie gehen weiter und kommen zum Wald; dort meckerte ein Ziegenbock. „Mann, was ist das?“ „Die Teufel scheren unserem Herrn im Walde den Bart!“ Er hatte das aber alles nur so gemacht, um sie hinters Licht zu führen. Sie kamen an die Stelle, gruben den Schatz aus, trugen ihn nach Hause und legten ihn unter den Ofen. Von nun an führten sie ein schönes Leben. Die Nachbarn fingen an zu fragen, woher sie so reich geworden wären. Da verplapperte sie sich, daß sie einen Schatz gefunden hatten. Der Vogt erfuhr davon und erzählte’s dem Herrn. Der Bauer erfuhr, daß der Herr weiß, daß er einen Schatz gefunden hat, holte den Schatz unter dem Ofen hervor und versteckte ihn im Keller. Nun läßt der Herr ihn rufen und fragt: „Du hast einen Schatz gefunden? Deine Frau erzählt, daß du einen gefunden hast!“ Er sagt: „Sie ist nicht ganz bei Troste; geruht nur sie zu rufen und sie zu fragen.“ Der Herr befahl, die Frau zu rufen. Sie kam. Der Herr fragt: „Ist es wahr, daß dein Mann einen Schatz gefunden hat?“ „Die reine Wahrheit, Väterchen!“ „Wo hat er ihn denn?“ 759
„Zuerst hat er in einer Schüssel unter dem Ofen gelegen, aber jetzt weiß ich nicht, wo er ist.“ „Wann hat er ihn denn gefunden?“ „Erinnert Euch nur, Herr, als es Pfannkuchen und Piroggen geregnet hat!“ Der Herr denkt: „Vielleicht ist sie wirklich nicht ganz bei Troste?“ „Erinnert Euch doch, als Eure Fischer im Fluß den Hasen gefangen haben!“ Der Herr schweigt und sieht sie nur immer an. „Erinnert Euch doch, als Eure Jäger den Fisch im Fuchseisen gefangen haben!“ „Was erzählst du da für Unsinn?“ „Ja, erinnern sich Euer Gnaden nicht, wie die Teufel im Walde Euer Gnaden den Bart geschoren haben?“ Der Herr wurde böse auf sie und ließ sie auspeitschen. Und von der Zeit an war der Mann mit seiner Frau zufrieden.
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69 Lutonjuschka14 Es lebten einmal ein Mann und eine Frau, die hatten ein Söhnchen Lutonja. Einmal nun hatten der Mann und Lutonja auf dem Hofe etwas zu tun, die Alte aber war im Haus. Sie nahm ein Scheit vom Holzstoß, es fiel ihr aus der Hand und gerade auf den Reisighaufen vor dem Ofen; da fing sie an laut zu schreien und zu jammern. Der Alte hörte das Geschrei, kam eilig ins Haus gerannt und fragte die Alte, warum sie schreit. Die Alte sagte zu ihm unter Tränen: „Denk nur, wenn wir unseren Lutonja verheiratet hätten, und wenn er ein Söhnchen hätte, und wenn das gerade hier auf dem Reisig gesessen hätte – ich hätte es ja mit dem Scheit hier erschlagen!“ Da jammerte der Alte mit ihr zusammen und sagte: „Ja freilich. Alte! Du hättest es erschlagen!…“ Beide schreien, was das Zeug hält. Da kommt Lutonja vom Hof gelaufen und fragt: „Warum schreit ihr so?“ Sie sagten warum: 14
Der Name Lutonjuschka enthält eine Anspielung auf ein Wort, das etwa als „der Findige“ wiedergegeben werden kann. (Anm. d. Übers.)
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„Wenn wir dich verheiratet hätten, und du ein Söhnchen hättest, und wenn das gerade hier gesessen hätte, dann hätte die Alte es mit dem Holzscheit erschlagen: es ist gerade hierhin gefallen, und wie!“ „Nun“, sagte Lutonja, „dann prost Mahlzeit!“ Darauf nahm er seine Mütze in beide Hände und sagt: „Lebt wohl! Wenn ich jemanden finde, der dümmer ist als ihr, dann komme ich zu euch zurück, wenn aber nicht, dann braucht ihr nicht auf mich zu warten!“ Und ging fort. Ging, ging und sieht: Bauern zerren eine Kuh auf ein Haus hinauf. „Warum zerrt ihr die Kuh hinauf?“ fragte Lutonja. Sie sagten zu ihm: „Sieh doch, wieviel Gras dort gewachsen ist!“ „Ach, ihr Erznarren!“ sagte Lutonja, kletterte kurzerhand auf das Haus, rupfte das Gras und warf es der Kuh vor. Die Bauern waren fürchterlich verwundert hierüber und baten Lutonja, er solle bei ihnen bleiben und sie unterweisen. „Nein“, sagte Lutonja, „ich habe noch viel solche Dummköpfe auf der weiten Welt!“ Und zog weiter. In einem Dorf sah er einen Haufen Bauern an einem Haus: die hatten ein Kumt ans Tor gebunden und trieben mit Stöcken ein Pferd in dieses Kumt hinein, quälten es halb zu Tode. „Was macht ihr hier?“ fragte Lutonja.
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„Sieh nur, Väterchen, wir wollen das Pferd anschirren.“ „Ach, ihr Erznarren! Laßt mich mal machen!“ Er legte dem Pferd kurzerhand das Kumt an. Auch diese Bauern waren über ihn höchst verwundert, hielten ihn fest und baten ihn inständig, er solle wenigstens für eine kurze Woche bei ihnen bleiben. Nein, Lutonja zog weiter. Er ging, ging, wurde müde und kehrte in einem Gasthaus ein. Dort sah er: die Wirtin hatte Mehlbrei gekocht, ihn ihren Kindern auf den Tisch gestellt, geht aber selber in einem fort mit dem Löffel nach Sahne in den Keller. „Warum reißt du für nichts und wieder nichts deine Bastschuhe herunter, Alte?“ sagte Lutonja. „Was heißt warum?“ wandte die Alte mit heiserer Stimme ein. „Du siehst doch, Väterchen, der Mehlbrei steht auf dem Tisch, die Sahne aber ist im Keller!“ „Du solltest die Sahne ganz einfach hierher bringen. Alte, und die Sache ginge wie geschmiert!“ „Na aber natürlich, mein Bester!“ Sie brachte die Sahne in die Stube und setzte Lutonja neben sich. Lutonja aß sich satt, kletterte auf den Hängeboden und schlief ein. Wenn er wieder munter wird, geht auch mein Märchen weiter, für jetzt ist es erst einmal aus.
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70 Mikola Duplenski Ein Bauer liebte die Jagd, und seine Frau liebte den Diakon; er merkte’s und sagte: „Frau, ich habe im Walde einen Mikola Duplenski15 gefunden, worum man ihn bittet, das gibt er einem.“ Zum nächsten Tag hatte die Frau Kuchen und Brötchen gebacken und ging auf einem weiten Umweg in den Wald; ihr Mann aber ging den geraden Weg; dort stand ein großer Baum – er kletterte in den hohlen Stamm. Sie kam und begann zu beten: „Mikola Duplenski, wenn doch mein Mann taub würde!“ Und ihr Mann im Baum: „Lege Brötchen und Kuchen hierher! Wenn du nach Hause kommst, ist er taub.“ Die Frau legte die Sachen hin und ging nach Hause, wieder auf dem Umweg; der Bauer ging den geraden Weg und kletterte auf den Hängebogen. Die Frau kam – er ist auf dem Hängeboden. Sie fing irgend etwas zu reden an. „Was sagst du, Frau? Ich höre nichts!“ 15
Ein auf wunderbare Weise „in einem hohlen Baumstamm“ erschienenes Heiligenbild „Mikolas“ des Wundertäters. (Anm. d. Übers.: „Duplenski“ von duplo, „hohle Stelle im Baumstamm“ abgeleitet.)
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„Bleib nur immer liegen, wenn du nichts hörst, hast ja, was du brauchst!“ Zum nächsten Tag buk sie wieder Brötchen und Kuchen und zog wieder auf dem Umweg los, ihr Mann aber auf dem geraden Weg und kletterte in den hohlen Stamm. Die Frau kam und begann wieder zu beten: „Mikola Duplenski, wenn doch mein Mann blind würde!“ „Leg Brötchen und Kuchen her! Wenn du nach Hause kommst, ist er blind.“ Die Frau legte die Sachen hin. Der Mann nahm Brötchen und Kuchen, ging geradenwegs nach Hause und kletterte auf den Hängeboden. Die Frau kam, er sagt: „Frau, wie kommt es, daß ich heute nichts höre und sehe?“ „Bleib nur immer liegen, wenn du nichts hörst und siehst, hast ja, was du brauchst!“ Nun, und jetzt lud sie den Diakon ein; kochte fleißig, buk Pfannkuchen, holte Wein – und bewirtete ihn. „Diakon“, sagt sie, „iß die Pfannkuchen schön langsam – du erstickst sonst!“ Und ihr Mann auf dem Hängeboden: „Frau, gib mir mal mein Gewehr! Wenn ich’s ansehe, ist mir nicht mehr so langweilig.“ Sie gab’s ihm. Der Wein ging ihr aus – es war zu wenig; sie rannte fort. Wein zu holen. Der Bauer zielte auf den Diakon – bautz! Der Diakon fiel vom Stuhl. Er kletterte herunter, schnell zum Tisch, besah ihn 765
sich – und setzte ihn hin; stopfte ihm den Mund voller Pfannkuchen und kletterte wieder auf den Hängeboden. Der sitzt da und hat sein großes Maul offen! Die Frau kam: „Was ist dir, Diakon! Ich habe dir doch gleich gesagt: iß die Pfannkuchen schön langsam, du erstickst sonst – nun ist er erstickt!“ Der Bauer sprang vom Hängeboden herunter und begann seine Frau zu verprügeln: prügelte sie mit dem Riemen und was ihm in die Hände kam… Den Diakon packte er – trug ihn zum Popen… die Arme zwängte er ihm in den Ring am Tor und band einen Strick an den Ring; dann stellte er sich in einen Winkel und zog an dem Strick, um Einlaß zu klopfen; der Pope kam heraus: „Welcher Christenmensch ist da?“ Er schweigt. Der Pope ging weg, machte das Tor nicht auf. Der Jäger zieht wieder am Strick – klopft wieder um Einlaß… Der Pope kam mit einem Buch heraus: las und las, machte das Tor auf, und der Diakon fiel dem Popen zu Füßen. Der Bauer kam hervorgesprungen: „Du hast den Diakon umgebracht!“ „Hier hast du hundert Rubel und schaff ihn fort, sag niemandem etwas!“ Der Bauer packte den Diakon und trug ihn ans Ufer; Bauern fischen gerade mit Netzen, und er trug ihn etwas höher flußaufwärts. Fand ein Boot, setzte den Diakon in das Boot und schob ihm das Ruder unters Hemd… Der Diakon zieht das Ruder, die Bauern schreien: „Diakon fahre nicht in die Netze…“ 766
Der Diakon mitten in die Netze hinein… Die Bauern fluchen gottsjämmerlich, aber der Diakon fährt mitten in die Netze hinein… Ein Bauer setzte sich in ein Boot und fuhr los. Wie er den Diakon mit dem Ruder auf die Backe schlägt, fällt der gleich ins Wasser… Unser Bauer kam hervorgesprungen: „Was hast du gemacht“, sagt er, „hast den Diakon ertränkt!“ „Hier hast du zweihundert Rubel, aber sag’s niemandem!“ So hatte der Bauer dreihundert Rubel verdient und ging heim zu seiner Frau. Und von nun an lebte er herrlich und in Freuden. Sie sind noch heute am Leben und werden uns überleben.
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71 Die Alte Es lebten einmal ein alter Mann und eine alte Frau. Sie konnten nichts, und so hatten sie auch nichts. Die Alte sitzt da und sagt: „Alter, ich habe etwas ausgedacht! Die anderen gehen waschen und helfen Kinder zur Welt bringen, aber ich tauge zu nichts etwas!“ – „Was ist denn mit dir los. Alte?“ – „Ich habe etwas ausgedacht, weiß nicht, ob es dir gefällt oder nicht.“ – „Nun, ob mir’s nun gefällt oder nicht – ich werde doch zuhören.“ – „Jetzt kommt ein Feiertag – ein Sonntag; wir wollen Piroggen backen, einen Hammel schlachten. Schnaps holen und die jungen Burschen einladen – ihnen zu trinken und zu essen geben!“ Das machten sie auch. Buken Piroggen, holten Schnaps und luden die jungen Burschen ein. Sie hatten getrunken und gegessen und fingen an Musik zu machen. „Burschen, setzt euch in einen Kreis, ich will euch was erzählen! Spielt nur immer zu, aber geht und haltet die Augen offen, wo bei jemandem etwas schlecht verwahrt ist! Einer soll spielen und lustig sein, die anderen aber nehmen und verstecken! Dann kommt ihr und sagt es mir, und ich werde wahrsagen. Und ich werde Geld von den Bestohlenen nehmen, und wir können wieder Schnaps trinken!“ Das war so recht nach dem Geschmack der Burschen. Sie hatten schön 768
getrunken und gegessen, aber sie wollten noch mehr. „Was denn“, sagen sie, „es ist doch nicht so schlimm, sie nehmen’s ja nicht ganz weg!“ So ziehen sie also durchs Dorf und singen Lieder, sie lassen aber Säcke mitgehen. Sie kommen hin. „Nun, Großmütterchen, wir haben sieben Säcke gestohlen und zwei Kummete!“ – „Und wohin habt ihr sie gelegt?“ – „Dort in das Brachfeld!“ Am Morgen nun erhoben die Weiber ein Geschrei, und die Männer waren ganz aus dem Häuschen: „Nein so etwas, ein Diebstahl – Säcke sind gestohlen worden!“ Da kommen die Burschen: „Was ist los?“ – „Seht nur, Burschen, jemand hat gestohlen!“ – „Wißt ihr, daß hier die alte Salmoneja ist? Die sagt heimlich wahr und zaubert ein bißchen!“ – „Ist das wirklich wahr?“ – „Wirklich wahr! Ich habe sie wegen meiner Braut wahrsagen lassen, es ist haargenau eingetroffen!“ Da rennt der Bauer ins Haus. „Frau, geh mal zur Salmoneja, sie soll gut wahrsagen!“ Die nahm ihr Kind und rannte los. „Bei uns haben sie die Kummete mit den Beschlägen gestohlen und sieben Sack dazu!“ – „Ach, Kindchen, ich habe keine Lust wahrzusagen!“ – „Ach, Großmütterchen, tu’s nur, ich zahl dir auch für die Mühe!“ – „Nun, drei Rubel und ein Pud Getreide, dann will ich dir’s sagen und nicht lügen!“ – „Wenn wir’s nur finden, dann soll mir nichts zu teuer sein!“ Sie goß Wasser in eine Schüssel, geht hin und her, sieht immer darauf und sagt: „Eure Säcke und Kummete liegen in diesem Brachfeld!“ Die Bäuerin rannte nach Hause: „Großmütterchen 769
Salmoneja sagt, unsere Säcke liegen unversehrt dort und dort!“ Der Bauer rannte hin, alle sind unversehrt, liegen noch da. Er kommt gerannt, das Pferd holen. „Es ist wahr, sie hat’s richtig gesagt! Nun, Frau, halt den Mund, erzähle niemandem etwas!“ Er holte die Säcke zurück und brachte ihr ein Pud Mehl und drei Rubel. Die jungen Kerle kommen am anderen Sonntag wieder, trinken und haben auch etwas Schönes zu essen. Sie singen und spielen, tanzen und führen nichts im Schilde. Ein Bauernlümmel band sein Pferd vorn am Hause an, die aber zogen’s weg und führten’s in den Wald. Später rennt der hin und her, das Pferd ist fort. Das tat dem leid, bei dem sie schon gestohlen hatten – er kam gerannt und erzählte: „Iwan, Iwan, ich habe dort wahrsagen lassen. Ach, wie gut Großmütterchen Salmonida wahrsagt.“ Der Bauer rennt gleich zu diesem Großmütterchen Salmonida. Kommt hin. „Großmütterchen Salmonida, kennst du schon mein ganzes Unglück?“ – „Ich weiß, ich weiß, habe davon gehört!“ „Hilf!“ – „Ja, ich kann helfen!“ – „Was willst du von mir haben?“ – „Einen Hammel!“ – „Ach, wenn ich nur das Pferd finde, um einen Hammel ist mir’s nicht leid, ich lege noch für einen Schnaps drauf!“ Sie gießt Wasser in die Schüssel, geht im Kreis herum und sieht auf die Schüssel. Sie sagt: „Sie wollen das Pferd dir stehlen, und kriegen sich an die Kehlen – du wirst sie gleich erwischen!“ Er 770
rennt dorthin, dort waren aber Schafhirten auf der Weide, die rannten ihren Schafen nach, er aber dachte, sie rennen zu seinem Pferd. Kam hin, sein Pferd steht angebunden da. Er band das Pferd los und ritt heim. „Ach, Frau, das ist eine Wahrsagerin! Wie kommt’s, daß wir nichts von ihr wußten?“ – „Ja, eine Wahrsagerin, ich habe so etwas läuten hören, daß sie heimlich zaubert.“ „Ja, Frau, man darf nicht allen die Wahrheit sagen – sie könnten sie ja erschlagen!“ Die Alte wurde eine große Wahrsagerin und wurde in allen Gouvernements berühmt. Einmal nun wurde beim Zaren gestohlen. Da sagen die Leute: „Diese Alte wahrsagt doch!“ Sogleich ließ der Zar das Pferd einspannen und schickt den Kutscher nach ihr. Sein Geld aber hatten das Stubenmädchen und der Lakai fortgeschafft, dazu der Koch. Und sie hatten’s kurzerhand im Pferdestall versteckt. Sie kommt zum Zaren. „Wie steht’s. Alte, bürgst du dafür, daß du’s herausbekommst?“ – „Mal sehen, was die Bücher sagen, ich lese doch in den Büchern nach.“ – „Und wann wird es soweit sein?“ – „Ich werde in der Nacht nachlesen.“ Die Alte konnte nirgendshin entfliehen, sie mußte sich irgendwie herauslügen. Der Lakai und die Köchin ließen den Kopf hängen und jammerten: „Wo haben sie diesen Satan her?“ Die Köchin sagt: „Ach warte nur, was Gott uns beschert. Können wir nicht vorher mit ihr ins reine kommen?“ Nun, der Lakai sagt: „Warte noch, dich zu verraten, wir wollen sie uns morgen früh einmal ansehen!“ 771
Sie machte ihr Buch auf und betete. „Ich will wenigstens kurz vor meinem Tode noch einmal beten!“ Dort aber steht einer von ihnen und lauscht, was sie sagen wird. Auf einmal begann der Hahn zu krähen. Sie sagte: „Das ist der erste!“ Der kam zu seinen Spießgesellen gerannt: „Sie hat’s herausbekommen, daß ich dastehe!“ Ein anderer macht sich dorthin auf den Weg. Sie stand und stand – der zweite Hahn fängt an zu krähen. „Gepriesen seist du Herr, auch der zweite ist da!“ Der machte sich auf und davon. „Nun, wie steht’s dort?“ – „Sie hat’s herausbekommen!“ Auch den dritten plagt die Neugier zu gehen und zu lauschen, und der Hahn schreit zum drittenmal. „Nun, gepriesen seist du, Herr, der dritte ist da – jetzt ist es für mich an der Zeit, schlafen zu gehen!“ Sie sieht sie nicht, hat aber bis zur dritten Stunde zu Gott gebetet, und die dachten: sie hat’s herausbekommen. „Nun, was sollen wir jetzt machen?“ denken sie bei sich. „Nun, wir wollen zu ihr gehen.“ – „Nein“, sagt der Lakai, „nicht hingehen, wir schaden uns selber damit!“ Der Zar hatte ihnen eine Ente gegeben, der Lakai fing eine Krähe dazu. „Die will ich ihr braten, ob sie’s merkt oder nicht.“ Er briet also die Ente und die Krähe. Dann setzt er ihr die Krähe vor. „Komm essen, gute Frau, Väterchen Zar hat dir ein Essen kochen lassen!“ Sie ging ins Haus des Zaren und sieht sich die Wände an, was für schön verzierte Wände dort sind. Und der Lakai hatte ihr aufgetragen und sich unter die Tür gestellt. Sie steht da und sagt: „Ach 772
Krähe, Krähe, in was für einen Palast bist du geflogen!“ Der Lakai kam schleunigst hervorgesprungen: „Warte, gute Frau, ich hab mich geirrt, habe dir nicht das richtige Essen aufgetragen!“ Und rast mit der Krähe davon. Die stehen da: „Wie steht’s?“ – „Sie hat’s gemerkt!“ Der Lakai kommt herbeigerannt – bautz, wirft er sich ihr zu Füßen. Die Alte reißt die Augen auf: „Was ist los?“ – „Gute Frau, kannst du uns nicht aus unserer Not helfen?“ – „Das kann ich!“ Die Alte wurde lustig, lachte und machte sich guten Mutes über den Entenbraten her. Aß ein Stückchen Entenbraten und wollte ein Schnäpschen haben. Der Lakai ist froh, ihr gefällig sein zu können, und kommt mit einer Flasche angerannt. „Trink, Großmütterchen, soviel du willst, nur hilf uns aus der Not!“ – „Ich helfe euch, ich helfe euch, Kindchen, es wird nichts herauskommen. Wo ist es denn aber?“ – „Im Pferdestall!“ – „Nun, ich will so tun, als ginge ich spazieren, du aber geh voran und zeig mir die Stelle, damit wir uns etwas ausdenken können, was wir sagen und wie wir euch herausreden können!“ Der Lakai machte sich also auf den Weg, wartet auf die Alte, hält Ausschau. Sie kommt so lange nicht! Das Sprichwort sagt: „Dem Dieb brennt die Mütze auf dem Kopf!“ Er denkt, sie will es vorher dem Zaren erzählen. Der Kutscher sagt: „Was hast du dir denn gedacht: allein zu kommen, du hättest diese Alte mitbringen sollen!“ Auf einmal erscheint die Alte. Dem Lakaien wurde froher zu-
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mute – er erzählte ihr alles und zeigte ihr das Versteck. Am Nachmittag nun liegt sie mit vollem Bauch da und ruht sich aus. Nun, den Zaren verläßt die Geduld, er wartet nicht, bis sie wieder zu ihm ins Haus kommt. Er geht zu ihr dorthin. „Nun, wie ist’s gute Frau; hast du’s herausbekommen?“ – „Ja, ich hab’s heraus!“ – „Und wer hat das Geld gestohlen?“ – „Das hast du selber im Schlaf genommen und dann vergessen; mit dir ist irgend etwas passiert, du hast es genommen, bist in den Pferdestall gegangen und hast es im Mist vergraben!“ – „Ja, gute Frau, mich überkommt es manchmal: irgendeine Mondsucht befällt mich, ich schlafe, und dann gehe ich im Schlaf weg – ja, ja!“ Die Alte war froh, wie er ihr diesen Weg gesagt hatte. „Siehst du, du hast’s dorthin gelegt und vergessen!“ – „Ach, du meine Güte, wieviele Leute habe ich verdächtigt, und wie haben sie geweint!“ Der Lakai aber steht und lauscht. Rennt und sagt zu den anderen: „Die Alte hat uns herausgeredet!“ Nein, die Diener haben keine Hoffnung, sondern erwarten alle den Tod: sie leben ja nicht bei einem Bauern, sondern ja beim Zaren. Und die Zarin schimpft auch auf den Zaren. Die Diener tun ihr leid, sie hat sie dorthin gerufen. Der Koch sagt: „Jetzt ist für uns Amen!“ Nein, der Lakai hatte gelauscht und sagt: „Sie hat uns herausgeredet!“ Sie kommen ins Haus, und sie steht bei ihm. Die Zarin sagt: „Los, prügelt den Zaren!“ Die Diener schrien: „Was? Weswegen!?“ – „Unse774
ren Zaren hat die Mondsucht befallen. Wir haben ihm doch die Wahrheit gesagt, daß bei uns niemand stiehlt; ist das denn überhaupt denkbar, dem Zaren etwas unter dem Kopfkissen wegzunehmen und fortzutragen? Es ist doch ganz klar, daß er selber es fortgetragen hat!“ Der Kutscher sagt: „Und die Herrin hat es gleich gesagt!“ Danach begibt sich die Alte nach Hause, er hat ihr alles mögliche für ihre Arbeit gegeben. Ihr Alter aber erwartete sie schon nicht mehr lebend zurück. Begrüßt sie, freut sich. „Wie war’s dort, Alte?“ – „Habe alle herausgeredet!“ – “Alle, und bist selber noch am Leben?“ – „Und bin selber noch am Leben. Aber das ist eine üble Sache. Was können wir aussinnen, diese Arbeit aufzugeben?“ Der Alte sagt: „Wenn du dich nur dort herausgeredet hast, hier habe ich etwas ausgedacht.“ – „Und was brauchen wir jetzt noch, wir sind auch so schon reich geworden.“ – „Ja, komm. Alte, wir wollen unser altes Zeug verbrennen und alle Schuld darauf schieben.“ Weil sie das Wahrsagen überhatte, sagte sie: „Das Wahrsagebuch ist verbrannt!“ Die Alte sagt dann: „Ich brauche jetzt nicht wahrzusagen, ich kann jetzt von diesem Reichtum leben.“ Und so schlugen sie alles ab. Sie leben noch heute, herrlich und in Freuden. Ich war bei ihm und ihr, trank Honigbier, es ist auf die Brust geronnen, der Mund hat nichts abbekommen. Und der Alte ist so geradezu! Lustige Leute. Jetzt ist die Geschichte aus!
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72 Das kluge Mädchen Es lebten einmal zwei Brüder: der eine arm, der andere angesehen und reich; jeder von beiden hatte ein Pferd: der Arme eine Stute, der Angesehene und Reiche einen Wallach. Einmal hatten sie zur Nacht nebeneinander haltgemacht. Die Stute des Armen warf in der Nacht ein Füllen; das Füllen rollte unter den Wagen des Reichen. Der weckt am Morgen den Armen: „Steh auf, Bruder, mein Wagen hat in der Nacht ein Füllen geboren!“ Der Bruder steht auf und sagt: „Wie kann ein Wagen ein Füllen gebären! Das hat meine Stute geworfen!“ Der Reiche sagt: „Wenn deine Stute es geworfen hätte, wäre das Füllen bei ihr!“ Sie stritten eine Weile und gingen dann zum Gericht; der Angesehene und Reiche besticht die Richter mit Geld, der Arme aber rechtfertigt sich mit Worten. Die Sache kam bis vor den Zaren. Der ließ die beiden Brüder kommen und gab ihnen vier Rätsel auf: „Was ist am stärksten und schnellsten auf der Welt? Was ist am fettesten auf der Welt? Was am weichsten? Und was am lieblichsten?“ Und er gab ihnen drei Tage Zeit: „Kommt am vierten Tag wieder und gebt Antwort!“ Der Reiche überlegte und überlegte, er erinnerte sich seiner Gevatterin und ging zu ihr, sie um Rat zu bitten. Sie setzte ihn an den Tisch, bewir776
tete ihn und fragt: „Warum so traurig, Gevatterchen?“ – „Der Zar hat mir vier Rätsel aufgegeben und nur drei Tage Zeit gelassen.“ – „Was ist es denn? Sag mir’s!“ – „Folgendes, Gevatterin: das erste Rätsel – was ist am stärksten und schnellsten auf der Welt?“ – „Was für ein Rätsel! Mein Mann hat eine braune Stute; nichts ist schneller als die: versetzt du ihr eins mit der Knute, holt sie einen Hasen ein.“ – „Das zweite Rätsel, was ist am fettesten?“ – „Wir füttern das zweite Jahr einen verschnittenen Eber; der ist so fett geworden, daß er sich nicht mehr auf seine Beine stellen kann!“ – „Das dritte Rätsel: was ist am weichsten auf der Welt?“ – „Das ist doch klar – ein Daunenbett, etwas Weicheres kann man sich nicht ausdenken!“ – „Viertes Rätsel: was ist am lieblichsten auf der Welt?“ – „Am lieblichsten ist mein Enkel Iwanuschka!“ – „Habe Dank, Gevatterin! Du hast mir gut geraten, ich werde’s mein Lebtag nicht vergessen.“ Der arme Bruder aber vergoß bittere Tränen, ging nach Hause, da begegnet ihm seine siebenjährige Tochter (das war die ganze Familie, daß er die eine Tochter hatte). „Warum seufzt du so, Väterchen, und vergießt Tränen?“ – „Wie soll ich nicht seufzen, wie soll ich nicht Tränen vergießen? Der Zar hat mir vier Rätsel aufgegeben, die ich im ganzen Leben nicht herausbekomme.“ – „Sag mir, was sind es für Rätsel?“ – „Folgende, Töchterchen: Was ist am stärksten und schnellsten auf der ganzen Welt, was am fettesten, was am weichsten und was am lieblichsten?“ – „Geh, Vä777
terchen, und sag dem Zaren: Am stärksten und schnellsten ist der Wind; am fettesten die Erde: was auch immer wächst, was auch immer lebt – die Erde nährt’s! Am weichsten ist die Hand: worauf sich der Mensch auch legt, immer legt er seine Hand unter den Kopf; und etwas Lieblicheres als den Schlaf gibt es auf der ganzen Welt nicht!“ Beide Brüder kamen wieder zum Zaren: der reiche und der arme. Der Zar hörte sie an und fragt den Armen: „Bist du selber draufgekommen, oder hat’s dich jemand gelehrt?“ Der Arme antwortet: „Eure Kaiserliche Majestät! Ich habe eine siebenjährige Tochter, die hat’s mich gelehrt.“ – „Wenn deine Tochter so klug ist, so habe ich hier einen Seidenfaden für sie; sie soll mir bis morgen früh ein gemustertes Handtuch draus weben!“ Der Bauer nahm den Seidenfaden und kommt traurig und bekümmert nach Hause: „Wir haben kein Glück!“ sagt er zu seiner Tochter, „der Zar hat befohlen, aus diesem Faden ein Handtuch zu weben.“ – „Sei nicht traurig, Väterchen“, antwortete die Siebenjährige, brach eine Rute aus dem Besen, gibt sie dem Vater und trägt ihm auf: „Geh zum Zaren und sage, er soll einen Meister finden, der aus dieser Rute einen Webstuhl machen kann: damit man weiß, worauf man das Handtuch weben soll!“ Der Bauer meldete dies dem Zar. Der Zar gibt ihm anderthalbhundert Eier: „Gib sie deiner Tochter“, sagt er, „sie soll mir zum Morgen anderthalbhundert Kücken ausbrüten!“ Der Bauer kehrte noch trauriger, noch bekümmerter nach Hause zurück: „Ach, Töchterchen! 778
Einem Unglück weicht man aus, das andere sitzt einem schon auf dem Nacken!“ – „Sei nicht traurig, Väterchen!“, antwortete die Siebenjährige, buk die Eier und hob sie fürs Mittagessen und fürs Abendbrot auf, den Vater aber schickt sie zum Zaren: „Sage ihm, die Kücken brauchen Eintagshirse zum Futter: es muß an einem Tag das Feld gepflügt, die Hirse gesät, geschnitten und gedroschen werden; andere Hirse werden unsere Kükken nicht einmal anpicken!“ Der Zar hörte zu und sagt: „Wenn deine Tochter so klug ist, soll sie morgen früh selber bei mir erscheinen – nicht zu Fuß und nicht zu Pferd, nicht nackt und nicht angezogen, nicht mit einem Geschenk und doch nicht mit leeren Händen!“ – „Nun“, denkt der Bauer, „eine so schwere Aufgabe kann auch meine Tochter nicht lösen; jetzt sind wir ganz verloren!“ – „Sei nicht traurig, Väterchen!“ sagte die siebenjährige Tochter zu ihm, „geh zu den Jägern und kauf mir einen lebenden Hasen und eine lebende Wachtel.“ Der Vater ging und kaufte ihr einen Hasen und eine Wachtel. Am anderen Morgen warf die Siebenjährige alle ihre Kleider ab, zog sich ein Netz über, nahm die Wachtel in die Hand, setzte sich rittlings auf den Hasen und ritt zum Schloß. Der Zar erwartet sie am Tor. Sie verneigte sich vor dem Zaren: „Da hast du ein Geschenk, Zar!“ Und sie hält ihm die Wachtel hin. Der Zar streckte schon die Hand aus: die Wachtel schlug mit den Flügeln – und war davongeflogen! „Schön“, sagt der Zar, „wie ich’s befohlen habe, so hast du’s getan. Sage mir nun: 779
dein Vater ist doch arm, was habt ihr denn da zu essen?“ – „Mein Vater tut auf dem Trocknen Fische fangen, er läßt die Reuse nicht ins Wasser hängen, ich trage die Fische im Rocksaum nach Haus, koche Fischsuppe draus!“ – „Was redest du da, Närrin! Seit wann leben die Fische auf dem Trocknen? Fische schwimmen im Wasser!“ – „Und bist du vielleicht klüger? Wo hat man das gesehen, daß ein Wagen ein Füllen geworfen hat? Nicht der Wagen, die Stute wirft!“ Der Zar sprach das Füllen dem armen Bauern zu, seine Tochter aber nahm er zu sich; als die Siebenjährige erwachsen war, heiratete er sie, und sie wurde Zarin.
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73 Das vergnügte Kloster An einer guten Straße stand ein Kloster. Dieses Kloster wurde von vielen Leuten aufgesucht. Keiner fuhr an diesem Kloster vorbei. Eines schönen Tages mußte ein Bauer dort entlangfahren. Als frommer Mann wollte er hineingehen und ein Gebet sprechen. Aber daraus wurde nichts. Das Klostertor war fest verschlossen. Also klopfte er ans Tor. Er dachte, sie schlafen fest im Kloster. Nun, wie er auch wartete, es kam niemand. Da begann er zu lauschen. Es klang bald wie Kirchenlieder, bald wie Verse oder einfache Lieder. „Was soll denn das heißen, die haben ein Zechgelage? Das ist mir ein vergnügtes Kloster!“ Der Bauer nimmt sein Merkbüchlein aus der Tasche, reißt ein Blatt heraus und schreibt in großen Buchstaben: „Das vergnügte Kloster.“ Klebte das Blatt an und fuhr davon. Nach einer kleinen Weile mußte der Zar diese Straße entlangfahren. Und er wollte auch im Kloster ein Gebet sprechen. Nur daß ihm dieser Zettel vor Augen kam. „Nanu?“ Erstaunt liest er: „Das vergnügte Kloster.“ Wie geht das zu, daß sie keinen Kummer haben? Wo ich den ganzen Staat regiere, und doch bis zum Hals in Kummer und Sorgen stecke!“
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Er geht ins Kloster hinein. Der Pater Abt kommt ihm mit dem Kreuz entgegen. Der Zar küßte das Kreuz. „Was heißt denn das, ihr habt also hier ein vergnügtes Kloster?“ Der Abt wich etwas zurück. „Was sollen diese Worte des Zaren bedeuten?“ Er weiß nicht, was er denken soll. Der Zar wiederholt ihm noch einmal: „Ihr habt also ein vergnügtes Kloster?“ – „Woher wißt Ihr das?“ fragt der Abt demütig. „Kommt nur mit und seht’s Euch an: draußen hängt ein Schild: ,Das vergnügte Kloster’.“ Als der Abt das gesehen hatte, entschuldigte er sich, irgend jemand hat sich einen gemeinen Scherz geleistet. „Wir im Kloster können nicht vergnügt sein.“ Der Zar sagte, das wird schon einen Grund haben, „gewiß kennt jemand eure Vergnügtheit! Also hör zu, Abt, ich will euch einen Kummer auferlegen!“ – „Und welchen Kummer wollt Ihr uns auferlegen?“ – „Ich gebe euch eine Aufgabe, die ihr mir lösen sollt. Und so sollen alle Mönche in dieser Woche etwas Kummer haben. Die erste Aufgabe ist: die Sterne am Himmel zählen; die zweite Aufgabe – ist der Himmel höher oder das Jenseits weiter, wie man es nennt? Und dann -schätzt mich, wieviel ich wert bin.“ Damit stieg er ein und fuhr davon. Der Abt trägt diesen Kummer zu allen Mönchen. „Hört, Brüder, der Zar ist gekommen, ein Gebet zu verrichten, und hat uns statt eines Gebets Kummer zurückgelassen.“ Die Mönche verstanden rein gar nichts. „Was ist los, der Pater Abt redet so unverständliche Dinge! Sag uns doch, Pater 782
Abt, sprichst du die Wahrheit oder nicht?“ – „Hört zu Brüder, es hat jemand seinen Spott mit uns getrieben, hat einen Zettel angeklebt. In fetten Buchstaben ist darauf geschrieben: ‚Das vergnügte Kloster’. Und wegen dieser Aufschrift hat er uns Kummer zurückgelassen.“ – „Was für welchen denn?“ – „Er hat uns eine Woche Frist gegeben. Die Sterne am Himmel zählen ist die erste Aufgabe, die zweite Aufgabe: feststellen, ob der Himmel höher oder das Jenseits weiter ist, und die dritte Aufgabe: den Zaren selber schätzen, was er wert ist!“ – „Ach du liebe Güte!“ Alle stießen einen Seufzer aus. „Wie soll denn ein sterblicher Mensch solche Aufgaben lösen können?“ – „Da gibt’s kein Aber, denkt nach! Vielleicht findet einer die Lösung!“ Die Zeit war aber kurz. Niemand denkt daran, die Lösung zu suchen. Sie denken nur daran, daß der Zar alle hinrichten läßt. Ein Mönch denkt: „Es ist hin wie her, das Leben ist kurz, da will ich schon lieber zechen und lustig sein. Ich will doch ins Wirtshaus gehen, ordentlich eins trinken, damit nur die Zeit recht schnell vergeht, statt mich zu ängstigen.“ Und er kommt ins Wirtshaus und bestellt eine Riesenmenge Sachen; der Wirt wundert sich, „wozu denn eine solche Menge?“ – „Aus Sorge und Kummer“, sagt der Mönch. Nun saß dort gerade ein ausgemachter Trunkenbold: „Aber, aber, Pater, was habt Ihr denn für Kummer?“ „Ach sei still, Bruder, ich habe keine Zeit, mit dir die Zeit zu verschwatzen!“ – „Aber Pater, viel783
leicht kann ich dir helfen!“ – „Du wirst mir mit deiner Wirtshauskunst kaum helfen können. Also hör zu, Bruder, der Zar hat heute auf der Durchfahrt dem Abt und den Mönchen Kummer auferlegt. Drei Aufgaben hat er gestellt, und keiner kann sie lösen.“ – „Und was für Aufgaben waren das?“ fragt der Trunkenbold. Und der erzählte es ihm spaßeshalber. „Aber das ist doch eine Kleinigkeit“, sagt der Trunkenbold. „Das ist sehr einfach, die kann ich erraten!“ Der Mönch ließ sogar seine Zecherei sein. Er führte ihn zum Abt, „der wird dich reich belohnen!“ Als er zum Pater Abt kommt, berichtet er ihm von diesem Trunkenbold. „Hört, Pater Abt, es hat sich da einer gefunden, der uns aus der Patsche hilft!“ – „Ist das wahr?“ sagt der Pater Abt. „Ihr könnt ja persönlich mit ihm sprechen.“ Der Pater Abt nimmt diesen Trunkenbold und führt ihn in sein Zimmer. „Nun also, Bruder, der Novize hat dir die ganze Geschichte erzählt?“ – „Ja, ich habe sie mir sehr gut gemerkt!“ – „Nun also, Bruder, versuch’s, was es kostet, werden wir bezahlen.“ – „Wozu Bezahlung, ich brauche sie nicht so dringend. Zuallererst muß ich Eure Abtsgewänder und Euren Ornat anziehen. Muß mich doch inzwischen daran gewöhnen, wie ein Abt zu gehen, denn ich bin – wie Ihr ja wißt – bloß ein Trunkenbold.“ – „So komm, laß uns beide sogleich die Kleider wechseln!“ Der Trunkenbold zieht die Kleider des Abts an und gibt ihm seine abgerissenen. Es hilft nichts, wenn’s ihm auch unangenehm ist, er muß sie an784
ziehen. Als sie sich umgezogen haben, sagt der Trunkenbold zu ihm: „Pater Abt, laßt mir einige Lagen Papier bringen!“ – „Und wozu?“ fragt der Pater Abt. „Das ist meine persönliche Angelegenheit. Ich muß doch irgendwie eine Rechnung machen, die Sterne aufführen, und die Frist ist schon nah.“ Der Pater Abt trug dem Novizen auf, Papier zu bringen. Es wurden einige Lagen Papier gebracht, und er nahm nun den Bleistift und fängt an zu schreiben. Es gab schon etwas zu schreiben. Er setzte erst die Überschrift drüber: Berechnung der Sterne. Und dann schrieb er Zahlen, keine schwierigen. Hier eine Zwanzig, dort eine Dreißig, hin und wieder schrieb er auch eine Hundert und eine Tausend hin, bisweilen auch eine Zwei und eine Drei. Und so beschrieb er das ganze Papier mit Zahlen. Da kommt der Pater Abt zu ihm. „Nun, gelangst du zum Ende oder nicht?“ fragt er ihn. „Bin schon fertig“, sagt er. „Und wie hast du das andere ausgemessen? Wie weit ist es bis zum Himmel und bis zum Jenseits?“ – „Das weiß ich schon längst“, sagt der Trunkenbold. Nun bitte, da war nichts zu machen. Die Zeit kommt heran – der festgesetzte Tag war da. Alle Mönche erwarten voll Ungeduld den Zaren. Nur der Abt macht sich keinerlei Gedanken; als ginge ihn das alles nichts an. Und plötzlich taucht die Kutsche auf. Der Zar kommt mit aller Pracht gefahren. Der Abt begrüßt ihn mit dem Kreuz. „Nun, wie steht’s, Pater Abt“, fragt ihn 785
der Zar, „hast du herausbekommen, was ich euch aufgegeben habe?“ – „Weiß nicht recht“, sagt der Trunkenbold. Er setzte den Zaren in einen Sessel, bringt selber ein paar Lagen Papier und hält sie dem Zaren hin. „Ihr könnt’s Euch ansehen, Eure Kaiserliche Majestät!“ Der Zar wühlt in dem Papier herum. „Was hast du denn hier alles zusammengeschwindelt, Pater Abt?“ – „Aber, Eure Kaiserliche Majestät, woran habt Ihr denn gemerkt, daß ich hier geschwindelt habe?“ – „Natürlich hast du geschwindelt! Nur Zahlen und nochmals Zahlen und nichts weiter!“ – „Ja, die Summe hab ich Euch nicht sagen können, wieviele Millionen oder Legionen es dort gibt. Ich habe sie Euch zusammengestellt, aber wenn Ihr’s nicht glaubt, könnt Ihr selber nachprüfen!“ Den Zaren kam das Lachen an, wer kann denn die Sterne am Himmel nachprüfen? „Es stimmt“, sagt er, „die Teile sind richtig. Ihr habt sie gezählt! Nun, und wie ist’s mit der zweiten Aufgabe? Habt Ihr herausbekommen, ob das Jenseits weiter oder der Himmel höher ist?“ – „Das habe ich schon gewußt!“ – „Nun und?“ – „Am Himmel höre ich es immer bumsen und krachen, aber bis zum Jenseits muß es weit sein. Mein Vater ist schon vor fünfundzwanzig Jahren nach dem Jenseits abgefahren und ist bis heute noch nicht dort. Also ist das Jenseits viel weiter!“ – „Das gilt aber nicht“, sagt der Zar, „das muß man doch alles wirklich wissen!“ – „Stellt es nur selber fest, vielleicht glaubt Ihr mir dann“, sagt der Pater Abt. 786
Dem Zaren machte auch das Spaß – er hatte eine richtige Erklärung gefunden. „Nun, wie steht’s jetzt mit der dritten Aufgabe: habt Ihr mich geschätzt?“ – „Ja, Eure Kaiserliche Majestät, Ihr seid neunundzwanzig Rubel wert!“ – „Was heißt das, was fällt dir ein? Auf welche Weise hast du mich so geschätzt? Wo doch ein einfacher Tagelöhner dreißig Rubel im Monat bekommt!“ – „Sehr einfach“, sagt dieser Abt. „Nun, und wie beweist Ihr’s?“ – „Unser himmlischer Herr ist für dreißig Silberlinge verkauft worden. Ihr aber seid ein irdischer Herr – um einen Rubel müßt ihr billiger sein!“ Der Zar lachte und sagte nichts. „Jetzt ratet einmal, was ich im stillen denke?“ fragt der Zar. „Auch das habe ich erraten!“ – „Und was?“ – „Ihr denkt: ist doch ein tüchtiger Kerl, der Abt des Klosters! Und da habt Ihr Euch geirrt!“ – „Wie das?“ – „Dieser tüchtige Kerl – das ist nicht der Abt, sondern ein Trunkenbold aus Wirtshaus und Schenke!“ Nanu? Es gab Fragen und Verhöre. Nun, und man bekam heraus, daß der Abt selber nichts gemacht hatte, sondern erklärt hatte alles der Trunkenbold in Abtskleidern. Da wurde der Trunkenbold als Klosterabt belassen, der Abt aber wurde fortgeschickt in die Wirtshäuser und Schenken.
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74 Kirik Es lebte einmal ein armer, alter Mann mit seiner Frau. Dem Alten starb die Frau. Da ging er zum Popen: „Väterchen, meine Frau muß begraben werden!“ „Halte Geld bereit!“ Kirik ging fort, er hatte kein Geld. „Ich werde ihr einfach selber ein Grab schaufeln und sie heimlich begraben.“ Er schaufelte ihr ein Grab, schaufelte bis zum Boden. Er ist fertig mit Schaufeln, da steht ein Topf mit Gold da. Kirik nahm das Geld und ist halbtot vor Freude. „Jetzt hab ich Geld, die Frau zu begraben!“ Er kommt zum Väterchen: „Väterchen, wir wollen meine Alte begraben!“ „Hast du Geld?“ „Ja, Väterchen, ja!“ „Dann mach alles fertig zum Begräbnis!“ Da kaufte Kirik Bretter für den Sarg, mietete Totengräber und Sargträger, kaufte Kerzen und holte die Heiligenbilder und den Popen, seine Frau hinauszutragen.
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Und da hast du’s – die Popin wundert sich, woher Kirik denn das Geld hat. Sie sagt: „Väterchen, er kommt zur Messe, sag ihm, er soll beichten!“ Der sagte ihm, er soll beichten. Nun, einesteils ist Kirik froh. Der Pope kommt mit dem Kreuz heraus, Kirik die Beichte abzunehmen. Er beichtete und bereute seine Sünden. Er sagt: „Kirik, woher hast du das Geld?“ „Väterchen, ich habe das Grab geschaufelt, fürs Begräbnis, und habe im Grab einen Topf herausgeschaufelt.“ Da hast du’s – er kommt nach Hause zum Mütterchen und erzählt: „Er hat im Grab einen Topf herausgeschaufelt.“ „Weißt du was, wir haben doch das Ochsenfell, an dem ist noch alles daran, Hörner und Schwanz. Jetzt ist gleich Abend, zieh du dieses Fell über und geh zu ihm hin!“ Der Pope zog also das Fell über und ging zu ihm hin. Kommt ans Fenster: „Kirik, Kirik, gib mir mein Geld wieder!“ Kirik erschrak, kletterte auf den Ofen und ließ sich nicht blicken. Um zwölf krähten die Hähne, und der Pope ging fort. Am ändern Tag zieht sich der Pope wieder genauso an, kommt zum Fenster und sagt wieder: „Kirik, Kirik, gib mir mein Geld wieder!“ Kirik hält es nicht aus, ist erschrocken, ganz außer sich – sieht den Teufel mit den Hörnern vor dem Fenster. Steht da und betet zu Gott. Da hast 789
du’s – um zwölf krähten die Hähne, und der Pope ging wieder fort. Am dritten Tag zieht sich der Pope wieder genauso an und geht. Kirik erschrak sehr – er hält es nicht mehr aus. Hält den Topf mit dem Geld hin – und sah den Bösen mit den Hörnern. So fürchterlich war ihm zumute, daß er zu Hause keine Ruhe hatte. Der Pope kommt mit dem Geld nach Hause, die Popin wartet schon auf ihn. Sie nahm ihm auf dem Hof den Topf ab und schleppte ihn ins Haus, in einen Winkel. Sie stellten ihn im Haus auf den Tisch, da klebten ihre Hände fest. Sie zerren hierhin und dorthin – ihre Hände gehen nicht ab. Sie schickte den Knecht, Kirik zu holen. „Kirik, verzeih!“ Kirik nahm den Topf und verzieh ihnen. Doch das Fell ging von dem Popen nicht ab, war angetrocknet. Da kletterte der Pope auf den Ofen, liegt einen Tag, liegt zwei und liegt schon sechs Wochen. Die Leute aber verlangen immer nach dem Popen. Sie antworten nur, er ist krank. Bekannte kommen zu ihm, um sich zu verabschieden, man läßt sie nicht zu ihm. Nun, es half aber nichts, wie sehr sie es auch verheimlichen wollten, der Pope mußte angezeigt werden. Er wurde also angezeigt und zu zwölf Jahren verurteilt: einer mußte ihn führen, der andere von hinten antreiben. Sechs Jahre führten sie ihn bettelnd herum, da starb der Pope. Geld brauchte er nun nicht mehr.
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75 Wie ein Pope seine Knechte plagte In einem Zarenreich, in einem Staat, und zwar in dem, in dem wir wohnen, lebte einmal ein Bauer. Der hatte drei Söhne – zwei kluge, und der dritte war ein Dummkopf. Sie waren sehr arm. Der Vater schickt seine Söhne fort: „Geht wenigstens einer als Knecht, zu Hause ist nichts zu tun!“ Die Söhne kamen zusammen, weder der eine noch der andere hat Lust, als Knecht zu arbeiten. Sie berieten und beschlossen, das Los zu werfen, wer Knecht werden soll. Sie warfen das Los, und es traf den ältesten Bruder, Knecht zu werden. Der älteste Bruder fragte herum und machte sich dann auf den Weg. Wurde Knecht bei einem Popen. Der gab ihm fast überhaupt nichts zu essen und ließ ihn den Winter über hungern. Der Älteste ging fort. Im nächsten Jahr ging der mittlere Bruder zu dem Popen und starb auch beinahe Hungers. Die Reihe kam an den kleinsten Bruder, Iwan den Dummkopf. Er packte seine Sachen und machte sich auf den Weg. Kommt aus dem Haus – da begegnet ihm der Pope. „Willst du weit fort, guter Mann?“ fragt der Pope. „Ich will mir Arbeit suchen“, sagt er. „Nun, verdinge dich zu mir als Knecht!“ – „Nimm mich!“ sagt er. „Wieviel gibst du?“ – „Hundert Rubel gebe ich für den Winter!“ – „Nun, wenn du hundert Rubel gibst, will ich bei dir 791
bleiben!“ sagt er. „Nun, wenn du bleiben willst, dann steig auf den Schlitten, wir wollen zu mir fahren!“ Sie stiegen auf den Schlitten und machten sich auf den Weg zum Popen. Kamen zum Popen. Der Pope gab ihm Tee zu trinken und Abendbrot zu essen. „Leg dich schlafen!“ sagt er. „Morgen früh müssen wir nach Heu fahren.“ Am Morgen weckt der Pope den Knecht noch mitten in der Nacht: „Steh auf, wir müssen fahren!“ Er selbst trank sich an Tee satt, frühstückte ordentlich, dem Knecht aber gibt er nichts zu essen auf den Weg. Der Knecht spannte zwei Pferde an. „Nun, steig auf, Väterchen! Fahren wir!“ sagt er. Sie stiegen auf und fuhren los. Kamen hinaus aufs freie Feld. „Väterchen“, sagt er, „ich habe die Stricke vergessen! Wie sollen wir jetzt das Heu festbinden!“ – „Ach, du komischer Kauz. Nur gut, daß wir so bald dran gedacht haben! Lauf, ich warte hier!“ Iwan der Dummkopf kam zur Popin gerannt. „Mütterchen, gib mir schnell einen Lachs und eine Flasche Wein! Der Pope hat’s befohlen!“ Die Popin gab’s ihm sogleich. Der Knecht rannte wieder los. „Hier sind die Stricke, Väterchen! Jetzt können wir das Heu festbinden.“ Sie fuhren an die vierzig Werst, beluden den Schlitten, banden’s fest. Machten sich auf den Heimweg – es wurde schon dunkel, bis nach Hause waren es aber noch an die vierzig Werst zu fahren. Iwan der Dummkopf sitzt auf der Fuhre, trinkt aus der Flasche und ißt Lachs. Der Pope sagt zu Iwan dem Dummkopf: „Wanja, paß auf. Rechts geht ein Weg ab, daß das Pferd nicht etwa auf diesen Weg ab792
biegt. Ich will ein wenig schlafen.“ – „Ist gut, Väterchen, fahr nur zu! Ich werde auf diesen Weg schon aufpassen.“ Wanja fährt und paßt auf diesen Weg auf. Er sah diesen Weg, sprang von der Fuhre herunter und führte das Pferd seitwärts auf den Weg, den sie nicht fahren durften. Sie fuhren an die fünfzehn Werst auf diesem Weg. Dann wachte der Pope auf. Sah sich die Gegend an und merkt, daß sie in der falschen Richtung fahren! „Wanja, wir fahren doch falsch!“ – „Woher soll ich wissen“, sagt der, „was richtig und was falsch ist! Du sitzt doch vorn, und ich hinter dir!“ – „Ach, Wanja! Ich habe dir doch aufgetragen, paß auf, rechts geht ein Weg ab, und du bist gerade in ihn eingebogen!“ – „So ist’s richtig, sitzt selber vorn, und ich bin eingebogen!“ – „Nun läßt sich ja nichts mehr ändern, Wanja! Jetzt müssen wir schon diesen Weg fahren. Nicht weit von hier muß ein Dorf sein, darin müssen wir übernachten.“ So fuhren sie also in der gleichen Richtung weiter. Sie kommen in ein Dorf. Der Pope schickt den Knecht: „Geh und bitte den und den Bauern um ein Nachtlager!“ Der Knecht lief zur Tür. Sieht, die Tür ist verschlossen. Sogleich kam die Frau heraus und machte die Tür auf. Der Knecht trat ein und bittet den Bauern: „Laß uns bitte übernachten, den Popen und mich!“ – „Herzlich gern“, sagen sie, „bleibt nur!“ – „Ich wollte euch noch bitten, gebt dem Popen kein Abendessen; gebt ihr ihm etwas, treibt er es noch weit schlimmer. Laßt ein Wort davon fallen, aber fordert ihn nicht weiter zum 793
Setzen auf, wenn ihr ihn aber an den Tisch setzt, dann beschwert euch nicht, wenn er es schlimm treibt!“ – „Nun, es ist gut!“ Der Knecht spannte die Pferde aus und stellte sie neben den Schlitten. Sie gingen hinein und zogen sich aus, der Pope und der Knecht. „Ihr wollt wohl nichts zu Abend essen, Väterchen!“ Der Pope gibt nichts zur Antwort, der Knecht aber, nicht faul, setzt sich sogleich an den Tisch. Der Knecht aß zu Abend, wie es sich gehörte, dem Popen aber war es peinlich, sich hinzuzusetzen, sie hatten nur so dahingeredet, fordern ihn aber nicht weiter zum Setzen auf; und er hat solchen Hunger. Der Knecht hatte also gegessen und kletterte auf den Hängeboden, und der Pope ihm nach. Der Knecht fing an zu schnarchen, der Pope aber kann nicht schlafen. Er stößt den Knecht in die Seite: „Knecht, ich habe doch Hunger!“ – „Ach, da soll doch gleich, du zottiges Gespenst! Sie haben dich aufgefordert, dich an den Tisch zu setzen, und du hast dich nicht gesetzt. Bist doch nicht zu Hause, wo die Popin dich an den Händen zum Tisch führt. Geh, ich habe bei der Bäuerin einen Topf mit Brei stehen sehen, geh und iß!“ Der Pope kletterte vom Hängeboden herunter und fand den Topf. „Knecht“, sagt er, womit soll ich den Brei essen? Ich kann keinen Löffel finden“, sagt er. „Ach du zottiger Teufel, was bist du für ein Quälgeist! Zu essen hat man ihm gegeben, und auch dann gibt er noch keine Ruhe! Kremple die Ärmel hoch und iß so!“ Der Pope fuhr mit den Händen hinein und verbrannte sich; dort war aber kein Brei drin, sondern Pech. Und so kam er wie794
der mit dem Topf gerannt: „Knecht ich kriege die Hände nicht wieder heraus!“ Der Knecht sagt: „Ach, da hat man mir aber ein zottiges Gespenst aufgebunden! Die ganze Nacht gibst du keine Ruhe mit deinem Brei!“ Die Nacht war mondhell. „Dort“, sagt er, „an der Schwelle liegt ein Wetzstein, schlag mit dem Topf dagegen, dann kannst du die Hände herausziehen!“ Der Pope nahm Anlauf und wuchtete gegen diesen Wetzstein. Es war aber kein Wetzstein, was dort lag, sondern der kahlköpfige Bauer schlief dort. Der Pope hatte gegen seine Glatze geschlagen. Der Bauer brüllte auf, der Pope sprang zurück und heraus aus dem Haus: er war erschrocken. Da sprang die ganze Familie auf und rannte nach Licht. Der Bauer schreit etwas, und der Knecht schreit: „Wohin ist der Pope geraten?“ Ich weiß nicht, was alles geschah. Die Bauersleute schrien den Knecht an: „Warum habt ihr den Alten erschlagen?“ Und der Knecht schrie sie an: „Wohin habt ihr den Popen gebracht? Den Popen her! Wenn nicht, gehe ich auf der Stelle zum Ortspolizisten: hole das ganze Dorf zusammen! Bringt mir den Popen, gleich woher!“ Da stutzten die Bauersleute: „Wohin ist der Pope geraten?“ – „Gebt mir dreihundert Rubel“, sagt der Knecht, „und ich will die ganze Sache vertuschen, wenn nicht, gehe ich zum Ortspolizisten!“ Die Bauersleute drucksten hin und drucksten her und gaben die dreihundert Rubel. „Nur erzähl niemandem, was geschehen ist!“ Nun spannte der Knecht die Pferde ein und fuhr mit seinem Heu nach Hause. Der Pope war also nicht 795
da. Er fährt durchs Dorf, da steht der Pope an einer Scheune, steht da, guckt hinter einer Ecke hervor und sieht, daß der Knecht mit dem Heu gefahren kommt. Der Pope fragt: „Bist du’s, Wanja, der gefahren kommt?“ – „Ich bin’s, zottiger Schurke!“ sagt der. „Du wirst bald im Gefängnis sitzen! Hast den Bauern erschlagen!“ – „Hab ich ihn denn wirklich totgeschlagen, Wanja?“ – „Gib dreihundert Rubel, dann vertusche ich’s, wenn nicht, wirst du im Gefängnis sitzen!“ Da erklärte sich der Pope einverstanden, dem Knecht dreihundert Rubel zu bezahlen, wenn er die Geschichte bloß vertuschte. Der Knecht kehrte ins Dorf zurück, stand ein Weilchen hinter der Ecke, stand ein Weilchen und kehrte wieder um. „Fahr zu, Väterchen! Jetzt wird nichts mehr geschehen. Fahren wir heim!“ Sie kamen zu Hause an. Der Pope wurde die Güte selber: hatte ein Herz für die Knechte. Wenn er sich hinsetzte, um Tee zu trinken, dann ließ er auch den Knecht hinsetzen. Wanja blieb den Winter über dort und hatte siebenhundert Rubel bekommen statt nur hundert. Kommt nach Hause zu seinem Vater und sagt: „Hier, Vater, nimm, das ist Geld! Sieh nur, wieviel ich verdient habe! Nicht wie deine zwei klugen Söhne!“ Danach lebten sie herrlich und in Freuden und wurden reiche Leute. Es geht ihnen auch jetzt noch gut.
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76 Der alte Ossip und die drei Popen In einem Dorf also lebte einmal ein altes Bäuerlein Ossip. Das lebte mit seiner Alten zusammen. Sie hatten zwei Kühe und ein Pferdchen, einen kleinen Speicher, eine Getreidescheuer und was sonst noch so dazugehört. Einmal unterhielt er sich mit seiner Alten. Die Alte sagte: „Es geht uns Gott sei Dank gut, aber es wäre doch schön, irgendwann einmal aus dem Dorf herauszuziehen und ganz für sich zu wohnen.“ Der Alte gibt zur Antwort: „Das wäre nicht übel. Alte, einmal für sich zu wohnen. Vielleicht geht’s. Weißt du was. Alte, bald ist Dorfversammlung, da kommen die Nachbarn zusammen, ich will davon sprechen.“ Sobald die Dorfversammlung zusammen war, kam der alte Ossip auf die Versammlung. „Guten Tag, Nachbarn!“ sagt er. „Guten Tag, Ossip!“ sagen sie. „Da ist doch eine kleine Viehweide. Für einen reicht’s.“ Sie berieten und sagten zu ihm: „Nun, mit Gott, nur nimm niemandem Land weg, bleib auf deiner Viehweide!“ Sie sprachen das Stück dem alten Ossip zu. Der Alte bereitete sich in aller Seelenruhe auf das Leben dort draußen vor. Der Alte fuhr vorsichtig und bedächtig sein Häuschen dorthin, stellte es auf, brachte die Getreidescheuer hin, den kleinen Speicher, ganz auf Bauernart. Und von nun an lebten sie herrlich und in Freuden, es 797
ging ihnen gut, sie bestellten ihr Stückchen Land, pflügten und brachten das Heu ein. Hatten das Stückchen Land gepflügt, säten Hafer, und der Hafer geriet im ersten Jahr sehr gut. Sie warteten, bis es soweit war, ihn zu ernten. Sie draschen so viel Hafer, daß sie die ganze Scheune voll Hafer hatten. Und so kam schon das zweite Jahr, sie säten Roggen in die Erde, danach säten sie Hafer. Das Getreide gedieh bei ihnen wer weiß wie gut! Sehr viel! Und nun lebten sie herrlich und in Freuden und hatten drei Scheuern voll Getreide. Eines schönen Tags legten sich der Alte und die Alte schlafen. Die Alte sagt zu ihm: „Jetzt geht es uns, Gott sei’s gedankt, gut, wir haben alles reichlich, es ist ein wahrer Gottessegen. Wenn wir doch Geld bekommen könnten, dann wäre das Leben herrlich und ganz wunderbar!“ Der alte Ossip aber sagt zu seiner Frau: „Ach, Frau, du Närrin, aus Getreide kann man im Handumdrehen Geld machen!“ – „Wie willst du denn Geld daraus machen, Väterchen?“ – „Wie willst du’s machen?! Eine oder zwei Fuhren nehmen und auf den Markt fahren, da hast du dein Geld!“ – „Na schön!“ – „Nun, Alte, da du Geld haben wolltest, so geh in die Scheuer und harke Roggen zusammen, eine Fuhre so von dreißig Pud!“ Die Alte, nicht faul, ging in die Scheuer und harkte zehn Sack Roggen zusammen. Hat sie zusammengeharkt und kommt nach Hause. „Nun, Väterchen, ich habe ihn zusammengeharkt!“ – „Hast ihn zusammengeharkt, ist recht!“ Der Alte wartete keine Minute länger, lud kurzerhand auf und fuhr auf den Markt. Kam 798
auf den Markt und stellte sich am Rand auf. Steht mit seinem Getreide da, niemand kauft von ihm Getreide, niemand nimmt welches. Er stand da, stand bis zum Abend, keiner nimmt das Getreide. „Nun, da kann man nichts machen! Ob ich mal ins Wirtshaus gehe, ob sie dort Getreide nehmen?“ sagt er. Kam ins Wirtshaus und sieht den Schankwirt hinter dem Schanktisch stehen. „Wie ist’s, Schankwirt, brauchst du Getreide oder nicht?“ Und der Schankwirt gibt ihm zur Antwort: „Wie sollte ich kein Getreide brauchen?! Aber Geld habe ich keins, alles Geld ist ausgegeben.“ – „Nun, wenn du kein Geld hast – ich kann auch Branntwein dafür trinken.“ Der Schankwirt schickte also seinen Kellner und befahl, das Getreide abzuwiegen. Sie wogen an die dreißig Pud Getreide ab. Der Alte kam ins Wirtshaus, setzte sich auf einen Stuhl und zog seine graue, mit Tuch eingefaßte Bauernbluse aus. Er nahm den Dreieckshut ab, der aus eigener Wolle gemacht war. Nun fragt ihn der Schankwirt: „Wie steht’s, Großväterchen Ossip, brauchst du viel Branntwein?“ – „Ich brauche ein Viertel, das wird genügen“, sagt er. Sie stellten dem Alten ein Viertel Schnaps auf den Tisch und brachten ihm ein Teeglas. Der Alte sitzt da und trinkt seinen Branntwein. Er trank nun also das Viertel aus; diesem Zimmer gegenüber aber war ein anderes, genau gegenüber, Tür gegen Tür. Dort in dem Zimmer saß ein Pope, trank Tee und betrachtet den Alten. „Nun sieh einer an“, sagt er, „was für ein alter, steinalter Kerl – aber sein Viertel Schnaps hat er ausgetrunken!“ 799
Der Alte ruft den Schankwirt herbei: „Schankwirt, komm, ich will meine Zeche bezahlen.“ Der Schankwirt kommt an den Tisch. Er setzt seinen Dreispitz aus eigener Wolle auf, nimmt ihn wieder ab, schüttelt ihn und klopft damit auf den Tisch. „Nun, Schankwirt, ist bezahlt?“ Der Schankwirt sagt zu ihm: „Schon gut, Großväterchen Ossip, ‘s ist bezahlt, ist bezahlt.“ Der Pope aber sagt im stillen zu sich: „So ein Satan. Ich trinke eine Tasse, und selbst dafür nehmen sie fünf Kopeken, der aber hat ein Viertel ausgetrunken und bezahlt überhaupt nichts.“ Der Alte sagt: „Nun gut, ‘s ist Zeit, nach Hause zu fahren!“ Der Schankwirt befahl den Kellnern: „Geht und schirrt dem Alten das Pferd an, wie es sich gehört.“ Sie schirrten dem Alten das Pferd an, er stieg auf seinen Wagen und fuhr nach Hause. Kommt nach Hause und singt lustige Lieder. Die Alte hörte ihn, sperrt das Tor auf und erwartet den Alten. Begrüßte ihn. „Oi, Gott sei Dank! Man sieht gleich, der Alte hat Geld mit, ja, sie haben ihm sogar Schnaps zu trinken gegeben.“ – „Ja, Mütterchen, sie haben mich eingeladen“, sagt er. „Nun, Alter, hast du Geld oder nicht?“ – „Nein, Mütterchen, hab keins mit.“ – „Und wem hast du das Getreide verkauft?“ – „Dem Schankwirt!“ – „Nun, laß gut sein, beim Schankwirt ist es in guten Händen, wir können’s bekommen, wann es uns beliebt.“ Sie leben eine Woche, leben auch eine zweite. Der Alte sagt: „Ach, Mütterchen, wir haben so viel Getreide, soll ich noch eine Fuhre zum Verkauf fahren?“ – „Na schön, ich will gehen und eine Scheuer voll Ge800
treide zusammenharken.“ Die Alte ging wieder fort und harkte zehn Sack Hafer zusammen. Der Alte lud wieder seelenruhig seine Fuhre auf, schirrte das Pferd an und fuhr los. Kam auf den Markt. Stellte sich am Rand des Marktes auf. Stand und stand – keiner kauft Getreide, keiner nimmt welches. „Ach, der Teufel soll’s holen! Ehe ich hier herumstehe, fahre ich’s wieder zum Schankwirt, der wird’s nehmen“, sagt er. Also lenkte das Bäuerlein sein Pferd wieder um und fuhr das Getreide ins Wirtshaus. Der Schankwirt kommt herbei. „Wie ist’s, Schankwirt, brauchst du Getreide?“ Und der Schankwirt gibt ihm zur Antwort: „Wie sollte ich kein Getreide brauchen!? Aber alles Geld ist ausgegeben!“ – „Nun, komm, halt keine Reden, ich werde Branntwein dafür trinken!“ Der Schankwirt befahl dem Gesinde, das Getreide abzuwiegen. Sie hatten das Getreide abgewogen, und das Bäuerlein kam in die Wirtsstube. Nun, und der Schankwirt fragt ihn. „Nun, wie ist’s, Großväterchen, brauchst du viel Branntwein?“ Darauf der alte Ossip: „Ich brauche jetzt zwei Viertel!“ Sie brachten also dem Alten zwei Viertel Branntwein und stellten sie auf den Tisch. Der Alte setzte sich an den Tisch, zog seine graue Bluse aus, die selbstgemachte, und nahm den selbstgemachten Dreispitz ab. Wie er seine zwei Viertel ausgetrunken hat, saß im anderen Zimmer ein Pope und trank ein Schnäpschen. Der alte Ossip hatte also seinen Branntwein ausgetrunken und sagt: „Nun, Schankwirt, komm her, ich will meine Zeche bezahlen!“ Das Bäuerlein nimmt sei801
nen Hut vom Kopf und klopft mit dem Dreispitz auf den Tisch. „Ist bezahlt?“ sagt er. Der Schankwirt sagt: „Schon gut, schon gut, Großväterchen Ossip, ‘s ist bezahlt, fahr mit Gott!“ Der Pope aber saß da, trank an seinen drei Zehnteln und denkt bei sich: „Ich trinke hier meine drei Zehntel und muß Geld dafür bezahlen, von dem Alten aber nehmen sie nichts.“ Der Alte zieht sich an und macht sich mit Gott auf den Heimweg. Kommt zu Hause an und singt lustige Lieder. Seine Alte kommt herausgelaufen und begrüßt ihren Alten freudig. Kam heraus und machte das Tor auf: „Wie ist’s Alter, hast du Geld mit?“ – „Nein“, sagt er, „Mütterchen, ich hab keins mit, der Schankwirt hat alles Geld ausgegeben.“ Und sie gibt ihm zur Antwort: „Na schön, beim Schankwirt ist das Geld in guten Händen.“ Der Alte sagt zu ihr: „Auf den und den Tag hat er versprochen, das Geld zu bezahlen.“ Wieder also leben sie eine Woche und eine zweite. Wieder sagt der Alte zu seiner Alten: „Weißt du was. Alte, wir wollen noch etwas Getreide verkaufen!“ – „Na schön, Alter, verkaufen wir noch etwas.“ Die Alte ging also wieder in die Scheuer und harkte zehn Sack Roggen zusammen. Der Alte lud wieder seine Fuhre auf, schirrte das Pferd an und fuhr wieder los auf den Markt. Kam auf den Markt, stand und stand, und keiner kauft Getreide, keiner nimmt welches. Wieder stand er lange. „Ach, zum Teufel! Ich weiß einen Ort, ich will es zu dem alten Schankwirt fahren – hat er kein Geld, trinke ich Branntwein dafür!“ Kam zu dem alten Schankwirt und sagt: „Wie 802
ist’s, brauchst du Getreide?“ Und der Schankwirt gibt ihm zur Antwort: „Getreide brauchen wir wohl, Onkel Ossip, aber alles Geld“, sagt er, „ist ausgegeben!“ – „Nun, das macht nichts, ich werde Branntwein dafür trinken!“ Der Schankwirt befahl dem Gesinde, das Getreide abzuwiegen. Sie wogen also das Getreide ab, der Alte kommt in die Wirtsstube und sagt: „Bringt mir drei Viertel Branntwein. Zwei für mich und das dritte für die Alte, weil sie sich so abgemüht hat.“ Das Bäuerlein zog in aller Seelenruhe seinen Bauernkittel aus und nahm den Hut ab. Sitzt da, trinkt seinen Branntwein und singt lustige Lieder. Wie er die zwei Viertel ausgetrunken hat, saß da wieder im Zimmer gegenüber ein Pope bei einem Fläschchen Schnaps. Dieser Pope sagt bei sich: „So ein Satan: Dem glückt’s! Trinkt Branntwein und bezahlt kein Geld.“ Der Alte hatte seine zwei Viertel ausgetrunken. „Nun, Schankwirt, komm! Es ist Zeit, nach Hause zu fahren, ich will meine Zeche bezahlen.“ Der Schankwirt kommt an den Tisch. Das Bäuerlein Ossip nimmt seinen selbstgemachten Hut ab und klopft damit auf den Tisch. Ossip sagt zum Schankwirt: „Nun, ‘s ist bezahlt, Schankwirt!“ Und der Schankwirt: „Schon gut, schon gut, Großväterchen Ossip, fahr mit Gott!“ Der Schankwirt befahl, dem Großväterchen für die Heimfahrt das Pferd anzuschirren. Großväterchen setzte sich in seinen Schlitten und fing an lustige Lieder zu singen. Kommt zu seinem Haus, die Alte kommt herausgerannt und begrüßt ihren Alten: „Nun, wie ist’s, Alter, hast du Geld mit?“ Er aber 803
gibt zur Antwort: „Nein, Alte, der Schankwirt hat das Geld für den und den Tag versprochen.“ Sie spannten das Pferdchen aus. Die Alte stellte den Samowar auf den Tisch, und sie setzten sich und tranken Tee. Der Alte sagt zu seiner Alten: „Geh, Alte, auf der Diele steht ein Viertel Schnaps!“ Die Alte ging und brachte das Viertel Schnaps. Und sie fingen an Schnaps zu trinken und lustige Lieder zu singen. Sangen ihre lustigen Lieder und gingen in aller Seelenruhe schlafen. Einmal nun hatten die Popen eine Zusammenkunft. Die Popen tranken ihr Schnäpschen und fingen dann an, sich von diesem und jenem zu unterhalten. Der eine sagt: „Och, ich habe ein schönes Pferd!“ Der andere aber sagt: „Du mit deinem Pferd! Ich habe eine schöne Popin – das ist ein Grund zu prahlen!“ Und der dritte Pope sagt: „Was sind das für Redereien! Ich kenne ein Kunststückchen, so wahr ich hier sitze. Einmal war ich in die Stadt gefahren, in ein Wirtshaus gegangen und hatte mir Tee bestellt. Der Tee wurde gebracht, und ich sitze so und trinke meinen Tee. Und das Zimmer war akkurat gegenüber einem anderen Zimmer, dort saß ein alter Bauer und trank Branntwein, ein Viertel. Hatte sein Viertel ausgetrunken, rief plötzlich den Schankwirt und sagt: ‚Komm her, Schankwirt, ich will meine Zeche bezahlen!’ Und ich habe ihn die ganze Zeit nicht aus dem Auge gelassen. Der Schankwirt kam heran. Da nimmt er seinen Dreispitz ab und klopft damit auf den Tisch. ‚Nun, Schankwirt, ‘s ist bezahlt!’“ Der andere Pope sagt: „Brüste dich 804
nicht so! Dieses Kunststückchen habe ich auch gesehen!“ Der dritte Pope darauf: „Was prahlt ihr so! Dieses Kunststückchen habe ich auch gesehen, daß der Hut Geld bezahlt!“ Als die Popen sich ordentlich vollgetrunken hatten und sternhagelbetrunken waren, sagt der eine Pope: „Wenn doch wir Popen diesen Hut hätten, da könnten wir aber trinken!“ Diese drei Popen aber waren Verwandte, ein Schwiegervater und zwei Schwiegersöhne. Die Popen machten einen Plan und sagten: „Los, fahren wir hin und kaufen dem alten Ossip diesen Hut ab!“ Machten’s aus, spannten das Pferd ein und fuhren los. Sie kamen zu dem Dorf. Fuhren hinein und fragen nach dem Weg: „Irgendwo wohnt hier so ein altes Bäuerlein, Ossip mit Namen!“ Da sagten sie ihnen im Dorfe den Weg, wo der Alte wohnt. Dorthin fuhren sie nun also weiter. Sie fahren durch sein einsam gelegenes Feld. Akkurat in dem Augenblick kommt Ossip selber aus dem Wald gefahren, bringt eine Fuhre Holz. Der Alte sah die Popen. „Guten Tag, liebe Väterchen“, sagt er. Darauf die Popen: „Großväterchen Ossip, wir wollen zu dir, wir haben eine Bitte an Euch!“ – „Und was wollt ihr?“ – „Man hat uns da erzählt daß Ihr so einen Hut habt, und wir möchten nun diesen Hut kaufen!“ Der Großvater sagt zu ihnen: „Was fällt Euch ein, Väterchen, ich soll meinen Hut verkaufen? Er gibt mir zu trinken und zu essen und denkt für mich!“ – „Aber Großväterchen, wir wollen dir viel Geld für den Hut geben!“ – „Viel Geld wollt Ihr geben, Väterchen?“ – „Wieviel willst du?“ – „Ja, unter fünfhundert kann 805
ich ihn nicht hergeben. Und auch das nur unter der Bedingung, daß meine Alte einverstanden ist. Ob die ihn hergibt?“ Sie fuhren mit dem Alten zu seinem Haus. Kommen hin. Die Alte kommt herausgerannt. „Ach, guten Tag, liebe Väterchen!“ – „Guten Tag, Großmütterchen, guten Tag!“ – „Oi, ich setze gleich den Samowar an und schenke Euch ein Gläschen Tee ein!“ Sie aber geben ihr zur Antwort: „Frau, wir sind nicht zum Teetrinken hergekommen, wir kommen in Geschäften!“ – „Und was wollt Ihr, Väterchen?“ – „Wir sind gekommen, Großväterchen seinen Hut abzukaufen! Wir haben Großväterchen den Hut abgehandelt.“ – „Und für wieviel habt Ihr den Hut abgehandelt, Väterchen?“ – „Für fünfhundert Rubel!“ – „Was fällt Euch ein, Väterchen! Der Großvater hat euch den Hut zwar verkauft, aber ich verkaufe ihn nicht!“ – „Warum willst du ihn nicht verkaufen, Großmütterchen? Es ist doch viel Geld – fünfhundert Rubel!“ – „Was denkt Ihr nur, Väterchen, der Hut gibt uns zu trinken und zu essen und denkt für uns!“ Nun, die Alte sagt: „Macht was Ihr wollt! Nur, unter fünfhundertfünfzig Rubel gebe ich ihn nicht her!“ Die drei Popen sahen einander an. „Nun, was tut’s“, sagen sie, „fünfhundert Rubel haben wir gegeben, die fünfzig werden uns nicht umbringen, geben wir sie! Auf drei verteilt, was ist das schon!“ Sie bezahlten fünfhundertfünfzig Rubel für den Hut. Der Schwiegervater sagt nun zu seinen Schwiegersöhnen: „Macht was ihr wollt, ob’s euch gefällt oder nicht, aber den Hut kriegt ihr nicht. Ich will selber ausprobieren, wie der Hut 806
funktioniert!“ Nachdem die Popen von Ossip nach Hause gekommen waren, fuhr der Schwiegervater zum Markt in die Stadt, zierte sich mit diesem unansehnlichen Bauerndreispitz und fuhr in die Stadt. Kam in die Stadt, ging in eins der besten Gasthäuser, mietete dort zwei Gastzimmer, lud Gäste ein und begann die verschiedensten Weine und Speisen zu bestellen. Die Gäste feierten und zechten, zogen sich dann an und machten sich alle auf den Heimweg. Der Pope blieb allein zurück, er muß dem Schankwirt die Zeche bezahlen. „Nun, Schankwirt, komm her, ich will meine Zeche bezahlen!“ Er nimmt den dreieckigen Hut vom Kopf und klopft damit auf den Tisch: „Nun, Schankwirt, ist bezahlt?“ Der Schankwirt sagt: „Was hältst du mich zum Narren, Väterchen! Geld will ich haben, fünfzig Rubel!“ – „Ach, entschuldige, Schankwirt, gewiß habe ich nicht mit der richtigen Ecke geklopft.“ Nun, er klopfte mit der anderen Ecke, doch ohne Erfolg: „Nun, Schankwirt, ‘s ist bezahlt!“ – „Was heißt das, Väterchen, wo ist bezahlt? Mein Geld will ich haben!“ Nun, da war nichts zu machen. Wie sich der Pope auch sperren mochte, er muß fünfzig Rubel bezahlen. „Ach, der Teufel soll dich holen! Hat mir der Hut einen Schaden von fünfzig Rubel eingebracht!“ Da war nichts zu machen, der Pope bezahlte das Geld. „Nun schön, ich werde den Schwiegersöhnen nichts sagen. Sie sind reicher – sollen sie ruhig einen Verlust haben.“ Kam nach Hause, sagt nichts, ist vergnügt und unbekümmert. Der älteste Schwiegersohn kommt ihn besuchen. „Nun, 807
wie ist’s, Schwiegervater, wie hat sich der Hut bewährt?“ Er bekommt zur Antwort: „Nun, der Hut bewährt sich, und wenn es hundert Rubel sind, er bezahlt sie!“ Und der älteste Schwiegersohn fuhr auch in die Stadt. Kam in die Stadt, ging, wählte eins der besten Gasthäuser, mietete sich zwei Zimmer und lud Gäste dorthin ein, zweimal mehr als der Schwiegervater. Lud also Gäste ein – Popen, Lehrer, alle lud er dorthin ein. Die Gäste kamen, und nun ging’s ans Bewirten. Er befahl dem Schankwirt, alle möglichen Weine und Speisen und sonst noch alles mögliche zu bringen. Die Gäste langten ordentlich zu, dankten für die Gastfreundschaft und machten sich auf den Heimweg. Der Pope muß beim Schankwirt die Zeche bezahlen. „Nun, Schankwirt, komm her zum Tisch, ich will meine Zeche bezahlen!“ Der Schankwirt kam an den Tisch. Der Pope nun nahm den Dreieckshut vom Kopf. Klopft auf den Tisch. „Bezahlt!“ sagt er. Der Schankwirt aber guckt, und die Augen quellen ihm fast aus dem Kopf: „Was fällt dir ein? Hältst du mich zum Narren? Gib mir meine hundert Rubel! Das ist schon der zweite Pope, der mir so närrisch kommt. Die Leute zum besten haben!“ Der Pope nun sagt: „Ach, entschuldigt, ich habe nicht mit der richtigen Ecke geklopft.“ Klopfte wieder. „Bezahlt?“ sagt er. Der Schankwirt: „Was soll das? Was heißt bezahlt?“ – „Ach, entschuldigt!“ Und er klopfte mit der dritten Ecke. Der Schankwirt sagt zu ihm: „Was fällt dir nur ein, Väterchen? Bezahle, sonst rufe ich die Polizei, dann hast du noch die Schande dazu!“ Es 808
blieb dem Popen nichts anderes übrig, die hundert Rubel – er muß sie bezahlen, aber hundert Rubel sind kein Pappenstiel! „Nun, schön, ‘s ist, wie es ist – doch auch ich will dem Schwager nichts sagen. Er hat eine schöne Gemeinde, reicher als meine, und ich werde ihm nicht erzählen, daß ich hundert Rubel bezahlt habe.“ Der Schwager kommt zum Schwager gefahren und fragt: „Nun, wie ist’s, Schwager, wie funktioniert der Hut?“ Und der gibt ihm zur Antwort: „Ja, der Hut bewährt sich, und wenn’s hundert Rubel sind!“ Der Schwager nahm von seinem Schwager den Hut und fuhr auch in die Stadt. Kommt in die Stadt ins Gasthaus und bittet um ein Zimmer für Gäste. Nahm zwei Zimmer und lud Gäste ein, sogar noch mehr als sein Schwager, dreimal mehr. Nun, als die Gäste da waren, befahl der Pope dem Schankwirt, alle möglichen Weine und Speisen zu bringen. Die Gäste zechten eine Weile, hatten gezecht und machten sich auf den Heimweg. Der Pope blieb zurück, setzt den Hut auf und ruft den Schankwirt. Der Schankwirt kommt. „Komm her, ich will meine Zeche bezahlen.“ Der Pope nimmt den Hut vom Kopf und klopft damit auf den Tisch. „Schankwirt“, sagt er, „ist nun bezahlt?“ Der Schankwirt aber guckte und guckte: „Ja, was ist denn nur mit euch los, das ist der dritte Pope, der mir so närrisch begegnet, und alle mit diesem Hut?“ Den Schankwirt packte die Wut, er fuhr dem Popen kurzerhand in die Haare und riß ihn hin und her. Da war nichts zu machen, der Pope schrie: „Schon gut, der Teufel hol’s! Ich bezahle 809
das Geld, nur laßt mich los!“ Holte seine Geldbörse aus der Tasche, bezahlte hundertfünfzig Rubel und fuhr nach Hause. Kam zu Hause an, da versammelten sich die drei Popen an einem Platze: der Schwiegervater mit den zwei Schwiegersöhnen. Sie hielten sich ordentlich an den Schnaps, wurden betrunken und begannen sich zu unterhalten. Der eine Pope sagt: „Was zuviel ist, ist zuviel, laßt uns fahren und den alten Ossip erschlagen!“ Gerade aber, als sie sich unterhielten, ging ein Hausierer vorbei (in Petersburg nennen sie solche Leute „Possadski“16). Der hörte diese Reden, daß die Popen den Alten erschlagen wollen. Dieser Hausierer machte sich sogleich auf den Weg zu diesem Ossip und sagt: „Großväterchen Ossip, dich wollen die und die Popen erschlagen!“ Da lud der Alte den Hausierer zum Tee ein, gab ihm Tee, Zucker dazu und einen Kanten Brot. „Nun, hab Dank, daß du mir’s gesagt hast! Hör zu, Alte, man will uns erschlagen. Und keiner da, der uns hilft, wir sind zuwenig Leute.“ Da dachte er sich etwas aus: „Paß auf. Alte! Ich verschaffe mir ein Kreuz, und dann bahrst du mich auf, ich lege mich in den Vorraum, du deckst mich mit einem Leichentuch zu, versperrst das Tor und gehst im Speicher auf und ab, singst Sterbelieder.“ Nach einer Weile hört er, daß die Popen gefahren kommen; sie klopfen ans Tor, die Alte aber geht im 16
Possadski – ursprünglich Bezeichnung für Händler, die außerhalb des eigentlichen Stadtbereichs wohnen. (Anm. d. Übers.)
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Speicher auf und ab und singt Sterbelieder. Die Popen brechen bald das Tor entzwei. „Oi, wohin wollt Ihr, liebe Väterchen? Mein Alter ist gerade gestorben, er muß zurechtgemacht und in den Sarg gelegt werden. Ich gehe gerade und sammle Zweige, damit er etwas Weiches und Zweige in den Sarg bekommt.“ Die Popen brachen das Tor auf und gingen ins Haus, die Alte aber geht immer im Speicher auf und ab, singt Sterbelieder, geht aber nicht ins Haus. Der eine Pope sagt: „Ich will ihm, wenn er auch tot ist, für die fünfhundert Rubel eins mit dem Kreuz versetzen.“ Er schlug mit dem Kreuz zu – der Bauer aber warf den Arm zur Seite. Und der andere Pope sagt: „Du schlägst nicht richtig zu. Laß mich mal, ich mach’s ordentlich!“ Der zweite Pope nahm das Kreuz in die Hände und schlug zu. Der Bauer warf auch das Bein zur Seite, und der dritte Pope sagt: „Nun, ihr schlagt nicht richtig zu, laßt mich mal, wenn ich zuschlage, springt der ganze Kerl auf.“ Also nahm der dritte Pope das Kreuz und schlug mit aller Kraft zu. Der Alte fiel von der Bank herunter, dem Popen gerade vor die Füße. „Oi, Väterchen, hab Dank, hab Dank. Du hast mich wieder lebendig gemacht! Das wäre ja schlimm für meine Alte gewesen, ohne mich zu leben!“ Die Popen wendeten ihr Pferd und fuhren davon. Kamen nach Hause und trennten sich. Da ging durch das ganze russische Zarenreich die Kunde: in der und der Stadt ist der und der General gestorben. Die Frau des Generals ließ in ganz Rußland bekanntmachen: Wenn jemand ih811
ren Mann wieder lebendig machen könnte, den würde sie mit einer unermeßlichen Summe belohnen. Die Popen kamen zusammen und überlegten miteinander. Der eine Pope sagt: „Wir haben den alten Ossip mit diesem Kreuz wieder lebendig gemacht. Nehmen wir das; wir wollen fahren und dem Alten dieses Kreuz abkaufen!“ Die Popen spannten das Pferd ein und fuhren dorthin zu dem Alten. Kamen zu dem Alten und sagten: „Großväterchen! Wir sind mit einer Bitte zu dir gekommen.“ – „Und weswegen seid Ihr gekommen, Väterchen?“ – „Wir möchten dir das Kreuz abkaufen!“ – „Was fällt Euch ein, Väterchen, das Kreuz soll ich verkaufen? Es gibt mir zu trinken und zu essen und denkt für mich. Was denkt Ihr, wen ich damit wieder lebendig machen kann! Ich bekomme mal fünf Rubel dafür, mal zehn. Und wir leben und ernähren uns davon, meine Alte und ich.“ – „Nun, was soll’s, Großvater, verkaufst du das Kreuz?“ – „Was heißt hier verkaufen, liebe Väterchen“! Wieviel wollt Ihr mir geben?“ – „Wieviel willst du denn haben, Großväterchen?“ – „Ja, was soll ich sagen, Väterchen? Ob’s Euch nun gefällt oder nicht, aber unter fünfhundert kann ich das Kreuz nicht hergeben!“ Die Popen sahen einander an und bezahlten die fünfhundert Rubel für das Kreuz. Stiegen ein und fuhren davon. Kamen nach Hause und machten sich gleich dorthin auf den Weg, wo der General gestorben war. Kamen in diese Stadt und erfragten Haus und Wohnung. Haus Nummer fünfzig, Wohnung dreiunddreißig. Sie kommen dorthin in die Küche, man fragt sie: 812
„Ihr wollt den Toten wieder lebendig machen?“ – „Jawohl, wir wollen den Toten wieder lebendig machen!“ Sie wurden in das Zimmer gelassen, wo der General aufgebahrt lag. Da schlossen sie sich in diesem Zimmer ein, waren nur zu dritt darin. Der eine sagt zum zweiten: „Los, gib ihm eins mit dem Kreuz!“ Der eine nahm das Kreuz und schlug zu, daß es dröhnte. Der Tote steht nicht auf. Der eine sagt: „Du schlägst nicht richtig zu. Laß mich, ich will nochmal zuschlagen!“ Wie er nun nochmal zuschlägt, fiel ihnen der General bald vom Tisch herunter, doch er steht nicht auf. Nun sagt auch der dritte: „Laßt mich mal, ich pfeife ihm eins, daß er gleich aufspringt!“ Der dritte schlug ihn so derb, daß er ihm den Schädel abschlug. Da erschraken sie und versteckten sich unter dem Tisch. Wenn man sie erwischte, war’s schlimm – sie können nirgendshin entkommen. Wieder lebendig gemacht haben sie ihn nicht, dafür haben sie etwas angerichtet, wofür man sie bestrafen wird. Nun suchte einer bei dem anderen Hilfe, und sie überlegten miteinander. Der eine Pope sagt: „Paßt auf, wir machen zur Bedingung, daß drei Stunden niemand zu ihm hineingeht.“ So machten sie es auch; gingen in die Küche, gleich zur Generalin: „Ihr könnt erst in drei Stunden ins Zimmer hineingehen, bleibt solange draußen!“ Drei Stunden sind eine lange Zeit. Sie mußten still und leise aus der Stadt verschwinden. Sie mieteten also Pferde und einen Wagen. Für ihr Geld aber hatte der alte Ossip inzwischen eine Schenke eröffnet. Als seine Alte gestorben war, hatte er einen lusti813
gen Schnapshandel begonnen. Nun kommen die Popen gefahren. Kommen und sahen das Schild des alten Ossip an der Schenke. Der eine Pope sieht hin: „Uch, hier handelt Ossip mit Branntwein! Seht ihr, wie er mit unserem Geld reich wird!“ Der eine Pope sagt: „Er wird mit unserem Gelde reich, wir aber wollen ihn erschlagen!“ Die zwei Popen darauf: „Wie können wir ihn erschlagen? Laßt uns vorbeifahren!“ – „Nein, keinesfalls, er muß erschlagen werden!“ Sie stiegen von ihrem Wagen herunter, der Kutscher wendete die Pferde und fuhr davon. Früher wurden die Schenken mit Fensterläden verschlossen. Der Alte hatte alle Fensterläden zugemacht, man konnte nicht zu ihm hinein. Der eine Pope sagt: „Ich komm hinein!“ Sogleich kletterte er über den Zaun und ging ans Fenster. Nahm ein Holzscheit, schlug das Fenster ein und kletterte hinein. Kletterte hinein, der Alte aber, nicht faul, kam gleich gerannt, nahm eine Axt und versetzte ihm eins gegen den Kopf. Der Pope brauchte nichts mehr. Der Alte packte ihn an den Haaren, zerrte ihn in die Schenke hinein und warf ihn hinter ein Vierzigliterfaß. Die zwei Popen stehen draußen und sprechen miteinander: „Warum dauert es bei ihm so lange, den Alten zu erschlagen?! Geh mal hin“, schickt der eine den anderen, „zu zweit ist es bequemer, ihr werdet ihn schneller erschlagen!“ Der zweite Pope kletterte über den Zaun. Kommt zum Fenster, klettert genauso hinein wie der erste. Der Alte versetzt ihm wieder einen Schlag mit der Axt, und auch der war erledigt. Er packte ihn bei den Haa814
ren, zerrte ihn zum Fenster herein und warf auch ihn hinter das Faß. Dann steht der dritte Pope draußen, wartet, wartet lange Zeit. Er sagt zu sich: „Der Teufel soll’s holen! Können die zwei ihn wirklich nicht erschlagen? Wahrscheinlich haben sie sich ausgesöhnt und trinken dort Branntwein. Ich muß auch hingehen!“ Der dritte Pope kletterte also auch über den Zaun. Ging auch zu dem Fenster und will hineinklettern. Und er versetzte ihm genauso einen Schlag mit der Axt gegen die Stirn und erschlug ihn. Er zerrte diesen Popen an den Haaren heraus und warf ihn im Vorraum auf die Bank. Der Pope liegt nun da. Bei Ossip aber war einer, der hieß Wassili oder so ähnlich. Tagsüber ging er Abfälle sammeln, abends aber kam er zu Ossip in die Schenke. Dieser Wassili kam und wollte übernachten. Da sagt Ossip zu ihm: „Oi, Wassili, Wassili, warum bist du gestern nicht gekommen? Da war einer hier, ein Pope oder ein Mönch, ich weiß nicht, hat sich mit Schnaps vollgetrunken und mich verprügelt.“ Dieser Wassili nun sagt: „Weißt du was, Onkel Ossip, gib ihn her, ich werfe ihn ins Wasser!“ Wassili nahm also den Mönch auf die Schulter und trug ihn zum See, um ihn hineinzuwerfen. Auf den Weg hatte er sich ein Fläschchen Schnaps in die Tasche gesteckt und ging unbekümmert seinen Weg. Kam zum See. Den Popen hatte er mit. Bautz, warf er ihn genau ins Eisloch und paßt auf, ob er vielleicht irgendwo wieder herauskommt. Sitzt und sitzt und trinkt ein Gläschen nach dem anderen. Saß bis zum Abend, da wurde es kalt. Und er machte sich 815
wieder auf zum alten Ossip. Der alte Ossip aber, nicht faul, hatte auch diesen Popen auf die gleiche Bank geworfen. Wassili kommt zu Ossip, macht die Tür auf und fragt Onkel Ossip: „Nun, Onkel Ossip, ist der Pope wiedergekommen oder nicht?“ Ossip sagt zu diesem Wassili: „Es ist noch schlimmer geworden, er ist noch wütender wiedergekommen.“ – „Wie ist denn das möglich? Ich denke, ich habe ihn ins Wasser geworfen und ins Eisloch geguckt, ob er wieder herauskommt! Na schön, Onkel Ossip, gib her, ich werfe ihn ins Wasser und bleibe etwas länger sitzen, wenn du mir ein Viertel Schnaps gibst!“ Er nahm also den Popen auf die Schulter und steckte das Viertel Schnaps ein. Trug ihn zum See. Warf ihn auf die gleiche Manier – bautz – in das Eisloch hinein, daß die Blasen nur so hochkamen. Also schön, er bleibt sitzen. Sitzt da, trinkt sein Gläschen leer und paßt auf das Eisloch auf, ob der Pope etwa dort herauskommt. Wie er den ganzen Tag und die ganze Nacht gesessen hatte, wurde es hell; er sah sich bei Tageslicht nach allen Seiten um – vom Popen nichts zu sehen. Also ist er fertig und muckst nicht mehr! Wieder ging er lustig und guter Dinge zum alten Ossip in die Schenke. Kommt in die Schenke und fragt Onkel Ossip: „Wie ist’s denn, Onkel Ossip, ist der Pope wiedergekommen?“ Und Ossip gibt ihm zur Antwort: „Ach, was denkst du, Wassili! Ist wiedergekommen, noch wütender, hat mich fast erschlagen und noch mehr Branntwein getrunken.“ Wassili merkte nicht, daß in der Ecke der dritte Pope liegt. „Gib 816
mir einen halben Eimer Branntwein! Also diesen Popen bringe ich fort, also ohne zu mucksen, der kommt nicht wieder. Zwei Tage bleibe ich dort sitzen!“ Ossip gab ihm einen halben Eimer, er nahm den halben Eimer, den Popen auf die Schulter – und zum See. Brachte ihn an den See und warf ihn – bautz – ins Eisloch hinein, die Blasen stiegen nur so hoch. Wassili sitzt da, raucht und trinkt seinen Schnaps. Er sitzt also einen Tag und eine Nacht, sitzt auch den zweiten Tag und die zweite Nacht, vom Popen ist die ganze Zeit nichts zu sehen, er kommt aus dem See nicht heraus; also hat er ihn endlich ertränkt! Auch den zweiten Tag und die zweite Nacht bleibt er sitzen, blieb sitzen, bis es hell wurde. Es war aber gerade an einem Sonntag. Die Kirche stand am See; wie es hell wurde, läutete der Küster tatsächlich die Glocken. Die Frühmesse muß gelesen werden. Der Pope zog sich an und ging am Ufer entlang. Da sah Wassili diesen Popen, sah, daß da ein Pope geht. Sprang auf und rannte dem Popen hinterher. „Ach du langhaariger Satan! Dreimal habe ich dich ins Wasser geworfen, und du läufst noch immer herum!“ Der Pope erschrak: „Was willst du? Was willst du? Warum mir das?“ Darauf dieser Wassili: „Ach! Warum hast du beim alten Ossip den ganzen Wein ausgetrunken und ihn geschlagen?! Ich werde dich gleich ins Wasser werfen!“ Der Pope konnte zu keinem Gotte mehr beten, Wassili packte ihn an den Haaren und trug ihn zum Eisloch. Brachte ihn hin und packte ihn an den Beinen: „Bereue deine Sünden!“ Der Pope hatte kei817
ne Lust zu sterben. Wassili packte ihn aber an den Beinen, und bautz – ins Wasser, die Blasen stiegen nur so hoch! Hatte ihn ins Wasser geworfen, blieb eine Weile sitzen und machte sich dann auf den Weg zum alten Ossip in die Schenke. Kam hin und fragt: „Nun, wie ist’s Onkelchen Ossip? Ist der Pope wiedergekommen?“ – „Nein, Väterchen, ist nicht wiedergekommen.“ – „Nun, dann habe ich ihn ertränkt!“ Der Küster läutete tatsächlich, der Pope aber kommt noch immer nicht. „Was ist los, zum Teufel!? Der Pope kommt noch immer nicht! Ich will nach Hause gehen, will zum Popen gehen!“ Kam hin und fragt: „Mütterchen, wo ist das Väterchen?“ – „Das Väterchen ist doch in die Kirche gegangen!“ – „Wieso ist er in die Kirche gegangen, Mütterchen? Ich hätte ihn doch sehen müssen, hab doch die Sonntagsglocken geläutet!“ – „Aber bestimmt, er ist in der Kirche!“ Der Küster ging zurück zur Kirche, sah nach – in der Kirche ist er nicht. Da begannen sie, den Popen zu suchen und zu suchen, und wissen nicht, wo sie ihn finden sollen. Damit war die Sache zu Ende. Ich war auch dort, habe Märchen erzählt. Die Hörer haben die Speisen geschleckt, der Erzähler die leeren Teller geleckt
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77 Des Ziegenbocks Begräbnis Es lebten einmal ein alter Mann und eine alte Frau, die hatten kein einziges Kind, nur einen Ziegenbock; der war ihr ganzes Hab und Gut! Der Alte konnte keinerlei Handwerk, nur Bastschuhe flechten – davon allein ernährte er sich. Der Ziegenbock hatte sich an den Alten gewöhnt; wohin der Alte auch außer Haus ging, der Ziegenbock kam ihm nachgerannt. Einmal mußte der Alte nach Bast in den Wald gehen, und der Ziegenbock war ihm nachgelaufen. Sie kamen in den Wald: der Alte fing an, Bast zu schneiden, der Ziegenbock aber streift umher und rupft sich hier und da Gras; rupfte und rupfte, und sank plötzlich mit den Vorderbeinen im lockeren Erdreich ein, fing an zu scharren und scharrte einen Topf mit Gold frei. Der Alte sieht, daß der Bock die Erde scharrt, ging hin – und sah das Gold; er freute sich unsäglich, warf seinen Bast weg, nahm das Geld und – nach Hause. Erzählte alles seiner Alten. „Nun, Alter“, sagt die Alte, „diesen Schatz hat uns Gott auf unsere alten Tage geschickt, weil wir uns so viele Jahre in Armut gequält haben. Jetzt aber wollen wir uns ein vergnügtes Leben machen!“ – „Nein, Alte“, antwortete ihr der Alte, „dieses Geld haben wir nicht durch unser Glück gefunden, sondern durch das 819
Glück des Ziegenbocks, wir müssen den Ziegenbock jetzt besser hegen und pflegen als uns selber.“ Von da an hegten und pflegten sie den Ziegenbock besser als sich selber, erholten sich aber auch selber – es konnte gar nicht besser sein! Der Alte vergaß sogar, wie man Bastschuhe flicht; sie leben herrlich und in Freuden und kennen keine Sorge. Nach einer Weile nun wurde der Bock krank und starb. Da beratschlagte der Alte mit seiner Alten, was sie tun sollten: „Wenn wir den Bock den Hunden vorwerfen, dann machen wir uns vor Gott und den Menschen schuldig, weil wir unser ganzes Glück durch den Bock bekommen haben. Ich will lieber zum Popen gehen und ihn bitten, dem Bock ein christliches Begräbnis zu geben, so wie man auch andere Tote begräbt.“ Der Alte machte sich auf, kam zum Popen und verneigt sich: „Sei gegrüßt, Väterchen!“ – „Sei gegrüßt! Was willst du?“ – „Hört, Väterchen, ich bin mit einer Bitte gekommen, bei mir zu Hause ist ein großes Unglück geschehen, unser Bock ist gestorben. Ich bin gekommen, dich zum Begräbnis zu bitten.“ Als der Pope solche Reden hörte, wurde er sehr böse, packte den Alten am Bart und schleifte ihn durch die Stube: „Ach, du Ruchloser, was fällt dir ein, einen stinkenden Bock beerdigen zu lassen!“ – „Aber Väterchen, dieser Bock war doch durch und durch rechtgläubig; er hat dir zweihundert Rubel vermacht!“ – „Höre, alter Schafskopf – ich schlage dich nicht deswegen, weil du mich zum Begräbnis des Ziegenbocks bittest, sondern weil 820
du mir bis jetzt nichts von seinem Hinscheiden gesagt hast; vielleicht ist er schon lange gestorben!“ Der Pope nahm dem Bauern die zweihundert Rubel ab und sagt: „Nun geh schnell zum Vater Diakon, er soll sich fertigmachen: wir gehen sogleich den Bock begraben.“ Der Alte kommt zum Diakon und bittet: „Mach dir die Mühe, Vater Diakon, komm zu mir ins Haus, eine Leiche auf den Friedhof zu bringen!“ – „Wer ist denn bei dir gestorben?“ – „Ihr habt doch meinen Ziegenbock gekannt, der ist gestorben!“ Da begann der Diakon ihn links und rechts zu ohrfeigen. „Schlag mich nicht, Vater Diakon“, sagt der Alte, „der Bock war doch gewiß ganz rechtgläubig: als er im Sterben lag, hat er dir hundert Rubel fürs Begraben vermacht!“ – „Ach, bist so alt und doch so dumm“, sagte der Diakon, „warum hast du mich denn nicht schon längst von seinem seligen Hinscheiden verständigt! Geh schnell zum Küster; er soll für die Bockseele die Glocken läuten!“ Der Alte kommt zum Küster gerannt und bittet: „Komm, läute die Glocken für die Seele meines Ziegenbocks!“ Der Küster wurde böse und fing an, den Alten am Bart zu reißen. Der Alte schreit: „Laß bitte los! Der Bock war doch rechtgläubig, er hat dir fürs Begräbnis fünfzig Rubel vermacht!“ – „Warum druckst du solange herum, das mußtest du mir früher sagen; es hätte schon längst geläutet werden müssen!“ Und der Küster stürzte sich sogleich auf den Glockenturm und begann aus Leibeskräften alle Glocken zu läuten. Pope und 821
Diakon kamen zu dem Alten und begannen das Begräbnis; legten den Ziegenbock in einen Sarg, trugen ihn auf den Friedhof und vergruben ihn in einem Grab. Nun begannen die Leute untereinander über diese Sache zu reden, und es kam vor den Bischof, der Pope habe einem Ziegenbock ein christliches Begräbnis gegeben. Der Bischof ließ den Alten und den Popen zur Bestrafung zu sich kommen: „Wie konntet ihr wagen, einen Ziegenbock zu begraben? Ach, ihr Gottlosen!“ – „Aber dieser Ziegenbock“, sagt der Alte, „war doch durchaus nicht so wie andere Ziegenböcke, er hat Eurer Eminenz vor seinem Tode tausend Rubel vermacht!“ – „Ach, was bist du dumm, Alter, ich verurteile dich nicht, daß du den Ziegenbock begraben hast, sondern weil du ihm bei Lebzeiten nicht die heilige Ölung hast geben lassen!…“ Nahm die tausend Rubel und entließ den Alten und den Popen nach Hause.
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78 Der gutmütige Pope Es lebte einmal ein Pope; der dingte einen Knecht und nahm ihn mit in sein Haus. „Nun, Knecht, diene mir fleißig, du sollst es gut bei mir haben!“ Der Knecht war eine Woche da, da begann die Heumahd. „Nun, Sohn“, sagt der Pope, „wenn Gott es schickt, werden wir die Nacht gut überstehen, den Morgen abwarten und in der Frühe ins Heu fahren.“ – „Ist gut, Väterchen!“ Sie warteten den Morgen ab und standen zeitig auf. Der Pope sagt zu seiner Popin: „Gib uns zu frühstücken, Mütterchen: wir wollen aufs Feld fahren und Heu machen!“ Die Popin deckte den Tisch, sie setzten sich zu zweit hin und frühstückten, wie es sich gehört. Der Pope sagt zum Knecht: „Komm, Sohn, wir wollen gleich zu Mittag essen, dann können wir ohne Pause bis zum Vesper durcharbeiten!“ – „Wie Ihr meint, Väterchen, wir können auch zu Mittag essen.“ – „Trag zum Mittagessen auf, Mütterchen!“ befahl der Pope seiner Frau. Die trug ihnen das Mittagessen auf. Sie aßen einen Löffel, einen zweiten – und sind satt. Der Pope sagt zu seinem Knecht: „Komm, Sohn, wir wollen in einem Zuge auch gleich vespern, dann können wir bis zum Abendessen durcharbeiten!“ – „Wie Ihr meint, Väterchen, soll gevespert werden, können wir auch vespern.“ Die 823
Popin trug das Vesperbrot auf den Tisch. Sie schlürften wieder jeder einen Löffel, einen zweiten – und sind satt. „Nun kommt’s auf eins heraus“, sagt der Pope zum Knecht, „wir wollen nun in einem auch gleich unser Abendbrot essen, dann können wir auf dem Felde übernachten und sind morgen früher an der Arbeit!“ – „Immer zu, Väterchen!“ Die Popin trug ihnen das Abendessen auf. Sie löffelten ein-, zweimal und standen vom Tisch auf. Der Knecht ergriff seine Jacke und will hinaus. „Wohin, mein Sohn?“ fragt der Pope. „Was heißt hier wohin? Ihr wißt doch selber, Väterchen, daß man sich nach dem Abendbrot schlafen legen soll!“ Ging in die Scheune und schlief bis zum Morgen. Seit jener Zeit gab der Pope seinen Knechten nicht mehr Frühstück, Mittagessen, Vesper und Abendbrot zugleich.
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79 Der Bauer und der Pope Es ging ein Bauer den Weg entlang. Er holt einen Popen ein. „Guten Tag, Väterchen!“ sagt er. „Guten Tag, mein Sohn!“, sagt der. „Wohin gehst du, Bauer?“ „Ich will ins Dorf Chmelnoe17 *, Väterchen!“ „Und weswegen, Bauer?“ „Ach, Väterchen, dort soll ein Pferd zu Verkauf stehen!“ „Hast du denn nicht ein Pferd gehabt?“ „Doch, aber der Wolf hat’s gefressen.“ „Das ist freilich schlecht“, sagte der Pope. Sie gehen so – da finden sie einen Sack auf dem Wege. „Seht, Väterchen, da hat wohl ein armer Bauer seinen Sack verloren.“ Sie kommen zu diesem Sack. Der Pope sagt: „Wie ist’s, teilen wir halb und halb?“ Der Bauer sagt: „Wie du meinst, Väterchen, teilen können wir, wenn ein Stück Brot drin ist.“
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Chmel’noe – abgeleitet von chmel’ – „Hopfen-Rausch“ (Anm. d. Übers.).
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Sie binden den Sack auf. Darin ist ein gebratenes Ferkel. Dem Popen gefiel dieses Ferkel, und er sagt zum Bauern: „Bauer!“ „Was ist, Väterchen?“ „Dieses Ferkel lohnt sich nicht zu teilen.“ „Wie dann, Väterchen? Wer’s zuerst gesehen hat, dem gehört das Ferkel?“ Der Pope aber sagt zum Bauern: „Wir müssen im Walde übernachten. Wir werden also dieses Ferkel nicht teilen, sondern uns schlafen legen. Wer den schöneren Traum träumt, dem soll das Ferkel gehören.“ (Der Pope denkt, den Bauern werde ich schon leimen.) Die Nacht kam. Sie machten ein Feuer und legen sich schlafen. Nun, der Bauer war das Laufen gewohnt und war nicht sehr müde, der Pope aber war sehr ermattet und schlief ein. Der Bauer sieht, daß der Pope schon schläft, nimmt den Sack, holt das Ferkel heraus und beginnt zu essen. Aß alles auf und legte sich schlafen. „Schön“, sagt er, „mag ich nun träumen oder nicht, jedenfalls werde ich besser schlafen können.“ Der Bauer schläft unbekümmert. Am Morgen stehen sie auf. Der Pope sagt: „Bauer, erzähle nun, was hat dir heute geträumt?“ „Weiß nicht, Väterchen. Erzählt erst einmal Ihr, was Ihr geträumt habt, dann will ich erzählen.“ Also der Pope: „Nun, ich will meinen Traum erzählen!“ 826
Der Bauer lacht: „Dann wird wohl auch das Ferkel dir gehören, Väterchen?“ Der Pope: „Ja, ja! Wer den schöneren Traum hat, dem soll auch das Ferkel gehören.“ „Nun, erzähle, Väterchen!“ Der Pope fängt nun also an: „Ich schlafe also, Bauer. Vor mir war auf einmal eine Leiter bis in den Himmel hinein. Auf dieser Leiter nun kletterte und kletterte ich hoch und kletterte bis in den Himmel hinein. Dort aber bringen sie dem Herrgott gebratene Hühner, Gänse und Ferkel, und ich habe mich bis zum Hals vollgegessen.“ „Ihr habt einen schönen Traum, Väterchen“, sagt der Bauer. „Ich bin auch munter geworden“, sagt er, „und sehe, wie du die Leiter hochkletterst. Ich dir leise nach. Dich hat der Herrgott eingeladen und bewirtet. Ich guckte und guckte, aber mir hat er nicht einmal zugenickt. Ich bin so schnell wie möglich wieder die Leiter heruntergeklettert, habe den Sack genommen und das Ferkel aufgegessen.“ Da schrie der Pope: „Ich bin ja gar nicht dort gewesen!“ „Ob du nun dort warst oder nicht, das Ferkel ist jedenfalls nicht mehr da, Väterchen!“ Der Pope glaubte’s nicht – macht den Sack auf – der Sack ist leer. Der Pope stürzte sich auf den Bauern, um ihn zu verprügeln. Der Bauer packte den Popen an 827
seinen langen Haaren, stieß ihn gegen die Erde und sagt: „Du hast wie ein verfluchter Drache die Menschen aufgefressen, und so willst du auch den Bauern auffressen! Nein, den Bauern sollst du nicht auffressen!“
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80 Der lüsterne Pope Seine Nachbarin war eine Schönheit, sie geht immer vorbei, um Wasser zu holen. Er aber saß ständig auf den Stufen vor dem Haus. Kaum geht sie nach Wasser, macht er gleich: „Hi-hi-hi-hi-hi!“ Sie kommt zu ihrem Mann und sagt, was der lüsterne Pope anstellt: „Ich brauch nur nach Wasser zu gehen, gleicht macht er sein hi-hi!“ „Ach, du Närrin, du verstehst nicht, daß er… Er will dich gern zur Liebsten haben.“ Und die Frau sagt zu ihrem Mann: „Was soll ich tun?“ „Wenn du wieder gehst und er sein ,hi-hi-hi’ anfängt, sagst du: ,Nun laß schon endlich dein Wiehern sein, Väterchen, komm in der Nacht zu mir! Komm nur und bring recht viel zu essen mit!’“ Und der Pope war ganz Feuer und Flamme, brachte einen ganzen Schinken und ein Viertel Schnaps. Der Mann aber hatte zu seiner Frau gesagt: „Wenn ich mit dem Fuß aufstampfe – wir haben doch das Teerfaß dastehen –, dann stecke ihn in das Faß!“
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Er kam also, sie fingen an zu trinken und dazu zu essen. Plötzlich klopfte ihr Mann. „Wohin kann ich mich denn verstecken?“ sagt er. „Klettre ins Faß!“ Der zieht Hemd und Unterhosen aus und schwupp – ins Faß. Ihr Mann schimpfte: „Ich habe dir doch gesagt, du sollst das Faß hinausrollen und ausräuchern!“ (sie simulieren einfach so). Sie: „Sofort, sofort!“ Er hatte aber schon das Pferd eingespannt. Sie rollten das Faß hinaus und stellten’s auf den Wagen, und er fuhr’s aufs Feld hinaus. Da kommt ein adliger Herr gefahren. „Was fährst du da, Bauer?“ „Ach“, sagt er, „ich habe heute Nacht einen alten Teufel gefangen.“ „Und wohin bringst du ihn?“ sagt er. „Nach Moskau, zum Ausstellen!“ „Kann man ihn einmal ansehen?“ „Ja“, sagt er, „das kann man, hundert Rubel fürs Angucken!“ Weil sie ihn aber gerollt hatten, hatte er sich über und über mit Teer beschmiert, und Bart und Haare waren ihm voller Teer. Der Herr sah ihn sich an, der Pope aber ist entsetzlich froh, einmal frische Luft schnappen zu können (es, das heißt das Fäßchen, war nämlich eng). Als er das Fäßchen aufgemacht hatte, kam 830
er mit dem Mund an die Öffnung heran. Der Bauer aber sagte: „Warte, warte, vorsichtig, sonst fliegt er fort!“ Und er ließ ihn nicht ordentlich hingucken. „Nun“, sagt er, „alter Teufel, wenn jemand dich ansehen will, dann komm schneller heraus, sonst muß ich dich verbrennen!“ Da überlegte sich’s der adlige Herr noch einmal: er hatte den Teufel noch nicht richtig gesehen. Er kehrt um: „Warte, Bauer, nimm noch hundert Rubel, ich möchte ihn noch einmal ansehen!“ Der Bauer griff nach seinem Pferd: „Ich kann’s beim besten Willen nicht halten!“ Der Pope kommt hervorgekrochen. Der adlige Herr erschrak, der Bauer aber schreit in einem fort: „Haltet ihn, haltet ihn!“ Der Pope sprang aus dem Faß heraus und rannte hast du was kannst du in den Wald. Dem Bauern blieb nichts anderes übrig, er packte die Troika des adligen Herrn und ließ sie nicht aus den Händen. „Nun kommt nur“, sagt er, „fahrt mit nach Moskau, Euch zu verantworten! Ihr habt den alten Teufel entkommen lassen, jetzt ist er fort. Und mir haben sie aus Moskau einen Brief geschickt, ich soll ihn ins Theater bringen.“ „Oi, Bauer, nimm von mir, was du willst, nur bring mich ja nicht dorthin!“
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Der Bauer freut sich über diese Gelegenheit und nahm ihm die drei Rappen ab. „Sieh, Frau, was der lüsterne Pope zusammengekichert hat.“ Dieser lüsterne Pope aber sieht zum Fenster hinaus – Iwan kommt mit einer Troika gefahren! „Ach, Mütterchen, jetzt ist’s um mich geschehen!“ Der Pope dachte, Iwan wolle ihn holen. Die Popin fragt ihn: „Warum hast du auch solche Augen gemacht?“ „Nein“, sagt er, „ich habe nie Augen gemacht!“ Der Pope tritt auf die Treppe vorm Haus, die junge Frau kommt vorbei. Sie sieht ihn schnell an: „Hi-hi-hi-hi-hi!“ Der Pope erschrak und rannte davon. Seine Frau merkte es, nahm ein Beil und prügelte ihn, daß die Fetzen nur so flogen. „Ach, vergib mir, Frau, ich will das nie wieder tun!“ Seine Frau vergab ihm. Ich bin auch dort gewesen, hab Tee getrunken, der Mund hat nichts abbekommen. Das Märchen ist aus.
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81 Der musikalische Pope Es war einmal ein Pope, der spielte schön auf der Geige. Nun wollte das ein junger Bursche erlernen. Er geht zu dem Popen und sagt: „Väterchen, bring mir das Spielen bei! Wieviel willst du dafür haben?“ – „Dafür, daß ich dir das Spielen beibringe, hundert Rubel!“ „Schön, Väterchen, ich will dir hundert Rubel bezahlen, nur mußt du mich zu jeder Tages- und Nachtzeit unterrichten.“ Der Pope fängt an, ihn zu unterrichten. Einmal ist ein hoher Feiertag. Zu dem jungen Burschen kamen Gäste. Der Bursche sagt: „Wollt ihr, daß der Pope am Altar zu spielen anfängt?“ – Die Gäste sagen: „Ja!“ Der junge Bursche rannte los. Der Pope hält in der Kirche Gottesdienst. Er nimmt die Geige unter den Rockschoß und drängt sich zum Popen an den Altar durch. „Höre, Väterchen, ich habe die Melodie vergessen!“ – „Ich habe doch gerade Gottesdienst. Höre doch, mein Sohn!“ – „Nun, dann gib mir nur meine hundert Rubel zurück!“ Der Pope war aber habgierig, und er sagt: „Warte, warte, gib her!“ Der Diakon kam mit dem Weihrauchfäßchen heraus vor die Leute und wartet, daß der Pope den Segen erteilen soll. Der Pope am Altar aber
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fragt: „Welche Melodie hast du vergessen?“ – „Vom Tanz ,Komarinskaja’!“ Da singt er den Komarinskaja-Tanz zum Gebet: „Ei, ei, ei, und fertig ist’s Gebet schon, eins, zwei, drei!“ Und der Diakon hört’s und tanzt dazu: „Das Weihrauchfäßchen raucht schon, eins, zwei, drei!“ Der Pope am Altar: „Ei, ei, ei, und fertig ist’s Gebet schon, eins, zwei, drei!“, und der Diakon: „Das Weihrauchfäßchen raucht schon, eins, zwei, drei!“ Der Bursche lachte aus vollem Halse und rannte davon. Da wurden Pope und Diakon aus dem geistlichen Stand ausgestoßen.
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82 Der listige Bauer Es lebte einmal eine Alte, die hatte zwei Söhne: der eine war gestorben, der andere aber weit weg über Land gefahren. Drei Tage, nachdem der Sohn weggefahren war, kommt ein Soldat zu ihr und bittet: „Großmütterchen, laß mich bei dir übernachten!“ „Komm herein, mein Lieber. Woher bist du denn?“ „Ich bin Nikonez, Großmütterchen, und komme aus dem Jenseits.“ „Ach, mein Bester, mir ist mein Söhnchen gestorben, hast du ihn vielleicht gesehen?“ „Natürlich habe ich ihn gesehen; ich habe mit ihm zusammen in einem Zimmer gewohnt.“ „Was du nicht sagst!“ „Er hütet in jener Welt die Kraniche, Großmütterchen!“ „Ach, mein Bester, gewiß hat er große Plage mit ihnen?“ „Und was für eine Plage! Die Kraniche, Großmütterchen, streifen doch in den Heckenrosen umher.“ „Da sind seine Kleider sicher recht abgetragen?“
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„Und wie sie abgetragen sind! Er ist ganz zerlumpt!“ „Ich habe da vierzig Arschin Leinwand, mein Lieber, und an die zehn Rubel Geld, bring das meinem Sohn!“ „Aber gern, Großmütterchen!“ Über kurz oder lang kommt ihr anderer Sohn wieder: „Guten Tag, Mütterchen!“ „In deiner Abwesenheit ist zu mir ein Nikonez gekommen, der stammt aus dem Jenseits, er hat mir von meinem seligen Sohn erzählt; sie haben zusammen in einem Zimmer gewohnt; ich habe ein Stück Leinwand dort hingeschickt, dazu noch zehn Rubel Geld.“ „Wenn’s so ist“, sagt der Sohn, „dann leb wohl, Mütterchen! Ich will durch die weite Welt ziehen; wenn ich jemanden finde, der noch närrischer ist als du, will ich dir zu essen und zu trinken geben, finde ich niemanden – jage ich dich vom Hof!“ Drehte sich um und machte sich auf den Weg. Er kommt in ein Gutsbesitzerdorf, macht vor dem Herrenhof halt, auf dem Hofe aber geht eine Sau mit ihren Ferkeln umher. Da kniete der Bauer nieder und verneigt sich vor der Sau bis zur Erde. Das sah die Herrin durchs Fenster hindurch und sagt zu ihrem Mädchen: „Geh mal hin und frage, warum sich der Bauer verneigt hat!“ Das Mädchen fragt ihn: „Bauer, warum kniest du und machst vor der Sau Bücklinge?“ 836
„Mütterchen, melde der Herrin, Eure gescheckte Sau ist die Schwester meiner Frau, und morgen heiratet mein Sohn, da will ich sie zur Hochzeit einladen. Ob sie die Sau nicht als Brautwerberin und die Ferkel für den Brautzug beurlauben möchte?“ Als die Herrin diese Worte gehört hatte, sagt sie zu dem Mädchen: „Was für ein Dummkopf! Lädt eine Sau zur Hochzeit ein, und dazu noch mit den Ferkeln! Nun, warum nicht? Sollen ihn die Leute auslachen. Zieh der Sau schnell meinen Pelz an und laß zwei Pferde vor den Wagen spannen: sie soll nicht zu Fuß zur Hochzeit gehen müssen!“ Sie spannten die Pferde vor den Wagen, setzten die schmuck angezogene Sau mit den Ferkeln hinein und übergaben alles dem Bauern. Der stieg auf und fuhr zurück. Nun kam der Herr nach Hause, er war nämlich gerade auf der Jagd gewesen. Die Herrin begrüßt ihn und will vor Lachen bald sterben: „Ach, Liebster, du warst nicht da, und ich habe mit niemandem lachen können. Hier war ein Bauer, der hat sich vor unserer Sau verbeugt; er sagte: ‚Eure gescheckte Sau ist die Schwester meiner Frau’, und er hat sie als Brautwerberin zu seinem Sohn eingeladen und die Ferkel für den Hochzeitszug.“ „Ich weiß schon“, sagt der Herr, „du hast sie ihm gegeben.“
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„Ich habe ihr Urlaub gegeben, Liebster. Habe ihr meinen Pelz angezogen und ihr einen Wagen mit zwei Pferden gegeben.“ „Woher war denn der Bauer?“ „Ich weiß nicht, mein Bester.“ „Also, ist nicht der Bauer ein Narr, du bist jedenfalls eine Närrin!“ Der Herr wurde böse, daß man seine Frau betrogen hatte, lief aus dem Haus, bestieg einen Paßgänger und jagte hinterher. Der Bauer hört, daß der Herr ihn einholt, führte die Pferde mit dem Wagen in den dichten Wald, er selber aber nahm den Hut vom Kopf, legte ihn mit der Krempe nach unten auf die Erde und setzte sich daneben. „He, du da, Alter“, schrie der Herr, „hast du nicht einen Bauern mit zwei Pferden hier vorbeifahren sehen? Er hat noch eine Sau mit ihren Ferkeln auf dem Wagen.“ „Freilich hab ich ihn gesehen! Der ist schon lange vorbeigefahren!“ „In welche Richtung? Wie kann ich ihn einholen?“ „Wer einholen will, der stehe nicht still, aber der Weg teilt sich oft, und du verirrst dich, ehe du dich’s versiehst. Du kennst ja die Wege nicht.“ „Dann reite du, Bruderherz! Fang mir diesen Bauern!“ „Nein, Herr, das geht auf keinen Fall. Unter meinem Hut sitzt ein Falke!“ „Das macht nichts, ich werde auf deinen Falken aufpassen.“ 838
„Sieh dich vor, daß er dir nicht entwischt. Es ist ein wertvoller Vogel! Mein Herr würde mich totschlagen!“ „Was kostet er denn?“ „Na, so an die dreihundert Rubel.“ „Nun, wenn ich ihn entwischen lasse, bezahle ich ihn dir.“ „Nein, Herr. Jetzt versprecht ihr’s zwar, aber was dann sein wird – das weiß ich nicht.“ „Was für ein mißtrauischer Kerl! Nun, hier hast du für jeden Fall die dreihundert Rubel.“ Der Bauer nahm das Geld, bestieg den Paßgänger und sprengte davon in den Wald hinein, der Herr aber blieb sitzen und bewachte den leeren Hut. Lange wartete der Herr; schon geht die Sonne unter, von dem Bauern aber ist noch nichts zu sehen. „Warte, ich will doch nachsehen, ob ein Falke unter dem Hut ist. Ist einer da, dann kommt er wieder; wenn nicht, dann brauche ich nicht zu warten.“ Hob den Hut hoch, von einem Falken aber war keine Spur zu sehen. „So ein Halunke! Das war gewiß derselbe Bauer, der die Herrin betrogen hat!“ Vor Wut spie der Herr aus und trollte sich zu seiner Frau. Der Bauer aber war schon längst zu Hause. „Nun, Mütterchen“, sagt er zu der Alten, „bleib bei mir wohnen: es gibt auf der Welt Leute, die noch närrischer sind als du. Für nichts und wieder nichts haben sie mir drei Pferde mit Wagen gege839
ben, dreihundert Rubel und dazu noch eine Sau mit Ferkeln!“
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83 Der Herr und der Zimmermann Ein Zimmermann ging einmal von einem Dorf zum anderen – von Paradiesbach nach Höllenbach. Da begegnete ihm ein Herr aus einem anderen Gouvernement und fragt ihn: „Aus welchem Dorfe kommst du, Bauer?“ „Aus Paradiesbach.“ „Und wohin fahre ich?“ „Nach Höllenbach.“ „Ach du Narr! Du bist ein Bauer und willst aus Paradiesbach kommen, und ich bin ein Herr und soll nach Höllenbach fahren… Diener, packt ihn und gebt es ihm ordentlich!“ Der Lakai sprang herab, packte den Zimmermann und prügelte auf ihn ein; sie verprügelten ihn ordentlich, dann fuhren sie weiter. „Schön“, denkt der Zimmermann, „das sollst du nicht umsonst getan haben!“ Der Bauer brachte in Erfahrung, wo der Herr wohnt, und geht zu ihm; kommt hin. Der Herr aber ließ gern bauen und wollte gerade ein Landhaus bauen. Der Herr erkannte den Zimmermann nicht und dingte ihn, das Landhaus zu bauen. Der Zimmermann forderte ihn auf, mit in den Wald zu kommen und die Stämme auszuwählen. Der Herr ging mit. Sie kamen hin. Der Zimmer-
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mann geht durch den Wald, klopft mit dem Beilrücken an die Bäume und legt sein Ohr daran. „Was machst du da, wie stellst du’s fest?“ „Umfasse nur einen Baum und leg dein Ohr daran, dann wirst du’s auch hören!“ „Meine Arme sind zu kurz!“ „Nun, ich kann dich ja festbinden.“ Der Zimmermann band den Herrn an einem Baum fest, nahm die Zügel und fing an, ihn durchzuprügeln. Prügelte und prügelte, der Herr war mehr tot als lebendig. Der Bauer aber prügelte feste und sagte dazu: „Noch zweimal werde ich dich vornehmen, Hundesohn. Kränke keinen Handwerksmann!“ Nahm den Wagen des Herrn und fuhr mit ihm davon. Den Herrn fanden sie nach drei Tagen mit Mühe und Not im Walde, er war schon nahe am Sterben. Der Herr liegt krank von der Bewirtung nach Bauernart, der Zimmermann aber verkleidete sich, daß man ihn nicht erkennen konnte, und kommt, den Herrn gesundzumachen. Dem Herrn wird gemeldet, ein Arzt ist gekommen. Der Herr freute sich, der Arzt aber befahl, das Bad zu heizen. Sie gingen ins Bad. Der Arzt wusch den Herrn, rieb ihn trocken und sagt: „Nun, jetzt muß ich dich mit Dampf behandeln, Herr: nur wirst du das nicht aushalten, ich muß dich an der Bank festbinden!“ Der Herr war’s einverstanden, und wieder verprügelte der Zimmermann den Herrn, und auf dem nackten Leib war es noch schlimmer. 842
„Nun, noch einmal sollst du von mir verprügelt werden: Kränke keinen Handwerksmann ohne Grund!“ Der Zimmermann verabredete sich mit seinem Bruder: er ließ den Bruder am Haus des Herren vorbeifahren, und zwar mit den Pferden des Herrn, die der Zimmermann aus dem Walde entführt hatte. Der Herr sah’s durchs Fenster und schickte alle seine Diener hinterher. Die Diener jagten und jagten hinterher, holten aber den Dieb nicht ein; während sie aber hinterherritten, war der Herr allein zu Hause, der Zimmermann kam zum Herrn und prügelte ihn noch einmal durch: „Nun, Herr, präg’s dir ein und vergiß nicht, daß man einen Handwerksmann nicht ohne Grund kränken darf!“ Am nächsten Morgen fuhr der Herr in die Stadt, sah den Zimmermann und fragt ihn: „Bauer, bist du nicht der von gestern?“ „Auf keinen Fall, ich bin fünfundvierzig Jahre alt, wie kann ich da von gestern sein!“
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84 Der Herr als Schmied Ein Herr war einmal auf den Schmied neidisch. „Unsereiner lebt so dahin“, sagt er, „lebt dahin, die Ernte ist noch wer weiß wie weit, man wartet sehnsüchtig auf Geld, der Schmied aber klopft einmal mit seinem Hammer – und ist bei Gelde. Ich werde eine Schmiede aufmachen!“ Er machte eine Schmiede auf: den Lakaien ließ er den Blasebalg ziehen. Steht da und wartet auf Kundschaft. Ein Bauer kommt vorbeigefahren und will Reifen für alle vier Räder bestellen (einen ganzen Satz). „He, Bauer, warte! Komm hierher!“ Der kam herangefahren. „Was brauchst du?“ „Je nun, Herr, Reifen für alle vier Räder!“ „Schön, sofort, warte!“ „Und wieviel wird’s kosten?“ „Na ja, hundertfünfzig Rubel müßte ich nehmen, nun, um Kundschaft anzulocken, will ich nur hundert nehmen.“ „Ist gut!“ Der Herr begann das Feuer zu schüren, der Lakai – den Blasebalg zu ziehen; er nahm Eisen und schmiedete los, aber er verstand gar nichts vom Schmieden. Verbrannte alles.
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„Nun“, sagt er, „Bauer, für einen ganzen Satz reicht’s nicht, höchstens für einen Reifen.“ „Nun gut“, sagt er, „dann wenigstens einen Reifen.“ Der Herr schmiedete und schmiedete und sagt: „Nun, Bauer, es reicht auch nicht für einen Reifen, es reicht höchstens für ein Pflugeisen.“ „Nun gut“, sagt der Bauer, „dann wenigstens ein Pflugeisen.“ Der Herr klopfte mit dem Hammer, verdarb noch viel Eisen und sagt: „Nun, Bauer, es reicht auch nicht für ein Pflugeisen, gebe Gott, daß es für einen Pfriemen reicht.“ „Nun, dann wenigstens einen Pfriemen“, sagt der Bauer. Nur daß das Eisen beim Herrn auch für einen Pfriemen nicht reichte: er hatte alles verbrannt. Arbeitete und arbeitete und sagt: „Nun, Bauer, es reicht auch nicht für einen Pfriemen, es reicht nur für ein Zischen.“ (Wenn man glühendes Eisen in Wasser taucht, zischt es.) „Ist gut“, sagt der Bauer, „wieviel bekommt Ihr?“ „Ich hab’s dir doch gesagt, du Dummkopf: hundert!“ „Ich hab gerade kein Geld bei mir, ich gehe welches holen!“ Und er ging weg. Der Herr aber sagt zum Lakaien: „Wenn er mit dem Geld wiederkommt, dann bleib stehen und sage immer: leg was zu, leg was zu!“ 845
„Schön“, sagt der. Der Bauer nun nahm zu Hause eine Peitsche, kam wieder in die Schmiede und begann dem Herrn einzuheizen, der Lakai aber steht dabei und sagt immer: „Leg noch etwas zu! Leg noch etwas zu!“ Er prügelte ihn durch und ging. Der Herr stürzte sich auf den Lakaien: „Was fällt dir ein, du Schurke? Ich habe dir befohlen, wenn er Geld bringt, sollst du das sagen, du aber siehst, daß er mich schlägt, und brüllst: ‚Leg noch etwas zu!’“ Der Herr verprügelte den Lakaien, schlug die Schmiede kurz und klein und gab sich von nun an nicht mehr mit dem Schmiedehandwerk ab und beneidete auch den Schmied nicht mehr.
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85 Der Herr und der Bauer Es war einmal ein Bauer, der hatte viele Schafe. Im Winter lammte einmal ein großes, großes Schaf, und er nahm es mit seinem Lämmchen von draußen ins Haus hinein. Es ist Abend. Ein Herr kommt gefahren und bittet ihn um ein Nachtlager. Kam ans Fenster und fragt: „Bauer, laß mich übernachten!“ „Werdet Ihr in der Nacht auch keinen Unfug anstellen?“ „Ich bitte dich! Wir brauchen nur ein Plätzchen, wo wir die dunkle Nacht verschlafen können.“ „Komm herein, Herr!“ Der Herr kam mit seinem Kutscher auf den Hof gefahren. Der Kutscher versorgt das Pferd, der Herr aber geht ins Haus. Der Herr hatte einen riesigen Wolfspelz an. Trat in die Hütte, sprach ein Gebet und verneigte sich vor den Bauersleuten: „Ich wünsche euch Gesundheit, Bauer und Bäuerin!“ „Willkommen, Herr!“ Der Herr setzte sich auf die Bank. Das Schaf erblickte den Wolfspelz und guckt den Herrn an; guckt und klopft dabei mit dem Fuß, einmal, zweimal, und noch ein drittes Mal. Der Herr sagt: „Bauer, warum klopft das Schaf mit dem Fuß?“
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„Es glaubt, du bist ein Wolf; es wittert den Wolfsgeruch. Es fängt nämlich bei mir Wölfe; diesen Winter zum Beispiel hat es an die zehn gefangen.“ „Ach, da würde ich viel dafür geben! Ist es nicht verkäuflich? Für unterwegs wäre es mir nützlich.“ „Verkäuflich ist’s, aber teuer!“ „Ach, Bauer, mehr als Geld kann’s nicht kosten; ein Herr hat genug!“ „Na ja, überlegen kann man’s.“ „Und wieviel kostet es?“ „Fünfhundert Rubel!“ „Erbarme dich, das ist zuviel! Nimm drei Hunderter!“ Nun, der Bauer war’s einverstanden und verkaufte. Der Herr übernachtete, stand beim Morgengrauen auf und machte sich reisefertig; gab dem Bauern die drei Hunderter, nahm das Schaf, setzte es in den Schlitten und fuhr los. Fährt also. Da kommen ihnen drei Wölfe entgegen. Das Schaf sah die Wölfe und fängt gleich an, im Schlitten hin und herzuspringen… Der Herr sagt zum Kutscher: „Wir müssen es loslassen; sieh nur, es ist schon ganz wild geworden. Es wird sie gleich gefangen haben.“ (Es hatte aber Angst.) Der Kutscher sagt: „Warte noch ein wenig, Herr, es wird noch wilder werden.“ Die Wölfe waren mit ihnen auf gleicher Höhe. Der Herr ließ das Schaf los; das Schaf erschrak vor den Wölfen, flog davon, in den Wald hinein, und wedelte mit seinem kurzen Schwänzchen. Die Wölfe schossen ihm nach, daß der Schnee nur so 848
stiebte, und der Kutscher will hinterher. Während er das Pferd ausspannte und dem Schaf nachsetzte, hatten die Wölfe das Schaf eingeholt, ihm das Fell heruntergerissen und waren im Wald verschwunden. Der Kutscher kam heran: Das Schaf liegt auf der Seite und das Fell daneben. Er kommt zu seinem Herrn. Der Herr fragt ihn: „Hast du etwas gesehen?“ „Ach Herr, das Schaf ist tüchtig! Ist über und über zerschunden, aber den Wölfen hat es sich nicht ergeben.“ Der Bauer hatte seine drei Hunderter bekommen, jetzt sitzt er da und erzählt dem Herrn Märchen, die drei Hunderter aber liegen in seiner Tasche.
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86 Die böse Herrin In einem Dorf lebte einmal eine Gutsherrin, die war so böse, daß keiner bei ihr seines Lebens froh wurde! Kam morgens der Dorfälteste etwas fragen, welche Arbeit gemacht werden soll, – sie ließ ihn nicht fort, ohne ihn durchgeprügelt zu haben. Die Bauern aber wurden ihres Lebens gleich gar nicht froh: sie peitschte sie wie die Hunde. Einmal kam ein Soldat dort durch, der auf Urlaub nach Hause wollte. Er mußte in diesem Dorf übernachten. Dem erzählten sie alles, und er sagte: „Ich habe Schlaftropfen!“ Sie gaben ihr Schlaftropfen. Sie schlief ein. Der Soldat ließ Pferde anspannen. Im Dorf war ein Schuster, der war so böse – es war einfach fürchterlich! Zu diesem Schuster nun brachte er sie. Der Schuster wußte es nicht, nähte seine Schuhe, er aber legte sie aufs Bett, die Frau des Schusters aber nahm er mit und legte sie aufs Bett der Herrin. Nun wurde die Schustersfrau munter und sieht das vornehme Haus. Sogleich kommen die Dienerinnen gerannt, sind ihr zur Hand. „Wie weit habe ich’s gebracht! Woher kommt denn das? Was ist los!?“ Sie wusch sich, man reichte ihr das Handtuch, sie trocknete sich ab. Man bringt den Samowar. Sie setzte sich und trank Tee. Der Dorfälteste kommt auf den Zehenspitzen herein. Sie sah auf, was da für ein Mann 850
kommt. „Was wollt Ihr?“ sagt sie. „Ich bin zu Euch gekommen“, sagt er, „Herrin, zu fragen, welchen Auftrag Ihr gebt, welche Arbeit!“ Sie wußte sich zu helfen: „Wie könnt Ihr das nicht wissen! Was Ihr gestern gemacht habt, das macht auch heute!“ Der Dorfälteste ging hinaus in die Küche und sagt: „Heute ist die Herrin aber gut, so ist sie ihr Lebtag noch nicht gewesen!“ Nun, sie lebt dort einen Monat und einen zweiten – und die Bauern lobten sie so, daß man nur den Hut abnehmen kann. Die Herrin nun erwachte früh und schreit: „Diener!“ Er aber sitzt und näht. „Was ist denn in dich gefahren, Mutter?“ Und sie: „Was fällt dir ein, du Dreckskerl?“ – „Ach du Aas, du elendes!“ Er sprang vom Stuhl auf, riß den Riemen vom Knie und bediente sie aufs gründlichste. „Kennst du vielleicht deine Pflicht nicht? Du hast aufzustehen und den Ofen zu heizen!“ Und er walkte sie durch, soviel es ihm behagte. Da begann sie zu flehen. Sie schleppte sich hinaus, um Holz zu holen, brachte das Holz, heizte den Ofen und kochte etwas. Nun, das dauerte so an die zwei Monate. Und er prügelte sie dreioder viermal ordentlich durch. Dann gab der Soldat Schlaftropfen und tauschte sie wieder aus. Frühmorgens steht die Herrin leise auf, kommt aus ihrem Zimmer – „Ich bin in meinem allen Haus? Wie bin ich hierhergekommen?“ Sie fragte die Dienerinnen: „Dienerinnen! Wie bin ich denn hierhergekommen?“ – „Du bist doch nirgends gewesen, Herrin!“ Und von der Zeit an war die Her851
rin die Milde selber. Die Schustersfrau aber lebte wieder wie früher!
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87 Wie ein Bauer Gänse teilte In einem Dorf lebte einmal ein reicher Gutsherr. Zu beiden Seiten des Gutshofs lebten zwei Bauern. Auf der einen Seite lebte ein reicher Bauer, auf der anderen ein armer. Der arme Bauer hatte eine große Familie, die Kinder eines kleiner als das andere; das Leben war schwer; nichts reichte, und was er auch unternahm, er kam nicht voran. Einmal hatte sich der arme Bauer schlafen gelegt und sprach mit seiner Frau über ihre Not – wie sie leben und was sie anfangen könnten. Da sagt die Frau zu ihrem Mann: „Weißt du was, Mann, wir haben einen Gänserich. Das ist ein unnützer Fresser, wir könnten ihn schlachten und dem Gutsherrn als Geschenk bringen, vielleicht gibt uns der Gutsherr irgend etwas für das Geschenk.“ Am nächsten Morgen steht der arme Bauer auf. Er schlachtete den Gänserich, steckte ihn in einen Sack und trug ihn zum Gutsherrn. Als er zum Gutsherrn kam, grüßte er, verneigte sich und verbeugte sich nach allen Richtungen. Der Gutsherr fragte den armen Bauern: „Was gibt’s, Stepan, du bist noch nie zu uns gekommen, weshalb bist du jetzt hier?“ „Ach, Herr, ich habe Euch ein Geschenk gebracht!“ 853
„Was für ein Geschenk? Ich nehme nie Geschenke an, du sollst mir aber trotzdem zeigen, was für ein Geschenk du mir gebracht hast.“ Der Bauer überlegte nicht lange und schüttelte den Gänserich aus dem Sack auf den Fußboden. Da sagt der Gutsherr zu dem armen Bauern: „Also höre, Stepan, da du ihn mir gebracht hast, will ich ihn schon nehmen. Nur unter der Bedingung, daß du ihn auf unsere sechsköpfige Familie aufteilst. Die Herrin und ich sind zwei, dazu zwei Söhne und zwei Töchter.“ Der arme Bauer überlegte nicht lange und bat den Herrn um ein scharfes Messer. Der Gutsherr ging schnell nach einem scharfen Messer und gibt es Stepan. Stepan nahm das Messer und schlug dem Gänserich den Kopf ab, und als er dem Gänserich den Kopf abgeschlagen hatte, gibt er ihn dem Gutsherrn: „Hier, Herr, du bist im Hause der Kopf, und so gebe ich dir den Kopf!“ Dann schneidet er den Sterz mit dem Schwanz ab, gibt den Sterz der Herrin und sagt zu ihr: „Du, Herrin, sitzt immer zu Hause, siehst mit dem Sterz zur Tür, und so habe ich für Euch den Sterz mit dem Schwanz abgeschnitten.“ Er schnitt dem Gänserich die Beine ab und gibt sie den Söhnen des Gutsherrn: „Hier gebe ich jedem ein Bein, stapft nun auf Väterchens Wegen umher!“ Darauf schnitt er die Flügel ab und gibt jeder Tochter einen Flügel: „Der Rumpf ist übrig und gehört mir!“ 854
Für diese Teilung beschenkte ihn der Herr reich und machte allem Mangel des armen Bauern ein Ende. Stepan freute sich sehr. Kommt nach Hause, arbeitet nicht mehr, sondern ruht sich aus. Der reiche Bauer aber unterhält sich zu Hause mit seiner Frau: „Warum ist Stepan nicht zu sehen, ist er vielleicht krank?“ Der reiche Bauer schickt seine Frau, sie soll herausbekommen, was mit Stepan los ist. Sie kam zu dem armen Bauern und fragt seine Frau: „Warum ist Stepan nicht zu sehen, ist er vielleicht krank?“ Die Frau des armen Bauern sagt zu ihr: „Nein, er ist gesund, er ruht sich aus – darum ist er nicht zu sehen.“ Die Frau des reichen Bauern wundert sich und sagt zu ihr: „Was heißt das, Onkel Stepan hat Tag und Nacht gearbeitet, und nun ruht er sich auf einmal aus?“ Die Frau des armen Bauern sagt zu ihr: „Er hat dem Gutsherrn ein Geschenk gebracht, und für das Geschenk hat der Gutsherr uns reich belohnt, deswegen ruht er sich jetzt aus.“ Die Frau des reichen Bauern wurde neugierig: „Was für ein Geschenk mag er ihm gebracht haben?“ Die Frau des armen Bauern erzählte ihr: „Mein Mann hat einen Gänserich als Geschenk gebracht.“
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Die blieb nicht lange stehen, geht schnell nach Hause. Erzählte’s ihrem Mann, der sich sehr wunderte, daß der Gutsherr für Geschenke so freigiebig belohnt. Der reiche Bauer und seine Frau waren sehr neidisch und begannen auch zu überlegen, was sie dem Gutsherrn als Geschenk bringen könnten. Die Frau des reichen Bauern sagt zu ihrem Mann: „Bei uns laufen doch fünf Gänseriche herum. Sie bringen uns keinerlei Nutzen; wir wollen sie kurzerhand schlachten und dem Herrn als Geschenk bringen.“ So machten sie’s auch. Am nächsten Morgen schlachteten sie die Gänseriche, steckten sie in einen Sack, und er brachte sie zum Gutsherrn. Als der reiche Bauer zum Gutsherrn kam, fing er auch an, sich zu verneigen. Der Gutsherr fragte ihn: „Jewdokim, du bist noch nie zu uns gekommen, und heute besuchst du uns?“ Da sagt Jewdokim: „Herr, ich habe Euch ein Geschenk gebracht.“ „Aber, aber, Jewdokim, ich nehme keine Geschenke. Was hast du denn gebracht?“ Der reiche Bauer sagt kein Wort, sondern schüttet die Gänseriche auf den Fußboden. Der Gutsherr sah die Gänseriche und sagte: „Na schön, ich will dieses Geschenk von dir annehmen, nur mußt du es uns aufteilen. Siehst du, du hast nur fünf Gänseriche, wir sind aber sechs in unserer Familie. Und sie müssen irgendwie gleich aufgeteilt werden. Wenn du sie teilst, neh-
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me ich sie an, wenn du sie nicht teilst, dann jage ich dich mit deinen Gänserichen hinaus.“ Der Bauer gab’s gleich auf und sagt: „Nein, Herr, ich werde sie Euch nicht aufteilen können.“ „Wenn du sie nicht aufteilen kannst, dann geh zu deinem Nachbarn Stepan und bring ihn her. Er kann sie uns gewiß aufteilen.“ Jewdokim freute sich, daß er das ganze Unglück auf Stepan abwälzen kann, läuft zu Stepan und sagt ihm, der Herr hat ihn rufen lassen. Stepan zog sich gleich an und kam zum Gutsherrn. Der Gutsherr sagte zu Stepan: „Höre zu, Stepan, weswegen ich dich habe rufen lassen: – Dein Nachbar Jewdokim hat uns ein Geschenk gebracht, fünf Gänseriche. Ich habe ihn gebeten, er soll sie uns teilen, er hat es nicht gekonnt, und ich habe nach dir geschickt. Am letzten Mal hast du uns den Gänserich sehr schön geteilt. Kannst du uns nicht auch diese fünf Gänseriche teilen?“ „Ja, ich denke schon, daß ich auch sie teilen kann!“ „Wie ist’s, brauchst du ein Messer“, fragt ihn der Gutsherr, „oder nicht?“ Der arme Bauer sagt: „Nein, ich kann sie ohne Messer teilen.“ „Nun, dann fang an l“ Stepan hob einen Gänserich vom Fußboden auf und sagt:
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„Der ist für Euch, Herr, du und die Herrin – Ihr seid zwei, ich gebe Euch einen Gänserich, dann seid ihr drei.“ Er nimmt den zweiten Gänserich, gibt ihn den zwei Söhnen des Gutsherrn und sagt: „Ihr seid zwei – hier gebe ich Euch einen Gänserich, dann seid ihr drei.“ Er nimmt den dritten Gänserich, gibt ihn den zwei Töchtern des Gutsherrn und sagt: „Ihr seid zwei, ich gebe euch einen Gänserich, dann seid ihr drei.“ Er nimmt die zwei übriggebliebenen Gänseriche und sagt: „Diese zwei Gänseriche und ich, wir sind auch drei.“ Dem Gutsherrn machte diese Teilung Spaß. Er belohnte den armen Bauern reich, den reichen aber jagte er hinaus.
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88 Von der Not Einmal arbeitet ein armer Bauer in seinem ärmlichen Rock und seinem elenden Schuhwerk im Frost, hackt tüchtig Holz und kann sich doch nicht erwärmen; das Gesicht brennt ihm vor Frost. Da kommt ein Herr ins Dorf gefahren, nur zu zweit, mit einem Kutscher; die hielten an. „Gott helfe dir, Bauer!“ „Dank auch, Herr!“ „In solcher Kälte hackst du Holz!“ „Ach, Herr, die Not ist’s, die hackt!“ Der Herr wunderte sich hierüber und fragt seinen Kutscher: „Was heißt das, Kutscher, was für eine Not? Kennst du sie?“ „Ich höre das erstemal davon, Herr!“ Fragt der Herr den Bauer: „Was ist das für eine, Bauer, die Not? Ich möchte sie mir gern einmal ansehen; wo hast du sie?“ Der Bauer sagt: „Wozu brauchst du sie, Herr?“ „Je nun, ich möchte sie mir gern einmal ansehen!“ Zu der Zeit aber stand gerade auf dem freien Felde, auf einem Hügel, im Winter, mitten im Schnee, ein Grashalm. 859
„Nun“, sagte der Bauer, .dort, auf dem Hügel, Herr, steht die Not! Dort schwankt sie im Winde, und keiner sie finde.“ Der Herr sagt: „Hast du nicht ein wenig Zeit, sie uns zu zeigen?“ „Das kann ich schon, Herr!“ Sie setzten sich in die Troika und fuhren aufs freie Feld, sich die Not anzusehen. Kamen hinaus auf den Hügel und fuhren an diesem Grashalm vorbei, ein anderer aber steht weiter weg. Der Bauer zeigt mit der Hand hin: „Dort, Herr, steht sie abseits vom Wege, wir können nicht hinfahren: der Schnee ist zu tief.“ „Bewache doch unsere Troika“, sagte der Herr, „ich will hingehen und sie mir ansehen.“ Der Herr kletterte herunter und ging los, der Kutscher aber sagt: „Herr, nehmt mich mit: ich möchte sie mir auch gern ansehen!“ Und die zwei Dummköpfe stiegen los durch den Schnee. An diesem Grashalm gehen sie vorbei, finden den nächsten, die Not aber sehen sie noch nicht. Der Bauer nun war nicht auf den Kopf gefallen, er schirrte die drei Pferde los, stieg auf und jagte davon. Fort war er! Und sie wissen nicht, wohin er geritten ist. So stiegen die zwei Dummköpfe nun im Schnee herum, und da hatte die Not sie überfallen. Sie gingen auf ihrer Spur zurück, kamen auf den Weg, gingen zu ihrem Wagen, von den Pferden aber war keine Spur zu sehen. Herr und Kutscher überlegten und überlegten… Was 860
tun? Die Pferde sind nicht da, und den Wagen wollen sie auch nicht im Stich lassen. Da sagt der Herr zum Kutscher: „Spann dich als Deichselpferd ein, Kutscher, ich will wenigstens als Beipferd ziehen.“ Der Kutscher sagt: „Nein, Herr, ihr seid stattlicher und ein wenig stärker, geht ihr als Deichselpferd, ich will als Beipferd gehen.“ Nun, es blieb dem Herrn nichts anderes übrig, er spannte sich als Deichselpferd ein. Und nun ziehen und ziehen sie, haben eine Weile gezogen und machen halt. Der Bauer aber hatte ihre Pferde versteckt, andere Kleider angezogen und kam ihnen entgegen. Der Bauer sagt: „Was soll das, Herr, daß Ihr selber den Wagen zieht?“ Der Herr sagt wütend: „Verschwinde! Die Not ist’s, die zieht!“ „Was ist das für eine, die Not?“ „Geh dorthin aufs Feld, auf den Hügel!“ Er selber aber zieht und zieht. Kam bis zum Dorf und mietete Pferde. Kam mit drei fremden Pferden nach Hause. Die Not hatte er kennengelernt: hatte drei Pferde verloren.
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89 Die Herrin und die Kücken Es war einmal ein großer Gutshof. Dort lebte ein reicher Herr. Der Herr starb. Die Herrin blieb allein zurück. Die Herrin nun hatte einmal einen Einfall: sie wollte gern, daß eine Henne fünfzig Kücken ausbrütet, lauter schwarze. Und die Herrin denkt: „Das ist wohl unmöglich; eine Henne kann wohl fünfzig Eier nicht wärmen.“ Und trotzdem will die Herrin durchaus fünfzig Kücken haben, lauter schwarze. Das Gesinde sagte: „Ja, ist denn das überhaupt möglich?“ Und das Stubenmädchen sagt: „Es ist unmöglich, aber sie will’s.“ Und der Kutscher sagt: „Sag der Herrin, ich kann sie ausbrüten!“ Das Stubenmädchen meldete also der Herrin, daß der Kutscher die fünfzig Kücken ausbrüten kann. Die Herrin freute sich. Die Herrin ließ den Kutscher gleich kommen und sagt zu ihrem Kutscher: „Nun, wie ist’s, Fjodor, kannst du fünfzig Kükken ausbrüten, lauter schwarze?“ Fjodor sagt: „Das kann ich, Herrin. Nur, Herrin, das Ausbrüten ist teuer!“ 862
Und die Herrin sagt: „Wofür muß ich Ausgaben machen?“ „Seht, Herrin, ich brauche eine besondere Hütte. Nun, Herrin, wir können vorläufig das Badehaus belegen.“ Die Herrin war einverstanden, das Badehaus für drei Wochen zu belegen. „Dann laßt mir einen gegerbten Halbpelz nähen, er muß aus zwanzig Lammfellen sein, kauft einen warmen Schal, einen roten Gürtel und warme Stiefel. Und gutes Essen muß ich bekommen: jeden Tag ein Viertel Branntwein, Spiegeleier, und das, worauf ich gerade Appetit habe. Und reichlich Kalbsbraten, und wenn er nicht reicht, bitte ich um mehr. Und daß mir immer jemand das Essen bringt. Und für meine Mühe bekomme ich fünfzig Rubel, Herrin. Und die Kleider müssen in mein Eigentum übergehen. Und hinterher bekomme ich einen Monat Urlaub!“ Die Herrin ist mit allem einverstanden. Die Herrin denkt: „Was es auch kosten mag, er soll mir fünfzig Kücken ausbrüten, lauter schwarze.“ Und sie will Fjodor noch eine Belohnung geben. Fjodor also erklärte sich einverstanden. Er baute sich im Badehaus ein Nest und legte fünfzig Eier hinein. Als Fjodor alles eingerichtet hatte, bat er die Herrin, sich’s anzusehen. Die Herrin kam ins Badehaus, sah das Nest, und die Herrin freute sich sehr. Fjodor aber dachte gar nicht daran zu brüten, er war im Badehaus, trank Branntwein und Tee, aß Kalbsbraten und bewirtete seine Freunde. 863
Fjodor aber ist kein Dummkopf, er weiß, wie er die Herrin betrügen muß. An dem Tage, als er das Nest gezeigt hatte, setzte er eine gewöhnliche Glucke auf dreizehn Eier, und nicht nur eine, und wenn’s Gott will, dann brütet irgendeine Glucke wenigstens zwei, drei schwarze Kücken aus. Fjodor aber trieb es die ganze Zeit so: trank und trank, aß Kalbsbraten und bewirtete seine Freunde. Nun reichte Fjodor auch die Schnapsportion nicht mehr. Der Herrin wurde gemeldet, daß die Portion nicht ausreicht. Die Herrin befahl, ihm jeden Tag noch ein Viertel zu geben – nun bekam er schon einen halben Eimer. So gingen nun die drei Wochen herum. Und Gott ist barmherzig. Zu Fjodors Glück hatte die erste Glucke zwei schwarze Kücken ausgebrütet. Fjodor schickt seine Dienerin zur Herrin: „Geh, zeig sie der Herrin und bring sie mir schnellstens wieder, denn lange kann ich’s nicht ertragen, das Herz bricht mir.“ Die Dienerin nahm also die zwei Kücken und brachte sie der Herrin, die Herrin aber sah die Kücken und freute sich wer weiß wie sehr, daß Fjodor angefangen hatte, die Kücken auszubrüten. Die Herrin betrachtete neugierig die Kücken, die Dienerin aber sagt: „Herrin, so lange dürft Ihr die Kücken nicht ansehen! Die Kückenmutter hat mir aufgetragen: behalte sie nicht zu lange, bring sie schnellstens zurück, sonst bricht es mir das Herz, ich kann’s nicht ertragen, hat er gesagt.“ 864
Nach einiger Zeit nun: „Angefangen habe ich die Sache“, sagt Fjodor, „nun muß ich’s auch verstehen, sie zu Ende zu bringen“, denkt er bei sich. „Das Essen hat doch allen geschmeckt, nun muß einer es auf sich nehmen, daß Fjodor vor der Herrin nicht als Taugenichts dasteht!“ Fjodor sagt also zu seinen Freunden: „Kinder, ihr habt getrunken und gegessen, jetzt habt Mitleid mit mir und helft mir! Ihr brennt jetzt in der Nacht das Badehaus an, zerrt mich vom Nest herunter und schleppt mich aus dem Badehaus heraus, wenn ich mich auch in die Flammen stürzen will, haltet mich nur am Pelz fest, das Badehaus wird bald Feuer fangen, dann berichtet’s schnellstens der Herrin!“ Das taten die Freunde auch für ihn. Das Badehaus fing bald Feuer: sie meldeten’s der Herrin, Fjodor aber hatten sie schon aus dem Badehaus herausgeschleppt. Und Fjodor schreit wie eine Glucke: „Gluck, gluck, gluck!“ Seine Freunde aber, das Gesinde, halten ihn am Pelz fest. Und Fjodor will sich immer und immer wieder in die Flammen stürzen, und im Badehaus piepsen die Kücken. Und die Herrin hört das alles. „Um Gottes willen, um Gottes willen, haltet fest, halte die Glucke fest! Sieh nur, wie das Mutterherz brennt, sie schont sich selber nicht, will sich in die Flammen stürzen!“ Seine Freunde aber halten ihn immer fest, lassen nicht los. 865
Das Badehaus brannte nieder, und auch Fjodors Nest verbrannte. Die Herrin aber war sehr traurig und bekümmert. Sie forderte Fjodor noch einmal auf, fünfzig schwarze Kücken auszubrüten, aber Fjodor lehnte ab. Fjodor sagt: „Das Ausbrüten ist doch sehr schwer, Herrin!“ Die Herrin sagt zu Fjodor: „Aber mager geworden bist du nicht, Fjodor.’ Fjodor sagt: „Ja, ich bin nicht mager geworden, denn ich habe gutes Essen bekommen.“ Und die Herrin stand trotzdem zu ihrem Wort: für seine Mühe gab sie Fjodor fünfzig Rubel, und den warmen Pelz gab sie ihm auch, und einen ganzen Monat Urlaub gab sie ihm auch. Das Gesinde aber, Fjodors Freunde, bedankten sich, sagten ihm Dank für seinen schlauen Einfall und seine Bewirtung.
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90 Der Herr und der Hund Es lebte einmal ein Herr auf einem reichen Gut. Zu dem kam ein Bauer mit einem Anliegen. Er kam ans Haus, vom Hause aus aber stürzte sich der Lieblingshund des Herrn auf ihn. Der Bauer erschrak tüchtig. Und der Bauer hatte einen Knüppel in der Hand. Als sich der Hund auf den Bauern warf, versetzte der Bauer dem Hund mit voller Wucht einen Schlag und hatte den Hund gleich erschlagen. Der Herr erfuhr davon, und der Bauer gab’s zu und bat um Vergebung, dem Herrn aber war es um den Hund sehr leid. Der Hund hatte sein Gut aufs beste bewacht, und der Herr konnte ihm nicht vergeben und verklagte den Bauern vor Gericht. Dann wurden sie vor Gericht gerufen. Weil der Herr bei den Richtern in hohem Ansehen stand, wollten sie den Bauern so richten, wie der Herr es wünschte. Das schlugen sie dem Herrn vor. Die Richter sagen: „Was wollt Ihr mit ihm tun, Herr?“ Der Herr sagt: „Ich denke mir folgendes: Weil es ein sehr guter Hund gewesen ist und er mir sehr teuer war, mein ganzes Gut bewacht und mich behütet hat, so möchte ich, daß er bei mir den Hund macht, genauso auf dem Hofe lebt und nichts mehr mit 867
Menschenstimme sagen darf, sondern wie ein Hund bellt, mein Gut bewacht und mich behütet. Und ich will ihn schön warm anziehen und ihn gut füttern lassen; wie ich meinen Lieblingshund habe gut füttern lassen, will ich auch ihn gut füttern lassen. Er darf aber nachts nicht schlafen, muß alle Nächte bellen und mein Gut bewachen!“ Die Richter waren’s einverstanden, und der Bauer konnte nichts dagegen tun, und so war er, der Bauer, auch einverstanden. So lebte nun der Bauer bei dem Herrn auf dem Hofe und bellte wie ein Hund. Der Bauer bellte schön, nachts schlief er nicht, rannte auf dem ganzen Hof herum, und beim Herrn unter dem Fenster bellte er oft besonders laut. Der Herr war mit dem Hund zufrieden, und der Herr befahl: „Füttert den Hund gut!“ So hatte der Bauer ein halbes Jahr und mehr gebellt, war mit Dieben bekannt geworden und sagte zu den Dieben: „Kommt in der und der Nacht und stehlt wertvollen Besitz meines Herrn, ich werde euch hier aufmachen; und habt keine Angst, wenn ich auch laut bellen werde; nehmt’s nur recht schnell und macht euch dann schleunigst davon, und später gebt ihr mir meinen Teil!“ So machten’s die Diebe auch. Der Hund aber bellte in dieser Nacht lauter, rannte auf dem ganzen Hof herum, der Herr konnte nicht einmal einschlafen, so laut bellte er. Der Herr dachte:
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„Schön bellt der Hund. Ich muß Anweisung geben, ihn noch besser zu füttern.“ Und als am Morgen die Diener aufstanden, sahen sie – die Vorratskammer war aufgebrochen, und Gut war gestohlen worden; sie meldeten’s dem Herrn, und der Herr war sehr wütend auf den Hund, weil er sein Gut nicht bewacht hatte, und er konnte ihm nicht vergeben und verklagte den Hund vor Gericht. Nun riefen die Richter den Herrn und den Hund vor Gericht. Der Herr sagt: „Der Hund hier hat Diebe auf meinen Hof gelassen!“ Die Richter aber fragen: „Wie ist das, Herr, hat er in der Nacht gebellt?“ Der Herr sagt: „Er hat laut gebellt, ich habe nicht einmal einschlafen können; ich wollte schon Anweisung geben, ihn noch besser zu füttern.“ Da sagen die Richter: „Seht Ihr, Herr, gerade in der Nacht hat der Hund laut gebellt. Und Ihr, Herr, hättet irgendeinen Diener auf den Hof schicken müssen, der nachsieht, warum der Hund so laut bellt. Sprechen ist ihm doch verboten.“ Die Richter sagen: „Wir sind der Meinung, der Hund ist unschuldig!“ Der Herr aber war sehr wütend auf den Bauern. Und nach dem damaligen Recht konnte ein Herr einen Bauern ins Gefängnis stecken. 869
Der Herr denkt: „Ich will ihn selber hinbringen und vor meinen Augen ins Gefängnis stecken lassen.“ Der Herr fuhr also mit diesem Bauern los, bis zum Gefängnis waren es aber an die fünfzig Werst zu fahren. Und sie mußten spät abends durch einen dunklen Wald fahren. Der Herr lenkte sogar selber. Der Bauer sah auf einmal – vor ihnen hatte der Wind eine Tanne mit großen Wurzeln ausgerissen. Die Wurzeln ragten nach oben. Kaum hatte der Bauer diesen ausgerissenen Baum gesehen, da kam ihm augenblicklich ein guter Gedanke. Er entriß dem Herrn plötzlich die Zügel und schrie: „Brrr, brrr, brrr!“ Der Herr war tüchtig erschrocken: „Was ist denn los?“ Der Bauer aber sagt mit ängstlicher Stimme: „Väterchen Herr, Väterchen Herr, sieh nur, sieh nur, dort steht ein Bär auf den Hinterbeinen.“ Jetzt sah’s auch der Herr. Der Herr erschrak tüchtig. Der Herr sagt und drängt: „Los, dreh um, los, dreh um!“ Der Bauer aber sagt: „Herr, Herr, das geht nicht: wenn der Bär sieht, daß wir Angst vor ihm haben, holt er uns gleich ein und bricht uns alle Knochen!“ Der Herr sagt: „Was sollen wir denn tun? Was sollen wir denn tun?“ Der Bauer sagt: 870
„Herr, er hat große Angst vor Hundegebell.“ Da schrie der Herr: „Dann belle doch, du Schafskopf!“ Der Bauer sagt: „Ich kann nicht mehr bellen; ich habe auch keine Stimme.“ Und der Bauer macht dem Herrn Angst: „Herr, Herr, der Bär kommt immer näher!“ Der Herr sieht – es hilft nichts, und er fing selber wie ein Hund zu bellen an. Der Bauer sagt: „Herr, du mußt lauter bellen!“ Der Herr bellte noch lauter. Der Bauer sagt: „Der Bär hat Angst, er geht zurück.“ Der Herr war ganz matt vom Bellen und sagt: „Jetzt belle du, du Hundsfott!“ Und der Bauer fing an zu bellen: „Ham, ham!“ Er bringt kein Bellen zustande, und der Bauer sagt: „Herr, Herr, der Bär kommt immer näher!“ So bellte der Herr die ganze Nacht hindurch. Und der Herr verlor seine ganze Stimme – er kann nicht mehr bellen. Es begann, hell zu werden. Der Bauer sagt: „Herr, das ist gar kein Bär.“ „Was denn?“ „Je nun, der Wind hat eine Tanne ausgerissen. Das sind die Wurzeln, die nach oben spießen… Ich hab’s ja gewußt, daß es kein Bär ist.“ Der Herr sagt:
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„Ach, du Hundsfott! Ich werde dich noch länger im Gefängnis schmoren lassen!“ Der Bauer sagt: „Mach was du willst Herr! Du, Herr, bist ein Hund, denn du hast die ganze Nacht wie ein Hund gebellt.“ Der Herr wurde noch wütender. Der Bauer sagt: „Ich hätte ja noch besser als du bellen können. Ich wollte nur nicht. Und ich wollte, daß du die ganze Nacht bellst.“ Der Bauer sagt: .Jetzt werde ich allen erzählen, daß mein Herr die ganze Nacht wie ein Hund gebellt hat! Daß ich es war, der ihn hat bellen lassen!“ Der Herr wurde noch wütender auf den Bauern. Der Herr wollte seinen Diener nicht so davonkommen lassen. Wie der Herr aber dem Bauern auch drohte, der Bauer sagt nur: „Mach was du willst, Herr, ich erzähle’s sowieso!“ Der Herr sieht, daß seine Sache schlecht steht, und sagt zum Bauern: .Was willst du haben, damit du’s nicht erzählst?“ Und der Bauer sagt: „Vergib mir und stecke mich nicht ins Gefängnis, und schenke mir noch eine schöne Kuh und zwei Sack Weizen und laß mich zu Hause wohnen. Und ich werde dir dankbar sein, Herr, und dich loben; und werde allen sagen: ‚Nein, der Herr hat nicht wie ein Hund gebellt!’“ 872
91 Das Urteil des Schemjaka Es waren einmal zwei Brüder: der eine war reich, der andere arm. Der Arme kam zu dem Reichen und bat um ein Pferd. Der Reiche gab ihm ein Pferd, aber das Geschirr gab er ihm nicht. Nun, was sollte der arme Bruder tun? Nun, er band den Wagen einfach an den Schwanz. Fuhr in den Wald und hackte eine große Fuhre Holz. Kam nach Hause, machte das Tor auf, da blieb der Wagen stecken. Das Pferd zog – und der Schwanz riß ab. Er bringt das Pferd ohne Schwanz zurück, und der Bruder wurde böse: „Ich bringe dich vor Schemjaka den Richter!“ Sie fuhren los. Fuhren und fuhren. Bei einem reichen Bauern kehrten sie ein. Der Reiche sitzt beim Reichen, sie essen und trinken Schnaps, der Arme aber liegt auf dem Ofen und wollte sehen, was die Reichen essen. Beugte sich über den Ofenrand, konnte sich nicht halten, fiel herunter und erdrückte ein Kind. Der reiche Bauer sagt: „Ich gehe zu Schemjaka dem Richter!“ Nun fuhren sie schon zu dritt weiter. Unterwegs ist eine große Brücke. Der arme Bruder denkt: „Mit mir ist’s sowieso aus. Ich will von der Brücke herabspringen und mich zu Tode stürzen.“
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Dort aber kam gerade ein junger Bursche mit seinem kranken Vater gefahren. Der arme Bruder sprang von der Brücke herunter und erschlug den Vater. Der Bursche sagt: „Ich gehe zu Schemjaka dem Richter!“ Sie kommen zum Richter. Der Bruder bringt seine Klage vor, der arme Bruder aber hatte einen Stein in ein Tuch gewickelt und zeigt ihn dem Richter. Schemjaka der Richter denkt, er will ihm Geld geben, und sagt: „Gib ihm das Pferd, bis der Schwanz nachgewachsen ist!“ Nun brachte der reiche Bauer seine Klage vor, dem er das Kind erschlagen hatte, der arme Bruder aber zeigt wieder den Stein. Schemjaka der Richter sagt: „Gib ihm deine Frau, bis sie ein Kind bekommt!“ Nun brachte der Bursche seine Klage vor, der Arme aber zeigt wieder den Stein im Tuch. „Armer Bauer, stell du dich unter die Brücke, du aber, Bursche, spring auf ihn herunter und erschlage ihn!“ Als alle gegangen waren, ruft Schemjaka den armen Bauern: gib das Geld her, sagt er, der aber wickelt das Tuch auf und sagt: „Hättest du das Urteil nicht zu meinem Vorteil gesprochen, ich hätte Schemjaka den Richter erschlagen!“ Schemjaka der Richter freute sich. „Gott sei Dank, daß ich das Urteil so gesprochen habe!“
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Und der Arme kommt zu seinem Bruder, um das Pferd zu holen, der Bruder aber sagt zu ihm: „Ich will dir eine Kuh geben und ein paar Scheffel Getreide, nur laß mir das Pferd!“ Der Arme nahm das alles und ging zu dem reichen Bauern, um die Frau zu holen. Der erschrak und bat ihn: „Ich will dir ein Pferd geben und ein paar Scheffel Getreide, nur nimm nicht die Bäuerin!“ Der nahm’s und ging zu dem jungen Burschen. „Nun“, sagt er, „ich will mich unter die Brücke stellen, spring du auf mich herunter!“ Der Bursche hatte Angst, von der Brücke herunterzuspringen, und bittet den armen Bruder: „Nimm eine Ziege und ein paar Scheffel Getreide, ich kann nicht springen!“ Der arme Bruder nahm das alles und führt jetzt ein schönes Leben.
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92 Ein Lügenmärchen Ich stand am Morgen auf, zog die Barfüße an, schnallte das Bein unter die Sohlen, steckte die Schneeschuhe in den Gürtel, band den Stock um den Leib und stützte mich auf den Gürtel. Ich ging keinen Weg und keine Straße; am Bast schnitt ich den Berg; da sah ich auf der Ente einen See, warf das Beil danach – und hatte zu kurz geworfen, warf das zweite – und hatte zu weit geworfen, warf das dritte – und hatte getroffen, nur daneben; die Ente schlug Wellen, und der See flog davon. Ich ging aufs freie Feld und sah: unter einer Eiche melkt eine Kuh die Bäuerin. Ich sage: „Tantchen, Mütterchen! Gib mir anderthalb Krug süße Milch!“ Sie schickte mich nach dem Dorf Unbekannt ins Haus Nirgendwo. Ich ging los und kam hin: da knetet der Backtrog die Bäuerin. Ich sage: „Tantchen, Mütterchen! Gib mir etwas Teig!“ Sie holte den Trog aus dem Quirl und schlug ihn mir um die Ohren. Ich auf und davon! Kam auf die Straße hinaus: da hundet ein Bell mich an: womit sollte ich mich wehren? Da sah ich: auf dem Schlitten steht eine Straße, ich zog den Schlitten aus der Deichsel, schlug ihn dem Bell um die Ohren, ging nach Hause und legte mich vor Kummer schlafen.
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93 Ein Neckmärchen (Parodie) Es lebten einmal zwei Brüder, zwei Brüder – die Schnepfe und der Kranich. Die mähten Heu, einen tüchtigen Hauf’, stellten ihn mitten im Felde auf. Sag ich’s Märchen wieder von hinten auf?
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ANHANG Nachwort1 I Die russische mündliche Volkserzählung ist sehr vielseitig. Märchen, Sagen, Legenden, sagenartige Memorate – alle diese Arten der mündlichen Erzählung haben ihre spezifischen Wesenszüge, unterscheiden sich in ihrer Thematik, ihren Sujets, im System ihrer Gestalten und in ihrem Stil. Andererseits sind sie häufig so sehr miteinander verwandt, gehen so leicht ineinander über, daß eine Abgrenzung bisweilen schwierig ist. Das Märchen unterscheidet sich von den anderen Arten der mündlichen Prosa dadurch, daß es vom Erzähler als etwas Erfundenes (вымысел), als Spiel der Phantasie dargeboten wird, mag es nun vom unsterblichen Kostschej oder von Peter I. handeln, von der Baba-Jagá, vom dummen Gutsherrn oder vom habgierigen Popen. Nicht zufällig auch definiert das Volk in seinen Sprichwörtern das Märchen als etwas „Erdichtetes“ (складка) und unterstreicht damit seine Verschiedenheit vom Lied und von der Erzählung wirklicher Ereignisse (быль). Das Element des Phantastischen ist es, wodurch das Wesen des Märchens, seine „Märchenhaftigkeit“, die Spezifik der konkreten Gestaltung seines Ideengehaltes bestimmt wird. Mit dem Wort „Märchen“ bezeichnen wir sowohl moralisch-belehrende Tiererzählungen wie auch Zaubermärchen, 1
Anmerkung der Redaktion: Um die wissenschaftliche und bibliographische Auswertung zu erleichtern, werden im Nachwort und in den Anmerkungen alle russischen Autorenund Personennamen in der international gebräuchlichen „Bibliotheksumschrift“ gebracht.
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die voll von Wundern sind, kuriose Abenteuer- und satirische Schwankmärchen, obwohl doch jede dieser Arten der mündlichen Prosa ihre charakteristischen Besonderheiten hat. Betrachten wir zum Beispiel das Zaubermärchen, dessen Handlung sich im dreimalneunten Zarenreich, im dreimalzehnten Staat abspielt, dessen Held den Drachen mit den drei Köpfen besiegt, auf dem fliegenden Teppich fliegt, das Tischtuchdeckdich und die Tarnkappe in seinen Besitz bringt, dann erhebt sich tatsächlich die Frage, was ein solches Märchen mit der Fabel vom schlauen Fuchs gemein hat, der den dummen Wolf betrügt, oder aber mit der Erzählung vom schlauen Bauern, der einer dummen Gutsherrin eine Sau mit ihren Ferkeln entführt und den Gutsherrn dazu bringt, unter seinem Hut einen .Falken“ zu bewachen. Diese Märchen unterscheiden sich nicht nur durch ihre Thematik, sondern durch das ganze System ihrer Gestalten, die Art und Weise ihrer Komposition und ihre stilistische Methode, das heißt durch ihren gesamten Stil. Dennoch besitzen alle diese auf den ersten Blick so unterschiedlichen Arten mündlicher Prosa ein gemeinsames Merkmal, das sie in ihrer schöpferischen Methode von den benachbarten Arten der mündlichen Prosa – der historischen Sage, der religiösen Legende und der phantastischen kleinen Geschichte – unterscheidet. Das charakteristische Merkmal des Märchens ist, wie gesagt, seine bewußte Orientierung darauf, daß es sich um Erdichtetes handelt, ist, mit anderen Worten, der Charakter der poetischen Erfindung, ihre Rolle, ihre Funktion. Wie wenig wahrscheinlich auch die Ereignisse sein mögen, von denen die Sage zu berichten weiß, wie töricht auch die Erzählung von den Fährnissen der heiligen Wundertäter sein und wie phantastisch die Erzählung von den Waldgeistern oder den Nixen auch anmuten mag, der Erzähler glaubt an die Wahrheit seiner Geschichte oder tut zumindest so, als glaube er daran, er bietet den Zuhörern seine Erzählung als Mitteilung von Ereignissen, die sich tatsächlich zugetragen haben, und betont ihre Glaubwürdigkeit. Für alle
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diese Genres (Legende, Sage, phantastisches Memorat) ist charakteristisch, daß sie auf die Logik von Tatsachen orientieren. Es handelt sich bei ihnen um Berichte von außergewöhnlichen Menschen, interessanten Ereignissen und erstaunlichen Vorfällen. Im Unterschied hierzu ist die Tendenz des Märchens ganz anderer Art, handelt es sich bei ihm doch um eine Orientierung auf dichterisch Erfundenes, auf ein Spiel der Phantasie. Die Frage nach der Glaubwürdigkeit des Erzählten wird hierbei überhaupt nicht gestellt. Dies wird unterstrichen sowohl durch den bei östlichen Märchen beliebten Typ der Anfänge: „Ob es nun so war oder nicht – vom Himmel fielen drei Äpfel herab“, als auch durch Schlußformeln des Typs: „Das Märchen ist aus – mehr gibt es nicht zu lügen“1, durch die Verlagerung der Märchenhandlung in ein unbestimmtes „dreimalneuntes Zarenreich“, einen „dreimalzehnten Staat“, durch die Zwischenbemerkungen der Erzähler und die hierauf erfolgenden Reaktionen der Hörer: „Der lügt euch dreimal die Hucke voll“, „ein bekannter Lügner“. Orientierung auf dichterische Erfindung ist charakteristisch für die Märchenarten aller Völker. Der Erzähler und seine Zuhörer glauben keineswegs an die reale Möglichkeit einer Reise des Helden auf dem fliegenden Teppich, an die Existenz der Tarnkappe und des neunköpfigen Drachens oder an die „Vernünftigkeit der Beziehungen“ zwischen Wolf und Fuchs, ja sie glauben ebensowenig daran, daß der Tagelöhner den Popen zwang, Heu zu essen, oder daß der Zimmermann den hochmütigen Gutsherrn dreimal durchgeprügelt hat. Die betonte, bewußte Orientierung auf die dichterische Erfindung bildet das Hauptmerkmal des Märchens als Genre. Diese Besonderheit ist schon mehrfach sowohl von russischen wie auch von ausländischen Forschern festgestellt worden, wenn auch meist nicht für das Genre insgesamt, sondern lediglich für die Zauber- und die Tiermärchen. 1
Im Russischen mit Reim: Сказка вся – боле врать нельзя (Anm. d. Übers.)
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Als Arbeitsgrundlage könnte, so scheint mir, die folgende Definition des Märchens akzeptiert werden: Das Volksmärchen ist ein episches, im mündlichen Überlieferungsbereich beheimatetes Kunstwerk, vorwiegend in Prosaform, das die Welt des Zauberhaften, des Abenteuerlichen oder des gewöhnlichen Alltags zum Gegenstand hat und auf dichterischer Erfindung beruht. Eine Orientierung auf dichterische Erfindung als Hauptprinzip der künstlerischen Methode des Märchens anzuerkennen, bedeutet jedoch keineswegs, seine Verbindung mit der Wirklichkeit zu leugnen, jener Wirklichkeit, die den Ideengehalt des Märchens, den Charakter seiner Sujets, seiner Gestalten, der Details der Erzählung und seine Sprache bestimmt. „In jedem Märchen sind Elemente der Wirklichkeit enthalten“, sagt Lenin. (W. I. Lenin, Werke, Bd. 27, S. 79 [russisch], S. 88 [deutsch].) * Die Verbindung des Märchens mit der Wirklichkeit ist außerordentlich mannigfaltig. Sie kann primär sein, d. h. die Genese des Märchens bestimmen, dieses oder jenes Sujet schaffen, eine Gestalt, ein Motiv; oder aber sie kann sekundär sein, d. h. die weitere Veränderung des Märchens bestimmen, sein Fortleben in den Jahrhunderten, sein historisches Schicksal. So ist beispielsweise das Zaubermärchen Produkt anderer primärer Voraussetzungen sozialer, ökonomischer und historischer Art, einer anderen Wirklichkeit als das Alltagsmärchen, d. h. das Märchen mit Alltagsthematik (бытовая сказка). Aber in bestimmten Abschnitten ihrer historischen Entwicklung wurden beide den gleichen sozialen und ökonomischen Faktoren unterworfen, spiegelten sie die gleiche Wirklichkeit wider und brachten sie die gleichen, dem Volk zunächst am Herzen liegenden Gedanken zum Ausdruck. Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens sind – ebenso wie die Genese der Tiermärchen – von vielen Gelehrten untersucht worden. Seine Entstehung wird von ih-
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nen unterschiedlich und mit unterschiedlicher Überzeugungskraft erklärt, doch sind sie darin einig, daß das Märchen ein Produkt der menschlichen Gesellschaft in einem bestimmten Entwicklungsstadium ist, daß es von der Wirklichkeit der Urgesellschaft hervorgebracht wurde. Völlig andere Voraussetzungen haben wiederum das russische satirische, adelsfeindliche Märchen geschaffen, das eine Reaktion des Volkes auf die Leibeigenschaftsverhältnisse Rußlands im 17. und 18. Jahrhundert darstellt. Geschaffen in unvordenklichen Zeiten, nimmt dieses oder jenes Märchen auf seinem Wege durch die Jahrhunderte neue Züge in sich auf, büßt diese Motive und Gestalten ein, entwickelt dafür jene und behandelt alte Gestalten auf neue Art und Weise. Die heute im Munde unserer Erzähler lebendigen Märchen sind außerordentlich vielschichtig, und der Märchenforscher muß die einzelnen, von den verschiedenen Epochen geschaffenen Schichten unterscheiden, wenngleich diese Schichtenbildung nicht mechanisch vor sich geht und das Neue in jedem Märchentext mit dem Alten zu einem organischen Ganzen verschmilzt. Wirkt eine neue Wirklichkeit auf ein überliefertes Märchen ein, dann hat dies eine Veränderung des Sujets zur Folge, eine andere Interpretation der Gestalten, die Sprache des Erzählers erneuert sich, und es entsteht somit ein neuer Stil des Märchens. Wollen wir ein Märchen unter sozialem Blickwinkel betrachten, dann müssen wir suchen und erkennen, wie sich in ihm das Sehnen und Hoffen des Volkes in den verschiedenen Epochen widerspiegelt, müssen wir erkennen, daß das Märchen nicht nur die Stimmen ferner, oft vorhistorischer Zeiten zu uns trägt, sondern daß jede Epoche ihre Probleme, Tendenzen und Worte in das Märchen hineinträgt. Die Geschichte eines Märchens darf sich nicht darauf beschränken, seine genetischen Wurzeln aufzudecken, sie muß auch seinen späteren Veränderungen nachgehen, die aufs engste mit der Veränderung der Gesellschaftsordnung, mit
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der Veränderung der Psyche und der Ideologie seiner Schöpfer und Hörer verknüpft sind. Im Unterschied zum literarischen Kunstwerk dauert das gestaltbare Leben eines folkloristischen Textes so lange an, wie er im Repertoire des Volkes lebendig ist, so lange, wie die Erzähler, d. h. diejenigen, die ihn reproduzieren und gleichzeitig produzieren, an ihm schaffen. Weitergegeben von Generation zu Generation, vom Lehrer an den Schüler, vom Erzähler an den Zuhörer, befindet sich das Märchen im Zustande unaufhörlicher Dynamik, in ewiger Bewegung. Ein und dieselben Märchensujets, mögen sie nun infolge ähnlicher sozialer und historischer Voraussetzungen bei verschiedenen Völkern entstanden oder aber von einem Volk bei einem anderen entlehnt worden sein, haben in den verschiedenen Epochen ein unterschiedliches Fortleben in der mündlichen Tradition der verschiedenen Völker, im Munde verschiedener Erzähler und sogar in der Wiedergabe ein und desselben Erzählers zu verschiedenen Zeiten oder vor unterschiedlicher Zuhörerschaft. Daher weisen die Märchen aller Völker nicht nur enge Verwandtschaft auf, sondern gleichzeitig auch tiefreichende Unterschiede, spiegeln sie doch die Umwelt wider, in der sie zu Hause sind, die jeweiligen Naturbedingungen und die Geschichte des Volkes, das sie schuf oder bewahrte, d. h. eine bestimmte historische Wirklichkeit. Bei der Erforschung der Geschichte eines Märchens muß man stets seine verschiedenen Varianten berücksichtigen, da in den einzelnen Varianten eines für verschiedene Völker, Epochen und Länder gemeinsamen Typs die nationalen, klassenmäßigen und zeitlichen Unterschiede zutage treten, die in ihrer Gesamtheit die historische Veränderung des Märchens bewirkt haben. Jedes Märchen, oder richtiger gesagt, jeder Text eines Märchens ist gleichzeitig Ergebnis individuellen und kollektiven Schaffens. Die Varianten der Märchen sind verschieden in ihrem Charakter, verschieden ist daher auch ihre Bedeutung für das historische Schicksal eines Märchens.
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Man kann einige Haupttypen von Varianten skizzieren, ohne dabei freilich ihre ganze Vielfalt zu erschöpfen. So begegnen bekanntlich zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern stets die gleichen Sujets. Gleiche Sujets können andererseits bei ein und demselben Volk in verschiedenen Zeiten eine unterschiedliche Behandlung erfahren. Zu ein und derselben Zeit kann bei ein und demselben Volk das gleiche Sujet im Repertoire verschiedener Erzähler verschieden fortleben. Ein und derselbe Erzähler kann je nach seiner Zuhörerschaft und in Abhängigkeit von seiner Stimmung oder der schöpferischen Aufgabe, die er sich gerade im gegebenen Augenblick stellt, das gleiche Märchen anders erzählen. Ein Märchen ändert sich in Abhängigkeit davon, wer es erzählt, wo, wann und wem es erzählt wird, in Abhängigkeit von Epoche, Volk, sozialer Umwelt und Zuhörerschaft. Es gibt keine „klassische“ Hauptvariante dieses oder jenes Sujets, jede einzelne befindet sich, ihr gestaltbares Weiterleben vorausgesetzt, in ständiger Bewegung, in ständiger Dynamik. Die Märchen der Völker berühren einander und stoßen einander ab, indem sie auf ihrem Wege bald gewisse wesentliche Elemente einbüßen, bald neue in sich aufnehmen. Es könnte scheinen, die Märchen haben sich auf ihrem Wege durch die Jahrhunderte bei solch ewiger Bewegung und angesichts der ständigen Veränderung so stark wandeln müssen, daß es beispielsweise zwischen einem Märchen der Epoche des Feudalismus und einem der Gegenwart nichts Gemeinsames geben kann. Das ist jedoch nicht der Fall. Bei all seiner Variabilität ist das Volksmärchen im Grunde genommen doch hinreichend stabil und in seinem Kern unveränderlich, was seine Ursache darin hat, daß bei der Schaffung des Märchens das kollektive Prinzip gegenüber dem individuellen den Vorrang hat, mit anderen Worten darin, daß die schöpferische Leistung des Erzählers nicht so sehr im Schaffen von Motiven zum Ausdruck kommt, als in der Art und Weise, wie er die Motive aus dem bereitstehenden Vorrat kombiniert. Denn eine jede konkrete Variante ist
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zwar Ergebnis der individuellen schöpferischen Leistung dieses oder jenes Erzählers, das Märchen in seinem Sujetkern indessen, in der Grundanlage seiner Gestalten, in der Gesamtheit seines Stils ist Ergebnis des kollektiven Schaffens des Volkes. Hieraus resultiert die Stabilität seines ideellen Kerns, der charakteristischen Merkmale seines Stils. Dies ist der Grund dafür, daß sich nur die Variante als lebensfähig erweist, die nicht gegen die Gesetze der Folklore als kollektiver Kunst verstößt, die sich nicht in Widerspruch zu den Grundlagen des Genres setzt. Unlogische, nicht überzeugende Veränderungen einer Gestalt, eines Sujets, des Stils eines Märchens und seiner Sprache führen zu seinem Zerfall, zum Tode der Gestalt, des Sujets, des Genres. Diese Eigenart des Märchens – seine gleichzeitige Stabilität und Veränderlichkeit – darf bei der Erforschung seines späteren historischen Schicksals nie aus dem Auge gelassen werden. Das Studium der Geschichte eines Märchens dieses oder jenes Volkes ist unmöglich ohne Berücksichtigung seiner nationalen Eigenart. Die Geschichte eines Märchens in ihrer Gesamtheit setzt sich zusammen aus der konkreten Geschichte des russischen, deutschen, chinesischen Märchens usf. von denen eine jede durch die Geschichte des jeweiligen Volkes, sein Leben, seine Bräuche, seine Glaubensvorstellungen, seine Arbeitsbedingungen und seine Sprache bestimmt wird. Die nationale Eigenart eines Märchens ist durch eine Vielzahl von Komponenten bedingt, die ganz den gleichen Veränderungen durch die Zeit unterworfen sind wie auch die anderen Eigenschaften des Märchens. Die nationale Eigenart der Märchen eines Volkes läßt sich durch Vergleich ermitteln und setzt sich aus einer Reihe historisch sich entwickelnder Elemente zusammen. „Nehmt ein Märchen in seiner Gesamtheit“, sagt hierzu A. N. Veselovskij, „untersucht, wie die verschiedenartigen Motive darin verschmolzen sind, betrachtet es im Zusammenhang mit den Märchen des gleichen Volkes, bestimmt die Besonderheiten seines physiologischen Baues, seine Individualität in eben diesem Volk, und geht dann dazu über, es mit dem
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oder den Märchen anderer Völker zu vergleichen.“ (Sobranie sočinenij [Gesammelte Werke], Bd. XVI, S. 92.) Jedes Volk schafft sich sein eigenes, unwiederholbares Märchenepos, das sein nationales Antlitz, seine Geschichte, sein Leben widerspiegelt.
II Die Märchen eines jeden Volkes spiegeln das Leben jener Umwelt wider, in der sie beheimatet sind, die Bedingungen, unter denen das jeweilige Volk lebt, die Geschichte des Volkes, das sie schuf und durch die Jahrhunderte getragen hat. Anders kann es auch gar nicht sein, stellen doch die Märchen jedes Volkes in erster Linie eine konkrete Widerspiegelung der Wirklichkeit dar. Auch das russische Märchen hat seine Eigenart, und auch seine Geschichte zeichnet sich durch Originalität und spezifische Eigenschaften aus. Obwohl seine historischen Wurzeln ins graue Altertum zurückreichen, findet jede spätere Etappe im Leben der russischen Gesellschaft im Märchen ihren Niederschlag, bewirkt in ihm bestimmte gesetzmäßige und typische Veränderungen. Die nationale Besonderheit des russischen Märchens besteht in der Eigenart seiner reichen Sprache, im Charakter seines poetischen Stils, in den rein russischen Alltagsdetails, in den Besonderheiten der Landschaft und darin, daß in ihm ein ganz bestimmter Bereich des russischen Lebens, vorwiegend des bäuerlichen, und ganz bestimmte soziale Verhältnisse dargestellt werden. Die meisten der im 18. 19. und 20. Jahrhundert aufgezeichneten Märchen sind von Bauern erzählt und tragen deutlich ausgeprägten bäuerlichen Charakter. Selbst das Leben der Zaren und das märchenhafte „dreimalzehnte Zarenreich“ werden gewöhnlich nach dem Leben im russischen Dorf vor der Revolution gezeichnet. Der ideelle und künstlerische Reichtum des russischen Märchens hat dazu beigetragen, daß es sich im mündlichen Repertoire des Volkes erhalten hat; er bedingte auch das
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Interesse, das ihm von den besten russischen Schriftstellern, Künstlern und Komponisten entgegengebracht wurde. Wie die Märchen anderer Völker, so sind auch die russischen Volksmärchen hinsichtlich ihres Genres sehr verschiedenartig. Wir finden im Repertoire der russischen Märchenerzähler mehrere Gruppen von Märchen, deren Genremerkmale sich wesentlich voneinander unterscheiden, für die aber immerhin die allgemeine Definition des Genres „Märchen“ zutrifft, wie sie oben gegeben wurde. Als Hauptgruppen des russischen Märchens können Tiermärchen, Zaubermärchen, Abenteuermärchen und Alltagsmärchen genannt werden. Häufig ist es schwer zu entscheiden, zu welcher dieser Gruppen ein Märchentext gehört. Das Sujet eines Märchens kann seinen Charakter in der Interpretation verschiedener Märchenerzähler so verändern, daß es schwierig ist, eine scharfe Trennungslinie zwischen den einzelnen Märchenarten zu ziehen. Außer den genannten Hauptarten des Märchens kennen wir noch die Lügenmärchen (сказки-небылицы), die sich auf mutwillige Unsinnigkeiten gründen und damit gleichsam die Phantastik des traditionellen Märchens parodieren, ferner die sogenannten Neckmärchen (докучные сказки) sowie zahlreiche witzige Formeln (црибаутки) und Märcheneinleitungen (присказки). Auch viele Legenden religiösen Inhalts und zahlreiche historische Überlieferungen berühren sich mit den Märchen. Der unterschiedliche Inhalt dieser Märchen, die unterschiedliche Art und Weise, in der sie mit der Wirklichkeit verbunden sind, und die Unterschiedlichkeit ihrer poetischen Sprache haben zur Folge, daß einige von ihnen in unseren Tagen untergehen, aus dem Leben des Volkes verschwinden, andere dagegen zum ausschließlichen Besitz des kindlichen Zuhörers werden, und wieder andere, die sich mit Anekdoten oder mit Erinnerungen an die Vergangenheit berühren, auch weiterhin das Interesse des erwachsenen Zuhörers finden. Die Frage der Klassifizierung des Märchens ist bis heute weder in der russischen noch in der Wissenschaft des Aus-
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lands endgültig geklärt. Ein allgemeiner Mangel aller vorgeschlagenen Klassifizierungssysteme besteht darin, daß ihnen kein einheitliches Prinzip zugrunde liegt. Jede der genannten Arten des Märchens umfaßt wiederum unterschiedliches Material. So müssen bei diesem Klassifizierungssystem beispielsweise den Zaubermärchen auch die legendenähnlichen und die Heldenmärchen zugerechnet werden, den Abenteuermärchen auch die historischen und die novellistischen, den Alltagsmärchen auch die satirischen Märchen und die Schwänke. Die vorgeschlagene Klassifizierung erschöpft natürlich nicht alle Arten des Märchens und erhebt nicht den Anspruch auf Endgültigkeit. Wichtig ist nicht die Klassifizierung als solche, von Wichtigkeit ist es vielmehr, das eigentliche Wesen und die poetischen Besonderheiten einer jeden Märchenart zu erfassen. * Die erste Erwähnung russischer Märchen findet sich in der Kiewer Rus, doch ihre Wurzeln verlieren sich in unbekannte Vorzeit. Wann eine bestimmte Erzählung ihren Platz im Genre gefunden, wann sie ihr Leben gerade im Bereich des Märchens und nicht etwa im Bereich der Legende oder der Sage begonnen hat, läßt sich exakt schlechterdings nicht feststellen. Es steht außer Zweifel, daß viele Tiermärchen sowie auch viele Zaubermärchen, die im Repertoire des Volkes bis auf unsere Tage lebendig sind, genetisch in die Zeit vor der Klassengesellschaft zurückreichen. Doch haben sich diese alten Elemente im Märchen funktionell so sehr verändert und existieren nur in so allgemeiner Form weiter, daß man keineswegs mehr sagen kann, als daß in den russischen Märchen der Epoche des Feudalismus oder noch späterer Epochen gewisse Elemente urgesellschaftlicher Vorstellungen enthalten sind. Was freilich die feudale Rus anlangt, so kann es als gesichert gelten, daß Märchen in unserem Sinne in der Kiewer Rus ein weit verbreitetes Genre des mündlichen Schaffens
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waren. Die altrussischen Literaturdenkmäler enthalten genügend Erwähnungen von Märchenerzählern und Märchen, die jeden Zweifel in dieser Hinsicht beseitigen. Die frühesten Nachrichten von russischen Märchenerzählern und ihrer Rolle im täglichen Leben gehören dem 12. Jahrhundert an. In der erbaulich-belehrenden Erzählung Vom Reichen und Armen wird beschrieben, wie sich ein reicher Mann zur Nachtruhe begibt. Unter den ihn umgebenden Dienern, die ihn auf die verschiedenste Weise unterhalten, werden mit höchster Mißbilligung auch solche erwähnt, die „Geschichten erzählen und lästerliche Spottreden führen“, die ihm also vor dem Einschlafen Märchen erzählen. (S. V. Savčenko: Russkaja narodnaja skazka [Das russische Volksmärchen], Kiew 1914, S. 37.) In dieser ersten Erwähnung des Märchens hat bereits die ganze widerspruchsvolle Einstellung zum Märchen ihren Niederschlag gefunden, die wir im Verlauf der Jahrhunderte in der russischen Gesellschaft beobachten können. Auf der einen Seite ist das Märchen beliebte Zerstreuung und Unterhaltung und hat Zutritt zu allen Schichten der Gesellschaft, auf der anderen Seite wird es gebrandmarkt und verfolgt als etwas Teuflisches, etwas Unerlaubtes, das an den Grundfesten der altrussischen Gesellschaft rüttelt. All das berechtigt uns zu der Annahme, das sich das Märchen in der alten Rus bereits als Genre der mündlichen Prosa herausgebildet, sich von Sage, Legende und Mythos abgesondert hatte. Seine Genremerkmale – Orientierung auf die dichterische Erfindung und Unterhaltungsfunktion – werden bereits sowohl von seinen Trägern wie von seinen Verfolgern erkannt. Schon in der alten Rus sind sie „erfundene Geschichten“ (сказки небылые) und eben als solche leben sie in den folgenden Jahrhunderten im Repertoire des Volkes weiter. Es kann angenommen werden, daß auch die Hauptmerkmale der Poetik des russischen Märchens zu dieser Zeit schon entwickelt waren. Davon zeugen die dem Märchen verwandten Chroniküberlieferungen, in denen phantastische Gestalten, dreimalige Wiederholungen und Situationen ver-
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wendet werden, wie sie für das Märchen typisch sind. In die Chroniken dringen sogar für das Märchen charakteristische stilistische Formeln ein; so lesen wir beispielsweise in einer Pskower Chronik aus dem Jahre 1266: „Wer alt ist, sei mein Vater, und wer jung ist, mein Bruder.“ (Vgl. hierzu Märchen Als sich Mücke und Fliege bekriegten S. 340.) Wir sind also zu der Annahme berechtigt, daß im 13. Jahrhundert auch schon das sogenannte Märchenzeremoniell entwickelt war, das mit den traditionellen Märchengestalten und Märchensujets untrennbar verknüpft ist. Obgleich das Märchen in der feudalen Welt gegenüber der Kirche und ihrer Lehre einen antagonistischen Standpunkt einnimmt und von Kirchenlehrern und Kirchenpredigern verfolgt wird, finden seine Gestalten und Motive weithin Verwendung in der Vitenliteratur. Unzweifelhaft ist der Einfluß des Märchens auf die ursprüngliche altrussische Chronik. Auf die Entwicklung der traditionellen poetischen Mittel des Märchens und vor allem des Zaubermärchens ist nicht ohne Einfluß geblieben, daß Märchen allem Anschein nach zum Repertoire der altrussischen Spielleute (скоморохи), der berufsmäßigen Tänzer, Liedersänger, Erzähler gehörten, für deren Kunst wir Belege aus der Zeit vom 11. bis 17. Jahrhundert besitzen. In der Geschichts- und Memoirenliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts kann man eine ganze Anzahl von Erwähnungen des Märchens finden, die beweisen, daß das Märchen in diesen Jahrhunderten sowohl unter den Bauern und Handwerkern wie auch in gleichem Maße in den sozialen Oberschichten zu Hause war. Zar Ivan IV. konnte ohne die Geschichten eines Erzählers (бахарь) nicht einschlafen. In seinem Schlafgemach warteten gewöhnlich drei blinde Greise auf ihn, die ihm abwechselnd Märchen und Lügengeschichten (небылицы) erzählten. Wir kennen die Märchenerzähler der Zaren Vasilij Šujskij, Michail und Aleksej Romanov. Wie aus den von Ivan Zabelin (Domašnij byt russkich carej v XVI i XVII vv. č II, Materialy, V [Das häusliche Leben der russischen Zaren im 16. und 17. Jahrhundert,
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Teil II, Materialien, V], 1915, S. 661) angeführten Bemerkungen, Narren, von religiösem Wahnsinn Besessene und dgl. betreffend zu ersehen ist, wurden Märchenerzähler für Geschichten, die sie erzählt hatten, auf persönlichen Befehl des Zaren und Großfürsten „bald mit himmelblauem Tuch, bald mit Kalbslederstiefeln, bald mit einem kirschroten englischen Kaftan“ belohnt. Ausländische Reisende berichten von Märchen, mit denen sich, ihren Beobachtungen zufolge, die Russen im 17. Jahrhundert bei ihren Gastereien unterhielten. (S. V. Savčenko: Russkaja narodnaja skazka, a. a. O. S. 48-49.) Der beträchtliche Einfluß des Märchens auf die handschriftliche Chronik des 17. Jahrhunderts, die nicht nur einzelne Elemente der Folklore enthält, sondern allerorts gänzlich auf folkloristischer Basis entsteht, zeugt gleichfalls von der weiten Verbreitung des Märchens im alten Rußland. Diese Chroniken und die zahlreichen Zeugnisse gestatten es, auf das Märchenrepertoire des alten Rußland zu schließen und anzunehmen, daß alle Hauptarten des russischen Märchens darin vertreten waren: Zaubermärchen, Abenteuermärchen, Alltagsmärchen und Tiermärchen. Wenn in der Rus des frühen Feudalismus die Kunst des Märchenerzählens geübt wurde, so bereitete dies gleichzeitig den Boden für die Übernahme, Aneignung und weite Verbreitung von übersetzten spannenden Novellenmärchen (сказки-повести), wie des Märchens von Bowa dem Königssohn und von Jeruslan Lasarewitsch, die im 17. Jahrhundert auf russischem Boden unter Heranziehung aller Mittel des russischen Abenteuer- und Zaubermärchens weiterentwikkelt wurden. Nur auf der Grundlage einer festen Märchentradition konnten solch großartige satirische Erzählungen wie die vom Urteil des Schemjaka oder von Jorsch Jerschowitsch entstehen, die von dem hohen Stand des mündlich überlieferten satirischen Märchens jener Zeit Zeugnis geben. (S. V. Savčenko: Russkaja narodnaja skazka, a. a. O. S. 5253.) Wie beliebt das Märchen als Genre im 17. Jahrhundert gewesen ist, davon zeugt ferner, daß ein interessierter Eng-
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länder, Collins, Leibarzt des Zaren Aleksej Michajlovič, am Ende des Jahrhunderts Märchen über Ivan Groznyj aufgezeichnet hat. Das Buch Collins’ kam 1667 heraus. In russischer Übersetzung erschien es zuerst im Russkij Vestnik (Russischer Bote) 1841, Nr. 8 und 9. Ein auf Originaltexte gestütztes Studium der Geschichte des russischen Märchens kann erst vom 18. Jahrhundert an begonnen werden (und selbst dies nur mit einigen Vorbehalten). Erst von da an kann eine textologische Untersuchung erfolgen, die nicht gezwungen ist, zur Rekonstruktion von Sujets und Gestalten sowie zu Analogieschlüssen zu greifen, wie dies bei der Behandlung des russischen Märchens früherer Perioden unerläßlich ist. Das 18. Jahrhundert liefert uns einen ausreichenden Märchenschatz, der trotz schlechter Qualität der Aufzeichnungen gestattet, sich ein Urteil über die Märchenüberlieferung dieses Jahrhunderts zu bilden. Die im 18. Jahrhundert einsetzende Publikation von Märchen stützte sich auf die mündliche Überlieferung, und dies kam sowohl in den Titeln der Sammlungen und in den Anmerkungen der Herausgeber wie auch in ihren Worten an den Leser zum Ausdruck. Titel wie Mužik, iščuščij česti, rasskazčik zabavnych basen (Ein Bauer, der sich die Ehre erwerben will und unterhaltsame Geschichten erzählt), Veselaja staruška, zabavnica detej, rasskazyvajuščaja starinnye byli i nebylicy (Eine lustige Alte, die die Kinder unterhält und alte Geschichten und Märchen erzählt), Staričokvesel’čak, rasskazyvajuščij davnie moskovskie byli (Ein lustiger Alter, der alte Moskauer Geschichten erzählt) oder schließlich Lekarstvo ot zadumčivosti i bessonnicy ili nastojaščie russkie skazki (Arznei gegen Trübsinn und Schlaflosigkeit oder echte russische Märchen) heben die Verbindung der Märchen mit der mündlichen Tradition hervor und sogar die alte Sitte, Märchen vor dem Einschlafen zu erzählen. Die Herausgeber dieser ersten Sammlungen wenden sich mit Nachdruck an diejenigen, die Märchen gern hören, und betonen daher, daß die in die Sammlungen aufgenommenen Texte aus dem mündlichen Bereich stammen, gebrauchen Formulierungen wie „gesammelte Märchen, die von einem
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Erzähler gehört wurden“, „Geschichten, die in jeder Garküche erzählt werden“, usw. Von den Herausgebern wird auch darauf hingewiesen, daß sie bemüht waren, Sprache und Stil der Erzähler zu bewahren, und sie betonen dabei, daß die von ihnen veröffentlichten Texte aus dem Volk, genauer gesagt, aus dem einfachen Volk stammen. Es ist kein Zufall, daß die ersten Märchen des einfachen Volkes von demokratischen Schriftstellern veröffentlicht wurden, die ihren eigenen Geschmack, ihren Stil und ihre Sprache in die Literatur mitbrachten und somit bisweilen, wie Akad. V. N. Peretc treffend bemerkt hat, „für uns die Perlen mündlichen Schaffens aufbewahrt haben.“ (Vystavka massovoj russkoj literatury XVIII veka [Ausstellung der für einen breiten Leserkreis bestimmten russischen Literatur des 18. Jahrhunderts]. Leningrad 1934.) „Infolge der zu ihrer Zeit herrschenden Auffassungen haben die Herausgeber der Sammlungen des 18. Jahrhunderts in Wirklichkeit die Volksmärchen in all ihrer Kunstlosigkeit nicht wiedergegeben können“ (A. N. Pypin: O russkich narodnych skazkach. Otečestuennye zapiski, t. 8 [1856], nomer 4 [Über russische Volksmärchen. Vaterländische Aufzeichnungen, Bd. 8 (1856), Nr. 4], S. 42), doch haben sie nicht nur viele Sujets bewahrt, sondern auch die volksgemäße Behandlung der Gestalten und gelegentlich auch die Merkmale des Volksstils. So finden wir im Письмовник [pis’movnik – etwa „Literarisches Hausbuch“] von N. Kurganov (erstmals 1769 erschienen, mehrere Auflagen im 18. Jahrhundert) den Schwank von der Beerdigung eines Hundes. Es ist dies die erste russische Veröffentlichung eines gegen die Popen gerichteten satirischen Märchens. Dieses Märchen ist in zahlreichen Varianten bekannt und hat bis in unsere Zeit seinen festen Platz im Repertoire russischer Märchenerzähler behauptet. Das Sujet ist in der Folklore vieler Völker weitverbreitet, doch berechtigt seine weite Verbreitung in Rußland zu der Annahme, daß Kurganov von einer russischen Quelle ausgegangen ist. Dasselbe kann auch für andere „kuriose Kurzgeschichten“ des Письмовник angenommen werden,
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wie zum Beispiel für die Erzählung vom Vater, der seinen feindlichen Söhnen eine anschauliche Lehre erteilte, indem er sie einen Reisigbesen zerbrechen hieß, erst den ganzen, darauf Rute um Rute; oder für die Erzählung vom Russen und vom Polen, die ausgemacht hatten, das strittige Gericht solle der essen dürfen, der den schöneren Traum habe; oder schließlich vom klugen Bauern, der es verstand, fünf Brote zu teilen. Ende der siebziger Jahre finden wir in der Sammlung S. Drukovcevs, Babuškiny skazki (Großmutters Märchen), das nicht nur in Sujet und Fabel, sondern auch in seiner Sprache reine Volksmärchen, wie ein Mann seine faule Frau kuriert. Nicht allein die Idee des Märchens, sein Sujet, sondern auch seine ganze Sprachintonation und besonders die bei unseren besten Erzählern so häufig begegnende humoristische Verwendung des Reims sprechen für die folkloristische Echtheit dieses Textes. Derselbe Drukovcev druckt in seiner zweiten Märchensammlung Sova (Die Eule) ein anderes Volksmärchen ab, das Märchen von Lutonjuschka, und zwar in Kontamination mit dem weithin bekannten Märchen vom Bauern, der einer vertrauensseligen Gutsherrin, vorgeblich zu einer Hochzeit, eine Sau mit ihren Ferkeln entführt. Schließlich finden wir in der von V. Levšin besorgten mehrbändigen Sammlung russischer Märchen drei echte Volksmärchen, die sich durch ihre demokratische Tendenz auszeichnen. Es geschah nicht von ungefähr, daß diese Märchen bei der offiziellen Kritik eine äußerst unfreundliche Aufnahme fanden. Wenn schon das Märchen mit Alltagsthematik (Alltagsmärchen) seinen Weg ins gedruckte Buch fand, so wurde verständlicherweise das Zaubermärchen um so bereitwilliger und in noch größerem Umfang veröffentlicht. Es ist vertreten in den Sammlungen Lekarstvo ot zadumčivosti i bessonicy ili nastojaščie russkie skazki (Arznei gegen Trübsinn und Schlaflosigkeit oder echte russische Märchen), Petersburg 1786, und Deduškiny progulki ili prodolženie nastojaščich russkich skazok (Großvaters Spaziergänge oder Fort-
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setzung der echten russischen Märchen), Petersburg 1786, ferner in den Skazki russkie, soderžaščie v sebe desjat’ različnych skazok, sobrannye i izdannye Petrom Timofeevym (Russische Märchen, enthaltend zehn verschiedene Märchen, gesammelt und herausgegeben von Pjotr Timofejew), Moskau 1767, sowie in der Sammlung Staraja pogudka na novyj lad ili polnoe sobranie drevnich prostonarodnych skazok (etwa: Alte Weisen neu dargeboten, oder Vollständige Sammlung alter Märchen aus dem einfachen Volk), Moskau 1794-1795. Es handelt sich hierbei um die ersten, noch unvollkommenen Veröffentlichungen der Märchen Von den sieben Semions, Von Iwan Zarewitsch, dem Feuervogel und dem grauen Wolf, Von Iwanuschka dem Dummkopf und andere. In eben diesen Sammlungen finden wir auch die ersten Veröffentlichungen von Tiermärchen und vor allem das beliebteste russische Tiermärchen, das Märchen Vom Wolf und vom Fuchs. Die Märchensammlungen des 18. Jahrhunderts gestatten nicht nur ein Urteil darüber, welche Sujets und was für Märchen in der mündlichen Tradition verbreitet waren, sie liefern uns auch ein Porträt des Märchenerzählers, bezeugen unmißverständlich, daß die Tradition des Märchenerzählens weiterlebte, und machen mit Texten bekannt, die in echter Volkssprache erzählt sind. Die Veröffentlichungen von Alltagsmärchen aus dem 18. Jahrhundert ermöglichen eine Vorstellung von ihrer sozialen Zugespitztheit, von der Schärfe ihrer Satire, einer Satire, die gegen Adel und Gerichtsbeamtenschaft, gegen Gewalt und Erpressung gerichtet war, und sie lassen erkennen, welch enge geistige Verwandtschaft zwischen dem Alltagsmärchen und der fortschrittlichen Literatur jener Zeit bestand. Die Veröffentlichungen von Zaubermärchen wiederum lassen die Feststellung begründet erscheinen, daß einmal bereits im 18. Jahrhundert diejenigen Märchen beliebt und anerkannt waren, die auch späterhin den Charakter des russischen Märchenrepertoires bestimmten, und daß zum anderen der ausgeformte Stilkanon des Zaubermär-
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chens, sein „Zeremoniell“, von den Schriftstellern des 18. Jahrhunderts, die die ersten Veröffentlichungen veranstalteten, als ein Merkmal des Volksmärchens begriffen wurde, das von seinem innersten Wesen nicht getrennt werden kann. Obwohl der Wert der Aufzeichnungen nur begrenzt ist, können wir uns ein Bild davon machen, was das russische Märchen im 18. Jahrhundert darstellte. Unzweifelhaft waren in mündlicher Wiedergabe alle jene Sujets lebendig, die uns aus späteren Aufzeichnungen bekannt sind. Das sind zum einen die Tiermärchen, die in jener Zeit bereits als allegorische Tierfabeln aufgefaßt wurden. Das sind zum anderen komplizierte Zaubermärchen, die durch ihre Spannung, das Spiel der Phantasie und ihren Erfindungsreichtum fesseln. Und das sind schließlich die Märchen von Popen und Gutsherren, deren Rolle in dieser Epoche der verschärften Leibeigenschaft und ihrer verschärften Bekämpfung offensichtlich besonders bedeutend gewesen ist. Die Eigenart der Folklore, die sich in ewigem Fluß und in ewiger Veränderung befindet, macht es unmöglich, eine scharfe Trennungslinie zwischen dem Märchen des 18. und dem der ersten Hälfe des 19. Jahrhunderts zu ziehen. Die weite Verbreitung des Märchens und die bedeutende Rolle, die es im Leben des Volkes spielte, bieten zweifellos auch eine Erklärung dafür, daß das Interesse der Schriftsteller und Forscher für das Märchen im 19. Jahrhundert weiter zunimmt. Bekannt ist die großartige Märchenerzählerin ihrer Zeit, die Kinderfrau A. S. Puškins. Von der Beschließerin Pelageja hat S. T. Aksakov als Kind „mehrere Dutzend Male“ das Märchen Vom roten Blümlein gehört. D. V. Grigorovič berichtet von seinem Kammerdiener Nikolai, der ihn durch Felder und Haine führte und dabei die verschiedensten Abenteuer und Märchen erzählte. Und bei L. N. Tolstojs Großmutter lebte ein alter blinder Märchenerzähler, ein „Überrest des alten Herrentums“. Puškin zeichnet die Märchen seiner Kinderfrau Arina Rodionovna auf und wendet sich in seinem Schaffen wiederholt
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dem Volksmärchen zu. Allbekannt ist, welch hohen Wert er dem Volksmärchen beimißt („Wie reizvoll sind doch diese Märchen, jedes einzelne ist ein Poem“) und daß er den jungen Schriftstellern rät, vor allem die „Märchen des einfachen Volkes“ zu lesen, wenn sie die Eigenart der russische Sprache erkennen wollen. In jenen Jahren auch zeichnet der bekannte Sprichwortsammler und Wörterbuchverfasser V. I. Dal’ Märchen auf, die später in der berühmten Märchensammlung A. N. Afanas’evs Aufnahme finden sollten. Als Beweis für das ständig zunehmende Interesse, das Wissenschaft und Öffentlichkeit dem Märchen entgegenbringen, können die in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts herausgegebenen Märchensammlungen dienen, z. B. die Russkie narodnye skazki (Russischen Volksmärchen) Bogdan Bronicyns (1838), die „nach den Worten eines weit herumgekommenen Bauern und Märchenerzählers aus dem Moskauischen“ aufgezeichnet sind, oder auch die Russkie narodnye skazki (Russischen Volksmärchen). I. P. Sacharovs (1841). Mag die Qualität dieser Veröffentlichungen nun gut oder schlecht sein, allein schon die Tatsache ihres Erscheinens zeugt von der steigenden Nachfrage des Lesers nach Sammlungen echter Volksmärchen. Die Folge war, daß sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Vertreter der verschiedensten politischen und wissenschaftlichen Richtungen am Sammeln, Erforschen und Publizieren von Märchen beteiligten. Die von Puškin begonnene fortschrittliche Richtung in der Märchenforschung wurde weiterentwickelt und fand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Vertreter der verschiedensten politischen und wissenschaftlichen Richtungen am Sammeln, Erforschen (hier fehlt im Original mindestens eine Zeile – Pegasus37) lichen Forderung an die Öffentlichkeit, die vom Volk geschaffenen Märchen „nach dem Diktat des Volkes“ aufzuzeichnen, ohne irgend etwas zu verändern oder hinzuzufügen. In den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts erscheint die von dem bekannten russischen Gelehrten A. N. Afanas’ev veranstaltete erste wissenschaftliche Ausga-
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be russischer Volksmärchen, welche den Reichtum des russischen Märchenepos breiten Leserkreisen zugänglich machte. Trotz der Unzulänglichkeiten dieser Sammlung, die sich durch den damaligen Stand der philologischen Wissenschaft erklären lassen und die für die mythologische Schule, deren Vertreter Afanas’ev war, kennzeichnend sind, wird das Buch Narodnye russkie skazki (Russische Volksmärchen) für lange Zeit zur Hauptquelle der russischen Märchenforschung. Aus Zensurgründen der Möglichkeit beraubt, viele weitverbreitete popen- und adelsfeindliche Märchen in seine Sammlung aufzunehmen, veranstaltete Afanas’ev außer dieser Sammlung im Ausland eine anonyme Ausgabe Zavatnye skazki (Heimliche Märchen). Somit stellt das Märchen schon zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur eine im Alltag des Volkes weitverbreitete Erscheinung dar, sondern auch eine bedeutsame Tatsache des literarischen Lebens Rußlands und einen Gegenstand sorgfältiger wissenschaftlicher Untersuchung. Im weiteren Verlauf der russischen Märchenforschung hat die gesamte Entwicklung der russischen Wissenschaftstheorien über das mündliche Volksschaffen ihren Niederschlag gefunden. Für das Märchen interessieren sich nach wie vor die Vertreter der verschiedenen folkloristischen Schulen (A. N. Afanas’ev, F. I. Buslajev, V. F. Miller, A. N. Veselovskij und andere), ihm wenden sich bei ihrer theoretischen und sammlerischen Tätigkeit mehrfach auch die revolutionären Demokraten und die ihnen nahestehenden Kreise der fortschrittlichen Jugend zu. Rings um das Märchen, um die Aufgaben und Methoden seiner Erforschung, entbrennt ein heftiger Kampf zwischen den Vertretern der verschiedenen Richtungen in Wissenschaft, Literatur und Publizistik. Die von Puškin und Belinskij eingeschlagene fortschrittliche Richtung in der russischen Märchenforschung findet ihre Fortsetzung bei N. G. Černyševskij und N. A. Dobroljubov, besonders in Dobroljubovs Rezension zu Afanas’evs Sammlung Narodnye russkie skazki (Russische Volksmärchen). Diese Rezension stellt eine neue Etappe in der Erforschung
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nicht nur des Märchens, sondern überhaupt der gesamten russischen Folklore dar. Dobroljubov tritt mit der präzise und scharf formulierten Forderung an die Öffentlichkeit, auf dem Wege über die Folklore die Weltanschauung des Volkes zu studieren. „Märchen sind für uns vor allem als Material zur Charakterisierung des Volkes wichtig“, schrieb er. Einen Mangel der Afanas’evschen Sammlung sieht Dobroljubov darin, daß das eigentlich Lebendige in ihnen völlig fehlt, daß „man das Volk aber aus den von Herrn Afanas’ev herausgegebenen Märchen nicht kennenlernen kann.“ – „Jeder, der die Schöpfungen der Volkspoesie aufzeichnet und sammelt“, erklärt Dobroljubov, „würde etwas sehr Nützliches leisten, wenn er sich nicht auf das bloße Aufzeichnen eines Märchen- oder Liedtextes beschränkte, sondern die gesamte Situation – sowohl die rein äußere wie auch die mehr innere, moralische – wiedergäbe, in der er Gelegenheit hatte, das betreffende Lied oder Märchen zu hören.“ (N. A. Dobroljubov: Polnoe sobranie sočinenij, t. I [Gesammelte Werke, Bd. 1], Moskau 1934, S. 432 f.) Die Rezension Dobroljubovs hat die weitere Entwicklung der fortschrittlichen russischen Folkloristik des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Märchenforschung vorgezeichnet: sie bestimmte die Methoden des Sammelns und die grundlegende Problematik der Forschung. Insbesondere verdient die Sammlung I. A. Chudjakovs Velikorusskie skazki (Großrussische Märchen), 1860-1863, hervorgehoben zu werden, ferner die Sammlung A. A. Erlenvejns Narodnye skazki, sobrannye sel’skimi učiteljami (Volksmärchen, von Dorflehrern gesammelt), 1863, und die Sammlung E. A. Cudinskijs Russkie narodnye skazki, pribautki i pobasenki (Russische Volksmärchen, Scherzreden und Anekdoten), 1864. Die Forderung Dobroljubovs, man müsse das Antlitz des Volkes zeigen, führte zu sorgfältiger Untersuchung der Rolle, die der Märchenerzähler beim Gestalten eines Märchens spielt. In der Memoiren- und Geschichtsliteratur sowie in ethnographischen und sprachwissenschaftlichen Arbeiten des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts begegnet man
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häufig Erwähnungen einzelner Märchenerzähler und auch Beschreibungen ihrer Gestaltungsweise. Schließlich erscheint 1884 die Sammlung D. N. Sadovnikovs Skazki i predanija Samarskogo kraja (Märchen und Sagen aus dem Gebiet von Samara), in der das Schaffen des hervorragenden russischen Märchenerzählers Abram Novopol’cev reich vertreten ist. Somit bietet sich uns ein recht klares Bild des russischen Märchens in den Jahren nach der „Reform“, der Aufhebung der Leibeigenschaft von 1861. In den auf die Reform folgenden Jahren war das Märchen, nach den zur Verfügung stehenden Aufzeichnungen und den Beobachtungen der Sammler zu urteilen, weitverbreitet und erfreute sich eines schöpferischen Fortlebens. Nach Zählungen, die an Hand des veröffentlichten Materials vorgenommen wurden, überwiegen in diesen Jahren die Zaubermärchen im russischen Repertoire, aber sie beginnen schon, den Alltagsmärchen Platz zu machen. Wir können sehen, daß die Zaubermärchen in diesen Jahren Episoden und Details aus dem Alltag aktiv in sich aufnehmen. In den Jahren nach der Reform waren die Erinnerungen an die Leibeigenschaft im Gedächtnis der Bauern noch frisch und lebendig, und es ist daher nicht zu verwundern, daß sich auch in den Märchen dieser Jahre oft Erwähnungen der erst unlängst aufgehobenen Fronherrschaft finden. Im Alltag wie auch in den gesellschaftlichen Verhältnissen jener Zeit gab es noch genügend Erscheinungen, die die Bewahrung und das schöpferische Weiterleben des leibeigenschaftsfeindlichen Märchens begünstigten. Der Gutsbesitzer war für die Bauern auch nach der Reform der gleiche Feind und Ausbeuter geblieben, und so erklärt sich die Aktualität und Lebenskraft der Märchen vom Gutsherrn, der erfahren wollte, was Not ist (Nr. 88), von der dummen Gutsherrin, die ein schlauer Bauer geschickt übertölpelte (Nr. 89), und anderer mehr. Ein charakteristisches Merkmal der Zeit nach der Reform sind die Verarmung der Bauernwirtschaften, die Ruinierung und Verelendung der Bauernmassen. Dieses Merkmal hat
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einen nicht zu übersehenden Niederschlag auch in den Märchentexten gefunden, die in den Jahren nach der Reform aufgezeichnet wurden. Die Märchenerzähler sprechen immer wieder von der übermäßigen, auswegslosen Armut ihres Helden, der des Elends auf keine Weise Herr werden kann. Zum Haupthelden des Märchens der Zeit nach der Reform werden der Landarbeiter und der Handwerker, wobei die Märchen hervorheben, wie schwer das unfreie Leben des arbeitenden Menschen ist. Die Märchen der Nachreformzeit sprechen nicht nur immer wieder von der Armut und Zerstörung des Dorfes, sie bieten auch ein klares Bild von der Aufspaltung der Bauernschaft. Wir sehen, wie in ihnen ständig der arme Held dem Reichen gegenübergestellt wird und wie es meist die Gegenüberstellung vom reichen und armen Bruder ist, die dem sozialen Konflikt noch größere Schärfe verleiht. Das Märchen aus der Nachreformzeit kennzeichnet treffend die zwei Seiten des gleichen Prozesses: wie einerseits die Dorfarmut ruiniert und proletarisiert wird, wie andererseits die Geldsäcke des Dorfes sich bereichern und in den Kaufmannsstand aufsteigen. Das Problem des Geldes, des Kapitals und der Möglichkeit des Reichwerdens bewegte sowohl die Vertreter der Dorfbourgeoisie als auch das Dorfproletariat, und so ist es nur allzu natürlich, daß diese Fragen auch die Märchenerzähler jener Zeit und ihre ländliche Zuhörerschaft beschäftigten. Die Satire des Märchens richtet sich in der Nachreformzeit auch gegen die Geistlichkeit, wobei die Einheit der Interessen von Gutsherren und Geistlichkeit hervorgehoben wird. Anders ist die Einstellung des Märchens jener Zeit zum Kaufmann: seine Gestalt wird in der Regel außerhalb der Klassengebundenheit gezeichnet, ohne Begreifen seiner Ausbeuternatur. Das Bewußtsein der Bauernschaft, die Erkenntnis ihrer eigenen Rolle und Stellung sind in jener Zeit noch begrenzt und voller Widersprüche, und dies führt dazu, daß das reiche Kaufmannsleben als eine Idylle dargestellt wird, als ein unerreichbares Ideal, wie es die Phantasie dem
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hungrigen Bauern vorgaukelt, der unter dem Ansturm des Kapitals zugrunde geht. Für die Nachreformzeit ist nicht nur ein verstärktes Interesse der Erzähler und ihrer Zuhörer für das Alltagsmärchen kennzeichnend, sondern auch unverkennbar eine Durchsetzung der Zaubermärchen mit Details aus dem Alltag, eine Wendung vom traditionellen zauberhaften Zeremoniell zur Wirklichkeit. Das Zaubermärchen wird von den Märchenerzählern häufig in solchem Maße mit Alltagsdetails ausgestattet, daß es gleichsam zu einer Erzählung aus dem Alltag wird. Die Epoche nach der Reform ist die Epoche der Entwicklung des Kapitalismus und gleichzeitig die Epoche des Anwachsens der revolutionären Bewegung. Das hat seinen Niederschlag auch im Märchen gefunden: es tauchen darin Haft und Gefängnis, Verbannung und Zwangsansiedlung und der harte Polizeihauptmann auf. Im Märchen jener Zeit klingt auch die Erkenntnis durch, daß die Macht des Zaren wankt, daß das Zarentum zum Untergang verurteilt ist. Ein Zar heilt einen Bauern von der neidvollen Bewunderung des Zarenlebens, indem er ein Messer über ihm aufhängt: „Genauso steht’s mit unserem Zarenleben, es hängt von einer Stunde zur anderen an einem Fädchen.“ Während also das Märchen mit Alltagsthematik und insbesondere das adelsfeindliche und antiklerikale Märchen in den Jahren nach der Reform alle seine Genremerkmale ohne Einschränkung bewahrt, bricht das Zaubermärchen unverkennbar mit den epischen und ästhetischen Normen, die in der Epoche des Feudalismus entwickelt worden waren, wird gleichsam in eine andere Ebene versetzt und nähert sich dem Alltagsmärchen. Die ersten Merkmale des Zerfalls und Niedergangs der epischen Märchentradition zeigen sich in eben dieser Periode des Zusammenbruchs der feudalen Welt. Die neue Erkenntnis, daß das Märchen Ausdruck der Weltanschauung des Volkes und daß der Märchenerzähler Märchenschöpfer sei, brachte notwendigerweise auch Ver-
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änderungen in der Praxis des Sammelns und Veröffentlichens von Märchentexten mit sich. Eine Sammlung ganz neuer Art waren die Severnye skazki (Märchen des Nordens), die 1908 von N. E. Ončukov herausgegeben wurden. Im Vorwort werden Angaben über Natur und Lebensverhältnisse gemacht, werden das Märchenrepertoire und die Einstellung des Volkes zur „Wahrheit des Märchens“ gekennzeichnet; ausführlich wird beschrieben, wo die Märchen erzählt werden, zu Hause, unterwegs, bei der Arbeit, im Walde oder auf dem Meer, und es wird die Frage behandelt, inwieweit die örtliche Natur und die für das Dorf des Nordens typische Lebensweise im Märchen ihren Niederschlag gefunden haben. N. E. Ončukov gibt eine Charakteristik der Erzähler – dieser (wie er sich ausdrückt) geistigen Aristokratie des Dorfes – und geht ausführlich auf die Frage ein, in welcher Weise sich die persönlichen, individuellen Züge des Märchenerzählers im Märchen äußern. Es ist kein Zufall, wenn Lenin nach der Lektüre dieser, viele sozial pointierte Märchen enthaltenden Sammlung äußerte, man könne an Hand der Märchen eine Untersuchung über die Psychologie des Volkes in unseren Tagen schreiben. Unmittelbar an die Sammlung Ončukovs schließt sich eine ganze Reihe von Märchensammlungen an, die diese Richtung in der Märchenforschung fortsetzen und vertiefen. Es erscheinen zwei Sammlungen D. K. Zelenins: Velikorusskie skazki Permskoj gubernii (Großrussische Märchen aus dem Gouvernement Perm), 1914, und Velikorusskie skazki Vjatskoj gubernii (Großrussische Märchen aus dem Gouvernement Wjatka), 1915. Wie schon Ončukov so ordnet auch Zelenin die Märchen in seiner Ausgabe nicht nach dem thematischen Prinzip, sondern nach den Erzählern, bei denen sie aufgezeichnet wurden, wobei er jeweils biographische Angaben macht. Interessant sind die Beobachtungen Zelenins darüber, welche Bedeutung für ein Märchen der Beruf seines Trägers hat. Er analysiert die Besonderheiten der Märchen von Handwerkern, Soldaten, Burlaken usw. Aus der Reihe der zahlreichen Sammlungen, die mit der Ausgabe N. E. Ončukovs begonnen wurde, verdient beson-
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dere Beachtung die einprägsame und interessante Sammlung der Brüder B. und Ju. Sokolov Skazki i pesni Belozerskogo kraja (Märchen und Lieder aus dem Gebiet von Belosersk), die 1915 erschien und Material enthält, das die Brüder Sokolov in den Jahren 1908 und 1909 im Gouvernement Nowgorod gesammelt haben. Den Hauptinhalt des Buches bilden Märchen. Die theoretischen Aufsätze der Sammlung sind von heißer Liebe zur werktätigen Bauernschaft durchdrungen und zeugen von dem lebhaften Interesse, das die jungen Verfasser der Volkspoesie, insbesondere dem Volksmärchen, dem lebendigen mündlich-poetischen Schaffen ihrer Zeit entgegenbringen. Der tiefwurzelnde Demokratismus der Brüder Sokolov, ein Erbe der fortschrittlichen russischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, bietet die Erklärung für die außergewöhnliche Beachtung, die sie der schöpferischen Persönlichkeit aus dem Volke, der individuellen Leistung des Erzählers und Sängers schenken. In einem Beitrag Skazočniki i ich skazki (Die Märchenerzähler und ihre Märchen) werfen sie die Frage nach der Rolle der Persönlichkeit im Leben eines folkloristischen Werkes auf und gelangen zu der Schlußfolgerung, daß sich die Persönlichkeit des Erzählers in der Auswahl seines Märchenrepertoires äußert, darin, welche persönlichen Bemerkungen und Ansichten er in die Erzählung einflicht und wie er ein überliefertes Sujet abwandelt. * Die Große Oktoberrevolution eröffnet eine neue Etappe im Leben des Märchens und in der Wissenschaft vom Märchen. Eckpfeiler der sowjetischen Märchenforschung wurde die Feststellung Lenins, daß Märchen Ausdruck des Hoffens und Sehnens des Volkes sind und unter sozialem Blickwinkel erforscht werden müssen. In sowjetischer Zeit erfuhr die russische Märchenforschung wertvolle Bereicherung durch die Arbeiten M. K. Azadovskijs, A. I. Nikiforovs, V. Ja. Propps, E. M. Meletinskijs und anderer Forscher. Das Material zur Geschichte der russischen Märchenforschung ist in
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V. P. Anikins Buch Russkaja skazka (Das russische Märchen), Moskau 1960, zusammengefaßt. In Werken von Ethnographen und Folkloristen finden wir interessante Beobachtungen und Aufzeichnungen, die eine Vorstellung vom Leben der Folklore und insbesondere des Märchens in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts vermitteln, d. h. in den Jahren, die auf die Oktoberrevolution folgten. Jener feste Bestand an Volksmärchen, der von den Sammlern in den letzten Jahrzehnten vor der Revolution registriert worden war, lebt auch im mündlich-poetischen Repertoire der ersten Jahre nach der Großen Oktoberrevolution weiter. Die Beobachtungen der meisten Sammler besagen zwar, daß das Interesse für Zaubermärchen im sowjetischen Dorf erloschen ist und daß das Märchen mit Alltagsthematik im Repertoire der Bauern überwiegt. Offensichtlich ist es aber in den zwanziger Jahren bei weitem nicht überall zum Erlöschen der Märchentradition gekommen; werden doch neben der Beobachtung unverkennbarer Anzeichen hierfür auch Stimmen dafür laut, daß das Märchen lebt, daß man sich für Märchen interessiert, sie gern erzählt und gern hört. An mehreren Stellen ist es gelungen, reiches Märchenmaterial zu sammeln. In den Aufzeichnungen vieler Sammler finden wir Beweise für die Modernisierung der Märchen, dafür, daß die Gegenwart in sie eingedrungen ist. „Man kann erkennen“, schrieb Ju. M. Sokolov in diesem Zusammenhang, „wie die neue Bearbeitung eines Märchens in stets charakteristischer, häufig höchst augenfälliger Weise jene Veränderungen widerspiegelt, die im sozialen Leben und in der Ideologie der Massen vor sich gegangen sind oder gerade vor sich gehen.“ (Ju. M. Sokolov: Material po narodnoj slovesnosti v obščem masštabe kraevedčeskich rabot. Voprosy kraevedemja [Beiträge zur Volksliteratur im Gesamtrahmen heimatkundlicher Arbeiten. Fragen der Heimatkunde], 1923, S. 113.) So bleibt das Märchen auch in den zwanziger Jahren seiner jahrhundertealten Tradition treu, bringt aber gleichzeitig
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die neue Wirklichkeit in der ihm eigenen Art und Weise zum Ausdruck. Zum Topos wird die Konfrontierung des alten Lebens, von der das Märchen spricht, mit der Wirklichkeit, in der der Erzähler und seine Zuhörer leben. Gleichzeitig findet in das Märchen ein neuer Wortschatz Eingang, der unlöslich mit den neuen Begriffen verbunden ist, z. B. субботники, воскресники, непрерывки1, und es kommt zur Modernisierung der traditionellen Märchenmotive. Absolut unverkennbar sind in den Märchen der zwanziger Jahre die zarenfeindlichen Tendenzen: es ist darin von Vergeltung an Nikolaj dem Blutigen die Rede, davon, daß „das Volk sich besonnen und den Zaren davongejagt hat“ und daß der Held es ablehnt, eine Zarentochter zu heiraten. All das zeugt von der neuen Weltauffassung der Bauernschaft, die sich vom Glauben an den „guten Zaren“ befreit hat. In gleicher Schärfe und auf neue Weise erklingt im Märchen der zwanziger Jahre auch das popenfeindliche Thema: außer der satirischen Zeichnung des Popen, wie sie schon vor der Revolution üblich war, läßt das Märchen der zwanziger Jahre auch das Bewußtsein des Sieges über den Popen erkennen. Somit beginnt also in den zwanziger Jahren im Leben des traditionellen Märchengutes ein neuer Abschnitt, obwohl freilich die von uns festgestellten neuen Qualitätsmerkmale nur in einem kleinen Teil der Märchen zutage treten. Das traditionelle Märchen erwies sich als viel widerstandsfähiger und lebenskräftiger als z. B. die Byline. Die dreißiger Jahre sind Jahre intensiver Sammel- und Publikationstätigkeit. Es erscheinen monographische Märchensammlungen, die dem Schaffen so hervorragender sowjetischer Märchenerzähler und -erzählerinnen wie F. P. Gospodarev, M. M. Korguev, A. K. Baryšnikova, E. I. Sorokovikov und I. F. Kovalev gewidmet sind, Erzähler, in deren Schaffen die Tendenzen des Gegenwartsmärchens beson1
субботники, воскресники, непрерывки – freiwillige Arbeitseinsätze an Sonnabenden und Sonntagen; fließende Arbeitswoche, in der die freien Tage nicht auf den Sonntag zu fallen brauchen. (Anm. d. Übers.)
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ders prägnant zutage treten. Bei aller Verschiedenheit im Repertoire und in der Art ihrer Meisterschaft weisen die Erzähler der dreißiger Jahre, die das traditionelle russische Märchen gleichzeitig bewahren und erneuern, in ihrem schöpferischen Gepräge viele Gemeinsamkeiten auf. Unabhängig vom Genre des erzählten Märchens trachten sie alle, das phantastische Sujet realistisch zu begründen, das Märchen mit Details aus dem Alltagsleben anzufüllen, die Gestalten psychologisch zu erschließen, dem Märchen den Charakter einer Belehrung zu geben, es in sozialkritischer Hinsicht weitestgehend zuzuspitzen und ihm einen politischen Ton zu verleihen. Für das Fortleben des Märchens in den dreißiger Jahren ist nicht nur seine Erneuerung und die Anpassung an die Gegenwart kennzeichnend, sondern auch das Bemühen der Erzähler, neue Märchen zu sowjetischen Themen zu schaffen. Nicht weniger kennzeichnend als die Anfüllung mit realistischen Details ist für das Märchen der dreißiger Jahre sein „literarischer“ Zug, der in der Benutzung eines literarischen Sujets zum Ausdruck kommen kann, in einer bewußt literarisch anmutenden Märchenüberschrift, in einer literarischen Reminiszenz oder in typisch literarischen Redewendungen. Die neue Idee des Märchens wird durch die Erläuterungen und Sentenzen der Erzähler gestützt, in denen deutlich wird, wie sie die traditionellen Sujets und Gestalten begreifen. Die Auffassung vom Märchen als einer Belehrung führt auch dazu, daß die Erzähler ein altes Märchen allegorisch umdeuten. So schließt beispielsweise Poljanskij, ein Märchenerzähler aus Tambow, sein Märchen von der Sorge (Nr. 54 in diesem Band) mit der folgenden allegorischen Interpretation: „Der Sinn dieses Märchens ist also folgender: unter den Brüdern sind die Klassen der Reichen und der Armen zu verstehen.“ (Tambovskij fol’klor [Tambower Folklore.] Redaktion É Gofman und Ju. M. Sokolov, Tambow 1941, S. 57.) Eine ähnliche Deutung überlieferter Märchengestalten und Märchensujets ist bei vielen sowjetischen Erzählern zu beobachten und führt naturgemäß zu Versuchen, neue Märchen zu schaffen. Die meisten großen Märchener-
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zähler der dreißiger Jahre bemühen sich um die Neuschöpfung von Märchen über die neuen Menschen und das neue Leben. Allerdings müssen diese Versuche mit sehr wenigen Ausnahmen als mißglückt bezeichnet werden. Das Mißverhältnis zwischen neuem Inhalt und archaischer, traditioneller Form läßt diese Neuschöpfungen als kunstwidrige Pseudomärchen erscheinen. Das durch den Krieg unterbrochene Sammeln von Märchen wird in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre wieder aufgenommen. In den letzten Jahren sind zahlreiche volkskundliche Expeditionen in die verschiedensten Teile der Sowjetunion veranstaltet worden, und alle haben sie, unabhängig von ihren sonstigen Aufgaben, auch Märchen aufgezeichnet. Die Märchentexte, die in den Nachkriegsjahren und insbesondere in der allerjüngsten Vergangenheit aufgezeichnet wurden, tragen unverkennbar den Stempel des Erlöschens und des künstlerischen Zerfalls dieses Genres. Das gilt in gleicher Weise für die Produktion des Durchschnittserzählers (in dieser Hinsicht sind sehr aufschlußreich die in den Jahren 1956 bis 1960 gemachten Aufzeichnungen aus dem Gebiet jenseits des Onegasees) wie auch für die Märchen einzelner hervorragender Märchenerzähler. Der Weg, den das russische Märchen durch viele Jahrhunderte zurückgelegt hat, ist – natürlich mit gewissen Abweichungen – für alle Märchenarten der gleiche. Der Charakter der Märchen dieses oder jenes Typs, die Art und Weise, wie sich die Wirklichkeit in ihnen widerspiegelt, der Grad ihrer Biegsamkeit und ihrer Fähigkeit, sich an die neuen Lebensbedingungen anzupassen, haben ihr Fortleben im Repertoire des Volkes und ihre Bedeutung für die Kultur der Gegenwart bestimmt, haben bestimmt, welchen Platz sie in der mündlichen oder literarischen Tradition einnehmen. Am lebenskräftigsten haben sich unter allen Arten die Märchen mit Alltagsthematik erwiesen, die bis auf den heutigen Tag nicht nur in der Welt des Kindes, sondern auch in der des Erwachsenen weitverbreitet sind.
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III In unsere Sammlung wurden nur die Hauptgruppen des russischen Märchens aufgenommen: Tiermärchen, Zaubermärchen, Abenteuer- und Heldenmärchen sowie satirische Alltagsmärchen. T i e r m ä r c h e n nehmen im russischen Märchenrepertoire nur einen verhältnismäßig kleinen Raum ein. Sie leben heute fast ausschließlich als „Kindermärchen“ weiter, meist von Frauen erzählt, die Kinder betreuen, oder von Kindern selbst. Die Tiermärchen haben jedoch bekanntlich nicht seit jeher das ausschließliche Ziel verfolgt, Kinder zu belehren und zu unterhalten. Ursprünglich handelt es sich bei ihnen um Erzählungen von Tieren, denen in der Produktion und in den magischen Vorstellungen der Jägergesellschaft eine bestimmte Bedeutung zukam. Tiermärchen, die mit den Lebensinteressen des Menschen der Vergangenheit verknüpft waren, entstanden zweifellos auf einer sehr frühen Entwicklungsstufe der menschlichen Gesellschaft. In der Folklore von Völkern, die noch vor kurzem Jäger waren, finden wir zahlreiche, als wirklich geschehen aufgefaßte Erzählungen über Tiere, über ihre wunderbare Herkunft, ihre Besonderheiten, phantastische Erzählungen über eheliche Beziehungen zwischen Tieren und Menschen, über die Verwandlung von Menschen in Tiere und über Tiere, die Menschengestalt angenommen haben. Viele Tiererzählungen sind wohl ursprünglich Erzählungen mythologischen Charakters gewesen. In der russischen Folklore haben sich Reste einer animistischen Weltanschauung und des Glaubens an das Tier als Beschützer der Sippe besonders deutlich in den Märchen vom Bären erhalten: im Märchen von Iwan Bärenohr, vom Mädchen Mascha, das ein Bär in den Wald entführt, von den habgierigen Alten, die in Bären verwandelt wurden, und im Märchen vom Bären mit dem Stelzfuß. Mit dem Verschwinden der historischen Voraussetzungen, die das Entstehen und Fortleben dieser mythologischen Er-
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zählungen begünstigten, verloren die Tiermärchen ihren mythologischen und magischen Charakter, näherten sich der moralischen Fabel und entstanden von nun an auf anderer Grundlage. Die Tiermärchen wurden nun zu allegorischen Erzählungen, deren Helden eigentlich nicht mehr Tiere sind, sondern Menschen, auf die die Moral des Märchens bezogen wird. Die Genese des Tiermärchens, seine Verbindung mit dem alten Mythenschaffen sowie gleichzeitig sein Fortleben als Kindermärchen haben nicht nur seinen Inhalt, sondern auch seinen Stil bestimmt. Die Komposition der russischen Tiermärchen ist einfach und dabei außerordentlich zielstrebig. Eine große Rolle spielt darin die Wiederholung der Hauptepisode. Auf der bewußten Betonung dieses Mittels sind die sogenannten Kettenmärchen (цепевидные) vom Typ der Ziege mit den Nüssen aufgebaut, in denen die Wiederholung unter ständiger Anreihung analoger Motive erfolgt. Auf dem gleichen Prinzip beruhen auch die Märchen vom Hähnchen, vom Schweinchen und viele andere. Der Dialog spielt in den Tiermärchen eine große Rolle, so daß sie in der Interpretation eines guten Erzählers, der „mit verteilten Rollen“ vorträgt, bisweilen sogar einem Volksschauspiel nahekommen. Nicht selten hat der Dialog im Tiermärchen liedartig gereimte Form, wie z. B. im Märchen vom Pfannkuchen, vom Kater, vom Hahn und Fuchs, von der Ziege und ihren Zicklein usw. Die Stabilität der liedartigen Einschübe erklärt sich dadurch, daß die Tiermärchen vorzugsweise in der Welt des Kindes zu Hause sind. Die Gestalten der Tiermärchen sind sehr ausdrucksvoll, sehr markant und vom Volk bis in die kleinsten Einzelheiten ausgebildet worden. Besonders beliebt sind in der russischen Folklore die Märchen vom Fuchs bzw. der Füchsin: wie sich der Fuchs totstellt, Fische vom Wagen stiehlt, den Wolf lehrt, mit dem Schwanz Fische zu fangen, ihn dazu bringt, ihn auf seinem Rücken zu tragen, und dabei vor sich hin trällert: „Der Geprügelte trägt den Nichtgeprügelten“ usw. – Weitverbreitet sind die Märchen, wie die Füchsin die Wehmutter und das
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Klageweib spielt und dem Hahn die Beichte abnimmt. In all diesen Märchen wird der Fuchs als der schlaue, schmeichlerische Betrüger gezeichnet, mag er nun als Schwiegertochter oder als Gevatterin auftreten, als Füchsin Patrikejevna, als schöne Jungfer oder als Füchsin Honiglippe, die süße Reden und zärtliche Worte im Munde führt. Der Wolf wird im Märchen gewöhnlich als Tölpel gezeichnet, als der „graue Dummkopf“, der stets der Hereingefallene ist; der Bär ist der „Beherrscher des Waldes“, der flinke Hase immer feige. Tiermärchen, als allegorische Erzählungen über menschliche Verhältnisse dargeboten und aufgefaßt, kennen auch das soziale Motiv. Das ist z. B. eindeutig im russischen Märchen vom Kater (Nr. 5), dem „Amtmann aus den sibirischen Wäldern“, der Fall, wo in satirischer Form die Furcht der Waldbewohner vor der „Obrigkeit“ dargestellt wird, sowie im Märchen vom Hund und Specht, das die Beziehungen zwischen Herrn und Knecht aufdeckt. Besonders aufschlußreich sind in dieser Beziehung satirische Tiermärchen, wie die Geschichte vom Hecht mit den riesigen Zähnen, das Märchen von Jorsch Jerschowitsch, dem Sohn des Stschetinnik1 und das Märchen vom Gericht der Vögel. Die Tiermärchen, in ferner Vergangenheit entstanden, bewahren also ihre Aktualität auch in den folgenden Epochen. Die Möglichkeit der allegorischen Auslegung war die Ursache dafür, daß sich der berühmte russische Fabeldichter I. A. Krylov, der große russische Satiriker M. E. SaltykovŠčedrin und der bekannte sowjetische Dichter Sergej Michalkov dem Tiermärchen zuwandten. * Ebenso wie viele Tiermärchen reichen auch einige russische Z a u b e r m ä r c h e n in die Zeit vor der Klassengesellschaft zurück. Es ist sehr wahrscheinlich, daß viele von ihnen ursprünglich Mythen gewesen sind. Solche Gestalten des Zau1
Übersetzt etwa „Barsch Barschsohn, der Sohn des Stachligen“. (Anm. d. Übers.)
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bermärchens wie Morosko, der Meereszar, oder die magischen Schwäger und helfenden Tiere sind unzweifelhaft sehr alten Ursprungs und tragen Elemente animistischer Weltanschauung. Mythologische Züge haben sich auch in der Gestalt der Baba-Jagá erhalten, die untrennbar mit dem Wald verbunden ist, in der Gestalt Kostschejs des Unsterblichen und anderer dunkler Kräfte des Märchenreiches. Ebenso wie die Tiermärchen die Wirklichkeit in der ihnen eigenen Art widerspiegeln, sind auch die Zaubermärchen in erster Linie ein Produkt der realen Lebensbedingungen des Volkes. Diese reale Grundlage der Phantastik des Zaubermärchens und seiner Wunder hat in überzeugender Weise A. M. Gor’kij vor Augen geführt. „Schon im tiefen Altertum“, sagt Gor’kij, „träumten die Menschen von der Möglichkeit, durch die Luft zu fliegen – davon zeugen die Legenden von Phaeton, von Daidalos und seinem Sohn Ikaros sowie das Märchen vom ‚Fliegenden Teppich’. Sie träumten von schnellerer Fortbewegung auf der Erde – man denke an das Märchen von den ‚Siebenmeilenstiefeln’ – und machten sich das Pferd dienstbar… Sie dachten an die Möglichkeit, in einer einzigen Nacht eine riesige Menge Stoff zu spinnen und zu weben, an die Möglichkeit, in einer einzigen Nacht ein schönes Haus zu bauen oder sogar ein ‚Schloß’, das heißt ein Haus, das gegen den Feind befestigt ist; sie schufen das Spinnrad, eins der ältesten Arbeitsgeräte, den primitiven Handwebstuhl, und sie schufen das Märchen von der klugen Wassilissa.“ (O literature. Literaturno-kritičeskie stat’i [Über Literatur. Literaturkritische Aufsätze], Moskau 1953, S. 693.) Die Zaubermärchen haben Züge längst untergegangener sozialer Lebensformen bewahrt. Wir erkennen in ihnen die Spuren der Exogamie, des Ahnenkults und des Matriarchats, erhalten gebliebene Züge des Kannibalismus, des Opferkults, des „Gottesgerichts“ und grausamer Bestrafungen. Diese Züge einer realen Wirklichkeit längst vergangener Epochen, die sich im Märchen der Neuzeit erhalten haben, werden von den heutigen Erzählern und Zuhörern als Phantastik, als dichterische Erfindung aufgefaßt.
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Elemente des realen Lebens haben sich zu allen Zeiten Eingang ins Zaubermärchen verschafft, das im Laufe der Jahrhunderte von Mund zu Mund und von Generation an Generation weitergegeben wird. Die Zaubermärchen, in der Zeit vor der Klassengesellschaft entstanden, leben im Laufe der Jahrhunderte aktiv und schöpferisch fort. Daher kann man neben Überbleibseln aus den Zeiten vor der Klassengesellschaft auch Reflexe feudaler Verhältnisse und gleichzeitig Züge feststellen, die die Epoche des Kapitalismus zum Märchen beigetragen hat, und schließlich vernehmen wir in den überlieferten Texten, die in unseren Tagen aufgezeichnet wurden, auch den Widerhall der sowjetischen Wirklichkeit. So finden die ständige Erwähnung von Zaren, Zarentöchtern und Zarensöhnen, die naiven Vorstellungen von den Beziehungen benachbarter Zarenreiche, die Belohnung mit einem halben Zarenreich usw. ihre Erklärung in der Wirklichkeit des frühen Feudalismus, während die konkrete Darstellung der Beziehungen zwischen Zar, Ministern und sonstigen Höflingen, die Erwähnung von Grafen und Grafentöchtern auf die Epoche des späten Feudalismus zurückgeht. Auch die Epoche der kapitalistischen Verhältnisse hat dem Inhalt der Zaubermärchen ihren Stempel aufgedrückt: sie erhöhte das Interesse der Erzähler und ihrer Zuhörer für die Motive des Reichtums, des Geldes und des Kapitals sowie für auch dem feudalen Märchen bekannte Helden wie den Kaufmann, den Kaufmannssohn und den Kaufmannsgehilfen. Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind es die mit der Klassendifferenzierung des Dorfes zusammenhängenden Motive, die im Zaubermärchen besonders vernehmlich erklingen. Sich ständig erneuernd und umformend, lebt das traditionelle Zaubermärchen auch in unseren Tagen fort. Sowjetischen Sammlern ist es gelungen, viele hervorragende Märchenerzähler zu „entdecken“, die das traditionelle Zaubermärchen sorgsam bewahren und meisterhaft erzählen. Der Zuhörerkreis des Zaubermärchens freilich wird kleiner, es wird mehr und mehr zum Märchen für Kinder. Wenn
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die heutigen Erzähler das Zaubermärchen erneuern, es modernisieren, zerstören sie, ohne es zu wollen, seinen überlieferten Stil und tragen somit zu seinem Absterben bei. Doch stellt das Absterben des Zaubermärchens einen außergewöhnlich langsamen Prozeß dar: das Geheimnis seiner Lebenskraft ist in seinem hohen ideellen und ästhetischen Wert zu suchen. Die Zaubermärchen sind Ausdruck der Weltanschauung des Volkes, seiner Vorstellungen von Gut und Böse, Ausdruck der Ideale des Volkes, seines Hoffens und Sehnens. Sie künden vom Kampf zwischen den Kräften des Lichts und der Finsternis. Für das Erkennen der Anschauungen des Volkes sind sehr wichtig die Märchen von Los und Schicksal, von der Sorge, von Wahrheit und Falschheit, weil in ihnen die Frage nach den sozialen, den gesellschaftlichen Verhältnissen besonders klar gestellt wird. In all diesen Märchen ist die Sympathie des Erzählers immer auf seiten des Entrechteten, des armen Bauern, und immer wieder wird der Gedanke laut, daß die Gerechtigkeit am Ende triumphieren wird, daß der Sieg über Not und Sorge nicht ausbleiben kann; der Streit zwischen Wahrheit und Falschheit wird in diesen Märchen unverändert zugunsten der Wahrheit entschieden. Das Zaubermärchen ist von Optimismus durchdrungen: das Böse wird stets vom Guten besiegt, der positive Held geht aus allen seinen Abenteuern als Sieger hervor, löst alle schweren Aufgaben mit Erfolg; meist endet das Märchen mit der glücklichen Rückkehr des Helden und einem Hochzeitsschmaus für alle Welt. Die Tatsache, daß das Zaubermärchen die Sehnsucht des Volkes nach dem Triumph der Wahrheit, nach einem lichtvollen Leben zum Ausdruck bringt, bestimmt auch seine Thematik und den Charakter seiner Sujets und Gestalten. Die populärsten russischen Zaubermärchen sind die von den drei Zarenreichen, vom Zauberring, von der magischen Flucht, vom Zar Saltan, von der schönen Jelena, von SiwkaBurka und von Kostschej. All diese Sujets werden nicht sel-
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ten kombiniert und bilden so immer neue und neue Märchen dieses Genres. Hauptheld des Zaubermärchens ist der Iwan-Zarewitsch, der Bauernsohn, Bärenohr, der Soldatensohn, Roll-Erbschen (Покати горошек) und Andrej der Jäger. Der Held ist Träger einer hohen menschlichen Moral, die Verkörperung der Ideale des Volkes: er ist schön, ehrenhaft, tapfer, stark und menschlich, er vollbringt Heldentaten, führt schwierige Aufgaben aus, befreit die in Gefangenschaft schmachtende Zarentochter, fängt den Feuervogel, tötet Kostschej und tritt nicht selten als Drachentöter auf. Die hohe Moral des positiven Helden, insbesondere sein menschliches Verhalten gegenüber Menschen und Tieren, wird noch dadurch unterstrichen, daß gleichzeitig gewöhnlich die Treulosigkeit seiner Brüder oder Gefährten gezeigt wird. Bisweilen ist der positive Held zu Beginn des Märchens als abstoßend und häßlich gezeichnet; er wird von allen verachtet, sitzt auf dem Ofen und kratzt den Ruß zusammen. So ist es bei den Dummköpfen Jemelja und Iwan, die später unter Mitwirkung eines magischen Helfers zum klugen und schönen Jemelja Iwanowitsch beziehungsweise zu Iwan dem Bauernsohn werden, der mit allen Zügen eines positiven Helden ausgestattet ist; so ist es auch bei Nesnajka1, der sich als unbesiegbarer Held erweist. – Den tiefen Sinn der Gestalt Iwan des Dummkopfs, ihren optimistischen Charakter hat M. Gor’kij in seinem Referat auf dem Ersten sowjetischen Schriftstellerkongreß wie folgt erläutert: „Dem Kollektiv ist gleichsam bewußt, daß er unsterblich ist, und es glaubt fest an seinen Sieg über alle feindlichen Kräfte. Der Held der Folklore, der ‚Dummkopf’, der sogar von Vater und Brüdern verachtet wird, erweist sich immer als der Klügere, ist immer Sieger über alle Unbilden des Lebens, überwindet sie genauso, wie dies die kluge Wassilissa tut.“ (O literature. Literaturno-kriticeskie stat’i [Über Literatur. Literaturkritische Aufsätze], Moskau 1953, S. 698.)
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Etwa „Dummerchen“, „Nichtwisser“. (Anm. d. Übers.)
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Vielfältig sind die positiven Frauengestalten des russischen Zaubermärchens. Es sind das kluge Jungfrauen, die über wunderbare Kräfte verfügen und so schön, „daß es sich mit Worten nicht sagen, mit der Feder nicht beschreiben läßt“. Nicht selten ist die Heldin sogar stärker, klüger und findiger als der Held des Märchens. Das ist der Fall bei der schönen Jelena (Nr. 33), bei der klugen Wassilissa (Nr. 29) und bei Maria Morewna (Nr. 30). Das Zaubermärchen zeichnet liebevoll die Gestalt der zärtlichen und treuen Geliebten Finists, des edlen Falken (Nr. 28), die drei Paar Eisenschuhe durchlief, drei Eisenstäbe zerbrach und drei eiserne Weihbrote verzehrte, um ihren Liebsten zu finden. Von bezauberndem Reiz sind auch die Gestalten der unschuldig umhergestoßenen Stieftochter, der verleumdeten Gattin „ohne Arme“ (Nr. 42) und die poetische Gestalt des Schneekindes (Nr. 19). Eine große Rolle spielen im Zaubermärchen die magischen Helfer des Helden: Opiwalo und Objedalo, Gorynja, Dubynja und Ussynja1, die Alte am Stadtrand und, besonders häufig, magische Tiere wie das Pferd Siwka-Burka, der graue Wolf, der Vogel Nogaj, der Kater, der Hund und andere. Keine geringe Rollen spielen weiterhin auch magische Gegenstände, zum Beispiel das Tischtuchdeckdich, der fliegende Teppich, die Tarnkappe, die schnellaufenden Stiefel und andere, die dem Helden bei seinem Kampf gegen das Böse helfen. Der lichten Welt der positiven Märchenhelden und ihrer Helfer stehen die ihnen feindlichen finsteren Kräfte des Märchenreichs gegenüber: der unsterbliche Kostschej, die Baba-Jagá, die einäugige Bosheit, der Drache mit den drei, neun oder zwölf Köpfen – Gestalten, die die Vorstellungen des Volkes von Gewalt, Bosheit und Tücke verkörpern. Un1
Opiwalo – etwa „der alles wegtrinkt“, Objedalo – „der alles wegißt“, Gorynja – „der Berge tragen kann“, Dubynja – „der Eichbäume ausreißt“, Ussynja – „der mit dem gewaltigen Bart“. (Anm. d. Übers.)
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ter ihnen ist es lediglich die Baba-Jagá, die in einigen Märchen dem positiven Helden hilft, nachdem er sie durch sein geschicktes Auftreten entwaffnet hat. Das im Zaubermärchen berichtete wunderbare Geschehen bestimmte auch seine Form, das typische Zeremoniell des Zaubermärchens und seine reiche Wortornamentik. Viele Zaubermärchen, besonders wenn sie von Meistererzählern geboten werden, beginnen mit einer Einleitung (присказка), die den Hörer einstimmt, ihn in die wunderbare Märchenwelt versetzt. „Das ist auf dem Meer gewesen, auf dem Ozean“, beginnt der Märchenerzähler Semenov aus Beloserje sein Märchen von der Heldenjungfrau Blauäuglein (Nr. 31), „auf der Insel Kidan, da steht ein Baum, der hat goldene Wipfel, und auf diesem Baum geht der Kater Bajun umher; geht er nach oben, singt er ein Lied, und geht er nach unten, erzählt er Märchen. Das wäre ein Spaß und ein Vergnügen, da zuzusehen! Das ist noch nicht das Märchen, sondern erst die Einleitung; das Märchen kommt erst noch.“ Das gleiche Ziel – den Hörer in die besondere Märchenatmosphäre zu versetzen – verfolgt auch der weitverbreitete Anfang: „Im dreimalneunten Zarenreich, im dreimalzehnten Staat“. Bisweilen wird diese Formel in ironisierender Form verwendet: „In einem Zarenreich, in einem Staat, und zwar in dem, in dem wir leben, auf einem ebenen Platze, wie auf einer Egge“, oder „unter Zimmer Nummer sieben, wo wir sitzen“.1 Der Einleitung und dem Märchenanfang entsprechen Märchenausgang und Schlußformel. Gewöhnlich haben Zaubermärchen, die von guten Erzählern geboten werden, einen sehr prägnanten, ausgeformten Schluß, der das Märchen gleichsam von der Wirklichkeit abgrenzt. Besonders häufig endet es mit der Beschreibung eines Festmahls: „Sie veranstalteten ein Fest für alle Welt, auch ich bin dort gewesen, habe Honigbier getrunken, es ist mir um den Bart geflossen,
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Im Russischen mit Reim: под номером седьмым, где мы сидим
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aber nicht in den Mund geraten.“1 Nicht selten wird in der Schlußformel eine Andeutung gemacht, daß es erwünscht ist, dem Erzähler etwas vorzusetzen oder ihm eine Belohnung zu geben, was wohl auf die Tradition der berufsmäßigen Erzähler zurückgeht. „Für euch das Märchen, für mich ein Bündel Brezeln“ oder „Hier ist das Märchen zu Ende, erzählt hat’s ein wackerer Bursche, und uns wackeren Burschen jedem ein Gläschen Bier, für das Ende des Märchens ein Gläschen Schnaps“.2 Zur Eigenart des Stils der Zaubermärchen tragen auch die vielen sich wiederholenden traditionellen Märchenformeln bei. z. B. „ein Märchen ist bald erzählt, aber eine Tat nicht so bald getan“, „man kann es mit Worten nicht sagen, mit der Feder nicht beschreiben“ oder auch Topoi wie „Siwka-Burka“, die weise Kaúrka, rennt, die Erde zittert, aus den Nüstern kommt Rauch, aus den Ohren Feuer“ oder „Die Baba-Jagá, das Knochenbein, fährt in einem Mörser, mit dem Stößel treibt sie ihn, und mit einem Ofenbesen verwischt sie ihre Spur“.3 All diese spezifischen Merkmale des Zaubermärchens haben ihm im Verein mit den mannigfaltigen Mitteln der Retardierung, der traditionellen Verwendung der Dreizahl und den ständigen Epitheta ein außergewöhnlich farbenfrohes, in ganz typischer Weise verziertes Gewand verliehen, das sei1
Im Russischen mit Reim: Устроили пир на весь мир, и я там был, мед-пиво пил, по усам текло, а в рот не попало. (Zwecks Nachahmung des Reims in den Texten etwas freier übersetzt. – Anm. d. Übers.) 2 Im Russischen mit Reim: Вот вам сказка, а мне бубликов связка. – Тут и сказке конец, сказал ее молодец, а нам, молодцам, по стаканчику пивца, за окончание сказки по рюмочке винца. 3 Im Russischen mit Reim: Сивка-бурка – вещая каурка бежит, земля дрожит, из ноздрей дым, из ушей пламя пышет; – Баба-Яга, костяная нога в ступе едет, пестом погоняет, помелом след заметает.
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nem Inhalt entspricht, so daß eine organische Einheit von Form und Inhalt erzielt, ein Werk von hohem poetischen Wert geschaffen wurde. Andererseits fügen die Erzähler, besonders die Erzähler unserer Gegenwart, nicht selten überaus realistische Episoden ins Zaubermärchen ein, zum Beispiel die Beschreibung der freudlosen Atmosphäre im Dorf vor der Revolution, des schweren Lebens der armen Bauern, die Beschreibung der schweren Bauernarbeit sowie pointierte, nicht selten dramatisierte Dialoge, in denen das Innenleben der Helden psychologisch erschlossen wird. Derartige Details aus dem Alltagsleben haben das phantastische Märchen wirklichkeitsnäher gemacht, die Zuhörer immer wieder von neuem veranlaßt, noch aufmerksamer in die wundersame, farbenfrohe Erzählung einzudringen, haben die soziale Tendenz des Zaubermärchens verstärkt. * Einen beträchtlichen Raum nehmen im Repertoire der russischen Märchenerzähler auch die sogenannten A b e n t e u e r m ä r c h e n ein, in denen das Element des Zauberhaften fehlt und deren Phantastik ganz anderer Art ist. Es sind spannende Erzählungen von ungewöhnlichen Abenteuern des Helden, von wunderbaren Reisen, schwierigen Aufgaben, die der Held dank seiner Findigkeit und Klugheit löst, von Gefahren, die er dank seinem Geschick und seinem erfinderischen Geist überwindet. Held des Abenteuermärchens ist der Soldat, der Kaufmannssohn, der Kaufmannsgehilfe, der Narr, bisweilen auch der geschickte Dieb. Abenteuermärchen lassen sich häufig nur schwer gegen die weitverbreiteten N o v e l l e n m ä r c h e n von der treuen Gattin, von der Jungfrau im Soldatenrock, von der Zähmung der widerspenstigen Gattin usw. abgrenzen. Die Handlung des Abenteuermärchens und des Novellenmärchens spielt im Dorf oder in der „Residenzstadt“. Nicht selten sind die handelnden Personen derjenigen Abenteuermärchen, deren Quelle im Kolportageroman zu suchen ist, Grafen, Grafentöchter,
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Generale, Oberste oder reiche Kaufleute, die „in eleganten Hotels Feste feiern“ und Besitzer „reicher Geschäfte“ sind. Auch in diesen Märchen versteht es der Meistererzähler aus dem Volk, überaus realistische Gestalten zu bieten, soziale Ungerechtigkeit zu zeigen und zu verurteilen und vom Triumph des Guten über das Böse, der Gerechtigkeit über die Lüge zu erzählen. Keinen geringen Raum unter den novellenartigen Märchen nehmen die Märchen von klugen Antworten ein, z. B. das vom siebenjährigen Mädchen (Nr. 72) oder von der kurzhaarigen Jungfrau, die durch ihren Witz den Gutsherrn oder den Zaren bloßstellen. Eine ganz besondere Interpretation des Sujets von den klugen Antworten stellen die Märchen vom vergnügten Kloster (Nr. 73) dar, in denen das Klosterleben, die dummen Mönche und zugleich auch der Zar verspottet werden. Novellenartige Märchen dieses Typs stehen gewöhnlich dem Märchen mit Alltagsthematik nahe. Dem Abenteuermärchen verwandt sind auch die sogenannten h i s t o r i s c h e n M ä r c h e n , deren Helden Gestalten aus der Geschichte sind. Im russischen Repertoire sind besonders Märchen von Ivan IV. und Peter I. verbreitet. Das Gedächtnis des Volkes bewahrt mit gleicher Liebe die Gestalt des sagenhaften Helden Nikita des Gerbers (Nr. 55), der nach der Überlieferung einen Drachen tötete, wie die des historischen Ivan IV. Grosnyj, der im Kampf gegen die Bojaren auf der Seite des Volkes stand. Die Gestalten Ivans IV. und Peters I. lösen einander häufig in ein und demselben Sujet ab. In den Märchen vom Töpfer (Nr. 62), vom Zaren und Dieb und vom Zaren und Soldaten (Nr. 63) werden sie als demokratische Herrscher gezeichnet, die für die einfachen Menschen ein offenes Ohr haben. Die historischen Märchen nehmen gleichsam eine Mittelstellung zwischen zwei Genres ein: zwischen dem Märchen und der Sage. Sobald der Erzähler auf tatsächlich Geschehenes orientiert, sobald er beginnt, seine Erzählung als Bericht von historischen Ereignissen darzubieten, die sich tatsächlich zugetragen haben, geht die Märchenhaftigkeit der Erzählung verloren, wechselt der Charakter der Gestalten,
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und wir haben ein anderes Genre der mündlichen Prosa vor uns – die Sage. * Besonders verbreitet sind im russischen Repertoire die dem Schwank nahestehenden s a t i r i s c h e n A l l t a g s m ä r c h e n бытовые сказки. Den Wert der Märchen mit Alltagsthematik hat bereits V. G. Belinskij hervorgehoben: „In ihnen können wir das Leben des Volkes kennenlernen, sein Zuhause, seine sittlichen Begriffe und jenen schelmischen russischen Witz, der so zur Ironie neigt und dessen Schelmenhaftigkeit von so gutherziger Einfalt ist.“ (Sočinenija. č. V [Werke, Teil V], Moskau 1865, S. 220.) In diesen Märchen, die sich durch besondere soziale Schärfe auszeichnen, sehen wir den Helden, sei er nun Bauer oder Soldat, in der dem Erzähler gut bekannten Atmosphäre des russischen Dorfes vor der Revolution. Gewöhnlich wird im Alltagsmärchen die soziale und wirtschaftliche Lage des Helden hervorgehoben; meist ist er ein armer Bauer oder Landarbeiter. Beliebter Held des Alltagsmärchens ist auch der weit herumgekommene Soldat. Im satirischen Alltagsmärchen werden zielsicher und unnachsichtig die menschlichen Schwächen verspottet: Faulheit und Dummheit, Trotz und Geiz. Es zeichnet die lächerliche Gestalt des faulen und dummen Eheweibs, des Tölpels, der immer entgegen dem gesunden Menschenverstand handelt, es verspottet das dickköpfige Eheweib, das lieber ertrinkt, als daß es dem Ehemann gehorcht, und die törichten Taten der Poschechonier, der russischen „Schildbürger“. Die witzigen und spottlustigen Alltagsmärchen haben große erzieherische Bedeutung und sind bei Kindern wie bei Erwachsenen sehr beliebt. Im Märchen mit Alltagsthematik haben die Epochen des späten Feudalismus und des Kapitalismus ihren deutlichsten Niederschlag gefunden. – Durch und durch negativ zeichnet das satirische Alltagsmärchen die Gestalten des Gutsherrn und des Popen, der in den Augen des Bauern auch nichts
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anderes als ein Kulak und Ausbeuter ist, nur mit größerer Macht ausgestattet und mit größeren Möglichkeiten, sich auf Kosten der Armen des Dorfes zu bereichern. Es ist bemerkenswert, daß die Märchenerzähler der sowjetischen Epoche, die die Tradition des Alltagsmärchens fortsetzen, dieses als Erzählung von einer freudlosen Vergangenheit bieten, was in zahlreichen erläuternden Bemerkungen und in den Märchenanfängen und Märchenschlüssen zum Ausdruck kommt, in denen „früher“ und „jetzt“ einander gegenübergestellt werden. Das Alltagsmärchen hat sehr bestimmt und sehr entschieden die Sehnsucht der unterdrückten Bauern nach Oberwindung des Klassenfeindes zum Ausdruck gebracht. Es verfocht das Recht des Volkes auf ein freies und glückliches Leben. Sein freudiger Optimismus kontrastierte mit jener freudlosen Wirklichkeit, in der es entstand und die es schilderte. Das Alltagsmärchen spielt im Dorf, im Haus des Popen, in der Bauernhütte oder auf dem Herrenhof. Seine Helden sprechen die gewöhnliche Sprache des Alltags, seine Komposition ist einfach und dem Aufbau des Schwanks verwandt. – Das russische Alltagsmärchen ist sehr lakonisch. Seine Gestalten werden in ihren Hauptzügen typisiert, und seine Helden werden vorwiegend durch ihre Taten erschlossen. Da wir in ihm keine Alltagserzählung vor uns haben, sondern eben ein Märchen, das seine spezifische Eigenart bewahrt, sind Hauptmittel zur Schaffung einer Gestalt die Zuspitzung und Hyperbolisierung. Auf diese Weise werden Eigenschaften und Taten, die in der realen Wirklichkeit möglich wären, ins Märchenhafte gesteigert und den Gesetzen der Phantastik unterworfen, werden zur dichterischen Erfindung, d. h. eben zum Märchen. * Russische und besonders sowjetische Märchenforscher haben sehr viel getan, um die besten E r z ä h l e r von Volksmärchen ausfindig zu machen. Die Namen der besten Er-
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zähler des 19. und 20. Jahrhunderts, die für die Entwicklung des Märchengenres besonders viel geleistet haben, sind in die wissenschaftliche Literatur eingegangen und genießen einen verdienten Ruf. Ein sehr eindruckvolles Bild der großartigen Märchenerzählerin und Kinderfrau Jevgenia gibt M. Gor’kij in seinem Aufsatz Über die Märchen, wo er auch von der Bedeutung spricht, die Jevgenias und der Großmutter Märchen in seiner Kindheit für ihn besessen haben: sie flößten die „vage Gewißheit“ ein, „daß es jemanden gibt, der alles Törichte, Böse und Lächerliche gesehen hat und auch weiterhin sieht, jemanden, der Göttern, Teufeln, Zaren und Popen abhold, der sehr klug und sehr kühn ist“. (O literature. Literaturnokritičeskie stat’i [Über Literatur. Literaturkritische Aufsätze], Moskau 1953, S. 763.) Einer der besten Märchenerzähler des alten Rußland war der schon erwähnte Abram Novopol’cev, ein Bauer aus dem Dorf Pomrjaskin im Gouvernement Samara, von dem der Dichter D. N. Sadovnikov in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts 72 Märchen aufgezeichnet hat. Unter den russischen Märchenerzählern ist er der markanteste Vertreter der alten Spielmannstradition: diese zeigt sich in der starken Verwendung des Reims, in den von ihm bevorzugten Märchenformeln, besonders in seinen witzigen Märchenschlüssen, und in seiner Vorliebe für volkssprachliche Wörter und Wendungen. Viele Märchen Abram Novopol’cevs, z. B. Iwan Zarewitsch und die schöne Maria, mit dem schwarzen Zopf (Nr. 32) und Von der Not (Nr. 88) sowie viele seiner Tiermärchen gehören zum festen Bestand des russischen Märchenrepertoires. – All das hat uns bewogen, eine ganze Reihe von Märchen Abram Novopol’cevs in unsere Sammlung aufzunehmen (Nr. 11, 15, 32, 61, 64, 84, 85, 88). Ganz anders geartet ist das Schaffen des Permer Märchenerzählers A. D. Lomtev, dessen Märchen im Jahre 1903 von D. K. Zelenin aufgezeichnet worden sind. Lomtev ist ein Meister des komplizierten, aus mehreren Sujets zusammengesetzten Märchens; in seinem Repertoire überwiegen die
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Zaubermärchen. „In jedem seiner Märchen“, schreibt Zelenin, „sieht Lomtev das geschlossene Ganze, und er hütet diese Ganzheit der Märchen, d. h. er wahrt die Überlieferung auf das gewissenhafteste und verändert oder ergänzt nur geringfügige Details aus dem Alltag.“ Eines der besten Märchen Lomtevs, Wanjuschka, ist in die vorliegende Ausgabe aufgenommen worden (Nr. 25). Ein Märchenerzähler, der es außerordentlich geschickt verstand, in seinem Schaffen die Formen des traditionellen Märchenzeremoniells mit durchaus individueller Meisterschaft zu vereinigen, war P. Bogdanov, von dem die Brüder B. M. und Ju. M. Sokolov einige Märchen aufgezeichnet haben. In seinem Märchen Das goldene Ei, das in unsere Sammlung aufgenommen wurde (Nr. 40), spielt sich auf dem Hintergrund des überlieferten Märchens eine Tragödie ab, wie sie für das Dorf vor der Revolution charakteristisch war: Teilung, Familienzwistigkeiten, hilflose Lage des Bauern, der weder Land noch Wirtschaft besitzt. Eine ausgezeichnete Bearbeitung eines überlieferten Sujets haben wir auch in seinem Märchen Wie ein Pope seine Knechte plagte (Nr. 75). Es sind sehr viele und in ihrer Art sehr unterschiedliche Erzähler, deren Märchen seit Ende des 19. Jahrhunderts aufgezeichnet wurden. Wir finden unter ihnen Epiker, die von den Heldentaten, den Kämpfen und Abenteuern ihrer Märchenhelden erzählen, Moralisten, die die erzieherische Rolle des Märchens betonen und den Kampf für den Sieg der Wahrheit und des Guten in den Vordergrund rücken, und schließlich Erzähler, die das Alltagsmärchen, die Novelle und den Schwank bevorzugen. Es gibt Märchenerzähler, die am liebsten Späße machen und Possen reißen und ihre Zuhörer durch spaßige Sprüche und Wortspiele (прибаутки), erfundene Geschichten (россказни) und Anekdoten unterhalten. Und groß ist unter den besten Erzählern auch die Zahl der scharfen Satiriker, deren Märchen zielsicher die menschlichen Schwächen verspotten und die Klassenfeinde – Popen und Gutsherren – brandmarken.
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Einige besonders begabte Meister des Märchens sind in sowjetischer Zeit bekannt geworden. Es sind das unter anderen die sibirische Erzählerin N. O. Vinokurova, deren Märchen sich durch Realistik und psychologische Tiefe auszeichnen (M. K. Azadovskij: Skazki verchnelenskogo kraja [Märchen vom Oberlauf der Lena], 1924 und 1938; Eine sibirische Märchenerzählerin, Helsinki 1926 = FFC 68); die ausgezeichnete Woronesher Erzählerin und Meisterin des humoristischen Märchens A. K. Baryšnikova (A. M. Novikova i I. A. Ossoveckij: Skazki Kuprijanichi [Die Märchen der Kuprijanicha), 1937); der Weißmeerfischer M. M. Korguev (A. N. Netčaev: Skazki M. M. Korgueva [Die Märchen M. M. Korguevs], Petrozavodsk 1939), der durch seine monumentalen Zaubermärchen bekannt geworden ist; der Kolchosbauer I. F. Kovalev aus dem Gebiet Gorki (Ė. Gofman i S. Minc: Skazki I. F. Kovaleva [Die Märchen I. F. Kovalevs], 1941), ein Meister des Abenteuermärchens; und der sehr belesene sibirische Märchenerzähler E. I. Sorokovikov-Magaj (M. K. Azadovskij i L. Eliasov: Skazki Magaja (Die Märchen Magajs], 1940). Außerordentlich interessant sind auch die Märchen des Fabrikarbeiters aus Onega, F. P. Gospodarev, die sich durch ihre satirische Darstellung der Zeit vor der Revolution auszeichnen und sehr viele Motive aus dem sozialen Kampf enthalten (N. Novikov: Skazki F. P. Gospodareva [Die Märchen F. P. Gospodarevs], 1941). Alle diese in ihrer schöpferischen Gestaltungsweise so verschiedenen Meister des Volksmärchens haben für die Entwicklung des kollektiven Schaffens des Volkes, der Kunst des mündlichen Wortes, eine große Rolle gespielt.
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In der vorliegenden Sammlung sind – vorwiegend in Varianten, die von den besten Erzählern geboten wurden – die für das russische Märchenepos charakteristischsten Sujets vertreten. Am Schluß des Buches sind Hinweise auf die Quellen der abgedruckten Texte zu finden sowie die wichtigsten Angaben über Sammlungen russischer Märchen und über die Erzähler, nach deren Worten die hier veröffentlichten Texte aufgezeichnet wurden. Moskau 1962
ERNA POMERANCEVA
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Verzeichnis der in den Anmerkungen genannten Literatur Abkürzungen AT = Antti Aarne – Stith Thompson: The Types of the Folk-Tale. FFC 184, Helsinki 1961. Andreev = N. P. Andreev: Ukazatel’ skazočnych sjužetov po sisteme Aarne (Index der Märchensujets nach dem System Aarnes). Leningrad 1929. BP = Johannes Bolte – Georg Polivka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, Bd. I-V. Leipzig 1913-1932. Quellen
Afanas’ev, A. N.: Narodnye russkie skazki (Russische Volksmärchen). Moskau 1957. Akimova, T. M.: Fol’klor Saratovskoj oblasti (Die Folklore des Gebiets Saratow). Saratow 1946. Astachova, A. M.: Il’ja Muromec (Ilja Muromez). MoskauLeningrad 1958. Azadovskij, M. K.: Russkaja skazka (Das russische Märchen). Moskau 1932. Chudjakov, A. J.: Velikorusskie skazki (Großrussische Märchen). Moskau 1860-1862. Dorevoljucionnyj fol’klor na Urale. Sost. V. P. Birjukov (Die Folklore im Ural vor der Revolution. Herausgeber V. P. Birjukov). Swerdlowsk 1936.
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Gofman, Ė i Minc, S.: Skazki I. F. Kovaleva (Die Märchen I. F. Kovalevs). Moskau 1941. Komovskaja, N. D.: Skazki M. A. Skazkina (Die Märchen M. A. Skazkins). Gorki 1952. Krasnoženova, M. V.: Skazki našego kraja (Die Märchen unserer engeren Heimat). Krasnojarsk 1940. Nečaev, A. N.: Skazki M. M. Korgueva (Die Märchen M. M. Korguevs). Petrosawodsk 1939. Novikov, N. V.: Skazki F. P. Gospodareva (Die Märchen F. P. Gospodarevs). Petrosawodsk 1941. Ončukov, N. E.: Severnye skazki (Die Märchen des Nordens). Petersburg 1908. Roždestvenskaja, N. L: Skazy i skazki Belomor’ja i Pinež’ja (Geschichten und Märchen aus dem Weißmeergebiet und der Gegend von Pinega). Archangelsk 1941. Russkie narodnye skazki. Sost. E. V. Pomeranceva (Russische Volksmärchen. Herausgeber E. V. Pomeranceva). Moskau 1957. Russkoe narodnoe tvorčestvo v Baškirii. Sost. S. J. Minc, N. S. Poliščuk, E. V. Pomeranceva (Russische Volksdichtung in Baschkirien. Herausgeber S. I. Minc, N. S. Poliščuk, E. V. Pomeranceva). Ufa 1957. Serova, M.: Novgorodskie skazki (Nowgoroder Märchen). Leningrad-Moskau 1924. Skazki i predanija Samarskogo kraja. Sobr. i zapis. D. N. Sadovnikovym (Märchen und Überlieferungen aus der Gegend von Samara. Gesammelt und aufgezeichnet von D. N. Sadovnikov). Petersburg 1884. Skazki Kuprijanichy. Sost. A. M. Novikova i I. A. Ossoveckij (Die Märchen der Kuprijanicha. Herausgeber A. M. Novikova und I. A. Ossoveckij). Woronesh 1937. Skazki Magaja. Sost. M. K. Azadovskij i L. Eliasov (Die Märchen Magajs. Herausgeber M. K. Azadovskij und L. Eliasov). Leningrad 1940. Sokolov, Ju. M.: Barin i mužik (Gutsherr und Bauer). Moskau 1932.
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Sokolov, B. i Sokolov, Ju.: Skazki i pesni Belozerskogo kraja (Märchen und Lieder aus der Gegend von Belosersk). Moskau 1915. Tambovskij fol’klor. Red. Ju. M. Sokolov i E. V. Gofman (Die Folklore von Tambow. Redaktion Ju. M. Sokolov und E. V. Gofman). Tambow 1941. Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Permskoj gubernii (Großrussische Märchen aus dem Gouvernement Perm). Petrograd 1914. –, –: Velikorusskie skazki Vjatskoj gubernii (Großrussische Märchen aus dem Gouvernement Wjatka), Petrograd 1915.
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Anmerkungen Tiermärchen 1. Fuchs und Wolf (AT 1 + 2 + 3 + 4; BP 73 + 74) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. I, Nr. 1, entnommen. Das Buch Afanas’evs – eines hervorragenden russischen Gelehrten und gleichzeitig eines der markantesten Vertreter der mythologischen Schule in der russischen Wissenschaft – stellt die größte Sammlung russischer Volksmärchen dar. Die Sammlung ist in den Jahren 1855-1864 zunächst in einzelnen Lieferungen erschienen und hat seitdem mehrere Neuauflagen erfahren. – Die letzten wissenschaftlichen Ausgaben, jeweils dreibändig, sind 1936-1940 (redigiert und kommentiert von M. K. Azadovskij, N. P. Andreev und Ju. M. Sokolov) sowie 1957 (redigiert und kommentiert von V. Ja. Propp) erschienen. Diese Sammlung ist bis heute Hauptquelle für jeden, der sich mit dem Studium des russischen Märchens befaßt, und gehört gleichzeitig zu den Lieblingsbüchern eines breiten Kreises von Lesern aller Altersstufen. Der vorliegende Text ist von A. N. Afanas’ev in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Gouvernement Woronesh aufgezeichnet worden. Er vereint mehrere Episoden, die in russischen Fuchsmärchen in verschiedenen Kombinationen begegnen. Diese Märchen sind besonders bei Kindern sehr beliebt, wozu auch ihre zahllosen Veröffentlichungen in Kinder- und Lehrbüchern beitragen. 2. Wie die Füchsin die Wehmutter gemacht hat (AT 15; BP I,2) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. I, Nr. 9, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1).
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Aufgezeichnet im 19. Jh. im Kreis Perejaslawl – Salesski von N. Nazarov. Obwohl die hauptsächlichen Episoden dieses Märchens heute veraltet sind, begegnet es im Repertoire russischer Märchenerzähler recht häufig. 3. Wie die Füchsin das Klageweib gemacht hat (AT 37) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. I, Nr. 21, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Zeit und Ort der Aufzeichnung des Textes werden von Afanas’ev nicht angegeben. Gewöhnlich wird dieses weitverbreitete Märchen des russischen Repertoires von seinen Interpreten „mit verteilten Rollen“ erzählt, gleichsam vorgespielt. Die Erzähler ahmen das Brüllen des Bären nach, die Stimme des Wolfes und den schmeichlerisch-rührenden Klagegesang der Füchsin. – Die abschließende Episode des Märchens, das Gespräch der Füchsin mit ihren Augen, ihren Beinen und ihrem Schwanz, begegnet nicht nur in diesem Märchen, sondern bildet den Ausgang einer ganzen Reihe anderer russischer Märchen vom Fuchs und seinen Abenteuern (s. Nr. 7 unserer Sammlung). 4. Fuchs und Kranich (AT 60) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. I, Nr. 33, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Aufgezeichnet im 19. Jh. im Gouvernement Twer. Das Märchen trägt den Charakter einer Fabel und schließt nicht zufällig mit dem moralisierenden Sprichwort: „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es wieder heraus.“ Es erfreut sich großer Beliebtheit und wird, allegorisch interpretiert, in lebendiger Rede oft herangezogen.
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5. Kater und Füchsin (AT 103; BP I,48) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. I, Nr. 40, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Zeit und Ort der Aufzeichnung des Textes werden von Afanas’ev nicht angegeben. Es ist eins jener russischen Tiermärchen, in denen Elemente der sozialen Satire besonders deutlich zutage treten. 6. Fuchs, Hase und Hahn (AT 43) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. I, Nr. 14, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Aufgezeichnet im 19. Jh. im Kreis Perejaslawl-Salesski von N. Bodrov. Das Märchen gehört zu den meistverbreiteten russischen Tiermärchen. Nicht selten tritt darin an Stelle des Fuchses die Ziege auf, wobei es zur Kontamination mit dem Märchen von der „Geschundenen Ziege“ (vgl. Nr. 15 unserer Sammlung) kommen kann. 7. Bauer, Bär und Fuchs (AT 1030 + 154; BP III,189) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. I, Nr. 24, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Aufgezeichnet im 19. Jh. im Gouvernement Tambow und von Afanas’ev literarisch überarbeitet. 8. Undank ist der Welt Lohn (AT 155; BP 11,99) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. I, Nr. 27, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1).
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Aufgezeichnet im 19. Jh. im Kreis Tschorny Jar, Gouvernement Astrachan, durch den Schriftsteller Volkonidin und von Afanas’ev literarisch überarbeitet. 9. Der dumme Wolf (AT 122A; BP 11,86) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. I, Nr. 55, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Zeit und Ort der Aufzeichnung des Textes werden von Afanas’ev nicht angegeben. Die in diesem Text enthaltenen Episoden begegnen in russischen Märchen vom Wolf in verschiedenen Kombinationen. 10. Kranich und Reiher (Andreev *244 I; AT 244 A*) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. I, Nr. 72, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Aufgezeichnet im 19. Jh. im Gouvernement Wologda. Dieses Märchen ist nur in wenigen ostslawischen Varianten bekannt. 11. Der Hahn und die Bohne (AT 2032; Andreev 241 I*; BP II,80) Der Text ist der Sammlung: Märchen und Überlieferungen aus der Gegend von Samara (gesammelt und aufgezeichnet von D. N. Sadovnikov), Nr. 49, entnommen. Der Name des russischen Dichters aus der zweiten Hälfte des 19. Jhs. D. N. Sadovnikov ist nicht nur in die Geschichte der russischen Dichtung, sondern auch in die Geschichte der russischen Folkloristik eingegangen. Er hat die erste große Sammlung russischer Volksrätsel herausgegeben: Zagadki russkogo naroda (Rätsel des russischen Volkes), 1876, sowie diese ausgezeichnete Sammlung von Märchen, die von ihm im Wolgagebiet aufgezeichnet wurden.
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Der vorliegende Text stammt von einem der besten russischen Märchenerzähler, Abram Novopol’cev, von dem Sadovnikov insgesamt 72 Märchen aufzeichnen konnte, die in der obengenannten Sammlung erstmals veröffentlicht wurden. – Das Repertoire Abram Novopol’cevs ist außerordentlich reich und mannigfaltig. Mit der gleichen Meisterschaft erzählt er Zaubermärchen wie Alltagsmärchen, Tiermärchen, Legenden und Sagen. Das Schaffen Novopol’cevs hat die Beachtung sowohl sowjetischer Wissenschaftler (B. M. Sokolovs, M. K. Azadovskijs, V. Ju. Krupjanskas, E. V. Pomeranzevas) wie auch Gelehrter aus dem Ausland (L. Kopezkis) auf sich gezogen. Einzelne seiner Märchen wurden mehrfach in Anthologien und Lehrbüchern abgedruckt. Seine besten Märchen (insges. 41) sind 1952 zusammen mit einem Aufsatz über sein Schaffen als Einzelausgabe in Kuibyschew erschienen. Das vorliegende Märchen mit seiner kettenähnlichen Komposition ist im russischen Repertoire – vorwiegend als Kindermärchen – weitverbreitet. 12. Die Ziege (AT 2015; BP II,72a) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. I, Nr. 60, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Aufgezeichnet im 19. Jh. im Gebiet Wologda. Ein bei Kindern beliebtes Kettenmärchen. 13. Wie das Schwein zu Tanze ging (AT 20+ 20A; vgl. BP I,10-S.77) Der Text ist der Sammlung: Russische Volksdichtung in Baschkirien (Herausgeber S. I. Minc, N. S. Poliščuk, E. V. Pomeranceva), Nr. 8, entnommen. Das in dieser Sammlung enthaltene Material wurde durch Studentenexpeditionen der Moskauer Universität in den Jahren 1948 und 1949 in russischen Dörfern der Baschkirischen ASSR zusammengetragen. Aufgezeichnet im Jahre 1948 durch E. V. Pomeranceva von der Märchenerzählerin U. I. Peskova, 65 Jahre, im Dorf
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Wladimir, Kreis Pokrowskoje (Baschkirische ASSR). – U. I. Peskova genießt nicht nur in ihrem Dorf, sondern auch in den umliegenden Dörfern den Ruf einer guten Märchenerzählerin. Ihre Zuhörerschaft besteht ausschließlich aus Kindern, wodurch der Charakter ihres Repertoires bestimmt wird. Interessant ist, daß U. I. Peskova Mädchen, die Kinder zu betreuen haben, im Märchenerzählen unterweist. Auch Märchen einiger ihrer „Schülerinnen“ wurden aufgezeichnet. Der vorliegende Text – eine Variante des traditionellen Sujets „Die Tiere in der Grube“ – ist sehr schlüssig und logisch erzählt und zeigt den für die Erzählerin typischen Witz und milden Humor. 14. Das Schlößchen (Andreev ‘282) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. I, Nr. 84, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Aufgezeichnet im 19. Jh. im Gouvernement Moskau. Dieses Märchen ist außerordentlich beliebt bei Kindern und wird immer wieder in Kindermärchenbüchern abgedruckt. Es ist in einer ganzen Reihe literarischer Bearbeitungen bekannt (S. Ja. Maršak u. a.) und wurde ins Repertoire des Kindertheaters und des Kinderfilms aufgenommen. 15. Die Ziege Naseweis (AT 212; BP I,36) Der Text ist der Sammlung: Märchen und Überlieferungen aus der Gegend von Samara, Nr. 55, entnommen (s. Anm. zu Nr. 11). Aufgezeichnet durch D. N. Sadovnikov von dem Märchenerzähler Abram Novopol’cev (s. Anm. zu Nr. 11). Das Märchen von der lügnerischen Ziege ist bei Novopol’cev mit dem von der geschundenen Ziege kontaminiert (Märchen Nr. 6 der zitierten Sammlung). 16. Das Schweinchen (Andreev *61 II; AT 61 B)
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Der Text ist der Sammlung: Russische Volksdichtung in Baschkirien entnommen (s. Anm. zu Nr. 13). Aufgezeichnet im Jahre 1948 durch E. V. Pomeranceva von der Kolchosbäuerin E. I. Kon’kova, 45 Jahre, im Dorf Achlystino, Kreis Pokrowskoje (Baschkirische ASSR). Es handelt sich um eine Variante des beliebten Kindermärchens „Der Hahn und der Kater“. Außer den gewöhnlich in diesem Märchen vorkommenden Gestalten sind noch der Sperling und das Schweinchen eingeführt. Möglicherweise ist dieser ungewöhnliche Sachverhalt die Ursache dafür, daß die Erzählerin dem Märchen gerade diese Überschrift gegeben hat. 17. Der Pfannkuchen (AT 2025; Andreev 296*) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. I, Nr. 36, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). In allen russischen Varianten ist dieses Märchen mit dem gesungenen Lied verbunden, was zu seiner ganz außergewöhnlichen Beliebtheit bei Kindern beiträgt. Es gibt zahlreiche literarische Bearbeitungen des Märchens, das auch in Kindertheater und Kinderfilm Eingang gefunden hat und als Kinderspielzeug sowie als Maskenkostüm für Kinder begegnet. Auch die bildende Volkskunst, besonders Knochenschnitzer und Holzschnitzer, haben sich ihm mehrfach zugewandt.
Zaubermärchen 18. Der Kater mit dem Goldschwanz (AT 311; BP I,46 + 66, III,169) Der Text ist der Sammlung: Russische Volksdichtung in Baschkirien, Nr. 28, entnommen (s. Anm. zu Nr. 13).
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Aufgezeichnet im Jahre 1948 durch T. N. Ljaško von der Märchenerzählerin E. I. Kon’kova im Dorf Achlystino, Kreis Pokrowskoje (Baschkirische ASSR) (s. Anm. zu Nr. 16). Es handelt sich hier um eine ganz eigentümliche Kontamination des beliebten Kindermärchens vom „Mädchen, das ein Bär entführte“, mit einem dem Märchen vom „Blaubart“ verwandten Sujet. Eine derartige kompositorische Lösung dieses Märchens begegnet im russischen Repertoire verhältnismäßig selten. 19. Das Schneekind (Andreev *703; AT 703*+ 780; vgl. BP I,28) Der Text ist der Sammlung: Russische Volksdichtung in Baschkirien, Nr. 27, entnommen (s. Anm. zu Nr. 13). Aufgezeichnet im Jahre 1948 durch T. N. Ljaško von der Märchenerzählerin E. I. Kon’kova im Dorf Achlystino, Kreis Pokrowskoje (Baschkirische ASSR). Es handelt sich um eine Kontamination des im russischen Folklore-Repertoire verhältnismäßig seltenen Märchens von dem „aus Schnee geformten Mädchen“ mit dem beliebten Märchen vom „Knochenpfeifchen“, das ein Verbrechen an den Tag bringt. 20. Die habgierige Alte (AT 555; BP I, 19) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. I, Nr. 76, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Zeit und Ort der Aufzeichnung des Textes werden von Afanas’ev nicht angegeben. – Es handelt sich um eine interessante Parallele zu Puškins Märchen „Vom Fischer und dem Fischlein“ sowie zu Grimms Märchen „Von dem Fischer un syner Fru“.
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21. Das bucklige Pferdchen (AT 531; BP III,126) Der Text ist der Sammlung: Die Folklore von Tambow (Redaktion Ju. M. Sokolov und E. V. Gofman), Nr. 7, entnommen. Diese Sammlung umfaßt Material, das Studenten des Moskauer Staatlichen Instituts für Philosophie, Literatur und Geschichte im Sommer 1939 im Gebiet Tambow aufzeichneten. Unser Text wurde durch S. G. Lazutin von dem Kolchosbauern V. I. Golovašin aufgezeichnet, einem begabten Märchenerzähler, der über ein großes Repertoire verfügt. Das Märchen vom buckligen Pferdchen ist im russischen Märchen-Repertoire sehr beliebt, wozu die Bearbeitung dieses Sujets durch P. Eršov zweifellos beigetragen hat. Eršovs Märchen „Das bucklige Pferdchen“, das 1831 erschien und seitdem unzählige Neuauflagen erfahren hat, ist zu einem Lieblingsbuch russischer Kinder geworden. Es gehört zum festen Repertoire von Theater und Film, und auch Künstler wie Meister der Volkskunst haben sich ihm mehrfach zugewandt. In den meisten Volksmärchen vom buckligen Pferdchen, die im 19. und 20. Jh. aufgezeichnet wurden, finden wir Folkloremotive mit Elementen aus Eršovs Märchen verknüpft. 22. Der Wildwolf und Iwan Zarewitsch (Andreev 550; AT 519; BP I, 57) Der Text ist der Sammlung: Die Märchen Magajs (Herausgeber M. K. Azadovskij und L. Eliasov), Nr. l, entnommen. E. I. Sorokovikov-Magaj (1868-1948) war ein hervorragender sowjetischer Märchenerzähler und verfügte über ein riesiges Repertoire. Entdeckt wurde er 1925 von dem großen sowjetischen Folkloresammler und -forscher M. K. Azadovskij. Seine Märchen sind von verschiedenen Sammlern aufgezeichnet und mehrfach veröffentlicht worden (M. K. Azadovskij, A. V. Gurevič, L. Eliasov). – E. I. Sorokovikov gehört zum interessanten Typ des „belesenen“ Märchener-
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zählers; in seinen Märchen kommt unverkennbar seine Belesenheit, seine Liebe zum Buch zum Ausdruck. Den vorliegenden Text hat Azadovskij im Jahre 1925 von Sorokovikov aufgezeichnet. Es handelt sich um einen der besten aus dem großen Repertoire des Erzählers. Die Eigenart des Schaffens Sorokovikos, seine Sympathien und Lieblingsgedanken kommen darin besonders deutlich zum Ausdruck. 23. Iwan-Wassersohn und Michail-Wassersohn (AT 300 + 303 + 554; BP I, 17 + 60 + II, 62 + 85) Der Text ist der Sammlung: Die Märchen der Kuprijanicha (Herausgeber A. M. Novikova und I. A. Ossoveckij), Nr. 11, entnommen. Von der Woronesher Märchenerzählerin A. K. Baryšnikova (Kuprijanicha), einer der besten russischen Erzählerinnen, sind mehr als 100 Märchen aufgezeichnet worden. Entdeckt hat sie im Jahre 1925 die Völkerkundlerin N. P. Grinkova. Später ist ihr vollständiges Repertoire zweimal aufgezeichnet und herausgegeben worden (zuerst von A. M. Novikova und I. A. Ossoveckij, danach von V. A. Tonkov). – Die Märchen der Kuprijanicha zeichnen sich durch ihre lebendige bildhafte Sprache und die sorgfältig ausgefeilte Form aus, durch ihre Fülle an komischen Situationen, ihre scherzhaften Märcheneinleitungen und Märchenschlüsse sowie durch ihre seltsamen Wortspiele und Reime. Den vorliegenden Text haben A. M. Novikova und I. A. Ossoveckij im Sommer 1935 von A. K. Baryšnikova aufgezeichnet, und zwar im Dorf Bolschaja Werejka, Kreis Semljansk (Gebiet Woronesh). In unserem Märchen, einem der besten aus dem Repertoire A. K. Baryšnikovas, sind einige beliebte Sujets des russischen Märchenrepertoires kontaminiert: „der Drachentöter“ – „die zwei Brüder“ – „die dankbaren Tiere.“ Das Märchen ist mit der auch für die Kuprijanicha typischen Dynamik und Ausdruckskraft erzählt. Trotz ihres Hanges zum Scherzen, zum komischen Reim und zu Zwischenbemerkungen, erzählt Kuprijanicha in diesem Falle ihr
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Märchen sehr gestrafft, verläßt den hohen Stil nicht und gestattet sich nur am Ende, nachdem das Märchen mit der traditionellen Formel vom Festmahl geschlossen hat, den Scherz: „Und es geht ihnen gut, sie schicken mir Briefe, nur kommen sie nie an.“ 24. Der Unterfähnrich (AT 301 + 301 D* + 318; BP II, 91) Der Text ist der Sammlung: Russische Volksmärchen (Herausgeber E. V. Pomeranceva), Nr. 31, entnommen. Aufgezeichnet 1936 im Gebiet Woronesh durch I. A. Ossoveckij vom Märchenerzähler B. Kartašov. Das Märchen ist innerhalb des russischen Märchenrepertoires recht beliebt. Es ist verknüpft mit der mehrfach abgedruckten Kolportageerzählung „Märchen vom starken und kühnen Ritter Unterfähnrich (Портупей Прапорщик) und der wunderschönen Königstocher Margarete“, die ihrerseits viele Gestalten und Situationen aus der Folklore verwendet. 25. Wanjuschka (AT 400 + 329; BP II 88 + 92 + 93 + III, 191 + 193) Der Text ist der Sammlung D. K. Zelenins: Großrussische Märchen aus dem Gouvernement Perm, Nr. 1, entnommen. Die Märchensammlungen des großen russischen Ethnographen und Folkloristen D. K. Zelenin: Großrussische Märchen aus dem Gouvernement Perm (1914) und: Großrussische Märchen aus dem Gouvernement Wjatka (1915) gehören zum bleibenden Bestand der russischen Folkloristik. Wie schon vor ihm N. E. Ončukov, so ordnet auch Zelenin das Märchenmaterial nach den Erzählern und macht über jeden von ihnen die erforderlichen Angaben. Unseren Text hat Zelenin von A. D. Lomtev aufgezeichnet, einem Bauern aus dem Dorf Koshakula, Wolost Krassin (Kreis Jekaterinburg). Lomtev zählt zu den besten russischen Märchenerzählern. Seine Märchen zeichnen sich durch strenge Einhaltung des epischen Stils aus. Das Märchen vereint drei Sujets, die in der russischen Folklore weitverbreitet sind: „die Schwanenjungfrauen“ –
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„ein Mann sucht seine schöne Frau“ – „das dreimalige Versteck.“ 26. Wanjuschka der Dummkopt (AT 530; BP III,136 – vgl. auch III, 111) Der Text ist der Sammlung: Russische Volksmärchen (Herausgeber E. V. Pomeranceva), Nr. 33, entnommen (s. Anm. zu Nr. 24). Aufgezeichnet 1949 durch N. Savuškina und L. Jakkovskaja vom Kolchosbauern K. K. Ermakov im Dorf Gussewka, Kreis Malojas (Baschkirische ASSR). K. K. Ermakov kennt viele Märchen und erzählt sie meisterhaft. Unser Märchen, eins der besten dieses Erzählers, ist eine Variante des im russischen Repertoire weitverbreiteten Sujets vom Pferd Siwka-Burka, dem magischen Helfer. 27. Jemelja der Dummkopf (AT 675; BP I, 54a) Der Text ist der Sammlung E. Gofmans und S. Minc’: Die Märchen I. F. Kovalevs, Nr. 6, entnommen. Aufgezeichnet in den dreißiger Jahren von I. F. Kovalev (geb. 1884), einem Kolchosbauern aus dem Gebiet Gorki. Er hat einige neue Märchen geschaffen und verfügt außerdem über ein großes Repertoire von etwa hundert überlieferten Märchen, unter denen die Zauber- und Abenteuermärchen überwiegen. Kovalev wurde als hervorragender Erzähler mit einem Orden ausgezeichnet und in den Sowjetischen Schriftstellerverband aufgenommen. Seine Märchen sind mehrfach veröffentlicht worden. Unser Märchen – eins der besten aus dem Repertoire Kovalevs – ist eine sehr schöne Variante des weitverbreiteten Sujets vom erfolgreichen „Dummkopf“, der alle seine Feinde besiegt. 28. Die Feder von Finist, dem edlen Falken (AT 432; BP II, 88)
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Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. II, Nr. 234, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Zeit und Ort der Aufzeichnung des Textes werden von Afanas’ev nicht angegeben. Dieses poetische Märchen, das zu dem bei allen Völkern weitverbreiteten Märchenzyklus vom verzauberten (Tier)Bräutigam gehört, begegnet im russischen Repertoire verhältnismäßig selten. 29. Die schöne Wassilissa (AT 480; BP I,24) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. I, Nr. 104, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Zeit und Ort der Aufzeichnung des Textes werden von Afanas’ev nicht angegeben. Varianten dieses Märchens, das zu dem verbreiteten Märchenzyklus von der Stiefmutter und der verfolgten Stieftochter gehört, konnten bei russischen Erzählern nicht festgestellt werden. Nach der Sprache zu urteilen, hat das Märchen eine gewisse literarische Überarbeitung erfahren. 30. Maria Morewna (AT 400 + 552; BP II, 88 + III, 197) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. I, Nr. 159, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Zeit und Ort der Aufzeichnung des Textes werden von Afanas’ev nicht angegeben. Das Märchen kontaminiert drei Sujets: „die Tierschwäger“ – „die Suche nach der geraubten Gattin“ – „die Hilfe der dankbaren Tiere.“ 31. Iwan Zarewitsch und Blauäuglein, die Heldenjungfrau (AT 551; BP II, 97) Der Text ist der Sammlung B. und Ju. Sokolovs: Märchen und Lieder aus der Gegend von Belosersk, Nr. 139, ent-
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nommen. Diese Sammlung stellt eine Zierde der russischen Folkloristik dar. Sie besteht aus Aufzeichnungen, die die bekannten sowjetischen Folkloresammler und -forscher B. und Ju. Sokolov noch als Studenten angefertigt haben. Dank der hervorragenden Qualität der Aufzeichnung und der großen Bedeutung der theoretischen Aufsätze, in denen die jungen Wissenschaftler das gesammelte Material erläutern, hat die Sammlung von ihrem Wert bis heute nichts eingebüßt. Unser Text ist 1908 von Il’ja Semenov, einem Bauern aus dem Dorf Konetschnaja, Bezirk Punems, aufgezeichnet worden. – Il’ja Semenov gehört zu den besten und typischsten russischen Märchenerzählern des beginnenden 20. Jhs. Er beachtet sorgfältig den Märchenkanon und läßt deutlich den Einfluß erkennen, den der Bylinenstil auf seine Texte gehabt hat. Gleichzeitig enthält sein Märchen eine Fülle realistischer Alltagsdetails. 32. Iwan Zarewitsch und die schöne Maria mit dem schwarzen Zopf (AT 300 + 465; BP I, 60) Der Text ist der Sammlung D. N. Sadovnikovs: Märchen und Überlieferungen aus der Gegend von Samara, Nr. 4, entnommen (s. Anm. zu Nr. 11). Aufgezeichnet durch Sadovnikov von Abram Novopol’cev (s. Anm. zu Nr. 11). Es handelt sich um eine originelle Bearbeitung des beliebten Sujets vom Drachentöter. Novopol’cev vereint in diesem Märchen mehrere Sujets: „die zwei Brüder“ – „die Befreiung der Zarentochter vom Drachen“ – „die schwierigen Aufgaben“. 33. Andrej der Jäger (AT 465 A) Der Text ist der Sammlung A. N. Nečaevs: Die Märchen M. M. Korguevs, Bd. I, Nr. 2, entnommen. Aufgezeichnet in den dreißiger Jahren durch Nečaev von dem bekannten sowjetischen Märchenerzähler und Weiß-
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meerfischer M. M. Korguev, einem Kenner des russischen und karelischen Märchenepos. Sein Repertoire ist außerordentlich groß, wobei monumentale Zaubermärchen überwiegen. Das Sujet dieses Märchens ist in der ostslawischen Folklore weitverbreitet; der Text Korguevs stellt gleichsam eine Zusammenschau der verschiedenen Episoden dar, die in den russischen Märchen von der klugen und schönen Gattin begegnen. Das Märchen enthält unverkennbare soziale Tendenzen – die Sympathie des Erzählers ist gänzlich auf seiten des einfachen Jägers, dem der Zar und seine engsten Vertrauten die Frau wegnehmen wollen. 34. Als sich Mücke und Fliege bekriegten (AT 222 + 313; BP I, 41 + 56 + II, 70a + 113 + III, 186) Der Text ist der Sammlung E. Gofmans und S. I. Minc’: Die Märchen Kovalevs, Nr. 10, entnommen (s. Anm. zu Nr. 27). Kovalev kontaminiert hier das Sujet von der „magischen Flucht“ mit dem von der „vergessenen Braut“. Bemerkenswert ist die ausführliche Einleitung des Märchens, die gleichsam die Exposition für die gesamte Erzählung darstellt. Für Kovalevs Stil ist charakteristisch, daß er den überlieferten Folkloretext mit schriftsprachlichen Elementen sowie mit Wendungen aus der Gegenwartssprache durchsetzt 35. Die Froschzarin (AT 402 + 400; BP II, 63 + 106) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. II, Nr. 267, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Aufgezeichnet im 19. Jh. durch den Bauern A. Zyrjanov im Kreis Schadrinsk, Gouvernement Perm. Das Märchen von der verzauberten Gattin ist in der Folklore aller Völker weitverbreitet, doch sind russische Varianten verhältnismäßig selten.
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36. Die Tochter des Zaren (AT 306; BP III, 133) Der Text ist der Sammlung D. K. Zelenins: Großrussische Märchen aus dem Gouvernement Wjatka, Nr. 3, entnommen (s. Anm. zu Nr. 25). Den vorliegenden Text hat Zelenin von dem guten Märchenerzähler G. A. Verchorubov aufgezeichnet, der die traditionelle Form der Erzählung sorgfältig wahrt. In diesem Märchen sind mehrere beliebte Sujets des russischen Repertoires vereint. Wie in anderen Texten dieses Erzählers, so stammen einige Details auch hier aus dem früheren Soldatenleben. 37. Die Schafe im Meer (AT 570 + 306; BP III, 165 + 133) Der Text ist der Sammlung M. V. Krasnoženovas: Die Märchen unserer engeren Heimat, S. 132-139, entnommen. M. V. Krasnoženova war eine bekannte Sammlerin der Folklore Sibiriens, deren Publikationen einen bedeutenden Beitrag zur sowjetischen Wissenschaft darstellen. Vorliegendes Märchen hat M. V. Krasnoženova im Jahre 1924 von der bekannten sibirischen Erzählerin K. I. Čičaeva aufgezeichnet. Es handelt sich hier um eine eigenartige Verknüpfung mehrerer gut bekannter Episoden des Zaubermärchens: „die schwierigen Aufgaben“ – „die Zauberdinge“ – „die zertanzten Schuhe“. 38. Der weise Iwan (AT 707; BP II, 96) Der Text ist der Sammlung A. I. Chudjakovs: Großrussische Märchen, Bd. III, Nr. 112, entnommen. Chudjakov, ein Revolutionär aus der Mitte des 19. Jh. und als Folklorist Anhänger der revolutionären Demokraten, ist einer der fortschrittlichen Sammler, die sich darum bemühen, auf dem Wege über die Folklore das Antlitz des Volkes zu erkennen.
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Den vorliegenden Text hat Chudjakov in der Mitte des vorigen Jahrhunderts im Gouvernement Nishni Nowgorod von der Märchenerzählerin O. S. Kotyševa aufgezeichnet. Es handelt sich um eine Variante des verbreiteten Märchens vom Zaren Saltan. Zur Beliebtheit dieses Sujets bei den russischen Erzählern des 19. und 20. Jh. hat das berühmte Märchen Puškins beigetragen. 39. Der Adler-Zarewitsch und sein Sohn (AT 222 B + 302; BP II, 102 + III, 197) Der Text ist der Sammlung M. K. Azadovskijs: Das russische Märchen, Bd. I, Nr. 17, entnommen. Aufgezeichnet von der sibirischen Bäuerin N. O. Vinokurova (1860-1930), deren Schaffen einige Aufsätze M. K. Azadovskijs gewidmet sind. Besondere Erwähnung verdient der Aufsatz: Eine sibirische Märchenerzählerin, der in deutscher Sprache in den FFC 1926, Nr. 68 veröffentlicht wurde. Azadovskij hat von N. O. Vinokurova ein großes und vielfältiges Märchenrepertoire aufgezeichnet. – Vinokurovas Märchen zeigen großes Interesse für die psychischen Erlebnisse der Märchengestalten. Auch finden sich in ihnen viele Details aus dem sibirischen Alltag. Besondere Mühe gibt sie sich, die Elendslage, die große Armut ihrer Helden zu beschreiben. Im vorliegenden Text vereint die Erzählerin zwei beliebte Sujets: das vom „Adler“ und das von „Kostschejs Tod“. Die Märcheneinleitung vom Streit zwischen Sperling und Maus ist der Einleitung Kovalevs vom Krieg zwischen Mücke und Fliege analog (s. Nr. 34); sie wird von russischen Märchenerzählern häufig als Einleitung zu Zaubermärchen verwendet. 40. Das goldene Ei (AT 567; BP I, 60 + III, 122) Der Text ist der Sammlung B. und Ju. Sokolovs-. Märchen und Lieder aus der Gegend von Belosersk, Nr. 54, entnommen (s. Anm. zu Nr. 31).
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Aufgezeichnet im Jahre 1908 durch die Brüder Sokolov von Paramon Bogdanov, einem armen Bauern ohne eigenes Land. Bogdanov gilt als einer der besten Märchenerzähler, die den Sammlern im Gebiet von Belosersk begegnet sind. Er hat es in seinem Schaffen außerordentlich glücklich verstanden, die Formen des alten Märchenzeremoniells mit einprägsamen Zeichnungen aus dem Alltag und einer vertieften Behandlung der psychologischen Momente zu verknüpfen. 41. Von Nikita dem Herumtreiber (AT 725; BP I, 33) Der Text ist der Sammlung D. K. Zelenins-. Großrussische Märchen aus dem Gouvernement Wjatka, Nr. 4, entnommen (s. Anm. zu Nr. 36 und Nr. 25). Aufgezeichnet von dem Märchenerzähler G. A. Verchorubov (s. Anm. zu Nr. 36). In diesem Märchen vom prophezeienden Traum, einem in der Folklore aller Völker weitverbreiteten Sujet, beweist Verchorubov sein ganzes Können. Kennzeichnend für ihn ist seine kritische Einstellung zum Religiösen. 42. Die Zarin ohne Arme (AT 706; BP I, 31) Der Text ist der Sammlung E. Gofmans und S. Minc’: Die Märchen I. F. Kovalevs, Nr. 22, entnommen (s. Anm. zu Nr. 27). Im russischen Märchen vom Mädchen ohne Hände, das zu dem bei allen Völkern weitverbreiteten Märchenzyklus von der unschuldig verleumdeten Frau gehört, ist der Einfluß nicht zu verkennen, dem es durch die aus dem 17. Jh. stammende Erzählung: Das Wunder der heiligen Gottesmutter an der Zarentochter Persika, einer Tochter des Zaren Michail Bolgarski, ausgesetzt war 43. Fürst Pjotrs treue Gemahlin (AT 300 + 875; BP I, 60+62 + II, 94)
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Der Text wurde nach 1950 durch E. V. Pomeranceva von der Woronesher Märchenerzählerin A. N. Korolkova aufgezeichnet und 1958 erstmals veröffentlicht in: Slavjanskij sbornik (Slawische Sammlung), Woronesh, Teil II, S. 255 (hg. von der Woronesher Universität, Red. P. G. Bogatyrev). A. N. Korolkova (geb. 1893) zählt zu den besten sowjetischen Märchenerzählerinnen. Etwa einhundert Märchen sind von ihr aufgezeichnet worden. Ihr Repertoire ist sehr mannigfaltig; mit gleicher Meisterschaft erzählt sie Zaubermärchen, Heldenmärchen und Abenteuermärchen. Unnachahmlich ist ihr Humor, wenn sie Tiermärchen und Anekdoten aus dem Alltag erzählt. Ihre Märchen sind mehrfach veröffentlicht worden. Bei dem vorliegenden Märchen handelt es sich um eine originelle Wiedergabe der aus dem 14. Jh. stammenden Vitenerzählung von Pjotr und Fewronija. In der Interpretation A. N. Korolkovas hat die Erzählung ihren religiösen Charakter völlig verloren, während die demokratischen Tendenzen stärker betont sind. 44. Schwesterchen Aljonuschka und Brüderchen Iwanuschka (AT 450; BP I, 11 – vgl. III, 141) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. II, Nr. 260, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Aufgezeichnet durch Afanas’ev in seiner Heimat, im Kreise Bobrow, Gouvernement Woronesh. Wir haben es hier mit einem der beliebtesten russischen Märchen zu tun, dem sich russische Maler, Bildhauer und Meister der Volkskunst häufig zugewandt haben. 45. Junker Frost (AT 480; BP I, 24) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. I, Nr. 95, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Aufgezeichnet im Kreis Nikolsk, Gouvernement Wologda.
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Das Sujet dieses Märchens, das zum Zyklus der unschuldig verfolgten Stieftochter gehört, ist in der Folklore aller Völker weitverbreitet. Es liegt auch dem deutschen Märchen von der Frau Holle zugrunde. In der Redaktion, mit der wir es in dem von uns veröffentlichten Märchen zu tun haben, ist es nur in Osteuropa bekannt. – Die russischen Märchen vom Junker Frost haben dem großen russischen Dichter N. A. Nekrasov als Quelle für sein berühmtes Poem: MorozKrasny nos (Frost Rotnase) gedient. 46. Iwaschko und die Hexe (AT 327C; BP I, 115) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. I, Nr. 108, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Aufgezeichnet durch Afanas’ev im Kreis Bobrow, Gouvernement Woronesh. 47. Die wilden Schwäne (Andreev 480*E; vgl. AT 480A*) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. I, Nr. 113, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Aufgezeichnet im Gouvernement Kursk. Es handelt sich um ein bei sowjetischen Kindern sehr beliebtes Kindermärchen. 48. Daumengroß (AT 700 + 715; BP I, 27+37+45) Der Text ist der Sammlung: Russische Volksmärchen (Herausgeber E. V. Pomeranceva), Nr. 55, entnommen (s. Anm. zu Nr. 24). Aufgezeichnet nach 1950 durch E. Pomeranceva von der Märchenerzählerin A. N. Korolkova in Woronesh (s. Anm. zu Nr. 43). Vorher ist das Märchen der Korolkova in einer Aufzeichnung V. A. Tonkovs veröffentlicht worden. Es handelt sich hier um eine originelle Kontamination des Sujets vom „Daumengroß“ mit dem Sujet „Der Zauber-
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hahn“. Für unseren Text wie überhaupt für das Repertoire der großartigen sowjetischen Märchenerzählerin ist die scharf ausgeprägte soziale Tendenz kennzeichnend. 49. Der Soldat und der Teufel (AT 1166*) Der Text ist der Sammlung: Märchen und Überlieferungen aus der Gegend von Samara, Nr. 80, entnommen (s. Anm. zu Nr. 11). Aufgezeichnet von dem Simbirsker Kleinbürger T. S. Poluektov. Es handelt sich um eins der zahlreichen russischen Märchen vom Teufel. Entstanden ist es wohl im Soldatenmilieu: seine Satire ist gegen den Soldatendrill gerichtet, der für das zaristische Rußland so charakteristisch war. Ungeachtet der Phantastik des Sujets wird das Märchen nicht als Zaubermärchen aufgefaßt, was es an sich ist, sondern als satirisches Märchen. 50. Der Hexenmeister (Andreev 664A; AT 664A*) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. III, Nr. 376, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Zeit und Ort der Aufzeichnung des Textes werden von Afanas’ev nicht angegeben. Das Märchen vom Hexenmeister erinnert sehr an die in der russischen Folklore verbreiteten Erzählungen von den getäuschten Opfern der Zauberkünstler. Unser Text weist unverkennbare soziale Tendenzen auf: ein General wird das Opfer eines Matrosen. 51. Der Soldat im Jenseits (AT 801 + 804 B; vgl. BP III, 167) Der Text ist der Sammlung: Russische Volksdichtung in Baschkirien, Nr. 26, entnommen (s. Anm. zu Nr. 13). Aufgezeichnet 1949 durch L. D. Kaljakina von dem Märchenerzähler P. I. Sjutin in Ufa.
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Sjutin, Fabrikarbeiter in Blagowestschensk, ist ein ausgezeichneter Erzähler, von dem über 50 Märchen aufgezeichnet worden sind. Sein überdurchschnittliches Märchenrepertoire ist noch nicht vollständig veröffentlicht. Die hier vorliegende, bis in die Einzelheiten ausgearbeitete Variante des verbreiteten Sujets vom Soldaten im Jenseits ist wegen ihrer popenfeindlichen Tendenz interessant. 52. Der Schmied und der Teufel Der Text ist der Sammlung: Die Folklore im Ural vor der Revolution (Herausgeber V. P. Birjukov), S. 206, entnommen. Aufgezeichnet im Jahre 1936 in Beresowskij durch Alekseev von den Arbeitern G. I. Berestnev (61 Jahre) und P. Kožurin (52 Jahre). In diesem Märchen, das unter den Arbeitern des Ural erzählt wurde, kommen einprägsam die schweren Arbeitsbedingungen und die Ausbeutung der Fabrikarbeiter in der Zeit vor der Revolution zum Ausdruck. 53. Vom Hammerschmied und dem Teufel Der Text ist der Sammlung: Die Folklore im Ural vor der Revolution, S. 208, entnommen (s. Anm. zu Nr. 52). Aufgezeichnet durch den Fabrikarbeiter Ja. I. Žuravlev aus Kabanowsk von seinem Großvater. Das Märchen war vor der Revolution unter den Arbeitern des Ural sehr verbreitet. 54. Die Sorge (AT 735 A; Andreev *735 I; BP II, 99) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. II, Nr. 303, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Aufgezeichnet im Gouvernement Nowgorod. Märchen und Lieder von der Sorge sind in der russischen Folklore ziemlich verbreitet. Sie bilden die Grundlage für die im 17. Jh. entstandene Erzählung von der Sorge und dem Unglück, die ihrerseits wieder die Folklore beeinflußt hat.
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Heldenmärchen – Historische Märchen – Abenteuermärchen 55. Nikita der Gerber (AT 300; vgl. BP I, 60 + II, 62) Der Text der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. I, Nr. 148, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Aufgezeichnet durch P. I. Jakuškin in Koslow, Gouvernement Tambow. An sich haben wir es hier nicht mit einem Märchen zu tun, sondern mit einer Sage, die Märchenmotive verwendet – den Sieg des Helden über den Drachen – und mit dem Drachenwall in Zusammenhang steht. Die Gestalt des Gerbers ist in einigen Zügen mit der des Usmoschwez verwandt, der nach der Chroniküberlieferung Kiew von den Petschenegen befreit hat. 56. Die Mär von Ilja Muromez (Andreev *650 I; vgl. AT 650A; vgl. BP II, 90) Der Text ist der Sammlung N. D. Komovskajas: Die Märchen M. A. Skazkins, Nr. 23, entnommen. Aufgezeichnet im Jahre 1940 im Gebiet Gorki durch N. D. Komovskaja von dem begabten sowjetischen Erzähler M. A. Skazkin, der über ein reiches Repertoire verfügt. Ilja Muromez ist der beliebteste Held des russischen Bylinenepos (vgl. A. M. Astachova: Ilja Muromez). – Das Sujet der Byline von Ilja begegnet – in Prosaform – häufig im Repertoire der Märchenerzähler und der Kolportageliteratur. Die Variante des belesenen Skazkin geht unverkennbar auf eine literarische Quelle zurück. 57. Jeruslan Lasarewitsch (Andreev *650 II; AT 650 A + B + 300 + 707 B*; BP III, 197 – vgl. II, 90)
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Der Text ist der Sammlung N. D. Komovskajas: Die Märchen M. A. Skazkins, Nr. 23, entnommen (s. Anm. zu Nr. 56). Das Märchen von Jeruslan Lasarewitsch geht auf eine übersetzte Erzählung des 17. Jh. zurück. Die Beliebtheit dieser östlichen Erzählung bei russischen Märchenerzählern ist zu einem Teil ihrer Verbreitung in Kolportageausgaben zu verdanken. – Das erste Buch, das Skazkin als Kind gelesen hat, war nach seinen eigenen Worten eine Kolportageausgabe des Märchens von Jeruslan Lasarewitsch. 58. Erzählung von Bowa dem Königssohn, dem ruhmreichen und starken Recken (Andreev *707 I; AT 707 B*) Der Text ist der Sammlung: Russische Volksmärchen (Herausgeber E. V. Pomeranceva), Nr. 63, entnommen (s. Anm. zu Nr. 24). Aufgezeichnet im Jahre 1952 von P. T. Litvinov in der Siedlung Kalatschiki, Region Altai. Nach der Handschrift zu urteilen, die im Archiv des Staatlichen Literaturmuseums in Moskau aufbewahrt wird, handelt es sich um eine Eigenaufzeichnung des Erzählers. – Das Märchen von Bowa dem Königssohn, das bereits im 16. Jh. in Rußland bekannt war und auf eine französische Erzählung des Mittelalters zurückgeht, war in der Kolportageliteratur des 18. bis 20. Jh. weitverbreitet und ist von dort – gewöhnlich unter Wahrung der Kennzeichen des Kolportagestils – auch ins Repertoire der Märchenerzähler eingedrungen. 59. Wie eine Löwin einen Zarensohn aufzog (Andreev *931 II; vgl. AT 706; vgl. BP I, 31, II, 88 – S. 264) Der Text ist der Sammlung T. M. Akimovas: Die Folklore des Gebietes Saratow, Nr. 385, entnommen. Aufgezeichnet 1938 durch S. V. Panina von dem Kolchosbauern M. T. Sesin aus dem Dorf Kurakino, Kreis Serdobsk. Von Sesin wurden innerhalb von vier Tagen 22 Märchen aufgezeichnet. Im 18. Jh. waren eine übersetzte Erzählung
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und ein Drama von der Zarin und der Löwin verbreitet, auf die unser Märchen wohl zurückgeht. 60. Die zwei Kaulleute (AT 882) Der Text ist der Sammlung: Die Märchen I. F. Kovalevs, Nr. 35, entnommen (s. Anm. zu Nr. 27). Für die vorliegende Variante des weitverbreiteten Sujets von der treuen Gattin sind die Fülle der Alltagsdetails und die stilistische Abhängigkeit vom Kolportagemärchen kennzeichnend. 61. Des Zaren Handwerksmeister (AT 575; BP II, 77 a) Der Text ist der Sammlung: Märchen und Überlieferungen aus der Gegend von Samara, Nr. 89, entnommen (s. Anm. zu Nr. 11). Aufgezeichnet durch D. N. Sadovnikov von dem Märchenerzähler Abram Novopol’cev (s. Anm. zu Nr. 11). In der russischen Folklore beginnen Märchen vom Zauberflug des Helden häufig mit einem Streit zwischen Handwerkern. Die hier vorliegende Variante des bei allen Völkern verbreiteten Sujets ist von Novopol’cev mit dem ihm eigenen Können und Humor erzählt. Interessant ist das Detail, daß der Zar den Meistern die Dinge wegnahm und sie „mit langen Gesichtern abzogen“ (пошли-несолоно хлебали) 62. Der Töpfer (Andreev *921 II; AT 921 F*) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. III, Nr. 325, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Aufgezeichnet durch P. M. Jazykov im Gouvernement Simbirsk von einem Bauern aus dem Dorfe Golowino. Im russischen Märchenrepertoire gibt es mehrere Märchen von Ivan IV. (Groznyj), in denen er als ein Zar gezeichnet ist, der im Kampf gegen die Bojaren auf der Seite des Volkes steht. Die Gestalt des volksfreundlichen, weisen
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und „schlichten“ Zaren begegnet im Volksmärchen nicht selten; sie ist ein Produkt jener Begrenztheit, die für die Weltanschauung des Bauern in der Epoche des Feudalismus kennzeichnend ist. 63. Peter der Große und der Soldat (AT 952; BP III, 199) Der Text ist der Sammlung N. V. Novikovs: Die Märchen F. P. Gospodarevs, Nr. 53, entnommen. F. P. Gospodarev, ein Fabrikarbeiter vom Onegasee, zählt zu den besten sowjetischen Märchenerzählern. In seinen Märchen sind die sozialen Tendenzen sehr stark. Das Märchen ist im russischen Repertoire weitverbreitet. In der Gestalt Peters I. wird gewöhnlich sein Demokratismus hervorgehoben. Die Gestalt des kecken und findigen Soldaten ist für das russische Märchen typisch.
Satirische Alltagsmärchen 64. Das Hühnchen Tataruschka (Andreev *241 III; vgl. AT 2022; vgl. BP I,30) Der Text ist der Sammlung: Märchen und Überlieferungen aus der Gegend von Samara, Nr. 50, entnommen (s. Anm. zu Nr. 11). Aufgezeichnet durch D. N. Sadovnikov von dem Märchenerzähler Abram Novopol’cev (s. Anm. zu Nr. 11). Die erste Hälfte des Märchen ist unter Kindern weitverbreitet. In der Variante Novopol’cevs verliert das Märchen seinen „kindlichen“ Charakter und wird als bissige Satire auf Panikmacher aufgefaßt. 65. Das besprochene Wasser (Andreev *1429; AT 1429*) Der Text ist der Sammlung M. Serovas: Nowgoroder Märchen, Nr. 1, entnommen.
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Aufgezeichnet durch M. Serova von der Märchenerzählerin M. O. Doničeva, einer Bäuerin aus dem Kreis Tichwin, Gouvernement Nowgorod. Varianten des Märchens sind nicht bekannt. Möglicherweise ist das witzige satirische Märchen von der Herausgeberin, die es oft in Schulen und Klubhäusern vorgetragen hat, stilistisch etwas überarbeitet worden. 66. Der Topf (AT 1351) Der Text ist der Sammlung M. Serovas: Nowgoroder Märchen, Nr. 3, entnommen (s. Anm. zu Nr. 65). Aufgezeichnet von M. O. Doničeva, einer Bäuerin aus dem Kreis Tichwin, Gouvernement Nowgorod. Varianten dieses witzigen Märchens sind im russischen Repertoire verhältnismäßig selten. Das Märchen dürfte wohl ebenso wie das vorstehende von der Herausgeberin stilistisch etwas überarbeitet sein. 67. Das zanksüchtige Weib (AT 1365A) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. III, Nr. 439, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Aufgezeichnet durch P. I. Jakuškin im Gouvernement Orel. Eins der vielen Märchen von der „bösen Ehefrau“, die bei allen Völkern weitverbreitet sind. 68. Das geschwätzige Weib (AT 1381; BP I, 59) Der Text der Sammlung I. A. Chudjakovs: Großrussische Märchen, Bd. II (1861), Nr. 75, entnommen (s. Anm. zu Nr. 38). Das Märchen gehört gleichfalls zum Zyklus der Erzählungen von den faulen, widerspenstigen, törichten – den „bösen“ Ehefrauen.
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69. Lutonjuschka (AT 1384; BP I, 34 + II, 104) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. III, Nr. 405, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Aufgezeichnet im Gouvernement Tambow. Das Märchen gehört zum Zyklus der sogenannten Poschechonier-Anekdoten, die in der russischen Folklore sehr beliebt sind und den deutschen Märchen von den Schildbürgern entsprechen. In russischen Veröffentlichungen sind sie seit dem 18. Jh. bekannt. 70. Mikola Duplenski (AT 1380; BP III, 139) Der Text ist der Sammlung N. I. Roždestvenskajas: Geschichten und Märchen aus dem Weißmeergebiet und der Gegend von Pinega, Nr. 29, entnommen. Das Sujet des Märchens von der ungetreuen Gattin, die, dem Rat eines „wundertätigen Heiligenbildes“, eines „Heiligen“ oder „Gottes“ folgend, ihren Mann durch ein leckeres Gericht blind machen will, ist in der Folklore aller Völker weitverbreitet. Es begegnet auch in einer Reihe vor der Revolution erschienener russischer Sammlungen und besonders häufig in Aufzeichnungen aus sowjetischer Zeit. Gewöhnlich wird es mit dem Sujet von dem Toten kontaminiert, der mehrere Male „erschlagen“ wird. 71. Die Alte (AT 1641; BP II, 98) Der Text ist der Sammlung M. K. Azadovskijs: Das russische Märchen, Bd. II, Nr. 312, entnommen (s. Anm. zu Nr. 39). Aufgezeichnet 1926 durch N. P. Grinkova von der bekannten Woronesher Märchenerzählerin A. K. Baryšnikova, der Großmutter Kuprijanicha (s. Anm. zu Nr. 23). Dieses Märchen, dessen Sujet in der ganzen Welt weitverbreitet ist, erfreut sich bei russischen Märchenerzählern und ihren Zuhörern ganz außerordentlicher Beliebtheit. –
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Gewöhnlich ist der Held des Märchens nicht eine Alte, sondern ein Bäuerlein mit dem Beinamen Shutschok (жучок, d. h. „Käfer“ oder „Holzwurm“ d. Übers.). 72. Das kluge Mädchen (AT 875; BP II, 94) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. III, Nr. 328, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Aufgezeichnet im Gouvernement Saratow. Märchen von klugen Antworten sind im russischen Repertoire verhältnismäßig reich vertreten. Mit dem Sujet dieses Märchens sind auch die Märchen vom vergnügten Kloster (Nr. 73), vom Töpfer (Nr. 62) und die Erzählung von Pjotr und Fewronija (Nr. 43) verwandt. – Die Heldin, die die Rätsel des Gutsherrn oder des Zaren löst, ist in diesen Märchen oft die Tochter eines armen Bauern, eine kluge Jungfrau, eine Siebenjährige oder eine geschorene Jungfrau. 73. Das vergnügte Kloster (AT 922; BP III, 152) Der Text ist der Sammlung M. K. Azadovskijs: Das russische Märchen, Bd. II, Nr. 39, entnommen (s. Anm. zu Nr. 39). Aufgezeichnet durch Azadovskij von dem bekannten sibirischen Märchenerzähler E. I. Sorokovikov – Magaj (s. Anm. zu Nr. 22). Das Märchen Sorokovikovs, das eine Variante des bekannten Sujets vom Kaiser und Abt darstellt, zeichnet sich durch seinen stark ausgeprägten antiklerikalen Charakter aus. 74. Kirik (AT 831) Der Text ist der Sammlung A. M. Novikovas und I. A. Ossoveckijs: Die Märchen der Kuprijanicha, Nr. 35, entnommen (s. Anm. zu Nr. 23).
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Das vorliegende Sujet, das zum Märchenzyklus von den habgierigen Pfaffen gehört, begegnet bei russischen Erzählern verhältnismäßig selten. Doch ist es mehrfach von russischen Schriftstellern, insbesondere von V. G. Korolenko verwendet worden. 75. Wie ein Pope seine Knechte plagte (AT 1775) Der Text ist der Sammlung der Brüder B. und Ju. Sokolov: Märchen und Lieder aus der Gegend von Belosersk, Nr. 53, entnommen (s. Anm. zu Nr. 31). Aufgezeichnet im Jahre 1908 durch die Brüder Sokolov von dem Märchenerzähler Paramon Bogdanov (s. Anm. zu Nr. 40). Das Märchen Bogdanovs, eine Variante des weitverbreiteten Sujets vom geizigen Popen, zeugt von dem außergewöhnlichen Können des Erzählers und seiner Fähigkeit, durch geschicktes Ausspielen der Details eine einprägsame psychologische Darstellung zu erzielen. 76. Der alte Ossip und die drei Popen (Vgl. AT 1539; vgl. BP II, 61) Der Text ist der Sammlung der Brüder B. und Ju. Sokolov: Märchen und Lieder aus der Gegend von Belosersk, Nr. 87, entnommen (s. Anm. zu Nr. 31). Aufgezeichnet im Jahre 1908 durch die Brüder Sokolov von dem Kirchendiener V. V. Bogdanov, einem Meister humoristischer popenfeindlicher Märchen. Die hier vorliegende Variante des verbreiteten popenfeindlichen Sujets zeichnet sich durch eine Ausführlichkeit und epische Breite aus, wie sie für ein Alltagsmärchen etwas ungewöhnlich ist. 77. Des Ziegenbocks Begräbnis (AT 1842) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. III (1940), Anhang III: Русские заветные сказки (Heimliche russische Märchen), Nr. 3, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1).
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Dieses Sujet ist bei verschiedenen Völkern weitverbreitet. In russischen Veröffentlichungen taucht es erstmalig im 18. Jh. auf, doch ist es in Märchensammlungen aus der Zeit vor der Revolution nur selten zu finden. Das erklärt sich durch Zensurschwierigkeiten. Nicht zufällig hat Afanas’ev dieses Märchen in einer anonymen Sammlung veröffentlicht, die in Genf erschien. – Im Repertoire sowjetischer Märchenerzähler ist das Märchen „Begräbnis eines Ziegenbocks“ oder „…eines Hundes“, das die Habgier und Käuflichkeit der Geistlichen geißelt, außerordentlich reich vertreten. 78. Der gutmütige Pope (AT 1561; Andreev *1561 I) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. III, Anh. III: Heimliche russische Märchen (s. Anm. zu Nr. 77), Nr. 10, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Eines der weitverbreiteten Märchen von der Habgier der Popen, das A. N. Afanas’ev ebenso wie das vorige im Ausland veröffentlicht hat. 79. Der Bauer und der Pope (Andreev *2100) Der Text ist der Sammlung N. V. Novikovs: Die Märchen F. P. Gospodarevs, Nr. 46, entnommen (s. Anm. zu Nr. 63). Die Variante dieses Sujets, das nicht selten als Erzählung über Nichtrussen begegnet, trägt in der Interpretation Gospodarevs deutlich einen ausgeprägten popenfeindlichen Charakter, was besonders am Schluß des Märchens in Erscheinung tritt. 80. Der lüsterne Pope (AT 1730) Der Text ist der Sammlung A. M. Novikovas und I. A. Ossoveckijs: Die Märchen der Kuprijanicha, Nr. 69, entnommen (s. Anm. zu Nr. 23). In diesem Märchen der Kuprijanicha, einer Variante des weitverbreiteten popenfeindlichen Sujets, ist die satirische
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Gestalt des lüsternen Popen ganz besonders eindrucksvoll gezeichnet. 81. Der musikalische Pope Der Text ist der Sammlung: Russische Volksdichtung in Baschkirien, Nr. 36, entnommen (s. Anm. zu Nr. 13). Aufgezeichnet im Jahre 1949 durch M. Sabinina und V. Edelštejn von dem Kolchosbauern A. I. Olejnikov im Dorf Tjoply Kljutsch, Kreis Kiginsk (Baschkirische ASSR). Das Sujet dieses scharf satirischen Märchens begegnet bei russischen Erzählern verhältnismäßig selten. 82. Der listige Bauer (AT 1540 + 1528; vgl. BP II, 104) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. III, Nr. 391, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Zeit und Ort der Aufzeichnung des Textes werden von Afanas’ev nicht angegeben. Wir haben es hier mit einem der meistverbreiteten russischen adelsfeindlichen Märchen zu tun, dessen Sujet sich seit dem 18. Jh. in Publikationen nachweisen läßt. 83. Der Herr und der Zimmermann Der Text ist der Sammlung N. E. Ončukovs: Die Märchen des Nordens, Nr. 223, entnommen. Die Sammlung N. E. Ončukovs ist eine der besten russischen Märchensammlungen. Außer den Aufzeichnungen Ončukovs enthält sie auch solche von Akad. A. A. Šachmatov und des Schriftstellers M. M. Prišvin. Ončukov hat erstmals in der russischen Wissenschaft sein Märchenmaterial nach Erzählern geordnet, wie dies 1872 A. F. Gilferding schon für die Bylinen getan hatte. Ober jeden Erzähler wird das Notwendige mitgeteilt. Den vorliegenden Text hat Ončukov in einer Herberge von einem zufällig Vorbeikommenden aufgezeichnet.
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Es handelt sich um eines der pointiertesten und ausdrucksvollsten russischen Märchen mit adelsfeindlicher Tendenz. 84. Der Herr als Schmied Der Text ist der Sammlung: Märchen und Überlieferungen aus der Gegend von Samara, Nr. 39, entnommen (s. Anm. zu Nr. 11). Aufgezeichnet durch D. N. Sadovnikov von dem Märchenerzähler Abram Novopol’cev (s. Anm. zu Nr. 11). Eines der verbreiteten adelsfeindlichen Märchen, die die Ungeschicklichkeit der Adligen und ihre Unfähigkeit zur Arbeit verspotten. 85. Der Herr und der Bauer (Andreev *1529 II; AT 1529B*) Der Text ist der Sammlung: Märchen und Oberlieferungen aus der Gegend von Samara, Nr. 41, entnommen (s. Anm. zu Nr. 11). Aufgezeichnet durch D. N. Sadovnikov von dem Märchenerzähler Abram Novopol’cev (s. Anm. zu Nr. 11). Eines der zahlreichen adelsfeindlichen Märchen, von Novopol’cev mit der Meisterschaft und dem Humor erzählt, die für ihn so kennzeichnend sind. 86. Die böse Herrin (Andreev *901 I; AT 905A*) Der Text ist der Sammlung der Brüder B. und Ju. Sokolov: Märchen und Lieder aus der Gegend von Belosersk, Nr. 45, entnommen (s. Anm. zu Nr. 31). Aufgezeichnet im Jahre 1908 durch die Brüder Sokolov von dem Märchenerzähler G. E. Medvedev, einem Bauern aus dem Dorfe Terechowa-Malachowa, von dem die Sammler eine beträchtliche Zahl Märchen aufnehmen konnten. Der Text Medvedevs, eine Variante des in der Folklore aller Völker verbreiteten Sujets von der Heilung einer launischen und zänkischen Frau (der Widerspenstigen Zäh-
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mung), zeichnet sich durch seine scharf ausgeprägte adelsfeindliche Tendenz aus. 87. Wie ein Bauer Gänse teilte (AT 1533; Andreev *1580; vgl. BP II, 94-S. 360) Der Text ist der Sammlung M. Azadovskijs und L. Eliasovs: Die Märchen Magajs, Nr. 24, entnommen (s. Anm. zu Nr. 22). Möglicherweise hat der Erzähler E. I. Sorokovikov, der mit Begeisterung Bücher liest, diese verbreitete Volksanekdote aus einem Buch entnommen, denn sie ist häufig in Schulbüchern abgedruckt worden. 88. Von der Not (Andreev 1528 I) Der Text ist der Sammlung: Märchen und Überlieferungen aus der Gegend von Samara, Nr. 67, entnommen (s. Anm. zu Nr. 11). Aufgezeichnet durch D. N. Sadovnikov von dem Märchenerzähler Abram Novopol’cev (s. Anm. zu Nr. 11). Es handelt sich hier um eine meisterhaft erzählte Variante eines im russischen Repertoire weitverbreiteten Sujets, das zum Zyklus der adelsfeindlichen Märchen gehört. 89. Die Herrin und die Kücken (Vgl. AT 1218; vgl. BP 1,32) Der Text ist der Sammlung Ju. M. Sokolovs: Gutsherr und Bauer, S. 130, entnommen. Aufgezeichnet vor der Revolution im Gouvernement Nishni-Nowgorod und von Ju. M. Sokolov erstmals veröffentlicht in seinem Aufsatz Čto poet i rasskazyvaet derevnja (Was das Dorf singt und erzählt), in: Žizn’ (Leben), 1924, Nr. 1. S. 286-287. Dieses so markante und witzige adelsfeindliche Märchen ist in der hier vorliegenden Aufzeichnung mehrfach veröffentlicht und auch in Unterhaltungsveranstaltungen und über den Rundfunk dargeboten worden. Das hat dazu beige-
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tragen, daß das Märchen im Repertoire der Erzähler erneut Verbreitung fand. 90. Der Herr und der Hund Der Text ist der Sammlung Ju. M. Sokolovs: Gutsherr und Bauer, Nr. 32, entnommen (s. Anm. zu Nr. 89). Aufgezeichnet vor der Revolution im Gouvernement Nishni-Nowgorod und von Ju. M. Sokolov erstmals veröffentlicht in seinem Aufsatz: Was das Dorf singt und erzählt (s. Anm. zu Nr. 89), S. 287-289. Eine Variante dieses adelsfeindlichen Märchens ist aus einer Veröffentlichung des 18. Jh. bekannt. 91. Das Urteil des Schemjaka (AT 1660) Der Text ist der Sammlung: Russische Volksdichtung in Baschkirien, Nr. 38, entnommen (s. Anm. zu Nr. 13). Aufgezeichnet im Jahre 1948 durch T. N. Ljaško von dem Märchenerzähler S. T. Tjaptin im Dorf Achlystino, Bezirk Pokrowskoje (Baschkirische ASSR). Dieses Märchen ist mit der aus dem 17. Jh. stammenden Erzählung vom ungerechten Richter verwandt, die ihre Entstehung der Folklore verdankt und ihrerseits wieder zur Beliebtheit dieses Sujets in späteren Zeiten beigetragen hat. 92. Ein Lügenmärchen (небылица) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. III, Nr. 426, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Aufgezeichnet im 19. Jh. durch Borisov im Kreis Schenkursk, Gouvernement Archangelsk. Lügenmärchen (bzw. die sogenannten „Verkehrte-WeltMärchen“ [перевертни]) bilden im russischen Erzählerrepertoire eine besondere Gruppe von Scherzmärchen. Indem sie die dem Märchen eigene „Widersinnigkeit“ bis ins Absurde steigern, parodieren sie gleichsam die Orientierung des Märchens auf die dichterische Erfindung, die ja sein wichtigstes Genremerkmal darstellt.
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93. Ein Neckmärchen (докучная сказка) Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische Volksmärchen, Bd. III, Nr. 528, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1). Aufgezeichnet im 19. Jh. im Kreis Nikolsk, Gouvernement Wologda. Neckmärchen sind eine Sonderform des Scherzmärchens. Sie werden vom Märchenerzähler entweder als Mittel benutzt, aufdringliche Zuhörer loszuwerden, die ihn mit Bitten um ein Märchen peinigen, oder dazu, ihre Neugier und ihren Wunsch, ein Märchen zu hören, noch zu verstärken. – Neckmärchen sind thematisch sehr mannigfaltig, beruhen aber im wesentlichen auf ein und demselben Prinzip: der Erzähler bietet einen traditionellen Märchenanfang oder etwas Ähnliches und erklärt das Märchen danach völlig unerwartet für beendet; oder er wiederholt ein und dasselbe Motiv, bis seinen Zuhörern die Geduld ausgeht.
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