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Die hier vorgestellte Systematik der Kleinbuchstaben liefert wichtige heuristische Entscheidungskriterien, wenn ein Buchstabe, was oft vorkommt, mehrere Zerlegungsmöglichkeiten erlaubt. So analysieren wir
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Beatrice Primus
Der dritte Lautparameter, die Lippenrundung, wird graphematisch nicht direkt wiedergegeben, weil er sich aus Normalverteilungen für Merkmale ableiten lässt. Hintere nicht-tiefe Vokale sind im prototypischen Fall rund, wie /˲/ und /ǚ/, alle anderen Vokale sind im prototypischen Fall nicht rund, wie /D/, /İ/ und /ǰ/ (vgl. Hall 2000). Das Deutsche verfügt auch über Vokalbuchstaben mit Trema, also <ü, ö, ä>, die komplexe Grapheme darstellen (vgl. Gallmann 1985). Die lautbezogene Funktion des Tremas ist, den Lautwert /nicht vorne/, den die nicht-kanonischen Buchstaben anzeigen, durch /vorne/ zu ersetzen, vgl. Ödem, Büro, Pädagoge. Alle anderen Merkmale des betreffenden Lautes bleiben erhalten. Die Tremaregel hat als Spezialregel Vorrang über die Grundregel (3b) für nicht-kanonische Buchstabenformen und setzt sich somit durch. Der Zusammenhang zur phonologischen Umlautregel ergibt sich automatisch. Die phonologische Umlautregel ersetzt bei Wortverwandten den Lautwert /nicht vorne/ durch /vorne/, ist also eine Frontierung. Man vergleiche etwa die Aussprache von Wagen – Wägen, Bogen – Bögen und dumm – dümmer. Als Fazit der merkmalsbezogenen Analyse halten wir fest: die drei qualitativen Vokalmerkmale Artikulationsort, Mundöffnung und Lippenrundung korrespondieren mit graphematischen Merkmalen. Die kanonische oder nicht-kanonische Ausrichtung von Kopf und Coda dient der Wiedergabe eines vorderen oder hinteren Artikulationsortes. Der Kontrast zwischen runder und gerader Kopflinie entspricht der Unterscheidung zwischen nicht-geschlossener und geschlossener Mundöffnung. Die Lippenrundung wird nicht direkt wiedergegeben, sondern ergibt sich durch die phonologische Normalverteilung: hintere nicht-tiefe Vokale sind rund, alle anderen Vokale sind im unmarkierten (prototypischen) Fall nicht-rund. Vordere runde Vokale sind markiert und müssen durch ein Trema über dem Buchstabenkörper für einen hinteren Vokal angezeigt werden, wie bei <ö> und <ü>. Vokalbuchstaben mit Trema indizieren generell einen vorderen Artikulationsort. In (5) werden diese Korrespondenzen in einem Vokaldreieck visualisiert und mit Buchstabenformen illustriert: (5)
/vorderer Laut/
/geschlossener Laut/
i
/nicht-geschlossener Laut/
/nicht-vorderer Laut/
ü
u e, ö ä
o a
/offenerer Laut als /İ//
Strukturelle Grundlagen des deutschen Schriftsystems
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Das Trema ersetzt den Lautwert /nicht vorne/ durch /vorne/ für nicht-kanonisch ausgerichtete Vokalbuchstaben. Aus der merkmalsbasierten Vorgehensweise ergeben sich für die Didaktik einschlägige Erkenntnisse (vgl. Berkemeier 1997, 2003, Primus 2006). In herkömmlichen Darstellungen finden wir für jedes Phonem mindestens eine eigene Grundregel. Wenn man Vokalquantität und Schwa als silbenbasierte Erscheinungen zunächst außen vor lässt, so werden für sieben Kurzvokale sieben einzelne Grundkorrespondenzregeln aufgestellt (vgl. Eisenberg 32006: 308, Augst/Dehn 32007: 86). Die Zahl der Grundregeln steigt mit der Zahl der Phoneme. Wir hingegen benötigen viel weniger Regeln als Phoneme. Wir kommen mit nur sechs Regeln aus, wie in (2a, b), (3a, b), (4) und der Tremaregel angegeben. Alle außer der Tremaregel gelten auch für Konsonantenbuchstaben, was hier aus Platzgründen nicht demonstriert werden konnte. Wenn man Vokale und Konsonanten zusammenfasst, ist unser Modell deutlich sparsamer als herkömmliche Analysen. Dieser Vorteil ergibt sich aus der klassifizierenden Funktion von Merkmalen. Nützlicher als die rein quantitative Ersparnis ist, dass unser Ansatz die Fakten nicht nur beschreibt, sondern auch erklärt, d. h. größere Zusammenhänge aufdeckt. Aus Platzgründen werden nur einige exemplarische Zusammenhänge zur Sprache gebracht. Bei der merkmalsbasierten Herangehensweise ergibt sich der phonologische Wert eines Buchstabens unmittelbar aus der Form der Buchstabenteile. So ist bspw. bei der Artikulation offener Vokale die Lippenstellung und Mundöffnung sichtbar größer, bögiger als bei der Artikulation der geschlossenen Laute. Diesen Unterschied geben gerundete vs. gerade Kopflinien unmittelbar, d. h. ikonisch-bildhaft, wieder (vgl. Russ 2000 für ein didaktisches Modell, das auf Mundbildern basiert). Ein weiterer Zusammenhang betrifft die artikulatorische Einfachheit der phonologischen Merkmale. Vordere Laute sind einfacher zu artikulieren und wahrzunehmen als hintere und dementsprechend sind Buchstabenformen für vordere Laute einfacher („kanonischer“) als für hintere Laute, vgl. mit . Ein weiterer merkmalsbasierter Zusammenhang besteht bei den Dehnungsbuchstaben, die sich durch eine runde Kopflinie auszeichnen. Darauf gehen wir später eingehender ein. Ein weiterer didaktisch nutzbarer Vorteil des merkmalsbasierten graphematischen Modells ist, dass es auf systematische phonologische Lautkontraste und mithin auf Lautklassen zugreift und damit zur Stärkung des phonologischen Bewusstseins, einer wichtigen Voraussetzung für die Schrifteignung, unmittelbar beiträgt. Wichtig für die Didaktik ist, dass graphematische Merkmale kognitiv reale Bezugsgrößen darstellen. Es gibt inzwischen mehrere Untersuchungen, die
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ihre kognitive Validität bei der Buchstabenerkennung und -produktion 8 sowie beim Schriftspracherwerb bestätigen 9 . So zeigt eine aus unserer Perspektive vorgenommene Analyse von Erwerbsdaten, dass in vorschulischen, voralphabetischen Erwerbsphasen die Prinzipien der Buchstabenstruktur eigenaktiv erworben werden. Solche Prinzipien sind, dass Buchstaben auf einer horizontalen Linie aufeinander folgen und dass sie aus mindestens einer vertikalen (runden oder geraden) Linie bestehen. Wie (6) zeigt, produzieren bereits Drei- bis Vierjährige im vorschulischen Selbstlernprozess Buchstabenvorgänger, die diesen Prinzipien folgen (vgl. weitere Daten in Gombert/Fayol 1992). (6)
Schriftprodukt im Alter von 3:8 Jahren (Gombert/Fayol 1992: 31)
Als Fazit halten wir fest, dass Buchstabenmerkmale die kleinsten relevanten Größen unseres Schriftsystems darstellen. Den Strukturgrößen der nächsten Ebene, den Buchstaben und Graphemen, kommt in einer merkmalsbasierten Graphematik eine bescheidenere Rolle zu als in herkömmlichen Modellen. Grapheme braucht man etwa, um bestimmte, bei der Silbentrennung unzerlegbare und nur mit einem Laut korrespondierende Buchstabenverbindungen wie z. B. <sch> in mi-schen oder
2.2
Silbenstrukturen
Buchstaben und Grapheme fügen sich zu Silbenstrukturen zusammen. Silbenstrukturen wurden für die Phonologie der Lautsprachen entwickelt und eingehend erforscht, sie spielen aber auch in neueren Ansätzen zur Graphe-
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Vgl. Gibson et al. 1963, Johnson 1981, McClelland/Rumelhart 1981, Kolers 1983, Van Galen 1991, Schomaker/Segers 1999, Thomassen 2003. Vgl. Gibson/Levin 1975, McCarthy 1979, Berkemeier 1997, 2003. Die Auffassung, dass Grapheme suprasegmentale Einheiten sind, findet man bei Weingarten (2004).
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matik eine immer wichtigere Rolle. 11 Im Deutschen sind drei Silbentypen relevant: betonte Vollsilben, unbetonte Vollsilben und Reduktionssilben. 12 Die wortakzenttragende Vollsilbe bezeichnen wir als Tonsilbe. Die betonbaren Vollsilben heben sich strukturell durch einen verzweigenden Nukleus von den unbetonbaren Reduktionssilben ab, die einen einfachen Nukleus haben, wie (1) für schrieben und (9) für irre zeigt. 13 Wir gehen davon aus, dass Laut- und Schriftsilben analog strukturiert sind: beide Systeme verfügen über die in (1) angegebenen Struktureinheiten und strukturieren diese auch weitgehend, aber nicht immer analog. Da Silbenstrukturen und alle weiteren suprasegmentalen Ebenen zur Phonologie gehören, ordnen wir ihre Verschriftung der phonographischen Ebene zu. In Einklang mit der neueren Phonologie ist es sinnvoller, das phonographische Prinzip gemäß der phonologischen Strukturhierarchie in mehrere Subprinzipien aufzuteilen, als silbische Schreibungen, wie in den meisten anderen Arbeiten zum Schriftsystem, einem separaten Prinzip zuzuordnen. In vielen Arbeiten beschränkt sich die Funktion der Silbeneinheit auf die Worttrennung am Zeilenende, womit nur eine ihrer trivialsten Funktion erfasst wird. Ausgehend von Günther (1992) und Geilfuß-Wolfgang (2007) nehmen wir an, dass die Worttrennung am Zeilenende durch drei hierarchisch geordnete Grundregeln determiniert wird. Erste Priorität hat die Trennung nach morphologischen Bestandteilen, falls ein Kompositum oder eine Präfixbildung vorliegt, die als solche erkennbar ist: ver-armt, Erz-engel, Ur-enkel. Bei undurchsichtigen morphologischen Bildungen operiert die morphembasierte Trennregel nach der Reform fakultativ: hin-auf neben hi-nauf, Synonym neben Sy-nonym. Liegt keine morphologische Bildung im Sinne der morphembasierten Trennregel vor, dann trennt man graphembasiert (Günther 1992): das letzte (und ggf. einzige) Graphem zwischen zwei Vokalbuchstaben kommt auf die nächste Zeile: war-te, fin-den, ra-sche, wid-rig, dunk-le. Die Trennung nach Sprechsilben, die in den meisten Standardwerken irreführenderweise zuerst genannt wird, operiert eigenständig nur bei Fremdwörtern wie in Fe-bruar (neben Feb-ruar), Ma-gnet (neben Mag-net) sowie
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Vgl. Butt/Eisenberg 1990, Prinz/Wiese 1990, Günther 1992, Maas 2000, Primus 2000, 2003. Psycholinguistische Evidenz liefern z. B. Caramazza/Miceli 1990, Badecker 1996, Domahs/de Bleser/Eisenberg 2001, Weingarten 2004, Nottbusch 2008. Eine abgewandelte Auffassung findet man in den Arbeiten von Maas (1992, 2000) und Röber-Siekmeyer (1993 u. a.). Die Annahme eines verzweigenden Nukleus für Vollsilben geht auf Wiese (22000) zurück (ähnlich auch Becker 1996) und wurde auf die Schreibsilbe von der Autorin übertragen (Primus 2000, 2003). Wenn man auf diese Annahme verzichtet, was prinzipiell möglich ist, kann man die weiter unten besprochene Besonderheit der zweiten Nukleusposition nicht so elegant erfassen.
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beim Aufeinandertreffen zweier Vokalbuchstaben wie in na-ive (versus Mai) und Zo-ologe (versus Zoo). 14 Die mit >> notierte Regelhierarchie für die Worttrennung am Zeilenende und Trennvarianten, die nach der neuen Rechtschreibung zugelassen sind, zeigt (7): (7)
Regelhierarchie für die Worttrennung am Zeilenende und orthographisch zugelassene Dubletten: morphologische >> graphematische >> phonologische Trennregel ver-armt dunk-le Zo-ologe hin-auf hi-nauf Fe-bruar Feb-ruar
Die Regelhierarchie in (7) ist experimentell teilweise gut motiviert. So belegen neuere Studien, dass Morphemfugen beim Schreiben (vgl. Nottbusch 2008) und Lesen (vgl. Geilfuß-Wolfgang 2007) deutlicher hervortreten als Silbengrenzen. Im Rechtschreibduden und in manchen Standardwerken wird das System der Worttrennung am Zeilenende falsch konzeptualisiert. Der Vorrang der graphembasierten Trennregel gegenüber der phonologischen wird nicht erfasst. In vielen Fällen ergibt sich eine Trennung, die beiden Regeln entspricht, wie etwa bei war-te und fin-den. Die Regelhierarchie erkennt man nur im Konfliktfall, wenn die graphematische Trennstelle nicht mit der phonologischen Silbengrenze zusammenfällt. Bei wid-rig und dunk-le ist bspw. der Trennstrich nicht an der phonologischen Silbengrenze, sondern gemäß der dominierenden graphembasierten Trennregel vor dem letzten intervokalischen Graphem platziert. Die Relevanz der graphematischen Silbenstruktur zeigt sich besonders deutlich bei Schreibungen, die suprasegmentale lautliche Kontraste, allen voran die Vokalquantität, wiedergeben. Statt wie in der herkömmlichen Phonologie zwei Vokalreihen anzunehmen, die sich durch Länge und Gespanntheit voneinander unterscheiden, vgl. /i:/ wie in Lied vs. /Õ/ wie in litt und litten, gehen neuere phonologische Ansätze von einer Vokalreihe aus (vgl. Becker 1996, Wiese 22000). Der Längen- und Gespanntheitskontrast ist als Folgeerscheinung aus der silbenstrukturellen Einbettung des Vokals ableitbar: ein Vokal, der beide Nukleuspositionen belegt, ist immer gespannt und unter Betonung auch lang. Die Korrelation Lang – Gespannt ist nur bei /İ:/ wie in Ähre aufgebrochen (vgl. Wiese 22000 für eine Erklärung). Ein Vokal, der nur eine Nukleusposition besetzt, ist immer ungespannt und kurz. Diese
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Es gibt auch Spezialregeln, wie das Verbot der Abtrennung einzelner Vokale (vor der Reform 1996 und nach der Reform 2006) oder das Verbot der Trennung von <st> (vor der Reform von 1996) oder von
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Auffassung erlaubt es auch, die Phonem-Graphem-Korrespondenzen auf eine Vokalreihe zu reduzieren, wie im vorigen Abschnitt gezeigt. Die Wiedergabe suprasegmentaler lautlicher Kontraste geschieht im Deutschen wie in anderen Sprachen nicht durch unterschiedliche Buchstaben, sondern buchstabenübergreifend und mithin auch graphematisch suprasegmental. Sie ist weniger systematisch, ist an die zweite Nukleusposition gekoppelt und hebt dort die Grundkorrespondenzregeln zwischen qualitativen Lautmerkmalen und Buchstaben bzw. Buchstabenmerkmalen auf. Wir besprechen zunächst die Dehnungszeichen und beschränken uns auf Vokalbuchstaben in dieser Funktion, wie in Seen, sie, Haar und Moor (zum Dehnungs-
a. Nukleus
S s H M
V | e i a o
X | e n e a r o r |
b. Nukleus
s S H B
V | e a e ä
X | i n i t e u u m e |
Die in der zweiten Nukleusposition komplementär verteilten Buchstaben lassen sich durch Buchstabenmerkmale auseinanderhalten. Die stummen Buchstaben <e, a, o> haben einen gerundeten Kopf, während der Kopf der lautlich korrespondierenden Buchstaben gerade ist. Was die Doppelkonsonanzschreibung (auch Schärfungsschreibung) wie in Betten und Lämmer betrifft, so wird sie im Rechtschreibduden (222004: 863, § 2) und in manchen Standardwerken wie folgt beschrieben: „Folgt im Wortstamm auf einen betonten kurzen Vokal nur ein einzelner Konsonant, so kennzeichnet man die Kürze des Vokals durch Verdopplung des Konsonantenbuchstabens“. Daraus ergibt sich Bett, Betten, Lamm und Lämmer. Eisenberg (72005, 32006) hingegen erklärt die Doppelkonsonanzschreibung phonologisch durch einen Gelenkkonsonanten wie in Betten und Lämmer: Ist ein Konsonant ein Silbengelenk, so wird er durch Verdopplung des Buchstabens
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für den Konsonanten dargestellt. Gelenkkonsonanten sind eine Folge der silbenstrukturellen Besonderheit des Deutschen, dass ein betonter Kurzvokal nie in offener Silbe stehen kann. Lamm und Bett befolgen dieses Gesetz durch einen silbenschließenden Konsonanten, Betten und Lämmer durch einen Gelenkkonsonanten. Ein Gelenkkonsonant ist dadurch charakterisiert, dass er eine Silbe schließt und zugleich die nächste Silbe eröffnet, wie in (9a) gezeigt. Da Gelenkkonsonanten nur nach Kurzvokal vorkommen, zeigt die graphematische Konsonantenverdopplung auch Vokalkürze an, aber eben nur indirekt. Außerdem sind beide Erscheinungen, Gelenkbildung und Vokalkürze, in neueren phonologischen Ansätzen silbenstrukturelle Erscheinungen. Ein eindeutiger konzeptueller Vorteil der Analyse von Eisenberg liegt in der Tatsache, dass die Verdopplung des Konsonantengraphems unmittelbar aus den Eigenschaften des entsprechenden phonologischen Konsonanten abgeleitet wird. (9)
Phonologisches Silbengelenk (a) und graphematische Doppelkonsonanz (b) (a)
V V | N A N | | V C C V | | /i r ԥ/
(b)
V V | N A | V C C | | |
N | V | e >
Der Rechtschreibduden und Eisenberg divergieren in Fällen wie man, Bett und Lamm. Gemäß der Duden-Regel sind Bett und Lamm phonologisch motiviert, da ein betonter Kurzvokal vorliegt, dem im Wortstamm ein einzelner Konsonant folgt. Die Absenz der graphematischen Verdopplung in man ist hingegen eine Ausnahme. Nach Eisenbergs Auffassung ist man regulär, da kein Gelenkkonsonant vorliegt. Aus demselben Grund sind für Eisenberg Bett und Lamm nicht phonologisch motiviert, sondern dem Morphemkonstanzprinzip geschuldet: man schreibt Lamm wegen Lämmer und Bett wegen Betten. Wir kommen auf diese Fälle im nächsten Abschnitt zurück. Unabhängig von dieser Debatte über die Doppelkonsonanzschreibung ist ein silbenstruktureller Zugriff auf sie systemangemessen. Didaktische Ansätze, die für die Doppelkonsonanzschreibung silbenstrukturell basierte Unterrichtsmethoden entwickelt haben, sind besonders erfolgreich (RöberSiekmeyer 1993, Röber-Siekmeyer/Pfisterer 1998, Tophinke/RöberSiekmeyer 2002). Wenn wir die Silbenstrukturpositionen Revue passieren lassen, so ergibt sich folgende Systematik. In der ersten Nukleusposition wird die Vokalqualität viel eindeutiger als bisher angenommen verschriftet, wie im vorigen Abschnitt gezeigt (vgl. a. Primus 2000, 2003). Die zweite Nukleusposition
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der Schreibsilbe ist für die Wiedergabe der Vokalquantität und der mit ihr korrelierenden Gelenkschreibung freigegeben. Dort ist ein stummer Dehnungsbuchstabe und der erste, stumme Bestandteil eines graphematischen Doppelkonsonanten platziert. Auch sonst operieren die graphematisch-phonologischen Korrespondenzen in Abhängigkeit von der Silbenstruktur unterschiedlich gut: im Anfangsrand der Silbe besser als im Endrand (vgl. tu, du vs. Rad, Rat); in der betonten Silbe besser als in der unbetonten Silbe oder Reduktionssilbe (vgl. Zug vs. König). Diese strukturabhängigen Eigenschaften des Schriftsystems korrelieren mit der lautlichen Wahrnehmungsfähigkeit von Kindern: Sie können silbeninitiale Konsonanten besser identifizieren als silbenfinale und irren sich dabei weniger in betonten als in unbetonten Silben (Treiman/Berch/Weatherston 1993). Wichtig ist auch die Erkenntnis, dass qualitative Lautkontraste systematischer und eindeutiger verschriftet werden als suprasegmentale Lautkontraste, zu denen nach neuerer Auffassung Vokalquantität, Gelenkkonsonanten und Schwa gehören. Diese Überlegungen erklären, warum die Aneignung suprasegmentaler Kontraste fehlerträchtiger und mit Verzögerung gegenüber der Aneignung qualitativer Kontraste erfolgt (u. a. Weingarten 2003, Röber 2006). Als Fazit halten wir fest, dass der graphematischen silbischen Strukturierung im Schriftsystem eine bedeutende Rolle zukommt und dass die Aneignung suprasegmentaler phonographischer Erscheinungen, allen voran der Erwerb der Dehnungs- und Gelenkschreibung, silbenbasierte Unterrichtsmodelle erfordert.
2.3
Fußstruktur und Akzent
Auch die Fußstruktur und die damit korrelierende Akzentstruktur der Wörter sind graphematisch relevant. Der Fuß ist eine Einheit, die genau eine Tonsilbe und gegebenenfalls eine oder zwei unbetonte Silben enthält. Die Fußstruktur von schrieben in (1) und von irre in (9a) ist ein Trochäus mit einer Tonsilbe und einer Reduktionssilbe. Dieser Fußtyp ist das kanonische Muster für das Deutsche, dem sehr viele flexionsmorphologische Formen folgen (vgl. Wiese 22000, Eisenberg 32006). Mit Bezug auf die kanonische Fußstruktur können wir die Systematik der Verschriftung der Vokalquantität gut in den Griff bekommen. 15 In (10) wer-
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Die Abhängigkeit der Gelenkschreibung von der Akzentstruktur ist zwar experimentell belegt (Weingarten 2000), die hier präsentierten fußbezogenen Generalisierungen blieben in der bisherigen Forschung aber unbeachtet. Zur Rolle des Trochäus als basales Muster im Schriftspracherwerb vgl. den Beitrag von Krauß in diesem Band.
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Beatrice Primus
den die Verhältnisse im kanonischen Trochäus bestehend aus Tonsilbe und nachfolgender Reduktionssilbe als Synopse dargestellt (unter Ausschluss von Eigennamen): (10) Die Verschriftung der Vokalquantität in der Tonsilbe eines kanonischen Trochäus vorangehender Kurzvokal ļ graphematische Doppelkonsonanz (regulär, produktiv) Betten Lacke lottern Happen offen lassen Widder irren wirren
keine graphematische Doppelkonsonanz ļ vorangehender Langvokal (regulär, produktiv) beten Lake Lote hapern Ofen lasen wider Iren Viren
Langvokal ĺ Dehnungszeichen (irregulär, unproduktiv) Beeten
doofen wieder ihren vieren
In der ersten Zeile erscheinen die entscheidenden beiden Silbenstrukturpositionen umrahmt: in allen drei Fällen steht <e> in der ersten Nukleusposition. Hier wird die Vokalqualität eindeutig fixiert. In der zweiten Nukleusposition erscheint in Betten ein stummer Gelenkanzeiger und in Beeten ein stummer Dehnungsbuchstabe. In beten wird <e> mit beiden Nukleuspositionen assoziiert und zeigt damit Vokallänge an, was oberflächlich betrachtet nicht zu erkennen ist. Die Verschriftung der Vokallänge wie in beten (zweite Spalte) ist systematisch und erklärt sich, wenn man Gelenkschreibungen im kanonischen Trochäus als Referenz heranzieht (erste Spalte). Um kanonische Trochäen zu erhalten, ist meist eine Flexionsform vonnöten (vgl. den Begriff der Explizitform in Eisenberg 32006). Beachten muss man lediglich, dass Gelenkschreibungen bei komplexen Graphemen nicht möglich sind, weil in der zweiten Nukleusposition keine komplexen Grapheme stehen können (vgl. Neef/Primus 2001): *raschscheln, *lachchen, *laßßen. Dies bedeutet, dass bei komplexen intervokalischen Graphemen die Vokalquantität nicht eindeutig erkennbar ist, vgl. duschen mit Lang- oder Kurzvokal und huschen mit Kurzvokal. Ansonsten ist die Verschriftung von Gelenkbildung und mithin Vokalkürze durch eine graphematische Doppelkonsonanz im kanonischen Trochäus regulär und produktiv (vgl. jobben, joggen). Erst die Regelhaftigkeit der Gelenkschreibung bedingt die Regelhaftigkeit ihrer Absenz (zweite Spalte): Wenn sie nicht vorliegt, wie in beten, kann man im kanonischen
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Trochäus auf Vokallänge schließen. Dies gilt per logisches Gesetz: „Wenn ein Silbengelenk und als Folge davon ein Kurzvokal vorliegt, dann wird das Graphem, das dem Gelenkkonsonanten entspricht, verdoppelt“ (erste Spalte). Dies ist logisch äquivalent mit „Wenn kein doppelter Konsonantbuchstabe vorliegt, dann ist dieser Konsonant kein Gelenk und der vorangehende Vokal nicht kurz“ (zweite Spalte). Eine explizite Dehnungsgraphie (dritte Spalte) ist folglich beim kanonischen Trochäus nicht nötig. Sie ist in der Tat unproduktiv, auch wenn für den Langvokal /i:/ im nativen Wortschatz
keine graphematische Doppelkonsonanz ĺ vorangehender Langvokal regulär: Lima, Koma irregulär: Limit, blamiert
Langvokal ĺ Dehnungszeichen regulär und produktiv in einigen betonten Suffixen Allee, Armee, Buklee Magie, Chemie radier(en), Quartier, Barbier
Das einzige produktive ‚Dehnungs‘zeichen ist das stammfinale <e>. Es zeigt an, dass der Stamm eine nichtkanonische Akzent- bzw. Fußstruktur hat. Wir fassen zusammen: Eine hierarchische Strukturierung oberhalb und unterhalb der Phonem- und Buchstabenebene scheint prima facie unnötig komplex. Nichtsdestotrotz wird diese Komplexität durch mehrere große Vorteile wettgemacht. Zum einen erlauben die verschiedenen Struktureinheiten einen systematischeren Zugriff auf phonographische Regularitäten als herkömmliche Ansätze, die mehr Unregelmäßigkeiten in Kauf nehmen müssen. Zum anderen können wir größere Zusammenhänge besser verstehen.
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Morphologische Strukturen
In diesem Abschnitt werden wir einige exemplarische Schriftsystemerscheinungen betrachten, die auf die morphologische Wortstruktur Bezug nehmen. Morphologisch motivierte Schreibungen findet man in der syntagmatischen und in der paradigmatischen Dimension. Die syntagmatische Dimension bezieht sich auf miteinander verknüpfte Morpheme und deren Morphemgrenzen, wie in ver-armen. Die paradigmatische Dimension erfasst Morpheme, die in einer morphologischen Verwandtschaft zueinander stehen, wie Bett – %etten, alt – älter und offen – öffnen.
3.1
Paradigmatik
Wir fangen mit paradigmatisch bedingten Schreibungen an. Diese werden dem graphematischen Prinzip der Morphemkonstanz (auch Stamm- oder Schemakonstanz) zugeordnet, wonach paradigmatisch aufeinander bezogene Morpheme ähnlich oder gleich geschrieben werden. Von den Erscheinungen, die auf Morphemkonstanz zurückgeführt werden, sind die in i)–iii) aufgelisteten besonders prominent (vgl. Dürscheid 32006, Kap. 4.4; Fuhrhop 3 2009, Kap. 4): i) die Schreibung mit <ä> für /İ/, wenn dasselbe Morphem in anderen Umgebungen an dieser Stelle mit verschriftet wird: Hände wegen Hand, älter wegen alt; ii) die Auslautverhärtung, wonach alle Obstruenten wie /b, d, g, v, z, ž/ in der Silbenkoda stimmlos sind, wird nicht verschriftet, wenn dasselbe Morphem in anderen Umgebungen an dieser Stelle einen stimmhaften Obstruenten schriftlich wiedergibt: Tag wegen Tage, Hund wegen Hundes; iii) morphemfinale graphematische Doppelkonsonanz in Eisenbergs Auffassung, wie im vorigen Abschnitt bereits erwähnt: Bett wegen Betten, Kuss wegen Küsse. In den in i)–iii) beschriebenen Fällen ist die Schreibung durch eine paradigmatisch verwandte Wortform motivierbar, wie angegeben. Ob sie auch phonologisch motiviert werden kann, hängt davon ab, wie man die phonographischen Korrespondenzen auffasst. Wir erinnern uns an die verschiedenen Auffassungen über die graphematische Doppelkonsonanz. Nach der Duden-Regel wird sie durch einen betonten Kurzvokal, dem ein Einzelkonsonant folgt, ausgelöst: Bett, Betten, Lamm, Lämmer. In der Analyse Eisenbergs ist die Doppelkonsonanzschreibung phonologisch durch einen Gelenkkonsonanten wie in Betten und Lämmer motiviert. Die beiden Auffassungen konkurrieren in Fällen wie Bett und Lamm. Nach der Duden-Regel sind auch
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diese Fälle phonologisch motiviert, weil ein betonter Kurzvokal vorliegt. Nach Eisenbergs Auffassung sind solche Fälle dem Morphemkonstanzprinzip geschuldet, wie in iii) weiter oben angegeben, weil kein Silbengelenk vorliegt. Beide Auffassungen benötigen das Morphemkonstanzprinzip, allerdings in unterschiedlichen Bereichen. Für Eisenbergs Auffassung spricht eine grundsätzliche Beobachtung. Kennzeichnend für graphematische Formen, die durch paradigmatische Morphemkonstanz motiviert sind, ist, dass sie nicht vollständig vorhersagbar sind. So hat die paradigmatisch motivierte <ä>-Schreibung Ausnahmen: Hände wegen Hand, aber behende (nach der Reform von 2006 behände); älter wegen alt, aber Eltern. In diesem Bereich liegt eher ein musterbasiertes denn regelbasiertes System vor. Solche Muster bzw. Schemata entstehen durch Analogien mit bereits vorhandenen, musterstiftenden Formen (vgl. Weingarten 2000). Eisenbergs Regel kann im Gegensatz zur Duden-Regel erklären, dass die phonographische Gelenkschreibung (Betten, Küsse, Busse) im kanonischen Trochäus, wie im vorigen Abschnitt gezeigt, vollständig regulär ist, während die paradigmatisch motivierte Doppelkonsonantschreibung Ausnahmen hat: Bus trotz Busse, fit trotz fitter. Zur besseren Identifizierbarkeit von Morphemen tragen auch morphemdifferenzierende Schreibungen bei, die herkömmlich dem Prinzip der Homonymievermeidung zugeordnet werden. Gleichlautende, aber bedeutungsverschiedene Morpheme (Homonyme bzw. Homophone) können im Schriftsystem differenziert werden. Beispiele sind: dehnen – denen, Lid – Lied, Leib – Laib, das – dass, malen – mahlen. Zusammenfassend halten wir fest, dass morphologisches paradigmatisches Wissen von zentraler Bedeutung ist, sei es, weil wir von der Phonographie abweichen müssen, um die Identität eines Morphems graphematisch zu wahren, sei es, weil wir Flexionsformen für einen kanonischen Trochäus erzeugen müssen, um die Verschriftung der Vokalquantität besser zu verstehen.
3.2
Syntagmatik
Wenden wir uns nun der syntagmatischen Morphemstrukturebene zu. Syntagmatisch komplexe Wörter spielen, wie bereits erwähnt, eine wichtige Rolle bei der Worttrennung am Zeilenende, wie die Trennungen von verarmen und hin-auf belegen. Neuere Forschungen erklären auch die wortinternen Interpunktionszeichen Bindestrich und Apostroph mit dem Vorliegen besonderer Morphemstrukturen (Bunþiü 2004, Bredel 2008, Fuhrhop 2008). Besonders innovativ ist der Ansatz von Bredel, der sich durch zwei (voneinander unabhängige) Hauptan-
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nahmen von bisherigen Auffassungen abhebt: i) Die Formmerkmale der Interpunktionszeichen sind nicht arbiträr, sondern funktional motiviert. Die Funktion der Einzelzeichen lässt sich aus den Einzelmerkmalen oder -elementen, aus denen sie zusammengesetzt sind, und der Art ihrer Kombination ermitteln. ii) Die Interpunktionszeichen steuern den Leseprozess. Da im Leseprozess auch grammatische Strukturen nach allgemeinen Sprachverarbeitungsstrategien verarbeitet werden, ergeben sich indirekte Bezüge zu grammatischen, u. a. auch morphologischen Strukturen. In Bredels Ansatz gehören Bindestrich (Divis) und Apostroph zur Klasse der Füllerzeichen, die auch den Gedankenstrich und die Auslassungspunkte umfasst. Sie zeichnen sich formal u. a. dadurch aus, dass sie sich nur horizontal ausdehnen können und nicht klitisch sind. Das heißt, rechts und links von ihnen können graphische Zeichen gleicher Klassen stehen. Die Füller instruieren den Leser, dass ein Defekt bei der Verkettung sprachlichen Materials vorliegt. Die verlängerten Füllerzeichen, Gedankenstrich und Auslassungspunkte, zeigen Defekte auf der Satz- und Textebene an; die einfacheren Füller, nämlich Bindestrich und Apostroph, zeigen Defekte innerhalb eines Wortes. Die horizontalen Füllerzeichen, Gedankenstrich und Bindestrich, signalisieren Defekte, die im unmittelbar benachbarten Text behoben werden. Die beiden anderen Füllerzeichen, Auslassungspunkte und Apostroph, zeigen im Text nicht behebbare Defekte, zu denen insbesondere Auslassungen gehören. Diese Systematik wird in (12) zusammengefasst: (12) Bindestrich und Apostroph im System der Füllerzeichen nach Bredel (2008): Defekt im benachbarten Text behoben
nicht behoben
Defekt innerhalb eines Wortes
Defekt auf der Satz- oder Textebene
BINDESTRICH auf- und abschreitende SeeElefanten im heiligen Bezirk APOSTROPH heil’gen
GEDANKENSTRICH Er hatte das Geld – gestohlen
AUSLASSUNGSPUNKTE Er hatte das Geld …
Der Divis kommt in drei Umgebungen vor, die in Standardwerken isoliert voneinander behandelt werden: i) ii) iii)
als Trennstrich am Zeilenende (heili-[Zeilenwechsel]gen), als Bindestrich (See-Elefant) und als Ergänzungsbindestrich (auf- und abschreitende).
Die diesen Umgebungen gemeinsame Eigenschaft lässt sich in der leseprozessorientierten Auffassung Bredels wie folgt angeben: Der Divis instruiert
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den Leser, eine gegebene Buchstabenkette als nicht vollständige Wortstruktur zu erfassen. Der zur Komplettierung erforderliche Wortrest ist jedoch in der unmittelbaren Textumgebung auffindbar. Es handelt sich demnach um einen behebbaren Defekt, eine temporäre Unterbrechung in der Verarbeitung der Wortstruktur. Die Unterbrechung kann wegen des Zeilenendes erfolgen, wie in i), oder aufgrund einer Koordinationsreduktion wie in iii). Bei Komposita wie See-Elefant, Eisenberg-Grammatik, Garmisch-Partenkirchen wird die Unterbrechung auch grammatisch gedeutet. Der Divis wird bevorzugt bei unklaren Morphemfugen (vgl. Seeelefant) oder besonderen Komposita, zu denen Komposita mit Eigennamen wie Eisenberg-Grammatik und Kopulativkomposita wie Garmisch-Partenkirchen zählen. Fälle wie das Auf-ihnEinreden sind nicht durch Wortbildung entstanden und somit morphologisch defekte Wörter. Wie wir sehen, nimmt der Divis bevorzugt auf Morpheme Bezug. Dies gilt auch für die Worttrennung am Zeilenende, deren höchstrangige Regel morphembasiert ist (vgl. (7) weiter oben). Der Apostroph ist wie der Divis auf Wortstrukturen bezogen; im Gegensatz dazu indiziert er jedoch Defekte, die nicht in der Textumgebung behoben werden, sondern vom Leser repariert werden müssen. Die Defekte beziehen sich beim Apostroph – wie Bunþiü (2004) an mehreren Sprachen zeigt – bevorzugt auf Morpheme, wie etwa i) ii) iii)
bei unklaren Genitivsuffixen: Alice’, Andreas’, Andrea’s, bei verkürzten Morphemen: auf’m, ich hab’s, heil’gen, und bei Morphemen, die semiotisch abweichend als Ziffern verschriftet werden: 68’er.
Wie diese Übersicht zeigt, liegt eine phonologische bzw. graphematische Auslassung lediglich in ii) vor. Irreführenderweise wird die Auslassung in Standardwerken als Hauptfunktion des Apostrophs angegeben. Zusammenfassend halten wir fest, dass das deutsche Schriftsystem verschiedene Mittel bereitstellt, um morphologische Strukturen auf paradigmatischer wie syntagmatischer Ebene zu kennzeichnen.
4
Syntaktische Strukturen
In diesem Abschnitt werde ich einige exemplarische, in der Fachliteratur sehr kontrovers und intensiv diskutierte Erscheinungen betrachten, die unter das grammatische (auch syntaktische, semantische oder pragmatische) Prinzip des Schriftsystems fallen: die satzinterne Großschreibung, die Getrennt- und Zusammenschreibung und die Kommasetzung. Da es zur Großschreibung
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und Getrennt- und Zusammenschreibung zwei Beiträge in diesem Band gibt (Bredel 2010, Fuhrhop 2010), werden diese Bereiche hier kürzer behandelt.
4.1
Satzinterne Großschreibung
Die satzinterne Großschreibung bei Substantiven gilt als schwer zu lernen und unsystematisch. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass dies weniger in der Natur unseres Schriftsystems liegt als in der Fehleinschätzung vieler Schriftsystemforscher, Didaktiker und Sprachreformer. Hinsichtlich der satzinternen Großschreibung gibt es zwei konkurrierende Auffassungen, denen verschiedene Nominalitätskonzepte entsprechen (vgl. Gallmann 1997): (13) (a) (b)
Substantive werden mit einem initialen Großbuchstaben geschrieben (Rechtschreibduden, Nerius 42007). Der Kopf jeder Nominalgruppe wird mit einem initialen Großbuchstaben geschrieben (Maas 1992, Röber-Siekmeyer 1993, Günther/Nünke 2005, Bredel 2006, 2010).
Die Auffassung (13a) ist wortartbezogen im Sinne der traditionellen Grammatik. Hier herrscht das lexikonbasierte Wortartkonzept, demzufolge Wortarten Lexemklassen sind (Duden-Grammatik 72005: 132f.). Ein Ausdruck, der nach (13a) mit einem initialen Großbuchstaben geschrieben werden muss, wird über die Lexemklasse Substantiv erfasst. Seine tatsächliche syntaktische Verwendung wird nicht berücksichtigt. Kennzeichnend für diese Wortartkonzeption ist bspw., dass nicht die tatsächliche nominale Flexion als Kriterium auftaucht, sondern die grundsätzliche Flektierbarbeit nach Kasus, Numerus und Genus. Auch spielen typische nominale Begleiter wie Artikel und Adjektiv keine Rolle bei der Wortartbestimmung. Dies ist mit der lexikonbasierten Konzeption konsistent. Das notorische Problem der wortartbezogenen Schreibregel sind Substantivierungen und Desubstantivierungen. Dabei sind nicht Wortartwechsel problematisch, die aus einer expliziten Derivation hervorgehen, wie etwa die Substantivierung Leser aus lesen und die Desubstantivierung schriftlich aus Schrift. Problematisch für diese Auffassung sind Konversionen. Ein Wort wird bei Konversion nicht durch Wortbildungsmittel in eine andere Wortart überführt, sondern lediglich in einer anderen syntaktischen Umgebung und ggf. mit anderer Flexion verwendet, z. B. dunkel werden – dem Dunkelwerden, ich – des Ichs, eine etwas unangenehme Erfahrung – etwas Unangenehmes; die Ängste – angst. Diese Möglichkeit wird im Deutschen intensiv und oft ad hoc genutzt: das Ich, dein Ja, dieses Wenn-und-aber. Die Tatsache, dass grundsätzlich jede Wortart syntaktisch wie ein Substantiv verwen-
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det werden kann, stellt allerdings die gesamte Konzeption der wortartbezogenen Großschreibregel in Frage. Die neuere Schreibregel (13b) verwendet das syntaktische relationale Konzept des Kopfes einer Wortgruppe bzw. Phrase. Alternative Bezeichnungen für Kopf sind Kern oder Regens. Jede Phrase hat einen Kopf. Kopf und Phrase haben dieselben kategorialen Eigenschaften. Dies wird bis zu einem gewissen Grad auch in der traditionellen Terminologie berücksichtigt: Verbalphrase – Verb, Nominalphrase – Nomen, Adjektivphrase – Adjektiv usf. Des Weiteren bestimmt das Verknüpfungspotenzial des Kopfes, durch welche weiteren Kategorien eine Phrase erweiterbar ist. Für den Kopf einer Nominalgruppe sind vorangestellte flektierte adjektivische Attribute (große Angst) und artikelähnliche Wörter an ihrem linken Rand kennzeichnend (diese große Angst). Die neuere Schreibregel (13b) setzt ein distributionelles Kategorienkonzept voraus. Das wichtigste Kriterium sind die syntagmatischen Relationen, die eine Einheit eingeht. Damit wird ihr gesamtes syntaktisches Verknüpfungspotenzial erfasst. In der Praxis begnügt man sich mit einigen symptomatischen Verknüpfungen. Man kann eine Kopfkategorie auch ‚von oben‘, d. h. aufgrund der Kategorie der Phrase bestimmen. In diesem Zusammenhang steht das Kriterium der nominalen syntaktischen Funktion (vgl. Gallmann 1997), das u. a. bei Subjekten und Objekten, die nur durch eine Nominalphrase realisiert werden können, sehr nützlich ist. So haben wir nominale Köpfe in hat Angst und kriegt Angst, weil die betreffenden Verben an dieser Stelle nominale Objekte selegieren. Im Unterschied dazu liegen in mir ist angst und das ist mir schnuppe adjektivische Prädikative wie in mir ist kalt vor. Die syntaktische Schreibregel ist der wortartbezogenen in mindestens drei Punkten überlegen. Erstens vereinnahmt sie die Standardfälle der wortartbezogenen Regel: Substantive sind nämlich die besten Kandidaten für den Kopf einer Nominalphrase (vgl. Bredel 2010). Zweitens hat die syntaktische Auffassung mit Ad-hoc-Konversionen wie dem Dunkelwerden, etwas Unangenehmes, ein robustes Ich keine Probleme. Drittens erklärt sie, warum die zuverlässigsten Kriterien und Proben für die satzinterne Großschreibung die Erweiterung durch Elemente darstellen, die zu nominalen Köpfen hinzutreten können: Die Notwendigkeit der Großschreibung erkennt man an Artikeln und artikelähnlichen Wörtern, wie in vor dem Dunkelwerden, etwas Unangenehmes und das Ich, sowie an vorangestellten flektierten Adjektiven wie in große Angst und robustes Ich. Die Situation ist jedoch nicht so einfach wie bisher dargestellt. Die Neuregelung der Orthographie hat die wortartbezogene Konzeption gestärkt (vgl. Bredel 2006, 2010). Neu eingeführt sind Schreibungen wie im Allgemeinen und Rad fahren. Fälle wie im Allgemeinen, im Wesentlichen, im Folgenden und des Weiteren könnte man syntaktisch aufgrund des ggf. mit der Präposi-
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tion verschmolzenen Artikels erklären. Bei ohne Weiteres (seit 2006 neben ohne weiteres zugelassen) ist diese Erklärung nicht möglich. Auch bei den nach 1996 zugelassenen Schreibungen Rad fahren, Eis laufen und Kopf stehen versagt das Kriterium der Artikel- oder Attributfähigkeit. Rad fahren kann man syntaktisch nur noch durch eine analoge Übertragung erklären: das Verb fahren duldet in anderen Fällen eine erweiterte Nominalphrase als Objekt, vgl. einen neuen BMW fahren. Bei Eis laufen und Kopf stehen versagt auch dieses Kriterium (vgl. auf dem Eis laufen, auf dem Kopf stehen). Seit 2006 sollen daher eislaufen und kopfstehen wieder wie vor 1996 als Norm gelten. Die Großschreibungen nach Präposition (im Allgemeinen, ohne Weiteres) sind dadurch erklärbar, dass die beteiligten Präpositionen (in, ohne) sonst nur Nominalgruppen als Ergänzungen regieren. Die zusammenfassende Synopse (14) zeigt, dass die syntaktische Schreibregel und die oben genannten syntaktischen Kriterien zur Bestimmung eines nominalen Kopfes sowohl den Kernbereich als auch die oben besprochenen Zweifelsfälle der Großschreibung erklären kann: (14) Kern und Peripherie bei der nominalen Großschreibung (Orthographie nach 2006)
artikelfähig attributfähig nominale syntaktische Funktion
einen Mann sehen ja
nicht Rad fahren
im Allgemeinen
nein
ja? (-m)
ohne eislaufen, ist angst/ Weiteres/ kopfstehen schnuppe weiteres nein nein nein
ja
nein
nein
nein
nein
nein
ja (Erg. einer Präp.)
ja (Erg. einer Präp.
nein
nein
ja nur in (Obj.) anderen Verw.en (einen BMW fahren)
Die Synopse belegt außerdem, dass die Zweifelsfälle nicht dem Schriftsystem geschuldet sind, sondern bereits im Sprachsystem angelegt sind. Syntaktische Kategorien sowie andere sprachliche Erscheinungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch mehrere Eigenschaften determiniert sind. Nicht alle Repräsentanten einer Erscheinung haben alle einschlägigen Eigenschaften, wie in (14) am Beispiel der nominalen Kategorie gezeigt (vgl. a. Bredel 2010). Dieser universellen Besonderheit sprachlicher, kognitiver Klassenbildung widmet sich die Prototypentheorie (vgl. Taylor 21995). Ein prototypischer Vertreter der Klasse vereint viele einschlägige Eigenschaften. Solche Vertreter bilden den Kernbereich. Es gibt in jeder Klasse allerdings auch
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Vertreter, die weniger klassendefinierende Eigenschaften aufweisen. Diese sind die Zweifelsfälle in der Peripherie der Klasse. Solche Zweifelsfälle kann keine Reform beseitigen, erst recht nicht eine lediglich auf die Orthographie bezogene. Die Leistung der syntaxbezogenen Schreibregel ist auch experimentell anhand von syntaktisch wohlgeformten Texten mit Pseudowörtern, wie etwa der Vistembar brehlte dem Luhr Knotten auf den bänken Leuster, nachgewiesen (Weingarten 2000, Günter 2007). Kinder können in diesen Experimenten recht zielsicher die großzuschreibenden Einheiten ausschließlich anhand der syntaktischen Umgebung identifizieren. Ein lexikalischer Zugriff ist bei Pseudowörtern nicht möglich. Es gibt auch verschiedene erfolgreiche Ansätze, die syntaktische Herangehensweise für den Schulunterricht lernergerecht aufzubereiten (vgl. Röber-Siekmeyer 1999, Günther/Nünke 2005, Bredel 2010). Hier geht es darum, die Lerner an die interne Struktur der Nominalgruppe heranzuführen und diese für die syntaxbasierte Schreibregel zugänglich zu machen.
4.2
Getrennt- und Zusammenschreibung
Die Getrennt-/Zusammenschreibung (oder Spatiumsetzung) wird als der schwierigste Bereich der deutschen Rechtschreibung betrachtet. Hier wie bei der nominalen Großschreibung werden wir nachweisen, dass die Zweifelsfälle bereits im Sprachsystem angelegt sind. Demgegenüber ist das schriftbasierte Prinzip nach neueren Erkenntnissen sehr einfach (Maas 1992, Jacobs 2005, Fuhrhop 32009, Kap. 7, 2010). Die beiden korrelierenden Grundprinzipien sind in (15) formuliert: (15) Grundprinzipien der Spatiumsetzung: (a) Innerhalb eines Wortes erscheint kein Spatium. (b) Die Einheiten einer syntaktischen Verknüpfung werden durch Spatien getrennt.
Aufgrund der Erkenntnisse in (15) geht es bei der Spatiumsetzung darum, komplexe Wörter von syntaktischen Verknüpfungen im Sprachsystem zu trennen. Schwierigkeiten, diese Unterscheidung zu treffen, liegen in der Natur der Sprache und nicht in der Natur des Schriftsystems. Um komplexe Wörter zu identifizieren, braucht man solide Wortbildungskenntnisse. Verbindungen aus zwei oder mehr Stämmen werden zusammengeschrieben, wenn sie aufgrund einer Wortbildung miteinander verbunden sind, nach dem Wortprinzip (15a). Einige Komposita sind aufgrund einer Morphemfuge, die kein Flexionselement sein kann, leicht zu identifizieren: Sonnenstrahl, Zeitungsleser, entzündungshemmend. Univerbierungen wie
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mithilfe/mit Hilfe, um so/umso und sodass/so dass sowie Inkorporationen wie radfahren/Rad fahren und eislaufen/Eis laufen sind keine prototypischen Wortbildungen. Es handelt sich um wortbildungsmorphologische Zweifelsfälle, die syntaktischen Verknüpfungen, aus denen sie durch häufige Verwendung entstanden sind, sehr nahe stehen. Das hat zur Folge, dass sie auch im Schriftsystem Zweifelsfälle sind, wie angegeben. Um syntaktische Verknüpfungen zu identifizieren, ist man auf Syntaxwissen angewiesen. Einheiten, die in einer syntaktischen Relation zueinander stehen, werden durch Spatien getrennt. Das besagt das Syntagmaprinzip (15b). Während infolge zwischen Wort und syntaktischer Fügung steht und somit einen Zweifelsfall darstellt, ist [in [der [Folge des Alphabets]]] eine syntaktische Verknüpfung. Wie die Klammerung zeigt, sind die fraglichen Einheiten in, der und Folge nicht einmal unmittelbare Ko-Konstituenten (keine syntaktischen Schwestern), womit eine morphologische Bildung vom Typ Univerbierung wie bei infolge auszuschließen ist. Daher ist in der Folge eine syntaktisch reguläre Präpositionalphrase mit einer nominalen Ergänzung der Folge, die ihrerseits syntaktisch regulär gebildet und syntaktisch beliebig erweiterbar ist. Die Missverständnisse, die in der Praxis wie in vielen wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema herrschen, rühren teilweise daher, dass – wie bei der Großschreibung auch – die Einheiten isoliert betrachtet werden. Man meint mit Wortlisten der Sache Herr zu werden. Doch bereits die scheinbar triviale Frage, ob man Gottes?anbeter getrennt oder zusammenschreibt, kann ohne syntaktischen Kontext nicht beantwortet werden. In der Gottesanbeter liegt ein Kompositum vor, während des Gottes Anbeter ein Syntagma ist. Dieser Unterschied ist nur am Artikel eindeutig erkennbar. Eine Syntaxanalyse verdeutlicht die Verhältnisse: [der [Gottesanbeter]] im Gegensatz zu [[des Gottes] Anbeter]. Im Kompositum sind die fraglichen Einheiten verschwestert, und der Artikel bezieht sich auf -anbeter, den morphologischen Kopf des Kompositums (das Grundwort). Im Syntagma sind die fraglichen Einheiten nicht verschwestert, womit eine morphologische Bildung ausgeschlossen ist. Der Artikel bezieht sich ausschließlich auf Gottes. Der Kernbereich umfasst die Fälle, in denen die Anwendung der beiden Prinzipien sprachlich eindeutige Ergebnisse hervorbringt. Diese Fälle sind auch im Schriftsystem unproblematisch. In den Randbereich fallen die Problemfälle, bei welchen die Anwendung der beiden Prinzipien zu Schwierigkeiten oder zu uneinheitlichen Ergebnissen führt. Diese Probleme spiegelt das Schriftsystem lediglich wider (vgl. eingehender Fuhrhop 2007, 2010). Die Synopse in (16) wiederholt weiter oben besprochene Fälle und ordnet sie auf einer Skala zwischen eindeutiger Wortbildung (erste Zeile) und eindeutiger syntaktischer Fügung (letzte Zeile) ein. Die Zweifelsfälle erscheinen in
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der Mitte. Die angegebenen Schreibvarianten waren jahrzehntelang im Fokus der Reformdiskussion. (16) Die Skala zwischen Wortbildung und syntaktischer Fügung Sonnenstrahl, Zeitungsleser, entzündungshemmend
der Gottesanbeter
mithilfe/mit Hilfe, sodass/so dass; infolge nicht Rad fahren/radfahren nicht Eis laufen/eislaufen
des Gottes Anbeter; in der Folge
Kompositum Erkennungsmerkmale: Morphemfuge, die kein Flexionssuffix sein kann; Glieder sind keine Wortgruppen Kompositum Erkennungsmerkmale: Artikel selegiert vom Grundwort; Glieder sind keine Wortgruppen Univerbierung Erkennungsmerkmal: Glieder sind keine Wortgruppen Inkorporation, s. a. (14) Erkennungsmerkmale: das Erstglied ist keine Nominalgruppe; nicht statt kein (*kein Rad fahren, *kein eislaufen) syntaktische Fügung Erkennungsmerkmal: Ein Glied ist eine Nominalgruppe (s. Artikel).
Als Fazit halten wir fest, dass die Grundprinzipien der Spatiumsetzung sehr einfach sind. Die Zweifelsfälle ergeben sich aus der Natur des zugrunde liegenden Sprachsystems.
4.3
Kommasetzung
„Die Funktionen des Kommas in der geschriebenen deutschen Literatursprache sind – im Gegensatz zur Funktion der meisten übrigen Satzzeichen – vielgestaltig und schwer überschaubar“ (Nerius 42007: 247). Diese Bemerkung trifft die Mehrheitsmeinung unter Laien sowie Experten, die sich mit Sprache befassen. Im Folgenden widerlegen wir diese Mehrheitsmeinung, indem wir zeigen, dass die Kommasetzung im Deutschen auf drei sehr einfache Regeln zurückgeführt werden kann. Die drei Bedingungen in (17) erklären bis auf wenige Fälle alle Normen zur Kommasetzung im alten Normsystem vor 1996 und im neuen Normsystem nach 2006 (vgl. Primus 1993, Bredel/Primus 2007): (17) Ein Komma steht zwischen zwei (einfachen oder komplexen) sprachlichen Ausdrücken genau dann, wenn (a) und (b) oder (a) und (c) zutreffen: (a) Die Ausdrücke stehen in derselben kommunikativen Einheit (demselben „Satz“ im weitesten Sinn).
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Beatrice Primus (b) (c)
Die Ausdrücke sind nicht-subordinativ miteinander verknüpft. Die Ausdrücke sind durch eine Satzgrenze getrennt.
Die erste Bedingung schränkt das Komma auf ein satzinternes Vorkommen ein, wobei wir Satz im weitesten Sinne meinen (vgl. Ach, du hier?). Diese Bedingung schließt aus, dass auf das Komma eine satzinitiale Majuskel folgt, und sondert damit das Komma von satzabschließenden Interpunktionszeichen wie Punkt, Ausrufezeichen und Fragezeichen ab (vgl. Primus 2007 für eine angemessene Formulierung dieser Bedingung). Auf die Form-FunktionKorrelationen, die sich bei einer merkmalsbasierten Analyse dieser Interpunktionszeichen ergeben, geht der Interpunktionsbeitrag von Bredel in diesem Band näher ein (vgl. a. Bredel/Primus 2007, Bredel 2008). Die zweite Bedingung gilt – wie die erste – für alle Sprachen, die das Komma verwenden (vgl. Bredel/Primus 2007). Der Bedingung der NichtSubordination folgend, zeigt das Komma eine Koordination oder eine Herausstellung an. Dass die Koordination keine subordinative Verknüpfung darstellt, ist unumstritten. Eine Herausstellung löst den Satzverband und somit die subordinative Anbindung des herausgestellten Elements partiell oder vollständig auf. Den beiden Erscheinungen ist also gemeinsam, dass sie syntaktisch nicht-subordinative Verknüpfungen involvieren. Wir illustrieren und besprechen zunächst das Komma bei Koordination: (18) (a) (b) (c)
Paul, Elke und Maria *Paul, Elke, und Maria Sie machten es sich bequem, die Kerzen wurden angezündet(,) und der Gastgeber versorgte sie mit Getränken.
Was die zweite Bedingung nicht erfasst, ist die komplementäre Verteilung zwischen einer echten koordinativen Konjunktion wie und und oder und dem Komma, die in den verschiedenen Schriftsystemen unterschiedlich normiert wird. Im Deutschen steht das Komma neben einem echten Koordinator nur dann, wenn die Konjunkte vollständige Hauptsätze mit unterschiedlichen Subjekten sind. Nach der Neuregelung ist diese Verwendung fakultativ, wie in (18c) angegeben. Wenden wir uns nun den Herausstellungen zu. (19) – (22) zeigen Beispiele aus dem Rechtschreibduden (201991, hier kurz RD) mit der dortigen Beschreibung in Klammern, die in Altmanns System (1981) die Voraussetzungen für Herausstellungen erfüllen und von Altmann wie angegeben subklassifiziert werden: (19) Linksversetzung (RD, R 94, herausgehobene Satzteile): Deinen Vater, den habe ich gut gekannt. (20) Vokativische Herausstellung (RD, R 95, Anrede): (a) Kinder, hört doch mal zu! (b) Haben Sie meinen Brief bekommen, Herr Müller?
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(21) Nachtrag (RD, R 98, nachgestellte nähere Bestimmung): Wir müssen etwas unternehmen, und das bald. (22) Parenthetische Herausstellung: (a) Johannes Gutenberg, der Erfinder des Buchdruckes, wurde in Mainz geboren. (RD, R 97, Beisatz, Apposition) (b) Dein Wintermantel, der blaue, muss in die Reinigung. (RD, R 99, nachgestelltes Adjektiv)
Wie die heterogenen und sehr ungenauen Angaben im Rechtschreibduden zeigen, konnte die traditionelle Forschung Herausstellungen als einheitliches Phänomen nicht erfassen. Damit wird auch die Systematik des Kommas in diesem Bereich verdunkelt. Wenn man von den heterogenen semantischen und syntaktischen Funktionen der Herausstellungen absieht, so kann man deren kommarelevante syntaktische Eigenschaft besser herauspräparieren (vgl. eingehender Primus 1993, Bredel/Primus 2007). Herausstellungen sind der Matrixstruktur nicht durch eine kanonische syntaktische Subordination (bzw. Unterordnung) zugeordnet. Die Herauslösung aus dem Trägersatz ist ihr wichtigstes Merkmal. Ein deutliches Indiz für diese Herauslösung ist ein syntaktischer Doppelgänger, wie das Objektpronomen den in (19) und die Subjekte Sie in (20b), Johannes Gutenberg in (22a) und dein Wintermantel in (22b). Dieser Doppelgänger ist syntaktisch in den Trägersatz subordinativ eingebunden, fungiert mithin bspw. als Subjekt oder Objekt und verhindert die Unterordnung des herausgestellten Materials. So wird die Objektfunktion in (19) vom Pronomen den übernommen. Da keine Koordination zwischen den und deinen Vater vorliegt, kann deinen Vater nicht das syntaktische Objekt von kennen sein. 16 In anderen Fällen ist eine Herausstellung schon daran erkennbar, dass sie in den Trägersatz nicht integrierbar ist. So verhält es sich mit der Anrede Kinder in (20a), die nicht das Subjekt der Imperativform hört zu sein kann. Auch die nähere Bestimmung in (21) ist in den Trägersatz nicht subordinativ integrierbar: *Wir müssen etwas und das bald unternehmen. Schließlich gibt es auch Fälle, wo die Interpretation als Herausstellung fraglich ist und nur durch eine Analyse des Diskurszusammenhangs bzw. der Autorintention geklärt werden kann: Geh,
––––––– 16
Auch Afflerbachs Untersuchung (1997) bestätigt die Wirksamkeit des hier diskutierten Doppelgänger-Kriteriums. Die ontogenetisch frühesten Herausstellungskommas erscheinen bei Linksversetzungen wie die in (19) gezeigte. Das folgende Verfahren würde den Zugang des Lerners zum Herausstellungskomma erleichtern. Die ist klug (Aussagesatz mit Verb-Zweit-Stellung und Subjektpronomen im Vorfeld) ĺ Diese Frau, die ist klug (Doppelung des Subjekts, Herausstellung vor dem Vorfeld). Dasselbe mit einem Objekt: Den kenne ich ĺ Den Mann, den kenne ich. Wichtig ist der syntaktische Zugriff, weil das Subjekt bzw. Objekt aufgrund des Koreferenzverhältnisses nicht semantisch, sondern nur formal dupliziert wird.
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bitte, nach Hause! vs. Geh bitte nach Hause! Hier ist wichtig, dass die Optionsfreiheit nicht dem Komma gilt, sondern der syntaktischen Konstruktion. Bei einer Interpretation als Herausstellung muss der Schreiber die Kommas setzen. Bei Unterordnung darf er kein Komma verwenden. Die dritte Bedingung verlangt in Verbund mit der ersten ein Komma bei satzinternen Satzgrenzen. Satzinterne Satzgrenzen entstehen auch bei Satzkoordination (vgl. (18c) weiter oben) und bei Herausstellungen, wo Elemente aus dem Trägersatz herausgelöst sind. Aber nur die dritte Bedingung erfasst auch die Satzsubordination (vgl. Ich weiß, dass du kommst. Ich frage mich, wer kommt.). Während Nebensätze, die durch finite Verben gebildet werden, für die dritte Bedingung völlig unproblematisch sind, führte die Kommasetzung bei Infinitivkonstruktionen zu erheblichen Verständnisschwierigkeiten und fiel aus diesem Grund der Reform von 1996 zum Opfer. Die Reform von 1996 stellte alle Kommas bei Infinitivkonstruktionen frei. Vergleiche die Beispiele in (23), die der alten Regelung entsprechen und dem Rechtschreibduden (201991, R 107) entnommen sind: (23) (a) (b) (c)
Du scheinst heute schlecht gelaunt zu sein. Er glaubt(,) mir damit imponieren zu können. Sie ging in die Stadt, um einzukaufen.
Das Problem hat nichts mit dem Komma zu tun, sondern mit der zugrunde liegenden sprachlichen Gegebenheit, dass Infinitivkonstruktionen im Deutschen ihre Satzwertigkeit verlieren, wenn sie kohärent angeknüpft sind. Bei kohärenten Infinitivgruppen entsteht zwischen Matrixverb und subordiniertem Infinitivverb eine sehr enge syntaktische Bindung. Die einzelnen Bedingungen für die Bildung kohärenter Infinitivkonstruktionen können hier aus Platzmangel nicht eingehend besprochen werden (vgl. Primus 1993). Hier seien einige Erscheinungen erwähnt, die bisherige Arbeiten als Bedingungen der Kommasetzung oder der Kohärenz nennen, ohne den Bezug zwischen Kommasetzung und Kohärenz herzustellen. Leicht nachvollziehbar ist vor allem die Kohärenzrestriktion (vgl. Eisenberg 32006: 363f.), dass Infinitiv- und Partizipgruppen, die als valenzfreie Angaben von Verben oder Substantiven fungieren, nie kohärent und somit stets satzwertig sind. Damit ist gemäß unserer dritten Bedingung, der alten Norm und des tatsächlichen Sprachgebrauchs bei valenzfreien Infinitivgruppen wie in (23c) immer ein Komma zu setzen. Diese Kohärenzrestriktion erklärt die neueste Reform von 2006, die in solchen Fällen das Komma wieder einführt. Die Kohärenz blockieren auch pronominale Kopien für Infinitivkonstruktionen, vgl. Zu tanzen, das ist ihre größte Freude. Erinnere mich daran, den Mülleimer zu leeren. Dies erklärt die Reform von 2006, die das Komma in solchen Fällen wieder einführt. Umgekehrt ist eine Satzverschränkung und
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eine Platzierung innerhalb der Verbalklammer ein klares Indiz für Kohärenz und duldet kein Komma: Diesen Vorgang wollen wir zu erklären versuchen. Wir hatten den Betrag zu überweisen beschlossen. Auch die Wahl des Matrixverbs hilft weiter. So nimmt das modalverbähnliche Verb scheinen nur kohärente Infinitivgruppen als Objekt zu sich (vgl. (23a)). Bei Infinitivgruppen, die als Ergänzungen zu anderen Matrixverben fungieren und keine Kohärenzrestriktionen verletzen, bleibt dem Schreibenden eine Entscheidungsfreiheit bei der Wahl der Konstruktion. In (23b) kann die Infinitivkonstruktion sowohl kohärent und somit ohne Komma als auch inkohärent und somit mit Komma angeknüpft werden. Die in (23b) gezeigte Entscheidungsfreiheit betrifft nicht die Kommasetzung selbst, sondern die Wahl der syntaktischen Konstruktion. Die Fehleinschätzungen und Missverständnisse im Bereich der Kommasetzung kann den Didaktikern und Norminstanzen am wenigsten zur Last gelegt werden. Vielmehr ist die Schriftsystemforschung in die Pflicht zu nehmen, die es versäumt hat, neuere Forschungsentwicklungen für ihre Belange nutzbar zu machen. Bezeichnend für diese prekäre Situation ist, dass auch die neuesten Auflagen einiger sprachwissenschaftlich anerkannter Grammatiken (vgl. Duden 72005, Eisenberg 32006) die Interpunktion überhaupt nicht behandeln. Aber auch sonst verbreiten sich neue Erkenntnisse nur zögerlich. Während sich die Kohärenztheorie als Erklärung der Kommasetzung bei Infinitivgruppen durchzusetzen beginnt (vgl. Dürscheid 32006: 171f.), bleibt der Zusammenhang zwischen Koordination und Herausstellung sowie die Systematik der Herausstellung mit wenigen Ausnahmen (Eisenberg/Feilke/Menzel 2005, Fuhrhop 32009) unbeachtet. Wir fassen zusammen. Die in diesem Kapitel behandelten Bereiche der deutschen Orthographie – nominale Großschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung und Kommasetzung – sind laut Mehrheitsmeinung äußerst schwer durchschaubar und deshalb reformbedürftig. Neuere Forschungen demonstrieren, dass die Zweifelsfälle und die schwer durchschaubaren Erscheinungen im (nicht-reformierbaren) Sprachsystem und nicht im (prinzipiell reformierbaren) Schriftsystem liegen. Das Schriftsystem lässt sich in diesen Bereichen wie in den anderen hier behandelten Gebieten durch sehr einfache Grundregeln erfassen. Viel komplexer und weitgehend konstruktionsabhängig sind die Verhältnisse im (lautbezogenen) Sprachsystem. Konkreter: Es ist sehr schwer zu bestimmen, ob im Sprachsystem ein komplexes Wort oder eine Wortgruppe vorliegt. Im Gegensatz dazu ist es einfach zu lernen, dass man innerhalb von Wörtern (und somit auch innerhalb von
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Wortbildungsprodukten) keine Spatien setzen darf und dass man die syntaktischen Bestandteile von Syntagmen durch Spatien trennen muss. 17
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Schlussbetrachtungen
Das Fazit des letzten Kapitels gilt mutatis mutandis in unterschiedlichem Ausmaß für alle in diesem Beitrag angesprochenen Strukturebenen des Sprach- und Schriftsystems. Im Lichte der neueren Forschung kann die immer noch vorherrschende Auffassung, dass das Sprachsystem einfach und systematisch und das Schriftsystem komplex und unsystematisch sei, als einer der größten Irrtümer in der Geschichte der Sprachwissenschaft abgetan werden. Die eigentliche didaktische Herausforderung liegt also auf dem Gebiet des Sprachsystems und fällt strikt genommen in den Bereich des Grammatikunterrichts. Dass Grammatik üblicherweise im Zuge des Rechtschreibunterrichts vermittelt wird, ist daher angebracht. Denn nur die schriftliche Fixierung des Sprachsystems zwingt uns dazu, grammatische Bewusstheit zu entwickeln und im Zweifelsfall über Sprachstrukturen zu reflektieren. Mit den Worten Gorniks (2003: 815): „Grammatik im engeren Sinn ist vorschulisch kein Thema der spontanen Sprachreflexion von Kindern. Mit dem Beginn des Schriftspracherwerbs aber wenden sich Kinder von sich aus [...] der Struktur der Sprache zu. Die neue Weise, Sprache zu gebrauchen, nämlich in Form der Schrift, lässt grammatische Bewusstheit entstehen.“ Mit „der Struktur der Sprache“ thematisiert Gornik einen weiteren wichtigen Aspekt. Wenn man sich fragt, woran viele herkömmliche Arbeiten über Orthographie scheiterten, so fällt auf, dass es in vielen Fällen an Strukturbezogenheit mangelte. Etliche missverstandene Erscheinungen wurden nur isoliert, losgelöst von ihrer strukturellen Einbettung betrachtet: einzelne Buchstaben und Phoneme anstelle von hierarchischen Strukturen, eine lexikonbasierte Wortartkonzeption für die nominale Großschreibung, der Versuch, die Getrennt- und Zusammenschreibung mit Wortlisten in den Griff zu bekommen. Der Leitfaden einer solchen Methode ist: einmal <e> für /e/, überall <e> für /e/, also ist das zweite <e> in Allee eine Unregelmäßigkeit; Angst einmal großgeschrieben, immer großgeschrieben, also ist mir ist angst
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Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis der beiden neueren einschlägigen Monographien – Jacobs (2005) und Fuhrhop (2007) – bestätigt diese Einschätzung. So braucht Fuhrhop zehn Kapitel, um die grammatischen Verhältnisse zu klären, und nur ein Kapitel für die Getrennt- und Zusammenschreibung.
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eine Ausnahme; Gottesanbeter einmal zusammengeschrieben, immer zusammengeschrieben, also ist des Gottes Anbeter unerklärlich. Ein solcher Zugang wird sprachlichen Gegebenheiten nicht gerecht. Nur eine strukturbezogene Betrachtung kann, wie in diesem Beitrag gezeigt, der tatsächlichen Verwendung von Sprache und Schrift gerecht werden. Mit den Worten Eisenbergs (32006: 5): „Die eigentlich wichtige und interessante Aufgabe einer Grammatik ist, etwas über die Struktur der Einheiten einer Sprache mitzuteilen. Wer sich mit einer Sprache zu beschäftigen hat und andere als feuilletonistische Aussagen über sie machen möchte, muss sich auf strukturelle Begebenheiten beziehen können.“
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Gabriele Hinney
Wortschreibungskompetenz und sprachbewusster Unterricht Eine Alternativkonzeption zur herkömmlichen Sicht auf den Schriftspracherwerb
RÜCKSCHAU IST DIE PERSPEKTIVE DES FACHMANNS, der sein Stoffgebiet schon unzählige Male durchmessen hat und der nun Bilanz zieht und seine Erfahrungen auswertet. Aus der Rückschau gegliedert, sind seine Erkenntnisse für den Anfänger weder erhellend noch belebend. Sie faszinieren den, der auf ähnliche Erfahrungen zurückblicken kann, auf den Anfänger dagegen wirken sie undurchschaubar und lähmend. Ihnen fehlt der Appell zum Handeln. Wer Anfänger ansprechen will, muss die sichere Position der differenzierten Rückschau aufgeben und sein vertrautes Stoffgebiet so ins Auge fassen, wie wenn es das erste Mal wäre. Erst wenn ihm das Vertraute in seiner Ganzheit neu und fremd erscheint, wird er zum Gesprächspartner für den Anfänger. Und nur wenn ihm der Anfänger gegenübersitzt – fragend, zweifelnd, abwehrend, neugierig –, besteht Hoffnung, dass er die richtigen Worte findet. (Ruf/Gallin 1998, Bd. 2: 31)
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Problemstellung
Der erfolgreiche Schriftspracherwerb kann als vordringlichste Aufgabe der Primarstufe und der Sekundarstufe I angesehen werden. Dies gilt sowohl für Kinder mit Deutsch als Erstsprache als auch für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache. Was die Organisation des Lernens angeht, scheint es in Deutschland selbstverständlich, beide Lerngruppen zusammen zu unterrichten. Kinder mit Deutsch als Zweitsprache schneiden allerdings in unserem Schulsystem deutlich schlechter ab: Ihnen wird in allen wesentlichen Kompetenzbereichen (Lesen, Schreiben, Mathematik und Naturwissenschaften) ein Lernrückstand attestiert (vgl. Schründer-Lenzen/Merkens 2006: 15ff., Autorengruppe Bildungsberichtserstattung 2008: 85). Ein wesentlicher Grund für diese negative Bildungsbilanz sind die unzureichenden Kenntnisse in der Zweitsprache Deutsch, denn Sprachlernen und Fachlernen sind eng miteinander verbunden. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dem bewussten Spracherwerb in allen Fächern mehr Aufmerksamkeit zu schenken (DESI-
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Gabriele Hinney
Konsortium 2008). Dies gilt nicht nur für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache, sondern auch für Kinder mit besonderen Lernschwierigkeiten beim Schriftspracherwerb, die beide als Risikogruppen betrachtet werden. Sprachbewusster Unterricht ist eng verknüpft mit der Förderung konzeptioneller Schriftlichkeit (Kniffka/Siebert-Ott 2007: 18ff., Jeuk 2007 u. a.). Jeuk fordert in diesem Zusammenhang eine zweifache Umorientierung für den Schriftspracherwerb in der Grundschule: Es geht einmal um eine individuelle Sprachförderung. Des Weiteren geht es um ein strukturiertes Sprachangebot, das Sprachbewusstheit fördert und entwickelt. Eine wichtige Frage ist hier, wie die Wortschreibungskompetenz als Teilbereich der umfassenden (recht)schriftsprachlichen Kompetenz gefördert werden kann; d. h. welche sprachliche Strukturierung und welches Bewusstseinsniveau sind dem Lernprozess angemessen? Die Antworten beziehen sich im vorliegenden Beitrag auf folgende Bereiche: Definition der Wortschreibungskompetenz, Kompetenzentfaltung im Rahmen eines sprachbewussten Unterrichts und empirische Überprüfung der Ergebnisse des Lernens. Zur Erörterung der ersten beiden Bereiche wird im zweiten Kapitel dargestellt, warum dem schrifttheoretischen Wissen für die Kompetenzentfaltung eine besondere Bedeutung beigemessen werden muss. Im dritten Kapitel erfolgt eine kritische Bestandsaufnahme einschlägiger Rechtschreibkompetenzmodelle. In Kapitel vier wird ein Alternativmodell entworfen. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich zunächst mit der Problematik, methodische Standards der empirischen Psychologie in der sprachdidaktischen Forschung umzusetzen. Aus empirischer Sicht sind kontrollierte Studien zur Beurteilung von Rechtschreibkompetenz bzw. zu Fördereffekten unumgänglich. Es geht um die spezifische Wirksamkeit sowohl der Analyse der Lernausgangslage als auch der Vermittlung bestimmter Inhalte und der Kompetenzsteigerung bzw. Konsolidierung der Rechtschreibkompetenz. Nun liefert die pädagogisch-psychologische Forschung trotz großer empirischer Forschungsanstrengungen zu Interventionen beim Schriftspracherwerb bislang nur wenige gut kontrollierte Wirksamkeitsstudien (von Suchodoletz 2006: 26, Marx 2000). Darüber hinaus bleibt nach wie vor unklar, welche spezifischen Bestandteile des Unterrichts die berichteten Effekte verursacht haben (Mannhaupt 2006: 104). Ein erster Schritt für den interdisziplinären Austausch zwischen theoretischer Sprachdidaktik und empirischer Lehr-Lernforschung könnte darin bestehen, an empirischen Daten die Bedeutung der inhaltlichen Validität des Kompetenzmodells zu verdeutlichen (vgl. hierzu die Diskussion der Bildungsforscher/innen Granzer/Böhme/Köller 2008). Die vorliegende empirische Überprüfung bezieht sich zunächst auf eine qualitative Längsschnittuntersuchung der Primarstufenjahrgänge 1–4. Die Studie erhebt somit nicht den Anspruch einer kontrollierten Wirksamkeitsstudie.
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Rechtschreibkompetenz: Der komplexe Zusammenhang von Wissen und Können
Die Definition der Rechtschreibkompetenz ist ein interdisziplinäres Forschungsvorhaben. Aus sprachdidaktischer Sicht sollten die Begründungszusammenhänge der jeweiligen Ansätze offengelegt werden, um der Gefahr eines Zirkelschlusses zu entgehen. Zu berücksichtigen sind die Spezifik der Schriftsprache, die Voraussetzungen der Schriftlernenden und der Unterricht. Rechtschreibkompetenz zu überprüfen ist traditionell ein Aufgabengebiet der Pädagogischen Psychologie. Ihre aktuellen empirischen Befunde belegen die „Diskrepanz zwischen der enormen praktisch-pädagogischen Relevanz der Rechtschreibung und ihrem geringen Stellenwert in der Forschung“ (Hasselhorn/Marx/Schneider 2008: 3). So wird in Anlehnung an Schneider korrektes Rechtschreiben einerseits von Fachwissenschaftler/innen und Didaktiker/innen als „second class skills“ eingestuft, andererseits ist es nach wie vor für das schulische und berufliche Fortkommen sehr bedeutsam (Schneider 2008a: 145): Der schon von Höhn (1969) und Kemmler (1976) [...] empirisch belegte Trend, demzufolge Rechtschreibprobleme sehr eng mit Schulversagen korreliert sind, lässt sich auch heute noch leicht belegen: Schülerinnen und Schüler, die im Grundschulalter besondere Probleme mit dem Rechtschreiben aufweisen, scheitern häufig an den Notengrenzwerten, die in den einzelnen Bundesländern den Übertritt an weiterführenden Schulen regeln. [...] Dies wird durch empirische Befunde zum Übergang auf weiterführende Schulen eindrucksvoll unterstrichen, wonach die Rechtschreibkompetenz eine vergleichsweise wichtige Rolle spielt – wahrscheinlich wichtiger als die Rolle der Intelligenz. (Hasselhorn/Marx/Schneider 2008: 2)
Besonders interessant für die vorliegende Untersuchung sind die Ergebnisse der Münchner Längsschnittuntersuchung LOGIK (Schneider 2008a). Hiernach erweisen sich die individuellen Unterschiede im Lesen und Schreiben schon früh als stabil und bleiben auch über längere Zeitabschnitte erhalten. Für die LOGIK-Studie ergaben sich für die herangezogenen Wort- und Satzdiktate ab der dritten Klassenstufe Stabilitätskennwerte, die in der Regel über .7 liegen und damit die für die Intelligenz festgestellten individuellen Stabilitäten leicht übertreffen. Individuelle Unterschiede in der Rechtschreibleistung konnten ab diesem Zeitpunkt zuverlässig vorhergesagt werden. (Schneider 2008a: 148) 1
Insgesamt, d. h. den Zeitraum der gesamten Schullaufbahn betrachtend, gibt es nach Meinung der Autoren empirische Evidenz für die Verschlechterung der Rechtschreibkompetenz innerhalb der letzten vier Jahrzehnte (Schneider
––––––– 1
Vgl. dazu auch Klicpera/Gasteiger-Klicpera 1995.
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2008b). Als Ursache der negativen Leistungsbilanz führen die Forscher den geringen Übungsanteil im Unterricht an, der auf das „größere Gewicht der Deutschdidaktik auf Eigenproduktionen von Texten und die veränderten Bewertungsgrundlagen für die Erstellung der Deutschnote“ (Hasselhorn/Marx/Schneider 2008: 4) zurückzuführen sei. Die Diskussion der pädagogischen Psychologie ist für die RechtschreibKompetenzdebatte in der Sprachdidaktik ausgesprochen wichtig und interessant. Gleichwohl muss man sich über einige Schlussfolgerungen wundern: Auf der einen Seite wird Rechtschreibkompetenz als Prädiktor für den Schulerfolg angeführt, auf der anderen Seite wird nicht ausreichende Rechtschreibkompetenz auf unzureichendes Üben im Unterricht zurückgeführt. Dass Rechtschreibkompetenz durch bloßes Üben gefördert werden kann, bleibt fraglich. Eine kritische Reflexion der zugrundeliegenden didaktischen Annahmen findet nicht statt. Dies liegt vermutlich an der relativ formalen Kompetenzdefinition. Im Rahmen der pädagogischen Psychologie ist Rechtschreibkompetenz das, was der standardisierte Rechtschreibtest misst. Durch die statistisch abgesicherte Zuordnung von Prozenträngen und T-Werten geben Rechtschreibtests Auskunft über den Leistungsstand des getesteten Schülers im Vergleich zur Gesamtheit aller gleichaltrigen Schüler. Da ein standardisierter Test den Gütekriterien Validität, Reliabilität und Objektivität genügen muss, ist die quantitative Auswertung für eine Status- bzw. Selektionsdiagnose relativ zuverlässig. So lässt sich auch folgern, dass ein Schüler mit hohem Prozentrang im Rechtschreibtest über Wortschreibungskompetenz verfügt. Das Problem liegt somit nicht in der Überprüfung erfolgreicher oder wenig erfolgreicher Schüler/innen, sondern in der Kompetenzentfaltung bei niedrigen Testergebnissen. Deutungen der schriftsprachlichen Ergebnisse und die anschließenden Instruktionen sind in einem hohen Maß von den sprach- und lerntheoretischen Vorannahmen abhängig, die Forscher/innen zugrundelegen. Durch die Sichtweise der pädagogischen Psychologie stehen sprachliche Lernprozesse weniger im Mittelpunkt. Die meisten standardisierten Tests bieten zwar eine differentielle Diagnose an, die Fehler werden allerdings in die Systematik der amtlichen Regeln (AR) eingeordnet. Ergebnisse der aktuellen Schriftlichkeitsforschung werden nicht berücksichtigt (vgl. Herné/Naumann 42007 mit einem sehr guten Überblick über die verfügbaren Tests). Da Leistungsmessungen „unverzichtbare Komponenten der schulischen Qualitätsentwicklung sind“ (Weinert 2002a: 364), sollten diese auch inhaltlich angemessen konstruiert und gedeutet werden. Was aber soll gemessen werden [...]. Dabei geht es vor allem um die Behauptung, dass fachlichen Leistungen in Zukunft eine immer geringere, fachübergreifenden Kompetenzen aber eine ständig wachsende Bedeutung zukommen wird. Diese These ignoriert die gut belegte Tatsache, dass Fächer nicht beliebige Wissens-
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konglomerate darstellen, sondern sachlogische Systeme, die Schüler aktiv und konstruktiv erwerben müssen, wollen sie schwierige inhaltliche Phänomene und Probleme tiefgründig verstehen und soll zukünftiges Lernen durch Transferprozesse erleichtert werden. (Weinert 2002b: 27)
Fachliches Wissen als intelligentes Wissen ist der Schlüssel zum Können. Auch Wortschreibungskompetenz beruht auf Wissen, das der Systematik der Schriftsprache angemessen sein muss. Und dieses Wissen sollte im Unterricht erworben werden (vgl. Weinert 2002b: 24). Es kommt somit weniger auf die Methoden an als auf die schülergerechte Vermittlung von Inhalten. Die Bildungsforscherin Elsbeth Stern konstatiert: Was lief falsch? Trotz der scheinbar modernen Lernmethoden ist der Unterricht nicht auf das Vorwissen und die Defizite der Schüler abgestimmt. Doch nur wenn dies der Fall ist – wenn der Lehrer an die Vorkenntnisse seiner Schüler ansetzt –, können Schüler dazulernen. Das klingt banal, geht doch viel zu häufig schief. (Stern 2006: 43)
Ergebnisse der empirischen Lehr-Lernforschung unterstreichen die Bedeutung des bereichsspezifischen Vorwissens für „verständnisvolles Lernen“: Umfang und Organisation der verfügbaren Wissensbasis entscheiden über Qualität und Leichtigkeit des Weiterlernens (vgl. Gruber 2008, Köller 2008). Experten verfügen über eine riesige Menge von informationsreichen Wissenseinheiten (Chunks), die Einzelelemente zu größeren zusammenhängenden Strukturen verknüpfen. Es bleibt nunmehr zu klären, wie informationsreiche Wissenseinheiten aus der Sicht der Schriftlernenden für die Wortschreibung zu erwerben sind. In Anlehnung an die Psychologie können verschiedene Aspekte beim Wissenserwerb, so genannte Wissensformen, unterschieden werden (Mandl/Friedrich/ Hron 1986): deklaratives Wissen (Wissen über Sachverhalte, Faktenwissen), prozedurales Wissen (Wissen, das die Ausführung von psychomotorischen und kognitiven Fertigkeiten steuert, das Können) sowie metakognitives Wissen (deklarativ und prozedural/operativ), das die Reflexion über das eigene Wissen und über die eigenen Handlungen steuert, wie z. B. Motivation, Organisation und Bewertung des Lernprozesses. Metasprachliches Wissen kann als Teilbereich des metakognitiven Wissens betrachtet werden. Wie genau die einzelnen Wissensformen Rechtschreibkompetenz konstituieren, ist alles andere als geklärt. Ein wissenschaftstheoretischer Konsens ist noch nicht in Sicht (vgl. Hinney et al. 2008). Gleichwohl kann die Betrachtung der unterschiedlichen Wissensformen dazu beitragen, kontroverse Forschungsansätze zu erörtern. Rechtschreiben ist eine sprachliche Handlung, die als kognitive Fertigkeit auf prozeduralem Wissen beruht. Dieses primärsprachliche Wissen lässt sich
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durch Handlungsregeln beschreiben. Es ist in vielen Fällen jedoch nicht in Worte zu fassen (implizites Wissen, tacit knowlege). So ist zu erklären, dass man Wörter richtig schreibt, ohne die Schreibweise begründen zu können. Augst (1989: 9) kommt z. B. in einer kleinen Studie im eher qualitativen Design (50 Proband/innen) zu dem Ergebnis, orthographisches Wissen sei zu 92 % implizit verankert. In Anlehnung an das Modell zum kognitiven Fertigkeitserwerb (Anderson 1982) sind – grob gesehen – für den Erwerb zwei Phasen zu unterscheiden: die eigentliche Phase des Wissenserwerbs und die Phase der Wissensoptimierung. In der Phase des Wissenserwerbs, der für einen konstruktiven Lernverlauf grundlegenden Phase, werden Handlungspläne für ganz bestimmte rechtschreibliche Problemlösungen durch Schlussprozesse erworben. In der Phase der Wissensoptimierung werden die Handlungspläne dann durch Übung automatisiert, damit das Gedächtnis beim Schreiben entlastet wird (automatisiertes Schreiben, Können). Ein erfolgreicher Rechtschreiberwerb ist insofern abhängig von verschiedenen Entwicklungsvoraussetzungen und Entwicklungsbedingungen. Lernschwierigkeiten können demzufolge sowohl auf wenig konstruktive Erfahrungen in der Phase des Wissenserwerbs als auch auf unzureichende Übungsbereitschaft in der Phase der Wissensoptimierung zurückzuführen sein. Eine Schlussfolgerung wie „Das Kind muss mehr üben“ (vgl. LOGIKStudie, Schneider 2008a) bleibt sehr oberflächlich, da die Bedeutung des angemessenen Wissenserwerbs für Schriftlernende nicht betrachtet wird. Nach heutigem Forschungsstand nimmt das metakognitive Wissen in der Kompetenzdebatte eine zentrale Stellung ein. Der kompetente Lerner ist in der Lage, den eigenen Lernprozess zu beobachten und zu überwachen und sein Vorgehen bei auftretenden Schwierigkeiten zu korrigieren. Selbstgesteuertes Lernen ist – in eine griffige Formel gefasst – ein dynamisches Zusammenwirken von „skill and will“ und damit eine komplexe Leistung der Selbstregulation des Ichs (Baumert 1993: 328). Stagnationen bei der Kompetenzentfaltung können somit auch auf eine mangelnde Selbstregulation zurückzuführen sein. May (1990) spricht vom Mangel an heuristischer Kompetenz. Das Fazit seiner Untersuchungen ist, dass sich gute von schwachen Lernern dadurch unterscheiden, wie sie vorhandene Möglichkeiten für die Lösung von Schreibproblemen nutzen und wie sie sich den Problemen stellen. Wortauslassungen und unsystematische Schreibungen legen nach May nahe, solche Pseudowörter als „Notfallreaktionen“ zu deuten (vgl. hierzu die hohe Zahl von Variantenschreibung in IGLU-E in Valtin et al. 2003, 2004). Mit welchen Strategien und Problemlösungen Schriftlernende ihre „Schrift-Spracherfahrungen“ (Eisenberg/Feilke 2001: 6) strukturieren, ordnen und kontrollieren, ist deswegen ein wichtiger Aspekt der Kompetenzentfaltung.
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Die Bedeutung des metasprachlichen Wissens wird in diesem Zusammenhang kontrovers diskutiert. Charakterisiert wird metasprachliches Wissen durch die Fähigkeit, Sprache aus der Einbindung in Situationen zu lösen (Dekontextualisierungsfähigkeit) und sie als formales System zu analysieren. Mit der Diskussion verbunden ist eine gehäufte Anwendung der Begriffe „Language awareness“, „Sprachbewusstsein“, „Sprachbewusstheit“, „Sprachbetrachtung“ und „Sprachwissen“, die jedoch nicht eindeutig definiert werden (vgl. Bredel 2007: 59–130, Gornik ersch., Nickel 2006: 127–205). Ebenso sind die Frage der Genese und vor allem die Funktion von Bewusstseinsprozessen für den Schriftspracherwerb strittig. Darüber hinaus besteht Uneinigkeit hinsichtlich des Stellenwerts impliziter und expliziter Lernvorgänge für den Bewusstwerdungsprozess. Hinsichtlich der Unterteilung von Sprachbewusstheit kann zwischen phonologischer Bewusstheit im engeren und weiteren Sinne, Wortbewusstheit, Satzbewusstheit und pragmatischer Bewusstheit unterschieden werden. Nickel (2006) spricht darüber hinaus von einer Rechtschreibbewusstheit in Abgrenzung zum Rechtschreibbewusstsein. Der phonologischen Bewusstheit wurde in den letzten Jahren national sowie international verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt, da ihr eine hohe Prognosekraft für den erfolgreichen Schriftspracherwerb zugesprochen wird. Die Forschungsergebnisse zu diesem Bereich sind vielfältig, auch wenn im Detail die Zusammenhänge zwischen phonologischer Bewusstheit und Schriftsprachfähigkeiten nicht erklärt werden können. Grundsätzlich werden zwei Hypothesen diskutiert: 1. Voraussetzungshypothese: Phonologische Bewusstheit ist eine Voraussetzung bzw. gehört zu den Vorläuferfähigkeiten des Schriftspracherwerbs. 2. Interaktionshypothese: Es besteht eine Wechselwirkung zwischen Schriftsprachfähigkeiten und phonologischer Bewusstheit (vgl. Schnitzler 2008: 55ff.).
Die Interaktionsthese zur Sprachbewusstheit zeigt, wie sprachliches Wissen offensichtlich Lernerfolge steuert. Wissen ist somit nicht nur Folge des Lernens, sondern auch seine Voraussetzung. Damit wird wiederum die Bedeutung des vorausgesetzten sprachlichen Wissens im Unterricht unterstrichen. Verstanden und gelernt werden kann offenbar nur das, was sich mit dem vorhandenen primärsprachlichen bzw. metasprachlichen Wissen verbinden lässt. Um Kinder mit Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb da abzuholen, wo sie stehen, bedarf es deswegen einer sorgfältigen Analyse des vorausgesetzten Wissens. In der einschlägigen Literatur zum Schriftspracherwerb wird z. B. selbst für Kinder mit besonderen Lernschwierigkeiten die Fähigkeit zur intuitiven Silbensegmentierung als gegeben angenommen (vgl. Hinney 1997, Röber-Siekmeyer 1993, Hanke 1999, Nickel 2006, Berkemeier 2007 u. a.). Als Beweise werden Abzählreime, Lieder und Gedichte herange-
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zogen. Günther (2006) bezweifelt jedoch, dass für einen Einblick in die Schriftstruktur ein eher globales Silbenverständnis ausreicht und überprüft die Kenntnis der Kinder zur angemessenen Silbensegmentierung. Die Daten der Studie (drei erste Grundschulklassen, drei zweite Grundschulklassen) verdeutlichen: Eine angemessene Silbensegmentierung kann nicht bei allen Kindern vorausgesetzt werden. Erst durch den Schriftspracherwerb kommt es zur richtigen Setzung der Silbengrenze. Das Syllabieren wie das Lautieren und Buchstabieren ist eine„unnatürliche Tätigkeit metasprachlicher Art“ (ebd.: 135). Erst durch die Auseinandersetzung mit der Schrift erwerben die Kinder ein differenziertes Wissen über den Bau der Silbe. Phonologische Bewusstheit kann auf diesem Hintergrund als ein Epiphänomen betrachtet werden: Schriftsprachliche Kenntnisse und Erwerb metasprachlichen Wissens hängen offensichtlich eng zusammen. Wie nun genau Schriftlernende metasprachliches Wissen erwerben, ist Gegenstand aktueller Kontroversen und der Klärungsbedarf ist erheblich. Zum Beispiel schreibt Ossner (2006: 164): „Seit langem weiß man, dass deklaratives Wissen in der Orthographie keine Sicherheit bringt. Wer eine Rechtschreibregel aufsagen kann, kann noch lange nicht das in der Regel Ausgesagte richtig schreiben“. Gleichzeitig räumt er jedoch ein: „Daraus darf nicht der Schluss gezogen werden, dass die Kenntnis von Regeln gänzlich unnötig wäre, vielmehr muss man den Schluss ziehen, dass diese Kenntnis so beschaffen sein muss, dass sie in das prozedurale Wissen übergehen kann“ (ebd.). Mit Bezug auf die philosophische Betrachtung „The Concept of Mind“ (Ryle) spricht Bredel (2007: 98) von „einem der schwerwiegendsten Irrtümer der Sprachdidaktik“, Schüler/innen über Merksätze und Regeln zum regelgerechten Schreiben anzuleiten. Mit Verweis auf Ryle unterstreicht sie die These von der „intellektualistischen Legende“ und zeigt am Beispiel des Rechtschreibunterrichts exemplarisch deren Belastungen für den Rechtschreiberwerb auf. „Können erfolgt nicht über eine Anwendung von explizitem Wissen“ (ebd.: 105). Bredel unterstützt in diesem Zusammenhang die Position des entdeckenden Lernens im Rahmen eines sprachbewussten Unterrichts: „Freilich beruht diese innere Regelbildung nicht auf einem inneren Programm, das sich von selbst abspielt, sondern auf der Logik des rechtschriftlichen Systems“ (ebd.: 99). Entscheidend ist somit ein Unterricht, der den Schriftlernenden den Blick auf die rechtschriftlichen Zusammenhänge ermöglicht und nicht versperrt. Hanke (1999) schlussfolgert aus ihrer Pilot-Querschnittsstudie für Grundschüler/innen durch die Methode des lauten Denkens: Viele Kinder, die orthographisch schreiben können, benennen die von ihnen verwendete Regel nicht. Das heißt: Mit der Fähigkeit, richtig zu schreiben, geht nicht zwingend eine wachsende Explizitheit des orthographischen Wissens einher. Anderer-
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seits gehörten jedoch diejenigen Kinder, die über bewusste orthographische Kenntnisse verfügten, zu den sicheren Rechtschreibern, d. h. sie schrieben in der Untersuchung stets sachadäquat (ebd.: 119). Die Ergebnisse legen eine Interpretation nahe, nach der sich metasprachliches Wissen eher unabhängig von der Rechtschreibkompetenz entwickelt. Allerdings wurde in der Studie der Einfluss des Unterrichts nicht berücksichtigt. Nickel (2006: 371) kommt in seiner Längsschnittuntersuchung „Orthographieerwerb und die Entwicklung von Sprachbewusstheit“ auf der Grundlage ausgewählter Fallbeispiele im eher qualitativen Untersuchungsdesign zu folgendem Ergebnis: Die sechs aus drei Lerngruppen stammenden Fallbeispiele verdeutlichen unter anderem den unterschiedlichen Einfluss der erlebten schulischen Lernkultur. Die vorliegende Untersuchung war nicht auf die Vergleichbarkeit didaktischmethodischen Vorgehens hin angelegt, insofern verbieten sich entsprechende Interpretationen. Dennoch wird transparent, dass die schulische Wirklichkeit orthographische Bewusstseinsprozesse stützen oder auch behindern kann.
Das tatsächliche Gewicht von ‚eigenem Lernen‘ im Verhältnis zum ‚unterrichteten Lernen‘ ist nach aktuellem Forschungsstand schwer einzuschätzen (Naumann 2006, Becker 2008). Deswegen besteht sowohl theoretischer als auch empirischer Klärungsbedarf, welche Zusammenhänge zwischen sprachbewusstem Vorgehen im Unterricht und Entfaltung der Rechtschreibkompetenz bestehen. Für diese Aufgabe ist Bredels Unterscheidung von metasprachlichem Handeln als deklarativer Wissensform (statisches Analysewissen) und prozeduraler Wissensform (operatives und dynamisches Prozesswissen) interessant. Deklarative metasprachliche Handlungen sind solche, die offline ausgeführt werden. Dazu gehören etwa das Kategorisieren, das Beschreiben oder das Benennen (isolierter) sprachlicher Merkmale oder Einheiten. Prozedurale metasprachliche Handlungen sind solche, die Sprecher online ausführen, „bei denen sie also primärsprachliche Sprachverarbeitungsprozesse aktivieren und diese spezifischen, kontrollierten Manipulationen unterziehen“ (Bredel 2007: 106). Es ist anzunehmen, dass konstruktive Offline-Operationen beim Schriftspracherwerb eine Schriftkundigkeit voraussetzen, d. h. sprachliches Wissen wie z. B. Laut, Morphem, Wort, Dehnung, Schärfung, stummes h u. a. werden schriftbezogen analysiert. Sie sind also schon feste Kategorien einer herausgebildeten Sprachbewusstheit. An folgendem Dialog aus dem Forschungsprojekt „Orthographieerwerb und die Entwicklung von Sprachbewusstheit“ (Nickel 2006: 368) kann dieser Aspekt verdeutlicht werden:
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Gabriele Hinney Jörg: Lehrerin: Jörg:
Lehrerin:
Ich will gehe schreiben, aber das sieht so komisch aus. Warum? Kann man das soo schreiben? (Zeigt seinen Text und weist auf die geschriebene Buchstabenkombination
Jörg zeigt orthographische Irritation und argumentiert mit seiner sprachlichen Intuition. Er weiß, dass etwas falsch ist, er weiß aber nicht, was falsch ist. So fragt er die Lehrerin, die jetzt mit einer Problemlösung im Offline-Modus antwortet. Ob die Antwort der Lehrerin für Jörgs Lernprozess hilfreich ist, lässt sich aus der Beobachterperspektive nicht beantworten; zu unterschiedlich sind die mentalen Repräsentationsformen der Schüler/innen. Wenn Jörg über ausreichend metasprachliche Bewusstheit verfügt, könnte er eigenständig die Regularität des silbeninitialen h entdecken, d. h. sein sprachliches Gespür könnte durch metasprachliche Operationen wie Analogien und Substitutionen, z. B. sehe, wie gehe, wie Rehe (Wechsel von betontem und unbetontem Vokal), zu einer Sprachbewusstheit für das silbeninitiale h ausgebildet werden, und zwar ohne weitere explizite Unterstützung der Lehrerin. Jörg könnte jedoch auch Wörter wegen fehlender Einsicht in die Wortstruktur im Sinne einer Merkschreibung speichern. Für diesen Fall wäre der Hinweis der Lehrerin „stummes h in der Mitte“ wenig hilfreich. Jörg benötigt dann Unterstützung, mit denen er die Zusammenhänge der gesprochenen und geschriebenen Wortformen zum silbeninitialen h operativ eigenaktiv entdecken kann. Online-Operationen als Hinweis der Lehrerin wären dann angemessener, da sie vermutlich dem nahe kommen, was Nickel (2006: 371) unter „kindgemäßen, psychologischen Denkwerkzeugen“ versteht. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Kompetenzorientiertes Lernen ist ein dynamisches Zusammenwirken von „skill and will“. Auch Rechtschreibkompetenz zeigt sich im Können, das zwar im Tun ausgebildet wird, aber keineswegs durch ein „learning by doing“ allein entsteht. Heuristische Kompetenz und metasprachliches Handeln haben vermutlich einen großen Einfluss auf die Selbstorganisation des Lernens zur Kompetenzentfaltung. Kinder mit Lernschwierigkeiten beim Schriftspracherwerb scheitern schon auf der Stufe des Wissenserwerbs: Wer zu Beginn des Lernprozesses ein Risikokind ist, der bleibt mit großer Wahrscheinlichkeit ein Risikokind. Der herkömmliche Anfangsunterricht ist offensichtlich nicht auf das sprachliche Vorwissen abgestimmt. Welches sprachliche Wissen in der herkömmlichen Rechtschreibdidaktik für die Kompetenzentfaltung vorausgesetzt wird, bleibt deswegen eine wichtige Frage. Nickel (2006: 193) verweist in seinem Projekt zur Genese und Funktion von orthographischen Bewusstseinsprozessen beim frühen Schriftspracherwerb auf die „oft polarisierten Diskussionen der Orthographiedidaktik“. Ein
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Grund für die wenig fruchtbaren Auseinandersetzungen liegt m. E. in der Vermischung von didaktischen und methodischen Aspekten. Da das bereichsspezifische Wissen das methodische Vorgehen entscheidend bestimmt, bleibt zu fragen, welches schrifttheoretische Wissen als Sachlogik dem Kompetenzmodell zugrundegelegt werden soll. Die Antwort bezieht sich auf diejenige Theorie, die den sprachanalytischen Problemlösungsprozess eines Schriftlernenden am besten abbildet.
3
Rechtschreibkompetenz und Schulorthographie. Statischlineare Modelle
Thomé und Eichler (2008: 104) gehen davon aus, dass „die orthographischen Leistungen, die während der Schulzeit erbracht werden, durch qualitative Fehleranalyse recht gut rekonstruiert werden können“. Die theoretische Begründung der vorausgesetzten qualitativen Fehleranalysen fußt auf den vor über zwanzig Jahren veröffentlichten Erwerbsmodellen. Verschiedene Autoren haben auf der Grundlage des Stufenmodells von Frith (1986) Entwicklungsmodelle zur Lese- und Rechtschreibentwicklung vorgestellt. Trotz der unterschiedlichen Bezeichnungen für die einzelnen Entwicklungsstufen stimmen die Modelle in der Abfolge vom Leichten (Laut) zum Schweren (orthographische Regeln) überein. Unterschieden wird zwischen einer logographischen, alphabetischen und orthographischen Phase. Diese Unterscheidung wird jedoch zunehmend in Frage gestellt (Hinney/Menzel 1990, Costard 2007: 42). Bei einigen Autoren werden die Stadien mit psycholinguistischen Strategien gleichgesetzt. Folgt man den Ausführungen von May (1993: 9), so macht der Begriff der Schreibstrategie darauf aufmerksam, „dass die Regeln, die der Schriftlerner entdeckt und denen er schreibend folgt, bestimmten Grundprinzipien zugeordnet werden können, nach denen die deutsche Schrift aufgebaut ist“. An dieser Stelle wird die Abhängigkeit des Deutungsprozesses von der Orthographietheorie sichtbar. Obwohl nicht reflektiert, basieren die Entwicklungsmodelle und die darauf aufbauenden Kompetenzmodelle auf den grundlegenden Annahmen der amtlichen Regelung der deutschen Rechtschreibung (AR 242006) als Schulorthographie. Die AR zur Wortschreibung sind – wie alle anderen Regelbeschreibungen auch – kasuistisch angeordnet. Zu unterscheiden sind Grundregeln, besondere Regeln und Sonderregeln. Die Grundregel bezieht sich auf das vermeintliche Ideal einer Alphabetschrift, wonach Laute auf die Elemente des Alphabets, also die Buchstaben bzw. Buchstabengruppen eindeutig aufeinander abzubil-
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Gabriele Hinney
den sind. Da eine 1:1-Zuordnung bei Vokalen nicht möglich ist, nehmen die Regeln zur Kennzeichnung der Vokalquantitäten den größten Raum ein. Aus diesem Grunde wird die Markierung der Vokalquantität allgemein als einer der kompliziertesten Aspekte der Rechtschreibdidaktik bewertet. Die Zugrundelegung der amtlichen Erklärungen bei der Modellierung des Lernprozesses kann aus sachanalytischer Sicht zu kognitiven Unklarheiten über den Lerngegenstand Schriftsprache führen. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang vor allem die unzureichende Reflexion der sprachlichen Voraussetzungen eines Schriftlernenden. Exemplarisch seien dafür folgende Beispiele angeführt: Standardlautung versus Explizitlautung: In den Ausführungen zu den Neuregelungen wird immer wieder angeführt, die 1:1-Zuordnung beruhe dem Grundsatz nach auf der Standardsprache (vgl. Augst/Dehn 1998: 95). Dies bedarf jedoch einer Korrektur, da standardsprachlich gesehen z. B. Wortformen wie >´ha:bn@ >´a:bn@ für haben und aber akzeptabel sind, eine Zuordnung von Lauten und Buchstaben aber nicht zur richtigen Schreibung führen: *habn, *aba. Als Bezugsgröße für das Lautprinzip müsste demzufolge die Explizitlautung als phonologische Bewusstheit im engeren Sinne gelten, wie z. B. >´ha:bn@ und >´a:br@. Dieses metalinguistische Prozesswissen bildet sich vermutlich erst durch den Schriftspracherwerb heraus und kann bei der Lerngruppe, um die es in diesem Beitrag geht, nicht vorausgesetzt werden. Ihre Lernausgangslage ist gekennzeichnet durch eine rudimentär ausgebildete Sprachbewusstheit und eine ideolektgeprägte Ausspracheform. Lautgetreue Schreibungen nach der Maxime „Schreib, wie Du sprichst“ oder „Sprich, wie Du schreibst“: In den einschlägigen Darstellungen wird immer wieder darauf hingewiesen, dass das Lautprinzip „Schreib, wie Du sprichst“ die Interessen des Schreibers berücksichtige. Diese aus der Perspektive eines Schriftkundigen nachvollziehbare Funktion hilft jedoch einem Schriftlernenden sehr wenig, denn das Wissen um die Segmentierung der Laute und deren Klassifikationen als Phoneme kann bei ihm nicht vorausgesetzt werden. Der Hinweis, dass „73 % der Wörter im Deutschen durch Phonem-Graphem-Zuordnungen korrekt geschrieben werden, bei Berücksichtigung konsistent angewandter Regeln sogar 90 %“ (Costard 2007: 13), gilt für Schriftkundige (vgl. hierzu auch die Kritik von Eisenberg/Fuhrhop 2007 an der quantitativen Betrachtungsweise). Der didaktische Kurzschluss, der in einigen Handreichungen zum Rechtschreibunterricht zu lesen ist: „Ich schreibe so, wie ich spreche, aber zunächst muss ich so sprechen wie ich schreibe“, der dann in der Vermittlung einer Kunstsprache, der so genannten „Pilotsprache“ (Mann 1995) oder einer „schreibnützlichen Aussprache“ (Naumann 2008, Augst/Dehn 1998) mündet, übersieht die kognitiven Anforderungen des zugrunde liegenden sprachanalytischen Prozesses. Das Paradigma der bloßen Mündlichkeit als Basis für Schriftlichkeit ist die Perspek-
Wortschreibungskompetenz und sprachbewusster Unterricht
59
tive des Schriftkundigen. Er weiß z. B. trotz seiner umgangslautlichen Artikulation [K$«EP] für [K$«EQ], aus wie vielen Silben das explizite Wort besteht. Die Annahme, lautgetreue Wortschreibungen wären ohne ungefähre Einsicht in den Aufbau von Wörtern möglich, kann nur von dem vertreten werden, der die Wortschreibungen kennt und der Sprachdifferenzbewusstheit sowie Kenntnis der Wortformen und lexikalisches Wissen stillschweigend voraussetzt. Das Schreiben der meisten Wörter im Deutschen ist nur für einen geübten Schreiber scheinbar lautgetreu. Wenn nun „die lautgetreue Rechtschreibförderung“ im Rahmen der LRS-Förderung als Methode der Wahl empfohlen wird, muss dies aus sprachdidaktischer Sicht ausgesprochen kritisch bewertet werden (vgl. Hinney/Menzel 1990, Röber 2001). Die Annahme des „lautgetreuen Schreibens“ könnte dazu führen, Kindern zu vermitteln, unsere Schrift sei eine Lautschrift oder eine „missglückte Lautschrift“. Dabei wird präsupponiert, die Lautanalyse sei das „Einfache“. Konfundierung oppositiver Vokalquantitäten und morphologischer Struktur: Eine weitere Schwierigkeit der AR als schrifttheoretischer Fundierung des Kompetenzmodells liegt darin, dass die Regeln zur Kennzeichnung des kurzen und langen betonten Vokals auf der sprachlichen Einheit des Lauts und der Wortform beschrieben werden. Dabei ist es für die Erklärung gleichgültig, ob es sich um Formen handelt wie z. B. du holst oder holen, du kämpfst oder kämpfen, du kommst oder kommen oder du siehst oder sehen u. a. Für Kinder, die nicht über die Transparenz der Wortformen verfügen, die also noch keine Einsicht in den Wortaufbau haben (sprich: Trennung des Wortstamms von der Flexionsendung), sind die Erklärungen schon auf Grund des vorausgesetzten sprachlichen Wissens nicht angemessen. Zunächst ist deshalb zu fragen, wie die Lernenden das phonologische und morphologische Wissen erwerben können. Auch die Annahme, der Aufbau eines Wortes ließe sich über den Einsatz der Morphembausteinmethode (vgl. Risel 2006) herausbilden, ist im Ansatz sehr produktorientiert und statisch. Die Anordnung der amtlichen Sachlogik verleitet zu statischen, stufenförmigen Kompetenzmodellen vom so genannten Leichten (Lautorientierung) zum Schweren (Orientierung durch orthographische Regeln). Damit gleicht die Rechtschreibkompetenz einer Technik, die eher mechanisch erworben wird. Um diesen letzten Aspekt ausführlicher zu erörtern, werden im Folgenden ausgewählte Kompetenzmodellierungen (3.1.) und die Kompetenzbeschreibung der Bildungsstandards (3.2) analysiert.
60 3.1
Gabriele Hinney
Statische, stufenförmige Kompetenzmodelle und ihre Problematik
Dimensionen der Rechtschreibkompetenz werden von Naumann (2008, Herné/Naumann 42007) als Lehrerhandreichung in einem „Haus der Orthographie“ (vgl. Abb. 1) als Teilkompetenzen zusammengefasst. (1)
Das Haus der Orthographie (nach Naumann 2008: 149)
Das Haus der Orthographie Etage
Merksatz für Schüler
2. Obergeschoss
Sprachliche Einheit
Beachte die Satzstruktur
Satz
Hinweis auf: Großschreibung von Substantiven/Substantivierungen, dass/dass-Schreibung, Kommasetzung 1. Obergeschoss
Beachte den Wortaufbau
Vokal in betonten Silben/ Silbenreim Länge/Kürze von Vokalen Hinweis auf: „Strenge Regeln“ für kurze Vokale ie-Schreibung bei langem i Diphtonge als Langvokale
Erdgeschoss
Wort
Wortbausteine (Morpheme) morphologische Komplexität Hinweis auf: Zusammensetzungen Auslautverhärtung Umlautschreibung <ä> Dehnungs-h besondere Grapheme <x>,
Beachte die gesprochene Lautfolge
Laut
Hinweis auf: Phoneme (als bedeutungsunterscheidende Einheiten), auf Ausnahmen davon (eu, nicht oi; sp, nicht schp) sowie auf eine „schreibnützliche Aussprache“
Schon die Metapher „Haus“ verweist auf eine sehr starre Konzeption, die im Widerspruch zu den angenommenen konstitutiven integrativ-kumulativen Prozessen der Kompetenz steht (vgl. Weinert 2002a). Deutlich wird der Kompetenzerwerb als linearer Aufbau vom so genannten Leichten (Laut) zum Schweren (Vokalquantität, Silbe und Morphem) aufgezeigt (vgl. auch das Zwiebelmodell von Augst/Dehn 1998: 92). Einer lautorientierten oder alphabetischen Stufe folgt der Erwerb des orthographischen Schreibens im engeren Sinne als Regellernen. Der Blickwinkel der Kompetenzentfaltung
61
Wortschreibungskompetenz und sprachbewusster Unterricht
folgt der Perspektive eines Schriftkundigen, der sprachliches Wissen schon erworben hat (bewusste „top down“-Prozesse als Merksätze): Beachte die gesprochene Lautfolge, dann beachte den Wortaufbau. Dabei beachte die Vokale in betonten Silben, dann die Wortbausteine. Dann beachte die Satzstruktur. Treffend bezeichnet Bredel (ersch.) die Arbeit mit Merksätzen als „Kapitulation vor dem System“. Die Kenntnis der basalen Lautanalyse basiert auf der „schreibnützlichen Aussprache“ als lautgetreue Schreibung. Sie ist die Voraussetzung für den Erwerb der Vokalquantitätenregeln und des morphologischen Aufbaus der Wörter (OG). Gleichwohl wird durch die Beispielwörter im Erdgeschoss (EG) deutlich, dass schon für die grundlegende Lautanalyse Wissen um die Vokalquantität und Wortform vorausgesetzt wird. Im Gegensatz zu den AR bezieht sich das Hausmodell im aufsteigenden 1. Obergeschoss für die Klärung der Vokalquantität auf silbenbezogene Regeln, die jedoch nicht einsichtig dargestellt werden. Obwohl das Hausmodell den Zusammenhang von phonologischem und morphologischem Wissen durch gemeinsame Verortung im 1. Obergeschoss visualisiert, folgen die Erklärungen der herkömmlichen statischen Trennung von Silbe und Morphem. Phänomenorientiertes Vorgehen, das von Naumann (2008: 150ff.) für die Kompetenzentfaltung vorgeschlagen wird, könnte forschendes Lernen und Aufbau von informationsreichen Wissenseinheiten verhindern. Auf der Grundlage seines Hausmodells differenziert Naumann die Stadien der Schriftspracherwerbsmodelle und benennt für die einzelnen Jahrgangsstufen die zu erreichenden Kompetenzstufen, die konsequent wiederum dem herkömmlich stufenweisen Aufbau folgen (vgl. Abb. 2): erst lautorientierte Verschriftung für den Anfangsunterricht, dann in der 3. Klasse Erwerb orthographischer Regeln hinsichtlich der Vokalquantität und morphologischer Ableitungen. (2)
Entwicklung der Rechtschreibung über 8 Schuljahre (nach Naumann 2008: 149)
Teilbereich 1 2 3 !!! Lautorientierung !! Morphologie ! Vokalsorten !! Großschreibung, auch morph. !! Abstrakta/Substantivierungen !!! Komma ! das/dass Sicherheitsgrade: recht gut ! bis sehr gut !!! gesichert
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Gabriele Hinney
Die HSP (Hamburger Schreibprobe) bzw. DSP (Deutsche Schreibprobe) (May 2008; vgl. Abb. 3) mit der Unterscheidung von alphabetischer, orthographischer und morphematischer Strategie entspricht recht genau den drei Etagen des Hausmodells. Auch die Deutung des Lernprozesses folgt wiederum dem herkömmlichen linear-stufenweisen Sprachmodell: (3)
Typische Schreibungen bei verschiedenen Lerngruppen am Beispiel des Wortes
Klassenstufe
I
II
III
IV
V
Klasse 1: Mitte
fa--rat
fa--rat
f---r-t
--------
Klasse 1: Ende
fa--rat fa-rad fa--rad
fa--rat
fa--r-t fa--rat fa--rat
fa--rat
f-------
fa--rat fa--rad fa-rad fah-rad fah-rad
fa--rat
fa--rat
fa--rat fa--rad fa-rad
fa--rat
f------t f---r-t fa--r-t
fah-rad
Klasse 2: Mitte Klasse 2: Ende Klasse 3: Mitte
fah-rad fahrrad fahrrad
Klasse 3: Ende
+
Klasse 4: Mitte
+
fah-rad fahrrad fahrrad
Klasse 4: Ende
+
+
fa--rat
fahrrad
fa--rat fa--rad fa--rad fah-rad fah-rad
+
fah-rad
fa--rad
fa--rat fa--rad fa--rad
Die Ergebnisse einer groß angelegten Untersuchung (400 Hamburger Kinder) bestätigen May (1990) in seinen Annahmen der Kompetenzentfaltung von alphabetischer, orthographischer und morphematischer Strategie. Angesichts der qualitativen Fehleranalysen (hier am Beispiel des Wortes
Wortschreibungskompetenz und sprachbewusster Unterricht
63
der Schriftsprache schneller und sicherer oder langsamer und labiler verläuft [...]. 2. Die Unterschiede zwischen den Gruppen bestehen offensichtlich von Anfang an; sie dürfen also auch unterschiedlichen Voraussetzungen für den schulischen Schriftspracherwerb zuzuschreiben sein. Die meisten der schnelleren Schriftlerner verfügen schon zu einem so frühen Zeitpunkt (nach wenigen Schulwochen) über sichere Kenntnisse vom grundlegenden Aufbau unserer Schrift als Zuordnung von Buchstabenfolgen zu gesprochenen Lautfolgen, dass ihr schriftsprachlicher Lernprozess lange vor der Schule begonnen haben muss. 3. Kinder, die nach kurzer Zeit Wörter relativ vollständig verschriften können, eignen sich auch andere Teilaspekte des Rechtschreibens (z. B. Lautdifferenzierung, Beachten von Rechtschreibmustern und spezifischen Regeln) rascher und sicherer an als jene Kinder, die noch längere Zeit Mühe haben, überhaupt Phoneme durch Buchstaben zu bezeichnen. [...] Je früher die Lernentwicklung einsetzt, desto dynamischer schreitet sie voran – und umgekehrt.
Rechtschreibkompetenz als Teilbereich einer umfassenden Sprachkompetenz und die umfassenden sprachlichen Voraussetzungen einer konstruktiven Schriftaneignung sind wichtige Komponenten des Alternativmodells im vierten Kapitel. Leider zieht m. E. May aus seinen wichtigen Erkenntnissen nicht die angemessenen Schlüsse, da er dem Lernkontext im Unterricht für die Kompetenzentfaltung wenig Bedeutung beimisst. So ist z. B. zu fragen, ob qualitativ andere Lernkontexte nicht zu anderen Entwicklungen führen können.
3.2
Die Bildungsstandards für die Primarstufe
Die Bildungsstandards sind im Anschluss an die Veröffentlichung der Bildungsexpertise sehr vorschnell veröffentlicht worden. Sie wurden formuliert, ohne dass wissenschaftliche Kompetenzmodelle vorlagen. Es würde den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen, die Standards für die Primarstufe (4. Klasse) angemessen zu analysieren und zu erörtern. In Teilaspekten hat Bremerich-Vos (2004) eine differenzierte Analyse vorgelegt. Im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung geht es um die schrifttheoretischen Annahmen, die sowohl der Standardisierung als auch der Kompetenzdefinition zugrunde liegen. In Abb. 4 sind die Rechtschreibkompetenzformulierungen und die Standards für die Primarstufe wiedergegeben. Kritisch anzumerken sei an dieser Stelle die Trennung von Anfangsunterricht (1. und 2. Jahrgang) und Rechtschreibunterricht im 3. und 4. Jahrgang.
64 (4)
Gabriele Hinney Bildungsstandards Deutsch für den Primarbereich (Jahrgangsstufe 4) (KMK 2005: 13f.) Rechtschreibkompetenz: Richtig schreiben als Teil des Kompetenzbereichs Schreiben Die Kinder verfügen über grundlegende Rechtschreibstrategien. Sie können lautentsprechend verschriften und berücksichtigen orthographische und morphematische Regelungen und grammatisches Wissen. Sie haben erste Einsichten in die Prinzipien der Rechtschreibung gewonnen. Sie erproben und vergleichen Schreibweisen und denken über sie nach. Sie gelangen durch Vergleichen, Nachschlagen im Wörterbuch und Anwenden von Regeln zur richtigen Schreibweise. Sie entwickeln Rechtschreibgespür und Selbstverantwortung ihren Texten gegenüber. Rechtschreibstandards Geübte, rechtschreibwichtige Wörter normgerecht schreiben Rechtschreibstrategien verwenden: Mitsprechen, Ableiten, Einprägen Zeichensetzungen beachten: Punkt, Fragezeichen, Ausrufezeichen, Zeichen bei wörtlicher Rede Über Fehlersensibilität und Rechtschreibgespür verfügen Rechtschreibhilfen verwenden (Wörterbuch nutzen, Rechtschreibhilfen des Computers kritisch nutzen Arbeitstechniken nutzen (methodisch sinnvoll abschreiben, Übungsformen selbständig nutzen, Texte auf orthographische Richtigkeit überprüfen und korrigieren).
Einige methodische Entscheidungen der Kompetenzdefinition können positiv bewertet werden. Anzuführen sind die Favorisierung eines kognitiven Zugangs, ein problemlösendes Vorgehen, Förderung des orthographischen Zweifelns und die eigenverantwortliche orthographische Überarbeitung eines Textes. Wie im zweiten Kapitel erörtert wurde, bleibt das kognitive Lernparadigma ohne Berücksichtigung der sprachlichen Voraussetzungen eines Schriftlernenden allerdings problematisch. Überdies ist die Reihung der Anforderungsbereiche für die Beurteilung von Rechtschreibleistungen wie Anforderungsbereich I „Wiedergeben“, Anforderungsbereich II „Zusammenhänge herstellen“ und Anforderungsbereich III „Reflektieren und beurteilen“ für die Rechtschreibkompetenz schwer zu begründen. Die Formulierung der Teilkompetenzen wie z. B. lautorientiertes, orthographisches und morphematisches Schreiben folgen der Logik des statischlinearen Kompetenzmodells. Deswegen sind auch die angeführten Strategien zu problematisieren. Das bloße Mitsprechen als grundlegende Strategie ist – wie oben erörtert – für Lernende eine unangemessene Problemlösung. Durch die schulorthographische Grundlegung kommt es in den Bildungsstandards und damit auch in den Kerncurricula zu Vereinfachungen, die einer Kompetenzentfaltung entgegenwirken könnten. So ist die Gefahr sehr groß, dass Kinder mit ungünsti-
Wortschreibungskompetenz und sprachbewusster Unterricht
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gen sprachlichen Voraussetzungen im Anfangsunterricht durch lautgetreues Schreiben ihre Schriftspracherfahrungen mit einer nicht angemessenen Strategie strukturieren. Denn der sprachanalytische Problemlösungsprozess, der auch lautgetreuen Wortschreibungen zugrundeliegt, wird im Unterricht nicht gesehen und gefördert. Auf der Stufe des Wissenserwerbs stellen sich somit für einige Kinder schon Barrieren ein, die durch den anschließenden Rechtschreibunterricht vermutlich noch verstärkt werden. In den 3. und 4. Klassen werden diese Kinder mit einem Unterricht konfrontiert, der auf Merksätze und phänomenorientierten Unterricht oder auf ganze Wortlisten zurückgreift, die übend einzuprägen sind. Zusammenfassend lässt sich aus der Analyse herkömmlicher Kompetenzdefinitionen folgern: Das statisch-lineare Kompetenzmodell kann dazu führen, Kinder mit ungünstigen sprachlichen Voraussetzungen durch nicht adäquate Instruktionen auf ihrem Weg zur Schrift zu blockieren. Die Ergebnisse der Längsschnittuntersuchungen, wonach sich schon sehr früh individuelle Unterschiede im Lesen und Schreiben als stabil erweisen und auch über längere Zeitabschnitte erhalten bleiben, verwundern deswegen nicht. Aus diesem Grund ist Naumann (2008: 134) nicht zuzustimmen, wenn er im Zusammenhang mit der Kompetenzdebatte schreibt: Die hohe Gewichtung der Rechtschreibung in Öffentlichkeit und Schule ist fatal für das Lernen der Rechtschreibung. Das Lesen wäre eigentlich in der Schule früher lernwichtig, nicht nur für den Deutschunterricht, und wird im späteren Leben geradezu lebenswichtig. Aber das Lesen wird faktisch zurückgestellt hinter einen schnellen – man ist versucht zu sagen hysterisch: überhasteten – Rechtschreiberwerb. Manches in der Rechtschreibung ist aber wohl erst Sekundarstufen-Schüler/innen zugänglich.
Naumann unterscheidet nicht zwischen dem Umgang mit orthographischen Fehlern und dem Lerngegenstand. Rechtschreiben als Kulturtechnik und „second class skills“ hat seiner Meinung nach dienende Funktion für das Schreiben. So sehen es auch die Verfasser/innen der Bildungsstandards. Die Einordnung des Rechtschreibens in den Kompetenzbereich Schreiben ist aus dieser Sicht konsequent. Wie noch zu zeigen sein wird, hängen Lesen und Schreiben auf der Stufe des sprachlichen Wissenserwerbs jedoch eng zusammen (vgl. Kap. 4). Vor diesem Hintergrund können Lesen und Schreiben als sprachliche Handlungen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Der Begriff des „hysterisch überhasteten“ Rechtschreiberwerbs unterstreicht noch einmal Naumanns These von der Überbewertung der frühen Rechtschreibleistungen in der Grundschule. Nun belegen die oben angeführten Längsschnittuntersuchungen die Bedeutung der ersten Schrift-Spracherfahrungen. Deswegen ist Röbers Kritik am herkömmlichen Anfangsunterricht mit Nachdruck zu unterstützen: „Meine Argumentation will zeigen, dass eine Relation zwischen den defizitären Leistungen der Kinder, die als ‚legasthe-
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Gabriele Hinney
nisch‘, ‚lese-rechtschreibschwach‘ usw. stigmatisiert werden, und dem Unterricht, den sie erfahren haben, angenommen werden muss.“ (Röber-Siekmeyer 2001: 42) Wie sich aus sprachdidaktischer Sicht die Teilfähigkeiten einer voll ausgebildeten Rechtschreibkompetenz aufbauen, dazu liegen derzeit keine streng empirisch kontrollierten Studien vor. Gleichwohl soll die folgende Alternativkonzeption zeigen, warum die Annahme eines linearen Stufenmodells nicht unwidersprochen bleiben kann. Entwicklung der orthographischen Kompetenz als Einsicht in die komplexen Zusammenhänge von gesprochener und geschriebener Sprache stellt deswegen die didaktische Frage nach dem vorausgesetzten Wissen für den Lernprozess neu. Im folgenden Kapitel wird nun gezeigt, wie die sprachbezogenen Voraussetzungen des herkömmlichen Anfangsunterrichts sowie des herkömmlichen Rechtschreibunterrichts durch die graphematische Schriftlichkeitsforschung präzisiert werden können.
4
Rechtschreibkompetenz und Graphematik. Ein integrativhierarchisches Modell
Durch die aktuelle Schriftlichkeitsforschung im Rahmen des graphematischen Ansatzes wurde der eigenständige Systemcharakter der deutschen Orthographie aufgedeckt. Demnach beruht die Orthographie zwar auf dem alphabetischen Schriftsystem, die Buchstaben und deren Kombination werden jedoch nicht nur zur Wiedergabe von Lauten oder Lautverknüpfungen genutzt, sondern auch zur Repräsentation prosodischer, morphologischer und syntaktischer Informationen. Die Normierung, die immer gleiche Schreibung, erleichtert dem Leser die Sinnentnahme und ist auf maximale Verständnissicherung ausgerichtet. In der Orientierung an den Bedürfnissen des Lesers liegt somit der Schlüssel zum Verständnis der Rechtschreibung. Das Deutsche ist eine typische Leseorthographie. Darüber hinaus kann die Bedeutung des Orthographieerwerbs für einen bewussten Spracherwerb begründet werden. Kinder werden beim Erwerb der Schriftsprache in ein neues, ihnen bis zu diesem Zeitpunkt unbekanntes System mit eigenen Regularitäten eingeführt. Ganz unbekannt ist ihnen das neue System allerdings nicht: Sollte es richtig sein – und alles spricht dafür –, dass die Schriftsprache neben lautlich segmentalen auch prosodische, lexikalische und syntaktische Struktureigenschaften sichtbar macht, so ist der Erwerb der Schrift die Wieder-Aneignung der eigenen Sprachkompetenz – freilich auf höherem Niveau: Denn mit dem Erwerb der Orthographie gewinnen Lernende
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Einblicke in die Strukturen ihrer Sprache sowie sie umgekehrt ihr Strukturwissen, ihr sprachliches Können als kompetente Produzenten und Rezipienten für die Rekonstruktion der Orthographie nutzbar machen. (Bredel 2004: 2)
Die Wortschreibung als eine besondere Form der sprachlichen Äußerung ist in Anlehnung an Eisenberg in ihrem systematischen Zusammenhang von phonologischen und morphologischen Regularitäten zu erklären. Die sprachdidaktische Relevanz seines Orthographiemodells soll im Folgenden exemplarisch verdeutlicht werden.
4.1
Die sachanalytischen Grundlagen zur Wortschreibung und ihre sprachdidaktischen Schlussfolgerungen
In der Konkretisierung der für das kognitive Lernkonzept wichtigen Aussage „Der Schreiber kann die Orthographie seiner Sprache nicht nur beherrschen, er kann sie auch verstehen“ (Eisenberg 72005: 65; Hervorhebung von mir, G. H.) geht Eisenberg davon aus, dass das Schriftsystem – ebenso wie das Lautsystem – als ein Teilsystem des umfassenden Sprachsystems betrachtet werden muss und eigene Regularitäten besitzt. Integraler Bestandteil des Sprachsystems bedeutet aber auch integraler Bestandteil der einzelsprachlichen Grammatik des Deutschen, so dass das Schriftsystem der gesprochenen Sprache gegenüber nicht einfach sekundär ist, sondern beide Systeme einander bedingen. Bei den Grundregularitäten der Wortschreibung unterscheidet Eisenberg zwei große Gruppen: Die erste Gruppe betrifft die Graphemkombinatorik (Buchstabenschreibung). Diese Regularitäten bestimmen, mit welchen Graphemen (Buchstaben) eine Wortform geschrieben wird. Die zweite Gruppe betrifft die Groß-/Kleinschreibung. Die Regularitäten der Buchstabenschreibung, auf die sich die vorliegende Untersuchung beschränken muss (zur Groß-/Kleinschreibung vgl. Bredel in diesem Band), sind so formuliert, dass Zusammenhänge innerhalb des Schriftsystems aufgezeigt werden und dass deutlich wird, welche Zusammenhänge zu den Lautstrukturen der Wörter bestehen. Der graphematische Zugang zur Rechtschreibung untermauert die Bedeutung des Erwerbs sprachlichen Wissens. Ossner (2001: 142) gebraucht in diesem Zusammenhang die treffende Metapher von „der Orthographie als Tor für die Sprache“. Richtungsweisend für eine alternative Kompetenzmodellierung sind die Verweise Eisenbergs: – auf die funktionale Bedeutung des Orthographieerwerbs für die Lese- und Sprachkompetenz (vgl. Eisenberg 2004: 12f., 72005, Eisenberg/Feilke 2001: 6f.),
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Gabriele Hinney – auf den systematisch geregelten Kernbereich der Wortschreibung als integraler Bestandteil der Grammatik des Deutschen, – auf die Struktur der Schreibsilbe in ihrer Schlüsselstellung zur Kodierung phonologischer Regularitäten (Ableitung von der Wortschreibung auf das gesprochene Wort), – auf die Explizitlautung als phonologische Bezugsgröße für die Wortschreibungen, – auf das zweischrittige Konstruktionsprinzip (Baumuster) unserer Wortschreibungen.
Das Schriftsystem im Allgemeinen und das System der Wortschreibung im Besonderen sind in Anlehnung an Eisenberg im Kern regelhaft. Lernende brauchen demzufolge eine Einsicht in die schriftsystematischen Zusammenhänge, die in ihrer Funktion als Lesehilfe zu erschließen sind. Zu unterscheiden sind Wort-, Satz- und Textebene. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich auf die Wortebene. Es herrscht immer noch Forschungsbedarf bezüglich Art und Umfang des Zusammenhangs von Lese- und Schreiberwerb (vgl. Becker 2008). Die aktuelle Leseforschung deutet Lesen als interaktiven Prozess und unterscheidet fünf Teilprozesse: Mikroprozesse auf Wort- bzw. Wortgruppenebene, Integrationsebene (Nutzung der Verknüpfungen von Sätzen), Makroprozesse (Identifikation der Hauptaussagen), Erarbeitungsprozesse und metakognitive Prozesse (vgl. Europäische Kommission 1999: 16–19). (Recht)schreiben kann nach der oben angeführten Definition zwar nicht mit Lesen gleichgesetzt werden, aber es gibt vermutlich grundlegende Wechselwirkungen hinsichtlich des Erwerbs relevanter sprachlicher Informationen. Dieser Aspekt soll am Beispiel der schriftsystematischen Zusammenhänge zur Vokalquantität verdeutlicht werden. 4.1.1 Regularitäten zur Kennzeichnung der Vokalquantität Die Regularitäten zur Kennzeichnung der Vokalquantität sind durch das „zweischrittige Konstruktionsmuster der Wortschreibung“ bestimmt, d. h. phonologische und morphologische Regularitäten sind systematisch aufeinander bezogen. 1. Schritt: Die prototypische Schreibsilbe (das ist der zweisilbige Trochäus, wie er den meisten zweisilbigen Verben, Nomen, Adjektiven und Adverbien als Simplizia zugrundeliegt) enthält die Informationen zur Vokalquantität regelhaft (phonologische Regularitäten). 2. Schritt: Die spezifischen phonologischen Regularitäten werden an alle Wortformen vererbt und können durch die prototypische Langformbildung wieder sichtbar werden (morphologische Regularitäten, vgl. Abb. 5). Folgende Voraussetzungen sind für die Einsicht in die Vokalquantitätenbezeichnung zu berücksichtigen:
Wortschreibungskompetenz und sprachbewusster Unterricht
69
a) Die systematische Lautanalyse ist bezogen auf die Position des Lautes in der Silbe. Zu unterscheiden sind hierfür: betonte und unbetonte Silbe, Silbenanfangsrand, Silbenkern, Silbenschnitt und Silbenendrand. Die unbetonte Silbe hat wenige Varietäten. Sie markiert gleichzeitig morphologische Informationen; z. B. e, er, en bei Nomen für Pluralformen und en bei Verben als Grundform für Verben. b) Die prototypische Schreibsilbe bezieht sich auf die Explizitlautung. Explizitlautung ist nach Eisenberg unter folgenden Voraussetzungen gegeben: Die Wortformen werden einzeln ausgesprochen. Ihre Lautform ist nicht durch die Lautform vorausgehender oder nachfolgender Formen beeinflusst. Die Wortformen werden so ausgesprochen, dass jeder Einzellaut alle seine funktionalen artikulatorischen Merkmale hat. Die Wortformen werden so ausgesprochen, dass alle Silben vorhanden sind und jeder Silbenkern ein Vokal ist. (Aus dem Grunde kann die Standardlautung auch nicht als Bezugsgröße angesehen werden). Die Wortformen werden mit Normalbetonung (trochäisch) ausgesprochen, nicht aber mit besonderen Betonungen wie die Überlautung und Schriftlautung. c) Der Endrand in der betonten Schreibsilbe kennzeichnet die Vokallänge, und aus diesem Grund können Lang- und Kurzvokale mit demselben Buchstaben geschrieben werden. Folgende Regularitäten lassen sich systematisch erschließen: Offene unmarkierte Silben (der Endrand ist nicht besetzt) verweisen auf den langen, gespannten Vokal, z. B. holen. Geschlossene unmarkierte Silben (der Endrand der Silbe ist mit einem Konsonantbuchstaben besetzt) verweisen auf den kurzen ungespannten Vokal, z. B. Winter. Offene markierte Silben sind durch ie-Schreibung (z. B. liebe) und das silbentrennende h gekennzeichnet (z. B. se-hen, fro-he). Sie verweisen wiederum auf den langen gespannten Vokal. Das silbentrennende h ist nicht als Konsonant hörbar. Es kann jedoch in seiner systematisch geregelten silbentrennenden Funktion nach Vokalen durch den trochäischen Rhythmus erschlossen werden. Geschlossene markierte Schreibungen sind durch die Verdoppelung des Konsonantenbuchstabens gekennzeichnet (Abweichungen ck für kk und tz für zz). Hier gilt in der phonologischen Form der Fall, dass ein ambisilbischer Konsonant die zwei Silben wie ein Gelenk verbindet. Die Silbengrenze liegt also jeweils in dem Konsonanten. Dieses so genannte „Silbengelenk“ wird in der geschriebenen Form mit zwei Buchstaben gekennzeichnet. 2 Die Schreibsilbe ist somit wieder geschlossen und kennzeichnet Vokalkürze.
––––––– 2
Stehen Mehrgraphen für ein Silbengelenk, so werden sie nicht verdoppelt: Fische, Küche, Hunger u. a.
70 (5)
Gabriele Hinney Das zweischrittige Baumuster der Wortschreibung in der Hauptsilbe (drei Beispiele)
Prototypische Schreibsilbe
1. Bau der Schreibsilbe und ihre Struktur am Silbenschnitt
2. Vererbung der silbenstrukturellen Informationen an alle Wortformen der Wortfamilie
Aufdecken der morphologischen und phonologischen Regularitäten durch Segmentierung und Langformbildung
ho-len
Unmarkierte offene Silbe – langer Vokal
Du holst Flexion
holen
ren-nen
Markierte Rennwagen geschlossene Silbe – Kompositum Silbengelenk – kurzer Vokal
Renn – wagen rennen
lie-ben
Markierte offene Silbe, offene Silbe – langer Vokal
Lieb – ling (Suffix) lieben
4.2
Liebling Derivat
Sprachdidaktische Schlussfolgerungen
Zusammenfassend ergeben sich aus der Darstellung der sprachwissenschaftlichen Grundlagen folgende sprachdidaktische Schlussfolgerungen: Rechtschreiben leistet einen wichtigen Beitrag zur Schriftsprachkultur. Deswegen müssen neben einer emotionalen Lernkultur die kognitiven Anforderungen der Schriftaneignung für Lernende angemessen modelliert werden. Rechtschreibkompetenz wäre aus dieser Sicht dem Kompetenzbereich „Sprache und Sprache untersuchen“ zuzuordnen (vgl. Bildungsstandards). Damit wird dann gleichzeitig deutlich, dass Rechtschreiben kumulativ mit allen anderen Kompetenzbereichen (Sprechen, Lesen) – eben nicht nur mit dem Schreiben – verbunden ist. Die Wortschreibung des nativen Wortschatzes ist gekennzeichnet durch einen Kernbereich (K) und durch einen peripheren Bereich (P) (vgl. hierzu auch die Beiträge von Primus, Fuhrhop und Bredel in diesem Band). Der Kernbereich bildet die Grundlage der Förderung. Lehrende und Lernende sollen in die Lage versetzt werden, reguläre Wortschreibungen des Kernbereichs von spezifischen Wortschreibungen des peripheren Bereichs zu unterscheiden. Für die Einsicht in die schriftsystematischen Zusammenhänge der
Wortschreibungskompetenz und sprachbewusster Unterricht
71
Wortschreibung brauchen Lehrende klare Hinweise für die Auswahl des Wortmaterials und bestimmter Wortprototypen (vgl. Abb. 6). Gleichzeitig können die Zusammenhänge von Orthographie und Lesen und bewusstem Spracherwerb auch für Lehrende gut begründet werden. Die meisten Wortschreibungen im Kernbereich des Deutschen beruhen auf mehr als einem Prinzip. Dennoch sind sie ein strukturiertes Ganzes und folgen einer Ordnung, die im Zusammenhang der Wortgrammatik zu sehen ist: Phonologische und morphologische Schreibungen (zweischrittiges Konstruktionsprinzip) sind systematisch aufeinander bezogen. Deswegen können viele Lernende – wie die Ergebnisse des Spracherfahrungsansatzes belegen – die Wortschreibungen eigenaktiv entdecken. Lernende mit ungünstigen Voraussetzungen brauchen jedoch fundierte unterrichtliche Unterstützung und Strukturierungshilfen für den sprachanalytischen Problemlösungsprozess (vgl. a. Blatt/Müller/Voss in diesem Band). (6) Prototypische Wortschreibungen im Kernbereich und ihre grammatischen Informationen A. Die Schreibsilbe als informationsreiche sprachliche Wissenseinheit. Zu unterscheiden sind als Silbentypen solche, die betont und solche, die unbetont gelesen werden. Silbenanfangsrand in der betonten Silbe: In der Regel wird der Anfangsrand der Schlüsselwörter im betonten Teil phonemtreu geschrieben, z. B. Rose, Hose, Blumen. Aus didaktischer Sicht ist für viele Lernende ein Sprachdifferenzbewusstsein anzubahnen, da umgangssprachlich und dialektal viele komplexe Silbenanfangsränder entstimmt werden, z. B.: [plu«mn] für [blu«mn]. Der Aufbau des Silbenanfangsrands folgt systematischen Regeln der Sonoritätshierarchie. Es ist deshalb sinnvoll, bei der Auswahl des Wortmaterials den Aufbau des Silbenrands zu berücksichtigen. Besonderheiten am Silbenanfangsrand: sp/st: Am Anfang einer Silbe am Wortanfang wird /s/, artikuliert als /6/, vor t oder p zu <st> und <sp>. qu: Die Lautfolge /kY/ am Silbenanfangsrand wird immer als
72
Gabriele Hinney B. Prototypische Wortschreibungen und spezifische Merkmale: Betonte Silbe, Silbenschnitt und Vokalquantität a. Phonologische Regularitäten Silbenschnitt (Lautbezug trochäisch) Offene Silbe: Vokal lang und gespannt
Geschlossene Silbe: Vokal kurz und ungespannt
Grundlegende Kennzeichnung
Grundlegende Kennzeichung mit Zusatzinformationen
a. reden, Blumen b. lieben, Briefe ([L«] wird als
sehen, Rehe, frohe Wortschreibungen mit Diphthongen wie weihen gehören zur Peripherie.
a. kommen, Butter, platte b. backen, Katze c. Küche, Fische, Hunger, Hexe (keine Sondermarkierung des Silbengelenks)
b. morphologische Informationen zur Vokalquantität (Langformbildung) Die phonologischen Regularitäten der Vokalquantität werden an alle flektierten und wortgebildeten Formen vererbt. Durch die Langformbildung kann die Schreibsilbe abgeleitet werden, z. B. du kommst – kommen, Frühling – frühe u. a. Anmerkungen: Die morphologische Schreibung funktioniert nicht als „blindes“ Prinzip der Angleichung, sondern im Sinne gerichteter morphologischer Prozesse. Formen werden dann gleich geschrieben, wenn sie morphologisch aufeinander bezogen sind. Kam wegen kamen und kommt wegen kommen. C. Prototypische Wortschreibungen und spezifische Merkmale: S-Schreibungen a. phonologische Informationen Silbenschnitt (Lautbezug trochäisch) Offene Silbe: Vokal lang und gespannt Geschlossene Silbe: Vokal kurz und ungespannt
<s> [z] Reise, reisen, lose --
<ß> [s]/
<ss> [s] Silbengelenk Füße, grüßen, -große -Wasser, müssen, nasse
b. morphologische Informationen Die phonologischen Regularitäten der Vokalquantität werden an alle flektierten und wortgebildeten Formen vererbt. Durch die Langformbildung kann die Schreibsilbe wieder abgeleitet werden, z. B. du reist –reisen; du grüßt – grüßen; Kuss – Küsse. Anmerkung: <s> ist in der einsilbigen Wortform nicht ableitbar, dann immer <s>, z. B. fast, aber fasst wegen fassen (Flexions-s fällt in der einsilbigen Form weg).
Wortschreibungskompetenz und sprachbewusster Unterricht
4.3
73
Das Kompetenzmodell zur Wortschreibung. Ein integrativhierarchisches Modell
Unter Berücksichtigung der oben angeführten schrifttheoretischen Grundlagen wurde ein Kompetenzmodell zur Wortschreibung im Rahmen der qualitativen Unterrichtsforschung konzipiert (Hinney 1997) und durch weitere theoretische Überlegungen und praktische Umsetzungen in einigen Entscheidungen korrigiert und weiterentwickelt (Hinney 2002, 2004). 4.3.1 Voraussetzungen des Modells Damit die Kinder in der Beschäftigung mit der Rechtschreibung überhaupt einen Sinn erkennen, müssen sie die pragmatische Bedeutung der Rechtschreibung als Lesehilfe durch eigenes Schreiben und Lesen erfahren. Die zentrale Anforderung des Unterrichtsmodells zur Kompetenzentfaltung liegt in der Fähigkeit des Schriftlernenden, durch ein problemlösendes Lernen die Zusammenhänge von gesprochener und geschriebener Sprache zu verstehen, d. h. lesend und schreibend. Dafür sollen prototypische Baumuster der Wortschreibung (vgl. Abb. 8) als Gegenstand sprachanalytischer Untersuchungen zeitweise im Mittelpunkt des Unterrichts stehen. Regeln werden nicht vorgegeben. Lehrende gruppieren hingegen Wortschreibungen mit spezifischen Baumustern als Modellwörter (trochäische Zweisilber wie geben, Hose, Kante, finden), um informative Wissenseinheiten bei den Schüler/innen herauszubilden und eigenaktive handlungsleitende Generalisierungen zu ermöglichen (reflexives Lernen). Kinder zur Kontrolle ihres Lernprozesses anzuleiten bedeutet, dass die Unterrichtenden die spezifischen Lernschwierigkeiten erkennen und konstruktive Lernschritte anbahnen. Damit alle Kinder ihren Weg zur Schrift finden, muss gerade im schriftsprachlichen Anfangsunterricht die Lehr-Lernorganisation auf dialogisches Lernen ausgerichtet sein, d. h. die Untersuchung der Wortschreibungen kann als eine gemeinsame Aufgabe von Lehrenden und Lernenden betrachtet werden. Drei zentrale Leitimpulse dafür sind: (1) Ich mache das so. (2) Wie machst du es? (3) Das machen wir ab. Durch die Reflexion zwischen Lehrenden und Lernenden kann Handlungskompetenz mit Metakompetenz verbunden werden (vgl. Hinney 1997, Ruf/Gallin 1998). Sprachdidaktische Lernbeobachtungen unterscheiden sich grundsätzlich von der psychologischen Diagnostik. Vorrangig geht es nicht um eine Selektionsdiagnostik auf Grund objektiver Testdaten, sondern um Sprachberatung und Initiierung von Lernprozessen (Förderdiagnostik). Die Fehleranalyse und ihre Kategorien dienen dazu, dem Unterrichtenden und dem Kind Wege des Lernens aufzuzeigen, die für das Kind angemessen sind. Da Leistungsmes-
74
Gabriele Hinney
sungen unverzichtbare Komponenten der schulischen Qualitätsentwicklung sind (vgl. Kap. 2), sind Lernbeobachtungen jedoch immer auch an sachbezogenen Kriterien zu orientieren. Im Gegensatz zu vielen Ansätzen bei der Förderung von Kindern mit besonderen Lernschwierigkeiten wird im vorliegenden Modell davon ausgegangen, dass Lehrer/innen, die die Grundlagen des schriftsystematischen Ansatzes kennen, in der Lage sind, Lernbeobachtungen eigenständig durchzuführen und entsprechende Fördermaterialien zu erstellen. Es kann als Degradierung des Lehrerberufes angesehen werden, wenn Lehrenden kein förderdiagnostisches Vorgehen zugetraut wird (vgl. Löffler/Meyer-Schepers 2004). 4.3.2 Theoretische Struktur Abb. 7 zeigt das Basismodell zur Definition der Wortschreibkompetenz. Die Einsicht in das zweischrittige Konstruktionsprinzip der Wortschreibung (rezeptiv) und dessen Anwendung (produktiv) konstituieren die „Wortschreibungskompetenz im Kernbereich“ als Teildimension der umfassenden Rechtschreibkompetenz. Vor dem Hintergrund der lexikalischen Bedeutung können die Kinder die spezifischen phonologischen Informationen der Schreibsilbe (Schlüsselwort) und ihre morphologischen Vererbungen als informative Wissenseinheit durch die Silbenprobe operativ erschließen und anwenden. Mit diesem Wissen erhalten sie gleichzeitig das metasprachliche Handlungswissen, die eigenen Wortschreibungen zu überprüfen (kontrolliertes Schreiben). Wortschreibungen, die nicht dem Kernbereich zuzuordnen sind, bilden eine eigenständige Teildimension „Wortschreibungskompetenz im Ergänzungsbereich“.
Wortschreibungskompetenz und sprachbewusster Unterricht (7)
Basismodell zur Wortschreibungskompetenz
Basismodell zur Wortschreibungskompetenz Wortschreibungskompetenz im Kernbereich (K) Wörter mit prototypischen Baumustern automatisiert schreiben und durch metasprachliches Kontrollesen überprüfen
Silbenprobe 1
Schlüsselwort
Silbenprobe 2
Ableitung des Schlüsselworts
Wissenserwerb und Automation
Wissenserwerb und Automation
•Strukturiertes Wortlesen: Entdecken der phonologischen Regularitäten durch Analyse der zweisilbigen Wortschreibung. Herausbildung der sprachlichen Kategorien Phon/Phonem, Silbe (Anfangsrand, Kern, Endrand)
•Strukturiertes Wortlesen: Entdecken der morphologischen Regularitäten, einschließlich Wortbildung (Komposition, Derivation) Herausbildung der sprachlichen Kategorien Wort, Wortstamm, Wortbausteine, Flexionsendungen
•Schreiben und überprüfen der Wortschreibung durch metasprachliches Kontrollesen
•Schreiben und überprüfen der Wortschreibung durch metasprachliches Kontrollesen
Wortschreibungskompetenz im Ergänzungsbereich (E) Wörter mit besonderen Baumustern (Fremdwörter, Ausnahmewörter u. a.) schreiben und durch explizites Wissen (vom Regelbereich abweichendes Baumuster) begründen, z. B. Ti-ger, aber nicht mit ie
75
76
Gabriele Hinney
Auf der Basis der vorliegenden theoretischen Struktur haben Voss/Blatt/ Kowalski (2007) die Wortschreibungskompetenz statistisch modelliert und die Validität des vorliegenden Modells bestätigt. Die Wortbildung wurde in der empirischen Prüfung jedoch als spezifische Teildimension gesondert betrachtet. Zur Ausbildung der Teildimension „Wortschreibungskompetenz im Kernbereich“ (K) sind aus theoretischer Sicht zwei Niveaustufen zu unterscheiden (vgl. a. Abb. 8): 1. Grundlegende prototypische Baumuster der Wortschreibung metasprachlich lesen und schreibend anwenden. 2. Spezifische prototypische Baumuster metasprachlich lesen und schreibend anwenden. Die markierte Vokalkürze als spezifisches prototypisches Baumuster kann als das Problem der Wortschreibungskompetenz angesehen werden. Thomé (1999: 153–161) belegt, dass in den Klassenstufen 3 und 4 nur drei der 159 Schüler/innen die Testwörter mit Doppelkonsonantbuchstaben richtig geschrieben haben. Darüber hinaus ist die Anzahl der Übergeneralisierungen in diesem Bereich beachtlich (ebd.: 161–165; vgl. a. die Analyse der IGLU-E Studie durch Valtin et al. 2003, 2004). Im vorliegenden Beitrag wird korrekten Wortschreibungen zur markierten Vokalkürze im Kernbereich ein hoher Validitätsgrad für die Beurteilung der elementaren Wortschreibungskompetenz beigemessen. Die besonderen Baumuster der Wortschreibung wären der Teildimension „Wortschreibungskompetenz im Ergänzungsbereich“ (E) zuzuordnen. Das Kompetenzmodell (Abb. 7) und der Überblick über die unterschiedlichen Niveaustufen der Kompetenzentfaltung (Abb. 8) bieten den Unterrichtenden einen Orientierungsrahmen für die Auswahl des angemessenen Wortmaterials. Im Rahmen von Lehrerfortbildungen können Lehrende auf der Grundlage des Basismodells und der angegebenen Niveaustufen die prototypischen Wortschreibungen mit ihren spezifischen Merkmalen im Rahmen didaktischer Landkarten sammeln und ordnen und die entsprechenden grammatischen Informationen zunächst selbst entdecken (vgl. Didaktische Landkarte zur Problemlösung
Wortschreibungskompetenz und sprachbewusster Unterricht (8)
77
Mögliche Niveaustufen der Wortschreibungskompetenz im Kernbereich
Niveaustufe
1. Grundlegende Baumuster metasprachl. erschließen und bei der Wortschreibung anwenden
2. Spezifische Baumuster meta-sprachl. erschließen und bei der Wortschreibung anwenden
Prototypische Wortschreibungen Ha-se, ho-len – holst; ö-len – ölst
Baumuster und grammatische Informationen
König – Könige
Spirantisierung
Prototypische Schreibsilbe als Schlüsselwort für phonologische Regularitäten (Modellwort) Bru-der, Brie-fe – Betonte und unbetonte Silbe, Brief, schrei-en – Anfangsrand der betonten und unbetonten schreist Silbe: Zunächst einfacher Anfangsrand (Sonoranten, stimmhafte Obstruenten, stimmlose Obstruenten), dann komplex, evtl. auch schon Bezug zu Affrikaten (Sonoritätshierarchie) Kern der betonten Silbe (Vokale, Umlaute, Diphthonge): offene Silbe offen verweist auf Vokallänge und Gespanntheit.
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Gabriele Hinney spülen – spülst, Spiegel, Steine – Stein
Besondere Regularitäten am Anfangsrand eines Wortes (<sp>,<st> Regel)
Pferde – Pfer-de, Pferdekutsche quieken sam-meln, kommen – kommst, Mut-ter, Betttuch
Besondere Regel am Anfangsrand eines Wortes
bac-ken und Katze
Hunger, Küche, Fische rei sen – reist, rei ßen – reißt Reißverschluss se-hen – siehst, Fernse-her
Regularitäten zur Wortbildung: Besonderheiten bei Mehrgraphen Regularitäten zur Verhärtung der Frikative /s/ und /z/ Regularitäten zur Wortbildung Grundlegende Regel zum silbeninitialen-h. Wörter mit <ei> gehören zum peripheren Bereich. Dehnungs-h wie Lehrer wird als Ausnahme eingeführt. Regularitäten zur Wortbildung i-Pronomen: h-Schreibung als Regelfall Hände – Hand, Häuser – Haus Regularitäten zur Wortbildung
ihm – ihr Hände – Hand, Häuser – Haus
4.3.3
Markierte Silbengrenze durch Doppelkonsonantbuchstaben (Silbengelenkschreibung)
Entfaltung der Wortschreibungskompetenz
4.3.3.1 Kognitiver Fertigkeitserwerb und sprachanalytischer Problemlösungsprozess In zahlreichen Handreichungen zum Schriftspracherwerb findet man in seltener Übereinstimmung den Vorschlag des so genannten „Lernens mit allen Sinnen“ (Hüttis-Graff 2009). Das mehrkanalige Lernen ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für einen konstruktiven Lernprozess aller Kinder. Die Annahme, Kinder mit ungünstigen Lernvoraussetzungen würden allein mit anregenden Lese- und Spielprojekten Lernfreude entwickeln und eher implizit ihren Weg zur Schrift zu finden, muss auf Grund der vorliegenden empirischen Datenbasis (vgl. Valtin et al. 2003, 2004) stark bezweifelt werden. Der Versuch, Schriftspracherwerb auch für Risikokinder verständlich zu machen, verlangt ein weit differenzierteres Vorgehen. In der vorliegenden Unterrichtskonzeption werden die erforderlichen Segmentierungen,
Wortschreibungskompetenz und sprachbewusster Unterricht
79
Kategorisierungen und Abstraktionen, die für den sprachanalytischen Prozess der Wortschreibungen erforderlich sind, durch spezifische Lernaufgaben initiiert und unterstützt. Hierbei sind didaktische und methodische Entscheidungen zu unterscheiden. Während die Lerninhalte (Auswahl des angemessenen Wortmaterials) bestimmten schrifttheoretischen Kriterien des Kompetenzmodells genügen müssen, sind methodische Entscheidungen durch das kognitive Lernparadigma bestimmt. In Anlehnung an das Modell zum kognitiven Fertigkeitserwerb (Anderson) werden zwei Phasen unterscheiden: die Phase des Wissenserwerbs und die Phase der Automation. Damit sind zwei für den Schriftspracherwerb gegenläufige Prozesse benannt: die metasprachliche Bewusstwerdung und die Automatisierung der Wortschreibung. Für die metasprachliche Bewusstwerdung muss das Kind spezifische Probleme der Wortschreibung erkennen, dann braucht es Methoden oder Strategien zur Lösung. Darüber hinaus muss es durch Analogien und Diskriminierungen Schlussfolgerungen ziehen und mit diesem Wissen als Generalisierung seine Schreibungen überprüfen. Auf die Frage, wie diese metasprachliche Bewusstwerdung unterrichtspraktisch gefördert werden soll, gibt es viele Antworten. In der weiter unten dargestellten Untersuchung wird das sprachanalytische Vorgehen als Online-Operation durch spielerische Übungen und Forscheraufgaben angebahnt (vgl. 4.3.3.2). Der große Vorteil von Lernspielen im Vergleich zu anderen Materialien liegt in der Motivation zum Experimentieren, die durch den Spielgedanken hervorgerufen wird. Das Regel-Finden und Verallgemeinern ist für ein Spiel konstitutiv. Nickel (2006: 371) spricht vom „spielerisch-detektivischen Umgang mit der Schrift“. Hinzuzufügen ist an dieser Stelle auch die Bedeutung des Spiels für den Austausch von Informationen innerhalb der Lerngruppe (soziale Dimension der Kompetenz) und das eigenständige Lernen und Kontrollieren (vgl. Hinney 2004, Pagel/Hinney 2007). Nach wie vor wissen wir empirisch nur sehr wenig darüber, welche spezifische Struktur der Wortschreibung das Kind mental nutzt, um erfolgreich lesen und schreiben zu lernen. Theoretisch plausibel ist jedoch der Weg, den sprachanalytischen Problemlösungsprozess durch Sprachangebote zu erleichtern, die bestimmte Merkmale und Baumuster der Wortschreibungen redundant enthalten, z. B. Verwendung von Schlüsselwörtern als Modellwörter (zweisilbige grundlegende trochäische Wortschreibungen) und Bewusstmachung bestimmter Strukturen wie Silbenanfangsrand, -kern u. a. durch bewusste Manipulationen wie z. B. Substitution. Die Baumuster der Wortschreibungen werden von den Kindern aus der Perspektive des strukturierten Lesens erschlossen. Die prototypische Schreibsilbe wird als Schlüsselwort bezeichnet, weil durch sein spezifisches Baumuster die relevanten phonologischen Regularitäten erschlossen werden können. Für den sprachanalytischen Problemlösungsprozess gelten folgende Schritte:
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Gabriele Hinney
1. Wir untersuchen das Schlüsselwort mit der Silbenprobe (Notation: ). 2. Wir suchen das Schlüsselwort (Notation: o). 3 Zu 1.: Das Verfahren, mit dem die Kinder die Schlüsselwörter untersuchen, ist die Silbenprobe (Notation: ). Sie besteht aus einer rhythmischen Silbensegmentierung als operatives metasprachliches Problemlösungswissen. Die angemessene Prosodie kann bei vielen Kindern nicht vorausgesetzt werden. Ein Bewusstsein für den trochäischen Sprachrhythmus soll durch das Operieren mit den Schlüsselwörtern auf eher implizitem Weg ausgebildet werden. Durch Übungsanweisungen wird die Wortschreibung hinsichtlich Silbenanfangsrand, Kern, Silbenschnitt, Silbenendrand, betonter, unbetonter Silbe strukturiert. Wie oben schon angefügt, handelt es sich bei den prototypischen Wortschreibungen um Nomen, Verben und Adjektive, die in der unbetonten Silbe morphologische Informationen tragen. Es kann deswegen bei bestimmten Lerngruppen wichtig sein, grundlegende morphologische Eigenschaften eines Wortes in dieser Phase entdecken zu lassen. Ziel der sprachlichen Operationen ist die Beantwortung der Frage: Was sagt mir die spezifische Struktur des Schlüsselwortes über die Bedeutung des Wortes? Damit die Schülerinnen und Schüler Auskunft bekommen, müssen sie lernen, Fragen zur Wortstruktur wie z. B. oder
––––––– 3
Die Notation ist dem Konzept des Dynamischen Rechtschreibens (Tacke et al. 1993) entlehnt.
Wortschreibungskompetenz und sprachbewusster Unterricht
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gen. Auf eine gegenständliche Abbildung der prototypischen Schreibsilbe wird in der vorliegenden Untersuchung verzichtet, weil die Modelle in ihrer Statik m. E. dem sprachlichen dynamischen Handeln entgegenwirken könnten. Ein weiteres wichtiges Ziel der vorliegenden Konzeption ist es, die Kinder dazu anzuleiten, über ihre Aussprachevarietäten zu reflektieren und ein Sprachdifferenzbewusstsein aufzubauen. Es bedeutet, den Unterschied zwischen den verschiedenen Varietäten (Explizitlautung, Standardlautung, Umgangslautung) zu begreifen und das Systematische im expliziten Lautbezug der Wortschreibung verstehen zu lernen. Dies lässt sich kaum erreichen durch Anweisungen wie „Sprich deutlich und klatsche mit den Händen“. Ein Kind, das z. B. trei für drei schreibt, weil es in seiner Umgangssprache den Unterschied von Stimmhaftigkeit und Stimmlosigkeit nicht differenziert, muss durch entsprechende sprachanalytische Übungen – immer auf der Grundlage geschriebener Wortschreibungen – dahin geführt werden, die Sonorität in ihrer Funktion der Bedeutungsunterscheidung zu verstehen. Ein anderes Problem ist z. B. das vokalisierte r wie in Lerche. Es ist wenig sinnvoll, das Wort mit einem Silbenbogen oder Klatschen schriftlautlich artikulieren zu lassen. Wichtig ist für die Kinder, durch strukturiertes Üben die Gesetzmäßigkeiten des vokalisierten r zu erkennen. Dies kann wiederum explizit und implizit verlaufen. Die Ausbildung eines Sprachdifferenzbewusstseins ist ein langwieriger Prozess und bedarf bei vielen Kindern einer intensiven Unterstützung von außen. Zu 2.: Für die Einsicht in die morphologischen Zusammenhänge gehen die Kinder von den Einsilbern oder den abgeleiteten Formen des Schlüsselworts aus (Notation: o) und begründen die Schreibweise dann wieder durch die Langformbildung. Auch hier ist für Analogiebildungsprozesse das In-Beziehung-Setzen von Formen und Inhalten eine wichtige Voraussetzung. Viele Kinder, vor allem Kinder mit Deutsch als zweiter Sprache, verfügen über einen geringen Wortschatz und über geringe Kenntnis der Wortmorphologie. Sprachanalytische Übungen müssen deswegen dazu beitragen, den Wortschatz zu erweitern und die Einsicht in den formalen Wortaufbau zu fördern. Die Kategorie Morphem wird in der vorliegenden Konzeption prozesshaft und nicht statisch erworben. Die kontrovers diskutierte Frage „Silbe oder Morphem?“ erübrigt sich m. E., weil sie die Probleme der Kompetenzentfaltung nicht trifft. Zunächst geht es um den Kategorienbildungsprozess. Sowohl Silbe als auch Laut bzw. Lautgruppen, Morphem und Wort werden aus der Sicht eines Lernenden zunächst global erfasst, sie müssen dann zunehmend hierarchisch ausdifferenziert werden. Für einige Lerngruppen kann es deswegen günstig sein, die Problemlösungen qualitativ zu staffeln. Am Beispiel der ie-Schreibung könnte das wie folgt aussehen (vgl. Abb. 8): Die Einsicht in die morphologischen Vererbun-
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Gabriele Hinney
gen der phonologischen Regularitäten wird spielerisch initiiert (z. B. durch ein Memory-Spiel). Gezielte Strukturierung von offener Silbe im Schlüsselwort und geschlossener Silbe im Einsilber wie z. B. Brie-fe – Brief; Brie-fe; zie-len – er zielt führen zu Rechtschreibgesprächen und Formulierungen des Problems. Dann kann man von den Einsilbern oder wortgebildeten Wörtern ausgehen und das Schlüsselwort ableiten. Auch wenn Wortschreibungen auf ihre strukturellen Merkmale hin untersucht werden können, muss das sprachliche Wissen durch weitere Übungen generalisiert und automatisiert werden. Die Lernenden sollen mit diesem Wissen ihren Lernprozess allerdings auch langfristig eigenständig kontrollieren können. Das heißt, das Kontrolllesen soll als operatives metasprachliches Wissen die Selbststeuerung des Lernprozesses unterstützen. Ziel der Arbeit mit dem folgenden Unterrichtsmodell ist also nicht nur ein automatisiertes, sondern auch ein kontrolliertes Schreiben. 4.3.3.2 Exemplarische unterrichtspraktische Umsetzungen Durch die so genannten Forscheraufgaben werden die metasprachlichen Strukturierungs- und Ordnungsleistungen für die Wortschreibungen angebahnt. Die Kinder brauchen die hier verwendeten Termini für die Beschreibung von Wortstrukturen bei ihren Problemlösungen nicht explizit anzuwenden, sie sollten aber operativ mit ihnen umgehen können. Zu den Basisbegriffen gehören: Silbe, Silbenanfangsrand, Vokal/Vokalbuchstabe (einige Lehrerinnen bezeichnen die Vokale als Vokalkönige, Musikanten u. a.), Konsonant/Konsonantbuchstabe, offene und geschlossene Silbe, Schlüsselwort, rhythmisches Lesen, Silbenprobe. Die Kinder lösen die Aufgaben in Partnerarbeit. Arbeitsmaterial sind Arbeitskarten und ein Modellwortschatz, der von Lehrer/innen selbst erstellt werden kann. Auf der Grundlage des Kompetenzmodells in Abb. 7 können für die spezifischen Baumuster der 1. und 2. Niveaustufe didaktische Landkarten für die einzelnen Aufgaben erstellt werden. Abb. 9 zeigt exemplarisch eine didaktische Landkarte zur Problemlösung oder
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Wortschreibungskompetenz und sprachbewusster Unterricht (9)
Didaktische Landkarte (1. Niveaustufe. Problemlösung: oder
Schlüsselwörter für – Wortschreibungen und ihre Wortbildungen Einfache -Schreibung im Trochäus: Bilder, Kinder, Kiste, Filme, filmen, finden, winken, wilde, linke 4 Flexion: filmt, findet Komposition: Bilderbogen, Bilderbuch, Bildergeschichte, Bilderhaken, Bilderschrift Blumenkinder, Kinderaugen, Kinderkleider, Kindermöbel, Kinderpuder, Kinderschule, Kinderschwester, Kindersegen, Kinderzeiten, Kinderweinen, kinderleicht Blechkiste, Bücherkiste, Eierkiste, Feuerkiste, Holzkiste, Seifenkiste, Weinkiste, kistenweise Buntfilme, Filmpreise, Filmsalat, Kinderfilm Derivation: einwinken, herwinken, nachwinken vokalisiertes r: Birne, Kirche vokalisiertes r in Kompositionen: Birnenbaum, Birnenkuchen Schlüsselwörter für
von
der
als
Merkwörter
Auf der Grundlage solcher didaktischer Landkarten werden Modellwortschätze und Aufgaben formuliert. Der Weg folgt immer dem gleichen Prinzip: Wir erschließen die Wortbedeutung und richten mit der Silbenprobe den Blick auf das Baumuster der Wortschreibung und erwerben sprachliches Handlungswissen zur Lösung von Fragen zur Wortschreibung. Exemplarisch werden einige Aufgaben zum Bereich „ie oder i“? (1. Niveaustufe) aufgeführt: a. Forscheraufgaben lösen (Partnerarbeit) Biene Pinsel
Ziege Tiefe
Schiene Riese
Aufgaben: Führe die Silbenprobe () durch: Unterstreiche die Vokalkönige in der ersten Silbe farbig. Was stellst du fest? Begründe, welches Wort nicht passt.
––––––– 4
Hier auch Besonderheit
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Gabriele Hinney Tiere
Briefe
Tier
Ziele
riechen
Ziel
du riechst
piepen
zielen du zielst
Aufgaben: Suche die fehlenden Wörter und begründe deine Entscheidung. b. Memoryspiel für
5
Ausgewählte Ergebnisse einer qualitativen Längsschnittuntersuchung
5.1
Voraussetzungen
Im Rahmen einer Fortbildung zur Professionalisierung von Lehrkräften entschied sich eine Primarstufenlehrerin, Frau N., das vorliegende Unterrichtsmodell zur Kompetenzentfaltung von der 1. bis zur 4. Klasse mit wissenschaftlicher Begleitung umzusetzen. Die Untersuchungen wurden von folgenden Annahmen geleitet: 1. Wenn Kinder das zweischrittige Baumuster der Wortschreibung operierend anwenden, dann verfügen sie über die elementare Wortschreibungskompetenz. Mit diesem Handlungswissen als informative Wissenseinheit können sie eigenständig phonologische und morphologische Regularitäten
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Wortschreibungskompetenz und sprachbewusster Unterricht
der Wortschreibungen im Kernbereich entdecken und somit ihren Lernprozess ausdifferenzieren. 2. Die Beherrschung der Gelenkschreibung (phonologisch und vererbt ) im Kernbereich ist ein Test mit einem hohen Validitätsgrad für die elementare Wortschreibungskompetenz. 3. Die Kinder erwerben mit der Silbenprobe und der Langformbildung metasprachliches operatives Problemlösungswissen, mit dem sie ihre Wortschreibungen eigenständig überprüfen können. In einer qualitativen Längsschnittuntersuchung vom 1. bis 4. Schuljahr wurden die Kinder nach einem zuvor festgelegten Design beobachtet und analysiert (vgl. Abb. 10). Für diese Untersuchung war keine Kontrollgruppe vorgesehen, da die Ergebnisse mit einschlägigen empirischen Untersuchungen zur Rechtschreibentwicklung verglichen werden sollten. Die Analyse der Untersuchung bezog sich auf das Lehrerurteil und auf Aufzeichnungen (Portfolio) der Lehrerin, auf Ergebnisse standardisierter Tests (HSP), auf Ergebnisse qualitativer Analysen der Tests mit Kategorien des Kompetenzmodells und auf Ergebnisse von Interviews zum lauten Denken, die durch die qualitative Inhaltsanalyse ausgewertet wurden. (10) Forschungsdesign zur Beurteilung der Wortschreibungskompetenz Überprüfung der Rechtschreibkompetenz durch die HSP 1.–4. Klasse der Primarstufe 1. Klasse 5.5.2003
2. Klasse 15.3.2004
3. Klasse 17.3.2005
4. Klasse 16.3.2006
Lernbeobachtungen und Intervention auf der Grundlage des Kompetenzmodells
Die Ergebnisse beziehen sich auf die quantitative Auswertung der HSP. Die qualitative Analyse bezieht sich auf die Kategorie des Kompetenzmodells.
Wie bei vielen Längsschnittuntersuchungen ist das Ausscheiden der Untersuchungsteilnehmer/innen und die Aufnahme neuer Kinder ein methodisches Problem, das im vorliegenden qualitativen Untersuchungsdesign jedoch nicht allzu schwer zu gewichten ist. Insgesamt waren es zwölf Kinder, die vom Beginn der 1. Klasse bis zum Abschluss der 4. Klasse am Unterricht teilgenommen haben. Davon sind jedoch wiederum zwei Kinder nicht bei allen Überprüfungen anwesend.
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Gabriele Hinney
Die Stichprobe bezieht sich auf eine Klasse mit einem hohen Migrantenanteil. Die Primärsprache von sechs der zwölf Kinder ist Deutsch. Sechs Kinder sind zwar in Deutschland geboren, dennoch können sie als Zweitsprachler eingestuft werden, da sie mit ihren Eltern in ihrer Herkunftssprache kommunizieren (kurdisch, türkisch, thailändisch, vietnamesisch, russisch, libanesisch). Hinsichtlich der Förderung des Schriftspracherwerbs gibt es mit Ausnahme von zwei Kindern keine Unterstützung von zu Hause. Die Lehrerin verzichtet deswegen auf Hausaufgaben. Übungen sind expliziter Bestandteil des regulären Unterrichts. Frau N. ist Klassenlehrerin der Untersuchungsklasse. Sie unterrichtet seit 1973 Deutsch fachfremd. Ihre Schule bezeichnet sie auf Grund des Einzugsgebiets als Brennpunktschule. Die sprachdidaktischen Leitideen des Unterrichts waren bis zum Zeitpunkt der Fortbildung sowohl für den regulären Unterricht als auch für den Förderunterricht durch den Spracherfahrungsansatz geprägt (vgl. Brinkmann 1996 u. a.): Wochenpläne, offene Gruppenarbeit, Freies Schreiben, Arbeiten weitgehend ohne Fibel, Schreiben von Anfang an mit der Anlauttabelle und Entwicklungsberichte statt formaler Zeugnisse u. a. gehörten zum Schulprogramm. Der Anfangsunterricht zum Schriftspracherwerb folgte bis zum Zeitpunkt der Untersuchung der unter 3.1.2 wiedergegebenen Kompetenzbeschreibung der Bildungsstandards. So wurde im Übungsmaterial des Rechtschreibunterrichts unterschieden nach „Mitsprechwörtern“ und „Nachdenkwörtern“. Erklärtes Ziel des Schulcurriculums für die 1. Klasse war die rechtschriftliche Aneignung durch lautgetreues Schreiben. Die Lehrerin schildert zu Beginn der Lehrerfortbildung ihre Probleme und ihre Unzufriedenheit mit ihrem herkömmlichen Unterricht wie folgt: „Ein kleiner Teil der Schülerinnen und Schüler lernt Lesen und (Recht-)Schreiben ohne Schwierigkeiten, ein großer Teil der Schülerinnen und Schüler hat jedoch massive Probleme mit dem Rechtschreiben. Sie bleiben auf der Stufe der lautgetreuen Schreibung und der Merkschreibung bis zum Abschluss der Grundschule stehen. Die Arbeit mit den Wochenplänen in offenen Übungsformen führte bei dieser Lerngruppe nicht zu Leistungsverbesserungen.“ In der Evaluation der Lehrerfortbildung führte Frau N. an, dass die Bewusstmachung des schriftlastigen Blicks dazu führte, das herkömmliche Vorgehen des Schulprogramms kritisch zu reflektieren. Im Anschluss an die Lehrerfortbildung versuchte Frau N. demzufolge ihren Unterricht zu verändern und das oben beschriebene Modell zur Kompetenzentfaltung in ihre methodische Routine des offenen Unterrichts zu integrieren. Sie selber berichtet, durch die Erstellung des Materials sei sie immer tiefer in die Schriftsystematik eingedrungen, die ihr bis dahin verschlossen geblieben sei. Als Frau N. die Untersuchungsklasse im 1. Schuljahr übernahm, entschied sie sich, das Konzept konsequent nicht nur für den Deutschunterricht, sondern auch für den Sachunterricht anzuwenden. Für den Deutschunterricht gab sie
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Wortschreibungskompetenz und sprachbewusster Unterricht
die Trennung von Anfangsunterricht und aufbauendem Rechtschreibunterricht auf. Ebenso versuchte sie, Lesen und Schreiben zu verbinden. Wichtig war ihr auch die eigenständige Kontrolle des Lernprozesses durch die Kinder. Frau N. übernahm den Begriff Schlüsselwort für den prototypischen Zweisilber. Vokale in der betonten und unbetonten Silbe wurden nach Vereinbarung in der Klasse mit „Freunde“ bezeichnet. In Elternabenden führte die Lehrerin die Eltern in das Konzept ein. Überdies versuchte Frau N., Kolleg/innen der Schule für die Umsetzung des Konzepts zu gewinnen. Dies ist ihr jedoch trotz schulinterner Fortbildung nicht gelungen. Offensichtlich ist das Konzept der „lautgetreuen Schreibung“ für viele Grundschullehrer/innen einsichtiger. Außerdem scheuten die Lehrer/innen vermutlich den Aufwand, eigene Materialien erstellen zu müssen. Die wissenschaftliche Begleitung vollzog sich nach dem Prinzip des dialogischen Lernens. Die Lehrerin hielt sich inhaltlich an die Struktur des Kompetenzmodells, die Materialien konzipierte sie aber selbst. Frau N. führte ein Tagebuch als Portfolio, und ihre Beobachtungen wurden nach vereinbarten Terminen diskutiert.
5.2
Diskussion ausgewählter Ergebnisse
Die Abb. 11–13 zeigen die Entwicklung der Rechtschreibkompetenz in der Untersuchungsklasse auf der Grundlage der quantitativen Ergebnisse der HSP. (11) Rechtschreibentwicklung von Klasse 1 zu Klasse 2 im HSP-Test 2. Klasse;
1. Klasse
Gin D Ner Lib Moh Lib Tab* D Mik D Pau D Met D Jas D Tha Viet Nic Russ Pat Tai Anj D 0
20
1. Quartil
40
60
80
3. Quartil
100
120
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Gabriele Hinney
(12) Rechtschreibentwicklung von Klasse 2 zu Klasse 3 im HSP-Test 3. Klasse;
2. Klasse
Gin D Ner Lib Moh Lib Tab* D Mik D Pau D Met D Jas D Tha Viet Nic Russ Pat Tai Anj D 0
20
40
60
1. Quartil
80
100
120
100
120
3. Quartil
(13) Rechtschreibentwicklung von Klasse 3 zu Klasse 4 im HSP-Test 4. Klasse;
3. Klasse
Gin D Ner Lib Moh Lib Tab* D Mik D Pau D Met D Jas D Tha Viet Nic Russ Pat Tai Anj D 0
20
1. Quartil
40
60
80
3. Quartil
Die Anlage der Studie lässt keine Analyse von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zu. Dennoch können auf deskriptiver Ebene Ergebnisse und Hypothesen erörtert werden. Auffallend ist der positive Entwicklungsverlauf aller Kinder in der Stichprobe. 5 Dies ist vor allem bemerkenswert, wenn man
––––––– 5
Allerdings gibt es vier Kinder, die aus der Stichprobe herausgefallen sind. Kinder, die in der 3. Klasse hinzugekommen sind, zeigen nicht so gute Ergebnisse. – Ein
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Wortschreibungskompetenz und sprachbewusster Unterricht
den hohen Migrantenanteil berücksichtigt. Ebenso auffallend ist der hohe Anteil der Migrantenkinder im oberen Viertel des Leistungsspektrums, und zwar vom Beginn der ersten Leistungsmessung an. Auf dem Hintergrund der Lernprogression zur Wortschreibung
1. Klasse Farrab Farrat FArAt Fahrat Farrad Fahrrad Farrad Fahrrad Fahrrad Fahrrad Farrad
2. Klasse h – – – + – + – + + + –
rr – + – – + + + + + + +
d – – – – + + + + + + +
Farat Farad Fahrat Fahhrad Fahrrahd Fahrrad Farrat Fahrrad Fahrrad Fahrrad Fahrrad
3. Klasse h – – + + + + – + + + +
rr – – – – + + + + + + +
d – + – + + + – + + + +
Fahrraht Fahrrad Fahrrad Fahrrad Fahrrad Fahrrad Fahrrad Fahrrad Fahrrad Fahrad Fahrrad
h + + + + + + + + + + +
rr + + + + + + + + + – +
d – + + + + + + + + + +
––––––– Junge zeigt im Übergang von der 1. zur 2. Klasse einen gravierenden Rückschritt. Dies ist auf familiäre Konflikte zurückzuführen.
90
Gabriele Hinney
Fallbeispiel Aus dem Korpus der zwölf an der Untersuchung beteiligten Schüler/innen wird die Entwicklung eines Kindes als qualitatives Fallbeispiel vorgestellt. Es geht um die Schülerin Tab, die im frühen Leistungsvergleich die niedrigsten Werte zeigt. Ihre Erstsprache ist Deutsch. Tab wird von der Lehrerin zu Beginn der 1. Klasse als sehr unselbstständig und unsicher bezeichnet. Im Laufe der vier Jahre kam es hinsichtlich der Eigenständigkeit zu einer positiven Entwicklung. Der positive Verlauf ihrer Rechtschreibleistungen zeigt sich sowohl an den quantitativen Testergebnissen der HSP (vgl. 15) als auch an den qualitativen Fehleranalysen (vgl. 16) und an den qualitativen Ergebnissen des Interviews zum lauten Denken. (15) Fallbeispiel Tab: Rechtschreibentwicklungen von Klasse 1 zu 4 im HSP-Test Tab* D
Proz.Rang 4.
Proz.Rang 3.
Proz.Rang 2.
Proz.Rang 1.
0
20
40
1. Quartil
60
80
100
120
3. Quartil
Auffallend an Tabs Entwicklung sind die Leistungssprünge beim Übergang von den Klassenstufen 1/2 und 2/3. Wir wissen durch die Ergebnisse der empirischen pädagogisch-psychologischen Forschung, wie wichtig die ersten beiden Klassenstufen für die rechtschreibliche Entwicklung sind. Am Beispiel der Wortschreibung zur markierten Vokalkürze als Gelenkschreibung lässt sich die positive Entwicklung Tabs veranschaulichen (Abb. 16). Im ersten Jahr berücksichtigt Tab die Gelenkschreibung nicht. Wie die Abb. 17 zeigt, hat Tab darüber hinaus Schwierigkeiten mit der angemessenen Silbensegmentierung. Aber schon im 2. Jahrgang operiert sie mit den phonologischen und morphologischen Regularitäten zur Gelenkschreibung. Drei Schlüsselwörter und ein Wort mit vererbtem Silbengelenk schreibt sie richtig. Bei fünf von sechs Wörtern wendet sie die Gelenkschreibung auf Grund von Übergeneralisierungen falsch an. Dies kann auf Unsicherheiten mit der Silbensegmentierung zurückzuführen sein, die nach wie vor noch in der 2. Klasse bestehen (vgl. Abb. 18). Diese Beobachtung belegt noch einmal Günthers These von der Leistung der angemessenen Silbensegmentierung als metasprachliche Handlung, die auf Einsicht in die Schriftstruktur zurückzuführen ist (vgl. Kap. 2). Schon in der 3. Klassenstufe schreibt Tab acht von
91
Wortschreibungskompetenz und sprachbewusster Unterricht
elf Wörtern richtig. Bei dem Wort *pollizei transferiert sie die Prosodie der Schlüsselwörter auf ein Wort, das zu dem Ergänzungsbereich zu zählen ist. In der 3. Klassenstufe kontrolliert Tab ihre Wortschreibungen nicht mehr spontan mit der Silbenprobe. Dies ist eine Beobachtung, die auch auf die anderen Kinder zutrifft. Offensichtlich ist das Kontrolllesen lästig, vielleicht aber auch nicht mehr nötig. Die Anzahl der korrekten Gelenkschreibungen in der 3. und 4. Klasse unterstreicht noch einmal die Annahme von der Beherrschung der Gelenkschreibung als Test für den Validitätsgrad der elementaren Rechtschreibkompetenz (vgl. 2. Annahme, Kap. 5.1). Alle 14 Wörter der HSP 4 schreibt sie richtig. Einmal wendet sie die Gelenkschreibung falsch an. Lernbeobachtungen der Lehrerin zum freien Schreiben zeigen, dass Tab noch einige Bereiche zur Wortschreibung in der Sekundarstufe vertiefen muss. Vor allem anzuführen ist in diesem Zusammenhang das Schreiben der Derivationen im Kernbereich und das Schreiben der Wörter aus dem Ergänzungsbereich. Es ist aber zu vermuten, dass Tab ihren Weg zur Schrift gefunden hat. (16) Fallbeispiel Tab: Qualitative Fehleranalyse zu Gelenkschreibungen in der HSP (1–4). Bereiche Phonologisch Silbengelenk prototypisch
Silbengelenk prototypisch Deriv./Komp. Morphologisch Vererbtes Silbengelenk Vererbtes Silbengelenk (Verben) Vererbtes Silbengelenk Deriv./Komp. Schwierige Ableitungen Falsch gesetzte Gelenkschr.
HSP 1+ 2/12W
HSP 2 6/30W
HSP 3 11/38W
HSP 4 14/38W
Hammer Tab. *hama
Blätter, Anna Schnecke Tab. *Schneke
Katze, Spinne, Koffer, wollen
Blätter, Nüsse
Schubkarre, Schlüsselloch Tab. kare
SpinneSchmetterling Gießkanne
Kann Tab. * kan
schafft Tab. *schaft
-netz -schloss sitzt, knackt, bekommt
Bäckerei Tab. *bekerrei
Schwimmbad Rollschuhe Bäckerei öffnen
Schreck Tab. *schrek
Kamm
Tab. *Eimmer, *Kertze, *bekerrei, *Kartte
Tab. *pollizei *Bäckerrei
Päckchen Rollschue Frühstück Mittag
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Gabriele Hinney
(17) Ausschnitt aus HSP 1. Fallbeispiel Tab (Klasse 1)
(18) Ausschnitt aus HSP 2. Fallbeispiel Tab 6 (Klasse 2)
Ausgewählte Beispiele aus dem Interview zum lauten Denken zur HSP 2 sollen dazu führen, die 3. Annahme (vgl. Kap. 5.1) der Untersuchung zu erörtern. Die Interviews werden auf der Grundlage der qualitativen Inhaltsanalyse durchgeführt (Mayring 52002). Der Ablauf des Interviews ist bestimmt durch die Merkmale einer wissenschaftlichen Beobachtung. Die wissenschaftliche Leitung und geschulte Studentinnen führten die Interviews durch. Die Beobachtungseinheit bezog sich auf die Wortschreibung der HSP. Da das Interview zum lauten Denken nicht zum Zeitpunkt der Testschreibung durchgeführt wurde – dies hätte die Testergebnisse verfälscht –, wäre es richtiger, vom „Interview zum nachträglich lauten Denken“ zu sprechen. Das Beobachtungsintervall war durch die Zeitpunkte der Testschreibungen vorgegeben (vgl. Abb. 10). Die Interviews wurden auf Mini-Disks mitgeschnitten. Zusätzlich konnten mit Beobachtungsprotokollen Auffälligkeiten notiert werden. Ziel der Beobachtung war die Frage: Sind die Schülerinnen in der Lage, ihre Wortschreibung metasprachlich zu kontrollieren? Zu berücksichtigen sind hierfür folgende Aspekte: Zeigt das Kind sprachliches Problembewusstsein? Erkennt es eigenständig relevante Strukturen sowohl richtiger als
––––––– 6
Die Punkte verweisen auf die Bereiche, auf die im Interview zum lauten Denken eingegangen werden soll.
Wortschreibungskompetenz und sprachbewusster Unterricht
93
auch falscher Wortschreibungen? Wie begründet es die Wortschreibung (online: operative Silbensegmentierung und Langformbildung, oder offline: deklarativ, analytisch)? Wie ist die Qualität des Kontrolllesens (Überlautung, Normalbetonung)? Um die Beobachtungsaufgabe so natürlich wie möglich zu gestalten, wurde der Beobachtungsrahmen nicht standardisiert. Die Interviewerinnen sollten erst dann gezielt fragen „Was ist hier falsch“, wenn das Kind das Problem nicht eigenständig ansprach. Die Auswertung der Interviews erfolgte in der Gruppe der geschulten Studentinnen und der wissenschaftlichen Begleitung. Ein Problem gab es bei der Notierung des Silbenschnitts. So war häufig nicht zu unterscheiden, ob das Kind bei der Gelenkschreibung das Gelenk angemessen oder schriftlautlich artikulierte. Die folgenden Beispiele zur Gesprächsaufzeichnung stammen aus der 2. Klasse. Hier kontrolliert Tab ihre Testergebnisse aus der HSP 2. Zunächst ist auffallend, dass Tab mit der Arbeitsform des Rechtschreibgespräches sehr vertraut zu sein scheint. Das Zweifeln und das Kontrolllesen durch die Silbenprobe ist offensichtlich ein selbstverständlicher Bestandteil des Unterrichts. Tab begründet ihre Wortschreibung mit der Silbenprobe und Langformbildung als Online-Operation. In vielen Fällen artikuliert sie in Überlautung, den entscheidenden Schluss kann sie für das Problem der Wortschreibung jedoch immer ziehen. Entscheidend für die Lösung ist das operative Umgehen mit offener und geschlossener Silbe auf dem Hintergrund der Bedeutung. Tab führt in einigen Fällen auch explizites deklaratives Wissen an, z. B. wird mit z geschrieben, das ist ein Grundwort, das ist ein Tunwort – Grundwort, da steht ein „die“ vor. Im Unterschied zu ihren Online-Operationen ist sie bei diesen Entscheidungen im Offline-Modus zögerlich. Es kann als Schwachpunkt der Studie gewertet werden, die Großschreibung im Rahmen des graphematischen Ansatzes nicht berücksichtigt zu haben. Tab erkennt zwar spontan alle Verstöße gegen die Großschreibung. In ihren Begründungen durch die Wortart ist sie jedoch immer unsicher. Das trifft auch auf die Benennung von Verben als „Tunwörtern“ zu. Beispiel 1: *eimmer Tab: … nicht so richtig, das ist…. das habe ich mit Doppel m geschrieben und das wird mit nur ein m geschrieben. VL: Genau. Warum? Kontrollier dich mit der Silbenprobe. Tab: (schreibt und spricht) … der [a,mr] (Kommentar: Tab artikuliert bei der Probe überdeutlich und macht eine Pause beim Silbenschnitt.) Habe ich aus Versehen groß … äh klein geschrieben. VL: Genau. Weißt du, warum es groß geschrieben wird? Tab: Das ist ein Tuwort … Nee, doch nicht. Da steht ein die vor. Beispiel 2: *Kertze Tab: (liest mit Pause beim Silbenschnitt und trochäischer Betonung) Das habe ich aus Versehen mit mit tz geschrieben. Wird aber mit einem z
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Gabriele Hinney geschrieben wegen [k(n-ts]. (Tab. liest das Wort mit deutlicher Pause beim Silbenschnitt.)
Beispiel 3: Kamm Tab: Liest das Wort. VL: Richtig oder falsch? Tab: Richtig, wegen dem einen Grundwort – oder ich weiß nicht mehr, wie das heißt. VL: Schlüsselwort. Tab: [k(Pn] (Sie artikuliert in Überlautung.) Beispiel 4: Spiegel Tab: liest das Wort VL: Weißt du, warum du das Wort mit ie geschrieben hast? Tab: liest das Wort mit deutlicher Pause am Silbenschnitt und mit trochäischer Betonung. [6Ei: gl] Da endet die Silbe auf [i:], dann es fast immer mit ie geschrieben. (Setzt die Kontrollbögen im Gegensatz zur Testung angemessen.) Beispiel 5: *Hanttuch Tab: das [hantu:x] ... habe ich aus Versehen mit Doppel t gemacht, aber wird mit dt geschrieben. VL: Warum? Tab: Weil das zwei zusammengesetzte Wörter sind. VL: Das ist richtig. Was ist ein Handtuch? Weißt du das? Tab: Ein Tuch für die Hände. Beispiel 6: *Zäne Tab: liest das Wort [di: WVH«Q] (Sie bemerkt den Fehler nicht.) Ist da was falsch? VL: Ähm (überlegt) ... wird mit Doppel n geschrieben. Tab: Dann schreib doch mal das Wort mit nn, wie wird es dann VL: ausgesprochen? (schreibt und spricht) [WV(n-ne] Tab: Sag ich [WV(Q]? VL: Nein. Tab: Wie sprichst du das Wort aus? VL: [WVH«Q] Tab: Das ist ein Wort, das du dir besonders merken musst, das wird mit dem VL: Dehnungs-h geschrieben und dieses Wort schreiben wir auf das gelbe Blatt. Beispiel 6b: *Zäne Das hast du mit ä geschrieben. VL: [di: WV±«Q].etwas überbetont. Tab: Und warum wird das mit ä geschrieben? VL: Weil das ... beim Zahn. Tab: Genau. Beim Zahn haben wir ein a. VL:
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Beispiel 7: *schneke [di:- 6Q(N] – das hab ich aus Versehen wieder klein geschrieben und das Tab: wird ck. Genau, wie würde man das nämlich sonst aussprechen? VL: [6ne:-ke:] Tab:
Mit der Silbenprobe als operatives metasprachliches Analysewissen kann Tab eigenständig viele Fehler korrigieren. In ihren metasprachlichen Begründungen zeigt sie ein beachtliches Bewusstseinsniveau, das mit ihren Wortschreibungen in der HSP nicht unbedingt korreliert. Es lässt sich somit nicht Hankes These stützen, wonach Kinder mit bewussten orthographischen Kenntnissen stets sachadäquat schreiben. In Fall Tab ließe sich eher die These aufstellen, das sprachliche Bewusstseinsniveau in der 2. Klasse prädestiniere ihre Rechtschreibkompetenz in der 3. und 4. Klasse. Darüber hinaus zeigen die ausgewählten Beispiele deutlich, dass der Unterricht einen Einfluss auf den Erwerb des metasprachlichen Wissens hat. Tab kontrolliert ihre Wortschreibungen mit dem Denkwerkzeug, das sie im Unterricht erworben hat.
6
Zusammenfassung und Ausblick
In der vorliegenden empirischen Untersuchung wurde lerngruppenspezifisch verfahren. Einzelbeobachtungen und Einzelförderung im Rahmen eines eher qualitativen Forschungsdesigns können selbstverständlich nicht den Anspruch erheben, statistisch repräsentative Aussagen zu formulieren. Es konnte aber in dieser Untersuchung deutlich gemacht werden, dass eine empirisch ausgerichtete fachdidaktische Forschung die Diskussionen über Lerninhalte und Unterricht einschließen muss. Vertreter des linearen statischen Stufenmodells definieren Rechtschreibentwicklungen und Rechtschreibkompetenz regelund normbasiert aus der Position der kasuistischen phänomenorientierten „Rückschau“. Die sprachdidaktischen Zusammenhänge (Schrifttheorie, sprachlicher Anfangs- und Rechtschreibunterricht und Lernprozess) werden jedoch kaum reflektiert. Das integrativ-hierarchische Kompetenzmodell zur Wortschreibung deutet den Aufbau der Rechtschreibkompetenz systembasiert als eigenaktiv sprachanalytischen Problemlösungsprozess. Hierbei geht es um eine musterbasierte Sprachförderung, die die sprachlichen Voraussetzungen eines Schriftlernenden berücksichtigt und Sprachbewusstheit als Online-Operation im Rahmen des prototypischen Kernwortschatzes fördert und entwickelt. Die Ergebnisse der vorliegenden empirischen Studie sind ein erster
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Gabriele Hinney
Schritt, die Annahmen des Modells durch fallspezifische Unterrichtsdokumente zu erörtern. Auf der Grundlage dieser Untersuchung müssen nun repräsentative Studien folgen, die das Kompetenzmodell auf seine Plausibilität hin überprüfen. Dies bedeutet jedoch, sich nicht nur auf die Wortschreibung im engeren Sinn zu beschränken. Bereiche wie satzinterne Großschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung und Zeichensetzung müssen ebenso in das Kompetenzmodell integriert werden. Mit diesem Vorhaben würde auch das Anliegen des Sprachwissenschaftlers Eisenberg (2004: 14) für eine kompetenzorientierte Lehrerbildung umgesetzt: Es wäre viel gewonnen, wenn es uns gelänge, die gesamte Wortschreibung in die Grammatik zurückzuholen, d. h. den Unterschied von Orthographie und Grammatik einfach abzuschaffen. Das ist absolut sachgerecht und es würde helfen, das Normbewusstsein bezüglich Orthographie in der richtigen Weise zu verändern.
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Gabriele Hinney
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Inge Blatt
Sprachsystematische Rechtschreibdidaktik: Konzept, Materialien, Tests
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Einleitung: Der sprachsystematische Blick auf die Rechtschreibung
Die deutsche Rechtschreibung wird seit ihrer verbindlichen Festlegung auf der Grundlage von Konrad Dudens „Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis“ im Jahre 1902 in Schule und Gesellschaft kontrovers diskutiert. Die Diskussionen sind vielfach emotional besetzt. Schon frühzeitig wurde der Ruf nach einer Reform laut (Kosog 1912: 3). Den Reformbestrebungen liegt bis zur jüngsten Reform von 1998 die Annahme zugrunde, dass die Schrift ein Abbild der gesprochenen Sprache ist und dass das Erlernen der Rechtschreibung wesentlich erleichtert würde, wenn sie durchgängig nach dem Prinzip einer Eins-zu-Eins-Zuordnung von Phonem und Graphem geregelt wäre. Nach vorliegenden Studienergebnissen hat sich die Rechtschreibleistung der Schüler nach der letzten Reform jedoch keinesfalls gesteigert (Marx 1999). 1 Die in allen Untersuchungen nachgewiesene hohe Anzahl von Variantenschreibungen deutet darauf hin, dass den Schülern grundlegende Einsichten in die Struktur der Wortschreibungen fehlen (vgl. Voss/Blatt/Kowalski 2007). Eine veränderte Sicht auf die Rechtschreibung eröffnet die graphematische Forschung (vgl. Primus i. d. B.). Während sich die deutsche Rechtschreibung nach dem amtlichen Regelwerk als weitgehend unsystematisch darstellt, weist die graphematische Forschung nach, dass der Kernbereich der Rechtschreibung systematisch durch nur vier Prinzipien geregelt ist: dem phonographischen, dem silbischen, dem morphologischen und dem wortübergreifenden (vgl. Eisenberg/Fuhrhop 2007). Weiterhin zeigen die graphematischen Forschungsbefunde auf, dass der zentrale Sinn der Rechtschreibung darin liegt, das Lesen zu erleichtern, ein Aspekt, der seit der Normierung der deutschen Rechtschreibung aus dem Blickfeld geraten ist. Dass sich die Rechtschreibung vor ihrer Kodifizierung von unten entwickelt hatte, und
––––––– 1
Nach unveröffentlichten Ergebnissen von Marx (2001, 2003 und 2004) hat sich die Rechtschreibleistung sogar verschlechtert. Vgl. http://www.sprachforschung.org/ index.php?show=news&id=86 (letzter Zugriff: 24.2.2010).
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Inge Blatt
zwar in erster Linie durch Buchdrucker, um Druckerzeugnisse besser verkaufen zu können, ist aus dem kulturellen Gedächtnis weitgehend verschwunden (Munske 2005; vgl. Blatt/Müller/Voss i. d. B.). Im Gegensatz zur verbreiteten Auffassung von Rechtschreiblernen als einer Erfüllung gesellschaftlicher Normen richtet die Graphematik den Blick auf das hohe Lernpotential des Rechtschreiblernens für die Entwicklung der mündlichen und schriftlichen Sprachkompetenz (Eisenberg 22004, Eisenberg/Fuhrhop 2007). So kann Rechtschreiblernen in besonderer Weise zur Ausbildung eines metasprachlichen Bewusstseins beitragen. Eine graphematische Ausrichtung der Rechtschreibdidaktik bedeutet jedoch nicht, die Ergebnisse dieser Forschung in eine Abbilddidaktik umzusetzen. Eisenberg und Fuhrhop (2007: 18) stellen vielmehr heraus, dass dafür große Investitionen notwendig sind. Die grundlegende Investition leistete Hinney mit ihrer „Neubestimmung von Lerninhalten für den Rechtschreibunterricht“ (1997): Sie entwickelte graphematisch basierte Lerninhalte und -ziele, verband sie mit kognitionspsychologischen Überlegungen zum Fertigkeitserwerb und zeigte grundlegende Strategien für die Sprachanalyse als Basis für einen entdeckenden Rechtschreiblernprozess auf. Sie orientierte sich dabei an den drei Prinzipien der Wortschreibung nach Eisenberg (phonographisch, silbisch, morphologisch). Das wortübergreifende Prinzip (Großschreibung) bezog sie nicht ein. Auf dieser von Hinney gelegten theoretisch-didaktischen Grundlage wurde die hier vorgestellte sprachsystematische Rechtschreibdidaktik entwickelt. Zu diesem Zweck wurden theoretisch basierte Konzepte im Unterricht und Förderunterricht der Grundschule und der Sekundarstufe zu den Lerninhalten phonologisch-morphologischer Kernbereich, Ableitungen, Komposita und Peripheriebereich erprobt und mit Hilfe dort gewonnener Erfahrungen bzw. Auswertungsergebnisse von Rechtschreibtests über mehrere Jahre weiterentwickelt. Weiterhin wurde eine empirische Rechtschreibkompetenzmodellierung im Rahmen zweier Studien vorgenommen (IGLU-E 2006, HeLp 2007/08; vgl. Abschnitt 2.2.2) 2 , deren Ergebnisse zur Absicherung der Lernziel- und Lerninhaltsbestimmung herangezogen wurden. In diesem Beitrag wird das sprachsystematische Konzept theoriebasiert und empirisch begründet dargestellt (Punkt 2) sowie auf der Grundlage von
––––––– 2
Zur Internationalen Grundschulleseuntersuchung (IGLU) 2006 wurde eine Ergänzungsstudie zur Erfassung der Rechtschreibleistung deutscher Viertklässler durchgeführt, in der u. a. ein sprachsystematischer Rechtschreibtest erprobt wurde. Im Hamburger Leseförderprojekt (HeLp), das in Klassenstufe 5 als Wiederholungsstudie 2006/07 und 2007/08 durchgeführt wurde, wurde ebenfalls ein sprachsystematischer Rechtschreibtest eingesetzt. In beiden Studien wurde auf Grundlage der Auswertungsergebnisse eine Überprüfung des sprachsystematischen Kompetenzmodells vorgenommen (vgl. Blatt et al. ersch.).
Sprachsystematische Rechtschreibdidaktik: Konzept, Materialien, Tests
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Unterrichtsmaterialien und Tests exemplarisch veranschaulicht (Punkt 3). Die ausgewählten Lern-, Übungs- und Testaufgaben beziehen sich auf den elementaren Kernbereich der Wortschreibung und die Wortbildung. Die lernbegleitenden Tests für die Grundschule und Sekundarstufe fungieren als Beobachtungsinstrumente für eine differentielle Lernförderung und können von den Lehrerinnen selbst erstellt und ausgewertet werden. Danach wird ein Vergleich zu anderen rechtschreibdidaktischen Konzeptionen vorgenommen (Punkt 4). Dazu werden das linguistisch fundierte Rechtschreibkompetenzmodell von Löffler/Meyer-Schepers (2005) sowie der silbenbasierte Ansatz, der dem Sprachbuch „Pusteblume“ zugrundeliegt, herangezogen. Weiterführende Überlegungen schließen sich an. Der Beitrag liefert die konzeptionellen Grundlagen für den Beitrag von Larissa Hoitz in diesem Band.
2
Sprachsystematische Rechtschreibdidaktik
Aus graphematischer Sicht ist die Rechtschreibung kein sekundäres System der gesprochenen Sprache, sondern als eigenständiges Schriftsystem Teil des größeren Sprachsystems. Der Erwerb einer Rechtschreibkompetenz ist demnach kein vom allgemeinen sprachlichen Lernen abgekoppelter Bereich, sondern ein zentraler Bestandteil des sprachlichen Lernens. Daher wird er bereits in den Schriftspracherwerb ab Klasse 1 integriert. Beim Lernen wird stets ein Bezug zwischen Struktur und Bedeutung sowie zwischen Rechtschreiblernen, Lesen, Textschreiben und Wortschatzarbeit hergestellt. Die Systematik dieser Rechtschreibdidaktik gründet auf der Systematik des Gegenstands und auf der Systematik der für entdeckendes Rechtschreiblernen notwendigen Einsichten in die Prinzipien der Wortschreibung auf Lernerseite. Zur Systematik gehört weiterhin, dass die Lerngrundlage zunächst das geschriebene Wort ist, an dem die Schüler strukturelle Merkmale entdecken und anschließend einen Bezug zum gesprochenen Wort herstellen. Erst in einem zweiten Schritt analysieren die Schüler das gesprochene Wort und leiten daraus die Schreibweise ab. Die sprachsystematische Rechtschreibdidaktik schließt an Hinney (1997) an und setzt sich somit von allen anderen Konzepten ab, da diese – trotz unterschiedlicher sprachwissenschaftlicher Fundierung – von der Lautanalyse und nicht von der Schriftanalyse ausgehen. 3
––––––– 3
Vgl. Weinhold (2006: 120–151). Die Autorin untersucht drei methodisch-didaktische Konzepte zum Schriftspracherwerb (Fibel, Lesen durch Schreiben, Silben-
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Inge Blatt
Im Folgenden wird zunächst der einschlägige Forschungsstand (2.1) als Grundlage für die anschließend erfolgende Konkretisierung des sprachsystematischen Konzeptes (2.2) dargestellt.
2.1
Theoriebasis: Lerninhalte, -anforderungen und -ziele
Hinney (1997) stellt mit Bezug auf Eisenberg die Bedeutung des silbischen Prinzips als Verbindungsglied zwischen dem phonographischen und morphologischen Prinzip als zentral heraus. Eine Schreibsilbe besteht aus einem obligatorischen Silbenkern und einem fakultativen Silbenanfangs- und Endrand. Während der Kern auf Vokal- bzw. Diphthonggrapheme beschränkt ist, können die Anfangs- und Endränder mit bis zu vier Konsonantenbuchstaben besetzt sein: Nur Kern: <Ei> Anfangsrand und Kern:
Anfangs- und Endränder sind in ihrer Kombinatorik beschränkt und in ihrer Anzahl überschaubar (ca. 30 Anfangsränder, ca. 50 Endränder). Die Basis der Lerninhalte bildet nach Hinney (1997) der prototypische Zweisilber des Deutschen (Folge von betonter und unbetonter Silbe [Trochäus]) aus dem Kernbereich der Wortschreibungen. Hinney zeigt auf, dass durch die Einsicht in die Schreibung des Prototypen bei den Lernenden das Fundament für das Rechtschreiblernen gelegt werden kann. Das ist durch die regelhafte Struktur der Schreibsilbe im Kernbereich bedingt, die auf vier Grundtypen begrenzt ist. (1)
Silbentypen unmarkiert markiert
offen Tafel Liebe
geschlossen Tante Tanne
Grundlegende Einsichten in diese Typen können eine weitreichende Wirkung auf das Rechtschreiblernen entfalten, da sie sich als Basis für Transfer-
––––––– analytische Methode) im Hinblick auf ihre linguistische Fundierung, ihre Lernwirksamkeit und Anschlussfähigkeit. Dazu werden vier Jahre lang alle sechs Schul-Wochen in 12 Grundschulklassen (n=256) standardisierte und nicht standardisierte Lese- und Schreibdaten erhoben und computergestützt qualitativ-quantitativ analysiert. Kooperationspartner ist Tobias Thelen M. A. (Computerlinguist und stellvert. Leiter des virtuOS), Universität Osnabrück, Niedersachsen.
Sprachsystematische Rechtschreibdidaktik: Konzept, Materialien, Tests
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leistungen nutzen lassen. Das Ziel des Rechtschreiblernens verlagert sich aus dieser Perspektive vom Erlernen der Phonem-Graphem-Korrespondenz und der Rechtschreibregeln zum Gewinnen einer Einsicht in die Grundstrukturen des prototypischen Zweisilbers. Dazu gehört auch, dass ein wechselseitiger Bezug zwischen der Schreib- und Sprechsilbe hergestellt wird. So gibt die Aufteilung des prototypischen Zweisilbers in die betonte und unbetonte Silbe Aufschluss über die Aussprache der Vokale als Silbenkerne: Während in der betonten Silbe der Vokal lang (Ta-fel) oder kurz (Tan-te) ausgesprochen werden kann, beschränkt sich der Silbenkern in der unbetonten Silbe in der Regel auf das Graphem <e> und das dazugehörige Phonem /schwa/. Ob der Vokal der betonten Sprechsilbe lang oder kurz ausgesprochen wird, hängt davon ab, ob es sich um eine offene oder geschlossene Schreibsilbe handelt, d. h. ob die Schreibsilbe einen Endrand hat oder nicht. Da die betonte Schreibsilbe in Ta-fel keinen Endrand aufweist, wird der Vokal lang gesprochen, im Unterschied zum Kurzvokal in der betonten Schreibsilbe in Tan-te, die über einen Endrand verfügt. Die Einsicht in die Struktur des prototypischen Zweisilbers und in den wechselseitigen Bezug von Schreib- und Sprechsilbe ist deshalb grundlegend, weil die Länge des Vokals – mit Ausnahme von
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kannt werden können, erfordert ihre Aufdeckung im Einsilber einen Rückgriff auf den Zweisilber. Bei der Umlautschreibung gibt es zwei Wege, und zwar vom Einsilber auf den Zweisilber und umgekehrt, wie z. B.
Nach diesen Analyseschritten kann die Stammschreibweise erschlossen werden: Bei besser sind keine zusätzlichen Operationen erforderlich, da bereits die zweisilbige Form vorliegt:
––––––– 4
Es gibt im Deutschen ca. 100 Wortbildungsaffixe, von denen aber nur ca. 25 produktiv sind (Eisenberg 2004: 35).
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Unterscheidung ist schwieriger zu treffen als bei den stimmhaften und stimmlosen Verschlusslauten (Fuhrhop, unveröff. Manuskript). Diese sind in der Aussprache deutlicher zu unterscheiden, wohingegen das stimmhafte /z/ von vielen Sprechern gar nicht benutzt wird. Die Voraussetzung für die richtige Anwendung des stimmhaften und stimmlosen sLautes nach Langvokal ist, dass die Schüler den Schritt von der Lautanalyse zum Schreiben eines Wortes vollziehen. Die bisherigen Beispiele bezogen sich auf den regelhaften Kernbereich der deutschen Rechtschreibung. Wortschreibungen aus dem Peripheriebereich, zu denen das Dehnungs-h, die Vokalgraphemverdoppelung, nicht ableitbare Wörter, ein Teil der Lehnwörter und Fremdwörter gehören, lassen sich nicht regelhaft ermitteln. Einsichten in die Grundtypen der Schreibsilbe (betonte/unbetonte bzw. offene/geschlossene und markierte/unmarkierte Silbe) lassen sich jedoch zum Teil auf das Verständnis bzw. die Herleitung dieser Schreibweisen übertragen. Die erforderlichen Lernwege unterscheiden sich aber dahingehend, dass ein höherer Merkaufwand erforderlich ist. Hier sind Merkhilfen förderlich.
2.2
Empirische Fundierung
Das sprachsystematische Rechtschreibkonzept verbindet und erweitert den didaktischen Ansatz von Hinney mit methodischen Verfahren von Spiegel (2001) und Röber-Siekmeyer (1993) und konkretisiert sich auf zweierlei Weise: durch die Erprobung theoretisch entwickelter Rechtschreibmaterialien in unterschiedlichen Lerngruppen und deren Weiterentwicklung sowie durch eine empirische Überprüfung eines graphematisch basierten Rechtschreibkompetenzmodells. 2.2.1 Erprobung in Lerngruppen Bei der Erprobung des Konzeptes lag der Fokus am Anfang auf dem Rechtschreibunterricht und der Rechtschreibförderung schwacher Schüler in den Klassenstufen 3–7. Danach wurde auch der sprachliche Anfangsunterricht einbezogen. Zur Zeit wird eine Fall-Kontrollstudie in der 1. und 2. Klasse einer Hamburger Schule als Dissertationsvorhaben durchgeführt (vgl. Pagel 2008, Blatt/Pagel 2009). Das Konzept für den sprachlichen Anfangsunterricht wird jedoch in diesem Beitrag nicht berücksichtigt. Eine Förderung von Dritt- und Viertklässlern findet seit dem Schuljahr 2005/06 im Rahmen der Außerunterrichtlichen Lernhilfe in Hamburg (AUL) statt. Bei der AUL handelt es sich um eine Maßnahme für Grundschulkinder, die im Rechtschreibtest HSP unter Prozentrang 5 liegen. Die sprachsystema-
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tische Förderung, an der innerhalb von vier Jahren insgesamt 36 Kinder in Einzelbetreuung teilnahmen, wurde bislang im Rahmen zweier Staatsexamensarbeiten ausgewertet (Burkhardt 2006, Wulf 2008). Die Analysen geben einen sehr differenzierten Einblick in die Vielschichtigkeit der Lernschwierigkeiten. In der Mehrzahl der Fälle war die sprachsystematische Förderung erfolgreich, so dass die Kinder das Klassenziel bzw. den Übergang in die weiterführende Schule schafften. In der Sekundarstufe wurde im Schuljahr 2002/03 von der Verfasserin ein einjähriger Unterrichtsversuch in einer 7. Hauptschulklasse durchgeführt. Die dort gewonnenen Erfahrungen wurden für die Konzipierung des Hamburger Leseförderprojekts (HeLp) genutzt. In dieser Wiederholungsstudie, die in den Schuljahren 2006/07 und 2007/08 jeweils in Klassenstufe 5 an Hamburger Schulen aller Schulformen durchgeführt wurde, wurde das sprachsystematische Konzept für die additive Förderung besonders leseschwacher Schüler (HeLp 2006/07; vgl. Blatt/Müller/Voss in diesem Band) und im Unterricht (HeLp 2007/08) als unterstützende Lesefördermaßnahme eingesetzt. In der praktischen Erprobung des Konzepts wurden mit Hilfe von Lernbeobachtung, Rechtschreibgesprächen und Tests Erkenntnisse über die Schriftzugänge und Lernwege der Schüler gewonnen, die in wissenschaftliche Untersuchungen zur Kompetenzmodellierung einflossen. 2.2.2 Kompetenzmodellierung Die empirische Kompetenzmodellierung wurde im Rahmen der IGLU-E2006 und im Rahmen von HeLp 2007/08 vorgenommen (Voss/Blatt/Kowalski 2007; Blatt et al. ersch.). Für diese Studien wurde als Grundlage ein differentielles Rechtschreibkompetenzmodell entwickelt, in dem graphematische Forschungsergebnisse unter didaktischen Gesichtspunkten verarbeitet wurden. (2)
Rechtschreibkompetenzmodell mit fünf Teilkompetenzen
Phonographisch -silbisches Prinzip im Kernbereich
Morphologisches Prinzip im Kernbereich
Peripheriebereich (einfache Wörter)
Prinzipien der Wortbildung (Kern- und Peripheriebereich)
Wortübergreifendes Prinzip: Großbzw. Kleinschreibung
PS(K)
M(K)
Per(Wo)
WB (K/Per)
WÜ(GKS)
In diesem theoretischen Modell wird zwischen dem – von den Prinzipien der Wortschreibung abzuleitenden – Kernbereich der Rechtschreibung (nativer Wortschatz) und dem nicht ableitbaren Peripheriebereich (Einsilber, Ausnahmen, Fremdwörter, Wörter mit Dehnungs-h) unterschieden. Weiterhin
Sprachsystematische Rechtschreibdidaktik: Konzept, Materialien, Tests
109
wird eine Unterscheidung zwischen der Schreibung einfacher und flektierter bzw. abgeleiteter und zusammengesetzter Wörter vorgenommen. In der phonographisch-silbischen Teilkompetenz im Kernbereich geht es um die strukturelle Einsicht in die Silbenstruktur des für die deutsche Sprache prototypischen Zweisilbers. Ob die Schüler solche Einsichten für schlussfolgernde Denkoperationen nutzen können, um sich die Schreibung flektierter Wörter zu erschließen, gibt Auskunft über ihre morphologische Teilkompetenz im Kernbereich. Inwieweit sie sich Schreibweisen einfacher Wörter auch merken bzw. durch Merkhilfen oder Annäherungsregeln erschließen können, ist Gegenstand der Teilkompetenz im Peripheriebereich. In der Teilkompetenz Wortbildung geht es darum, ob die Schüler abgeleitete und zusammengesetzte Wörter erkennen und in ihre morphologischen Struktureinheiten zerlegen können, um sich in einem zweiten Schritt die Wortschreibung zu erschließen. Hierbei wird aus didaktischen Erwägungen nicht zwischen Kern- und Peripheriebereich getrennt, da sich die Wortbildung im Kern- und Peripheriebereich prinzipiell nach den gleichen Regeln vollzieht. Bei Fremdwörtern handelt es sich allerdings um andere Affixe als beim heimischen Wortschatz. Dem wird dadurch Rechnung getragen, dass die Fremdwortschreibung erst nach Festigung des nativen Wortschatzes zum Lerninhalt und Testgegenstand wird. Die ausgewiesenen Teilkompetenzen wurden in den beiden Studien durch dafür entwickelte Testinstrumente erhoben (vgl. Blatt et al. ersch.). Die Schülerschreibungen wurden mit psychometrischen Verfahren ausgewertet, um die theoretischen Annahmen einer differentiellen Kompetenz zu überprüfen sowie die Aufgabenschwierigkeit der einzelnen Wörter empirisch zu erheben. In der IGLU-E-Studie 2006 konnte das Modell verifiziert werden, wobei sich unterschiedlich hohe Zusammenhänge der Teilkompetenzen zeigten. 5 Am engsten war der Zusammenhang zwischen den Teilkompetenzen phonographisch-silbisch und morphologisch im Kernbereich, und am geringsten war er zwischen diesen beiden Bereichen und dem Peripheriebereich (einfaches Wort; Voss/Blatt/Kowalski 2007). Dieses Ergebnis ist theoriekonform. Mit diesen Forschungsergebnissen gewinnt das sprachsystematische Rechtschreibkonzept eine empirisch abgesicherte Basis.
2.3
Empirisch begründete sprachsystematische Rechtschreibdidaktik
Wird der sprachsystematische Unterricht bereits im Erstlese- und Schreibunterricht eingesetzt, so erhalten die Kinder Einblick in die Grundprinzipien
––––––– 5
Die HeLp-Daten sind noch in der Auswertung.
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der deutschen Orthographie (Unterscheidung von betonter und unbetonter Silbe, Unterscheidung von Lang- und Kurzvokal; Morphemkonstanz). Solche Grundeinsichten helfen Kindern, die Regularitäten der Schreibungen für den Lang- und Kurzvokal und das morphologische Prinzip zu verstehen und anzuwenden (Blatt/Pagel 2009, Pagel/Hinney 2007). In diesen Bereichen liegen die größten Rechtschreibprobleme der Schülerinnen und Schüler (Löffler/Meyer-Schepers 2005: 89–94). Als ein Problem vor allem von rechtschreibschwächeren Schülern kristallisiert sich dabei eine Unsicherheit im Hinblick auf den Verschriftungsort des Dehnungs- oder Kürzungszeichens heraus (ebd.: 93, 96–103). Dies deutet darauf hin, dass die Schüler die Wortstruktur nicht erfassen und den Lang- und Kurzvokal in der Akzentsilbe nicht lautlich analysieren können. Probleme bei der Umlautschreibung können darauf zurückgeführt werden, dass die Schüler keinen bedeutungsmäßigen Zusammenhang herstellen, wie z. B. dass ändern bedeutet, dass etwas anders wird (Blatt/Voss/Matthießen 2005). Dies kann auf Wortschatz- und Grammatikprobleme zurückzuführen sein oder aber auf einen sehr formalen Rechtschreibunterricht, in dem Lernen und Üben von der Bedeutung abgetrennt sind. Beginnt der sprachsystematische Unterricht erst ab Klasse 3 oder später, so verlangt er von den Schülern ein Umlernen, das bekanntlich schwieriger ist als das Neulernen. Daher muss von der Lehrkraft ein auch für die Schüler erkennbarer Neuanfang gemacht werden. Dazu bietet sich ein Rechtschreibgespräch an, in dem mit den Kindern über Rechtschreibschwierigkeiten und deren Ursachen gesprochen wird. Daran anschließend kann den Kindern erläutert werden, dass es noch andere Lernwege gibt, die sie jetzt kennenlernen sollen. In der Regel haben die Schüler schon viele frustrierende Erfahrungen gemacht und es besteht eine gewisse Chance, dass sie sich von daher aufgeschlossen für neue Lernwege zeigen. Wichtig ist, dass die Lehrkraft den Lernenden im Unterricht auch den Anwendungsbezug der Orthographie durch Erklärungen, Demonstration und Anwendungsaufgaben erfahrbar macht. Zum einen sollte ihnen vermittelt werden, dass der Sinn der Rechtschreibung darin besteht, das Lesen zu erleichtern. Beispiel dafür sind die morphologische Konstanz und die Wortschreibungen von Homonymen. Eine verständliche Informationsquelle für die Lehrkraft ist der schmale Band „Lob der Rechtschreibung“ von Munske (2005). Zum anderen soll das Gelernte im Schreib- und Leseunterricht angewandt und die Anwendung reflektiert werden. Eine zunehmend automatisierte Rechtschreibung hilft den Schülerinnen und Schülern, sich beim Textschreiben auf Inhalt und Formulierung zu konzentrieren. Weiterhin steigert sie die Leseflüssigkeit (vgl. Blatt/Müller/Voss i. d. B.). Die Arbeit zu Wortfamilien trägt dazu bei, den Wortschatz zu erweitern und ist somit auch lese- und
Sprachsystematische Rechtschreibdidaktik: Konzept, Materialien, Tests
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schreibförderlich. Das systematische und selbstkontrollierende Arbeiten befördert den Aufbau einer Sprachbewusstheit, die für die Entwicklung der Sprachkompetenz im Geschriebenen und Gesprochenen unerlässlich ist. Das sprachsystematische Rechtschreibkonzept orientiert sich an dem in Tabelle 3 dargestellten didaktischen Modell, in dem das Lernziel „Rechtschreibkompetenz“ mit den inhaltlichen Teilkompetenzen, die Lehr-Lernverfahren für die einzelnen Teilkompetenzen sowie die Lernwege und die Festigung ausgewiesen werden. Die Lerninhalte umfassen Grund- und Aufbauwissen, wobei in diesem Beitrag vorrangig auf das Grundwissen eingegangen wird. Die Teilkompetenz „Groß-/Kleinschreibung“ wird nicht einbezogen, weil ihre Vermittlung in unseren empirischen Unterrichtsstudien erst in jüngster Zeit zum Forschungsgegenstand gemacht wurde. (3)
Sprachsystematische Rechtschreibdidaktik: Lernziele, Lehr/Lernverfahren, Lernwege, Automatisierung
M(K) Lernziel: PS(K) RSK 5 Teilkom- 1 Silbenaufbau (AR, 1 Einsilber und flektierte Formen petenzen Kern ER) als Herleitungs2 Prototypische wörter Zweisilber als Schlüsselwörter 2 Flexionsmorpheme
Per(Wö)
WB(K/Per)
1 Einsilber, Ausnahmen als Lernwörter 2 Wörter mit Dehnungs-h als Nachdenkwörter 3 Fremdwörter als Lern- und Transferwörter
1 Ableitungen als Analyse- und Synthesewörter (Präfixe /Suffixe) 2 Komposita als Trenn- und Zusammensetzwörter (Fugenelemente, Bedeutung)
Lehr/Lern- Zu 1: verfahren Analyse und Synthese auf der Grundlage von Struktureinheiten (AR, Kern ER) Zu 2: Strategie der Silbenprobe
Zu 1: Merkstrategien entwickeln Zu 2: Annäherungsregeln entdecken und anwenden Zu 3: Phonetische Besonderheiten über phonolog. Differenz lernen Zu 1-3: Kontrolle durch Nachschlagen
Zu 1: Analyse und Synthese auf der Grundlage von Struktureinheiten (Suffixe, Präfixe, Stammmorpheme) Zu 2: Lernen im Sprachvollzug
Zu 1: Strategie der Schlüsselwortbildung und Herleitung (Wenn-DannSchlussfolgerung) Zu 2: Lernen im Sprachvollzug, unterstützt durch Paradigmen für Konjugation und Steigerung
112 Lernwege Zu 1 und 2: Kognitive Einsicht als Grundlage für Analyse, Synthese und Transferleistung
Automatisierung
Inge Blatt Zu 1: Schlussfolgerndes Denken Zu 2: Sprachgefühl entwickeln
Zu 1: Schreiben – merken – lernen Zu 2 und 3: Wissen und Strategien aus dem Kernbereich übertragen
Zu 1: Kognitive Einsicht als Grundlage für Analyse und Synthese Zu 2: Sprachgefühl entwickeln
Anwenden und Üben
Die dargestellten Inhalte sind graphematisch basiert (vgl. Abschnitt 2.1). Die Lernverfahren unterscheiden sich danach, ob – Regularitäten mit Hilfe von Strategien, Analyse- und Synthesetätigkeiten und logischen Schlussfolgerungen aufgedeckt und die Einsichten für das Schreiben von Wörtern genutzt werden (Schlüsselwörter, Herleitungswörter, Wortanalyse und -synthese bei Ableitungen und Komposita); – Ausschlussverfahren für die Herleitung der Wortschreibung genutzt werden (Dehnungs-h; vgl. Blatt 2006); – Wortschreibungen durch Merken gelernt werden (nicht herleitbare Wörter; Ausnahmen); – vorgegebene Wortstruktureinheiten kategorisiert und zur Bildung von Wörtern, deren Schreibung und Wortartbestimmung genutzt werden (Silbenanfangsrand/AR, Silbenendrand/ER, Affixe, Flexionsmorpheme); – Strukturwissen zum nativen Wortschatz auf die Schreibung von Fremdwörtern übertragen werden (Fremdwörter einfach, abgeleitet und zusammengesetzt); – ein Zusammenhang zwischen Wortschreibung, Wortanalyse und Bedeutung hergestellt wird und die Wörter in unterschiedlichen Kontexten angewandt werden (bezogen auf alle Bereiche); – Strategien zur Kontrolle von Wortschreibungen angewandt werden (Silbenprobe, Bildung von Zweisilbern, Analyse auf Morphembasis; Nachschlagen im Wörterbuch). Auf der Grundlage dieser Lerninhalte und -verfahren werden den Schülern folgende Lernwege eröffnet: im Kernbereich über eine kognitive Einsicht in Strukturen der Wortschreibung und Wortbildung transferfähiges Wissen zu erwerben und dieses mit Hilfe von schlussfolgerndem Denken zur selbständigen Weiterentwicklung der Rechtschreibkompetenz zu nutzen sowie im Kern- und im Peripheriebereich durch einen reflektierten Sprachgebrauch ein Sprachgefühl zu entwickeln und das Sprachwissen zu erweitern als Grundlage für eine Weiterentwicklung der Sprachkompetenz.
Sprachsystematische Rechtschreibdidaktik: Konzept, Materialien, Tests
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Die Wortschreibungen im Kernbereich werden auf Basis der zugrundeliegenden Prinzipien in drei Lernschritten entdeckend gelernt: 1. Phonologisches Prinzip: Untersuchung der Silbenstruktur (Silbenschnitt, Anfangs- und Endrand) im prototypischen Zweisilber (Schlüsselwörter). 2. Morphologisches Prinzip: Aufdecken der vererbten silbenschriftlichen Informationen in flektierten und einsilbigen Formen durch Bildung des prototypischen Zweisilbers (Herleitungswörter). 3. Wortbildungsprinzip: Wortanalyse abgeleiteter und zusammengesetzter Wörter (Analysewörter). Auf der Grundlage der dabei gewonnenen Einsichten kann eine Transferleistung für den Peripheriebereich erbracht werden. Das Wissen über die Silbenstruktur hilft beim Erlernen der Wortschreibungen mit Dehnungs-h. Die Kinder können ihr silbenstrukturelles Wissen (Zweisilber, offene Silbe, Anfangsränder) nutzen, um bei der Untersuchung geeigneten Wortmaterials Bedingungen und Ausschlusskriterien für das Setzen eines Dehnungs-h zu entdecken. Daraus kann im Unterricht die Merkregel abgeleitet werden, dass ein Dehnungs-h nur vor l, m, n, r möglich ist und mit Ausnahme einiger Merkwörter nicht in Wörtern mit t bzw. mehreren Konsonantenbuchstaben am Anfang gesetzt wird (vgl. Blatt 2006). Während die wenigen Lernwörter durch wiederholtes Schreiben eingeprägt werden müssen, kann man für die Schreibung der übrigen Wörter Ausschlussverfahren anwenden, weshalb sie zur Kategorie der Nachdenkwörter gezählt werden. Die letzte Gewissheit liefert die Kontrolle im Wörterbuch. Eine Transferleistung kann auch für das Fremdwortlernen erbracht werden. Auf Grundlage des phonologischen, morphologischen und Wortbildungsprinzips können die Schüler bei Fremdwörtern unterschiedlicher Herkunft die Silben- und Betonungsstruktur, die spezifische Phonem-GraphemKorrespondenz und die spezifischen Wortbildungsmorpheme (Präfixe, Suffixe) erkunden. Damit gewinnen sie systematische Einsichten, auf deren Grundlage sie sich Wortschreibweisen erarbeiten können. Als Lernwörter, deren Schreibung durch wiederholtes Schreiben eingeprägt werden muss, gelten aus sprachsystematischer Sicht nur Ausnahmen wie Tiger, Bibel, Fibel, Saite und Wörter mit Vokalbuchstabengemination. Unter diesen Wörtern finden sich auch Homonyme, so dass den Schülern der Sinn dieser Ausnahmen und Markierungen als Lesehilfe nahegebracht werden kann (Lid – Lied, mehr – Meer, Seite – Saite). Für den Erwerb und Ausbau aller Teilkompetenzen ist Üben erforderlich, damit sich das Wissen und Können automatisiert. Im folgenden Kapitel wird die Umsetzung dieses Modells im Unterricht an Arbeitsmaterialien für den Kernbereich sowie an Tests für die Lernbeobachtung aufgezeigt.
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3
Inge Blatt
Sprachsystematische Rechtschreibmaterialien und Tests
Das Lernheft „Rechtschreiben – Grundlagen“ (Blatt 2007a/b) sowie sprachsystematische Rechtschreibtests, die im Unterricht und Förderunterricht in den Klassen 3–7 zum Einsatz kommen, werden beispielhaft vorgestellt. 6
3.1
Lernheft „Rechtschreiben – Grundlagen“ (Klassen 3–6)
Die Lernmaterialien bestehen aus einem Arbeitsheft für die Schüler, einem Lösungsheft zur Kontrolle der Aufgabenlösungen und einem Lehrerbegleitheft mit Erläuterungen zum Konzept und zur Arbeitsweise sowie Zusatzaufgaben. Die Arbeitshefte enthalten Lern-, Übungs- und Testaufgaben. Die Lernaufgaben sind auf selbständig-entdeckendes und selbstkontrollierendes Lernen ausgerichtet. Die Übungsmaterialien sind mit Erklärungen versehen und dienen der Festigung des Gelernten. Die Testaufgaben sind Instrumente zur Lernbeobachtung für die Kinder und die Lehrkraft und bilden eine wichtige Grundlage für selbstgesteuertes Lernen und einen auf individualisiertes Lernen ausgerichteten Unterricht. Die Lehrkraft hat beratende Funktion und kann Zusatzaufgaben für eine individuelle Förderung einsetzen. Mit Hilfe von Lernstrategien können die Schüler die regelhaften Strukturen der Wortschreibungen aufdecken und ihre Schreibungen kontrollieren. Das „Rechtschreibheft – Grundlagen“ (Klassen 3–6) setzt am Kernbereich der Rechtschreibung an und ist wie folgt aufgebaut: Inhalte des Rechtschreibheftes – Grundlagen (Klassen 3–6) A) Laut und Silbe
B) Ein- und Zweisilber
C) Wortteile
D) Wortarten und Wortfamilien
Lernaufgaben, Übungsaufgaben, Testaufgaben
Zudem enthält das Heft eine Einführung und Übersichtstafeln zum Ausklappen. In der Einführung werden den Schülern die Konzeption des Lernheftes und die Arbeitsweise kurz erläutert. Sie erfahren, dass das Lernheft Arbeitsblätter zum Lernen, Üben und Testen sowie Erklärungen und Übersichtstafeln mit Strukturelementen enthält und dass ein dazugehöriges Lösungsheft zur Selbstkontrolle zur Verfügung steht.
––––––– 6
Vgl. http://www.erzwiss.uni-hamburg.de/Personal/Blatt/index.htm Link Lernmaterialien Schreiben und Lesen (SchuLe)
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Das in den Bereichen A–D zu erarbeitende Grundwissen bezieht sich auf die Einsicht in die Silbenstruktur (Silbenkern, Silbenschnitt, Anfangsrand, Endrand), die Herleitung von flektierten und abgeleiteten Wortformen über die Bildung von Zweisilbern und die Wortbildung durch das Anfügen von Prä- und Suffixen sowie die Zusammensetzung von Wörtern. Die Übersichtstafeln in den ausklappbaren Innenseiten des Lernhefts umfassen das Alphabet, silbische Wortanfangs- und -endränder und Präfixe. Sie stehen den Schülerinnen und Schülern für die Aufgabenbearbeitung zur Verfügung. Die Basis des Rechtschreiblernens bildet die Unterscheidung des Alphabets in Vokal- und Konsonantenbuchstaben. Als Lernhilfe dient die farbliche Markierung der Vokalbuchstaben in Rot (Übersichtstafel Alphabet und Arbeitsblätter). Dadurch wird ihre besondere Stellung bei der Wortschreibung hervorgehoben (vgl. Punkt 2). Während die konsonantischen Anfangs- und Endränder obligatorisch sind, muss jede Silbe einen vokalischen Silbenkern aufweisen. Ob der Vokal in der betonten Silbe lang oder kurz ausgesprochen wird, hängt davon ab, ob der Endrand der Silbe besetzt ist oder nicht. Die farbliche Markierung kann den Lernenden helfen, dies zu entdecken und es sich einzuprägen. Ein roter Buchstabe am Ende der ersten Silbe bedeutet, dass der Vokal lang, ein schwarzer, dass er kurz gesprochen wird. Vom Schriftbild her können die Schülerinnen und Schüler also Rückschlüsse auf die Aussprache ziehen. Das hilft vor allem Kindern mit Herkunftssprachen, in denen es keine Unterscheidung von Lang- und Kurzvokalen gibt, wie z. B. im Russischen. Eine weitere Entdeckung betrifft die unbetonte Silbe, in der der SchwaLaut /ԥ/ in der Regel den Silbenkern bildet. 7 Die Schreibung der zweiten Silbe kann auf Basis dieser Einsicht schnell automatisiert werden (-e, -er, -el, -es, -en, -em). Auf der Grundlage der Analyse des geschriebenen Wortes können die Kinder auch die Besonderheit des Schwa-Lautes in der unbetonten Silbe -er entdecken, indem sie die Aussprache der unbetonten Silbe mit unterschiedlichen Endungen vergleichen. Bei der Untersuchung des Silbenschnittes können die Schüler/innen auch die regelhafte Setzung des silbeninitialen h entdecken. Sobald die Schülerinnen und Schüler Lang- und Kurzvokale in der betonten Silbe unterscheiden können, verfügen sie über die Verstehensvoraussetzung für die Einführung der Verdoppelung der Konsonantenbuchstaben zur Markierung des Silbengelenks. Sie können diese Schreibung wie folgt logisch herleiten: Das a in Tanne klingt nicht wie das a in Tafel, sondern wie in Tante, also muss die erste Silbe mit einem Konsonantenbuchstaben geschlos-
––––––– 7
Nach Eisenberg (2004: 130) haben 70 % der zweisilbigen Wörter in der deutschen Sprache den Schwa-Laut /ԥ/ in der zweiten Silbe.
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Inge Blatt
sen werden, deshalb schreibt man: Tanne. Und wie Tanne schreibt man auch Wanne, Kanne, Panne, Sonne, Wonne, Tonne etc. Haben die Schülerinnen und Schüler Kenntnisse der Silbenanalyse erworben, so können sie diese zur Herleitung der Schreibweise flektierter und abgeleiteter Wortformen anwenden: kommt, weil kommen und nicht komen, lässt, weil lassen, Berg, weil Berge, lebt, weil leben, geht, weil gehen. Hierbei geht es um die Silbengelenkschreibung, den Umlaut, das silbeninitiale h und die Auslautverhärtung. Die sich anschließende Arbeit zur Wortbildung bedeutet einen weiteren Lernschritt: Die Schüler können erkennen, dass im Deutschen durch Präfixe und Zusammensetzungen Wörter mit neuer Bedeutung gebildet werden, und erweitern darüber auch ihren Wortschatz. Die Wortbildung durch Suffixe trägt zum Verständnis der Wortarten bei. Beim Bilden von Wortfamilien verbindet sich das Wissen um Bedeutung und Struktur. Die Inhalte des Lernmaterials (s. o.) werden im Folgenden beschrieben: A) Laut und Silbe In dieser Einheit untersuchen die Schüler Wörter im Hinblick auf die Anzahl der Silben und analysieren den prototypischen Zweisilber. Sie wiederholen zunächst das Alphabet mit dem Ziel, Vokale und Konsonanten zu unterscheiden und zu entdecken, dass jede Silbe einen obligatorischen silbischen Kern (= Vokalbuchstabe) enthält. Anschließend erhalten sie Lernaufgaben, um die Struktur des prototypischen, trochäischen Zweisilbers zu untersuchen. Sie entdecken die Betonungsverhältnisse (erste Silbe betont, zweite Silbe unbetont) sowie die Unterscheidung von langen und kurzen Vokalen in Abhängigkeit vom Silbentyp (offene oder geschlossene Silbe). Es werden ihnen Wörter mit offener und geschlossener betonter Silbe vorgegeben. Die dazu gestellten Aufgaben orientieren sich am „Sprechschreiben 1“ nach Hinney (1997). Die Kinder bestimmen die Anzahl der Silben, schreiben das Wort auf, wobei sie den Vokal in der ersten Silbe in Rot schreiben, und malen die Silbenbögen darunter. Um die gewonnene Einsicht in die Schreibweise und Aussprache offener und geschlossener Silben zu festigen, erhalten die Schüler Übungsaufgaben, in denen sie Wörter nach offenen und geschlossenen Silben ordnen und aufschreiben müssen. Darauf aufbauend sollen sie die Besonderheit der geschlossenen Silbe in der Silbengelenkschreibung entdecken. Voraussetzung dafür ist, dass sie die Testaufgaben zur Unterscheidung von kurzen und langen Vokalen in der betonten Silbe überwiegend richtig lösen konnten. Ein Beispiel dafür sind Testaufgaben, in denen jeweils drei Wörter mit offener bzw. geschlossener Silbe und ein Wort mit geschlossener bzw. offener Silbe vorgegeben werden. Die Kinder sollen dasjenige herausfinden, das in der Aussprache der ersten Silbe nicht zu den anderen passt. B) Ein- und Zweisilber Die Einheit Ein- und Zweisilber dient der Aufdeckung der Morphemkonstanz bei der Auslautverhärtung (Hund, weil Hunde), bei der Silbengelenkschreibung (kommt, weil kommen), beim silbeninitialen h (geht, weil gehen) und der Umlautschreibung (hält, weil halten). Die Schreibung kann in diesen Fällen durch die Bil-
Sprachsystematische Rechtschreibdidaktik: Konzept, Materialien, Tests
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dung des prototypischen Zweisilbers hergeleitet werden. Diese Aufgaben orientieren sich am „Sprechschreiben 2“ nach Hinney (1997). Zusätzlich kann bei der Umlautschreibung hinzukommen, dass Pluralformen auf die einsilbige Form bezogen werden müssen (Kämme, weil Kamm). In dazu gehörigen Übungsaufgaben sollen die Schüler Wörter ergänzen (Burg, weil Burgen; Bild, weil ...) und verlängern (Kamm – Kämme; Gruß – ...). In den Testaufgaben müssen Buchstaben in Wörtern ergänzt und die Schreibweise begründet werden (länger, weil lang). C) Wortteile In dieser Einheit sollen die Schüler Wörter mit Silbenanfangsrändern und -endrändern bilden. Diese Aufgaben ermöglichen ihnen einen Einblick in die begrenzte Anzahl von Kombinationen der Wortstruktureinheiten und in die Bedeutungsveränderung von Wörtern durch den Austausch von Silbenanfangsrändern (Bein – dein – klein – mein– Stein – Schwein). Dadurch kann neben der Rechtschreibung auch die Leseflüssigkeit gefördert werden. Als Lern- und Übungsaufgaben erhalten die Schüler Wortteile und den Auftrag, mit Hilfe der Tabelle „Wortränder am Anfang“ Wörter zu bilden. Dabei werden sie angehalten, systematisch vorzugehen und auszuprobieren, mit welchen Anfangsrändern das Wortteil ein sinnvolles Wort ergibt, wie z. B. Bach, Dach, flach, Krach, nach, Schach, schwach, wach. Die Aufgaben, Wörter mit Anfangs- und Endrändern zu bilden, unterscheiden sich im Schwierigkeitsgrad. Wörter mit Endrändern zu finden, ist wesentlich schwieriger. Weitere Aufgaben in dieser Einheit zielen darauf, Wörter zu finden, in denen Silbenanfangs- und -endränder spiegelbildlich vorkommen (hart – trinken). D) Wortarten und Wortfamilien Den Lern- und Übungsaufgaben zur Wortbildung sind Erklärungen zu den Wortarten und zur Wortfamilie vorangestellt. Sie geben Erläuterungen zur Flektierbarkeit der Wortarten und zur Artikelfähigkeit der Nomen und liefern Beispiele für Wortfamilienmitglieder zum Wortstamm dank: Einfache Wörter (danken, Dank), abgeleitete Wörter mit Prä- und Suffixen (abdanken, dankbar, Dankbarkeit) und Komposita (Dankschreiben). Im Zusammenhang mit Ableitungen von Verben erhalten die Schüler auch Übungen zum abtrennbaren Präfix. Hiermit erfolgt der Übergang vom Wort zum Satz. Die Lern- und Übungsaufgaben umfassen das Bilden von Wortarten mit Hilfe von Suffixen, die Bildung von Komposita, wie z. B. Wörterschlangen und Bandwurmwörter, sowie das Erstellen von Wortfamilien.
Die Arbeit mit dem „Lernheft Rechtschreiben – Grundlagen“ kann in den Unterricht integriert werden. Die Aufgaben sollen nach einer Einführung im Klassenverband von den Schülern in Einzel- oder Partnerarbeit bearbeitet werden. Die gemeinsame Besprechung der Lösungen kann zur Reflexion über Sprache und zur Erweiterung des Wortschatzes beitragen. Bei Aufgaben zur Produktion von Wörtern (Teile C und D) kann durch eine Zeitvorgabe eine Wettbewerbssituation geschaffen werden, die Lernende erfahrungsgemäß anspornt.
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Die in dem Lernheft enthaltenen Tests kann die Lehrkraft als Instrumente zur Lernbeobachtung einsetzen. Stellt sich heraus, dass ein Lerngebiet noch nicht verstanden wurde, so benötigen die Kinder Hilfen und weitere Übungen. Diese sollen am besten von der Lehrerin angeleitet werden. Zusätzliche Übungsaufgaben kann die Lehrkraft auch selbst nach den Aufgabenmustern erstellen. Dies hat den Vorteil, dass sie für die Kinder bedeutsame Wörter auswählen kann. Die Testaufgaben in dem Heft schließen sich an die jeweilige Lerneinheit an und werden im Hinblick auf die vorangegangenen Lerninhalte ausgewertet. Umfassendere Auskunft über den Stand der Rechtschreibleistung geben sprachsystematische Rechtschreibtests, die im folgenden Abschnitt vorgestellt werden.
3.2
Sprachsystematische Rechtschreibtests
Für die dargestellten Untersuchungen und Fördermaßnahmen in der Primarund Sekundarstufe wurden sprachsystematische Rechtschreibtests in unterschiedlichen Aufgabenformaten entwickelt, erprobt und im Hinblick auf ihre Konstruktvalidität ausgewertet. Dabei ergaben sich jeweils Vor- und Nachteile für die einzelnen Formate. 8 Wörtertests sind zwar besonders zeitökonomisch, haben aber den Nachteil, dass sich Groß-/Kleinschreibung und Getrennt-/Zusammenschreibung damit nur bedingt erfassen lassen. Die Kinder schreiben die vorgelesenen Wörter in der Regel zusammen und groß, weil sie jeden Ausdruck in eine neue Zeile schreiben. Eine Abhilfe besteht darin, dass bei der Durchführung explizit auf die Beachtung der Groß- bzw. Kleinschreibung hingewiesen wird und dass auch Wortgruppen aufgenommen werden wie z. B. am liebsten. In der Sekundarstufe sollte ein Wortdiktat in jedem Fall durch einige Sätze ergänzt werden. Ein Diktat ist das verlässlichste Testinstrument zur Messung von Rechtschreibleistung. Es hat jedoch den Nachteil, dass für die Durchführung und Auswertung wesentlich mehr Zeit aufgewendet werden muss. Eine Auswertung nach Wortfehlern liefert pauschale Testergebnisse, die nicht die notwendigen Erkenntnisse für eine anschließende differenzierte Förderung liefern. In den sprachsystematischen Rechtschreibtests erfolgt die Auswertung der Schülerschreibungen differenziert nach Kategorien, die aus dem sprachsystematischen Rechtschreibkompetenzmodell abgeleitet wurden. Die Kategorien variieren je nach Klassenstufe. Im Folgenden wird das Auswertungs-
––––––– 8
Eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse dieser Grundlagenforschung erfolgt in Blatt et al. (ersch.).
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schema an einem Test exemplifiziert, der für die Testung von Kindern entwickelt und eingesetzt wurde, die an der AUL-Förderung (s. o.) teilnehmen. Es handelte sich um rechtschreibschwache Kinder der 3. und 4. Klasse. Die Schülerschreibungen wurden auf folgende Kategorien hin überprüft: silbischunbetont (s/u), silbisch betont (s/b), Großschreibung (g), Kleinschreibung (k), morphologisch (m), Wortbildung (WB), phonographisch (ph). Mit welchen Testwörtern diese Kategorien erfasst werden, zeigt (4): (4)
Auswertung von Schülerschreibungen
Wort
Auswertung (abhaken, wenn das Phänomen erkannt wurde)
1 rennen (k) 2 Kiste (g) 3 Stiefel (g) 4 Blätter (g) 5 Bilder (g) 6 Regen (g) 7 verlaufen (k) 8 Wald (g) 9 unnötig (k) 10 Tropfen (g) 11 Versteck (g) 12 quaken (k)
Silbengelenk (s/b) geschlossene Silbe (s/b) Anfangsrand (s/b) Silbengelenk (s/b) geschlossene Silbe (s/b) offene Silbe (s/b) offene Silbe (s/b) W/w (ph) Präfix un- (WB) Anfangsrand (s/b) (ck) vererbtes Silbeng. (m) qu (ph)
en (s/u) e (s/u) offene Silbe (s/b) ie (s/b) el (s/u) ä (m) er (s/u) B/b(ph) d (ph) er (s/u) R/r (ph) g (ph) en (s/u) au (ph) ver- (WB) en (s/u) Auslautv. (m) ö (m) -ig (WB) pf (ph) en (s/u) Präfix ver- (WB) el (s/u) offene Silbe (s/b) en (s/u)
Die Anzahl der einzelnen Kategorien ist Tabelle 5 zu entnehmen. (5)
Kategorisierung der Rechtschreibleistung nach Prinzipien (Klassen 1–3)
phonographisch Gesamt 8
silbisch (betont) Gesamt 11
silbisch (unbetont) Gesamt 10
Morphologisch Gesamt 5
Wortbildung Gesamt 4
groß/klein Gesamt g 8 Gesamt k 4
Die Rückmeldung der Ergebnisse erfolgt in Bezug auf die Gesamtzahl in den einzelnen Kategorien. Bei der Auswertung ist die Zuordnung zu den Kategorien nicht immer eindeutig, insbesondere bei stark abweichenden Schreibweisen. Daher bedarf es weiterer spezifischer Hinweise. Dies betrifft z. B. die Zuordnung von Buchstaben an der Morphemgrenze. Ein Beispiel dafür ist die Schreibweise „unötig“, bei der entweder nötig oder un als richtig eingestuft werden. Wichtig ist eine stringente Behandlung solcher Fälle. Ein weiteres Beispiel ist die Bewertung der Schreibweise Stifel. In der Kategorie „offene Silbe“ gilt die Kategorie als erfüllt, da kein Silbenendrand vorhanden ist, in der Kategorie ie
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Inge Blatt
dagegen als nicht erfüllt. Alle Kategorien werden unabhängig von der Groß/Kleinschreibung bewertet, da diese extra gezählt wird. Diese hohe Ausdifferenzierung der Kategorien geschieht im Hinblick darauf, dass der Test für Kinder mit großen Schreibschwierigkeiten bestimmt ist. Mit zunehmender Schreibkompetenz reichen weniger Kategorien aus. Wenn z. B. die Schreibung der unbetonten Silbe automatisiert ist, wird ein zweisilbiges Wort als Ganzes unter der Kategorie „Silbe“ eingeordnet. Bei fortschreitender Rechtschreibkompetenz werden sprachsystematische Rechtschreibtests ab Klasse 4 nach folgendem Kategorienraster ausgewertet: (6)
Kategorisierung der Rechtschreibleistung nach Prinzipien (Klassen 4–6); vgl. auch (2)
PS(K)
M(K)
Per(Wö)
WB(K/Per)
WÜ(GKS)
Die Ergebnisdokumentation eines sprachsystematischen Rechtschreibtests weist sehr differenziert aus, was ein Schüler kann und was er noch lernen muss. Im Lernverlauf wird auch deutlich, inwieweit ein Schüler vom jeweiligen Rechtschreibunterricht profitieren kann. In der Interventions-Kontrollstudie HeLp 2007/08 ließ sich mit einer dreimaligen Testung ein stetiger differentieller Lernerfolg der Schüler in den Interventionsklassen nachweisen, wobei vor allem auch die Variantenschreibung substantiell abgenommen hat (vgl. Blatt et al. ersch.). Da die Daten der Kontrollklassen jedoch noch nicht ausgewertet sind, kann derzeit noch keine Aussage über die Auswirkung der Intervention auf die Lernentwicklung gemacht werden.
4
Rechtschreibdidaktischer Vergleich und weiterführende Überlegungen
Für den Vergleich werden zwei rechtschreibdidaktische Ansätze mit jeweils unterschiedlicher fachlicher Fundierung ausgewählt. Die „Dortmunder Schriftkompetenz-Ermittlung“ (DoSE) und ihre Weiterentwicklung zu „gutschrift“ von Löffler und Meyer-Schepers sind diagnostische Instrumente, mit denen die Rechtschreibleistung von Schülern auf der Grundlage eines linguistischen Kategoriensystems erhoben wird. 9 Sie liefern eine differentielle Diagnose des Rechtschreibstandes der Schüler als Basis für
––––––– 9
http://www.gutschrift-institut.de/Information_zum_Testprogramm_gutschrift_ diagnose.html (letzter Zugriff: 24.2.2010); vgl. Löffler/Meyer-Schepers 2004.
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eine an den individuellen Rechtschreibschwierigkeiten ausgerichteten Förderung (vgl. Löffler/Meyer-Schepers 2005: 83ff.; Voss et al. 2008). Das Sprachbuch „Pusteblume“ (Schroedel) ist dem silbentheoretischen Ansatz verpflichtet und stellt Lern- und Übungsmaterialien für die Schuljahre 2 bis 4 zur Verfügung.
4.1
Modell der Schriftkompetenz nach Löffler und Meyer-Schepers und didaktische Konsequenzen
Bei der „Dortmunder Schriftkompetenz-Ermittlung“ handelt es sich um eine Weiterentwicklung der „Dortmunder Rechtschreib-Analyse“ (DoRA; vgl. Meyer-Schepers 1991). Die in DoRA unterschiedenen fünf Fehlerkategorien sind so gewählt, dass sie „im Vergleich zur Richtigschreibung und auf Basis der genauen Kenntnis von Phonetik, Artikulationsgewohnheiten und Phonem-Graphem-Zuordnungsregeln eine orthographische Fehlerquellenangabe“ als Grundlage für eine individuelle Förderung liefern (ebd.: 139–140). Es handelt sich dabei um folgende Kategorien (ebd.: 142–172): (7)
Fehlerkategorien der „Dortmunder Rechtschreib-Analyse“
Fehlerkategorien
Beschreibung
Phonem-Fehler
„Fehler, die durch richtige phonematische Analyse und das Wissen um die Phonem-Graphem-Zuordnung vermieden werden können“ „Fehler, die durch Beachtung der Regelmäßigkeiten [für die schriftliche Wiedergabe der Akzentsilbe] vermieden werden können“ „Fehler, die durch vier ... Ableitungsoperationen vermieden werden können“: 1. Veränderung der Wortform, z. B. Hände – Hand. 2. Silbentrennung beim silbeninitialen h. 3. Zerlegung der Lexeme in Morpheme bzw. Einzelwörter. 4. Ermittlung der Schreibweise bei Homonymen auf Grundlage der Bedeutung. „Fehler, die durch Wissen um die Besonderheiten der Phonem-Graphem-Zuordnungen vermieden werden können“ „Fehler, die durch die richtige Anwendung der Regeln für diesen grammatischen Bereich vermieden werden können“
Dehnungs/Doppelungsfehler Ableitungsfehler
Spezielle PhonemGraphemZuordnungsfehler Groß/Kleinschreibung und Getrennt/Zusammenschreibung
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Diese Kategorien wurden zu einem theoretischen Rahmenkonzept weiterentwickelt, das zwei Kompetenzbereiche mit jeweils zwei Niveaustufen unterscheidet. Es handelt sich um die lautanalytische und grammatische Kompetenz auf elementarem bzw. erweitertem Niveau (vgl. Voss et al. 2008: 133–136). Die Grundlage für die Kompetenzstufeneinteilung bilden die Vorgaben der Rahmenpläne der Bundesländer, wobei die Lerninhalte in Klasse 1 und 2 das elementare und diejenigen in Klasse 3 und 4 das erweiterte Niveau bilden (Valtin et al. 2004: 3). Die diesen vier Bereichen zugeordneten Rechtschreibphänomene sind in der folgenden Tabelle zusammengestellt (ebd.: 3; Löffler/Meyer-Schepers 2005: 87–96). (8)
Modell der Schriftkompetenz (DoSE)
Kompetenzbereiche
Lautanalytisch
Grammatisch
Elementar
Phonem-GraphemKorrespondenz:
Elementare wortgrammatische Endungen <-en>, <-el<, <-er> Großschreibung von Konkreta Kleinschreibung von Adjektiven, Verben Verbindungen (Konjunktionen) Ableitung des Umlauts <ä>, <äu> Präfixe
Erweitert
Bei den Zuordnungen fällt auf, dass in der Rubrik des lautanalytischen Elementarbereichs Elemente enthalten sind, die nicht nach dem Lautprinzip zu erschließen sind, wie z. B. die nach dem silbischen Prinzip geregelten Anfangsränder <st>, <sp>, die Verschriftung des f-Lautes, Velarnasale und Affrikaten. Dies erklärt sich vermutlich mit Bezug zu den Rahmenplänen. In einer Interventions-Kontrollstudie 10 in Klasse 2 wurde dieses Rechtschreibmodell empirisch überprüft (Voss et al. 2008: 134). Die Auswertung
––––––– 10
Die Intervention besteht darin, dass die Lehrerinnen und Lehrer auf der Grundlage der differenzierten Leistungsrückmeldung für die Schüler/innen passgenaue För-
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ergab, dass die beiden Dimensionen lautanalytisch und grammatisch unterscheidbare Teilkompetenzen darstellen (ebd.: 145–146). Die didaktische Eignung von Kompetenzmodellen wird durch empirische Unterrichtsforschung ermittelt. In der genannten Interventions-Kontrollstudie sind gleich hohe Lernzuwächse zwischen den Kontroll- und einer der Interventionsklassen zu verzeichnen, während die Kinder in der weiteren Interventionsklasse höhere Zuwächse haben (vgl. Voss et al. 2008: 146–147). Eine differenzierte Auswertung nach Leistungsgruppen liegt nicht vor. Das Kompetenzmodell nach Löffler/Meyer-Schepers unterscheidet sich in wesentlichen Punkten vom sprachsystematischen Kompetenzmodell (s. o., Tab. 6 und 8). Die Unterschiede resultieren in erster Linie aus der Berücksichtigung des silbischen Prinzips und aus der Unterscheidung der Rechtschreibinhalte in einen Kern- und einen Peripheriebereich im sprachsystematischen Modell. Die Betonungsverhältnisse, die Vokalquantitäten und die Kombinatorik am Wortanfangsrand werden aus sprachsystematischer Sicht silbenstrukturell am prototypischen Zweisilber erklärt. Der Schwa-Laut, Lang- und Kurzvokale in der betonten Silbe – einschließlich
––––––– derpläne entwickeln und umsetzen. Um die Rückmeldung kompetent interpretieren zu können, erhalten die Lehrkräfte eine Fortbildung. Die didaktisch-methodische Umsetzung liegt bei den Lehrkräften selbst.
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zwar „Wortbausteine am Anfang und Ende des Wortes, doppelte Mitlaute oder Selbstlaute, Wortfamilien und das Nutzen der Verlängerung und Ableitung als Rechtschreibhilfe“. Dafür werden Karten mit Detektivaufträgen für die Kinder bereitgestellt, die auch ein Muster für die Erstellung weiterer spezifischer Aufgaben für die Kinder durch die Lehrkraft liefern. Die Detektivaufträge sind wie folgt aufgebaut: Es werden jeweils vier Beispiele für einen zu entdeckenden Lerninhalt gegeben und daran die Aufgabe geknüpft: „Suche Wörter mit .../, bei denen ...“; „Suche Beweise für ...“. Lerninhalte für die Wörtersuche sind z. B. Präfixe für Verben und Nomen, die Schreibung der unbetonten Silbe im Zweisilber, die Konsonanten- bzw. Vokalbuchstabengemination, das Dehnungs-h in Wortfamilien, die Umlautschreibung und die Auslautverhärtung. Bei der Bearbeitung der Aufgaben kann sich der Schüler an den vorgegebenen Wörtern orientieren, bei denen die zu übende Struktureinheit jeweils fett gedruckt hervorgehoben wird. Er erhält jedoch keine Hilfe beim Finden der Wörter und hat auch wenig Kontrollmöglichkeiten. Die Bearbeitung der Aufgaben setzt einen entsprechenden Wortschatz und das notwendige Rechtschreibwissen wie z. B. über Wortarten, Groß- und Kleinschreibung sowie Lang- und Kurzvokal voraus. Der Anspruch, dass der Schüler die Regularitäten selbständig entdecken kann, wird in Ansätzen bei den Aufgaben zur unbetonten Silbe im prototypischen Zweisilber, bei der Aufdeckung der Auslautverhärtung durch die Bildung von Zweisilbern und bei der Schreibung von Wörtern einer Wortfamilie aufgrund der Morphemkonstanz eingelöst. In der unbetonten Silbe kann der Schüler den Schwa-Laut als regulären Kern bzw. die Strategie der Wortverlängerung zur Aufdeckung silbenschriftlicher Informationen erkennen. Am Beispiel der Wortfamilie fahr kann entdeckt werden, dass in allen Wörtern der Familie das Dehnungs-h vorkommt. Wann ein Dehnungs-h gesetzt wird, dafür erhält der Schüler allerdings keine Hinweise, ebensowenig wie für den übrigen Bereich des Lang- und Kurzvokals. Dem Schüler wird z. B. nicht die Möglichkeit eröffnet, die Silbengelenkschreibung als Sonderform einer geschlossenen Silbe zu entdecken. Auch wird ihm nicht vermittelt, dass der Zweisilber die Ableitungsgrundlage bildet. Die Beweisaufgaben zur Ableitung der Umlautschreibung sind dagegen geeignet, Strategien zur Herleitung der Wortschreibung und zu ihrer Kontrolle zu entdecken. Die von Balhorn/Büchner (2004) vorgelegten Rechtschreibmaterialien orientieren sich an den Auswertungsergebnissen der Hamburger Schreibprobe (HSP), die Fehler nach den anzuwendenden Strategien „alphabetisch, orthographisch und morphematisch“ kategorisiert. Unter die alphabetische Strategie, die wie in dem Rechtschreibmodell von Löffler/Meyer-Schepers als die fundamentale Strategie gilt, fallen analog zu Löffler/Meyer-Schepers nicht nur reguläre Laut-Buchstaben-Zuordnungen,
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sondern auch die Tatsache, dass „sehr verschiedene Laute“ durch denselben Buchstaben wiedergegeben werden ( z. B. „Esel lieben Enten“) und dass „ganz und gar gleiche Laute zu verschiedenen Buchstaben führen (Vampir und Wal; Kuh und Qualle)“ (Balhorn/Büchner 2004: 13). Lösungsmöglichkeiten werden dafür nicht angeboten. Die orthographische Strategie erwächst nach Balhorn und Büchner aus der alphabetischen. Dabei lernen die Schüler, „dass es orthographische Elemente gibt, die sich nicht aus der Lautung erschließen lassen“ (ebd.: 13). Darunter fallen Dehnungszeichen incl. dem regelhaften ie, Schärfungszeichen, Komposita mit Lauttilgung an der Morphemgrenze (z. B. Leuchtturm und Wandteppich, ebd.: 21). Als „komplexeste und umfassendste Strategie“ stufen Büchner und Balhorn die morphematische Strategie ein (ebd.: 14). Sie erfordert bestimmte Operationen, da „die Regeln der Verwendung orthographischer Elemente in der morphematischen Struktur von Wörtern fundiert sind“ (ebd.). Hierbei geht es „um Gliederungen komplex gebildeter Wörter“ mit Hilfe von Bausteinen (ebd.). Vorgeschlagene Aufgaben sind das Bilden von Wortfamilien, das Vertauschen von Wortbausteinen und das Bilden von Wörtern mit Wortbausteinen. Die Aufgabenbeispiele zu den drei Strategien sind methodisch vielfältig. Sie gliedern sich in Rechtschreib-Aufgaben, bei denen die alphabetische Strategie angewandt werden muss, und Baustein-Aufgaben zur Anwendung der morphematischen Strategie (ebd.: 20f.). Im folgenden Beispiel einer Rechtschreib-Aufgabe geht es um „Rechtschreib-Elemente“, um „besondere Stellen“, deren Schreibung man nicht aus der Lautung erschließen kann, sondern die man kennen oder herleiten muss (ebd.: 14): „In dem folgenden Satz sind fünf Fehler. Korrigiere sie. Diskusswerfen, Hamerwerfen, Kugelstossen und Speerwerfen sind Disziplienen in der Leichtatletik.“ (Ebd.: 20.) Die Lösung dieser Aufgabe, in der Wörter aus dem Kern- und Peripheriebereich vermischt sind, setzt den Einsatz der alphabetischen und orthographischen Strategie voraus. Um die Schreibung herzuleiten, fehlt jede Hilfe. Sie kann also nur mit vorhandenem Wissen gelöst werden und ist daher als Testund nicht als Lernaufgabe einzustufen. Dies gilt für die Mehrzahl der Rechtschreib-Aufgabenvorschläge. Die Baustein-Aufgaben sind als Lernaufgaben auch problematisch, insofern als zwar eine Wortbaustruktur vorgegeben wird (Präfix, Wortstamm, Endung), unter Endung aber sowohl die Infinitivendung als auch Suffixe zusammengefasst werden (ebd.: 21). Mit den auf dieser Aufgabenseite zur Verfügung gestellten Informationen lässt sich weder die Aufgabe lösen, die Buchstaben in den Wörtern „Fin_ling, Fun-Büro, Hu-schrauber und Schu_karre“ zu ergänzen, noch die Aufgaben zu entscheiden, ob in den fol-
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genden Wörtern die „Endungen Bausteine oder Silben“ sind: „lustig, Zeitung, herzlich, Freundlichkeit, Feindschaft, Zeugnis, Gesundheit“. Die vorgestellten Analyseergebnisse der Rechtschreibmaterialien von Kuschmierz und Balhorn/Büchner lassen nicht erkennen, wie insbesondere schwache Rechtschreiber damit zu einer verbesserten Lautanalyse gelangen können, die in den in diesem Abschnitt dargestellten Konzepten eine grundlegende Voraussetzung für das Rechtschreiblernen bildet. Die Aufgaben setzen Wissen voraus, das vielen Kindern nachweislich fehlt.
4.2
Das Sprachbuch „Pusteblume“ (Klassen 2–4)
Dass sich auch Rechtschreibkonzepte, die sich auf silbentheoretische Ansätze beziehen, grundlegend von der hier vorgestellten sprachsystematischen Rechtschreibdidaktik unterscheiden können, wird am Beispiel des Sprachbuches „Pusteblume“ (Grundschule) aufgezeigt. Die „Pusteblume“ ist ein Sprachbuch für die Klassen 2–4 und basiert auf dem Konzept eines integrativen Sprachunterrichts (Lehrerband 3, 2001: 19; vgl. Sharif 2006). Darin werden Aufgaben und Texte unterschiedlicher Sorten unter inhaltlich-thematischen Gesichtspunkten zusammengestellt, mit denen die Lernbereiche Schreiben, Rechtschreiben und Sprachreflexion abgedeckt werden. Im Folgenden werden die Rechtschreibinhalte in ihrer Abfolge sowie die Lern- und Übungsformen betrachtet. (9)
Lerninhalte und Lern- und Übungsformen im Sprachbuch „Pusteblume“
Lerninhalte Klasse 2 Vokalartikulation (verdeutlicht an der Lippenstellung) Vokal-Konsonant Einsilbige und mehrsilbige Wörter Zweisilbige Wörter mit offenen Silben und Silbengelenkschreibungen Umlaute (flektierte Verbformen und Pluralbildung) Übertragung der Silbengelenkschreibung auf einsilbige Wörter Dehnungs-h
Lern- und Übungsformen Lernen: Merksätze und Regeln Langsames und deutliches Sprechen in Silben, Beobachten des Mundes im Spiegel, Hören von Lang- und Kurzvokalen Schreiben nach Gehör (Wörter mit Langund Kurzvokal, z. B. Ofen–offen; Reimwörter) Mehrzahlbildung, Verkleinerung, Personalform (Umlaute) Wortfamilien (morpholog. Konstanz) Operationalisierte Abschreibaufgaben (Operationen: Einsetzen fehlender Vokale, Reimbildung und Silbengliederung,
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Mehrzahlbildung, Umwandlung von Sätzen in Witzsätze, Wörter Bildern zuordnen) Üben: Einprägen von Schreibmustern durch verschiedene Varianten des Aufschreibens: Abschreiben in Silbenschreibweise, Partnerdiktat, Laufdiktat, Dosendiktat, Lückendiktat, Umformen von Wörtern (Singular, Plural, Infinitiv, Personalform), Wörter zu Bildern schreiben und im Wörterbuch kontrollieren Klasse 3 Wiederholung: Lang- und Kurzvokal in offenen Silben und in Silbengelenkschreibungen ck, tz (mit Trennregel) Wortarten und Flexionsformen Komposita Dehnungs-h Auslautverhärtung in Einsilbern – Bildung von Zweisilbern Wortbausteine -ig, -lich (Komparativbildung) Umlautherleitung durch Bildung von Mehrzahl oder Personalform Ableitungen mit den Präfixen ent-, ver-, vor-, auf-, zer-, zu
Lernen: Wie in Klasse 2 Zusätzlich: Rechtschreibgespräch (Schwimmbad) Regel für Dehnungs-h: wenn es vorkommt, dann nur vor l, m, n, r Lernwörter: Wörter mit
Lernen: Wie Klasse 2 und 3 Zusätzlich: Rechtschreibgespräch über Chips Visuelle Markierung des langen Vokals in Rot und des kurzen in verkleinerter Schrift Unvollständige Merksätze, die Kinder ergänzen sollen
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Im Lehrerband zum Sprachbuch „Pusteblume“ geben die Autoren Auskunft über das Lern- und Übungskonzept: „Dem visuell-ganzheitlichen Speichern von Wortschemata wäre die gleiche Aufmerksamkeit zu widmen wie der auditiv-analytisch-synthetischen Laut-Buchstaben-Zuordnung, dem Einüben von analogen Mustern von Schreibungen und ersten Strategiebildungsprozessen.“ (Lehrerband Pusteblume 2, 2000: 86) Die Lernformen umfassen das deutliche Aussprechen und Hören, das Bilden von Reimpaaren, das Schreiben in Silbenschreibweise, das Verlängern von Wörtern in Pluralformen, Infinitiv oder Komparativ, das Umformen von Wörtern in Einsilber oder Personalformen, das Lernen und Anwenden von Regeln, das Einprägen von Schreibmustern. Sowohl von der Auswahl der Lerninhalte und ihrer Abfolge als auch im Hinblick auf Lernstrategien nutzt das Sprachbuch die Systematik der graphematischen Forschungsergebnisse nicht. Die geschlossene Silbe als „Normalfall“ der Wörter mit kurzem Vokal fehlt ganz. Durch die Auswahl und Kontrastierung des Wortmaterials wird der Eindruck erweckt, der Vokal werde durch Konsonantenbuchstabengemination kurz und durch Markierungen (
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Diskussion und Ausblick
Der systematische Zugang zur Rechtschreibung soll vor allem rechtschreibschwächeren Schülern den Erwerb einer Rechtschreibkompetenz ermöglichen. Hinney (2004: 73) weist darauf hin, dass es einem Teil der Schüler unabhängig vom Unterricht allein durch den Gebrauch der Schriftsprache gelingt, ein rechtschriftliches Strukturwissen aufzubauen. Dass sich bessere und schwächere Rechtschreiber vor allem im Strukturwissen unterscheiden, machen die Ergebnisse zur Rechtschreibleistung von Viertklässlern aus der IGLU-Ergänzungsstudie 2001 deutlich. Dies wird am Beispiel der Konsonantengemination aufgezeigt, die mit zweisilbigen und einsilbigen Wortformen abgeprüft wird (Löffler/Meyer-Schepers 2005: 92). Die Schüler im oberen Quartil beherrschen diese Regel nahezu sicher, während dies bei den Schülern in den mittleren und im unteren Quartil nicht der Fall ist. Aus sprachsystematischer Sicht ist das Ergebnis erwartungskonform, dass den Schülern die richtige Schreibweise im Zweisilber leichter fällt als in flektierten Formen. Auffällig ist der Befund, dass die Schüler aus dem obersten Quartil das Fremdwort Diskette wesentlich häufiger fehlerhaft schreiben als die Testwörter aus dem nativen Wortschatz. Die übrigen Schüler machen bei dem Fremdwort dagegen sogar am wenigsten Fehler. Das lässt sich aus sprachsystematischer Sicht damit erklären, dass die kompetenten Rechtschreiber ein kategoriales Strukturwissen aufbauen, das sie bei der Schreibung von Wörtern einer Kategorie nutzen. Die mittleren und schwachen Rechtschreiber dagegen rufen eingeprägte Schemata ab bzw. raten einfach. Da das schriftliche Wort Diskette den 2001 in der IGLU-Ergänzungsstudie Orthographie getesteten Kindern noch häufiger begegnete, haben sie es sich entweder durch Merken eingeprägt oder zufällig richtig geraten. Beide Zugänge sind wenig zielführend. Die Merkstrategie findet mit zunehmendem Schriftwortschatz ihre Grenzen. Dass die Merkstrategie die Hauptstrategie schwacher Rechtschreiber ist, machen die Ergebnisse der IGLU-E-Studie 2001 deutlich (vgl. Valtin et al. 2003: 258). Das Erraten lässt sich aus der Zahl der Variantenschreibungen ableiten, die bei schwachen Rechtschreibern besonders hoch ist. Die Befunde zeigen darüber hinaus, dass die weiteren, im herkömmlichen Rechtschreibunterricht vermittelten Zugänge zur Rechtschreibung, das deutliche Sprechen und Schreiben nach Gehör und die Anwendung von Regeln, für schwache Rechtschreiber keine Hilfe sind. So werden Testwörter mit bestimmten lautanalytischen Anforderungen nur von 80 % der Viertklässler sicher verschriftet, obwohl Kinder am Ende der 2. Klasse über die nötigen Fähigkeiten verfügen sollten (ebd.: 257). Die Regelanwendung scheitert bei schwachen Rechtschreibern vielfach daran, dass ihnen der Verschriftungsort für Deh-
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nungs- und Kürzungszeichen nicht klar ist und dass sie Umlaute nicht herleiten können (Löffler/Meyer-Schepers 2005: 93). Weiterhin ergibt die Studie, dass das Einprägen eines Grundwortschatzes sich nicht positiv auf die Rechtschreibleistung auswirkt (Valtin et al. 2004: 4). Valtin et al. (2003: 257) ziehen aus den IGLU-Ergebnissen den Schluss, dass „unter Lernzielaspekten der ermittelte Leistungsstand in der Rechtschreibung nicht befriedigen [kann] – schon gar nicht, wenn man die für den Rechtschreibunterricht aufgewendete Zeit berücksichtigt“. Im Schnitt werden für die Rechtschreibung 3,7 Schulstunden in der Woche und für das Lesen 5,2 Schulstunden aufgewendet. Da bereits Kosog (1912: 23) den Zeitaufwand von drei Stunden Rechtschreibunterricht pro Woche angesichts der Lernergebnisse der Schüler als höchst ineffizient beklagt hat, steht der gegenwärtige Rechtschreibunterricht sichtlich in einer langen Tradition. Heute ist die sprachwissenschaftliche Forschung zur Rechtschreibung jedoch wesentlich weiter als vor hundert Jahren. Kosog (ebd.: 20) setzte sich für eine radikale Reform ein, der unter anderem auch das Prinzip der morphologischen Konstanz zum Opfer fallen sollte. Er verstand Rechtschreibwissen als „unfruchtbares“, vom Sprachunterricht abgekoppeltes Wissen (ebd.: 23). Aus graphematischer Sicht kann eine solche Betrachtung nicht aufrechterhalten werden. Aus didaktischer Sicht wäre eine breite Unterrichtsforschung zu graphematisch basierten Konzepten wünschenswert.
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Sprachsystematische Rechtschreibdidaktik: Konzept, Materialien, Tests
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Orthographieerwerb von Beginn an Ein silbenorientiertes Konzept für den Anfangsunterricht
Der Orthographieerwerb in der Grundschule erfordert Umdenken und Neustrukturierung. So werden im Bildungsplan von Baden-Württemberg für die Klassen 1 und 2 im Bereich der orthographischen Fähigkeiten lediglich jene Kompetenzen gefordert, die die Schulung der Merkfähigkeit und der visuellen Diskriminierungsfähigkeit von Wörtern verlangen. Die Schüler sollen in den Klassen 1 und 2 die Fähigkeiten erwerben, orthographisch richtig abzuschreiben und Abschreibstrategien anzuwenden. Ausdrücklich erwähnt sind auch die Arbeit mit Lernwörtern, mit dem Wörterbuch und die Kontrolle anhand von Vorlagen. Über die Entwicklung von Rechtschreibstrategien und die Schulung von orthographischem Bewusstsein verlieren die Ausführungen zu den „Kompetenzen und Inhalten – Klasse 2 – Rechtschreiben“ (Bildungsplan 2004: 48) kein Wort. Demgegenüber sind im Bereich der Entwicklung von Sprachbewusstsein ausdrücklich „Rechtschreibgespräche“ und „Suchund Sammelaufgaben“ (ebd.: 49) gefordert, ohne allerdings genauere Aussagen darüber zu machen, welche „Regelmäßigkeiten [die Kinder, A. K.] in der Sprache entdecken“ (ebd.) sollen. In der Schrift bestehen nun tatsächlich „Regelmäßigkeiten“, die schon in Klasse 1 – vielmehr bereits in den ersten Wochen des Anfangsunterrichts – für die Schüler durchschaubar sein können. Diese sollten in „Rechtschreibgesprächen“ und durch „Such- oder Sammelaufgaben“ (ebd.) unterstützt werden und damit zu bewusstem Umgang mit der Schrift und ihren Regularitäten und zum Aufbau von orthographischen Kompetenzen bei Grundschülern beitragen. Welcher Art diese Regularitäten sind und wie sie den Schülern in den ersten Wochen nach Schuleintritt nähergebracht werden können, möchte der folgende Beitrag aufzeigen. Ein Fallbeispiel soll dokumentieren, wie auch schwache Schüler/innen mit diesem Modell experimentieren und zu welchen Lösungen sie dabei kommen können. Der Schuleintritt ist gekennzeichnet von der Begegnung der Kinder mit der Schrift, deren Besonderheiten sie mit ihren bislang erworbenen Kompetenzen in Verbindung bringen müssen. Möchte diese erste Begegnung mit Schrift einerseits die Lernvoraussetzungen der Schüler aufgreifen und andererseits auf der Basis der Regularitäten der Schrift in Bezug auf den Leseer-
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werb und den Orthographieerwerb agieren, so stellen sich die folgenden Aufgaben an einen schülerorientierten und sachstrukturierten Anfangsunterricht: – die Voraussetzungen der Schulanfänger bezüglich der Begegnung mit Schrift wahrzunehmen und als produktive Grundlage zu nutzen (Lautbildung, Rhythmusgefühl, Motivation); – die Sachstrukturen, die der Schriftsprache zugrunde liegen, zu erkennen (Graphem, Phonem, Sonoritätshierarchie, offene und geschlossene Silbe); – diese Strukturen logisch und konsequent in didaktische Modellierungen umzusetzen.
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Die Kompetenzen des Schulanfängers als produktive Grundlage für den Schrifterwerb
Kinder kommen nicht als „Tabula rasa“ in die 1. Klasse der Grundschule. Sie blicken auf die Erfahrungen der ersten sechs Lebensjahre zurück. In diesem ersten Lebensabschnitt erwerben Kinder enormen Zuwachs an körperlicher, psychischer und kognitiver Entwicklung. Ein wichtiger, für den Schriftspracherwerb relevanter Kompetenzbereich ist der frühkindliche Spracherwerb. Schulanfänger bringen einen Zugang zur Lautung der deutschen Sprache mit, auch wenn man in den ersten Schuljahren bei einigen Schülern noch Schwierigkeiten mit der Lautung, vorzugsweise mit den Frikativen, antrifft. Erwerben Kinder das Deutsche im mehrsprachigen Kontext, können sich lautliche Überlagerungen einstellen. Die phonologischen Kompetenzen der Schüler mit den Regularitäten der Schriftsprache in Verbindung zu bringen, ist eine der Aufgaben eines kindorientierten Anfangsunterrichts. Schüler der Eingangsstufe besitzen eine hohe Motivation, ihre mündlichen Kompetenzen unter Beweis zu stellen. Dazu gehört ihre Kommunikationsfähigkeit genauso wie die Fähigkeit, Sprache zu segmentieren. Diese Segmentierungskompetenz ist eine der wichtigen Voraussetzungen, die Schüler besitzen oder erwerben müssen, um einen Zugang zu den Regularitäten der Schrift zu bekommen. Der schon im Kindergartenalter praktizierte Umgang mit Kniereiterversen und Abzählreimen bietet motivierende Gelegenheiten zu segmentieren. Eine häufige Eigenschaft dieser Texte besteht darin, zwischen gespannten und ungespannten Vokalen zu wechseln, wobei ein Auf und Ab im sprachlichen Kontinuum entsteht. Die Umsetzung in Bewegung, Nachsprechen und Mitmachen liegt nahe und ist für die meisten Schüler problemlos zu realisieren.
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Darüber hinaus ist dieser Umgang mit Sprache von einem spielerischen Moment begleitet, das den Zugang für Kinder erleichtert. Belke (2007: 109) weist darauf hin, dass „beim Sprachspiel [...] das ganze Kind beteiligt (ist)“. Reim, Rhythmus, Klang seien zunächst wichtiger als der Wortsinn. Auf Dortmunder Schulhöfen werden Klatschspiele „Empompi“ genannt nach dem dabei am häufigsten benutzen Phantasiereim: Empompi, Koloni, Kolonaski Empompi, Koloni Ackerdemi so fari Ackerdemi puff, puff, puff!
Die Tatsache, dass derselbe Kinderreim auch auf Freudenstädter Schulhöfen gesungen und geklatscht wird, beinhaltet eine weitere Komponente. Durch die mündliche Weitergabe dieser Sprachspiele wird eine sprachliche Tradition erhalten, die einen Teil unserer Kultur ausmacht. Die Gedächtniskunst (Mnemotechnik) ist eine uralte Disziplin, die in vorschriftlichen Kulturen entwickelt worden ist, um das kollektive kulturelle Wissen einer Gesellschaft mündlich tradieren zu können. In unserem Kulturkreis sind Kinder, denen die Schriftsprache noch nicht in vollem Umfang zur Verfügung steht, die einzigen, die ihre mündliche Subkultur von Schulhof zu Schulhof, über Stadt- und möglicherweise auch über Landesgrenzen hinweg an die jeweils nachwachsende Kindergeneration weitergeben. Rhythmus und Reim sind die wichtigsten Helfer bei der Fixierung und Tradierung des Gedächtniswissens. (Belke 2007: 109)
Der Zugang der Schüler zu diesen sprachlichen Phänomenen zeigt sich in der hohen Motivation der Schulanfänger, an diesen Sprachspielen teilzuhaben. Dieses Moment des Spaßes sieht Belke (2007: 107) als Grundlage für die „potentiellen sprachlichen Lernprozesse“ an. Diese seien implizit und stellten sich nur dann ein, wenn sich die Kinder die Spiele zueigen machten und sie aus genuiner Spielfreude reproduzierten, veränderten und an Spielkameraden weitergäben (ebd.). Rhythmusspiele beinhalten über die Motivation durch Freude am Sprachspiel hinaus weitere Vorzüge für den Orthographieerwerb. Rhythmusgefühl mündet mit entsprechender sprachlicher Förderung in die Fähigkeit, Sprache in ihre Bestandteile – die Sprechsilben – zu segmentieren. Diese Funktion zu sehen und ihren Nutzen für den Aufbau von schriftsprachlicher Kompetenz zu nutzen, steht im Vordergrund eines an Rhythmus und Reim orientierten Unterrichtskonzeptes. Die Argumentation von Haueis (2007: 131), dass im didaktischen Diskurs ein wichtiger Aspekt übersehen werde, „wenn ausschließlich die Vergnüglichkeit als Vorzug spielerischer Formen der Vergegenständlichung hervorgehoben wird“, sollte dazu bewegen, das Sprachspiel als gezieltes, bewusst gewähltes Mittel zur Förderung von Rhythmusgefühl
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und Segmentierungskompetenz einzusetzen. Abzählreime, Kniereiterverse und Kinderlieder können diesem Ziel dienen und allmählich in rhythmisches Sprechen übergehen. Ausgehend von dieser Basis werden dann die Parallelen in der Schriftsprache entdeckt, indem die Segmentierung von schriftsprachlichem Material in Silben bzw. Füßen (allen voran der Trochäus) erprobt wird.
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Schriftspracherwerb auf der Basis der Silbe
Die Schreibsilbe (vgl. Eisenberg 72005: 71ff.) fand bereits Eingang in die unterschiedlichsten didaktischen Modellierungen, die sich mit dem Orthographieerwerb in der Primarstufe beschäftigen. 1 Üblich sind aber nach wie vor analytische, synthetische bzw. analytisch-synthetische Verfahren bzw. die ungesteuerte Erwerbsdynamik, wie sie mit „Lesen durch Schreiben“ praktiziert wird (vgl. die Einleitung zu diesem Band). Gemeinsam ist diesen Verfahren die Annahme einer 1:1-Beziehung zwischen Lauten und Buchstaben. Sie wird dem Schriftspracherwerb entsprechend zugrundegelegt. Da Kinder Lesen und Schreiben als voneinander untrennbar existierende Phänomene interpretieren, verwenden sie die erworbenen methodischen Vorgehensweisen für beide sprachliche Aktivitäten. Die im Unterricht vermittelte Auffassung einer 1:1-Beziehung veranlasst die Kinder, beim Lesen Buchstabenketten in lineare Lautketten zu überführen und diese „Wortvorformen“ (Scheerer-Neumann 2003) mit den Einträgen im mentalen Lexikon abzugleichen, was sie zu einer entsprechenden Wortform führt oder führen soll. Beim Schreiben zerlegen sie die artikulatorische Gesamtgeste eines Wortes in artikulatorische Einzelereignisse – mit den bekannten Problemen, dass phonetische Effekte statt phonologischer Strukturen notiert werden. Der analytische Weg führt beim Lesen zur Ganzworterkennung und beim Schreiben zum Einprägen und Reproduzieren von Gesamtformen – ein Verfahren, das mit der zunehmenden Belastung der Gedächtniskapazität sein natürliches Ende findet. Die Arbeit mit der Silbe führt unter der Voraussetzung, dass die Struktur der Schreibsilbe Eingang findet in den Orthographieerwerb, demgegenüber zu Aneignungsverfahren des selbsttätigen Entschlüsselns der Schriftstruktur. Für eine optimale Unterstützung dieses Aneignungsprozesses sollten Merkmale der Sprech- und Schreibsilbe klar getrennt realisiert und der strukturelle Aufbau der Schreibsilbe als Durchgliederungshilfe für den Schreiberwerb genutzt werden.
––––––– 1
Beispiele finden sich bei Günther (2006), Hinney (2004) und Bredel (2009).
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Je früher die Kinder einen zielgerichteten Zugriff auf die Schrift erhalten, desto wirksamer kann dieser Zugriff den Erwerb unterstützen. Die folgenden Ausführungen dokumentieren die Arbeit mit Silben in den ersten Wochen des Anfangsunterrichts.
2.1
Die Schreibsilbe als Grundlage des Lese- und Schreiberwerbs
Von den spielerischen Segmentierungsübungen sind es lediglich kleine Schritte zur strukturellen Durchgliederung der Schriftsprache in Form der Schreibsilbe. Das Lernen des Lesens auf der Basis der Silbe ist bereits durch Fibelwerke, wie z.B. das „ABC der Tiere“ (Handt/Kuhn o. J.) oder die „Piri Silbenfibel“ (Donth-Schäffer et al. 2008) verbreitet. Der Wechsel der Sprechsilben wurde bei beiden Fibeln gekennzeichnet. Die ABC-Fibel verdeutlicht die Silbengrenzen durch den Wechsel von Farben, die Piri-Fibel durch HellDunkel-Kontraste. Die Begegnung der Schüler mit der Schreibsilbe von Beginn an hat zur Folge, dass die Leseanfänger die Struktur der Schreibsilbe auf einfachstem Niveau verinnerlichen und auf den Orthographieerwerb transferieren können. Schreibsilbe und Sprechsilbe haben Strukturmerkmale, die in Abhängigkeit zueinander stehen. So gilt das allgemeine Silbenbaugesetz nach Eisenberg (72005: 61) zwar grundsätzlich für die Sprechsilbe, findet aber in der Struktur der Schreibsilbe ihre Entsprechungen. Innerhalb der Sprechsilbe besteht eine Sonoritätshierarchie. Der Anfangsrand ist durch geringere Sonorität gekennzeichnet, die zum Nukleus hin zunimmt und im Endrand wieder abnimmt. Der Kern der Silbe ist in der Regel von vokalischen Elementen besetzt, die den höchsten Sonoritätsgrad aufweisen. Die Ränder der Silbe besitzen eine größere Variationsbreite an Besetzungsmöglichkeiten. „Anfangsrand und Endrand können leer sein, sie können aber auch sehr komplex sein.“(ebd.: 61) Diese Hierarchie innerhalb der Sprechsilbe spiegelt sich im Aufbau der Schreibsilbe wider. An der Stelle, an der in der Sprechsilbe das Maximum an Sonorität erreicht wird (Nukleus), befinden sich in der Schreibsilbe Vokalbuchstaben. An den Rändern, die bei der Sprechsilbe durch geringere Sonorität gekennzeichnet sind, befinden sich entweder Konsonantenbuchstaben oder Leerstellen. Der Prototyp, welcher der Arbeit mit der Schreibsilbe zugrundeliegt, ist der trochäische Zweisilber. Dieser ist durch ein festgelegtes Akzentmuster aus einer betonten und einer unbetonten Silbe gekennzeichnet. Eine der Besonderheiten der Schriftsprache, die für den Anfangsunterricht bedeutsam ist, ist die Besetzung des Endrandes in betonten Silben. Die Länge eines Vokals ergibt sich aus dem Aufbau der Schreibsilbe, in der er als Kern
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Andrea Krauß
steht. Folgt einem Vokalbuchstaben innerhalb der betonten Schreibsilbe ein Konsonantenbuchstabe, so wird der Vokal der korrespondierenden Sprechsilbe kurz gesprochen (vgl. En-te). Folgt ihm kein konsonantischer Endrand in der Schreibsilbe, wird der entsprechende Vokal der Sprechsilbe lang gesprochen (vgl. E-sel). Wir sprechen im ersten Fall von geschlossenen Silben, im zweiten Fall von offenen Silben. Diese Differenzen in der Quantität des vokalischen Nukleus gibt es in der unbetonten Silbe nicht. Die Artikulation des vokalischen Kerns, der in der Schreibsilbe stets durch ein <e> präsentiert wird, ist dennoch abhängig von der Besetzung des Endrandes. So verändert sich die Qualität der Lautung des vokalischen Bestandteiles (Schwa) in Abhängigkeit von der Besetzung des Endrandes (vgl. Tan-te, Kel-ler, Re-gen). Bredel (2009) hat diesen Aufbau als grundlegend für den Erwerb der Schriftsprache beschrieben: „Grundlegend für den Schriftspracherwerb ist die Aneignung des basalen trochäischen Musters, zunächst ohne gesonderte Markierung; am Anfang des Schriftspracherwerbs stehen demnach Zweisilber des Typs
2.2
Die Graphem-Phonem-Korrespondenz
Schüler/innen begegnen im Anfangsunterricht der Schrift, deren Bestandteile die Grapheme sind. Das Verhältnis von Graphemen zu Phonemen wird viel diskutiert. Allgemein herrscht Konsens darüber, dass dieses nicht in einem Verhältnis von 1:1 angenommen werden kann. 2 Diese Aussage allein macht das Verhältnis von Buchstaben zum Laut jedoch nicht transparent. Das Grapheminventar des Deutschen lässt sich mit der Minimalpaaranalyse ermitteln. Laut Eisenberg sind es neun Vokalgrapheme und 24 Konsonantengrapheme, die den weitaus größten Teil des heimischen Wortschatzes abdecken (vgl. Eisenberg 72005: 67). Damit ist das Grapheminventar offengelegt. Die Konkretisierung der Graphem-Phonem-Korrespondenz befindet sich demgegenüber noch in den Anfängen. Es ist anzunehmen, dass es festgelegte Korrespondenzmuster gibt, die spezifisch auf das jeweilige Graphem bezogen werden müssen. Beispielsweise ist das Verhältnis des
––––––– 2
Vgl. Topsch (2000: 18) und Nerius et al. (32000: 108).
Orthographieerwerb von Beginn an
139
Graphems
2.3
Die Auswahl des Grapheminventars für die ersten Schulwochen
Ein am Orthographieerwerb orientierter Leseerstunterricht, der auf der Basis der Silbe operiert, wählt das Graphemmaterial für die ersten Schulwochen nach entsprechenden Kriterien aus. Es sollte dafür geeignet sein, möglichst schnell Wortmaterial erstellen zu können, das zum einen Sinnentnahme möglich macht und zum anderen die Positionen der Grapheme innerhalb der Schreibsilbe transparent erscheinen lässt. Deshalb sollten die ausgewählten Grapheme möglichst in allen Positionen innerhalb der Schreibsilbe einsetzbar sein. Diese Vorgabe trifft bei den Sonorantenbuchstaben für die Randpositionen (Anfangsrand und Endrand) zu. Das vokalische Inventar besetzt ausschließlich den Nukleus. Die Konsonantenbuchstaben, die Nasale und die Liquide repräsentieren, können sowohl in der betonten Silbe wie auch in der unbetonten Silbe im Anfangs- und Endrand stehen. Durch diese Auswahl ergibt sich innerhalb weniger Schulwochen ein großes Spektrum an Wortmaterial zum Lernen des Lesens und zum Arbeiten mit dem Silbenaufbau.
2.4
Begründung der Strukturierungshilfen
Um die Strukturierung der Schreibsilbe visuell zu unterstützen, benötigt man ein für den Schriftsprachbeginn einleuchtendes Unterstützungssystem. Dieses sollte die Struktur der Schreibsilbe symbolisieren, was bedeutet, dass die Dreigliedrigkeit der betonten und der unbetonten Silbe ersichtlich sein sollte.
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Andrea Krauß
Außerdem muss die Unterscheidung zwischen betonter und unbetonter Silbe zu erkennen sein. In Anlehnung an das von Röber (2005: 129ff.) entwickelte Bild eines Hauses zur Verdeutlichung von orthographischen Besonderheiten wird dieses Unterstützungssystem verwendet und auf die Schreibsilbe bezogen. Allerdings mussten Änderungen vorgenommen werden, die den Aufbau des Hauses auf seine für die orthographischen Regelungen relevanten Strukturen reduziert haben. Bredel (2009) hat dieses Bild des Hauses, das die Schreibsilbe identisch abbildet, mit einer die morphologischen und syntaktischen Informationen berücksichtigenden Farbgebung gefüllt. Bredel (2009: 142) bezieht sich in ihren Ausführungen auf die Tatsache, dass „Wortstämme in allen Umgebungen so ähnlich wie möglich geschrieben werden“. Dies werde normalerweise mit dem Konzept des Stammkonstanzprinzips erfasst. Was ein Stamm sei bzw. wie man orthographische Stämme erkenne, sei damit jedoch noch nicht gesagt. Bredel legt ein Modell vor, in dem die „stammkonstituierende Morphemgrenze nun exakt bestimmt werden“ (ebd.) könne. Sie liegt stets zwischen dem Onset und dem Nukleus der Reduktionssilbe. Zur Markierung der morphologischen Information wird der Wortstamm durch grüne Farbgebung visuell verdeutlicht. Durch diese Strukturierungshilfe wird der Zugang zur morphologischen Information unterstützt. „Im Lernprozess kann diese Erkenntnis von Beginn an angebahnt werden, wenn die zugrundeliegende Abbildung des Trochäus im Modell von Haus und Garage zur Stützung einer inneren Musterbildung wie folgt markiert wird; die Kinder lernen, dass die [...] markierte Buchstabenfolge stammkonstituierend ist.“ (Ebd.) (1)
Modell – Haus und Garage (Bredel 2009: 144)
Die hier gewählte methodisch-didaktische Ausarbeitung arbeitet auf der Basis dieser theoretischen Grundlage.
Orthographieerwerb von Beginn an
3
141
Didaktische Modellierung
Die Arbeit mit der Silbe ist eine in der aktuellen orthographiedidaktischen Diskussion gängige, aber nicht unumstrittene Vorgehensweise. 3 Der hier vorgestellte Ansatz wagt es dennoch, sich dieser Arbeitsweise zu verschreiben und die sachstrukturellen Argumente aus Kapitel 2.1 und 2.2 abzuwägen und in schlüssige methodische Verwirklichungen zu transformieren. Schon im Kindergarten werden die Kinder mit rhythmischen Bewegungsspielen, Liedern und Abzählversen konfrontiert (vgl. Kap. 1). Diese Spiele aufzunehmen und durch gezielt ausgewähltes sprachliches Material zu erweitern, ist die Aufgabe der ersten Wochen im Anfangsunterricht der Grundschule. Die Auswahl an Liedern zu den Vokalen ist vielfältig. Ein sehr bekanntes Lied ist „Alle Kinder lernen lesen“ (Lugert/Küntzel 2003: 66) 4 , in dem die Vokale musikalisch umgesetzt werden. In Melodie verpackt lassen sich diese Vertreter der Laute, die die Nuklei besetzen, leichter merken und mit den dazugehörenden Graphemen verbinden. Altbekannt, aber immer noch aktuell bringt „Drei Japanesen mit dem Kontrabass“ (Möhrer/Buchner 1986: 67) 5 die Schüler zum Nachdenken darüber, an welcher Stelle in der Silbe die Vokale ausgetauscht werden müssen, um dieses Lied zu singen. Das Schwa wird beispielsweise nicht ausgetauscht.
––––––– 3
4
5
Risel (2002: 71, 2006: 45ff.) legt seinen Schwerpunkt beim Orthographieerwerb auf das Morphem und zieht die Effizienz der Arbeit mit der Silbe in Zweifel. Die sachstrukturell logische Arbeit mit der Schreibsilbe in Anlehnung an Eisenberg (1998: 71ff) führt jedoch sukzessive von der Silbe zum Morphem als weiter zu verwertende Größe. Durch rhythmisches Sprechen gelangt man über das trochäische Fußmuster zur Schreibsilbe. Da der trochäische Zweisilber auch immer morphologische Information enthält (vgl. Kap. 2.4), führt diese Vorgehensweise direkt zum Morphem. Ein Auszug aus dem Text lautet folgendermaßen: „Alle Kinder lernen lesen, Indianer und Chinesen. Selbst am Nordpol lesen alle Eskimos. Hallo Kinder jetzt geht’s los. ‚A‘ sagt der Affe, wenn er in den Apfel beißt. ‚E‘ sagt der Elefant, der Erdbeeren verspeist. ‚I‘ sagt der Igel, wenn er sich im Spiegel sieht, und wir singen unser Lied.“ Der Text dieses Liedes erhält seinen Reiz durch den Austausch der Vokale: „Drei Japanesen mit dem Kontrabass saßen auf der Straße und erzählten sich was. Da kam die Polizei: Ja, was ist denn das? Drei Japanesen mit dem Kontrabass.“ Daraus ergibt sich dann: „Dro Joponosen mot dom ...“ oder „Dra Japanasen mat dam ...“.
142 3.1
Andrea Krauß
Übungen zu den gespannten und ungespannten Vokalen
Da die betonte Silbe im vokalischen Bestandteil zweierlei lautliche Entsprechungen besitzt – den langen und kurzen Vokal –, werden Hörübungen zur Unterscheidung dieser unerlässlich. Dabei ist die Erkenntnis, dass beide lautlichen Entsprechungen nur ein dazugehörendes Graphem besitzen, genau so zwingend, wie das Bewusstsein über den Aufbau der Silbe in Bezug auf den Endrand der betonten Silbe. Um gespannte (lange) Vokale von ungespannten (kurzen) zu unterscheiden, verbinden die Schüler diese mit „Indianerlauten“ (vgl. Handt/Kuhn 2006: 25) 6 für die Langvokale und mit „Äffchenlauten“ für die Kurzvokale. Die „Äffchenlaute“ bieten den Vorteil, dass die Qualität des ungespannten Vokales besonders gut zu hören ist und beim Sprechen im Bereich des Gaumens gefühlt werden kann. Zunächst werden Sprechübungen durchgeführt, indem die Schüler aufgefordert werden, die Vokale „wie die Indianer“ mit vorgehaltener Hand zu artikulieren. Im Zuge der bewegten Schule ist es völlig unproblematisch, dies in Form von Bewegungsspielen auszuführen. Gleiches gilt für die „Äffchenlaute“. Die Schüler schlüpfen in die Rolle eines Äffchens, das die Laute kurz und hart ausstößt. An diese Vorgehensweise schließt sich dann eine Erarbeitungsphase an, um die Qualitätsunterschiede der gespannten und ungespannten Vokale hören zu können. Hase, geben, Rose, Lupe bilden Beispiele für Wortmaterial mit gespannten Vokalen. Halten, Hemden, Hunde, hopsen beinhalten ungespannte Vokale.
3.2
Visualisierung der Struktur der Schreibsilbe
Das in Abbildung 1 ersichtliche Material zeigt eine Kopiervorlage, die die Struktur des Silbenaufbaus vorgibt. Auch die Farbgebung, die den Silbenaufbau gliedert, wird einheitlich in Anlehnung an Bredels theoretische Grundlage (Bredel 2009: 144) gestaltet. Die kreative Ausgestaltung der Umgebung bleibt dagegen den Schülern überlassen. Dieses Häuschenbild begleitet die Kinder das gesamte Schuljahr über, um danach einer kleineren, ins Mäppchen der Schüler passenden Unterstützungshilfe 7 zu weichen.
––––––– 6
7
Kuhn setzt die Indianerlaute – im Gegensatz zu der hier beschriebenen Vorgehensweise – zur Einführung der Bedeutung der Vokale unabhängig von ihrer Gespanntheit ein und erarbeitet daraus dann die Lang- und Kurzvokale. Vgl. Bredel (2009: 148): „Ein Grinsen ohne Katze“.
143
Orthographieerwerb von Beginn an
Das Grapheminventar wird auf Buchstabenkärtchen angeboten, die die Möglichkeit bieten, in die passenden „Zimmer“ 8 gelegt werden zu können. Dies eröffnet zum einen die Variante des Legens und Lesens und zum anderen die des Legens nach Diktat. Besonders interessant ist die Arbeit mit Pseudosilben, die für die Schüler motivierende Möglichkeiten bietet, die Besetzung in der Silbe auszutesten. Vorgabe ist dabei, dass die Regeln der Schreibsilbe, z. B. die konsonantische und die vokalische Besetzung an passender Stelle, eingehalten werden. Zunächst wird lediglich der Aufbau der betonten Silbe erarbeitet, indem Variationen für die Besetzung des Haupthauses erprobt werden. (2)
Unterstützungshilfe „Häuschen“ (Nina, 6 Jahre)
Sobald die Vokalbuchstaben erarbeitet, einige Sonorantenbuchstaben eingeführt worden sind und die entsprechenden Vokale und sonore Konsonanten durch Hör- und Sprechübungen zugeordnet wurden, können betonte Silben in das Bild für die Schreibsilbe eingetragen werden. Durch die konsonantische Besetzung des Endrandes ergibt sich die geschlossene Silbe. Für den Erstleser ergibt sich daraus die Konsequenz, dass der Vokal kurz gelesen werden muss. Steht im Endrand eine Leerstelle, so ergibt sich die offene Silbe. Dies beinhaltet die Information, dass der Vokal gedehnt werden muss. (3)
Offene und geschlossene Silben
m
u
m
m
a
m
––––––– 8
Die Schüler bezeichnen die Teile der betonten Silbe als „Diele“ und „Wohnzimmer“ und die Garagenteile als „vordere“, „mittlere“ und „hintere Garage“.
144
Andrea Krauß
u
m
m
a
u
m
m
a
Die unbetonte Silbe wird parallel dazu erarbeitet. Erste sinnvolle Wörter können nun gebildet werden, wie die folgenden Beispiele zeigen: (4)
Betonte und unbetonte Silben melden, lernen, landen 9
Namen, malen
N
a
m e
n
n
n
m
e
l
d
e
n
nennen, Nonne 10
n
e
n
e
––––––– 9
10
Diese Kategorie kann erst nach der Einführung eines weiteren Konsonanten entstehen, da sonore Konsonanten an der Silbengrenze nicht zusammenstoßen. Der Endrand einer betonten Silbe und der Anfangsrand der unbetonten Silbe kann nicht von zwei verschiedenen Vertretern der sonoren Konsonanten besetzt sein, wenn der Anfangsrand der betonten Silbe ebenfalls aus einem Sonoranten besteht. Ausnahme bildet hier lediglich das
Orthographieerwerb von Beginn an
145
Wird dieses Wortmaterial in „Haus“ und „Garage“ eingefügt, erkennen die Schüler schnell, dass auch der Nukleus der unbetonten Silbe (die „mittlerer Garage“) mit einem vokalischen Element, dem <e> 11 , besetzt ist. Mit jedem Graphem, das neu eingeführt wird, ergeben sich für die Schüler/innen unbekannte Kombinationsmöglichkeiten, die neugierig machen. Diese entdeckende Vorgehensweise kommt dem kindlichen Entwicklungsstand in der Übergangsphase vom Kindergarten zur Grundschule entgegen und eröffnet vor allem den mathematisch interessierten Schülern einen logisch-operativen Zugang zum Orthographieerwerb von Beginn an.
4
Fallbeispiel
G. ist Wiederholer, der seit September 2008 gemeinsam mit den neuen Erstklässlern die 1. Klasse besucht. Er wächst im mehrsprachigen Kontext auf. Deutsch, Türkisch und Englisch sind die Sprachen, die ihm in wechselnden Situationen begegnen. Das Deutsche beherrscht er weitgehend. Ausnahme bildet die Lautung der Vokale. Nach einem Jahr Schule hatte es G. noch nicht realisiert, dass jedes deutsche Wort mit vokalischen Elementen besetzt ist. Er repräsentierte diktiertes Wortmaterial grundsätzlich ohne Vokale. Abbildung (5) zeigt das Ergebnis eines Diktates am Ende der ersten Klasse. 12 (5)
Schreibungen, Juli 2008 diktiert Mund Regen Besen Gabel Raupe Tomate Banane Papagei Lupe
geschrieben mnt rgn BS gBl rp TmT BnT Ppg lp
––––––– 11
12
Bei den Verben im Infinitiv, den Substantiven im Plural, den Adjektiven in der flektierten Form. Den Eltern und dem Kind gilt mein Dank für die Genehmigung, diese Daten an dieser Stelle zu veröffentlichen.
146
Andrea Krauß
Die Tatsache, dass G. bei den meisten Wörtern keine Vokale repräsentiert hat, spricht dafür, dass er trotz silbenweisen Vorgehens des Fibellehrgangs „ABC der Tiere. Lesen in Silben“ (Handt/Kuhn o. J.) weder einen intuitiven noch einen bewussten Zugang zum Aufbau der Schreibsilbe gewonnen hat. G. notierte jedoch die konsonantischen Bestandteile der Silbe nahezu komplett. Diese Vorgehensweise ist auch im monolingualen Kontext nicht ungewöhnlich. Sie beruht auf der Tatsache, dass Konsonanten bei der Aussprache physisch stärker wahrgenommen werden können als Vokale. Die Bewegungen der Zunge im Mundraum und ihre Interaktion mit dem Gaumen oder den Schneidezähnen sind für die Kinder körperlich spürbar. Diese Wahrnehmungen notieren sie durch Konsonantengerüste bei der Verschriftlichung. Nach zwei Monaten der Begegnung mit dem Konzept der Schreibsilbe wurde zunächst ein Silbendiktat geschrieben. G. hätte nun die fünf Vokale a, e, i, o und u und die Konsonanten l, m, n und t durch den Fibellehrgang kennen müssen. Das Ergebnis sieht folgendermaßen aus: (6)
Silbendiktat im November 2008 diktiert [P$«] [O$«] [PL«] [OH«] [WR«] [8P]
geschrieben <ma>
Weiterhin wurden drei Wörter diktiert, die in der Lernkontrolle des Vorjahres vorkamen. Dieses erneut diktierte Wortmaterial enthielt ebenso das Grapheminventar, das G. mittlerweile kannte, sei es durch die Schule oder durch die Bestandteile seines Namens. G. arbeitete bei diesem Diktat ohne Unterstützungshilfe. Er sprach sich die Silben vor und notierte sie. (7)
Wörterdiktat im November 2008 diktiert >5H«J1@ >WRP$W@ >E$Q$Q@
geschrieben
Weitere Übungen, die seinen Umgang mit betonter und unbetonter Silbe zeigten, wurden mit Hilfe der Unterstützungshilfe „Häuschen“ durchgeführt. Die Arbeitsweise sah folgendermaßen aus: Die bislang bekannten Grapheme wurden auf Buchstabenkarten geboten. Diese sollten in die passenden Positionen in Haus und Garage eingefügt werden, nachdem sich die Lerngruppe
147
Orthographieerwerb von Beginn an
einen Zweisilber 13 gewählt hatte. G. ging bei dieser Übung immer nach dem gleichen Schema vor. Er legte zunächst den Anfangsrand und den Nukleus der betonten Silbe. Anschließend füllte er die Reduktionssilbe mit einem <e> und den Endrand mit dem geforderten Konsonantenbuchstaben. Diese Positionen bereiteten ihm kaum Schwierigkeiten, was zu einer zügigen Ausführung führte. Daraufhin entstand eine Pause des Nachdenkens bei G. Der Endrand der betonten Silbe und der Anfangsrand der unbetonten Silbe waren noch unbesetzt. Eine Phase des Explorierens begann. G. fügte verschiedene Grapheme an der Silbengrenze ein, las den Zweisilber und erkannte Abweichungen zwischen diktiertem und gelegtem Wort. Nach mehreren Versuchen gab G. schließlich auf. Die Unsicherheit in diesen Bereichen begleitete G. noch bis zu den Weihnachtsferien. Dies war einer der Gründe dafür, dass auf jedes weitere Diktieren von unbekanntem Wortmaterial in 2008 noch verzichtet wurde. Im Januar 2009 wurde zur Überprüfung der Strukturierungskompetenzen von G. hinsichtlich der betonten und unbetonten Silbe im Trochäus ein weiterer Versuch unternommen. Zunächst wurde der Schüler aufgefordert, das Wortmaterial in Abbildung (8) in die Unterstützungshilfe zu legen und anschließend in eine verkleinerte Vorlage einzutragen. Die Frage war hierbei, ob G. die betonte und die unbetonte Silbe mit dem richtigen Grapheminventar an der passenden Stelle in der Silbe füllen würde. Beim Eintragen in die Häuschenvorlage bemerkte G. beim überwiegenden Teil der Wörter Unstimmigkeiten und begann mit der Überarbeitung seiner Ergebnisse. Dabei nutzte er die Unterstützungshilfe, um die bereits gelegten Grapheme zu verschieben. Bei diesem Vorgang ergaben sich Lücken, die er mit vokalischem Material füllte. Einen Tag später wurde das Wortmaterial ohne Vorlage und ohne Unterstützungshilfe diktiert. Die Ergebnisse sahen folgendermaßen aus: (8)
Diktat von trochäischen Zweisilbern im Januar 2009
Diktiertes Wort [P$«.OQ] [OH«.]Q] [ODQ.GQ] [P(O.GQ] [Y2.OQ] [Ç(.QQ]
Verschriftlichung nach Diktat mit Unterstützungshilfe mal.en ie.sen lad.den ml wln ren.nen
Verschriftlichung nach Diktat ohne Unterstützungshilfe maln lesn landn mEnd weln renn
––––––– 13
Beispiele: malen, melden, nennen (vgl. Kap. 3.2).
Überarbeitung mit Unterstützungshilfe ma.len ---lan.den mel.den wol.len ----
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G. legte das Wort malen als Beispiel für offene Silben beim ersten Versuch hinsichtlich des Grapheminventars korrekt. Die Silbengrenze realisierte er allerdings nicht richtig, womit die Gliederung in betonte und unbetonte Silbe nicht korrekt gewährleistet war. Da die unbetonte Silbe im Anfangsrand nun eine Leerstelle aufwies, bemerkte G. seinen Fehler und verschob das
Orthographieerwerb von Beginn an
149
Konsonanten des Wortmaterials zu repräsentieren, sondern auch, die vokalischen Bestandteile zu identifizieren und an der richtigen Stelle in der Silbe zu platzieren. Die Durchgliederung des Zweisilbers wurde von diesem Kind noch nicht vollständig realisiert. Dennoch zeigen seine Schreibungen deutliche Fortschritte in Bezug auf die vokalischen Bestandteile der Schriftsprache. Insbesondere in der betonten Silbe konnte G. die richtigen Vokale repräsentieren und stellte diese an korrekter Stelle in der Silbe dar. Die unbetonte Silbe bereitete ihm aufgrund ihrer reduzierten phonologischen Qualität Schwierigkeiten. G. ist offensichtlich eines jener Kinder, die sprachliche Phänomene, welche sie weder hören noch spüren können, für nicht existent erachten. Daher scheint ihm die Visualisierung dieser nicht notwendig zu sein. Mit Unterstützung des „Häuschens mit Garage“ wurde ihm der fehlende Nukleus in der unbetonten Silbe bewusst gemacht, und er füllte diesen Teil der Silbe beim Legen mit dem passenden Grapheminventar aus. Da beim Schreiben nach Diktat die Visualisierung der Silbengliederung aber fehlte, notierte er das <e> in der unbetonten Silbe noch nicht. Außerdem hatte G. sich zu einem „orthographischen Zweifler“ entwickelt, der nicht blind nach Lösungen sucht, sondern durch Nachdenken und „Überarbeiten“ zu richtigen Ergebnissen kommen möchte. Inwieweit die Förderung durch die Schreibsilbe die Kompetenzen dieses Kindes hinsichtlich der Durchgliederung des übrigen Wortmaterials steigern wird, bleibt noch offen, lässt jedoch interessante Entwicklungen vermuten.
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Andrea Krauß
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Christina Noack
Orthographie als Leserinstruktion Die Leistung schriftsprachlicher Strukturen für den Dekodierprozess
1
Lesen als Rekodierleistung
Nicht nur in den schriftdominierten westlichen Gesellschaften, sondern weltweit gilt Lesefähigkeit heute als Schlüsselqualifikation für ein selbstgesteuertes Leben und die persönliche Entfaltung der Menschen. So definieren die Verantwortlichen der PISA-Studie von 2000 den Zweck der Lesekompetenz damit, „eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potential weiter zu entwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen“. Auch im schulischen Kontext dient das Lesen nicht nur dem reinen Selbstzweck, sondern insbesondere dem Lernen und Verstehen in allen Fächern. Längst sind die Anforderungen, die an den Leser gestellt werden, vor allem gebrauchspragmatischer, multimedialer Art. So heißt der entsprechende Kompetenzbereich in den modernen Bildungsstandards nicht mehr schlicht „Lesen“, was analog zum Kompetenzbereich „Schreiben“ zu erwarten wäre und wie es in den älteren curricularen Vorgaben der Fall war, sondern „Lesen – Mit Texten und Medien umgehen“. Medienkompetenz und die funktionale Nutzung geschriebener Texte sind also zentrale Fähigkeiten, die es in der Schule zu erwerben gilt. So steht eben dieser funktionale Lesebegriff heute im Zentrum der Bildungsarbeit, an ihm werden Kompetenzen gemessen und Standards gesetzt. Gleichzeitig wird Lesen – was die sprachlichen Verstehensprozesse betrifft – spätestens seit der kognitivistisch ausgerichteten Leseforschung längst nicht mehr als ein passives „Auflesen“ geschriebener Inhalte, sondern als aktiver Konstruktionsprozess verstanden, in dem der Leser sich durch sein Weltwissen und seine metasprachlichen Fähigkeiten die Bedeutung eines Textes aktiv erschließt. Allerdings können diese Fähigkeiten individuell unterschiedlich ausgebildet sein, wie insbesondere die beiden großen Vergleichsstudien PISA und IGLU in den vergangenen Jahren deutlich gemacht haben: Bei einem extrem großen Abstand zwischen den stärksten und den schwächsten Lesern in Deutschland war in der PISA-Studie von 2000 ein überdurchschnittlich hoher Anteil der Sekundarschüler nicht in der Lage,
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Christina Noack
einem Text auch nur die vordergründigsten Informationen zu entnehmen, während ein gemessen am OECD-Durchschnitt geringer Teil dieser Alterskohorte als Expertenleser zu bezeichnen ist. Eine kleine Gruppe von Lesern verarbeitet die Informationen eines Textes demnach mit maximaler Effizienz, während fast ein Viertel lediglich in der Lage ist, „auf einem elementaren Niveau zu lesen“ (Deutsches PISA-Konsortium 2001). 1 Zwei zentrale Fragestellungen der aktuellen Leseforschung in diesem Zusammenhang lauten: Welches sind die Ursachen für die unterschiedlichen Verstehensleistungen und welche unterschiedlichen Ressourcen bzw. Strategien nutzen gute im Gegensatz zu schlechten Lesern? Vor dreißig Jahren hat der Kognitionswissenschaftler Keith E. Stanovich gute Leser gegenüber schwachen hauptsächlich durch die Fähigkeit zum schnellen und automatisierten Dekodieren definiert, wobei er das Dekodieren, also das Entschlüsseln der schriftsprachlichen Zeichen, als Zwei-WegeProzess interpretierte, mit einer lexikalischen (direkten) und einer phonologischen (indirekten) Route: „There is some evidence that good readers have automatized the recognition of word and subword units to a greater extent than poor readers [...]. The good reader identifies words automatically and rapidly, whether by direct visual recognition or phonological recoding [...]. The result is that more attentional capacity is left over for integrative comprehension processes.“ (Stanovich 1980: 64) Die Aufnahmekapazitäten der Sprachverarbeitung sind also begrenzt. Ein guter Leser erkennt schriftliche Zeichenfolgen in großer Geschwindigkeit und weitgehend unbewusst, setzt sie per Lexikonabgleich ohne Umwege über die phonologische Verarbeitung in bekannte lexikalische Einheiten um und kann sich so auf den Verstehensprozess konzentrieren. Hieraus folgt umgekehrt: Werden die Wörter nicht schnell und automatisch identifiziert, was bei schwachen Lesern i. d. R. der Fall ist, sind wichtige Kapazitäten für die Satz- und Textverarbeitung und für den Verstehensprozess blockiert. Schwache Leser lesen dadurch nicht nur langsamer, sie verstehen auch weniger von dem Gelesenen. Die Analysen von Leseaufnahmen schwacher Leser beim lauten Lesen zeigen jedoch noch etwas: Offenbar hat diese Lesergruppe auch große Schwierigkeiten mit der indirekten Route, also damit, Wortstrukturen zu identifizieren und in die entsprechenden phonologischen Strukturen umzusetzen, den geschriebenen Text also zu rekodieren 2 . Denn auch darin unterscheiden sich laut empirischer Studien (z. B. Frith/Wimmer/Landerl 1998) gute von schwachen Le-
––––––– 1
2
Im vorliegenden Beitrag werden die beiden Gruppen als gute beziehungsweise schwache Leser bezeichnet, auch wenn eine solche Kategorisierung selbstverständlich zu kurz greift. Rekodieren wird hier – wie in der Leseforschung üblich – als Übertragung geschriebener Zeichenfolgen in lautliche Strukturen verstanden. Demgegenüber bezeichnet der Ausdruck Dekodieren die Bedeutungsentnahme im Leseprozess.
153
Orthographie als Leseinstruktion
sern: in der Fähigkeit, orthographische Strukturen der Schriftsprache richtig zu interpretieren und für den gesamten Leseprozess effektiv zu nutzen. Das folgende Beispiel zeigt die Rekodierleistungen zweier etwa gleichaltriger Schülerinnen, deren Lesefähigkeiten ganz unterschiedlich entwickelt sind: (1)
Lesebeispiele von Fünftklässlerinnen (KO1 = schwach, g5-1 = stark) 3
Satz 1: KO1 g5-1
Sie ¥\K \K
fressen H¥H¯'UPB ¥H¯'UPB
KiefernKO1 IKHMK¥MKÖ¤HÖ'ÖmP g5-1 ¥MKÖHmP
Samenkörner ¥\C¤ONPB¥MmPmP ¥\#ÖOOB¤MmPm und ¥!7PV 7PV
von 7PV HnP
Tannen-, ¥MCP¥VCPPB ¥VCPPB
Fichtenzapfen. ¥H+%VPB¤VUCRHPB ¥H+%VPB¤VUCRH/BB
Satz 2: KO1 g5-1
Sie ¥\K \K
horten ¥Jnm¤V'P ¥JnmVP
KO1 g5-1
Pilze ¥RKÖNÖ¥VUGÖ ¥R+NVU
und 7PV 7PV
auch ¥!C7% C7%
Nüsse, ¥P;U ¥P;U
Knospen. ¥MPQÖUROB ¥MPnUROB
Bucheckern, Eicheln, ¥DWÖZPB¤M'm¤PG ¥C+%NBP ¥DWÖZ¤!'MmP ¥!C+%NBP
Satz 3: KO1 g5-1
Fiedele wird uns hoffentlich noch lange ¥H+%¥V'P ¥XÖKÖÖV¥X+mV ¥!C7U ¥Jn¤H'PV¤N+%¥Jn¤H'PV¤N+% PnZ ¥N'0m HK¥FGÖN X+V !7PU ¥JnHPBVN+% PnZ ¥NC0 in
unserer
Parterrewohnung
besuchen.
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Beim Vergleich der Ausschnitte aus den beiden Leseprotokollen fallen u. a. folgende Punkte auf: 1. Die schwache Leserin KO1 verliest sich unverhältnismäßig häufig, und zwar sowohl aufgrund von Rekodierschwierigkeiten mit entsprechender Herabsetzung des Lesetempos (z. B. Satz 3 <wird> [¥XÖKÖÖV]) als auch durch falsches Worterkennen (z. B. Satz 1:
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Die Daten stammen aus einem Forschungsprojekt zu den Lese- und Rechtschreibleistungen von Hauptschülern, vgl. Noack (2004: 112).
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Christina Noack
2. Einzelne Wörter werden von derselben Leserin beim Rekodieren stark gedehnt, dadurch wird die phonologische Gestalt verzerrt, was wiederum die Worterkennung erschwert (Satz 2: Pilze [¥RKÖNÖ¥VUGÖ], Kiefern [¥MKÖ¥HÖ'ÖmP]). 3. In einigen Wörtern wird von der schwachen Leserin jede Silbe betont, dadurch werden Reduktionsvokale durch Vollvokale ersetzt (vgl. Satz 2:
Orthographie als Leseinstruktion
2
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Komplex, aber lernbar: Das deutsche Schriftsystem aus Lesersicht
Nachdem es in der Orthographieforschung in der Vergangenheit in erster Linie um den Schreibprozess gegangen ist, eine Sichtweise, die sich auch in den Überlegungen und Diskussionen zur Rechtschreibreform bis hin zur Konzeption der Amtlichen Regelung findet, wenden sich einige neuere Arbeiten verstärkt dem Lesen zu, indem sie betonen, dass die Orthographie gar nicht so sehr für den Schreiber als vielmehr für den Leser einen eindeutigen Bezug zur gesprochenen Sprache herstellen muss, um nämlich die Intention des Schreibers bezüglich des Sinns eines Textes zweifelsfrei entschlüsseln zu können: Die Grundbestimmung von Schrift ist also die Fixierung der wörtlichen Form eines Textes für einen Leser [...]. Die graphische Form muss so sein, dass sie dem Leser zugänglich ist, für ihn gewissermaßen einen Anweisungscharakter hat, mit dem er die darin kodierte [...] Botschaft erlesen kann. (Maas 2000: 40) [...] the consistency of a writing system should not be valued against the background of how straightforwardly a writer can encode his linguistic knowledge in orthographic forms but how straightforwardly a reader is enabled to decode grammatical structure [...] from the orthographic form. (Neef 2002: 169)
Orthographie ermöglicht es also, die sprachstrukturellen, d. h. die grammatischen Informationen – die dann letztlich ebenfalls zur Sinnentnahme führen – richtig zu deuten. Wie bereits gesagt, wird im vorliegenden Beitrag versucht, einige zentrale Wortschreibungsmuster der deutschen Orthographie aus Lesersicht zu beschreiben. Dabei soll insbesondere aufgezeigt werden, wie die Orthographie phonologische und grammatische Informationen für den Leser kodiert.
2.1
Phonographische Regularitäten des deutschen Schriftsystems
Als „Phonographie“ wird im vorliegenden Beitrag die Ebene der Schriftsprache verstanden, auf der die phonologischen Strukturen der gesprochenen Sprache kodiert sind. Dies sind zum einen die Grapheme 4 als die kleinsten funktionalen Einheiten der Schrift 5 , zum anderen sind dies jedoch auch
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5
Grapheme werden zumeist in Analogie zum Phonembegriff definiert, vgl. Dürscheid (22004). Vgl. jedoch Primus (in diesem Band) zu der Annahme, dass die Buchstaben die kleinsten Einheiten der Schriftsprache mit phonologischem Bezug darstellen.
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Christina Noack
Schreibungen, die sich auf komplexere phonologische Strukturen als das singuläre Phonem beziehen, nämlich die der Silbe 6 . Es handelt sich dabei insbesondere um Schreibungen, die die lautlichen Verhältnisse an der Fuge zwischen der betonten und der reduzierten Silbe einer zweisilbigen Form markieren bzw. um solche, die die Anschlussverhältnisse innerhalb der betonten Silbe kennzeichnen. Zur Verdeutlichung sollen im Folgenden einige dieser Schreibphänomene exemplarisch etwas genauer betrachtet werden, die für den Leseprozess als besonders zentral anzusehen sind, und zwar insofern, als schwächere Leser gerade hier häufig Auffälligkeiten zeigen, wie auch die Leserin KO1 im obigen Beispiel bei den Wörtern <Samen> und
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Damit weicht die hier geführte Bezeichnung von anderen Autoren wie Eisenberg (1998) ab, der die Buchstaben-Laut-Beziehungen als Phonographie und diese gemeinsam mit den silbischen Schreibungen als phonologische Schreibungen bezeichnet. Dagegen subsumiert Maas (1992, 2000) unter dem Begriff „Phonographie“ den gesamten Bereich der Orthographie, der in den phonologisch-prosodischen Strukturen des Deutschen fundiert ist. Als reduziert sind solche Silben zu bezeichnen, deren Struktur im Gegensatz zu betonten Silben minimal ausgebaut sind. Sie haben keinen Vollvokal im Nukleus, sondern ein Schwa oder einen silbischen Konsonanten, die Silbenränder müssen nicht besetzt sein, vgl. die jeweils zweiten Silben in den Wörtern Aue [!C7.], bauen [bC7.n] oder Segel [ze:.gl]. Eisenberg (1998: 296) bezeichnet Trochäen im Deutschen aufgrund ihrer Häufigkeit und ihrer Produktivität als „prototypische Zweisilber“. Zur Geschichte der Anschlusskonzepte und ihrer Terminologie vgl. Restle (2002).
Orthographie als Leseinstruktion
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ders von Maas (1992, 22006; zu einer Kritik vgl. Lenerz 2002) unter phonetischen Gesichtspunkten vertreten. Aufgrund der beiden Anschlusstypen (loser vs. fester Anschluss) in Abhängigkeit von der Struktur der betonten Silbe (offen vs. geschlossen) ergeben sich für Maas vier phonologische Wortmuster (Reihenfolge CN, nicht festgelegt) zweisilbiger Wörter: a) b) c) d)
loser Anschluss bei offener Silbe (Konsonant in Folgesilbe) z. B. Ro.se 10 fester Anschluss bei offener Silbe (Konsonant in Folgesilbe) z. B. Ro.sse loser Anschluss bei geschlossener Silbe (Kons. in gleicher Silbe) z. B. Rös.chen fester Anschluss bei geschlossener Silbe (Kons. in gleicher Silbe) z. B. ros.ten
Laut Maas sind es die Strukturen b) und c), die eine orthographische Kennzeichnung benötigen, damit sie vom Leser nicht als a) respektive d) fehlinterpretiert werden. b) benötigt dafür die sogenannte Schärfungsschreibung und c) die Dehnungsschreibung. Letztere kommt jedoch in der deutschen Orthographie – wie auch das Beispielwort
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Die Punkte markieren die Sprech-Silbengrenze. Zu einer schrifthistorischen Erklärung dieses Umstands vgl. Maas (1996). Zu wortstrukturellen Erklärungsansätzen für die Verteilung des Dehnungs-h vgl. Eisenberg (1998).
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Christina Noack
Ein alternativer Ansatz, der ebenfalls die Silbenstruktur des phonologischen Wortes als Domäne annimmt, ist das Konzept des Silbengelenks von Eisenberg (z. B. 1998). Im Gegensatz zu Maas verzichtet er auf eine phonetische Fundierung und argumentiert rein phonologisch. Verdoppelt werden muss ein konsonantisches Graphem im orthographischen Wort laut Eisenberg (1998: 298) dann, wenn es mit einem ambisilbischen Konsonanten korrespondiert, und zwar deshalb, weil in der deutschen Schrift keine ambisilbischen Grapheme zulässig sind. Seinem Ansatz zufolge führen zwei konfligierende Regeln zum phonologischen Silbengelenk: Die eine Regel besagt, dass ein Konsonant „zwischen zwei Silbenkernen oder einem Diphthong und einem Silbenkern“ zur zweiten Silbe gehört, die andere Regel legt fest, dass betonte Silben mit ungespanntem Vokal nicht offen sein können (Eisenberg 7 2005: 46f.). Einzelne intervokalische Konsonanten wie in [\7R] (Suppe) gehören demnach sowohl zur zweiten als auch zur ersten Silbe und werden von Eisenberg als Silbengelenk bezeichnet. Vor dem Hintergrund dieser phonologischen Analyse formuliert er seine Schärfungsregel schreiberorientiert wie folgt: „Ein Doppelkonsonantengraphem erscheint immer dann, wenn im phonologischen Wort ein ambisilbischer Konsonant (Silbengelenk) auftritt. Verdoppelt wird das Graphem, das dem ambisilbischen Konsonanten phonographisch entspricht.“ (Eisenberg 1998: 297) Das heißt aus Lesersicht, dass ein doppeltes Konsonantenzeichen zwischen Vokalbuchstaben wie in
Orthographie als Leseinstruktion
159
dierung mit dem korrespondierenden festen Anschluss (bzw. die Gelenkschreibung nach dem oben dargestellten Ansatz nach Eisenberg) ergibt sich erst durch die silbenstrukturelle Analyse des gesamten Wortes. Etwas komplexer sind die Verhältnisse bei zwei unterschiedlichen Konsonantengraphemen an der Silbenfuge: Hier ist nicht allein die silbische, sondern auch die morphologische Struktur des betreffenden Wortes für die Rekodierung entscheidend. Wenn beide Konsonanten zum Stamm gehören, wird der Vokal in aller Regel ungespannt artikuliert, vgl. Hunde, Kinder, Hilfe. 13 Gehört dagegen der erste Konsonant zum Stamm und der zweite zu einem weiteren Morphem, etwa dem Flexionssuffix, so wird der Vokal gespannt gesprochen: malte (<malen), rasten (
Beispiel
d)
Rekodierung [V] gespannt [V] ungespannt, [K] einfach [V] ungespannt wenn keine Morphemgrenze nach K1 [V] gespannt, wenn Morphemgrenze nach K1
Bei diesen Regularitäten handelt es sich um den Kernbereich der deutschen Wortschreibung. a), b) und d) sind ohne Ausnahmen, während es zu c) einige Ausnahmen gibt, vgl. Mond, Keks, Obst, mit gespanntem Vokal, obwohl keine Morphemgrenze nach K1 vorliegt. Allerdings gehen diese Wörter etymologisch auf mehrsilbige Formen zurück, die nach K1 einen weiteren Vokal hatten und insofern dem Typ a) zuzuordnen wären. Nicht berücksichtigt sind orthographische Wörter mit Dehnungs-h, die eine Untergruppe von a) und d) bilden. Bei c) und d) wird die Verflechtung von Phonologie und Morphologie als gemeinsame Grundlage für die Wortschreibung deutlich, die vom Leser zumindest implizit durchschaut werden muss. So muss er erkennen, dass eine Form des Typs d) im Grunde auf den Typ a) zurückgeht, bzw. dass d) durch a) motiviert wird. In der Schriftvermittlung wird alltagssprachlich zumeist davon gesprochen, dass – um beim obigen Beispiel zu bleiben – „rasten von rasen kommt“. Eine solche Formulierung ist jedoch nicht hinreichend und für
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Ausnahmen sind Wörter wie neblig (< Nebel), atmen (
160
Christina Noack
den Lerner dann problematisch, wenn nicht klar wird, welche Regularitäten den Schreibungen jeweils zugrundeliegen. Wird schlagen daher folgende Rekodierungsregel vor: Rekodierungsregel für trochäische Wortformen Ein zum Wortstamm gehörender Vokalbuchstabe wird mit gespanntem Vokal rekodiert, wenn es im Paradigma mindestens eine Form gibt, in der dem Vokalbuchstaben lediglich ein einzelnes Konsonantengraphem vor Vokalgraphem folgt.
Diese Formulierung hat reinen Instruktionscharakter. Sie erklärt nichts, besonders nicht den Zusammenhang zwischen dem einzelnen Konsonantengraphem und der gespannten Rekodierung des Vokals. Wir ergänzen daher die obige Regel durch folgende Erklärung: Prosodisch entsteht durch die Affigierung eines vokalisch anlautenden Suffixes an einen auf einfachen Konsonanten auslautenden Stamm eine zweisilbige Form mit einfachem Konsonanten an der Silbenfuge. Durch das phonologische Gesetz der „Onset-Maximierung“, welches besagt, dass in einem mehrsilbigen Wort eine Konsonantenfolge so zu syllabieren ist, dass ein größtmöglicher Silbenanlaut entsteht 14 , ist eine Phonemfolge VKV als V.KV zu syllabieren. Die zweite Silbe lautet auf einfachen Konsonanten an, die erste endet offen. Im Deutschen sind Vokale in betonten offenen Silben gespannt. Für den Leser bedeutet dies, ein Wort wie <Samen> in die phonologische Form /\CÖOP/ zu rekodieren, mit gespanntem Vokal in offener erster Silbe und konsonantisch anlautender zweiter Silbe.
Anstelle von Schreibregeln, die dem Schreibenden Anweisungen geben, in welchen Fällen eine bestimmte Graphie vorzunehmen ist, formulieren Maas (2000) und Neef (2005) Leserinstruktionen, wie Geschriebenes in phonologische Strukturen zu übertragen ist. Wie oben bereits erwähnt, gehen beide Autoren davon aus, dass es sich bei der Orthographie um einen komplexen Apparat aus Regeln und Konventionen handelt, der in seiner Systematik prinzipiell lernbar ist und in erster Linie dem Leser nützt 15 . Die entsprechende Leserinstruktion für die Schärfungsschreibung lautet bei Maas (2000: 88): „Fester Anschluß findet sich auch ohne tautosyllabischen Konsonanten (also als Anschluß an einen heterosyllabischen Konsonanten im folgenden Anfangsrand). Dieser Fall wird durch die Schärfung notiert, also durch eine Kopie des Zeichens für den fest angeschlossenen Konsonanten.“ Inkonsequenterweise erscheint die Formulierung hier schreiberorientiert, obgleich die Intention – die Leserorientierung – doch eine andere ist. Sehr
––––––– 14 15
Vgl. Hall (2000: 218). Beide operieren vom Ansatz her jedoch ganz unterschiedlich, was bereits in der Bezeichnung des Gegenstandes Orthographie (Maas) vs. Graphematik (Neef) deutlich wird.
Orthographie als Leseinstruktion
161
viel deutlicher wird dies bei Neef (2005: 147), der konsequent die Lautung aus der Schreibung herleitet: „Ein Vokalbuchstabe kann nicht mit einem peripheren 16 Vokal oder mit Schwa korrespondieren, wenn ihm unmittelbar eine Schärfungsschreibung folgt.“ Eine letzte phonographische Leserinstruktion, die hier angesprochen werden soll, betrifft die Wortbetonung. In dem Beispiel oben las die gute Leserin ein ihr unbekanntes dreisilbiges Wort, den Eigennamen
2.2
Grammatische Schreibungen
Das deutsche Schriftsystem ist bekanntermaßen keine Lautschrift. Neben der Phonologie sind in der deutschen Orthographie grammatische Eigenschaften kodiert, die nicht die Aussprache betreffen, sondern morphologische und syntaktische Informationen transportieren. Auch sie tragen in besonderem Maße zum Verstehensprozess des Lesenden bei, indem sie etwa Hinweise auf die Wortfamilienzugehörigkeit eines Wortes geben oder die Analyse der Satzstruktur erleichtern. Der Leser muss somit für einen gelingenden Leseprozess neben den phonologischen Strukturen auch die grammatischen entschlüsseln. 2.2.1 Morphologische Schreibungen: Morphemkonstanz In der Literatur findet sich häufig der Hinweis, dass sich die Schreibungen eines Großteils der deutschen Wörter allein mithilfe des phonographischen Prinzips, also der regelhaften Zuordnung von Phonemen zu Graphemen ergäben (z. B. Eisenberg 72005: 70). Wörter wie
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„Peripher“ nennt Neef aus phonologischen Überlegungen heraus Vollvokalphone, die anderswo als „lang“ bzw. „gespannt“ bezeichnet werden.
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Christina Noack
werden: Wie bereits erwähnt, ist das Wort nach dem hier vertretenen Ansatz zunächst einmal irregulär, da seine morphologische Struktur auf einen kurzen Stammvokal hinweist. Diese Irregularität könnte orthographisch durch ein Dehnungszeichen markiert werden, was jedoch aus graphotaktischen Gründen nicht möglich ist: Dehnungs-h erscheint im Deutschen nur vor Sonorantengraphemen, und Vokalbuchstabenverdopplung ist bei Umlautgraphemen ausgeschlossen. Aufgrund des langen Vokals wäre hier eine weitere Schreibweise möglich, die die Länge anzeigen würde, nämlich *<Wüßte>. Diese Schreibung wäre im Gegensatz zu <Wüste> eindeutig rekodierbar. Die Schreibung *<Wüßte> ist jedoch als rein phonographische Form nicht möglich, da sie grammatische Informationen über verwandte Formen impliziert, die im Paradigma von Wüste nicht vorkommen. Gäbe es im Deutschen ein Wort mit dieser Schreibung, so wäre das Graphem <ß> nur motiviert, wenn der Wortstamm *wüß- lautete; es gäbe dann auch Formen wie *wüßen oder *wüßer, während es solche Formen im Paradigma von Wüste nicht geben kann – der Stamm endet nach dem t (daher die Default-Schreibung <s> für den s-Laut). So transportiert also bereits die Schreibung des Wortes <Wüste> für den Leser grammatische Informationen über die Wortfamilie bzw. das Flexionsparadigma, die über den Lautbezug hinausgehen. Deutlicher noch wird dies beim Vergleich mehrerer phonologisch identischer Wörter mit unterschiedlicher Schreibung: Held, hält und hellt sowie Welt (das hier mitbetrachtet werden kann, da es sich von den anderen nur im Anfangsgraphem unterscheidet, um das es hier aber nicht gehen soll). Abgesehen vom Anlaut entspricht allen Wörtern die lautliche Struktur [_'NV]. Geschrieben werden sie jedoch verschieden. Was für den Schreibanfänger eine größere Hürde darstellt, erweist sich für den Leser als hocheffizient: So verrät das graphematische Wort
Orthographie als Leseinstruktion hält hellt Held Welt
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ĺ [a] im Paradigma (z. B. halten) ĺ Silbengelenk im Paradigma (z. B. helle) ĺ kein [a], kein Silbengelenk, aber [d] im Silbenanlaut (Hel . den) ĺ kein [a] im Paradigma (*<Wält>) ĺ kein Silbengelenk im Paradigma (*<Wellt>) ĺ kein stimmhafter Obstruent im Paradigma (*<Weld>)
Eisenberg nennt die Form, die innerhalb der Wortfamilie eine bestimmte Schreibung phonologisch motiviert, „Explizitform“. Bei Maas lautet sie „Stützform“, da sie die entsprechende Schreibung für die gesamte Wortfamilie stützt. Leider gibt es bisher keine Untersuchungen darüber, welchen Effekt die Konstantschreibung auf das Textverständnis und die Lesegeschwindigkeit ausübt, im Gegensatz zur Großschreibung, wie im Folgenden ausgeführt wird. 2.2.2 Syntaktische Schreibungen: Die satzinterne Großschreibung Studien haben bereits vor Jahren belegt, dass die deutsche Binnengroßschreibung den Leseprozess effizienter macht. So ergaben beispielsweise Leseuntersuchungen mit niederländischen Lesern, dass die Lesegeschwindigkeit signifikant weniger herabgesetzt wird, wenn ein niederländischer Text für niederländische Leser nach den Regeln der deutschen Groß- und Kleinschreibung gesetzt ist, als wenn etwa sämtliche Wörter großgeschrieben sind (vgl. Bock/Hagenschneider/Schweer 1989). Der Effekt liegt offenbar darin begründet, dass die satzinterne Großschreibung (im Folgenden: GS) ebenso wie die Interpunktion größere sprachliche Einheiten oberhalb der Wortebene binnengliedert und dadurch das Verstehen erleichtert. In der Orthographieforschung existieren gegenwärtig zwei Modelle zur Erklärung der GS im Deutschen, nämlich das wortartbezogene und das syntaxbezogene Modell. Während das erste, dem auch die amtliche Regelung sowie alle gängigen Unterrichtsmaterialien folgen, die GS als Eigenschaft von Substantiven definiert (vgl. ausführlich Fuhrhop 32009), versteht das zweite Modell sie als Markierung syntaktischer Einheiten, und zwar wortartunabhängig. Dabei geht es auch hier vor allem darum, dem Leser bestimmte Instruktionen zu geben, wie die Zeichenkette zu entschlüsseln ist. Maas (1992: 161ff.) formuliert die Bedingungen für satzinterne GS folgendermaßen: „Der Kern jeder nominalen Gruppe im Satz wird mit einem initialen Großbuchstaben markiert.“ Mit der Einschränkung: „Ein nominales Element ist in syntaktischer Hinsicht nur dann Kern einer nominalen Gruppe, wenn es expandierbar ist.“ Diese definitorische Einschränkung schließt Pronomina von obiger Regel aus. Ein Vorteil dieses Modells gegenüber dem wortartbezogenen liegt darin, dass es viel weniger Ausnahmen generiert. So erfordert die Regel „Nomen
164
Christina Noack
schreibt man groß“ eine nicht unerhebliche Anzahl von Zusatzregeln, um auch Substantivierungen und Desubstantivierungen zu erfassen. Gleichzeitig generiert es Zweifelsfälle, da Substantive mitunter schwierig zu bestimmen sind. Dass der Bereich der GKS gemeinhin als schwierig angesehen wird, liegt schließlich auch daran, dass er zumeist aus Sicht des Schreibers betrachtet wird. Geregelt wird, wann eine Majuskel zu setzen ist, außer acht bleibt jedoch, welchen Nutzen sie im Einzelnen dem Leser bietet. Dieser Nutzen der GS wird u. a. deutlich bei Sätzen wie den folgenden, die aufgrund fehlender Großschreibung mehrdeutig sind: 1. Bei dem umweltkongress hörte man viele grüne pfeifen. 2. Nach dem platzregen konnte man im kindergarten überall die kleinen lachen sehen.
Durch die Großschreibung wird die Mehrdeutigkeit aufgehoben: 1a. Bei dem Umweltkongress hörte man viele Grüne pfeifen. 1b. Bei dem Umweltkongress hörte man viele grüne Pfeifen.
oder
Die satzinterne GS entschlüsselt dem Leser also, welche der möglichen Lesarten jeweils gemeint ist. Neben der Desambiguierung mehrdeutiger Sätze hilft die satzinterne GS aufgrund ihrer syntaktischen Fundierung jedoch offenbar ganz generell bei der Analyse von Sätzen, wie Günther/Nünke (2005: 46) anmerken: „Durch die nicht nur rein optische Vorstrukturierung erhält das Auge graphische Zusatzinformationen über funktional wichtige Stellen des Satzes, und dies sind im deutschen Satz eben die Kerne von Nominalgruppen. Sie sind zwar nicht die ‚Hauptwörter‘ des Satzes, aber offenbar seine ‚Hauptstellen‘; [...] die Grundstruktur des deutschen Satzes [besteht] aus dem Verb und seinen Ergänzungen. Wenn der Kern jeder Ergänzung (allgemeiner: jeder Nominalgruppe) durch einen Großbuchstaben ausgezeichnet wird, kann der Satz dadurch direkt strukturiert werden, was sich positiv auf die Lesegeschwindigkeit auswirkt.“ Als Leserinstruktion wird hier folgende Formulierung vorgeschlagen: Innerhalb eines Satzes markiert ein Großbuchstabe zu Beginn eines orthographischen Worts in der Regel den erweiterbaren Kern einer Nominalgruppe. Gleichzeitig kennzeichnet das großgeschriebene Wort das Ende einer solchen Gruppe. Die Nominalgruppen des Satzes können Teil einer Präpositionalgruppe sein und sind als Ergänzungen zum Verb, als Attribut oder als Adverbial zu interpretieren.
In der Regel bedeutet, dass es auch hier Ausnahmen gibt, insbesondere in Form der Anredepronomina Sie, Ihnen etc., insbesondere in Form des Possessivpronomens, vgl. „Ich habe Ihren Mann gesehen“, wo das großgeschriebene Wort vor dem Kern steht.
Orthographie als Leseinstruktion
2.3
165
Zusammenfassung
Im Vergleich mit einigen anderen Orthographien gilt die deutsche als regelhaft und leicht lernbar. Wimmer/Goswami (1994: 92) bezeichnen das deutsche Schriftsystem als hoch transparent und regulär, i. S. einer eindeutigen Rekodierbarkeit durch den Leser bzw. einer „sehr konsistenten Zuordnung vom Geschriebenen zum Gesprochenen“ (Übers. CN) 17 . Als Beispiel für ein wenig transparentes System wird dagegen häufig das Englische ins Feld geführt, welches eine hohe Anzahl an Irregularitäten und Inkonsistenzen aufweist. Nach der Definition von Wimmer/Goswami (ebd.) sind intransparente Schriftsysteme durch „zugrundeliegende Regeln“ gekennzeichnet, die „bezüglich ihrer Kontextsensitivität und ihres Operierens auf unterschiedlichen phonologischen Ebenen komplex sind“ 18 . Tatsächlich ist das deutsche Schriftsystem sehr viel komplexer, als i. d. R. angenommen; Regeln sind im Deutschen kontextsensitiv und sie operieren nach dem hier vertretenen Ansatz auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen: im Bereich der Phonographie auf der segmentalen und der silbisch-prosodischen Ebene und darüberhinaus auf der morphologischen und syntaktischen. Gleichzeitig ist das deutsche Schriftsystem transparent und hochfunktional, sofern der Leser, wenn er die Regeln kennt (was bei kompetenten Lesern zumindest implizit, selten explizit der Fall ist), zweifelsfrei die geschriebene Sprache in die gesprochene übersetzen, d. h. die lautliche Artikulation und die Bedeutungsentnahme vornehmen kann. Die Ausführungen sollten deutlich gemacht haben, dass für den Bereich der Wortschreibung die Aufstellung von Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln ohne Berücksichtigung der prosodischen und grammatischen Wortstruktur dem deutschen Orthographiesystem nicht gerecht wird, da diese Korrespondenzen immer kontextsensitiv sind. In diesem Sinne bedeutet Lesekompetenz zunächst, die phonologische Struktur der gelesenen Wörter – einschließlich der Prosodie – rekodieren zu können. Pseudowort-Experimente, wie etwa in Wimmer/Goswami (1994), belegen, dass die Schrift die lautlichen Strukturen des Deutschen so eindeutig kodiert, dass selbst unbekannte Wörter mit hoher interpersoneller Übereinstimmung rekodiert werden können. Weiterhin bedeutet Lesekompetenz – immer noch auf der basalen Ebene – einem Wort bzw. Satz grammatische Informationen zu entnehmen. Dies setzt beim Leser das Verständnis voraus, dass bestimmte orthographische Schreibweisen mit der lautlichen Repräsentation allein nicht erklärbar sind und dass die Orthographie insgesamt Anweisungscharakter für ihn – den Leser – besitzt.
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“very consistent mappings from spelling to sound”. “underlying rules more complex in terms of being context-sensitive and operating at different phonological levels”.
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3
Christina Noack
Ausblick: Didaktische Implikationen
Ein Kind, das Lesen lernt, muss zunächst einen Regelapparat aufbauen, mit dessen Hilfe es die geschriebenen Wörter phonologisch rekodieren kann. Wie bereits angesprochen, stellen neuere Arbeiten zum Verhältnis zwischen geschriebener und gesprochener Sprache den Bereich der Wortschreibung für das Deutsche als regelhaft und lernbar dar, sowohl was die Enkodierung (das Schreiben), als auch was die Re- und Dekodierung (das Lesen) betrifft 19 . Linguistisch fundierte Beschreibungen der orthographischen Leserinstruktionen sind jedoch bislang kaum Gegenstand der Lesedidaktik. Wie Blatt/Müller/Voss (in diesem Band) herausstellen, wird „Rechtschreiben [...] immer noch losgelöst von seiner Funktion als Lesehilfe vermittelt“. Gleichzeitig wird im Unterricht noch immer eine Sichtweise vertreten, die auf der Annahme einer segmental-linearen Abbildbarkeit zwischen der graphemischen und der lautlichen Struktur beruht: Wörter werden als Ketten von Einzellauten dargestellt und die Laute gelten wiederum als isolierbare Segmente analog zu den Buchstaben. Die überwiegende Anzahl der derzeit eingesetzten Fibeln arbeitet nach dem sogenannten synthetisch-analytischen Ansatz, wobei einerseits von realen Wörtern und Sätzen ausgegangen wird, andererseits primär Laut-Buchstaben 20 -Zuordnungen gelehrt werden, mit der Konsequenz, dass das sprachliche Material in den Lehrwerken starken Einschränkungen unterliegt, da keine „schwierigen“ orthographischen Themen vorweggenommen werden dürfen. Ein weiteres verbreitetes Unterrichtsmittel im Erstunterricht neben der Fibel ist bekanntlich die Anlauttabelle, die in unterschiedlicher Gestaltung den Fibeln beiliegt und die ebenfalls die Prämisse der segmentalen Zuordnung von Lauten zu schriftlichen Zeichen bedienen soll. Abbildung 2 zeigt Fibel-Aufgaben, die geradezu prototypisch sind, sofern geschriebene Wörter substanziell als Aneinanderreihung einzelner Buchstaben vermittelt werden.
––––––– 19 20
Maas 2000, Neef 2002, Röber-Siekmeyer 21997, Wimmer 1993. Hier absichtlich vage bezeichnet, da von einem sprachwissenschaftlich abgesicherten Phonem- bzw. Graphembegriff in diesen Lehrwerken nicht gesprochen werden kann.
167
Orthographie als Leseinstruktion (2) Bausteine Fibel, Arbeitsblätter (Buck et al. 2003: 25f.)
21
Dabei ist das Prinzip der Laut-Buchstaben-Zuordnung als Unterrichtsmethode sicherlich nicht grundsätzlich zu verurteilen (vgl. hierzu auch die Argumentation von Eisenberg/Fuhrhop 2007). Aber die Funktionalität und Kontextgebundenheit der schriftsprachlichen Zeichen darf nicht unterschlagen werden, auch nicht die Tatsache, dass Einzellaute bzw. Phoneme im Gesprochenen ein reines Konstrukt der Sprachbeschreibung darstellen. Wir sprechen ebenso wenig Phonemketten aus, wie wir etwa in Morphemen sprechen. Zahlreiche Arbeiten, angefangen bei Bernhard Bosch in den 1930er Jahren 22 bis hin zur neueren Forschung zum metasprachlichen Wissen, betonen, dass die Fähigkeit der Lautsegmentierung bei Kindern nicht intuitiv gegeben ist, sondern erlernt werden muss. Gleichzeitig weisen neuere Untersuchungen darauf hin, dass viele Kinder zu Beginn ihrer Schullaufbahn über sprachstrukturelles Wissen verfügen und dieses auch kommunizieren können, selten treffen sie dabei jedoch auf fruchtbaren Boden, da scheinbar nicht zielführende Äußerungen der Schüler von den Lehrkräften selten aufgegriffen werden (vgl. Osburg 2002, Winkler 2004, Noack ersch.). Innerhalb der deutschen Schriftdidaktik gab und gibt es nicht endende Diskussionen über die geeignete Methode zum Lesen- und Schreibenlernen. 23 Die heute immer noch am meisten verbreitete Methode, die Aneinanderreihung von Einzellauten unter Verzicht auf strukturelle Wissensvermittlung, wie sie vor allem in Fibeln verwendet wird, findet auch in der Wissenschaft Zuspruch. So bezeichnen Wimmer/Goswami (1994: 92) diese Methode als „geeignet, um Kindern das Lesen beizubringen“ 24 , dies
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22 23 24
© Bildungshaus Schulbuchverlage, Westermann Schroedel Diesterweg, Schöningh Winklers GmbH, Braunschweig, www.diesterweg.de. Wiederabgedruckt in Giese (2003). Zu einigen aktuellen Methoden vgl. Weinhold (2005). “So a ‘phonics’ approach is a quite convenient method to introduce children to reading.”
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Christina Noack
gelte jedoch nur in einer regelhaften Orthographie wie der deutschen. Das Problematische an dieser Aussage ist, dass die Autoren die Regelhaftigkeit ausschließlich an der Phonem-Graphem-Korrespondenz festmachen und dabei ausklammern, dass die deutsche Orthographie in erster Linie ein grammatisches Schriftsystem darstellt. Als solches ist sie zwar i. d. T. regelhaft, gleichzeitig aber auch komplex und erfordert insofern eine Lehrmethodik, die diese Regularitäten angemessen vermittelt. Lese- und auch Rechtschreibunterricht darf nicht einseitig auf die Schreiber ausgerichtet sein. Dies gilt insbesondere für den frühen Schriftspracherwerb der ersten Schuljahre. Leider ist gerade dies in der Praxis jedoch häufig der Fall. Die Auswirkungen einer solchen schreiberorientierten Didaktik zeigen sich deutlich u. a. bei der Kommasetzung, die seit der Lockerung der Regeln durch die Reform bei vielen Schreibern zu Konfusionen und einer regelrechten Verdruss-Haltung geführt hat, ohne dass der Lesernutzen überhaupt bedacht wird, vgl. folgende Äußerungen aus einem Internet-Forum: (3) Kommentare aus einem Internet-Forum (29. 3. 2005) zum Thema Kommasetzung „So schaut’s jetzt eben aus nach der Rechtschreibreform. Früher bestand ich auch auf jedes Komma, das man jetzt meistens weglassen kann. Noch einen schönen und kommafreien Abend für alle, die keine Kommata mögen.“ „es schaut so aus, daß man den beistrich entweder setzen oder weglassen kann. aber innerhalb eines textes oder gar eines satzes sollte man an analogen stellen die selbe entscheidung treffen, weil es sonst stilistisch allerunterste schublade ist, finde ich. stil steht nun mal nicht im duden.“
Orthographische Strukturen, dies sollte in dem Beitrag deutlich geworden sein, nutzen vor allem dem Leser. So ist es aus Sicht des Schreibers vollkommen unproblematisch, wenn ein Text nicht den Konventionen der Orthographie folgt, wie es bei Schreibanfängern der Fall ist, indem z. B. keine Wortgrenzen markiert werden, die Schreibrichtung nicht eingehalten wird, ausschließlich Majuskeln verwendet werden und grammatische Markierungen fehlen. Probleme entstehen jedoch dort, wo der Text von einem Leser wieder entschlüsselt werden soll (was Kinder i. d. R. erwarten). Aktuelle Studien belegen jedoch auch, dass eine entsprechende Instruktion im schulischen Unterricht so früh wie möglich, nämlich von Beginn des Schrifterwerbs an, ansetzen muss, da eine spätere Förderung nach der Grundschulzeit i. d. R. nicht mehr den erwünschten Effekt erzielt (vgl. Blatt/Müller/Voss in diesem Band; Noack 2006, ersch.). Insofern wäre es wünschenswert, dass bereits frühe Unterrichtslehrwerke wie die Fibeln von ihrer einseitig schreiberorientierten Konzeption abrückten und die Funktionalität der Orthographie insbesondere für den Leser themati-
Orthographie als Leseinstruktion
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sierten. So könnte eine entsprechende leserorientierte Schriftdidaktik das Begreifen, aber auch die Akzeptanz selbst schwieriger Rechtschreibbereiche bei den Lernenden erhöhen.
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Inge Blatt, Astrid Müller, Andreas Voss
Schriftstruktur als Lesehilfe Konzeption und Ergebnisse eines Hamburger Leseförderprojekts in Klasse 5 (HeLp) In jeder Schriftkultur kommt das Lesenlernen einer Initiation gleich, einem ritualisierten Übergang vom Zustand der Unselbständigkeit und der beschränkten Verständigung zur Fähigkeit, mit Hilfe der Bücher am kollektiven Gedächtnis teilzuhaben und sich mit einer kulturellen Tradition vertraut zu machen, die sich mit jedem Leseakt weiter erschließt. Alberto Manguel (1988)
1
Zum Anliegen des Beitrags
Die aktuelle Schriftlichkeitsforschung (z. B. Eisenberg/Fuhrhop 2007) weist nach, dass die Schrift – entgegen früherer Vorstellungen – zwar komplex, aber im Kernbereich systematisch geregelt ist (vgl. Primus i. d. B.). Weiterhin betont sie den eigenständigen Charakter des Schriftsystems und seine Funktion als Lesehilfe (vgl. Butt/Eisenberg 1990, Eisenberg 1998, Hinney/ Menzel 1998). Eine solche sprachwissenschaftliche Betrachtungsweise ermöglicht es aus didaktischer Perspektive, den Lerngegenstand „Schrift“ auf überschau- und damit erlernbare Strukturen zu reduzieren (vgl. Hinney und Blatt i. d. B.). Für die sprachdidaktische Theoriebildung ist es notwendig aufzuzeigen, welche Funktion das Entdecken und Bewusstmachen von Schriftstrukturen für das Schreiben- und Lesenlernen haben kann. Dass die sprachverarbeitenden Prozesse beim Erwerb von Lesekompetenz verstärkt ins didaktische Blickfeld rücken, wird z. B. daran deutlich, dass neuere Sprachdidaktiken den Arbeitsbereich „Lesen“ aufnehmen (vgl. Steinig/Huneke 2002, Bredel et al. 2003). Damit wird die traditionelle Zuordnung des weiterführenden Lesens zur Literaturdidaktik aufgebrochen. Zu diesen Tendenzen tragen neben den Erkenntnissen der graphematischen Forschung auch die Forschungsergebnisse der kognitionswissenschaftlichen Forschung zum Textverstehen bei (bes. Irwin 32007, van Dijk/Kintsch 1983, van Dijk 1980). Zudem wird die Komplexität der sprachverarbeitenden Prozesse beim Lesen durch die empirische Bildungsforschung aufgegriffen und auf der Grundlage von sehr um-
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fangreichen Studiendaten konfirmatorisch modelliert (vgl. Bos et al. 2007, Voss/Carstensen/Bos 2005). Der didaktischen Umsetzung der schrifttheoretischen und kognitionspsychologischen Erkenntnisse ist der vorliegende Beitrag verpflichtet. Wir berichten über das Hamburger Leseförderprojekt (HeLp 2006/07, vgl. Blatt et al. 2008, Voss et al. 2008, Blatt/Müller/Voss 2007), in dem zwei Leseförderansätze erprobt wurden. Auf dieser Grundlage wird u. a. untersucht, wie Rechtschreibförderung zur Leseförderung beitragen kann und wie sich die Leseleistung, besonders im Bereich der Leseflüssigkeit, durch die Förderung entwickelt und wie diese Entwicklung wiederum mit dem Leseverständnis in Zusammenhang steht. Darüber hinaus wird untersucht, welche Schüler/innen bzw. Schülergruppen von den eingesetzten Unterrichtskonzepten profitieren. HeLp ist eine explorative Studie. Sie wurde im Schuljahr 2006/07 mit 365 Fünftklässlern aus 16 Klassen an fünf Hamburger Schulen als Interventionsstudie durchgeführt. Die Folgestudie im Schuljahr 2007/08 war als Interventions- und Kontrollstudie angelegt, an der 603 Fünftklässler aus 25 Klassen an zehn Hamburger Schulen als Interventionsgruppe und 416 Fünftklässler aus 18 Klassen an sieben Hamburger Schulen als Kontrollgruppe teilnahmen. Die Auswertungsergebnisse der Studie 2006/07 wurden zur Weiterentwicklung der Unterrichtskonzepte und des Forschungsdesigns in der Folgestudie von 2007/08 genutzt. Wir beziehen uns überwiegend auf die abgeschlossene Studie von 2006/07. Wir stellen die Konzepte zur Leseförderung in Klasse 5 und ihre theoretische Verortung vor, gehen auf die Durchführung ein, stellen ausgewählte Ergebnisse vor, interpretieren sie und schließen weiterführende Überlegungen an.
2
Die Leserorientierung der Schrift – ein Blick auf die Entwicklung und Funktion des Schriftsystems
Entgegen der weit verbreiteten Annahme, die auf der „Dependenzthese“ (Hinney/Menzel 1998: 265, Dürscheid 2004: 39) beruht, dass die geschriebene Sprache ein Abbild der gesprochenen und folglich ein sekundäres Zeichensystem ist (vgl. die Einleitung i. d. B.), hat sich die deutsche Schriftsprache weitgehend unabhängig und nach eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickelt, wobei sich die Entwicklung der geschriebenen und der gesprochenen Sprache gegenseitig beeinflussen.
Schriftstruktur als Lesehilfe
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Schon im 15. Jh. wird die eigenständige Funktion der geschriebenen Sprache deutlich. Als von Ort und Zeit unabhängiges Kommunikationsmedium ermöglicht die Schrift in frühbürgerlicher Zeit „gezieltes Handeln und Eingreifen in die gesellschaftliche Umwelt“ (Polenz 2000: 115). Da die Schriftsprache fast ausschließlich auf verbale Mittel angewiesen ist, erfordert sie ein hohes Maß an Standardisierung und Explizitheit, damit Texte für Leser verständlich sind (ebd.: 147). Das führte dazu, dass sich bereits im 15. Jh. in der Schriftsprache eigene Normen und Textsorten entwickelten, die „oft ohne traditionelle Vorbilder in gesprochener Sprache“ (ebd.: 115) auskommen mussten. Da die Schrift unabhängig von äußeren Bedingungen „funktionieren“ muss, zeichnet sie sich von Anfang an durch einen hohen Abstraktionsgrad aus. Schon sehr früh gibt es „Ansätze zur Vereinheitlichung in wichtigen Teilen des Sprachsystems, vor allem im Bereich der Graphemik/Phonemik und der Flexion“ (ebd.: 159). Die Schriftsprache bildet sich „weitgehend unabhängig von den gesprochenen Dialekten der betreffenden Region“ (ebd.: 147) heraus. Der für eine überregionale Verständigung notwendige Ausgleich in der Schriftsprache wiederum spielt eine entscheidende Rolle für die Ausbildung der neuhochdeutschen Standardsprache (ebd.: 147), auch im Bereich der Lautung (vgl. Röber-Siekmeyer 2001: 41). Die weitere Systematisierung der Schreibung erfolgte einige Jahrzehnte nach der Erfindung des Buchdrucks, denn durch diese technische Neuerung konnte sich im 16. Jh. ein literarischer Markt entwickeln. Um die Druckerzeugnisse – vor allem Ritterromane aus dem Stoff mittelalterlicher Epen – für ein breites Publikum attraktiv zu machen, gestalteten die Drucker das Schriftbild zunehmend leserfreundlich. Dazu gehörten vor allem eine Vereinheitlichung der Großschreibung, die durchgängige Setzung von Wortzwischenräumen und das Setzen von Satzzeichen (Röber-Siekmeyer 1999, Munske 2005). Dieser kurze Blick in die Geschichte der Schrift im deutschen Sprachraum zeigt, dass die Beziehungen zwischen gesprochener und geschriebener Sprache von wechselseitiger Abhängigkeit (Interdependenz) geprägt sind. Die Schriftsprache darf keinesfalls in ihrem Einfluss auf die Entwicklung der Lautsprache unterschätzt werden, denn die Möglichkeit, durch Schrift Sprache zu konservieren, stärker zu strukturieren und zu standardisieren, hat dazu geführt, dass es nach der „Medienrevolution des 16. Jahrhunderts“ (Munske 2005: 123) und der frühneuhochdeutschen Umstrukturierung und stärkeren „Standardisierung des Graphem-, Phonem- und Flexionssystems“ (Polenz 2000: 147) kaum noch zu Veränderungen im Sprachsystem gekommen ist. Das Ergebnis der schriftsprachlichen Entwicklungsprozesse ist die „Herausbildung einer eher lautfernen, abstrakten, allgemeinen Schriftsprache, deren orthographische Ordnung vor allem dem Ziel dient, das Lesen zu erleichtern“ (Eisenberg/Feilke 2001: 8). Wie Fuhrhop (2008) in Anlehnung an Meisen-
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burg herausstellt, gilt dies gerade für die deutsche Schriftsprache mit ihrer langen Schrifttradition und ihrem relativ „tiefen“ Schriftsystem. Die Tiefe zeigt sich an der Morphemkonstanz der deutschen Schrift, die „zu den wichtigsten Merkmalen des deutschen Schriftsystems“ (Eisenberg 72005: 79) gehört. Die morphologischen Schreibweisen dienen, neben der Großschreibung, der Getrennt- und Zusammenschreibung und der Zeichensetzung, als visuelle Lesehilfen. Die Leserorientierung des Schriftsystems hängt damit zusammen, dass Menschen seit der Erfindung der Schrift mehr lesen als schreiben (Munske 2005, Fuhrhop 2005). Sie zeigt sich auf der Ebene des Wortes, des Satzes und des Textes. Auf der Ebene des Wortes verdeutlicht die Morphemkonstanz (Kind, weil Kinder; gehst, weil gehen; kommst, weil kommen) dem Leser die Zugehörigkeit von Wörtern zu einer Wortfamilie und ermöglicht ihm eine unmittelbare Bedeutungszuweisung. Die Morphemkonstanz zeigt sich ebenfalls in der Schreibung von Umlautgraphemen (Haus – Häuser, Hand – Hände), die die Zugehörigkeit von Wörtern zu einer Wortfamilie visualisiert. Aber auch die unterschiedliche Schreibung von Homophonen (Lid – Lied, Saite – Seite) sowie die Beibehaltung von Morphemgrenzen im Schriftbild (verreisen, enttarnen) tragen dazu bei, dass durch die Schemakonstanz eine schnelle Bedeutungszuweisung beim Lesen erfolgen kann. Zur Konstanz im Schriftbild zählt ebenso die Tendenz zur Ausgeglichenheit der Schreibsilbe. Schwer lesbare Konsonantencluster mit mehr als vier Konsonantenbuchstaben werden durch die verkürzten Anfangsränder <sp> und <st>, wie z. B. in springen, vermieden. Das silbeninitiale h wie in gehen, stehen wird eingesetzt, um den Silbenschnitt zwischen zwei Silbenkernen zu markieren. Zur Überschaubarkeit des Schriftbildes trägt außerdem bei, dass Silbenanfangs- und -endränder aus begrenzten Buchstabenkombinationen bestehen, wobei eine spiegelbildliche Anordnung im Verhältnis zum vokalischen Silbenkern auffällt (vgl. Hinney/Menzel 1998: 271). Auch wenn die spiegelbildliche Kombinatorik nicht schriftmotiviert, sondern durch die phonologische Sonoritätshierarchie bedingt ist, ist sie dennoch didaktisch für das schriftsprachliche Lernen nutzbar. Auf der Ebene des Satzes unterstützt die Großschreibung das schnelle, leise Lesen (Bock 1990). Nach Fuhrhop (2008) ist sie besonders deshalb für das Deutsche funktional, weil sich geschriebene Sätze im Deutschen durch sehr komplexe Nominalgruppen auszeichnen, deren Kerne durch Großschreibung hervorgehoben werden. Diese „Kerne“ können zudem sehr komplex sein, denn sie entstehen häufig durch Komposition von mindestens zwei Stammformen (Eisenberg 1998: 218). Dadurch können im Deutschen sehr komplexe neue Begriffe entstehen, die hohe Anforderungen an das Leseverstehen stellen. Das thematisiert Mark Twain in seinem berühmten Essay „The Awful German Language“ (1880/2006) in folgender Weise: „An average
Schriftstruktur als Lesehilfe
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sentence, in a German newspaper, is a sublime and impressive curiosity; it occupies a quarter of a column; [...] it is built mainly of compound words constructed by the writer on the spot, and not to be found in any dictionary – six or seven words compacted into one, without joint or seam – that is, without hyphens“. Die Großschreibung der Nominalkerne weist den Leser frühzeitig auf diese hier so gescholtenen langen Sätze und komplexen Wörter hin. Den Vorteil von Majuskeln für das Lesen hat schon 1748 Gottsched erkannt (vgl. Ossner 2003: 356). Die hier aufgezeigten Besonderheiten der deutschen Wortbildung und Satzkonstruktion unterscheiden die deutsche Sprache deutlich von Schriftsprachen ohne diese Markierung von Nominalkernen, wie z. B. dem Englischen. Eine weitere Besonderheit ist, dass geschriebene Sätze im Deutschen aufgrund ihrer hohen Komplexität über eine relativ hohe Zahl an Kommata verfügen. Diese sind weitgehend syntaktisch motiviert, da sie dem Leser verdeutlichen sollen, welche Teilsätze, verkürzten Teilsätze, Wortgruppen und Wörter neben- oder untergeordnet sind (vgl. Munske 2005: 117, Eisenberg/Feilke/Menzel 2005: 7ff.). Auf der Ebene des Textes zeigt sich die Leseerleichterung an einer Vielzahl von „Mitteln zur Lesesteuerung und Gliederung von Texten“ wie „Schrifttypen und Schriftgrößen, Überschriften, Absätze, Einrückungen, Fußnoten ...“ (Eisenberg/Feilke/Menzel 2005: 7). Sie haben sich historisch infolge der wachsenden Bedeutung des stillen Lesens herausgebildet (ebd.: 7, Manguel 1998). Orthographie ist unter dieser funktionalen Perspektive folglich eher „Leichtlesung“ als „Rechtschreibung“. Durch die Konsolidierungs- und Normierungsversuche der Orthographie seit Anfang des 19. Jh.s ging jedoch die Bedeutung der Schriftstruktur als Lesehilfe in der Schriftsprachforschung weitgehend verloren (vgl. Blatt i. d. B.). Erst durch die graphematische Forschung geriet dieser Aspekt wieder in das sprachwissenschaftliche Blickfeld. Daraus ergibt sich ein Forschungsdesiderat für die Deutschdidaktik, und zwar zu untersuchen, wie diese funktionale Perspektive auf Schrift den Lernprozess von Schriftlernenden und ihre Vorstellungen vom Lerngegenstand Schrift beeinflussen.
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Das Schriftsystem in seiner Bedeutung für den Leseverstehensprozess
Wer schreibt, richtet sich an Leser. In der Deutschdidaktik werden die Chancen, Rechtschreib- und Leseunterricht zu verbinden, zur Zeit aber noch kaum genutzt. Rechtschreiben wird immer noch losgelöst von seiner Funktion als Lesehilfe vermittelt, so dass es auch in neueren orthographiedidaktischen Veröffentlichungen immer noch „als wahres Schulkreuz“ betrachtet wird (Valtin 2000: 7, Valtin/Meyer-Schepers/Löffler 2003: 40, Einleitung i. d. %). Im Schriftspracherwerb geht es aber gerade darum, „in der Auseinandersetzung mit der Schrift die Kategorien herauszuarbeiten, die für das Schreiben, und damit für einen Leser, bedeutsam sind“ (Röber 2006: 99). Daher ist es didaktisch zu begrüßen, dass sich die über Jahrhunderte gewachsene Tradition der Leserorientierung der Schrift erhält. So konnten sich Reformbestrebungen zur Einführung der gemäßigten Kleinschreibung und zur Eliminierung des Kommas vor Infinitivsätzen nicht durchsetzen. Der Deutschunterricht hat die Aufgabe, das Lesen- und Rechtschreiblernen sinnvoll zu verknüpfen. Wie theoretische Modelle zum Leseverstehensprozess (Irwin 32007; vgl. (1)) und zu den Lesestrategien beim Schriftspracherwerb (Scheerer-Neumann 1990; vgl. (2)) zeigen, wirkt die Struktur der Schrift bei der Sprachverarbeitung auf Wort-, Satz- und Absatzebene, also bei der Ausführung basaler Leseprozesse, verstehensunterstützend. Das Modell von Irwin weist in Bezug auf das sinnentnehmende Leseverstehen fünf Teilprozesse aus: das Dekodieren, das Lesen und Analysieren von Sätzen, das Verknüpfen von Sätzen auf Absatzebene, das Erfassen des Gesamttextes und das Elaborieren des Gelesenen. Geleitet wird der Leseprozess durch den Einsatz kognitiver und metakognitiver Strategien. Bei der Konstruktion des Textverständnisses interagieren kognitive Fähigkeiten, Vorstellungskraft und eine emotionale Einlassung auf den Text. Sprachverarbeitende Prozesse fallen vor allem in den Teilprozessen Dekodieren, Sätze lesen und Sätze verbinden an. Als verstehensunterstützend auf der Wortebene (Dekodieren) betrachten wir insbesondere das Erkennen der phonologischen und morphologischen Struktur deutscher Wörter, da dies dem Leser hilft, sowohl die Lautgestalt als auch die Bedeutung eines Wortes aus der Schreibweise abzuleiten.
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Schriftstruktur als Lesehilfe (1)
Das Leseprozessmodell von Irwin (2007: 6; Übersetzung durch die Verf.): Strategien auswählen, überprüfen und regulieren: • Verstehen beobachten • Lernstrategien nutzen • Strategien anpassen
Dekodieren: • phonologische, • syntaktische und/oder • semantische Hinweise
Elaborieren: • Vorhersagen • Vorwissen nutzen • affektiv und ästhetisch beurteilen • Vorstellungen bilden • kreativ und kritisch denken
Bedeutung konstruieren: • kognitiv • imaginativ • emotional
Sätze lesen: • Bedeutungseinheiten bilden, wichtige Informationen auswählen
Sätze verbinden: • Anaphern verstehen • Zusammenhänge verstehen • Schlussfolgern Das Ganze verstehen: • Organisieren • Zusammenfassen
Die Sprachverarbeitung auf Wortebene muss aus theoretischer Sicht einen hohen Automatisierungsgrad erreichen, damit Lesern genügend Verarbeitungskapazität im Kurzzeitspeicher für weiterführende und anspruchsvollere Verarbeitungsprozesse auf Satz-, Absatz- und Textebene bleibt. Für die „erste Rekonstruktion der Wort- und Satzsemantik“ (Grzesik 2005: 301), die im Idealfall automatisiert abläuft, benötigen sie umfangreiches implizites oder explizites Wissen über die Struktur von Wörtern und ihre Bedeutung (sprachstrukturelles, wortbildungsbezogenes und lexikalisches Wissen). Im Hinblick auf die Verknüpfung von Rechtschreib- und Leseunterricht ist die in der Sprachwissenschaft vorgenommene Unterscheidung von Kern- und Peripheriebereich der Wortschreibung (Eisenberg/Fuhrhop 2007: 24f.) von didaktischer Bedeutung (Hinney 2004; vgl. Blatt i. d. B.). Während der Kernbereich des nativen Wortschatzes eine regelhafte Struktur aufweist, ist
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dies im wesentlich kleineren Peripheriebereich des nativen Wortschatzes (z. B. Dehnungs-h, Doppelvokale) nicht gegeben. Strukturwissen ist bereits im Erstleseprozess relevant, wie das ZweiWege-Modell nach Scheerer-Neumann (1990) verdeutlicht: Zwei-Wege-Modell zum Erstlesen „direktes“ Lesen Kontext z. B. Fibelwörter inhaltlicher Bereich syntaktische u. semantische Restriktion im Satz
aktiviert
gedrucktes Wort
W Wörter im W Wortschatz
„Abkürzung“
(„inneres“ Lexikon)
„lautorientiertes“ (Er)lesen
Synthese von Lauten und Lautkomplexen (z. B. Silben) Sil
Weg
(2)
normale „WortAussprache vorform“ ausführlicher Lautes
Lesen
Dieses Modell unterscheidet zwischen einem direkten lexikalischen Weg unter Rückgriff auf ein angenommenes orthographisches Lexikon und einem lautorientierten Erlesen von Wörtern. Scheerer-Neumann bezieht sich damit auf das verbreitete Stufenmodell zum Schriftspracherwerb, wonach Kinder zuerst logographemisch lesen, indem sie die Wortbedeutung aus gespeicherten Schriftbildern erschließen, und anschließend die Wörter alphabetisch erlesen (z. B. Günther 1995). Ob Kinder beim alphabetischen lauten Lesen die Bedeutung der Wörter erschließen können, hängt davon ab, ob ihnen eine „normale“ Aussprache des Wortes gelingt. Dazu kann die Kenntnis der Silbenstruktur eines Wortes in hohem Maße beitragen. Wenn Kinder fähig sind, ein Wort in Silben aufzuteilen, die betonte und unbetonte Silbe zu unterscheiden und die Vokallänge aus der offenen bzw. geschlossenen Silbe zu erschießen, so haben sie damit eine verstehensfördernde Problemlösestrategie erworben. Flüssiges Lesen ist durch eine direkte Bedeutungserfassung gekennzeichnet. Es „muss nicht erst die Lautform einer Einheit ermittelt werden, bevor
Schriftstruktur als Lesehilfe
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ein Zugriff auf die Bedeutung möglich ist“, sondern sie kann aus der morphologischen Schreibweise unmittelbar erschlossen werden (Eisenberg 7 2005: 78; vgl. a. Grzesik 2005: 301). Das heißt, dass mit zunehmender Automatisierung beim Lesen die Rolle von phonologischen Informationen zugunsten des direkten lexikalischen Zugriffs abnimmt. Dieser Zugriff unterscheidet sich jedoch von dem logographemischen Zugriff auf einen Wortspeicher. Smith (51994) referiert Ergebnisse von Computersimulationen, wonach der Abgleich von visuellen Schriftinformationen und gespeicherten Mustern ein Vielfaches an Zeit benötigen würde, die ein versierter Leser zum Lesen braucht. Auf welche Einheiten der kompetente Leser jedoch zurückgreift, ist nach Smith bislang wissenschaftlich nicht nachweisbar. Es müssen aber Struktureinheiten sein, aus denen der Leser unmittelbar und flexibel die Bedeutung konstruieren kann. Für die deutsche Schriftsprache ist das Morphem eine solche Struktureinheit, und zwar sowohl die Stamm- als auch die Flexions- und Wortbildungsmorpheme. Daher ist davon auszugehen, dass entsprechende Kenntnisse dem Leser bei der Wortanalyse und darüber hinaus bei der Bedeutungserfassung helfen. Die Automatisierung der Worterkennung liefert den Lesern eine Grundlage für die Ausführung der weiteren Prozesse. Für die sprachverarbeitenden Prozesse auf Satzebene sind beim Lesen Einsichten in die syntaktische Funktion der Großschreibung erforderlich (vgl. Bredel und Noack i. d. B.). Die aus sprach- und kognitionswissenschaftlicher Sicht entwickelten Zusammenhänge zwischen Schriftstruktur und Leseleistung wurden in einer Rechtschreibstudie (Vorstudie zu IGLU-E 2006; vgl. Voss/Blatt/Kowalski 2007) untersucht. Die Befunde zeigen, dass differentielle Zusammenhänge zwischen der gemessenen sinnverstehenden Lesekompetenz von Kindern und ihrer orthographischen Kompetenz bestehen, wobei der gemessene Zusammenhang zwischen ihrer Lesekompetenz und ihrer Einsicht in die Prinzipien der Wortbildung beim Schreiben mit einer latenten Korrelation von 0.77 am höchsten ist (ebd.: 27). Dieses Ergebnis lässt sich gut interpretieren, da die Wortbildung durch Wortbildungsmorpheme und Wortzusammensetzungen im Deutschen eine zentrale Rolle spielt. Das lässt folgenden Schluss zu: Wer als Leser Wortbildungsmechanismen durchschaut hat, kann Segmentierungsfähigkeiten zur Zerlegung von größeren Einheiten einsetzen und Wortverwandtschaften zur Bedeutungskonstruktion nutzen. Darüber hinaus tragen Wortbildungskenntnisse zur Ökonomie beim Lesen bei. Die in der IGLU-EVorstudie 2006 untersuchten Viertklässler erlesen sich nicht mehr die Lautform eines Wortes, um daraus die Bedeutung zu erschließen, sondern sie konstruieren die Bedeutung aus den Stamm- und grammatischen Morphemen.
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Ebenso bestehen nach den Befunden dieser Studie Zusammenhänge – wenn auch geringere – zwischen der Lesekompetenz und der Fähigkeit zur Großschreibung (Korrelation 0.68) und zur Wortschreibung im phonographisch-silbischen und morphologischen Kernbereich (Korrelation 0.65; vgl. Blatt i. d. B.). Der Zusammenhang der Lesekompetenz zu Wortschreibungen im Peripheriebereich ist demgegenüber erwartungsgemäß niedrig, da in Texten für Viertklässler Wörter aus dem Kernbereich überwiegen (0.5). Die dargestellten Befunde zur Bedeutung der Rechtschreibkompetenz für die Lesekompetenz aus der IGLU-E-2006-Vorstudie stimmen mit Ergebnissen überein, wonach Rechtschreibleistungen mit der Leseleistung korrelieren (Verweis auf einschlägige Studie bei Marx 2000: 198). Demgegenüber kommt die DESI-Studie zu dem Ergebnis, dass Rechtschreib- und Leseleistung in keinem erkennbaren Maße korrelieren (Thomé 2008). Auf diese widersprüchlichen Ergebnisse wird unten (Abschnitt 5.3) noch eingegangen. Die dargestellten Erkenntnisse, dass Lesen ein bedeutungsschaffender und sprachverarbeitender Prozess ist, bilden die Grundlage für die Konzeption des Hamburger Leseförderprojekts (HeLp).
4
Das sprachsystematische Leseförderkonzept und sein Einsatz in HeLp 2006/07
4.1
Konzeption und Durchführung von HeLp 2006/07
Im Hamburger Leseförderprojekt (HeLp 2006/07) werden zwei Ansätze zur Leseförderung kombiniert: ein auf die Entwicklung von Lesemotivation, Leseflüssigkeit und Lesestrategien ausgerichteter schriftkultureller Ansatz und eine sprachsystematische Förderung. Für die schriftkulturelle Förderung wurde in den teilnehmenden 5. Klassen im Deutschunterricht ein Lautleseverfahren (vgl. Rosebrock/Nix 2006, 2008) in Form eines Lesepatenmodells gewählt. Lautleseverfahren dienen in erster Linie der Verbesserung der Leseflüssigkeit, die in der amerikanischen Leseforschung „die Fähigkeit zum flüssigen und phrasierten, leisen und lauten Lesen“ bezeichnet (Rosebrock/Nix 2006: 92; vgl. a. Rosebrock/Nix 2008: 38). Sie umfasst die Fähigkeit zur Dekodierung von Wörtern und ihre Automatisierung, die Lesegeschwindigkeit und die sinngemäße Paraphrasierung von Sätzen. Die Lesemotivation kann mit diesem Ansatz dadurch gefördert werden, dass sich die Schüler/innen aus einem Fundus von Büchern ihre Lektüre selbst wählen können. Lesestrategien können entwickelt werden, weil die Schüler/innen in festen Zweiergruppen lesen und ein
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Austausch über das Lesen und über das Gelesene unter den beiden Lesepaten und im Klassenverband stattfindet. In diesem Teil der Förderung wurde über drei Monate hinweg jeweils zwei Mal in der Woche für zwanzig Minuten zu Beginn des Deutschunterrichts gelesen. Die Lesepartner wurden auf der Grundlage der Ergebnisse aus einem Lesescreeningverfahren (Stolperwörterlesetest 1 ; vgl. Metze 2003) so gebildet, dass die Lesepatenteams aus einem besseren und einem schwächeren Leser bestehen. Für den Lernerfolg ist entscheidend, dass die Lesepaten unterschiedliche, aber nicht zu stark divergierende Leseleistungen aufweisen. Für die Lektüre stellen die Lehrenden ihren Schülerinnen und Schülern Bücher aus der Klassenbibliothek oder der Bücherei zur Verfügung. Diese Texte müssen in doppelter Ausfertigung vorhanden sein. Während der Lesepatenzeit lesen die Kinder abwechselnd jeweils einen Abschnitt aus dem Buch laut. Die Aufgabe des Zuhörers besteht darin, bei „Fehlern“ des Lesers einzugreifen, ihn zu verbessern, aber nicht zu kritisieren (vgl. Masanek 2006, Kurz/Masanek 2007, Voss et al. 2008). Für die Konzeption der sprachsystematischen Förderung, die in diesem Beitrag in erster Linie betrachtet wird, wurde unter anderem berücksichtigt, dass der Übergang von der Grund- zur weiterführenden Schule für eine Neuorientierung des schriftsprachlichen Lernens besonders geeignet erscheint, weil die neue Lernsituation von den Lernenden häufig als Chance für einen Neuanfang begriffen wird (vgl. Wrobel 2008: 206). Ein im Vergleich zum traditionell lautanalytisch ausgerichteten Anfangsunterricht veränderter Zugang zu Sprache und Schrift kann gerade in dieser Zeit auf Akzeptanz stoßen. Es ergeben sich allerdings auch Probleme, da der veränderte Zugang ein Umlernen bei Schüler/innen und Lehrer/innen voraussetzt. Nach vorliegenden Studienergebnissen ist ein am Sprachsystem ausgerichtetes entdeckendes Lernen besonders für schwache Lerner förderlich, wenn es bereits Kindern im Erstlese- und -schreibunterricht ermöglicht wird (vgl. z. B. Spiegel 2001, Pagel/Hinney 2007, Pagel 2008, Hinney i. d. B.). Auf diese im Anfangsunterricht und auf mit Hauptschülerinnen und Hauptschülern des 7. Jahrgangs erprobten Konzepte (vgl. Blatt i. d. B.) wurde bei der Entwicklung des Förderkonzeptes in Klasse 5 zurückgegriffen.
––––––– 1
Beim Stolperwörterlesetest werden Sätze vorgegeben, in denen ein Wort grammatikalisch nicht passt. Dieses Wort muss herausgestrichen werden. Die Identifizierung des „Stolperwortes“ gibt Auskunft über die Fähigkeit zur Phrasierung. Die Testleistung wird daran gemessen, wie viele Sätze die Schüler/innen in einer vorgegebenen Zeit richtig bearbeitet haben, womit Aussagen über die Lesegeschwindigkeit verbunden sind. Mit dem Stolperwörterlesetest wird demnach die Leseflüssigkeit beim leisen Lesen erhoben.
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Inge Blatt, Astrid Müller, Andreas Voss
Der sprachsystematische Ansatz soll eine Reflexion über Sprache anbahnen. Gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern werden auf der Grundlage von Lernmaterialien und Aufgaben, die eine Orientierung am System der Schriftsprache ermöglichen, Strategien eingeübt, mit deren Hilfe sie sich grundlegende Einsichten in das Zusammenspiel von Struktur und Bedeutung der deutschen Sprache und Schrift erarbeiten können (Blatt 2007a, b; Blatt i. d. B.). Die Lerninhalte bauen – in Anlehnung an die in Kapitel 2 dargestellten Ergebnisse der graphematischen Forschung – systematisch aufeinander auf und beziehen sich auf folgende Gebiete: Aufgaben auf der Wortebene zielen darauf, die Fähigkeiten der Wortanalyse auszubilden und den Wortschatz zu erweitern, denn gerade schwachen Lesern fehlt vor allem die Fähigkeit zur Analyse langer Wörter und eine für das Leseverstehen ausreichende Wortschatzbasis. Diese Fähigkeiten erwerben die Schülerinnen und Schüler, indem sie – die Anzahl der Silben in Wörtern erkennen und den obligatorischen vokalischen Silbenkern entdecken, – die Struktur des prototypischen Zweisilbers (offene/geschlossene Hauptsilbe und Reduktionssilbe) und die Silbengelenkschreibung in der geschlossenen Silbe entdecken, – die Struktur von Silbenanfangsrändern und Silbenendrändern kennenlernen, – die Morphemkonstanz in flektierten Wortformen herleiten und – Wortbildungsprinzipien (Derivation und Komposition) kennen und anwenden lernen. Die Spracharbeit auf Satz- und Textebene dient vor allem dazu, die Teilprozesse Sätze lesen und Sätze verbinden (vgl. (1)) versierter auszuüben. Auch hierzu werden grundlegende Operationen systematisch vermittelt: – Erkennen der Art des Satzes mit Hilfe des Satzschlusszeichens (Aussageund Fragesatz; zum Ausrufezeichen vgl. Bredel i. d. B.), – Entdecken der Satzstruktur im Aussagesatz mit Hilfe grammatischer Proben: Satzgliedanalyse und Wortstellung im Satz durch die Umstellprobe, Großschreibung des Kerns einer Nominalgruppe durch die Erweiterungs- bzw. Weglassprobe, Unterscheidung nominaler und nicht nominaler Satzglieder (z. B. aus Pronomen und Adverbien bestehend) durch die Ersatz- bzw. Erweiterungsprobe, – Erschließen der durch kohäsive Mittel (Proformen, Anaphern, Kataphern, Adverbien, Konjunktionen, Ober-/Unterbegriffe) hergestellten Beziehungen zwischen Aussagen in Sätzen und Absätzen, – Unterscheidung von Teilsätzen durch die Kommasetzung, die Stellung des finiten Verbs und sub- oder koordinierende Konjunktionen.
Schriftstruktur als Lesehilfe
4.2
183
Zur unterrichtspraktischen Umsetzung der Leseförderung in HeLp 2006/07
Nach Beendigung der dreimonatigen Lesepatenschaften im ersten Halbjahr in Klasse 5 wurden Lesetests durchgeführt, und zwar wie zu Schuljahresbeginn der Stolperwörterlesetest und zusätzlich ein Leseverstehenstest (LVT), der auf der Grundlage der IGLU-Rahmenkonzeption entwickelt wurde (zur Entwicklung vgl. Voss/Blatt 2009, Blatt/Voss 2005a, b; zu den Ergebnissen vgl. Voss et al. 2008). In der Studie HeLp 2006/07 schloss sich an die Lesepatenschaften eine additive Förderung für solche Schüler/innen an, die einen im Vergleich zur Gesamtgruppe wesentlich geringeren Leistungszuwachs im ersten Halbjahr aufwiesen oder sogar Rückschritte gemacht hatten. Sie wurden auf der Grundlage der Ergebnisse dieser zweiten Testung und nach den Beobachtungen der Lehrkräfte ausgewählt. Diese additive Förderung begann in der zweiten Schuljahreshälfte und wurde von Studierenden durchgeführt, die in fachdidaktischen Seminaren an der Universität Hamburg auf diese Aufgabe vorbereitet wurden. 2 Im Schuljahr 2007/08 wurde das sprachsystematische Konzept in den teilnehmenden 5. Klassen integrativ im gesamten Schuljahr eingesetzt. 3 In der additiven Förderung wurde nach dem oben beschriebenen sprachsystematischen Konzept gearbeitet. Diese Arbeit, die in den wöchentlich ca. zwei Förderstunden etwa ein Drittel der Zeit einnahm, wurde mit der Methode des „Begleitenden Lautlesens“ (vgl. Rosebrock/Nix 2008: 41) bzw. „Lesecoachings“ verbunden, bei dem die Studierenden als kompetente Leser mit den Förderkindern gemeinsam lasen. Beim Lesen und Besprechen der Texte wurde das Gelernte angewandt, z. B. wurden Wortbedeutungen durch das Zerlegen von Wörtern oder das Finden von verwandten Wörtern erschlossen. Darüber hinaus konnten die Förderschüler/innen dabei Lesestrategien für die Ausübung der Teilprozesse Verstehen des Ganzen, d. h. auf Makroebene einen roten Faden durch den Text zu legen, und Elaborieren, d. h. Vorhersagen zu treffen, Vorwissen anzuwenden, Vorstellungsbilder zu generieren und die Textaussage zu beurteilen, entwickeln. Die Studierenden suchten in Absprache mit den Schüler/innen für das Lesecoaching eine Lektüre aus, die mit den Lesefähigkeiten der Schü-
––––––– 2
3
Die additive Förderung wurde von den beteiligten Studierenden im Rahmen von Seminararbeiten ausgewertet. Aus diesen Dokumentationen und Reflexionen der Förderarbeit zeigt sich, dass die Förderung auf sehr unterschiedlichem Niveau erfolgte. Da die Auswertung dieser Studie noch andauert, beschränken wir uns in diesem Beitrag auf die Studie HeLp 2006/07.
184
Inge Blatt, Astrid Müller, Andreas Voss
ler/innen und mit Hilfe der Lesecoaching-Unterstützung zu bewältigen war und den Interessen der Schüler/innen entgegenkam.
5
Zielsetzung, ausgewählte Ergebnisse und Interpretation
Mit der Interventionsstudie im Rahmen des Hamburger Leseförderprojekts (HeLp 2006/07) verfolgen wir, wie oben aufgezeigt, das Ziel, die beiden vorgestellten Leseförderkonzepte zu erproben und zu evaluieren. Die Evaluation für das Schuljahr 2006/07 sollte zeigen, ob und wie die eingesetzten Konzepte zur Sprach- und Leseförderung der Fünftklässler beitragen können und ob sie für den Unterricht in Jahrgang 5 praktikabel sind. Zentral für die Untersuchung waren folgende Fragen: Wie entwickelt sich die Leseflüssigkeit im Verlaufe der Lesepatenschaften? Welche Gruppen (nach Leseleistung, Bildungshintergrund, Migrationsstatus, Geschlecht) profitieren in erster Linie von diesem Modell, welche nicht? Lassen sich Bedingungen für Erfolg bzw. Misserfolg ausweisen? Wie beeinflusst die sprachsystematische Arbeit die Leseflüssigkeit der Förderkinder? In welchem Zusammenhang steht eine erfolgreiche Förderung der Leseflüssigkeit mit der Verstehensleistung? Eine ausführliche Darstellung der Untersuchungsergebnisse mit Blick auf die Lesegeschwindigkeit sowie unterschiedliche Schülergruppen findet sich in Voss et al. (2008). In diesem Beitrag gehen wir vor allem auf die letzte Frage ein.
5.1
Ergebnisse der quantitativen Untersuchung
Tabelle 1 zeigt die Leistungsentwicklung der Förderschüler/innen, die beide Förderungen (Lesepatenschaft und anschließende additive Förderung) erhalten haben, auf der Basis von Ergebnissen aus dem Stolperwörterlesetest, der zu drei Testzeitpunkten durchgeführt wurde – vor dem Einsetzen der Förderung (t1), nach den Lesepatenschaften (t2) und nach der additiven Förderung am Schuljahresende (t3).
185
Schriftstruktur als Lesehilfe
Tab. 1: Leistungsentwicklung der Förderkinder im Stolperwörterlesetest im Vergleich zur Gruppe der nichtgeförderten Kinder mit gleicher Lernausgangslage (Vergleichsgruppe) und der Rest der Gesamtstichprobe 4 Stolperwörterlesetest t1
Gruppen
Stolperwörterlesetest t2
Stolperwörterlesetest t3
Förderkinder
MW N SD
20,64 33 6,097
25,56 32 6,515
31,68 34 8,329
Vergleichsgruppe zu den Förderkindern
MW N SD
21,80 45 5,631
31,07 45 7,691
34,82 45 8,937
Übrige Kinder
MW N SD
32,20 288 8,709
39,32 271 8,341
42,29 265 9,045
Zum Vergleich werden die Werte der Lerner mit ähnlicher Lernausgangslage (Vergleichsgruppe) und der restlichen Gesamtstichprobe (übrige Kinder außer den Förderkindern und der Vergleichsgruppe) angeführt. Die Kinder der Vergleichsgruppe und der restlichen Gesamtstichprobe erhielten nur die Förderung nach dem Lesepatenmodell und keine zusätzliche sprachsystematische Förderung. Die Vergleichsgruppe wurde nach dem Matched Pair Design in Abhängigkeit von den Leistungswerten im Stolperwörterlesetest gebildet. Zu diesem Zweck wurde aus den Ergebnissen des Stolperwörterlesetests zum Testzeitpunkt t1 eine Rangreihe erstellt. Die beiden Schüler/innen, die jeweils im Rang vor und nach einem Förderkind bzw. einer Förderkindgruppe platziert sind, wurden für die Vergleichsgruppe ausgewählt. Auffällig ist der weit unterdurchschnittliche Leistungszuwachs der Förderkinder vom ersten zum zweiten Messzeitpunkt. Mit ca. fünf Sätzen mehr erzielen sie nur die Hälfte des Zuwachses, den die Vergleichsgruppe erreicht (ca. zehn Sätze mehr), und weniger als ein Drittel des Zuwachses der übrigen
––––––– 4
Dargestellt sind Mittelwert (MW), Standardabweichung (SD) und Stichprobenumfang (n) der jeweiligen Gruppen. Der Mittelwert gibt die zentrale Tendenz der erzielten Werte innerhalb einer Gruppe an. Das statistische Konzept der Standardabweichung ist ein Maß für die Verteilungen der einzelnen Werte um den Gruppenmittelwert. Je höher dieser Wert ist, desto größer ist die Variabilität der Testwerte, d. h. die Bandbreite aus leistungsstarken und -schwachen Schülerinnen und Schülern innerhalb der Gruppe. t1–t3 bezeichnen die Messzeitpunkte zu Beginn des Schuljahres (t1), zur Schuljahresmitte nach Beendigung der Lesenpatenintervention (t2) und am Schuljahresende nach Beendigung der sprachsystematischen additiven Förderung.
186
Inge Blatt, Astrid Müller, Andreas Voss
Kinder (ca. 17 Sätze mehr). Dies zeigt, dass das Lesepatenmodell für diese Kinder keine ausreichende Fördermaßnahme war. Demgegenüber verbessern sie sich vom zweiten zum dritten Messzeitpunkt etwa doppelt so stark wie die nicht geförderten Schüler/innen, und zwar sowohl im Verhältnis zu den Kindern der Vergleichsgruppe als auch zu den übrigen Kindern der Gesamtstichprobe (ca. sechs Sätze gegenüber ca. drei Sätzen). Dennoch können die Förderkinder ihren Rückstand von Mitte Klasse 5 nicht aufholen und liegen am Ende des Schuljahres noch ca. drei Sätze hinter den Kindern der Vergleichsgruppe. Im Vergleich zum Rest der Stichprobe verringert sich der Abstand von der Lernausgangslage zum Lernstand am Ende der Klasse 5 um einen Satz. Auch wenn die Förderkinder mit ihrem Endergebnis unter dem Gesamtdurchschnitt lagen, so lässt das überdurchschnittliche Abschneiden nach der sprachsystematischen Fördermaßnahme dennoch auf einen Erfolg dieser zusätzlichen Förderung schließen. Die Ergebnisse zeigen, dass sich Schülergruppen mit gleicher Lernausgangslage im Laufe eines Schuljahres im Mittel sehr unterschiedlich entwickeln können. Die Mittelwerte geben jedoch noch keine Auskunft über die individuellen Lernverläufe innerhalb dieser Gruppen. Um Erklärungsansätze für die heterogene Leistungsentwicklung zu gewinnen, werden in einem ersten Schritt Hintergrundvariablen (Geschlecht, Bildungshintergrund, Migrationsstatus) kontrolliert. Bei diesen Analysen werden die Förderkinder mit allen übrigen Kindern der Gesamtstichprobe verglichen und es wird nicht noch zusätzlich hinsichtlich der Vergleichsgruppe differenziert, da die Fallzahlen bei den Variablen Bildungshintergrund und Migrationsstatus ansonsten zu klein wären. Betrachtet man die Lernentwicklung der übrigen nicht geförderten Kinder bis zum dritten Messzeitpunkt am Ende des Schuljahres in Abhängigkeit von ihrem Geschlecht (Tabelle 2), so ist – bei annährend gleicher Ausgangslage – die durchschnittliche Leistungsentwicklung bei den Mädchen etwas höher als bei den Jungen. Dieses Ergebnis ist in Anlehnung an die IGLU- und PISAErgebnisse erwartungskonform. Erwartungsgemäß ist auch, dass der Anteil der Jungen, die einer zusätzlichen Förderung bedürfen, mehr als doppelt so groß wie der der Mädchen ist. Demgegenüber entwickelt sich bei den Förderkindern die Leistung der Jungen überproportional zu der der Mädchen und ist am Ende auch absolut höher. Es liegt also ein besonderer Fördererfolg für die Zielgruppe Jungen vor.
187
Schriftstruktur als Lesehilfe Tab. 2: Mittlere Testleistung im Stolperwörterlesetest nach Förderstatus und Geschlecht Förderstatus Förderkind
Kein Förderkind
Geschlecht
Stolperwörterlesetest t1
M N W N M N W N
20,48 23 21,00 10 30,68 164 30,92 169
Stolperwörterlesetest t2
Stolperwörterlesetest t3
25,82 22 25,00 10 37,97 159 38,32 157
32,52 23 29,91 11 40,78 157 41,65 153
Im Hinblick auf den in Tabelle 3 dargestellten Bildungshintergrund zeigt sich, dass die Förderkinder schlechter abschneiden als die Nicht-Förderkinder. Ein besonders gravierender Unterschied besteht in der Fördergruppe zwischen Schülerinnen und Schülern aus bildungsnahen und -fernen Elternhäusern. Tab. 3: Mittlere Testleistung im Stolperwörterlesetest nach Förderstatus und Bildungsnähe des Elternhauses 5 Förderstatus Förderkind
Kein Förderkind
Bildungsnähe des Elternhauses bildungsfern N durchschnittlich N bildungsnah N bildungsfern N durchschnittlich N bildungsnah N
Stolperwörter- Stolperwörter- Stolperwörterlesetest t2 lesetest t3 lesetest t1 21,30 10 21,09 11 19,67 12 30,74 107 30,09 132 32,09 79
27,67 9 24,64 11 25,55 11 37,81 99 38,31 124 38,80 71
35,70 10 30,82 11 30,83 12 40,28 118 41,09 118 43,14 74
Die Leistungsentwicklung verläuft bei den nicht geförderten Kindern geringfügig zugunsten der Kinder aus bildungsnäheren Elternhäusern, während bei
––––––– 5
Bildungsferne Haushalte = bis 25 Bücher; Haushalte mit durchschnittlicher Bildungsnähe = zwischen 26 und 100 Büchern; bildungsnahe Haushalte = mehr als 100 Bücher.
188
Inge Blatt, Astrid Müller, Andreas Voss
den Förderkindern diejenigen aus bildungsferneren Elterhäusern überproportional profitieren. Analog zum Bildungshintergrund wiederholt sich unter Kontrolle des Migrationsstatus das Ergebnis, dass die Förderkinder jeweils in derselben Kategorie schlechter abschneiden als die nicht geförderten (Tabelle 4). Besonders deutlich ist hier der Unterschied zum zweiten Messzeitpunkt, also nach Abschluss des Lesepatenmodells. Durch den überdurchschnittlichen Leistungszuwachs nach der additiven Förderung ist der Rückstand der Förderkinder am Ende des Schuljahres in etwa so hoch wie zu Beginn. Nur die Kinder mit einem im Ausland geborenen Elternteil konnten den Rückstand verringern. Besonders gravierend fällt der Rückstand der Förderkinder, deren Eltern in Deutschland geboren sind, zu den nicht geförderten Kindern derselben Gruppe aus. Tab. 4: Mittlere Testleistung im Stolperwörterlesetest nach Förderstatus und Migrationshintergrund Förderkinder Herkunft der Eltern
beide Eltern in Deutschland geboren
MW N
Stolperwörter Lesetest Rohwert t1 19,81 16
Stolperwörter Lesetest Rohwert t2 24,75 16
Stolperwörter Lesetest Rohwert t3 30,44 16
ein Elternteil in Deutschland geboren beide im Ausland geboren Insgesamt
MW N MW N MW N
23,50 2 20,43 7 20,28 25
28,50 2 24,00 6 24,88 24
34,00 2 31,86 7 31,12 25
MW N MW N MW N MW N
Stolperwörter Lesetest Rohwert t1 31,67 128 31,39 59 29,72 89 30,98 276
Stolperwörter Lesetest Rohwert t2 39,32 118 38,29 56 37,23 82 38,43 256
Stolperwörter Lesetest Rohwert t3 41,95 114 40,39 57 40,91 78 41,27 249
Nicht-Förderkinder Herkunft der Eltern
beide Eltern in Deutschland geboren ein Elternteil in Deutschland geboren beide im Ausland geboren Insgesamt
Zusammenfassend zeigen die Analyseergebnisse, dass sich der unterdurchschnittliche Leistungszuwachs der Förderkinder vom ersten bis zum zweiten
Schriftstruktur als Lesehilfe
189
Messzeitpunkt (t1 zu t2) mit den drei Kontrollvariablen Geschlecht, Bildungsund Migrationshintergrund nicht erklären lässt. Der überdurchschnittliche Leistungszuwachs im Anschluss an die additive sprachsystematisch ausgerichtete Leseförderung dagegen lässt die vorsichtige Schlussfolgerung zu, dass diese Förderung besonders für die Lernbedürfnisse bildungsbenachteiligter Gruppen geeignet ist und deshalb zu einer Verbesserung ihrer Leseflüssigkeit beigetragen hat (s. o., Fußnote 1). Die Förderung der sprachverarbeitenden Prozesse war mit der Hypothese verbunden, dass sich ein Fördererfolg auch positiv auf die Verstehensfähigkeit der Förderkinder auswirkt. Zur Ermittlung der Leseverstehensfähigkeit wurden zwei differentielle Lesetests eingesetzt, die auf der Grundlage der IGLU-Rahmenkonzeption entwickelt wurden. Diese Tests umfassen Fragen zu textimmanenten und wissensbasierten Verstehensaspekten (vgl. Blatt/Voss 2005b). Die textimmanenten Verstehensaspekte beziehen sich auf das Erkennen und Wiedergeben explizit angegebener Informationen (Verstehensaspekt I) und auf das Ziehen einfacher Schlussfolgerungen auf Absatzebene (Verstehensaspekt II). Bei den wissensbasierten Aufgaben geht es um das Interpretieren von Texten (Verstehensaspekt III) und das Prüfen und Bewerten von Inhalt und Sprache (Verstehensaspekt IV). Für ihre Konstruktion wurde auf Ergebnisse einschlägiger Grundlagenforschung zurückgegriffen (vgl. Voss/Blatt 2009; Blatt/ Voss 2005a). Damit setzt sich die Testkonstruktion von Versuchen ab, die IGLU-Verstehensaspekte ohne theoretische Verankerung und empirische Validierung in ein Leseübungsmaterial umzusetzen, das aus wissenschaftlicher und didaktischer Sicht fragwürdig ist (Druschky/Meier/Stadler 2004; vgl. dazu Blatt/Voss 2005b: 273–276). Für beide in der HeLp-Studie eingesetzten Tests wurde ein altersangemessener literarischer Text ausgewählt. Während der zum Testzeitpunkt t2 eingesetzte Test (Textgrundlage: Paul Maar, In der neuen Klasse) bereits in früheren Untersuchungen 6 erprobt worden war, wurde der zum Testzeitpunkt t3 eingesetzte Test (Textgrundlage: Gunter Preuss, Der Sprung) in analoger Weise neu entwickelt. 7 Die Testergebnisse wurden der Auswertung der IGLU-Tests entsprechend skaliert, wobei der Mittelwert – ebenfalls analog zu IGLU – auf 500 festgesetzt wurde. Beide Tests beruhen demnach auf demselben Kompetenzkonstrukt. Die Ergebnisse sind jedoch nicht in der Weise vergleichbar, dass aus den Werten ein kausaler Schluss auf die Ent-
––––––– 6
7
Es handelt sich um Untersuchungen an Dortmunder Schulen in den Jahren 2006/07, die von Inge Blatt (Testentwicklung) und Andreas Voss (Testevaluation) durchgeführt wurden. Die Testentwicklung erfolgte im Rahmen von Deutschdidaktikseminaren an der Universität Hamburg von Inge Blatt und Astrid Müller. Eine gemeinsame Skalierung der Testaufgaben zeigte, dass diese ein vergleichbares Konstrukt messen.
190
Inge Blatt, Astrid Müller, Andreas Voss
wicklung der Verstehensfähigkeit abgeleitet werden könnte. Dies ist dadurch bedingt, dass die mit der Beantwortung der Testaufgaben verbundenen Anforderungen in Abhängigkeit von den beiden Texten unterschiedlich hoch sein können und dieser Effekt durch das verwendete Erhebungsdesign nicht kontrolliert wurde. Die Ergebnisse können jedoch für die Förderkinder und die Vergleichsgruppe sowie die übrigen Kinder der Gesamtstichprobe in Relation zueinander betrachtet werden (Tabelle 5). Tab. 5: Leistungsentwicklung der Förderkinder im Leseverstehenstest im Vergleich zur Gruppe der nichtgeförderten Kinder mit gleicher Lernausgangslage (Vergleichsgruppe) und den übrigen Kindern der Gesamtstichprobe Gruppen
Förderkinder Vergleichsgruppe zu den Förderkindern
Übrige Kinder
Insgesamt
Stolperwörterlesetest Rohwert t1 MW N SD MW N SD MW N SD MW N SD
20,64 33 6,097 21,80 45 5,631 32,20 288 8,709 29,88 366 9,315
Testwerte zu t2 Leseverstehenstest „In der neuen Klasse“ 462 32 95 462 39 111 510 257 97 500 328 100
Testwerte zu t3 Leseverstehenstest „Der Sprung“ 434 33 88 463 45 90 514 266 98 500 344 100
Die Förderkinder und die Kinder der Vergleichsgruppe erreichen mit 462 Punkten im ersten Leseverstehenstest nach Beendigung der Lesepatenschaften im Mittel dieselbe Leistung. Sie liegen damit unter dem – analog zu IGLU – festgelegten Mittelwert von 500. Diese Gruppen liegen damit weit unter dem Rest der Stichprobe, der einen Wert von 510 erreicht. Zum dritten Testzeitpunkt verschlechtert sich die Leistung der Förderkinder erheblich (28 Punkte), während sich die Vergleichsgruppe geringfügig (1 Punkt) und der Rest der Stichprobe geringfügig mehr (4 Punkte) verbessern. Insbesondere aus dem Vergleich mit der Vergleichsgruppe lässt sich auf einen systematischen, und zwar negativ wirkenden Effekt der additiven Förderung auf die Leistungsentwicklung beim sinnverstehenden Lesen schließen. Dieses Ergebnis ist erwartungswidrig, da aus theoretischer Sicht davon auszugehen war, dass eine Erhöhung der Leseflüssigkeit zu einer Automatisierung der sprachverarbeitenden Prozesse auf Wort-, Satz- und Absatzebene
191
Schriftstruktur als Lesehilfe
und damit einhergehend zum verstärkten Einsatz höherrangiger Leseprozesse führt. Um diesen auffälligen Befund zu klären, wurden zusätzliche qualitative Studien vorgenommen, in denen die Entwicklung einzelner Förderkinder differenziert beobachtet und analysiert wurde. 8 Ausgewählte Ergebnisse aus diesen Fallstudien werden im folgenden Abschnitt vorgestellt.
5.2
Ergebnisse der qualitativen Untersuchung
Im Folgenden werden Ergebnisse aus einer Fallstudie herangezogen, in der die Lernentwicklung eines Förderkindes feinanalytisch untersucht wurde (Kamzela 2008). Es handelt sich um einen Schüler aus einem bildungsfernen Elternhaus mit Migrationshintergrund, der in den Tests folgende Ergebnisse erzielte: Tab. 6: Leistungsentwicklung eines Förderkindes (Fallbeispiel) im Vergleich zur Vergleichsgruppe und zu den übrigen Kindern der Gesamtstichprobe (LVT = Leseverstehenstest [t2 In der neuen Klasse, t3 Der Sprung]; als Sprachtests wurden durchgängig C-Tests verwendet; STW = Stolperwörterlesetest) Testzeitpunkt Test
Fallbeispiel: Förderkind Förderkinder N Vergleichsgruppe N Übrige Kinder N
t1 t2 t3 STW STW C-Test LVT STW C-Test C-Test LVT (Roh- (Roh- Hund (Roh- Hund Meereswert) wert) wert) tiefen 21 25 13 486 35 11 15 337 21 33 22 45 32 288
26 32 31 45 39 271
16 32 12 43 13 265
462 32 462 39 510 257
32 34 35 45 42 265
13 34 14 45 15 265
13 34 15 45 16 263
434 33 463 45 514 266
Das Ergebnis von 21 Sätzen im Stolperwörterlesetest in der Lernausgangslage stimmt mit dem durchschnittlichen Ergebnis der Förderkindergruppe überein. In der zweiten Testung nach der Lesepatenschaft liegt der Schüler einen Satz unter dem Durchschnitt dieser Gruppe. In der dritten Testung verbessert er sich dagegen überdurchschnittlich um zehn Sätze und liegt mit
––––––– 8
Die bisherige qualitative Auswertung erfolgt im Rahmen von wissenschaftlichen Hausarbeiten zum ersten Staatsexamen, die von Studierenden erstellt wurden, die eine additive Förderung einzelner Schüler/innen durchgeführt haben (Kamzela 2008, Frahm 2008, Hein 2008, Hoitz 2008).
192
Inge Blatt, Astrid Müller, Andreas Voss
35 Sätzen auf gleicher Höhe mit der Vergleichsgruppe und drei Sätze über dem Durchschnitt der Förderkindergruppe. Aussagen über die allgemeine Sprachfähigkeit des Schülers liefern seine Testergebnisse in drei C-Tests 9 . Bei C-Tests handelt es sich um Texte, in denen unvollständige Wörter im syntaktischen Kontext grammatisch korrekt ergänzt werden müssen (Grotjahn 2002). Der Schüler verringerte seine Leistung in dem wiederholten C-Test (t2, t3) von 13 auf 11 Punkte (von insgesamt 20) und erreichte in dem zum dritten Testzeitpunkt erstmalig eingesetzten C-Test 15 von 20 Punkten. In den beiden Leseverstehenstests (LVT) erreichte er im ersten 13 von 20 und im zweiten 7 von 20 Punkten 10 . Während er im ersten LVT über dem Durchschnitt der Fördergruppe lag, schnitt er im zweiten LVT weit unterdurchschnittlich ab. Um diesen auffälligen Leistungsrückgang zu untersuchen, wurden weitere Daten erhoben. Es handelt sich dabei um die Diagnostizierung der Dekodiergenauigkeit 11 , um Förderprotokolle (Tonbandaufzeichnungen), eine zusätzliche Schülerbefragung und um schriftliche Schülerarbeiten. Die vergleichende Analyse aller Daten erbrachte Ergebnisse, die differenziertere Aussagen über die Lesefähigkeit und Lernentwicklung des Schülers zulassen. Die positive Entwicklung der Leseflüssigkeit spiegelt sich in der am Ende der Förderung erreichten Dekodiergenauigkeit (ca. 98 Prozent) wider, mit der der Schüler ein „unabhängiges Leselevel“ erreicht hat (Kamzela 2008: 65). Auf dieser Ebene sind also die Ursachen für die geringe Leistung in dem Leseverstehenstest zum letzten Messzeitpunkt nicht zu suchen. Hinweise auf lernhinderliche Faktoren ergaben sich demgegenüber auf der sprachlichen und metakognitiven Ebene. Die Auswertung der Förderprotokolle ergibt, dass der Schüler über einen sehr eingeschränkten schriftsprachlichen Wortschatz verfügt. Während sein Wortschatz für die mündliche Kommunikation ausreicht, versteht er die elaborierte bzw. literarische Ausdrucksweise in Texten, Aufgaben und Arbeitsanweisungen nur eingeschränkt. Dies spiegelt sich auch in den Ergebnissen der beiden C-Tests wider, wo er in dem sprachlich schwierigeren Test selbst bei der Wiederholung noch schlechter abschneidet als in dem sprachlich einfacheren. Die Wortschatzprobleme des Schülers bei der Bearbeitung des zweiten Leseverstehenstests werden an zwei Beispielen deutlich gemacht: In einer
––––––– 9
10
11
Zum zweiten Messzeitpunkt wurde ein C-Test eingesetzt, der zum dritten Messzeitpunkt wiederholt und durch einen weiteren ergänzt wurde. Auf Einzelschülerebene werden aus methodischen Gründen keine Skalenwerte, sondern absolute Werte herangezogen. Dazu wurde das bei Rosebrock/Nix (2008: 35f.) dokumentierte Diagnoseverfahren genutzt (vgl. Kamzela 2008: 52).
Schriftstruktur als Lesehilfe
193
Testfrage scheitert der Schüler an der Metapher „einen Stich in die Brust geben“, die er wörtlich als „jemanden in die Brust stechen“ nahm. Ein weiteres Beispiel ist die folgende Leseverstehensfrage: Warum hat Hannes Bauchbrummen? a) Weil er hungrig ist wie ein Bär. b) Weil er verliebt in Susan ist. c) Weil er krank ist. d) Weil er Angst hat. (richtige Antwort)
Der Schüler wählt die Antwort a), wobei er sich von der Wendung „Sein Bauch brummte nun wie ein hungriger Bär“ leiten lässt. Aus dem Gespräch mit dem Schüler im Anschluss an die Bearbeitung der Testaufgaben wird deutlich, dass er die übertragene Bedeutung nicht erkennt. Seine Fehlinterpretation wird zudem durch den Distraktor a) begünstigt, der ein wörtliches Zitat aus einem Textabschnitt enthält, in dem auch die Antwort auf die Frage zu finden ist. Mit Testschwierigkeiten, die durch die Gestaltung der Testaufgaben bedingt sind, befassen sich Studien von Kirsch und Mosenthal (1994). Daraus geht hervor, dass Leser mit niedrigerer Kompetenz im Text vorkommende Wörter – ohne den Sinnzusammenhang zu bedenken – zur Beantwortung von Fragen heranziehen (vgl. dazu auch Frahm 2008, Blatt/Frahm 2009). Dies trifft auch auf die Testbearbeitung des Förderschülers zu. Obwohl er – wie aus dem Gespräch zum Text deutlich wird – verstanden hat, dass Hannes Angst hat, nutzt er dieses Textverständnis nicht zur Beantwortung der Frage. Daraus lässt sich schließen, dass er zur Bearbeitung der Aufgaben vorrangig Informationen auf Satz- und Absatzebene heranzieht. Diese Schlussfolgerung wird dadurch gestützt, dass die von dem Schüler richtig beantworteten Fragen in beiden Leseverstehenstests in erster Linie den textimmanenten Verstehensaspekten I (Wiedergeben explizit angegebener Informationen) und II (einfache Schlussfolgerungen) angehören (vgl. Bos et al. 2007: 83; Kamzela 2008: 61–62). Sind zur Beantwortung einer Testfrage dagegen keine wörtlichen Entsprechungen im Text enthalten, greift der Schüler unreflektiert auf Weltwissen zurück (Kamzela 2008: 69). Dies zeigt, dass er sein Weltwissen nicht zur Konstruktion des Textverständnisses einsetzen kann und es sich dabei nicht um eine wissensbasierte Verstehensleistung handelt, bei der Weltwissen und Textaussage in einen kritischen und reflektierten Bezug zueinander gebracht werden (vgl. Bos et al. 2003, 2007). In diesem Zusammenhang ist der oben genannte Befund der qualitativen Analyse von Bedeutung, dass dem Schüler Lesestrategien zur Überwachung und Steuerung seines Leseprozesses fehlen (Kamzela 2008: 66). Der Schüler bemerkt ein Verstehensproblem entweder nicht bzw. reagiert nicht darauf. Da
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Inge Blatt, Astrid Müller, Andreas Voss
die Förderstudentin dieses Problem des Schülers erkennt, zeigt sie ihm als kompetente Leserin beim Lesecoaching modellhaft Strategien auf. Gegen Ende der Förderung kann der Schüler solche Strategien erfolgreich nutzen, wenn er mit der Förderstudentin zusammen liest. Dies zeigt sich auch bei einer erneuten Bearbeitung des Lesetests „In der neuen Klasse“. Allein auf sich gestellt ist ihm dies noch nicht möglich. An die These Wygotskis (1934/1991: 238) anknüpfend, wonach sich Lernen an der „Zone der nächsten Entwicklung“ ausrichten soll und Lerner das, was sie zunächst mit Hilfe eines kompetenteren Partners können, zunehmend selbstständiger ausführen können, könnte dies auf eine zukünftige positive Lernentwicklung hindeuten.
5.3
Zusammenführung der Ergebnisse und Interpretation
Die Interpretation der Ergebnisse soll zur Beantwortung der oben gestellten Forschungsfragen (Kap. 5) herangezogen werden: Wie beeinflusst die sprachsystematische Arbeit die Leseflüssigkeit der Förderkinder? Und: In welchem Zusammenhang steht ein Fördererfolg bei der Leseflüssigkeit mit der Verstehensleistung? Die Analyseergebnisse für die Gesamtgruppe der Förderkinder und für das Fallbeispiel können dahingehend gedeutet werden, dass sich die sprachsystematisch ausgerichtete Leseförderung positiv auf die Entwicklung der Leseflüssigkeit auswirkt, da sich auch die Stolperwörterlesetestergebnisse der Kinder nach der Förderung überdurchschnittlich zur Gesamtstichprobe verbessern. Die Erwartung, dass in dem Förderzeitraum von drei Monaten und einer durchschnittlichen Zahl von zwanzig Förderstunden der Leistungsrückstand vollständig aufgeholt werden könne, erfüllte sich jedoch nicht. Angesichts der Ergebnisse aus den Leseverstehenstests ist jedoch zu fragen, ob eine Verbesserung der Leseflüssigkeit allein ein sinnvolles Förderziel für die Verbesserung des Textverstehens bei schwachen Lesern ist, da die erhöhte Leseflüssigkeit bei den Förderkindern nicht zu einer höheren Leseverstehensleistung führte, sondern sich sogar eine negative Entwicklung in den Testergebnissen zum Leseverstehen zeigte. Dieses Ergebnis steht im Widerspruch zu den von Rosebrock/Nix (2006) berichteten Befunden amerikanischer Studien, wonach durch Lautleseverfahren nicht nur die Lesegenauigkeit und Lesegeschwindigkeit gesteigert werden, sondern auch das Leseverstehen (ebd.: 93, 102). Damit stimmen erste Auswertungsergebnisse aus dem von der DFG unterstützten Forschungsprojekt „Leseflüssigkeit – Zur differenziellen Wirksamkeit von Interventionen“ überein. Es handelt sich dabei um eine in deutschen Schulen durchgeführte Interventions-Kontrollstudie in Klassenstufe 6, bei der u. a. ein Lautleseverfahren eingesetzt wurde (Trenk-Hinterberger et al. 2007). Die vorgelegten Ergebnisse belegen für die
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Lautlese-Gruppe unmittelbar nach der Förderung signifikante Zugewinne im Bereich der Lesegeschwindigkeit und des Textverstehens im Vergleich zur Kontrollgruppe. Den vorliegenden Studienergebnissen ist jedoch nicht zu entnehmen, auf welchem Verstehensniveau die Leistungssteigerung der Lesekompetenz liegt und ob sie alle Leistungsgruppen gleichermaßen betrifft. Nach den oben berichteten Ergebnissen der Fallanalyse zur Lernentwicklung des Förderschülers im Rahmen von HeLp 2006/07 könnte vermutet werden, dass sich die Steigerung der Leseflüssigkeit vor allem auf der Ebene der textbasierten Verstehensleistung positiv auswirkt. Um dieser Frage näher nachzugehen, werden die in dem Forschungsprojekt zur Leseflüssigkeit und in dem Hamburger Leseförderprojekt eingesetzten Leseverstehenstests vergleichend betrachtet. In der erstgenannten Studie wurde für die Messung des Textverständnisses ein Untertest des Leseverständnistests ELFE 1–6 (Lenhard/Schneider 2006) eingesetzt. Dieser Untertest besteht aus mehreren kurzen Texten und insgesamt zwanzig Multiple-choice-Aufgaben (vgl. TrenkHinterberger et al. 2007). Die Aufgaben sind in der Regel dadurch zu lösen, dass Textinformationen in den Antwortmöglichkeiten wiedergefunden werden müssen oder die richtige Antwort durch einfache Schlussfolgerungen ermittelt werden kann. Die in der HeLp-Studie eingesetzten Leseverstehenstests dagegen basieren auf literarischen Texten und beinhalten Aufgaben, die den Lesern auch Verstehensleistungen des komplexen Schlussfolgerns und des Reflektierens und Bewerten von Sprache und Inhalt abverlangen (Bos et al. 2003). Zur Lösung dieser Aufgaben müssen die Leser Leseverstehensprozesse ausüben, die auf ein umfassendes Textverständnis und den Einsatz von Welt- und Textwissen sowie auf das Erfassen und Interpretieren literarischer Sprache ausgerichtet sind (vgl. Leseprozessmodell von Irwin 2007, s. o.). Die erforderlichen elaborativen Prozesse verlangen vom Leser auch den Einsatz von Phantasie, um Vorstellungsbilder zu entwickeln, sowie emotionale Reaktionen auf den Text. Indirekt werden also in den international vergleichenden Leseleistungsstudien mit Hilfe der Aufgaben zu den Verstehensaspekten III und IV über die rein kognitiven Verstehensleistungen hinausgehende Leseteilleistungen erfasst, so dass sie auch für Leseförderzwecke geeignet sind. 12 Die Auswertungsergebnisse zu unterschiedlich komplexen Modellen der Lesekompetenz, wonach der Verstehensaspekt IV bei literarischen Texten eine eigene Teilkompetenz darstellt, unterstreichen dies (Voss/Carstensen/Bos 2005). Damit wird wiederum ein Bezug zur herme-
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Dies wurde in der deutschdidaktischen Rezeption bislang nicht beachtet, ebensowenig wie die Tatsache, dass auch motivationale Aspekte sowie die häusliche und schulische Praxis einer Anschlusskommunikation über Fragebogen erhoben werden (vgl. dazu z. B. Hurrelmann 2002, Schneider/Bertschi-Kaufmann 2006).
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neutischen Theorie hergestellt, wonach das Verstehen literarischer Texte Einfühlung voraussetzt (vgl. Gadamer 31972). Dass die gemessene Leistung in Abhängigkeit von der Testkonstruktion zu beurteilen ist, zeigen die Ergebnisse aus dem Projekt „Lese- und Schreibkompetenzen fördern“, das mit Schülerinnen und Schülern der 3./4. und 7./8. Jahrgangsstufe durchgeführt wurde (Schneider/Bertschi-Kaufmann 2006). In dieser Interventionsstudie wurde die Leseleistung der Kinder mit dem Stolperwörtertest (Dekodierfähigkeit), dem „Leseverständnistest für Elementarschüler“ (ELFE) und einem neu entwickelten „Test zur Erhebung der empathischen Leseleistung“ (TELL) erhoben. Die Korrelationsanalysen zwischen den Tests zeigen, dass mit dem Stolperwörterlesetest und ELFE ein homogenes Gesamtkonstrukt gemessen wird (r = .7), mit TELL dagegen eine davon unterschiedene Kompetenz (r = .3). Dass die Interpretation der Leistungsergebnisse und ihrer Zusammenhänge mit anderen fachlichen Kompetenzen von den eingesetzten Tests abhängig ist, gilt nicht nur für das Lesen, sondern auch für das Rechtschreiben. Um die oben berichteten widersprüchlichen Ergebnisse aus Rechtschreibstudien interpretieren zu können (Thomé 2008, Marx 2000; s. o., Abschnitt 3), muss zunächst die Testkonstruktion vergleichend betrachtet werden. Aus den dargestellten Ergebnissen zur Entwicklung der Leseflüssigkeit und des Leseverständnisses leiten wir Forschungsdesiderate ab. In weiterführenden und vertiefenden qualitativen Studien müsste untersucht werden, wodurch die Ausbildung von elaborativen Verstehensprozessen angeregt werden kann und in welchem Zusammenhang sie mit der Leseflüssigkeit stehen. Dabei kann auf Ergebnisse aus einer Videostudie zum Textverstehen mit Viertklässlern zurückgegriffen werden, wonach zwei Kinder mit auffälliger Dekodierschwäche in IGLU-Leseverstehenstests sehr unterschiedliche Testergebnisse erzielten (Blatt/Voss 2005b). Während das eine Kind erwartungswidrig überdurchschnittliche Ergebnisse erreichte, waren die Ergebnisse des anderen Kindes erwartungskonform unterdurchschnittlich (Blatt/Voss 2005b: 265–266; Vuk 2003). Als entscheidende Faktoren für die Verstehensleistung erwiesen sich der flexible Einsatz von Lese- und Lernstrategien, eine den Lesevorgang begleitende Hypothesenbildung und -überprüfung sowie die Sprachkompetenz und das Selbstwirksamkeitskonzept der Kinder. Damit konnte die bei den Tests erfolgreiche Schülerin ihre erhebliche Dekodierschwäche ausgleichen. Beim gegenwärtigen Auswertungsstand der HeLp 2006/07-Studie kann nicht geklärt werden, warum die Theorieannahme nicht verifiziert werden konnte, dass eine erhöhte Leseflüssigkeit zum besseren Leseverstehen führt. Es bleibt unklar, warum die Kinder die durch die Automatisierung der niederrangigen Sprachverarbeitung frei gewordene kognitive Kapazität nicht zur Durchführung höherrangiger Teilprozesse nutzen konnten. Daraus leiten wir
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eine in Folgestudien zu testende Hypothese ab, dass sich der Leseprozess der Förderkinder umstrukturiert hat. Wir gehen davon aus, dass das in der Förderung und im Lautleseverfahren geübte sorgfältige Lesen auf Wort-, Satz- und Absatzebene isoliert und noch nicht integriert in den Gesamtleseprozess ausgeübt wird (Kamzela 2008: 71). Aus den Ergebnissen der Fallanalyse lässt sich schließen, dass eine Ursache dafür im Mangel an metakognitiven Lesestrategien liegen kann. Eine positive Wirkung auf das Leseverständnis kann unter Annahme dieser Hypothesen erst dann einsetzen, wenn die sprachverarbeitenden Prozesse in der Weise automatisiert ablaufen, dass die dabei gewonnenen Informationen für den fortschreitenden Aufbau eines Textverständnisses genutzt werden können. Dies ließe den Schluss zu, „dass eine erfolgreiche Leseförderung in der Sekundarstufe so lange stattfinden muss, bis das neu gewonnene sprachliche Wissen [...] mit dem Einsatz von Lesestrategien verknüpft werden kann“ (ebd.: 71). Den Schülerinnen und Schülern muss Zeit eingeräumt werden, ihr mentales Leseverstehensmodell erfolgreich umzustrukturieren. Die Diskrepanz zwischen der Verbesserung der Leseflüssigkeit und der Verschlechterung der Leseverstehensleistung könnte aus dieser Perspektive auch als Fortschritt auf dem Weg zu einem höherrangigen Leseverständnis gedeutet werden.
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Ausblick
Im Kontext der didaktischen Leseforschung eröffnet die HeLp-Studie 2006/07 einen neuen Blick auf die Leseförderung. In dieser Studie wurde versucht, die sprachverarbeitenden Prozesse beim Lesen u. a. durch die Vermittlung von Einsichten in die Struktur von Wörtern und den Zusammenhang von Struktur und Bedeutung zu fördern, während sich die Forschung bislang in erster Linie auf die Entwicklung in einzelnen Teilgebieten, wie etwa der Steigerung der Leseflüssigkeit und der Lesemotivation sowie auf das Lesestrategietraining, konzentriert (Überblick bei Rosebrock/Nix 2008, Streblow 2004). Um die aus der explorativen Studie HeLp 2006/07 abgeleiteten Hypothesen zu überprüfen, sind weiterführende Untersuchungen erforderlich, die teilweise in der Wiederholungsstudie HeLp 2007/08 umgesetzt werden. In dieser Studie wird die sprachsystematische Förderung in den Regelunterricht integriert. Zudem wird ein sprachsystematischer Rechtschreibtest dafür entwickelt und zu drei Messzeitpunkten eingesetzt, um die Lernentwicklung der Schüler/innen erfassen zu können (vgl. Blatt et al. ersch.). Dabei geht es vor
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allem um die Frage, inwieweit die Schüler/innen Einsichten in die Schriftsprachstrukturen gewinnen konnten, was sich z. B. an der Zahl der Variantenschreibungen ablesen lässt. Je höher die Variantenschreibung ist, desto geringer ist die strukturelle Kompetenz. Der Einfluss von Einsichten in die Schriftsprachstruktur auf die Leseflüssigkeit bzw. auf das Leseverständnis wird mit Hilfe von Regressionsanalysen untersucht. Ergänzend werden qualitative Untersuchungen vorgenommen, für die auch Videoaufzeichnungen aus dem Unterricht herangezogen werden (Hein 2008). Zur Umsetzung des sprachsystematischen Konzeptes benötigen die Lehrerinnen und Lehrer entsprechendes fachliches Wissen und eine flexible fachdidaktische Kompetenz, da dies die Grundlagen für die Qualität des Unterrichts und damit für dessen Erfolg sind. In der Wiederholungsstudie werden die Lehrkräfte in Lehrerfortbildungen mit dem Konzept vertraut gemacht und es werden Unterrichtsmaterialien bereitgestellt (vgl. Blatt 2007a, b). Im Unterricht kommt es darauf an, die sprachsystematische Arbeit in das Lesepatenmodell zu integrieren und das erworbene Strukturwissen zur Texterschließung zu nutzen. Die Ergebnisse der HeLp-Studien können einen Beitrag zur Entwicklung eines lernbereichsübergreifenden, graphematisch basierten Deutschunterrichts im Sinne von Eisenberg und Fuhrhop erbringen: „Die Rechtschreibdidaktik wird zur Schreibdidaktik, natürlich in Verbindung mit einer Didaktik des Lesens. Damit öffnet sie sich den sprachlichen Regularitäten anstelle von Faust- und Ad-hoc-Regeln.“ (Eisenberg/Fuhrhop 2007: 18)
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Larissa Hoitz
Das Spiel als Lernmittel im Deutschunterricht Theorie, Praxis und Empirie am Beispiel eines Rechtschreibund Lesespiels
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Spielen und Lernen
Nach Scheuerl (121994) zeichnet sich das Spiel durch sechs Merkmale aus: Freiheit, innere Unendlichkeit, Scheinhaftigkeit, Ambivalenz, Geschlossenheit und Gegenwärtigkeit. In Bezug auf das spielerische Lernen wird insbesondere der Aspekt „Freiheit“, der eine externe Ziel- und Zweckgebundenheit ausschließt, kontrovers diskutiert. Konträre Positionen bezüglich der Frage, ob und wie der Einsatz des Spiels als Lernmittel im Unterricht gerechtfertigt werden kann, finden sich in der Literatur der letzten dreißig Jahre. Dabei konzentriert sich die wissenschaftliche Diskussion vor allem auf die „Phänomenologie des Spiels“ und auf Betrachtungen unter psychoanalytischen, sozial-psychologischen und entwicklungspsychologischen Aspekten (vgl. Flitner 112002). Das Verhältnis zwischen Spiel- und Lernprozessen 1 wird ebenfalls kontrovers diskutiert. Dabei finden sich u. a. die folgenden Positionen:2 – Spielen und Lernen sind strukturell verschieden und als voneinander getrennte Tätigkeiten zu betrachten. – Spielen und Lernen sind kongruente Handlungen. – Das Spiel wird von Lernprozessen begleitet. – Das Verhältnis zwischen Spielen und Lernen ist variabel.
Die Befürworter des Spiels als Lernmedium unterstützen die These, dass das Spielen sowohl motorische und kognitive als auch emotionale und soziale Fähigkeiten fördern kann. Ob Lernprozesse tatsächlich initiiert werden, hängt jedoch von der Art und Intention des Spiels ab. 3 Grundsätzlich kann jedoch
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Lernen soll in diesem Beitrag im Sinne des Kognitivismus verstanden werden. Demnach wird Lernen als Vorgang begriffen, bei dem der Lernende aktiv und selbstständig Informationen verarbeitet. Vgl. hierzu ausführlicher Hoitz (2008). So werden motorische Fähigkeiten durch Bewegungs- und Erkundungsspiele, Denkprozesse durch Lern- und Konzentrationsspiele gefördert. Soziale Prozesse
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Larissa Hoitz
davon ausgegangen werden, dass Spiele insbesondere motivationale und volitionale Vorgänge sowie eine positive Einstellung zum Fach bzw. Lerngegenstand und die Ausdauer unterstützen; Faktoren, die bei Lernprozessen wichtige Rollen spielen.
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Das Lernspiel als besondere Lernform
Unter dem Begriff „Lernspiel“ werden Spielformen zusammengefasst, die in Lehr- und Lernprozesse eingebunden sind. Im Gegensatz zur traditionellen Spieldefinition, die das Spiel als freie Tätigkeit beschreibt, wird vom Lernspiel ausdrücklich gefordert, dass sich der Spielende Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten aneignet. Dabei wird versucht, die Vorteile des Spielens mit systematischem Lernen zu verknüpfen: „Mit dem Begriff Lernspiel wird [...] versucht, Bestimmungsstücke des Spielbegriffs und des Lernbegriffs zusammenzubringen, nämlich Spielfreude und intrinsische Motivation einerseits und Lernintention in einem bestimmten Lernzielbereich andererseits“ (Einsiedler 1999: 69). Das Potenzial des Spiels für den Lernprozess der Schülerinnen und Schüler wird vor allem von Kluge betont. Beim Einsatz im Unterricht müsse jedoch eine Überbetonung des Lerngegenstandes verhindert werden, da sonst die Merkmale des Spiels (vgl. Scheuerl 121994) verloren gingen. Die Lernintention dürfe beim Lernspiel nur als „Nebeneffekt“ auftreten (Kluge 1981: 54). Einsiedler entkräftet den Instrumentalisierungsvorwurf, indem er anmerkt, dass das außerschulische Spiel von dem Einsatz von Lernspielen im Unterricht nicht beeinträchtigt werde. Er fordert explizit eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Spiel als Lernmedium: „Die Erkenntnisse über die Funktion des Motivationalen und des Emotionalen im Spiel sowie über die Auswirkungen sind eher ein Anlass, noch mehr Verbindungen zwischen Spielelementen und Lehr-Lern-Prozessen aufzuspüren.“ (Einsiedler 1999: 72)
werden insbesondere durch die Verständigung mit den Mitspielern über Regeln und Ablauf des Spiels gefördert (vgl. Warwitz/Rudolf 22004).
Das Spiel als Lernmittel im Deutschunterricht
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Das Lernspiel „Schule“ 4
„Schule“ ist ein Brettspiel, bei dem rechtschriftliche Aufgaben bearbeitet werden. Es basiert auf der sprachsystematischen Modellierung der Rechtschreibkompetenz und ihres Erwerbs (vgl. Hinney 1997, Blatt 2007a, Blatt und Hinney i. d. B.). Im Rahmen des Hamburger Leseförderprojekts (HeLp 2006/07) wurde „Schule“ im Zusammenhang mit einer additiven Förderung (s. u.) einer Schülerin und eines Schülers von der Autorin entwickelt und erprobt. Im Rahmen der sprachsystematischen Förderung wird davon ausgegangen, dass das Wissen, das durch die Betrachtung der Rechtschreibung und Grammatik erworben werden kann, Auswirkungen auf den Leseprozess und die Rechtschreibung hat (vgl. Blatt/Müller/Voss i. d. B.). Die Schülerinnen und Schüler erhalten Gelegenheit, das System der Schriftsprache eigenaktiv zu entdecken und für den Leseprozess und für den Ausbau der Rechtschreibfähigkeit zu nutzen. Inhalte der sprachsystematischen Förderung sind die Kernbereiche der Wort-, Satz- und Textebene. Durch altersspezifische Differenzierungsmöglichkeiten kann das Lernspiel „Schule“ in den Klassenstufen 3–6 und in allen Schulformen eingesetzt werden. Voraussetzung ist, dass die Schülerinnen und Schüler zuvor Wissen über die Systematik der Rechtschreibung im Sinne des sprachsystematischen Ansatzes erworben haben. Die Spieldauer ist variabel und wird von den Spielern im Vorfeld festgelegt. Das Lernspiel „Schule“ kann problemlos durch Spielkarten mit zusätzlichen Aufgabenstellungen erweitert werden. Ein Kontrollheft bietet den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, selbstständig die gefundenen Lösungen zu überprüfen und bietet Raum, eigene Lösungsvorschläge einzutragen. Die Aufgabenstellungen im Lernspiel „Schule“ wurden in Anlehnung an das „Lernheft Rechtschreiben – Grundlagen“ von Blatt (2007a) erstellt. Dort werden die Bereiche Laut und Silbe, Ein- und Zweisilber, Wortteile und Wortarten und -familien mit Lern-, Übungs- und Testaufgaben ausführlich behandelt (vgl. Blatt i. d. B.). Im Gegensatz zur Aufgabenstellung auf Arbeitsblättern weisen die Aufgabenkarten des Lernspiels „Schule“ strukturbedingte Besonderheiten auf.
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„Schule“ steht für „Schreiben und Lesen“ und bezieht sich auf ein Hamburger Förderprojekt für lese- und rechtschreibschwache Schüler/innen (siehe unter http://www.erzwiss.uni-hamburg.de/Personal/Blatt/AUL.htm). Die in diesem Rahmen entwickelten Rechtschreibfördermaterialien wurden auch in dem Hamburger Leseförderprojekt HeLp 2006/07 und 2007/08 zur additiven und integrativen Förderung eingesetzt (Blatt et al. 2008, Blatt 2007a, b).
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Larissa Hoitz
Arbeitsblätter können aus mehrteiligen Aufgabenstellungen zu einem Lernbereich bestehen und sich auf einen längeren Text beziehen (siehe Beispielaufgabe „Lernheft Rechtschreiben – Grundlagen“), während die Größe der Aufgabenkarten des Lernspiels nur eine Fragestellung erlaubt. Ebenso beziehen sich die Aufgaben im Lernspiel nicht auf einen zusätzlichen Text, sondern sind kontextunabhängig formuliert. Beispielaufgabe „Lernheft Rechtschreiben – Grundlagen“ Lernaufgaben: Wortbildung mit Präfixen a) Lies die folgende Geschichte: Vom An und vom Aus Ein An und ein Aus gehen spazieren und treffen ein Machen, ein Lachen, ein Stehen, ein Sagen und ein Sprechen. Sie wollen gern mit ihnen weitergehen und fragen höflich, wen sie begleiten dürfen. Das Machen antwortet: „Liebes Aus, komm bitte mit mir, denn ich möchte lieber mit jemandem etwas ausmachen als jemanden anmachen.“ Das Lachen dagegen entscheidet sich für das An und spricht: „Ich möchte viel lieber jemanden anlachen als auslachen.“ Aber das Stehen will keines von beiden, da es weder irgendwo anstehen noch etwas ausstehen möchte. „Ich“, meint daraufhin das Sagen, „bin noch sehr unschlüssig. Es kommt einfach darauf an, was ich im Radio oder im Fernsehen ansagen oder vor Gericht aussagen muss.“ „Wie schwierig du bist“, mischt sich das Sprechen ein, „ich möchte nette Leute ansprechen und finde es auch gut, wenn sich Menschen aussprechen.“ b) Bilde neue Verben, indem du Präfixe aus der Übersichtstafel anfügst wie in dem Beispiel. Verwende ein Präfix nur einmal: Präfix ab
Stamm komm komm komm
Endung en en en
ganzes Wort Abkommen
Die Beispielaufgabe aus dem „Lernheft Rechtschreiben – Grundlagen“ (Blatt 2007a) wurde im Lernspiel „Schule“ durch folgende beispielhafte Aufgabenstellung umgesetzt: Finde drei Präfixe für dieses Wort. laufen
Das „Lernheft Rechtschreiben – Grundlagen“ bietet zusätzlich zu den Lern-, Übungs- und Testaufgaben Erklärungen und Beispiele.
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Während Arbeitsblätter – neben Partnerarbeitsphasen – auch zur Einzelarbeit eingesetzt werden können, kann das Lernspiel „Schule“ nur gelingen, wenn sich die Schülerinnen und Schüler selbstständig schon während des Lösungsprozesses über die Lerninhalte austauschen. Außerdem erhalten sie sofortige Rückmeldung über den Lernstand. Das Lernspiel „Schule“ liefert ausschließlich Aufgaben zur Wortschreibung. Es bietet Möglichkeiten, Lerninhalte zur Analyse von Wortstrukturen und zur Synthese von Struktureinheiten zu üben, zu festigen und anzuwenden. Die Spielenden sollen dadurch lernen, die strukturbedingten Regularitäten der Schreibung sicher zu erkennen und den Wortschatz zu erweitern. Auf der Basis des prototypischen Zweisilbers, flektierter Wortformen sowie abgeleiteter und zusammengesetzter Wörter sollen Kenntnisse über die silbische Schreibung (Vokalhaltigkeit von Silben, Vokallänge, Silbenanfangsund Endränder, morphologische Konstanz) und deren Anwendung gefestigt werden. Die Aufgabenkarten wurden im Anschluss an Ergebnisse der IGLU-EStudien zur Rechtschreibung in drei unterschiedlich schwierige Anforderungsbereiche eingeteilt, die jeweils farbig markiert wurden (Voss/Blatt/ Kowalski 2007, Löffler/Meyer-Schepers 2005). Die Aufgaben zum Alphabet und zum Silbenschnitt sind grün markiert. Es wird angenommen, dass sie für die Schüler einfach zu lösen sind. Tab. 1: Beispielaufgaben – Grün (d. h. Schwierigkeitsgrad: leicht) Aufgabenstellung Welche Buchstaben stehen für Mitlaute und welche für Selbstlaute? (z. B.: n e s y l i b d) Wie viele Silben haben folgende Wörter? (z. B.: Ampel, Baum, Lokomotive) Haben die Wörter eine offene Silbe, eine geschlossene Silbe oder ein Silbengelenk? (z. B.: backen, Schule)
Lernbereich Als Basis für die Silben- und Wortarbeit sollen die Schüler lernen, Vokale und Konsonanten voneinander zu unterscheiden. Bei der Silbenarbeit lernen die Schüler, dass jede Silbe einen Silbenkern besitzt, der ein Vokal, Umlaut oder ein Diphthong sein kann. Die Schüler lernen hier, dass offene Silben mit einem Vokal und geschlossene Silben mit einem Konsonanten enden.
Aufgaben zu den Wortarten und Wortfamilien zur Festigung des Morphemkonstanzprinzips werden einem mittleren Schwierigkeitsniveau zugeordnet und sind im Lernspiel „Schule“ auf gelbe Karten gedruckt.
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Tab. 2: Beispielaufgaben – Gelb (d. h. Schwierigkeitsgrad: mittelschwer) Aufgabenstellung Finde ein Adjektiv und ein Substantiv, die zu diesem Wort passen. (z. B.: malen)
Finde fünf Wörter, die in diese Wortfamilie passen. (z. B.: springen)
Lernbereich Die Schüler sollen hierbei den sicheren Umgang mit der Einteilung des Vokabulars in Wortarten lernen. Sie können bei diesen Aufgaben erkennen, dass verschiedene Wortarten zu derselben Wortfamilie gehören können. Bei diesem Aufgabentyp können die Schüler mit Suffixen, Präfixen und unterschiedlichen Wortarten arbeiten und so ihren Wortschatz erweitern.
Rote Karten beinhalten für Schülerinnen und Schüler vermutlich schwierige Aufgaben, bei denen sie Wörter zu vorgegebenen Suffixen und Präfixen und zu Wortteilen mit Silbenanfangsrändern bilden müssen. Tab. 3: Beispielaufgaben – Rot (d. h. Schwierigkeitsgrad: schwer) Aufgabenstellung Finde drei Wörter mit diesen Wortbausteinen. (z. B.: ab-, be-, durch-) Finde drei Präfixe für dieses Wort. (z. B.: laufen) Finde drei Wörter mit diesen Wortteilen! (z. B.: -isch-, -ingen-, -ell-) Finde für jeden Wortbaustein ein Wort. (z. B.: -voll, -los, -lich) Welche zwei Wörter enden so? (z. B.: -rk, -mpf) Finde zwei Wörter, die so beginnen. (z. B.: chr-, kn-)
Lernbereich Hier werden Präfixe als Wortbildungsmorpheme angeboten. Die Schüler können dabei lernen, wie Präfixe die Wortbedeutung verändern können. Durch das Anfügen von Präfixen ändert sich die Wortbedeutung. Auch dieser Aufgabentyp kann zur Wortschatzarbeit gezählt werden. Die Wortteile können am Anfang, in der Mitte und am Schluss eingesetzt werden. Die Schüler können bei diesen Aufgaben erkennen, dass die Suffixe häufig die Wortart anzeigen können. Diese Aufgaben sind Bestandteil der Wortschatzarbeit. Zum Lösen muss der Wortschatz mobilisiert werden. Bei diesem Aufgabentyp werden Silbenanfangsränder vorgegeben. Sie sind gut zur Arbeit mit Wörterbüchern geeignet und dienen dem Aufbau des Wortschatzes.
Das Spiel als Lernmittel im Deutschunterricht
3.1
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Lernchancen
Das Lernspiel „Schule“ wurde mit dem Ziel eingesetzt, insbesondere die Motivation, das Verstehen und das Behalten zu fördern. Die Schülerinnen und Schüler können beim Spielen soziale Eingebundenheit, die eine Bedingung für die Ausbildung intrinsischer Motivation ist, erleben (vgl. Deci/Ryan 1993). Auch die sofortige Rückmeldung der eigenen Leistung kann einen Spiel- und Lernanreiz bieten (vgl. Abraham et al. 1998). Durch die Selbstkontrolle mit Hilfe des Lösungskontrollheftes und Hilfen und Verbesserungsvorschläge der Mitspieler kann durch das Spielen das Gefühl der Eigenverantwortlichkeit für den Lernprozess gesteigert werden (vgl. Abraham et al. 1998). Auch dies kann motivationssteigernd wirken. Da es sich beim Lernspiel „Schule“ um ein Partner- bzw. Gruppenspiel handelt, kann der erforderliche Austausch mit den Mitschülern und Mitschülerinnen zur Reflexion über Sprache anregen. Dabei können die Kinder selbstständig erkennen, welche Lernbereiche sie schon gut beherrschen, wo noch Schwierigkeiten vorliegen und wo Übungsbedarf besteht. Durch die Konkurrenzsituation, die während des Spielens entsteht, werden sie zudem aufgefordert, nicht nur über die eigenen Antworten nachzudenken, sondern auch die Antworten der Mitspieler zu überprüfen. Außerdem haben die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, am Lösungsprozess der Mitschüler teilzuhaben und sich Lösungsstrategien durch die Beobachtung der Mitspieler anzueignen. Darin unterscheidet sich die Lernsituation beim Lernspiel von der Bearbeitung von Arbeitsblättern. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die Aufgabenreihenfolge durch das Ziehen der Karten bestimmt wird und somit zufällig ist. Daher ist das Lernspiel weniger für das Erlernen der sprachsystematischen Grundlagen geeignet, da dafür die Bearbeitung der Aufgaben in systematisch aufeinander bezogenen Themenblöcken sinnvoll erscheint. Es ist vielmehr für die Anwendung und Festigung sowie für die selbstständige Vertiefung gedacht.
3.2
„Schule“ in der Schule – Einsatz des Lernspiels im Rahmen der HeLp-Studie
Das Hamburger Leseförderprojekt (HeLp) wurde von den Universitäten Hamburg (Arbeitsbereich Didaktik der deutschen Sprache und Literatur) und Dortmund (Institut für Schulentwicklungsforschung) in Kooperation mit dem Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung organisiert und wissenschaftlich begleitet. HeLp zielt auf das aktive Entdecken des deutschen Schriftsprachsystems durch Schülerinnen und Schüler der 5. Klasse, wobei der Schwerpunkt auf der Leseförderung liegt (vgl. Blatt/Müller/Voss 2007).
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Das didaktische Konzept wird sowohl durch integrative als auch durch additive Förderansätze umgesetzt. Dabei stellt das Lesepatenmodell die integrative Maßnahme, die zusätzliche sprachsystematische Förderung von ausgewählten Schülerinnen und Schülern durch geschulte Studentinnen und Studenten die additive Maßnahme dar (Blatt et al. 2008; vgl. Blatt/Müller/ Voss i. d. B.). Das Lernspiel „Schule“ wurde innerhalb der additiven Förderung einer Schülerin (Jenny) und eines Schülers (Jan) 5 eingesetzt und in einer Fallanalyse ausgewertet (vgl. Hoitz 2008). Die Förderstunden fanden zwischen Januar und Februar 2007 zusätzlich zum regulären Deutschunterricht zweimal, zwischen Mai und Juli 2007 einmal wöchentlich statt, wobei die gesamte Förderstundenanzahl bei zwanzig Schulstunden lag. In etwa 50 % der Förderzeit wurde das Lernspiel „Schule“ eingesetzt. Da die additive Förderung neben Einblicken in die sprachsystematischen Strukturen der deutschen Sprache auch die Verbesserung der Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler ermöglichen sollte, wurde die restliche Zeit für die Lektüre von literarischen Texten und mündliche Übungen und Aufgaben zu Wortschatz, Morphologie und Syntax genutzt. Vor dem Einsatz des Spiels wurden die sprachsystematischen Grundlagen in den drei oben ausgewiesenen Schwierigkeitsbereichen mit den beiden Förderschülern erarbeitet. Dazu wurden teilweise Arbeitsblätter genutzt. Anschließend wurde das Lernspiel „Schule“ eingesetzt, um diese Bereiche zu festigen. Dazu wurden zunächst nur Aufgabenkarten aus einem Schwierigkeitsbereich ausgewählt. Erst im Verlauf der Förderung wurde mit allen Karten gespielt. Die Datengrundlage für die Ergebnisdarstellung liefern Beobachtungsprotokolle, die im Anschluss an jede Förderstunde angefertigt wurden. Dabei lag der Beobachtungsschwerpunkt darauf, welche Lernvoraussetzungen die beiden Förderkinder mitbrachten, welche Verstehensschwierigkeiten sie hatten, wie sich ihre Motivation, Lernhaltung und Leistung entwickelte und worauf dies zurückzuführen sein könnte. Sowohl Jenny als auch Jan kommen aus deutschsprachigen Familien. Dennoch zeigte sich zu Beginn der Förderung, dass die Sprachkompetenz der beiden nicht altersgemäß ausgeprägt war. Besonders bei Jan waren Wortschatz und syntaktisches Wissen sehr eingeschränkt. So war ihm z. B. die Wortbedeutung von Welpe, Wrack und Scheune nicht bekannt. Freies Sprechen und Vorlesen fielen ihm schwer. Seine Arbeitshaltung war wenig produktiv. Jan ließ sich häufig ablenken und war zu Beginn unkonzentriert und demotiviert.
––––––– 5
Die Namen der Schülerin und des Schülers wurden durch die Verfasserin geändert.
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Auch Jenny fiel es schwer, längere Texte vorzulesen. Dies lag insbesondere daran, dass sie sich nur schwer über einen längeren Zeitraum konzentrieren konnte. Las sie zu Beginn des Textes noch langsam, aber flüssig, so fing sie schon nach wenigen Minuten an, die Wortenden bzw. ganze Wörter zu erraten. Auch beim Lernspiel „Schule“ schweifte sie anfangs gern ab, indem sie z. B. die Aufgaben zum Anlass nahm, über eigene Erlebnisse und Erfahrungen zu berichten. So führte zum Beispiel die Aufgabe „Haben die Wörter eine offene Silbe, eine geschlossene Silbe oder ein Silbengelenk? (siegen, Schwester)“ dazu, dass Jenny lange über ihre eigene Schwester und die nahende Geburt ihres Bruders berichtete. Auf der Grundlage der Protokollanalysen wurde untersucht, ob bzw. inwieweit das Lernspiel den Förderkindern die oben ausgeführten Lernchancen eröffnen konnte. Im Folgenden werden die einzelnen Bereiche, in denen sich Entwicklungen beobachten ließen, näher erläutert und mit Beispielen belegt. Motivation und Ausdauer Zu Beginn der Förderung äußerten sich Motivationsschwierigkeiten der Schülerin und des Schülers insbesondere dadurch, dass sie wiederholt fragten, wann die Förderstunde zu Ende sei. Außerdem kam es häufiger vor, dass insbesondere Jan versuchte, sich durch Malen abzulenken. Bei Übungen mit Arbeitsblättern und der Lektüre von kurzen Geschichten klagten Jenny und Jan häufig über Unlust und Müdigkeit. Dies änderte sich auch nicht, als Geschichten gelesen wurden, die Themen aus dem vorher erfragten Interessengebiet der Schülerin und des Schülers behandelten. Nach der Einführung des Lernspiels „Schule“ stieg die Motivation in den Förderstunden stetig. Dies zeigte sich daran, dass sie häufig darauf bestanden, das Spiel auch über die reguläre Förderzeit hinaus bis zu einem vereinbarten Spielstand zu spielen. Überraschend war außerdem, dass beide zu zwei Förderterminen erschienen, an denen der reguläre Unterricht aufgrund der Hitze ausfiel bzw. nach einem Klassenausflug schulfrei war. Zu den Geburtstagen der Schülerin und des Schülers, die beide auf zwei Fördertermine fielen, wünschten sich die Kinder, in der Förderstunde ausschließlich zu spielen. Auch in der letzten Förderstunde baten Jenny und Jan, die gesamte Zeit spielen zu dürfen. Kommunikation und Verstehen Während Jenny schon zu Beginn der Förderung viel redete, sprach Jan nur nach Aufforderung. Häufig waren seine Äußerungen sehr kurz; teilweise antwortete er nur mit Ein-Wort-Sätzen. Außerdem fiel es ihm sehr schwer, metasprachliche Überlegungen zur Struktur der deutschen Sprache und Schrift in Worte zu fassen. Dies lag insbesondere an der nur gering ausgebildeten Fähigkeit, strukturierte Äußerungen zu bilden. Während des Spielens
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fing Jan jedoch an, mit der Mitspielerin über „richtige“ Lösungen zu diskutieren, wobei sich seine sprachlichen Äußerungen erheblich verbesserten. Dies zeigte sich zum einen darin, dass Jan zunehmend linguistische Fachbegriffe wie Wortartbezeichnung (Adjektiv, Verb, Substantiv) und morphologische Begriffe (Präfix, Suffix), die auf den Spielkarten genutzt wurden, zur Erläuterung seiner Antworten nutzte. Zum anderen begann Jan in vollständigen Sätzen nachzufragen, wenn er etwas nicht verstanden hatte. Während er zu Beginn der Förderung nur in kurzen Sätzen nachfragte und seine Verständnisschwierigkeiten nicht benennen konnte („warum?“), formulierte er später zum Beispiel Sätze wie „Ich weiß nicht, warum zwei l in Bälle stehen müssen“. Beim Spielen konnten außerdem Verstehensschwierigkeiten offengelegt werden. Jan konnte zu Beginn der Förderung teilweise zwar eine mögliche richtige Lösung nennen, hatte aber Schwierigkeiten, sie zu begründen. Ebenso wenig konnte er die Ursache für falsche Lösungen benennen. Die nötige Fähigkeit entwickelte sich jedoch im Verlauf der Förderung. Insbesondere wenn er z. B. Jennys Antwort korrigieren konnte und seine eigene Lösung erläutern sollte, gelang es ihm immer öfter, sein Wissen über sprachliche Strukturen in eigene Worte zu fassen. Dies zeigte sich daran, dass er zunehmend seine Aussagen kausal begründen konnte. Jan konnte zum Beispiel das Silbengelenk im Wort fassen und die Konsequenzen für die Rechtschreibung erläutern, d. h. einen Bezug zwischen der Aussprache des Vokals und der Notwendigkeit, die Silbe zu schließen, herstellen. Sowohl für die Förderlehrerin als auch für den Schüler selbst wurde dadurch offensichtlich, welche Lerngebiete er verstanden hatte und an welchen Stellen noch Verstehensprobleme bestanden. Im Gegensatz zur Förderung mit Arbeitsblättern, bei denen die Gespräche über Lerninhalte zum überwiegenden Teil durch die Lehrkraft angeregt wurde, fingen die Förderschüler bei der Arbeit mit dem Lernspiel schon nach kurzer Zeit an, selbstständig zu kommunizieren. Dies könnte auf die belebende Konkurrenzsituation beim Spielen zurückgeführt werden. Da jede richtige Lösung des Mitspielers zu einem Punkt für diesen führt, wurden die Antworten intensiv diskutiert und auf ihre Richtigkeit überprüft. Ein Beispiel hierfür ist die Aufgabe „Erkenne die Wortarten: Schönheit, hässlich, leben“. Jenny und Jan sprachen darüber, ob leben ein Verb oder ein Nomen sei. Jenny argumentierte, dass dies ein Nomen sein müsse, da man auch das Leben sagen könne, während Jan auf die Kleinschreibung verwies und es sich deshalb um ein Verb handeln müsse. Übungseffekte Die Einteilung der Spielaufgaben in drei unterschiedliche Schwierigkeitsbereiche konnte durch die Ergebnisse der Förderung großenteils bestätigt
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werden. Insbesondere die Aufgaben zu Alphabet und Silbenschnitt (grüne Karten) und die Aufgaben zu Wortarten und Wortfamilien (gelbe Karten) konnten von der Schülerin und dem Schüler relativ schnell und richtig beantwortet werden. Bestimmte Aufgaben im mittleren Schwierigkeitsbereich konnten auf unterschiedlichem Niveau gelöst werden. Dabei konnte beobachtet werden, dass die Schülerin und der Schüler häufig Wörter durch Präfigierung oder zusammengesetzte Wörter bildeten. Nur sehr selten bzw. erst nach Aufforderung versuchten sie auch passende Wörter mit Hilfe von Suffigierung zu finden. Ein Beispiel hierfür ist die Aufgabe „Finde fünf Wörter, die in diese Wortfamilie passen: kaufen“. Jenny und Jan konnten schnell Wörter durch Präfigierung wie einkaufen und abkaufen oder Komposita wie Kaufmann und Einkaufstasche bilden. Größere Schwierigkeiten hatten sie mit Suffigierungen wie bei käuflich. Dass Suffigierung an die beiden Förderkinder höhere Anforderungen stellte, zeigte sich auch bei den Aufgabenstellungen der dritten Schwierigkeitsstufe (rote Karten). Dies wurde sowohl in der Bearbeitungsgeschwindigkeit als auch in der Variabilität der Antworten deutlich. Zum Beispiel fielen Jan und Jenny bei der Aufgabe „Finde drei Wörter mit diesen Präfixen: an-, bei-, ent-“ erheblich schneller eine Vielzahl von Wörtern ein als bei den Aufgaben zur Suffigierung, wie zum Beispiel „Finde für jedes Suffix ein Wort (Adjektiv): -ig, -isch, -lich“. Auch die Hilfestellung, um welche Wortart es sich bei den Lösungswörtern handeln sollte, erleichterte die Aufgabenlösung nicht. Zu Beginn der Förderung mussten die Spielregeln an dieser Stelle sogar abgewandelt werden, sodass es schon für nur ein richtiges Lösungswort die volle Punktzahl gab. Durch die wiederholte Bearbeitung der Aufgabenkarten in den verschiedenen Lernbereichen konnten Übungseffekte beobachtet werden. Jan und Jenny gelang es zunehmend, auch die Aufgaben der höheren Schwierigkeitsstufen zu lösen, wie die Bildung von Wortfamilien. Hierzu zählen Aufgaben wie zum Beispiel „Finde fünf Wörter, die in diese Wortfamilie passen: springen“. Jenny und Jan hatten zu Beginn der Förderung einige Schwierigkeiten, fünf Lösungswörter zu finden. Meist wurde ausschließlich das Nomen genannt (z. B. der Sprung). Mit Hilfe von Wörterbüchern konnten Jenny und Jan weitere Lösungsideen wie z. B. Komposita (Sprungfeder, Hochsprung, Springbrunnen) nachschlagen. Jenny und Jan erbrachten auch Transferleistungen, indem sie die Prä- und Suffixe nutzten, die auf einer anderen Aufgabenkarte (gelb) angegeben waren. Dabei entdeckten sie zum einen, dass Suffixe die Wortart verändern können, wie zum Beispiel bei Mut und mutig. Dieses Wissen wandten sie wiederum für die Aufgabenstellung „Erkenne die Wortarten: Schönheit, hässlich, leben“ an. Die Transferleistung bestand darin, dass Jenny und Jan
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erkannten, dass zum Beispiel das Suffix -lich am Ende eines Wortes anzeigt, dass es sich um ein Adjektiv handelt, was orthografische Konsequenzen (Kleinschreibung) hat. Zum anderen konnten sie erkennen, dass durch verschiedene Präfixe die Wortbedeutung verändert wird. Dies nutzten Jenny und Jan z. B., um die Aufgabenstellung „Finde fünf Wörter, die in diese Wortfamilie passen: sagen“ zu lösen. Als Antworten nannten sie vorsagen, absagen, ansagen, aussagen, versagen, zusagen. Diese Aufgabenstellung konnte auch genutzt werden, um den Wortschatz der Schülerin und des Schülers zu erweitern, indem weitere Lösungen eingebracht wurden. Auf diese Weise lernten die beiden die Bedeutung der Wörter entsagen und nachsagen, die sie bis dahin nicht kannten.
4
Zusammenfassung und Ausblick
Das Lernspiel „Schule“ wurde im Rahmen der HeLp-Studie in der additiven Förderung zweier Gesamtschüler eingesetzt. Auf der Grundlage der beobachteten Lernentwicklungen konnte festgestellt werden, dass durch die spielerische Förderung die Motivation der Schülerin und des Schülers, das Verstehen und das Behalten gefördert werden konnte. Die Erhöhung der Motivation zeigte sich in einer längeren Aufmerksamkeitsspanne, weniger Ablenkungsmanövern, intensiverer Nutzung der gesamten Förderzeit und freiwilligem Erscheinen zu nicht obligatorischen Förderstunden. Diese Entwicklungen können auf die Spielsituation zurückgeführt werden. Eine produktive Konkurrenzsituation durch eine Gewinnmöglichkeit, die soziale Eingebundenheit und das soziale Lernen mit einem Partner konnten außerdem die intensive Kommunikation über die Lerninhalte fördern. Diese intensive Kommunikation zeigte sich in Diskussionen zwischen den Kindern über die sprachsystematischen Grundlagen der Wortschreibung. Dabei verbesserten sich die sprachlichen Äußerungen in Bezug auf die Verwendung von Fachbegriffen und die Vollständigkeit der Sätze. Die teilweise selbstständige Kommunikation zwischen den beiden konnte zusätzlich Verstehensschwierigkeiten offenlegen. Übungseffekte könnten durch die erhöhte Ausdauer der Schüler, die Reflexion der eigenen Verstehensschwierigkeiten und die damit verbundene Verstehensförderung sowie die kontinuierliche Arbeit mit den Aufgabenformaten des Lernspiels „Schule“ bedingt sein. Zusätzlich konnten auch Transferleistungen beobachtet werden, die sich insbesondere auf den Bereich Präfixe, Suffixe, Wortarten und Wortschatz bezogen.
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Ursula Bredel
Die satzinterne Großschreibung – System und Erwerb
In den letzten Jahren hat sich die Debatte um die Groß- und Kleinschreibung auch auf der Grundlage der Reform von 1996 und der Rereform von 2006 intensiviert. Es geht zum einen um eine angemessene Systemrekonstruktion, zum anderen um eine angemessene didaktische Modellierung. In beiden Bereichen stehen sich noch immer zwei Auffassungen gegenüber: Traditionelle Konzepte modellieren die Großschreibung und ihre Didaktik auf der Grundlage der Wortart Substantiv, neuere Konzepte modellieren beides auf der Grundlage der syntaktischen Funktion, die ein Wort im Satz hat. Im Folgenden werden beide Positionen vorgestellt und so aufeinander bezogen, dass der enge Konnex zwischen Substantivität und syntaktischer Funktionalität deutlich wird. Entsprechende Konsequenzen für eine Didaktik der satzinternen Großschreibung, in der auch Sonder- und Ausnahmefälle diskutiert werden, werden darauf aufbauend zur Diskussion gestellt.
1
Die satzinterne Großschreibung
1.1
Das System
Die grammatische Markierung syntaktischer Funktionen in Sätzen entwickelt sich im Vergleich zu anderen orthographischen Strukturierungsprinzipien recht spät. Noch im 11. Jh. n. u. Z. sind Texte mit durchgängiger satzinterner Kleinschreibung geläufig (vgl. Primus 2007), obwohl die systematische Unterscheidung zwischen Groß- und Kleinbuchstaben mit der Einführung der karolingischen Minuskel um 800 n. u. Z. möglich ist. Die Untersuchung von Bergmann und Nerius (1997), in der die Entwicklung der satzinternen Großschreibung rekonstruiert wird, startet um 1500, einer Zeit, in der sich der Buchdruck durchgesetzt hat und in der die Autoren zu Recht eine beschleunigte Entwicklung des Schriftsystems erwarten. Sie diagnostizieren in den frühesten Texten zunächst die Großschreibung von Eigennamen, an die sich die Großschreibung von Konkreta und Abstrakta anschließt. Darauf aufbauend werden Derivationen mit verbalen oder adjektivischen Basen erfasst, am Ende der Entwicklungskette stehen Konversionen.
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Ursula Bredel
In Bredel (2006) wurde diese Abfolge auf der Grundlage des Bootstrapping-Modells erfasst; angenommen wurde, dass spezifische Eigenschaften von bis zu einem bestimmten Zeitpunkt als großzuschreibend identifizierten Einheiten auf weitere Einheiten übertragen werden: So ist es eine Eigenschaft von Eigennamen, auf singuläre, sinnlich wahrnehmbare Objekte zu referieren. Dasselbe gilt für Konkreta, die in einem zweiten Schritt von der Großschreibung erfasst werden. Die Abstrakta teilen mit den Konkreta den Objektbezug, wobei nun nicht mehr sinnlich wahrnehmbare, aber häufig prinzipiell individuierbare Objekte betroffen sind. Außerdem sind die Abstrakta wie die Konkreta und die Eigennamen genusfest und flektieren nach Kasus und Numerus, gehören demnach derselben Paradigmenklasse an. Dieses Kriterium wird in einem nächsten Schritt als großschreibungsrelevant ausgefiltert und auf weitere Ausdrücke übertragen. Erfasst werden nun auch zunehmend substantivische Derivationen. Das lexikalische Kriterium der Substantivität ist somit vorläufig stabil. In einem letzten Schritt wird die syntaktische Großschreibung etabliert: Nun gilt nicht mehr Substantivität als Auslöser für Großschreibung, sondern die Funktion, die Substantive in Sätzen im prototypischen Fall übernehmen. Erfasst werden nun also auch syntaktische Konversionen (das viele Üben, sein beschädigtes Ich). Zugleich werden Substantive, die in einer anderen als in der Kernposition einer nominalen Gruppe stehen, zunehmend kleingeschrieben (mir wird angst; er ist pleite, kraft meines Amtes). Wird die satzinterne Großschreibung, wie dies üblich ist, als Markierung lexikalischer Eigenschaften (Substantivität) erfasst, müssen diese letzten Fälle gesondert geregelt werden. Entsprechend heißt es in den AR (242006), § 55: „Substantive schreibt man groß“; angeschlossen werden müssen die §§ 56 und 57: „Klein schreibt man Wörter, die formgleich als Substantive vorkommen, aber selbst keine substantivischen Merkmale aufweisen“ und „Wörter anderer Wortarten schreibt man groß, wenn sie als Substantive gebraucht werden (= Substantivierungen)“. Diese Regelformulierung entspricht einer langen, auch in der Orthographiedidaktik gepflegten Tradition, die kaum je in Zweifel gezogen wurde. Man schreibt die historisch vorletzte Entwicklungsstufe als Ausgangspunkt für eine Rekonstruktion der satzinternen Großschreibung fest. Erst mit Beginn der 1980er Jahre setzt eine Revision dieses Konzepts ein, die den letzten Schritt der Orthographieentwicklung auch theoretisch vollzieht und die satzinterne Großschreibung syntaktisch redefiniert (Eisenberg 1981, Maas 1992): Großgeschrieben werden Kerne von nominalen Gruppen. Die Frage, warum diese neue Konzeptualisierung nicht auch im neuen Regelwerk konsequent eingebracht wurde und warum auch an Schulen nach wie vor Substantivität als großschreibungsauslösendes Kriterium gelehrt und gelernt wird, ist damit jedoch nicht beantwortet.
Die Satzinterne Großschreibung – System und Erwerb
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Im Folgenden soll es darum gehen, den engen Konnex zwischen der lexikalischen Kategorie Substantiv einerseits und der syntaktischen Funktion des Nominalgruppenkerns andererseits herauszuarbeiten. Damit kann nicht nur plausibel gemacht werden, warum weder die Reformer noch die Schulen ihre Konzepte entsprechend umgestellt haben; es sollten sich daraus auch Vorschläge für eine angemessene didaktische Konzeptualisierung ergeben, die auf der Grundlage von Röber-Siekmeyer (1999) und Günther/Nünke (2005) zur Diskussion gestellt werden.
1.2
Was ist ein Substantiv?
Bei der Beschreibung von Wortartenkonzepten ist es üblich, lexikalische, syntagmatische, morphosyntaktische und syntaktische Eigenschaften zu unterscheiden. Als lexikalisch werden diejenigen Eigenschaften gefasst, die die kontextunabhängigen Invarianten von Ausdrücken erfassen; das sind semantische und bestimmte formale Eigenschaften. Substantive sind unter lexikalisch semantischer Perspektive Wörter mit Kennzeichnungsfunktion; damit passen sie in das Satzformat „dies ist ein x“, mit dem eine (mit dies) identifizierte Einheit gekennzeichnet wird (Stetter 1989). Unter lexikalisch formaler Perspektive sind Substantive Wörter mit festem Genus: Jedes Substantiv ist entweder ein Maskulinum oder ein Femininum oder ein Neutrum. Die lexikalischen Kriterien Kennzeichnungsfunktion und Genusfestigkeit unterscheiden Substantive von allen anderen Wortarten. Mit dem syntagmatischen Kriterium werden die Rektionspotenziale eines Ausdrucks erfasst, d. h. Wortarten werden danach erfasst, welche syntaktischen Mitspieler sie selegieren. Substantive regieren in der Regel mindestens Artikel und Attribute (die saubere Bluse). Weil die Eigenschaft, Artikel und Attribute zu regieren, der Kategorie Substantiv eigen ist (Substantivität ist ein hinreichendes Kriterium für Artikel- und Attributsfähigkeit), sprechen wir von kategorialer Rektion. Mit dem kategorial regierten Artikel wird die Art der referenziellen Bezugnahme angezeigt; wir unterscheiden definite (def) und nicht-definite (ndef) referenzielle Bezugnahmen. Nicht alle Substantive verhalten sich hier gleich. Unterschieden werden müssen mindestens Eigennamen (singuläre Referenz, z. B. Persien), Stoffnamen (nicht zählbar, z. B. Mehl) und Gattungsnamen (zählbar, z. B. Baum) (vgl. im Detail Eisenberg 22004). Die Verteilung der Artikelfähigkeit von Eigennamen, Stoffnamen und Gattungsnamen stellt sich im prototypischen Fall wie folgt dar:
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Ursula Bredel
Singular def n-def kein Artikel
Gattungsnamen der Baum ein Baum *Baum
Stoffnamen das Mehl *ein Mehl Mehl
Eigennamen *das Persien *ein Persien Persien
Gattungsnamen die Bäume -Bäume
Stoffnamen ----
Eigennamen ----
Plural def n-def kein Artikel
Mit Attributen werden Eigenschaftszuweisungen vorgenommen. Wir unterscheiden vier Typen: (1) adjektivisches Attribut (die beißende Kritik); (2) Präpositionalattribut (die Kritik an Heidegger); (3) Genitivattribut (die Kritik der reinen Vernunft); (4) Relativsatz (die Kritik, die an herkömmlichen Großschreibungskonzepten geübt wird). Auch hier unterscheiden sich die Substantive voneinander. Gattungsnamen sind weitgehend unrestringiert; für Abstrakta, die sich wie Stoffnamen verhalten und eher Sachverhalte als Objekte bezeichnen (Anstand, Ehre, Würde), ist es manchmal schwierig, einfache Adjektive zu attribuieren; Eigennamen sind auch formal wählerisch: weil mit ihnen eine singuläre Identifikation gegeben ist, sind Ausdrücke wie Frankreich am Meer eher unakzeptabel. Darüber hinaus müssen Eigennamen in bestimmten Fällen mit Artikel stehen, damit attribuiert werden kann (Peter fährt mit dem Boot; *Kleiner Peter fährt mit dem Boot; der kleine Peter fährt mit dem Boot). Bei Relativsätzen können nur die nicht-restriktiven artikellosen Eigennamen Eigenschaften zuweisen (Peter, der gar nicht schwimmen kann, fährt mit dem Boot; aber: Der Peter, der die schwarze Mütze trägt, …). Wir können also die Attribute unabhängig von ihrer Form in solche unterteilen, mit denen Eigenschaftszuweisungen vorgenommen werden, die das mit dem Substantiv genannte Objekt identifizieren (mengeneinschränkend), und solchen, die es spezifizieren (mengenerhaltend). Mengenerhaltende Attribute unterliegen insgesamt weniger Restriktionen als mengeneinschränkende. Unter morphosyntaktischen Kriterien werden die Flexionspotenziale von Wortarten gefasst: Substantive flektieren nach Numerus und Kasus. Auch hier verhalten sich die unterschiedlichen Substantivtypen verschieden: Eigennamen und Stoffnamen bilden i. d. R. keinen Plural, Gattungsnamen nehmen bis auf wenige Unterscheidungen eine Singular/Pluralunterscheidung vor. Sie können das aber nicht überall (*er steht Köpfe, *sie schwimmt brüste); ein deutlicher Indikator dafür, dass Substantive eine optimale Umgebung brauchen, um ihre substantivtypischen Potenziale entfalten zu können.
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Kasusrestriktionen gibt es für kein Substantiv; sie können sämtlich im Nominativ, im Genitiv, im Dativ und im Akkusativ auftreten. Allerdings ist dies kein stabiles Merkmal, mit dem Substantive identifiziert werden könnten: denn alle nominalen Wortarten flektieren nach Kasus (meist auch nach Numerus). Unter syntaktischer Perspektive werden die bevorzugten Funktionen bestimmter Wortarten in Sätzen gefasst. Substantive bilden (zusammen mit Artikel und Attribut) bevorzugt verbale Ergänzungen (Subjekte und Objekte) oder präpositionale Ergänzungen (auf der Mauer). Auch hier unterscheiden sich die verschiedenen Substantivtypen nicht voneinander. Die hier vorgelegte Beschreibung erlaubt eine Substantivdefinition, in deren Kernbereich alle diejenigen Substantive stehen, auf die alle genannten Kriterien zutreffen und an deren Rändern diejenigen, die in verschiedenen Hinsichten vom Prototyp abweichen. Im Kernbereich stehen sicherlich singular-/pluralfähige Gattungsnamen und dort die Klasse der Konkreta (Kopf, Brust, Haus, Stock, Baum, Hut etc.). Mit dieser positiven Bündelung aller Substantivitäts-Merkmale sollte somit alles für Großschreibung sprechen, und es ist daher nicht verwunderlich, dass die Didaktik, die sich auf Wortarten bezieht, normalerweise genau mit diesen Beispielen startet. Das Problem dieser Vorgehensweise ist aber ein dreifaches: 1. Die Schüler/Schülerinnen werden mit Merksätzen wie „Substantive schreibt man groß“ und „Substantive sind Wörter, die Dinge bezeichnen, die man sehen und anfassen kann“ (= Prototyp), die für sie nicht den Status des Vorläufigen haben, bei ihrer Großschreibungsentscheidung auf einen speziellen Fall festgelegt. Das heißt, dass Substantivität für die Lernenden dann nicht die Ausgangskategorie für weitere Differenzierungen bildet, sondern die Zielkategorie, die – einmal im Merksatz abgebunden – keine Modifikation mehr zulässt. 2. Weil den Schüler/innen alle anderen außer dem semantischen Kriterium vorenthalten werden, binden sie die Großschreibung an die Bedeutung von Ausdrücken. 3. Mit dem semantischen Kriterium fixieren sie die Großschreibung zugleich ausschließlich an eine lexikalische Kategorie. Damit werden sowohl methodisch als auch didaktisch die Weichen so gestellt, dass die gesamte weitere curriculare Anstrengung darin besteht, diesen initialen Fehler zu revidieren: Zunächst geht es dann meist darum, die Großschreibung von Abstrakta einzustudieren. Damit wird sowohl die semantische als auch die kategoriale Sichtweise ein zweites Mal im Schülerwissen verankert. In den Folgejahren müssen die Schüler/innen ihr bis dahin erworbenes Regelwissen immer weiteren Revisionen unterziehen: denn in der Sekundarstufe I lernen sie, dass die kategoriale Zuordnung (Substantiv) nicht unbedingt zur Großschreibung führt (er steht kopf) und dass die Großschreibung nicht unbedingt an die Kategorie Substantiv gebunden ist (sein fleißiges
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Ursula Bredel
Üben). Die insgesamt schlechten Ergebnisse im Bereich der Großschreibung (Menzel 1985) sind auf diesem Hintergrund nicht verwunderlich.
1.3
Substantivierung und Desubstantivierung
Folgt man den AR (242006), werden Wörter anderer Wortarten dann großgeschrieben, wenn sie „als Substantive gebraucht werden“. Weiter heißt es, „[s]ubstantivierte Wörter“ nähmen „Eigenschaften von Substantiven an“ (AR 24 2006: 1188). Um welche Eigenschaften geht es? Zwar geben die AR hier keine Antwort, weisen aber Merkmale aus, an denen Substantivierungen erkennbar sein sollen. Das sind a) ein vorangehender Artikel, b) ein Attribut und c) die Funktion als „kasusbestimmtes Satzglied oder kasusbestimmtes Attribut“. Vergleicht man die gegebenen Merkmale mit den oben für Substantivität angegebenen Kriterien, sind es die syntagmatischen (Artikel- und Attributfähigkeit) sowie die syntaktischen (Satzglied) Eigenschaften von Substantiven, die die sog. substantivierten Wörter von ihnen erben. Implizit in Kriterium c) angesprochen ist die Morphosyntax (kasusbestimmt); nicht angesprochen werden die lexikalischen Eigenschaften (Kennzeichnungsfunktion und Genusfestigkeit). Es sind also genau diejenigen Eigenschaften großschreibungsauslösend, die in der ersten didaktischen Zugriffsweise gerade nicht thematisch werden; umgekehrt gilt, dass die Semantik, die in der Erstdidaktik prominent gesetzt wird, ausgerechnet dasjenige und – wie sich noch zeigen wird – sogar das einzige Merkmal ist, das bei der sog. Substantivierung überhaupt keine Rolle spielt. Einmal mehr werden die schlechten Ergebnisse, von denen Menzel (1985) berichtet, plausibel. Für eine genauere Bestimmung der sog. Substantivierung sehen wir uns die Verhältnisse innerhalb von nominalen Gruppen an, also in denjenigen syntagmatischen Strukturen, in deren Kern normalerweise ein Substantiv zu finden ist (der kahle Baum). Als Kern wird das Substantiv in diesen Konstruktionen deshalb bezeichnet, weil es die Restglieder in der Gruppe grammatisch determiniert. Dies ist auf zwei Ebenen der Fall: Zum einen erlaubt es qua Substantivität das Auftreten von Artikel und Attribut (s. o.); zum anderen weist es ihnen ihr Genus zu. Die Genusfestigkeit des Substantivs zwingt Artikel und Attribut zur grammatischen Anpassung. Bei der sog. Substantivierung erbt diejenige Einheit, die an der Position des Substantivs steht, genau die substantivischen Merkmale, die es erlauben, eine nominale Gruppe zu etablieren. „Substantivierte Wörter“ sind also solche, die Artikel und Attribut regieren: Sie lizenzieren deren Auftreten und legen ihr Genus fest. Die Etablierung einer nominalen Gruppe führt zugleich dazu, dass sie für spezifische syntaktische Funktionen bereit stehen, die in
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Kriterium c) der AR (242006) genannt sind und die oben unter syntaktischen Kriterien diskutiert wurden: Sie bilden normalerweise verbale (hasst das ständige Üben) oder präpositionale Ergänzungen (mit dem ständigen Üben). Damit wäre die satzinterne Großschreibung auch in lesepsychologischer Hinsicht motiviert: So wie die satzinitiale Großschreibung den Leser auf eine spezifische Verrechnungsepisode bei der globalen syntaktischen Sprachverarbeitung verweist (beginne mit einer neuen syntaktischen Konstruktion), verwiese die satzinterne Großschreibung den Leser lokal auf die Etablierung spezifischer Satzgliedtypen (Ergänzungen; sachverhaltskonstituierende Adverbialbestimmungen; vgl. Bock/Hagenschneider/Schweer 1989 und Gfroerer/Günther/Bock 1989). Auf der Basis des bislang Ausgeführten lässt sich die Desubstantivierung beschreiben als Verwendung von Substantiven außerhalb von nominalen Gruppen. In Konstruktionen wie er ist pleite, mir wird angst oder er steht kopf verlieren die Substantive ihr Potenzial zur Rektion von Artikeln/Attributen (*er ist die große pleite, *es wird mir eine große angst, *er steht einen kühlen kopf). Es resultiert Kleinschreibung. Zugleich sind die Substantive hier nicht verbale oder präpositionale Ergänzungen, sondern entweder Prädikative (pleite, angst) oder Verbbestandteil (kopf), weshalb in diesem letzten Fall Zusammenschreibung in Kontaktposition zwingend geboten ist. Auf der Grundlage der vorangegangenen Überlegung kann man auf das Kriterium der Substantivität als großschreibungsrelevante Kategorie völlig verzichten; richtiger sollte es heißen: Großgeschrieben werden attribuierbare Ausdrücke.
1.4
Grenzfälle und Ausnahmen
Bedauerlicherweise hat die Reform von 1996 (und ihre Revision von 2006) dieses Kriterium weder in ihrer expliziten Kodifizierung aufgegriffen noch für die Reformierung selbst genutzt. Statt des Merkmals Attributsfähigkeit hat die Kommission sich dafür entschieden, Artikel- oder Attributsfähigkeit als Auslöser für die Großschreibung anzusetzen; es muss daher bei Artikelhaltigkeit, aber fehlender Attributsfähigkeit großgeschrieben werden: (a)
im Allgemeinen im Wesentlichen im Folgenden des Weiteren
Kasusbestimmtheit (Kriterium c nach AR 242006, s. o.) wurde in der Reform von 1996 nicht durchgängig als großschreibungsauslösend identifiziert; die
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Rereform von 2006 hat sie als möglichen Großschreibungsauslöser identifiziert, weshalb nun Schreibweisen wie unter (b) (iii) möglich sind: (b)
(i) vor 1996 ohne weiteres bei weitem bis auf weiteres
(ii) nach 1996 ohne weiteres bei weitem bis auf weiteres
(iii) seit 2006 ohne W/weiteres bei W/weitem bis auf W/weiteres
Ein dritter, schon immer problematischer Fall sind feste Wendungen wie auf dem T/trockenen sitzen, im T/trüben fischen oder ins R/reine bringen. Hier war vor der Reform Groß- oder Kleinschreibung möglich, je nachdem, ob die „substantivische Vorstellung überwiegt“. Diese unbefriedigende Regelung haben die Reformer vereindeutigt; fortan müssen die substantivähnlichen Ausdrücke in diesen Konstruktionen großgeschrieben werden. Die Artikelfähigkeit scheint auch hier der wesentliche Auslöser zu sein. Geschwächt wird einmal mehr das systemnahe Kriterium der Attributsfähigkeit. Obwohl die Reform nicht in den Kernbereich eingegriffen hat, wurden mit Fällen wie den hier aufgeführten eine Deregulierung und wohl auch eine DeFunktionalisierung der satzinternen Großschreibung am Rande des Systems vorangetrieben. Unter historischer Perspektive kann von einem Entwicklungsrückschritt gesprochen werden.
2
Der Erwerb der satzinternen Großschreibung
2.1
Learnability
In der Sprachwissenschaft gilt es als ausgemacht, dass die Aneignung sprachlichen Könnens vom System induziert ist, das angeeignet wird. Learnability ist daher in seriösen sprachwissenschaftlichen Konzepten immer auch ein Gütekriterium für die Gegenstandsmodellierung. Manche gehen sogar so weit zu behaupten, spezifische Strukturen menschlicher Sprachen seien auf den Erwerbsprozess selbst zugeschnitten (Deacon 1997). Damit würde nicht das zu lernende System das Lernersystem strukturieren, sondern umgekehrt würden Lernersysteme das zu lernende System definieren: „Die Notwendigkeit, von Kleinkindern mit begrenztem Arbeitsgedächtnis und nicht-automatisierter Sprachverarbeitung stets aufs Neue rekonstruiert zu werden, ist der entscheidende Flaschenhals in der Entwicklungsgeschichte der Klasse der Grammatiken.“ (Fanselow 2002: 259). Die Orthographiereformer müssen wohl in eine solche Richtung gedacht haben, als sie an den orthographischen Fehlerschwerpunkten angesetzt haben, also an solchen
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Phänomenen, die offenbar nur schwer gelernt wurden, und diese Phänomene vermeintlich im Sinne der Lerner umdefiniert haben. Das prägnanteste und möglicherweise weitreichendste Beispiel hierfür ist die Kommasetzung bei erweiterten Infinitiven bzw. Partizipien, eine der Hauptfehlerquellen beim Schreiben, die durch Freistellung nun nicht mehr als Fehler gilt. Aber auch bei der Modellierung der satzinternen Großschreibung hat diese Idee möglicherweise Pate gestanden: Durch die Stärkung des Artikeltests scheint die Lernbarkeit vereinfacht zu sein. Bislang ist nicht bekannt, ob die Neuregelung tatsächlich zu Lernerleichterungen beigetragen hat. Folgt man der oben geführten Argumentation, ist jedoch das Gegenteil zu befürchten: Die neuen Regeln, die auf einer m. E. unsachgemäßen Rekonstruktion des zugrundeliegenden Systems der satzinternen Großschreibung eingeführt wurden, müssten – folgt man dem Konzept der Learnability – zu Aneignungserschwernissen geführt haben. Der empirische Beweis steht indessen noch aus. Dasselbe gilt im Übrigen für die Kommasetzung: Die Freistellung des Kommas bei Infinitivgruppen/Partizipialgruppen desystematisiert das der Kommasetzung zugrundeliegende Prinzip, nach dem alle satzwertigen Konstruktionen syntaktisch mit dem Komma separiert werden (Primus 1997). Jedoch fehlen auch hier bislang belastbare Ergebnisse über die Lernerfolge nach der Reform.
2.2
Traditionelle Konzepte
Gegenüber den Reformern verorten einige Sprachdidaktiker die Schwierigkeiten des Erwerbs der satzinternen Großschreibung (sowie insgesamt der Orthographie) nicht in einem mangelhaften (und daher zu reformierenden) System, sondern in einer mangelhaften Orthographiedidaktik (Röber-Siekmeyer 1999; Günther/Nünke 2005, Noack 2006). Einige wichtige Aspekte der fehlgehenden Großschreibungsdidaktik wurden hier schon angesprochen: die Bindung an die Wortart Substantiv in der Grundschule mit der zusätzlichen Einschränkung auf das semantische Kriterium, das Konkreta ausfiltert; ein Konzept, das bis weit in die Sekundarstufe hinein Revisionen nach sich zieht (Großschreibung von Abstrakta, Substantivierung, Desubstantivierung etc.), die das System weiter verdunkeln. In Valtin (1986), Röber-Siekmeyer (1999) und Günther/Nünke (2005) sind einige Dialoge notiert, die zeigen, welche Schwierigkeiten für die Kinder mit herkömmlichen Konzepten verbunden sind; das gilt sowohl für das semantische Kriterium als Rechtschreibkategorie (vgl. Beispiel 1 aus Valtin 1986: 104) als auch für das Konzept des Haupt- oder Namenworts (vgl. Beispiel 2 aus Günther/Nünke 2005: 28) sowie für den Artikeltest (vgl. Beispiel 3 aus Günther/Nünke 2005: 29).
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Beispiel 1: Daniel (4. Klasse, schwacher Rechtschreiber) schreibt beim Grüßen klein, denn ‚was tu ich? Grüßen, also klein‘. Er verfolgt diese Strategie, Wörter mit ‚was tue ich und wie bin ich?‘ zu befragen, fast durchgängig, kommt dabei aber häufig zu falschen Antworten. Bei ‚er verreist‘ sagt er: ‚Das verreist? Nein! Was tue ich? Verreist? Nein. Schreibe ich lieber groß.‘ Beispiel 2: L: Ist denn „Licht“ ein Namenwort? K: ... Nein L: Was ist denn ein Namenwort? K: Mama, Papa, Blume ... wenn es ein Name für etwas ist. Beispiel 3: L: Warum hast du denn kommt klein geschrieben? K: ... Weil da ist ... der kommt, die kommt, das passt ja irgendwie nicht. Naja, ein bisschen schon.
Ganz besonders problematisch am wortartenbezogenen Konzept der Großund Kleinschreibung ist, dass zusätzlich zu der fehlgehenden Bestimmung des Substantivs als großschreibungsauslösende Kategorie Verben und Adjektive auf Kleinschreibung festgelegt werden. So heißt es in einschlägigen Schulbüchern: „Verben/Adjektive schreibt man klein.“ Ein mögliches Ergebnis dieser Instruktion liefert der folgende Dialog einer Studentin mit einer Fünftklässerin (Beispiel 4 aus Röber-Siekmeyer 1999: 15; I = Interviewer, S = Schülerin; geschrieben werden sollte: Das strahlende Weiß ihrer Bluse …): Beispiel 4: I: Weiß hast du kleingeschrieben, man müsste es hier eigentlich großschreiben. S: Hm. Wie ist es? Weiß! I: Ja, das stimmt, aber manchmal schreibt man Wiewörter auch groß. Schau mal, hier heißt es doch das strahlende Weiß und das bezieht sich auf weiß.
Die Beispiele 1 bis 4 zeigen eindrucksvoll, wie die Kinder die schulisch gegebenen Regeln/Merksätze weiterverarbeiten. Was als Lernhilfe dienen sollte, wird – wegen der falschen Konzeptualisierung des Gegenstandes – zum Lernhindernis.
2.3
Revisionen
Ausgehend vom Learnability-Konzept sollen im Folgenden auf der Grundlage der hier dargestellten Sachsystematik Vorschläge für eine alternative Großschreibungsdidaktik vorgestellt werden, wie sie von Röber-Siekmeyer (1999) und Günther/Nünke (2005) angeregt wird.
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Röber-Siekmeyer (1999) setzt die relevante Eigenschaft großzuschreibender Ausdrücke, Attribute zu regieren, für die Grundschule im Konzept der sog. Treppengedichte um: Ein Baum Ein großer Baum Ein großer, starker Baum Ein großer, starker, alter Baum Ein großer, starker, alter, kahler Baum erscheint mir im Traum.
Die Kinder können an solchen Beispielen die Eigenschaft der Attribuierungsfähigkeit großzuschreibender Ausdrücke durch eigenständige Operationen nachvollziehbar ermitteln. Mit der Bearbeitung von Treppengedichten ist nicht nur der Auf- und Abbau von „Treppen“ und die Umwandlung/Einfügung von Treppen in Sätze verknüpft, sondern zugleich eine Arbeit an der internen Struktur der so entstehenden nominalen Gruppen: Die adjektivischen Attribute, die von den Kindern schrittweise ein- bzw. ausgefügt werden, werden in Bezug auf ihre Form analysiert: Adjektivische Attribute treten stets flektiert auf (*ein groß Baum). Als Flexive kommen in Frage: -e, -er, -es, -en, -em. Für eine eigenaktive Operation mit den Flexiven können den Schüler/innen adjektivische Stämme (groß, schön, grün, stark …) verfügbar gemacht werden, die sie jeweils mit dem entsprechend gebrauchten Flexiv anreichern. So wird auch die Erkenntnis der Genusrektion angebahnt: Denn die Form des Flexivs wird u. a. vom entsprechenden Kern determiniert, was am besten an Beispielen mit n-def Artikel zu erkennen ist (eine groß-e Kartoffel, ein groß-es Kind, ein groß-er Baum), weshalb sich solche Beispiele (auch im Kontrast) für eine Erarbeitung der Großschreibung besonders gut eignen. Bezüglich des konkreten Wortmaterials erscheint es sinnvoll, zu Beginn für die Besetzung des Kerns der Nominalgruppe prototypische Beispiele zu nutzen (Gattungsnamen, Konkreta); denn sie weisen optimale Attribuierungsfähigkeit auf (s. o.). Der Beispielpool kann dann sukzessive erweitert werden, so dass in der Weiterführung des Unterrichts nicht mehr nur Substantive verwendet werden, sondern auch Wörter anderer Wortarten (das dunkle Grau, sein ständiges Musizieren); ansonsten besteht die Gefahr, dass die Lernenden die Treppe oder Stufe mit der Wortart Substantiv identifizieren. Insgesamt schlecht geeignet für die Bildung einer Treppe sind Eigennamen, die sich in Bezug auf Attribute und auch in Bezug auf Artikel sperrig verhalten (s. o.). An die Überlegung, welche Beispiele für eine Erschließung der Sachstruktur geeignet sind, schließt sich unmittelbar die Frage an, wie das großzuschreibende Wort im Unterricht bezeichnet werden sollte. Denn erst eine
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terminologische Vereinbarung ermöglicht ein Sprechen über die Gegenstände. Röber-Siekmeyer (1999) und Günther/Nünke (2005) schlagen vor, die konkrete Bezeichnung für diesen Ausdruck im Unterricht zusammen mit den Schüler/innen zu entwickeln, die die großzuschreibenden Ausdrücke dann z. B. „Treppen-“ oder „Stufenwörter“, die einzufügenden Attribute „Einfüll-“ oder „Einfügewörter“ nennen. Diese Bezeichnungen haben den unbestrittenen Vorteil, dass darin die Operation abgelegt ist, die mit ihnen vollzogen wird: Treppen- oder Stufenwörter sind diejenigen, die nach der attributiven Einfülloperation am rechten Rand der Treppe stehen, Einfüll/Einfügewörter entsprechend diejenigen, die links vom Treppenwort und rechts vom Artikel eingefüllt/eingefügt werden. Das Kriterium der Attribuierbarkeit ist so in beiden Termini aufgehoben. Der – ebenfalls unbestrittene – Nachteil solcher Terminologien ist ihre fehlende Anschlussfähigkeit an allgemein bekannte und anerkannte Begriffe. In Bezug auf die Einfüll-/Einfügewörter ist das Problem minder schwerwiegend: Zu gegebenem Zeitpunkt kann der Begriff des Adjektivs an seine Stelle gesetzt werden. Denn die attributive Einfügung wird im Treppengedicht stets mit Adjektiven realisiert; auch systemintern ist das Adjektiv in dieser Position konkurrenzlos; die einzige nichtadjektivische pränominale Attribuierung ist der Sächsische Genitiv (Peterchens Mondfahrt), der aber ohne Artikel steht (*Die Peterchens Mondfahrt). So ist mit der Einfügeoperation das entscheidende Wortartenkriterium für Adjektive selbst bereits erschlossen. Auf den zu Fehlkategorisierungen veranlassenden Begriff des „Wieworts“ kann verzichtet werden; Adjektive können mit den Kindern definiert werden als Wörter, die in flektierter Form zwischen Artikel und Treppenwort stehen können. Schwieriger ist die Frage nach der Benennung des Treppen- oder Stufenworts; denn hier können Wörter aller Wortarten stehen. Eine vorschnelle Einschränkung auf den Prototypen (das Substantiv) und eine entsprechende Umbenennung des Treppenworts in „Substantiv“ würde bedeuten, einen Zerfall der neuen Erkenntnisse zugunsten falscher Kategorienbildungen zu riskieren. Bislang liegt für dieses Problem in der Tat noch keine befriedigende Lösung vor. Es verweist nun aber an den Anfang unserer Argumentation zurück: Weil die traditionellen Konzeptualisierungen der satzinternen Großschreibung wortkategorial erfasst sind und weil in der grammatischen Schulterminologie lediglich Wortarten und Satzglieder terminologisiert sind, stehen für syntagmatische Konzepte keine entsprechenden Modelle und mithin keine Terminologien zur Verfügung. Und so wird auf der Basis herkömmlicher Strukturierung grammatischen Wissens in der Schule hier nicht nur eine terminologische, sondern auch eine Konzeptlücke sichtbar, die in Zusammenarbeit von Lehrer/innen, Fachdidaktik und Schuladministration geschlossen werden könnte.
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In Bezug auf den Erfolg der neuen, syntaxbasierten Großschreibungsdidaktik liegen bislang nur einige empirische Befunde vor (Nünke/Wilhelmus 2002, Günther/Nünke 2005). Sie alle zeigen, dass die „Syntaxkinder“ im Vergleich zu den „Wortartenkindern“ bessere Leistungen erbringen; das gilt auch für mehrsprachige Kinder, für die – wie die Muttersprachler/innen – die Durchführung sprachlicher Operationen offenbar zu besseren Ergebnissen führt als kategoriale Zuordnungen (Substantivität). Insgesamt scheint in einem Unterricht, der den syntaxbasierten Ansatz verfolgt, die Leistungsspreizung geringer zu sein: Schwache und starke Schüler/innen profitieren offensichtlich in gleichem Maß. Die Befundlage ist aber derzeit sowohl für Muttersprachler/innen als auch für Zweitsprachler/innen noch etwas zu dürftig, um schon in jeder Hinsicht belastbare Aussagen machen zu können.
2.4
Probleme
Insbesondere wissen wir noch wenig über die auch nach dem vorliegenden Konzept verbleibenden Problemfälle: Gemeint sind zum einen Fälle, die die Kinder zu falschen Hypothesenbildungen verleiten könnten, zum anderen system- und norminterne Sonder- bzw. Zweifelsfälle. Bezüglich derjenigen Fälle, die zu falschen Hypothesenbildungen führen könnten, zählen Günther/Nünke (2005) die folgenden auf: Scheinflexion (vor allem Komparative); Elliptische Konstruktionen; Appositive Konstruktionen. Scheinflexion liegt vor, wenn ein Adjektiv nicht in seiner Grundform vorkommt, die Endung aber kein Flexiv ist (stärker als Ali); wenn die Thematisierung der Flexionselemente in Nominalgruppen im Unterricht lediglich mechanisch erfolgt ist, könnten einige Kinder aus der er-Endung den Schluss ziehen, dass als ein großzuschreibendes Element darstellt. „Dass es sich hierbei nicht um Adjektivflexion nach Kasus, Numerus und Genus handelt, sondern um einen in dieser Hinsicht unflektierten Komparativ, lässt sich den Kindern jedoch dadurch vor Augen führen, dass das Bilden einer Treppe nicht sinnvoll möglich ist.“ (Günther/Nünke 2005: 36). Elliptische Konstruktionen, die bei der Entscheidung über die Großschreibung zu Schwierigkeiten führen können, sind mit Beispielen wie dem folgenden angesprochen: Mogli isst gerne Beeren, aber die faulen schmecken ihm nicht. (Günther/Nünke 2005: 36) Weil faulen artikelhaltig ist und zusätzlich attribuierbar (den ekligen faulen), liegt Großschreibung nahe. Hier hilft Günther/Nünke (2005) zufolge die Erweiterungsprobe (Mogli isst gerne Beeren, aber die faulen Beeren schmecken ihm nicht). Denkbar wäre auch eine schrittweise Bearbeitung des Phänomens, das auch satzintern auftreten kann (Mogli mag die braunen Beeren und die roten; Mogli mag die braunen und die roten Beeren). Hier ist grammatische Struktur besser erkennbar als in
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Konstruktionen, in denen die fragliche Konstruktion auf zwei Sätze verteilt ist. Die systematische Bearbeitung solcher Konstruktionen (Ein- und Ausfügen bzw. Umsetzen des elliptischen Elements) kann helfen, die relevante Struktur zu erschließen. Als für die Großschreibungsentscheidung problematische appositive Konstruktionen nennen Günther/Nünke (2005) Beispiele wie eine Handvoll Nüsse; Bremerich-Vos (1999) diskutiert den Fall eine Tafel Schokolade; in beiden Fällen erscheint die Attribuierung ein wenig gezwungen (eine große Handvoll tauber Nüsse, eine riesige Tafel leckerer Schokolade/eine riesige Tafel der leckeren Schokolade), ist aber möglich und sollte daher keine großen Probleme bereiten. Ein systematisches Problem für das vorgeschlagene Verfahren stellen Eigennamen und Verwandtschaftsbezeichnungen dar: In Karls Liebling/Mutters Liebling sind Karl und Mutter nicht attribuierbar; das gilt praktisch für alle adjektivische Attribute (*kleinen Karls Liebling; aber: des kleinen Karls Liebling; *?der aufmerksamen Mutters Liebling), es gilt aber auch für Präpositionalattribute (*Mutters von Max Liebling), für Genitivattribute (*Mutters des kleinen Max Liebling) und für Relativsätze (*Mutters, die lacht, Liebling). Ganz offensichtlich verhalten sich Verwandtschaftsbezeichnungen ähnlich wie Eigennamen, für die oben gesagt wurde, dass sie sich in Bezug auf die Attribuierung, aber auch in Bezug auf Artikelfähigkeit (?der Karl, *das Deutschland) eher sperrig verhalten. Diese Befundlage sollte dazu führen, den gesamten Bereich der Eigennamen gesondert zu thematisieren und in diesem Zusammenhang die Verwandtschaftsbezeichnungen Mutter, Vater, Onkel, Tante, Oma, Opa als eigennamenähnliche Einheiten aufzugreifen; auf keinen Fall sollten die Verwandtschaftsbezeichnungen im Kernbereich des Unterrichts zur satzinternen Großschreibung auftreten. System-/norminterne Zweifelsfälle wie unter 1.4 thematisiert sind wahrscheinlich für den Lernprozess eher marginal. Sie können auf einem stabilen Großschreibungskonzept aufgesetzt und als Zweifelsfälle mit den Schülern der Sekundarstufe thematisiert werden. Auf keinen Fall eignen sie sich als zentraler Unterrichtsgegenstand beim Erwerb und der Stabilisierung der satzinternen Großschreibung.
2.5
Weiterführungen – Die Großschreibungsdidaktik in der Sekundarstufe
Wenn die Grundschule die Großschreibung an die Wortart Substantiv gebunden hat, so müssen sich die Lehrenden der Sekundarstufe zunächst auf Reparaturarbeit einstellen. Dies geschieht wie bereits beschreiben häufig so, dass die fehlgehende Initialdidaktik sukzessive ausgeweitet wird: an das den Kin-
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dern geläufige lexikalische Kriterium der Substantivität wird die Bearbeitung von substantivierten Verben, substantivierten Adjektiven, sog. versteckten Artikeln (beim Schwimmen ist Ausdauer nötig) etc. angeschlossen. Mit solchen Schritten wird das System schrittweise verdunkelt. Eine andere Möglichkeit wäre ein Neustart, d. h. der Aufbau einer syntaxgeleiteten Großschreibungspraxis, die jedoch viele Widerstände zu überwinden hat; denn die Schüler/innen begegnen dem neuen Konzept nicht unvoreingenommen, sondern konfrontieren die syntaktischen Regularitäten mit ihren einstudierten wortkategorialen Kriterien. Eine der Möglichkeiten, mit denen eine Umstrukturierung des inneren Regelwissens gelingen könnte, ist es, das im schülerseitigen Wissen verankerte Konzept sukzessive zu erweitern. Zunächst also könnte den Schüler/innen die Attribuierungsprobe vorgestellt werden, die sie dann zum Einsatz bringen sollen, wenn sie nicht wissen, ob ein Wort großgeschrieben wird. Diese Probe löst nach und nach die „alten“ Operationen ab und kann dann einer autonomen Weiterbearbeitung zugänglich gemacht werden. Sollte in der Grundschule die Attribuierbarkeit als großschreibungsrelevantes Kritierium bereits eingeführt worden sein, so stehen den Lehrer/innen in der Sekundarstufe andere Möglichkeiten zur Verfügung: Für den Ausbau eines stabilen Konzepts der satzinternen Großschreibung, der möglichst viele Zweifelsfälle abdeckt, ist eine Erweiterung des Konzepts des adjektivischen Attributs, das in der Grundschule den Ausgangspunkt gebildet hat, durch die Einführung weiterer Attributstypen in der weiterführenden Schule sinnvoll. Neben den Treppengedichten entstehen dann Phrasenkonstruktionen mit Genitivattributen (die Angst des Schiedsrichters), Präpositionalattributen (beim Schwimmen im kalten Wasser) und Relativsätzen, mit denen auch großzuschreibende Fälle herausgearbeitet werden können, die sich adjektivischen Attributen eher sperren (etwas Schönes, das ich dir erst gar nicht geben wollte; nichts Neues, wovon es zu berichten lohnte). Die Bearbeitung von Relativsatzkonstruktionen ist nun nicht nur für die Verfeinerung der Großschreibungskenntnisse sinnvoll, sondern auch für die Bearbeitung des Kommas sowie für die Bearbeitung der das/dass-Schreibung: Das Relativpronomen wird ebenso wie das adjektivische Attribut vom großzuschreibenden Ausdruck in Bezug auf sein Genus regiert (der Baum, der ...; die Tomate, die …; das Brot, das …). Die Entdeckung der Abhängigkeit des Genus des Relativpronomens vom Bezugsnominal auf der Grundlage der Kontrastierung von maskulinen, femininen und neutralen Beispielen (im Nominativ) führt zu grammatischen Einsichten bezüglich der Form das, ohne dass das- und dass-Schreibungen kontrastiert werden müssen – ein Verfahren, dem schon Feilke (1998) eine nur geringe Erfolgschance bescheinigt hat. Auch bei der Bearbeitung von Genitivattributen, Präpositionalattributen und Relativsätzen können sprachspielerische Elemente implementiert wer-
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den: So erlaubt das Genitivattribut, das ja selbst eine Nominalgruppe enthält, Mehrfacheinbettungen des Typs Das Barthaar der Katze des Vertreters des Versicherungsunternehmens des Landes Bayern. Mit solchen Konstruktionen können z. B. Gedächtnisspiele inszeniert werden. Zugleich kann mit den Schüler/innen die Grenze zwischen Grammatikalität und kognitiver Akzeptabilität diskutiert werden. Ähnliche Verschachtelungen sind auch mit dem Präpositionalattribut (Die Kugel in der Schachtel im Keller im Haus im Hof) und mit Relativsätzen möglich (Der Mann, dessen Hund, der seinen Knochen, den er vergraben hat, nicht mehr wiederfindet, hilft bei der Suche). Auch hier lohnt eine Diskussion zwischen kognitiver Verarbeitbarkeit und Grammatikalität.
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Fazit
Die vorliegenden Ausführungen zu einer m. E. dringend gebotenen Revision der Großschreibungsdidaktik sowohl in der Grundschule als auch in der weiterführenden Schule folgen den derzeit allgemein und auch für den Rechtschreibunterricht anerkannten didaktischen Postulaten, bei der Konzeptualisierung didaktischer Modelle nicht von Lehr-, sondern von Lernstrategien auszugehen (Hinney/Menzel 62001). Dabei geht es jedoch nur zu einem kleineren Teil darum, den Schüler/innen im Unterricht einen Freiraum zum Experimentieren mit dem Lerngegenstand verfügbar zu machen. Wichtiger für den Lernerfolg ist eine sachangemessene Aufbereitung des Lerngegenstandes, an denen die Schüler/innen ihre Erkenntnisse gewinnen. Mit dem Learnability-Konzept wurde zu plausibilisieren versucht, dass über den Erfolg von Lernprozessen die Systemnähe des Lernangebots entscheidet. Am Beispiel der satzinternen Großschreibung wurde eine solche Modellierung vorgestellt: Ausgehend von der Funktion der Großschreibung, Kerne von nominalen Gruppen zu kennzeichnen, wurde die interne Struktur der nominalen Gruppe rekonstruiert. Durch eine detaillierte Sachdarstellung konnten geeignete und weniger geeignete Lernanlässe zur Initiierung des Verständnisses der satzinternen Großschreibung ermittelt werden. Als Lernweg ergab sich eine aufsteigende Reihenfolge, die von der Ermittlung prototypischer Großschreibungsfälle zur Peripherie des Systems fortschreitet. Die Ränder des Systems, in denen keine klaren Entscheidungen zu treffen sind, wurden eigens thematisiert. Klar dürfte aber auch geworden sein, dass sie nicht nur nicht im Kernbereich des Systems, sondern auch nicht im Kernbereich des Lernprozesses stehen.
Die Satzinterne Großschreibung – System und Erwerb
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Nanna Fuhrhop
Getrennt- und Zusammenschreibung: Kern und Peripherie Rechtschreibdidaktische Konsequenzen aus dieser Unterscheidung
1
Einleitung
Die Getrennt- und Zusammenschreibung erscheint häufig schwierig und unverständlich. Sie wird auch durchweg schwierig und unverständlich dargestellt, weil das Thema etwa in Schulbüchern fast ausschließlich anhand der Zweifelsfälle erklärt wird. Nur: Anhand von besonders problematischen Fällen ist sie auch tatsächlich nicht zu verstehen. Dieser Aufsatz geht einen anderen Weg: Nach einer Darstellung der offiziellen Regelung werden die der Getrennt- und Zusammenschreibung zugrunde liegenden Prinzipien dargestellt. Daraufhin wird ein Kernbereich der Getrennt- und Zusammenschreibung erarbeitet und grammatisch beschrieben. Auf dieser Grundlage folgt die Einordnung typischer Zweifelsfälle; das Problematische an diesen ist grammatisch gut zu begründen und wird hier grammatisch begründet.
2
Regelung der Getrennt- und Zusammenschreibung
Die Getrennt- und Zusammenschreibung wurde in den ersten Rechtschreibkonferenzen (1876 und 1901 in Berlin, s. Nerius 32000: 331ff.) nicht thematisiert, erstmals offiziell geregelt wurde sie mit der Neuregelung von 1996. In der Duden-Regelung vor 1996 kam sie durchaus vor, sie begann mit dem Satz „In der Zusammen- und Getrenntschreibung sind nicht alle Bereiche eindeutig geregelt“ (Duden 201991: 62) und gipfelte in dem Hinweis: „Wo die folgenden Hinweise nicht ausreichen und auch das Wörterverzeichnis nicht weiterhilft, schreibe man getrennt“ (ebd.). Mit der Rechtschreibregelung von 1996 wurde versucht, die Getrennt- und Zusammenschreibung allgemein zu regeln.
236 2.1
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Die offizielle Regelung und was sie leisten kann
Offizielle Regelung: 1. Die Getrennt- und Zusammenschreibung betrifft Einheiten, die im Text unmittelbar benachbart und aufeinander bezogen sind. Handelt es sich um die Bestandteile von Wortgruppen, so schreibt man sie getrennt. Handelt es sich um die Bestandteile von Zusammensetzungen, so schreibt man sie zusammen. 2. Einheiten derselben Form können manchmal sowohl eine Wortgruppe (wie schwer beschädigt) als auch eine Zusammensetzung (wie schwerbeschädigt) bilden. Die Verwendung einer Wortgruppe oder einer Zusammensetzung richtet sich danach, was jeweils gemeint ist und was dem Sprachgebrauch und den Regularitäten des Sprachbaus entspricht. 3. Bei den verschiedenen Wortarten sind – auch in Abhängigkeit von sprachlichen Entwicklungsprozessen – spezielle Bedingungen zu beachten (nach „Regeln und Wörterverzeichnis“, pdf auf www.rechtschreibrat.com, 33). In der allgemeinen Regel 1. werden Wortgruppen von Zusammensetzungen unterschieden. In 2. und 3. wird dann im Prinzip deutlich gemacht, dass diese Unterscheidung häufig nicht ohne Weiteres zu treffen ist. Die Regelung, wie sie hier steht, kann nicht verstanden werden. Genau genommen soll sie auch nicht verstanden werden. Denn die Regelung der Rechtschreibung ist kein Text, der einem die Rechtschreibung erklären soll, sondern es ist ein Text, auf den man sich im Zweifel berufen kann. Das Verhältnis von Rechtschreibregelung und Rechtschreibung kann mit dem Verhältnis von Ehegesetz und Ehe verglichen werden. Wie funktioniert eine Ehe? Sie kommt hoffentlich durch Liebe zustande, dadurch, dass zwei Menschen ihre Lebensplanungen aufeinander abstimmen, häufig spielen Kinder oder der Wunsch nach Kindern eine große Rolle usw. usw. Im Ehegesetz hingegen geht es wesentlich um die Ehefähigkeit, die Eheschließung und Ehescheidung, also vorrangig um die ‚Grenzen‘ der Ehe, nämlich den Anfang und das Ende. Es geht gerade nicht um die ‚Eheführung‘. Was dieses Bild uns zeigen soll: Im Streitfall hilft das Ehegesetz, das Wesen der Ehe kommt aber im Ehegesetz nicht vor. Wenn man ‚das Wesen‘ der Rechtschreibung, wenn man die Rechtschreibung verstehen will, hilft die offizielle Regelung nicht weiter, sondern man benötigt einen erklärenden Text. Der vorliegende Text soll eine solche Erklärung der Getrennt- und Zusammenschreibung sein. Er widerspricht der Regelung nicht, er fundiert sie.
Getrennt- und Zusammenschreibung: Kern und Peripherie
2.2
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Zugrunde liegende Prinzipien der Getrennt- und Zusammenschreibung
In der Regelung wird, wie gesagt, der Unterschied zwischen Wortgruppe und Zusammensetzung zum eigentlichen Kriterium gemacht, wobei gilt: Ein Wort wird zusammengeschrieben. Ein Syntagma wird nicht zusammengeschrieben. Dahinter steht die folgende Frage: Was ist ein Wort? Um dieses zu bestimmen, möchte ich hier zwei Prinzipien einführen. Die Prinzipien wirken immer beide. In den folgenden Abschnitten werden die beiden Prinzipien auf viele Fälle angewandt. I. Wortbildungsprinzip: ‚Verbindungen‘ aus zwei oder mehr Stämmen werden zusammengeschrieben, wenn sie aufgrund einer Wortbildung miteinander verbunden sind. II. Relationsprinzip: Einheiten, die syntaktisch analysierbar sind, das heißt insbesondere die in syntaktischer Relation zu anderen Einheiten in einem Satz stehen, sind syntaktisch selbständige Wörter. Sie werden getrennt geschrieben.
Das Wortbildungsprinzip (s. a. Jacobs 2005: 34ff.) operiert auf der morphologischen Ebene: Es gibt mögliche Zusammenschreibungen vor. Auf den ersten Blick mag es sehr speziell wirken, daher eine kurze Erläuterung: Die grundsätzliche Möglichkeit, etwas getrennt oder zusammenzuschreiben, besteht höchstens dann, wenn zwei potentiell selbstständige Stämme nebeneinander stehen, das heißt es geht um die Abgrenzung von komplexen Wörtern und Syntagmen. Das Relationsprinzip operiert auf der syntaktischen Ebene und beinhaltet die Frage, ob eine Einheit syntaktisch selbstständig ist oder nicht. Das Relationsprinzip geht also weniger von den Möglichkeiten aus als vielmehr von dem syntaktischen Verhalten einer Einheit in dem speziell gegebenen Kontext.
3
Kernbereich der Getrennt- und Zusammenschreibung
Es wird immer wieder versucht, die Getrennt- und Zusammenschreibung anhand von Zweifelsfällen, sehr häufig an bestimmten trennbaren Verben, zu erklären. Besonders deutlich wird dieser fatale Ansatz bei der Betrachtung der Schulbücher (s. Abschnitt 4). Man kann die Getrennt- und Zusammenschreibung anhand der Zweifelsfälle nicht verstehen – und an sämtlichen Diskussionen darüber wird ja auch deutlich, dass man sie nicht verstanden hat. Daher wird hier zunächst und sehr ausführlich der Kernbereich abgehan-
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delt, um dann in Abschnitt 3 auf die Peripherie und damit die typischen Zweifelsfälle zu kommen. Der Kernbereich wird hier zunächst an den Komposita behandelt. Die Einteilung ist also morphologisch getroffen. Das ist aber eine Frage der Darstellung und ist für die Sache an sich sekundär. (Ein syntaktisches Herangehen würde von den syntaktischen Funktionen ausgehen.)
3.1
Substantivkomposita
Die meisten Komposita im Deutschen sind Substantivkomposita. Im Folgenden wird das Vorgehen wesentlich an zweigliedrigen Komposita gezeigt; mehrgliedrige können analog behandelt werden. Substantivkomposita sind die Menge der Komposita, deren Letztglied jeweils ein Substantiv ist. Erstglieder sind insbesondere Substantive (Haustür, Bandwurm, Bandwurmsatz, Schweinebraten, Versicherungsvertreter), Adjektive (Grünkern, Rotwein), Verbstämme (Backform, Anziehpuppe, Badehose) und Präpositionen (Zwischenprüfung, Mitgefühl, Nebenfluss). Alle genannten Beispiele sind Komposita. In den meisten Fällen ist es aber nicht schwer, Beispiele zu konstruieren, in denen die beteiligten Stämme in einem Satz nebeneinander stehen, ohne dass es sich um ein Wort handelt. 1 (1)
Substantiv-Substantiv-Folgen a. der Tischler liefert Haustüren – der Tischler liefert an jedes Haus Türen b. das sind Bandwurmsätze – dass der Bandwurm Sätze spricht c. er möchte Schweinebraten – lass uns die Schweine braten
Was kann und soll ein solches Vorgehen zeigen? In der Bestimmung der Rechtschreibung (s. Abschnitt 1.1) wurde der Fall schwer beschädigt und schwerbeschädigt genannt, ein Fall, der gewiss problematisch ist. Es wurde in der Rechtschreibregelung nicht behauptet, dass man Haustür in manchen Fällen zusammen und in anderen getrennt schreiben kann. Warum nicht? Fall (1 a.) scheint schlichtweg zu trivial für eine Regelung, sie zeigt aber das Wirken der genannten Prinzipien im Kernbereich. Haustür ist ohne Zweifel im heutigen Deutsch ein Kompositum, es ist sogar ein sehr typisches Kompositum. Das Wortbildungsprinzip gibt die Möglichkeit der Zusammenschreibung, und zwar in beiden Fällen, denn Haustür steht in einer potentiellen Wörterliste. Im ersten Satz fungiert Haustüren insgesamt als Akkusativob-
––––––– 1
Der Akzent wird hier grundsätzlich nicht betrachtet, aus folgenden Gründen: Erstens erscheint er schwer abfragbar, bei Nachfragen werden die meisten unsicher. Zweitens, und das ist der sprachwissenschaftliche Grund, vertrete ich hier die Auffassung, dass der Akzent wesentliche syntaktische und morphologische Strukturen zeigt, also ähnlich sekundär ist wie die Getrennt- und Zusammenschreibung.
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Getrennt- und Zusammenschreibung: Kern und Peripherie
jekt, im zweiten Teil ist Haus jedoch Bestandteil einer Präpositionalgruppe und lediglich Türen ist Akkusativobjekt zu dem Verb liefert. Oder anders herum, im ersten Satz wäre eine Einheit wie Haus nicht zu interpretieren, im zweiten Satz wäre Haustüren nicht zu interpretieren. Mögliche Strukturen sind in Abbildung (a) wiedergegeben. (a)
Mögliche Satzstrukturen
Der Tischler
liefert
Haustüren.
Der Tischler liefert an jedes Haus Türen. (b)
Satzstrukturen mit syntaktischen Funktionen Subjekt Der Tischler
Prädikat liefert
Subjekt Der Tischler
Prädikat liefert
Objekt Haustüren. Adverbial an jedes Haus
Objekt Türen.
In Abbildung (a) sind die reinen Satzstrukturen angegeben, in Abbildung (b) die entsprechenden syntaktischen Funktionen. Für die Grundunterscheidung der beiden Vorkommen von Haus_Türen ist insbesondere entscheidend, dass beide Elemente (Haus und Türen) im zweiten Satz nicht zu einer Konstituente gehören, im ersten Satz aber sehr wohl. Unabhängig davon, mit welchen Vokabeln dies beschrieben wird, die Grundunterscheidung entspricht der Intuition der Schreiber und Schreiberinnen. Das Beispiel sollte auch zeigen, dass nicht mal das eine und mal das andere Prinzip wirkt, sondern dass immer beide Prinzipien der Getrennt- und Zusammenschreibung wirken: Das Wortbildungsprinzip gibt die Möglichkeit vor, Haustüren als ein Wort zu interpretieren, nach dem Relationsprinzip ist es im ersten Beispiel ein syntaktisches Wort, im zweiten nicht. Aus dieser Interpretation folgt die jeweilige Schreibung. (2)
Adjektiv-Substantiv-Folgen a. Vorsicht bei Glatteis – da macht sie aus dem Jogurt doch glatt Eis b. er sieht Rotwein – er sieht rot: Wein und Bier sind alle c. Berliner Straße – Berlinerstraße – Pragerschinken
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Im Deutschen gibt es Adjektiv-Substantiv-Komposita. Das Adjektiv ist in diesen Fällen unflektiert (Rotwein – roter Wein). Adjektive können aber auch unflektiert syntaktisch selbstständig auftreten, zum Beispiel als Adverbial. So können Beispiele konstruiert werden, bei denen die gleichen Lexeme in der gleichen Form nebeneinander stehen. Einmal werden sie als Wörter zusammengeschrieben (Glatteis) und ein anderes Mal werden sie als Syntagmen getrennt geschrieben (glatt Eis). Die syntaktischen Strukturen sind völlig andere. Ein anderer Fall liegt vor bei Berliner Bürgermeister und Schweizerkäse 2 . Berliner ist Attribut zu Bürgermeister (der Berliner Bürgermeister ist grammatisch analog zu der Französische Präsident); das Besondere an diesen Stadtadjektiven ist, dass sie nicht flektieren können (*der Berlinere Bürgermeister; s. Fuhrhop 2003a) 3 . Normalerweise kann mit Hilfe der Flexion systematisch zwischen Attributkonstruktionen und Komposita – und damit auch zwischen Getrennt- und Zusammenschreibung – unterschieden werden, diese systematische Unterscheidung fällt bei den Stadtadjektiven weg (wie zum Beispiel Fremdwort – fremdes Wort). Daher kommt es zu Fällen wie Schweizerkäse neben Schweizer Käse. Tendenziell ist der Unterschied der folgende: Bei Schweizerkäse geht es eher um die Sorte und nicht unbedingt um die Herkunft. Das heißt, Schweizerkäse ist linguistisch eher eine Benennung. Bei Straßennamen wurde und wird dies extra geregelt; beide Schreibweisen sind vom System her zugelassen: Ursprünglich führte eine Straße, die ‚Bremer Straße‘ hieß, nach Bremen. Die ursprüngliche Intention ist heute mit der Ausweitung der Städte nicht mehr die primäre Lesart. Eine Attributkonstruktion unabhängig von der Benennung ist ebenso möglich, wie in die meisten Bremer Straßen werden neu asphaltiert; hier ist nur Getrenntschreibung möglich. Grundsätzlich ist die Namengebung linguistisch eine Benennung, damit wäre grundsätzlich Zusammenschreibung bei der Benennung möglich. Getrenntschreibung wäre auch weiterhin möglich, weil die Konstruktion als eine Attributbeziehung interpretiert werden kann. Die konkrete Regelung kann dann eine Festlegung auf eine der beiden Möglichkeiten sein. Die vorgesehene Getrenntschreibung kann mit analogen Beispielen wie Französische Straße begründet werden: Hier ist wegen der Flexion nur Getrenntschreibung möglich, aber auch hier kann es sich um eine Benennung handeln. Weil die Fälle ansonsten Ähnlichkeiten in der Interpretation aufweisen, wird die Getrenntschreibung auf Fälle wie Bremer Straße übertragen.
––––––– 2
3
Pragerschinken und Schweizerkäse müssen nicht zusammengeschrieben werden, es ist nur auffällig, dass Zusammenschreibung genau in diesen Fällen durchaus häufig vorkommt. Die Großschreibung ist ein anderes Thema.
Getrennt- und Zusammenschreibung: Kern und Peripherie (3)
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Verb-Substantiv-Folgen a. Backformen: ich back’ Formen, back’ Formen (back’ Kuchen) b. Anziehpuppe: *ich anzieh’ Puppen, weil er Puppen anzieht/*anziehtpuppen c. Badehose: ich bade Hosen
Verb-Substantiv-Komposita werden mit dem jeweiligen Verbstamm gebildet oder zusätzlich mit einem Fugen-Schwa. Morphologisch können sie Komposita sein. Syntaktisch ist die Interpretation wiederum vom Kontext abhängig. Die Beispiele für die Syntagmen wirken hier etwas konstruiert, aber sie sind nicht ungrammatisch. Außerdem, und das ist der springende Punkt: Obwohl sie konstruiert erscheinen, ist offensichtlich, dass nicht *ich Badehosen gemeint ist, sondern eben ich bade Hosen. (4)
Präposition-Substantiv-Folgen a. er hat heute Zwischenprüfungen – er isst zwischen Prüfungen immer Schokolade b. die Donau hat Wasser von vielen Nebenflüssen – er läuft am liebsten neben Flüssen
Auch bei den Präposition-Substantiv-Komposita sind entsprechende Beispiele zu konstruieren. Nichtsdestotrotz sind dies alles keine problematischen Fälle: Denn im Allgemeinen haben die Schreiber des Deutschen eine klare Intuition über die Schreibungen und das zeigt, wie viel grammatisches Wissen sie haben. Für die jeweilige Interpretation ist eine Menge an grammatischem Wissen nötig, unabhängig davon, ob es sich um explizites oder implizites Wissen handelt. Im Folgenden werden noch verschiedene Typen von Adjektivkomposita genannt.
3.2 (5)
Adjektivkomposita Substantiv-Adjektiv-Folgen a. der Apfel ist kerngesund – der Apfel ist im Kern gesund b. das Kleid ist himmelblau – Leo malt den Himmel blau
Im Deutschen sind produktiv auch Substantiv-Adjektiv-Komposita möglich, so zum Beispiel kerngesund und himmelblau; potentiell ist also Zusammenschreibung möglich. Im ersten Satz in (5 a.) ist kerngesund insgesamt Prädikativ, im zweiten Fall ist Kern selbstständiger Teil der Präpositionalgruppe im Kern. Auch diese Fälle sind im Allgemeinen keine Problemfälle. Diesen nähern wir uns eher bei den Adjektiv-Adjektiv-Komposita. Hier gibt es neben solchen wie süßsauer und rotgelb auch Fälle wie das im Regelwerk genannte schwerbeschädigt – schwer beschädigt (zu solchen Fällen s. 3.2.2).
242 (6)
Nanna Fuhrhop Adjektiv-Adjektiv-Folgen a. die Suppe ist süßsauer – die Suppe ist süß, sauer und salzig b. das Kleid ist rotgelb/rot-gelb/rot, gelb und grün
In den genannten Fällen ist der Unterschied intuitiv einleuchtend, das eine ist ein komplexes Adjektiv, das andere eine Aufzählung. Deutlich wird der Unterschied, wenn die entsprechenden Adjektive als Attribut zum Substantiv stehen: die süßsaure Suppe, die süße, saure und salzige Suppe, das rotgelbe Kleid, das rote, gelbe und grüne Kleid. (7)
Verb-Adjektiv-Folgen backfertig, streichfest, krümelfrei
Bei diesen Beispielen ist das Erstglied jeweils ein Verbstamm und daher nicht ohne Weiteres syntaktisch selbstständig. Dennoch können Beispiele konstruiert werden: der Teig ist backfertig – Back fertig und dann kannst du spielen gehen.
3.3 (8)
Untrennbare Verben X-Verb-Folgen a. übersetzen, durchlaufen: sie übersetzen den Text, über Setzen haben wir nicht gesprochen, sie durchlaufen den Parcours, durch Laufen hält Peter sich fit b. haushalten: er haushaltet mit seinem Geld – er will sein Haus halten
Im Deutschen gibt es eine Reihe untrennbarer Verben (verlaufen, behalten, erobern). Meist sind die ersten Bestandteile dieser untrennbaren Verben Präfixe, sie können nicht syntaktisch selbstständig sein. Daneben gibt es einige Verben, bei denen der untrennbare erste Bestandteil sehr wohl ein selbstständiges Wort sein könnte, wie die Beispiele in (8). Hier können kaum Beispiele konstruiert werden, bei denen eine andere Schreibung möglich ist. Das hat durchaus strukturelle Gründe: Bei den komplexen Wörtern in (8 a.) handelt es sich um Zusammensetzungen von Präpositionen und Verben. Präpositionen zeichnen sich syntaktisch dadurch aus, dass sie ein Nominal regieren und dieses Nominal folgt der Präposition unmittelbar. Ein Verb sollte also einer Präposition nicht direkt folgen, allerdings können mit substantivischen Infinitiven entsprechende syntagmatische Beispiele konstruiert werden. In (8 b.) handelt es sich um eine Zusammensetzung einer substantivischen Einheit mit einem Verb. Bei der Darstellung des Kernbereichs sollte deutlich geworden sein, dass beide Prinzipien immer angewandt werden. Außerdem sollte deutlich sein, dass wir bei den Fällen, die uns bezüglich Getrennt- und Zusammenschreibung völlig trivial erscheinen, bereits sehr viel grammatisches Wissen heranziehen, wenn auch implizit. Wir wenden viel Wissen über die Komposition
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im Deutschen an, denn wir entscheiden ständig darüber, was ein mögliches (Rotwein) und was kein mögliches (roter Wein) Kompositum ist. Auch das syntaktische Wissen wird permanent bemüht: Einheiten, die syntaktisch interpretierbar sind, werden von Einheiten unterschieden, die dies nicht sind.
4
Peripherie
Im Folgenden wird der Peripheriebereich behandelt. Im ersten Teil werden Verbindungen mit Verben beschrieben (Rad fahren, weich kochen usw.). Diese Verbindungen erscheinen im Zusammenhang mit der Getrennt- und Zusammenschreibung nahezu als die Problemfälle schlechthin. Um sie grammatisch beschreiben zu können, werden zunächst die sogenannten Partikelverben behandelt.
4.1
Trennbare Verben
4.1.1 Partikelverben Partikelverben sind in der neueren grammatischen Forschung umstritten. So kommt Lüdeling (2001) zu dem Schluss, dass Partikelverben keine Wörter sind und sie führt eine ganze Reihe von Kriterien an. Hingegen kommen syntaktische Analysen zu dem Schluss, dass sie auch syntaktisch nicht analysierbar sind (z. B. Neeleman/Weerman 1993). Das Besondere an den Partikelverben ist, dass sie trennbar sind. Dazu gehört eben auch, dass die Partikeln als solche relativ selbstständig vorkommen können, also zumindest homophon zu einem Stamm sind, häufig einer Präposition. Die grammatische Diskussion, was Partikelverben sind, kann hier nicht geführt werden. Die Schreibung der Partikelverben als ein Wort in Kontaktstellung (wir möchten jetzt anfangen) ist unumstritten und war auch im Allgemeinen unproblematisch. Wenden wir die beiden Prinzipien an: Morphologisch sind sie wie gesagt umstritten, weil sie keine typischen Wortbildungen sind. Erstens ist ihre Bildungsweise nicht direkt vergleichbar mit anderen Wortbildungen und zweitens sind sie trennbar und die getrennten Teile weisen jeweils eine gewisse Selbstständigkeit auf (Lüdeling 2001). Andererseits weisen sie viele typische Merkmale von Komposita auf (Fuhrhop 2007b). Wenn sie solche wären, dann würde das Wortbildungsprinzip auch hier greifen. Syntaktisch sind die getrennten Verbpartikeln häufig nicht interpretierbar: Die meisten der aufgelisteten Verbpartikeln sind Präpo-
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sitionen. Präpositionen zeichnen sich, wie gesagt, syntaktisch dadurch aus, dass sie Nominale regieren. Das tun sie in Zusammenhang mit den Verben nicht, das heißt sie sind syntaktisch nicht interpretierbar, was zur Zusammenschreibung führt. 4.1.2 Substantiv-Verb-Verbindungen (9)
Rad fahren, brustschwimmen, bausparen, kopfstehen usw.
Verbindungen dieses Typs wurden lange diskutiert. Warum sind sie so schwierig? Erstens sind sie nicht durch eine häufige Wortbildungsart entstanden, sondern durch eine seltene, und zwar durch Rückbildung. Rückbildung ist der folgende Prozess: Aus einem Verb wie sparen werden regulär Substantive wie Sparer/Sparen abgeleitet. Diese Substantive können völlig regulär Komposita bilden wie Bausparer, Bausparen. Die Rückbildung setzt jetzt ein: Aus den Komposita werden Verben rückgebildet wie bausparen. Die Komposition findet also nicht auf verbaler Ebene statt, sondern auf nominaler. Die Verben sind durch morphologische Prozesse entstanden, daher greift das Wortbildungsprinzip: Zusammenschreibung ist möglich. Es ist aber zugegebenerweise kein typischer und insbesondere kein voll produktiver Wortbildungsprozess. 4 Syntaktisch verhalten sich die Verbindungen markiert; manche der Verben sind in ihrer Verwendbarkeit stark eingeschränkt: (10) er fährt Rad, ?er schwimmt Brust, *er spart Bau/*er bauspart
Die in ihrer Verwendung eingeschränkten Verben sind also nicht wirklich trennbar. Sie sind auch nicht untrennbar, denn untrennbare Verben sind vollständig flektierbar (er übersetzt den Text). Nach allen Regeln der Kunst dürften sie gar nicht getrennt geschrieben werden; das Erstglied erfüllt kein Kriterium der syntaktischen Selbstständigkeit und Interpretierbarkeit. Getrenntschreibung ist ausschließlich bei den Verbindungen zu diskutieren, die uneingeschränkt flektieren wie zum Beispiel Rad fahren. Aber inwiefern verhält sich Rad in Rad fahren wie ein syntaktisch selbstständiges Substantiv? (11) Er isst Kuchen. Er ist de/ einen Kuchen. Er isst leckeren Kuchen. Er fährt Rad. Er fährt das/?ein Rad. *Er fährt grünes Rad/ein grünes Rad. Er schwimmt Brust. Er schwimmt *die/*eine Brust. *Er schwimmt flache Brust.
––––––– 4
Einzelne Ad-hoc-Bildungen sind möglich, denn der Prozess an sich ist durchsichtig, so zum Beispiel in einem Turnverein: er will reckturnen – er turnt Reck.
Getrennt- und Zusammenschreibung: Kern und Peripherie
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Selbstständige Substantive sind artikelfähig und attributfähig, das zeigt der Kontrollfall Kuchen essen. Bei Rad fahren ist sowohl die Artikelfähigkeit als auch die Attributfähigkeit nicht vollständig gegeben. Auch wenn er fährt ein Rad nicht ungrammatisch ist, so bedeutet es etwas anderes als er fährt Rad. Das liegt aber nicht an den Substantiven an sich, sondern am Kontext, in denen die Substantive vorkommen. Auch die Pluralbildung ist in dem Kontext verhindert, obwohl die Substantive ansonsten vollkommen pluralfähig sind (Rad – Räder, Brust – Brüste), aber wir fahren Rad – ?wir fahren Räder (obwohl die meisten bei dem Satz sehr wohl die Vorstellung von mehreren Rädern haben), *wir schwimmen heute Brüste. Damit zeigt sich, dass die Substantive hier gerade nicht die syntaktische Funktion von direkten Objekten haben. Noch deutlicher wird dies an der Perfektbildung: ich bin Rad gefahren – ?ich bin das Rad gefahren – ich habe das Rad (nach Bremen) gefahren. Transitive Verben bilden ihr Perfekt mit haben und nicht mit sein. Daher kommt die Tendenz zur Zusammenschreibung. Auch hier geht es nicht darum, dass die Schreibenden dies alles explizit wissen, aber implizit wissen sie sehr wohl, dass Rad fahren nicht das Gleiche ist wie Kuchen essen; sie geben andere Grammatikalitätsurteile für die vermeintlich gleichen Kontexte. 4.1.3 Adjektiv-Verb-Verbindungen Auch bei den Adjektiv-Verb-Verbindungen gibt es diverse Tendenzen zur Zusammenschreibung. Sehr häufig hängt das mit einer Bedeutungsübertragung zusammen: (sich) totlachen, vollquatschen, leerkaufen. In diesen Adjektiv-Verb-Verbindungen ist häufig ein Übergang zu erkennen, vom sogenannten Objektsprädikativ zur wortartigen Verbindung. (12) a. Karl kocht die Kartoffeln weich. b. Anne kauft den Laden leer. c. Der Dozent quatscht die Studenten voll. d. Maria lacht sich tot.
In (12 a.) kann das Adjektiv weich noch als Adverbial gesehen werden, das heißt syntaktisch als freie Angabe, auch ohne das Adjektiv ist der Satz grammatisch. Das Besondere ist, dass das Adjektiv (weich) die Eigenschaft beschreibt, die das Objekt (die Kartoffeln) nach dem Vorgang (des Kochens) haben soll bzw. haben wird. In (12 b.) ist es grammatisch möglich, das Adjektiv wegzulassen (Anne kauft den Laden), aber die Interpretation ändert sich. In (12 c.) wird der Satz durch Weglassen des Adjektivs ungrammatisch (???der Dozent quatscht die Studenten). In (12 d.) ist die Verbindung totlachen reflexiv, das Verb allein ist nicht reflexiv (*Maria lacht sich). Die Reihe soll zeigen, dass Verb und Adjektiv hier zusammen eine grammatische Wir-
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kung erzeugen, die das Verb alleine nicht hat. Damit kann begründet werden, warum diese Verbindungen mitunter zusammengeschrieben werden. Für die Getrenntschreibung spricht, dass es sich bei dieser ‚Zusammenrückung‘ nicht um eine Wortbildung handelt. 4.1.4 Verb-Verb-Verbindungen: Kennen_lernen und sitzen_bleiben Das sind die beiden vieldiskutierten Fälle. Was hat es hiermit auf sich? Bei Komposita erscheint ein Verb als Erstglied sonst in der Stammform: Backform, waschecht, mähdreschen. Die genannten Verb-Verb-Verbindungen sind damit keine Komposita. Es sind nur wenige Einzelfälle. Was lässt sich syntaktisch über diese Fälle sagen? Im Deutschen gibt es Verben, die einen Infinitiv regieren und Verben, die einen zu-Infinitiv regieren. Während die Verben, die einen zu-Infinitiv regieren, zu den Vollverben gehören, bilden die Verben, die einen einfachen Infinitiv regieren, eine grammatische herausgehobene Klasse, die Modalverben. Neben den Modalverben gibt es weitere Verben, die einen einfachen Infinitiv regieren, die sogenannten Infinitivverben (Engel 2004: 258, Fuhrhop 2003b), wie zum Beispiel lernen, lehren, bleiben, gehen. Einige von diesen Verben können sowohl einen zu-Infinitiv als auch einen einfachen Infinitiv regieren, so auch lernen (er lernt tanzen, er lernt zu tanzen). Ausgerechnet in der Verbindung mit kennen lässt auch lernen keinen zu-Infinitiv zu: er lernt ihn kennen – *er lernt ihn zu kennen 5 . Die Verbindung unterscheidet sich deutlich von den anderen, sie ist grammatisch ausgezeichnet und das ist genau das, was sich in der Schreibung von kennenlernen in einem Wort zeigen kann. Bei sitzen_bleiben wird häufig die Bedeutungsübertragung hervorgehoben, aber wie ist dies bei liegen_bleiben, hängen_bleiben, stehen_bleiben? (13) Er kann morgens immer noch liegen_bleiben – die Arbeit wird bis Ostern liegen_bleiben Das Bild soll hängen_bleiben – er wird heute Nacht wieder in der Kneipe hängen_bleiben Der Tisch soll stehen_bleiben – die These kann so stehen_bleiben
Bei bleiben ist die Zahl der möglichen Infinitive beschränkt (sitzen, stehen, hängen, wohnen, bestehen, kleben, stecken) s. a. Fuhrhop (2007a: 95) (?er bleibt arbeiten, *er bleibt malen, *er bleibt kaufen usw.). Das heißt, das Verb bleiben zeigt nicht freie syntaktische Kombinierbarkeit, sondern eben starke Einschränkungen. Die Ergänzungen sind damit syntaktisch nicht voll inter-
––––––– 5
Auch hier gilt, dass die meisten nativen Sprecher und Sprecherinnen des Deutschen diese grammatische Intuition haben.
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pretierbar; bleiben ist kein Modalverb. Die Verbindungen sind vereinzelt, die Zusammenschreibung zeigt das Bewusstsein darüber. Bleiben noch gehen, fahren, kommen: er geht schwimmen/einkaufen/arbeiten usw. sind paraphrasierbar als ‚er geht zum Schwimmen/zum Einkaufen/zum Arbeiten‘, bei er geht spazieren ist dies nicht möglich (*er geht zum Spazieren). Es ist ein Einzelfall, die beiden Elemente gehören eng zusammen, was die früher vorhandene Zusammenschreibung begründen kann. Hier habe ich gezeigt, dass die Fälle, in denen ein einfacher Infinitiv regiert wird, der nicht paraphrasierbar ist mit einem zu-Infinitiv oder einer Konstruktion mit zum, völlige Einzelfälle sind. Modalverben hingegen regieren einfache Infinitive. Dies ist ein wesentlicher Teil ihrer grammatischen Bestimmung. Offensichtlich ist das den Schreibenden des Deutschen bewusst; Modalverbkonstruktionen werden syntaktisch analysiert und nicht zusammengeschrieben (er will laufen/*willlaufen, sie kann tanzen/*kanntanzen usw.).
4.2
Adjektiv-Verbindungen
4.2.1 Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen In Abschnitt 2.2 wurden bereits Adjektiv-Adjektiv-Komposita angesprochen. Grundsätzlich ist das erste Adjektiv in einem solchen Kompositum unflektiert (altklug). Ein unflektiertes Adjektiv kann aber Attribut zu einem anderen Adjektiv sein (schön blöd). Die Unflektiertheit allein reicht also nicht aus, um ein Kompositum zu sein. Nehmen wir zum Beispiel voll schlank (‚sehr schlank‘) vs. vollschlank (‚dick‘). Zugegebenermaßen kommen beide Bildungen kaum in den gleichen Umgebungen vor. Während voll schlank eher jugendsprachlich ist, ist vollschlank schon fast aus dem Sprachgebrauch verschwunden. Nichtsdestotrotz sind sie zu unterscheiden. Die unterschiedliche Akzentuierung basiert auf der unterschiedlichen Interpretation, ebenso wie die unterschiedliche Schreibung. Der Überschneidungsbereich zwischen Wort und Syntagma ist klein: Attribute bei Adjektiven, die keine Partizipien sind (dazu im nächsten Abschnitt), dienen wesentlich der ‚Verstärkung‘ (voll blöd, schön dumm, erstaunlich gut, höchst ärgerlich). Das heißt, die unterschiedliche Interpretation ist wesentlich über die Bedeutung zu erfassen, sie ist nicht unbedingt abhängig von anderen Elementen im Satz, wie das bisher immer der Fall war: Sowohl voll schlank als auch vollschlank können insgesamt Prädikative sein: sie ist voll schlank – sie ist vollschlank. Zu regeln ist dieser Bereich damit schwierig, denn grundsätzlich sind beide Möglichkeiten zugelassen.
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Nanna Fuhrhop
4.2.2 Der genannte Fall schwer beschädigt – schwerbeschädigt Wir hatten oben schon die Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen. Wenn diese Fälle ein Syntagma sind, dann hat das erste Adjektiv meist die Funktion, das andere Adjektiv zu ‚verstärken‘ (voll blöd, schön blöd, erstaunlich blöd). Sehr viel mehr Adjektive sind möglich, wenn das Zweitglied ein Partizip ist. So haben wir schwer angeschlagen, schwer beschädigt, aber eher nicht *schwer blöd. Das hängt mit der Besonderheit zusammen, dass die Partizipien adjektivisch verwendet werden können, aber ihre Verbeigenschaften mitbringen (s. a. Substantiv-Partizip-I-Verbindungen, Abschnitt 3.3). Auf der anderen Seite können sie aber – wie andere Adjektive auch – Komposita bilden. Das erste Adjektiv bleibt in jedem Fall unflektiert, an der Form ist also der Unterschied nicht zu erkennen. (14) schwer behindert – schwerbehindert: durch den Rucksack ist er beim Klettern schwer behindert/*schwerbehindert, seit seinem Unfall ist er schwerbehindert
Der Unterschied in diesen Fällen ist einerseits die Definiertheit und andererseits die Frage, ob es ein Dauerzustand ist. Bei dem Beispiel durch den Rucksack ist er beim Klettern schwer behindert geht es um einen vorübergehenden Zustand, zugrunde liegt ‚der Rucksack behindert ihn beim Klettern schwer‘. Als Grundtendenz ist dies festzuhalten: Bei Definiertheit und einem dauernden Zustand wird eher zusammengeschrieben. Ist eine Paraphrasierung in einen Satz möglich, bei dem das Partizip als Verb interpretiert wird, wird eher getrennt geschrieben. Genau durchzuregeln ist dieser Bereich nicht, weil grundsätzlich beide Möglichkeiten vom System her zugelassen sind. 4.2.3 nichtamtlich – nicht amtlich Einen sehr besonderen Fall haben wir bei nicht und Adjektiven. Nicht hat sich zu einem Wortbildungselement entwickelt, es kombiniert sowohl mit Substantiven als auch mit Adjektiven. Mit Substantiven bildet es Wörter wie Nichtraucher, Nichtmitglied, Nichtbeachtung. Auch hier sind Fälle sowohl mit regulärer Zusammenschreibung als auch mit regulärer Getrenntschreibung zu konstruieren: wir sind Nichtraucher – wir sind nicht Raucher (sondern Nichtraucher). Bei den Substantiven scheint dies keine Probleme zu bereiten, bei den Adjektiven schon eher. Der Grund liegt einerseits in der Wortstellung, andererseits in der Bedeutung. Bei den Adjektiven gibt es Fälle wie das Schreiben ist nicht amtlich – das Schreiben ist nichtamtlich. Zum Teil überschneiden sich die Sätze in der Bedeutung, zum Teil aber nicht. Grundsätzlich kann die Wortnegation (also nichtamtlich) als binär gesehen werden: Es gibt Schreiben, die amtlich sind
Getrennt- und Zusammenschreibung: Kern und Peripherie
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und solche, die nichtamtlich sind. Die Satznegation ist unspezifischer. Deutlich wird der Unterschied an der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der doppelten Verneinung: das Schreiben ist (gar) nicht nichtamtlich, es sieht nur so aus – *dieses Schreiben ist nicht nicht amtlich (zur genaueren Argumentation s. Fuhrhop 2007a: 112ff). Auch im attributiven Gebrauch ist in beiden Fällen die Wortstellung die gleiche: das nicht amtliche (nichtamtliche) Schreiben. Zur Verdeutlichung füge ich einen zweiten Fall hinzu: nichtselbstständig – nicht selbstständig: (15) sie arbeitet nicht selbstständig, sondern ist angestellt/*nichtselbstständig, sondern ... sie arbeitet nichtselbstständig, sie ist nämlich angestellt/*nicht selbstst., ... nämlich ... *sie hat noch nie nicht selbstständig gearbeitet ... noch nie nichtselbstständig gearbeitet
Die unterschiedlichen Schreibungen können einen Bedeutungsunterschied wiedergeben. Ob eine Schreibung angemessen ist, ist hier mitunter schwer und manchmal gar nicht zu entscheiden. Daher ist es angemessen, diesen Bereich weitgehend ungeregelt zu lassen. Die Möglichkeiten von vornherein zu beschränken, ist keine gute Alternative.
4.3
Substantiv-Partizip-I-Verbindungen
(16) die entzündungshemmende Salbe, die freudestrahlenden Kinder die bücherlesenden/Bücher lesenden Kinder die biertrinkenden Fans/die Bier trinkenden Fans die besitzergreifende Ehefrau – die Ehefrau ist besitzergreifend/ die Ehefrau ist *ergreifend/*Besitz ergreifend
Die Partizip-I-Verbindungen sind besonders aus folgendem Grund hervorzuheben: Das Partizip I steht in seinem ganzen Verhalten zwischen Adjektiv und Verb (Fuhrhop & Teuber 2000, Fuhrhop 2007a: 129ff.). So ist es kein möglicher Bestandteil von Verbformen (*er ist singend), aber als adjektivisches Attributiv ist es nicht steigerungsfähig (*die singenderen Kinder). Es hat allerdings auch positive Eigenschaften der beiden Wortarten, so ist es wie ein Adjektiv kompositionsfähig (freudestrahlend), kann aber wie ein Verb sämtliche Ergänzungen des Verbs außer dem Subjekt nehmen (der dem Kind seinen Füller gebende Mann, die vor Freude strahlenden Kinder). Aus dieser Eigenschaft ergeben sich häufig, aber nicht immer, direkt zwei mögliche Schreibungen: die Tee trinkenden Frauen (Tee als Ergänzung zu trinken), die teetrinkenden Frauen (teetrinkend als Kompositum). Wenn nun Tee erweitert wird, ist nur noch die syntagmatische Möglichkeit gegeben (die grünen Tee trinkenden Frauen), Kompositionserstglieder sind im Allgemeinen nicht
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erweiterbar. Andererseits ist in die Frauen sind teetrinkend nur Zusammenschreibung möglich, weil eine verbale Lesung hier nicht möglich ist: *die Frauen sind trinkend. Entzündungshemmend ist nur als Wort möglich wegen des (unparadigmischen) Fugenelementes, entzündungs kann nicht syntaktisch selbstständig sein. Typischerweise werden bei diesen Fällen grammatische Kriterien angewandt: Wenn das erste Adjektiv erweiterbar ist, dann ist es ein Syntagma (eine Wortgruppe), wenn es nicht erweiterbar ist, ist es ein Wort (eine Zusammensetzung, ein Kompositum), z. B. Wahrig (2002: 54). Das grammatische Wissen, das hier mit Recht abverlangt wird, kommt unvermittelt zum Einsatz. Wenn hingegen die gesamte Getrennt- und Zusammenschreibung (bzw. die gesamte Rechtschreibung) grammatisch hergeleitet wird, dann sind auch die Kriterien in diesen Fällen nicht so unvermittelt.
4.4
Zur Stärke der Prinzipien
Die genannten Prinzipien wirken, wie gesagt, grundsätzlich beide. Bei ganz bestimmten einzelnen Zweifelsfällen können die Prinzipien aber nicht greifen. Das Wortbildungsprinzip wirkt im Deutschen insbesondere bei der Komposition und der Affigierung. Die Rückbildung ist als Wortbildungsprinzip ‚schwächer‘, weil sie zum Beispiel nicht voll produktiv ist. Wenn die Teile syntaktisch zu interpretieren sind, dann ist Getrenntschreibung angemessen. Das heißt, das Wortbildungsprinzip ist hier nicht so stark wie bei den anderen Wortbildungen, daher neben Rad fahren auch radfahren 6 . Das Relationsprinzip beinhaltet analog Annahmen über syntaktische Relationen. So gelten das Verb und seine Ergänzungen als strukturbildend für den Satz: Weder Prädikat-Objekt-Strukturen noch Subjekt-Objekt-Strukturen verschmelzen zu einem Wort in der Schreibung (Daniel will *Kuchenessen – *Danielisst Kuchen). Historisch war es aber möglich, dass Präpositionalgruppen unter bestimmten Umständen verschmelzen (aufgrund, anhand usw.). Dies setzt sich fort bei der zugelassenen Zusammenschreibung zurzeit als Adverbial. Während eine Nichttrennung von Prädikat und Subjekt dazu führen würde, dass der ganze Satz nicht mehr zu analysieren wäre, betrifft die Zusammenschreibung von zurzeit als Adverbial lediglich die interne Struktur dieses Adverbials; für den restlichen Satz ist diese interne Struktur unerheblich. Das heißt, Subjekt und Objekt sind starke syntaktische Relationen. Die Rektionsbeziehung von einer Präposition zum regierten Nominal ist für den
––––––– 6
Diese Schreibung ist auch mit der Neuregelung von August 2005 nicht zugelassen, ich habe aber gezeigt, wie eine solche Schreibung im System verankert ist.
Getrennt- und Zusammenschreibung: Kern und Peripherie
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Gesamtsatz weniger stark (s. a. Fuhrhop 2007a: 180f.). Gerade bei den schwächeren Beziehungen sind daher Variantenschreibungen möglich und auch angemessen (zur Zeit – zurzeit).
4.5
Kern – Peripherie
Im Folgenden möchte ich versuchen zu beschreiben, was den Kern und was die Peripherie ausmacht. Ich habe deutlich gemacht, dass die gleichen Prinzipien wirken. Im Kern geben die Prinzipien klare Auskunft. Das Wortbildungsprinzip ermittelt die Möglichkeiten: Kann eine Verbindung nur ein Wort sein (Versicherungs-vertreter), können es nur zwei Wörter sein (das Haus) oder ist morphologisch beides möglich (Haus-Türen)? Mit dem Relationsprinzip werden diese Fälle gewissermaßen überprüft, im letzten Fall kann sogar nur mit dem Relationsprinzip die richtige Interpretation gewählt werden. Im Kernbereich greifen aber beide Prinzipien und sie widersprechen sich nicht. Gehen wir die genannten Zweifelsfälle durch: Verb-Verbindungen: Von der Schreibung her sind die Partikelverben keine Grenzfälle, es scheint mehr ein Problem der morphologischen Theoriebildung zu sein. Sehr wohl sind aber die Fälle Rad fahren und eislaufen der Peripherie zuzuordnen: Im Grunde greifen die Prinzipien hier nicht wirklich. Für das Wortbildungsprinzip ist die Bildungsweise nicht prototypisch genug, das Relationsprinzip greift gar nicht. Die Adjektiv-Verb-Verbindungen des Typs weich kochen, leer essen sind keine Wortbildungen, sondern Univerbierungen, das heißt eine syntaktische Grenze kann aufgehoben werden, die Bestandteile verlieren zunächst ihre syntaktische Selbstständigkeit. Dieser Prozess kann zur Zusammenschreibung führen, gewissermaßen weil Getrenntschreibung nicht mehr völlig angemessen ist. Die Zusammenschreibung ist aber nicht ‚positiv‘ über das Wortbildungsprinzip bestimmt. Wenn es zur Reihenbildung (mit leer, tot, voll u. ä.) kommt, bekommen die Verbindungen eine wesentliche Eigenschaft von Komposita. Die Verb-Verb-Verbindungen wie kennenlernen sind nicht morphologisch entstanden, das wesentliche Kriterium für Zusammenschreibung fehlt damit. Sie sind aber syntaktisch nicht zu analysieren, für Getrenntschreibung fehlt ebenfalls das wesentliche Kriterium. Adjektiv-Verbindungen: Bei den Adjektiv-Adjektiv-Verbindungen ist grundsätzlich beides möglich: die Interpretation als Syntagma und die Interpretation als Kompositum. Kompositum und Syntagma sind aber häufig in der Bedeutung sehr unterschiedlich (das Beispiel voll schlank – vollschlank). Von rein grammatischen Kriterien her sind häufig beide Interpretationen
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möglich, das heißt Maria ist vollschlank und Maria ist voll schlank sind beides grammatische Sätze. Außerdem kommt hinzu, dass die Bedeutungsunterschiede häufig weniger deutlich sind als in dem gegebenen Beispiel. Bei den Substantiv-Partizip-I-Verbindungen ist der Fall eigentlich grundsätzlich wie im Kernbereich. Morphologisch ergeben sich drei Möglichkeiten: Erstens handelt es sich eindeutig um ein Wort (entzündungshemmend), zweitens handelt es sich eindeutig um zwei Wörter (mit Schuhen laufend/*schuhenlaufend), drittens kann es morphologisch ein Wort oder es können zwei Wörter sein (teetrinkend – Tee trinkend). Der Unterschied zum Kernbereich kann wie folgt beschrieben werden: So kann Tee trinkend und teetrinkend häufig in der gleichen (syntaktischen) Umgebung verwendet werden, häufig gleichbedeutend (die Tee trinkenden Frauen, die teetrinkenden Frauen). Dieser Bereich scheint wesentlich durch die Rechtschreibreform zu einem Problem gemacht worden zu sein. Die Fehler in diesem Bereich häufen sich, seit man versucht hat, Tee trinkend (und allein erziehend) als einzige Variante zuzulassen und zudem noch die Regel ‚Im Zweifel getrennt‘ herausgegeben hat. Linguistisch ist dies kein Peripheriebereich. Die Prinzipien der Getrennt- und Zusammenschreibung wirken folgendermaßen: Das Wortbildungsprinzip gibt positiv Auskunft über die Zusammenschreibung (‚Verbindungen‘ aus zwei oder mehr Stämmen werden zusammengeschrieben, wenn sie aufgrund einer Wortbildung miteinander verbunden sind), das Relationsprinzip gibt positiv Auskunft über die Getrenntschreibung (Einheiten, die syntaktisch analysierbar sind, werden getrennt geschrieben). Der Peripheriebereich ist so zu bestimmen, dass keines der Prinzipien positiv greift, weder Zusammenschreibung noch Getrenntschreibung wird positiv festgelegt.
5
Getrennt- und Zusammenschreibung in Schulbüchern
In Schulbüchern wird die Getrennt- und Zusammenschreibung erst ab Klasse 7 oder Klasse 8 thematisiert. Wie diese Thematisierung geschieht, möchte ich hier an zwei Kriterien zeigen: erstens anhand der dort genannten Beispiele (insbesondere in den Aufgaben) und zweitens anhand der dort genannten Regeln und Merksätze. Beides ist – gemessen an dem in diesem Aufsatz gezeigten erklärenden Vorgehen – katastrophal. Wählen wir drei willkürliche Beispiele (die Reihe lässt sich lange fortsetzen); zitiert wird hier jeweils die erste Thematisierung der Getrennt- und Zusammenschreibung.
Getrennt- und Zusammenschreibung: Kern und Peripherie
5.1
253
Die in Schulbüchern genannten Beispiele
Deutschbuch (Grundausgabe 8, 2000: 194f.) 1. Ski fahren, Karten spielen, Auto fahren, Rad fahren, Halt machen, Feuer fangen, Pleite machen, Schlange stehen 2. stehen und liegen lassen, gehen lassen, spazieren gehen, kennen lernen, bekannt machen, verloren gehen 3. zu Hause sein, nötig sein, schlecht sein, fertig sein, zumute sein, da sein, außer Stande sein, vorüber sein 4. Halt machen, Ski laufen, Auto fahren, Teppich klopfen, Fuß fassen, Not leiden, Angst haben 5. leben bleiben, spazieren gehen, bestehen bleiben, kennen lernen, liegen bleiben, laufen lernen
Unsere Muttersprache 7 (22006: 160ff.) 1. trennbare und untrennbare Verben: einleiten, unternehmen, ... 2. zu einsetzen: zuhören – zu hören, zu machen – zumachen, zusehen 3. Klavier spielen, vorbei sein, deutlich machen, laufen lernen, klug reden, gehen lassen, aus sein, Schlange stehen, verlassen werden 4. Schlitten fahren, Not leiden, Maschine schreiben, Rat suchen, Platz machen, Aufsicht führen
deutsch.werk Gymnasium 3 (7. Klasse) (22006: 238ff.) 1. umfahren, umgehen, überstehen, übergehen, übersetzen, umstellen, überziehen, durchbrechen, unterstellen 2. rückwärts laufen, übrig bleiben, verborgen bleiben, bestehen bleiben, fertig sein, aneinander stoßen, kennen lernen, beiseite nehmen, spazieren gehen, getrennt schreiben 3. fern_sehen, schnell_fahren, gut_schreiben (2x), locker_sitzen, fest_drehen, leicht_fallen, wahr_sagen, weiß(!)_machen, frei_sprechen (2x), berühmt_machen, fest_nehmen 4. davonkommen – davon kommen, vorhersehen – vorher sehen, feststehen – fest stehen, dabeisitzen – dabei sitzen, wiedersehen – wieder sehen 5. Maß halten, Bus fahren, Rad fahren, Staub saugen, Schule schwänzen, Feuer legen, Wäsche waschen, Teppich klopfen, Schlange stehen, Eis essen, Blut spenden, Musik hören, Wache stehen
Die sprachlichen Daten, die in den Beispielen vorkommen, erscheinen geradezu als Sammelsurium der Problemfälle. Es wird an keiner Stelle versucht, sich über einen Kernbereich der Sache zu nähern, verstehbare Grundlagen fehlen komplett.
254 5.2
Nanna Fuhrhop
Regeln und Merksätze in Schulbüchern
Betrachten wir als Nächstes die Regeln und Merksätze. Auch hier wird exemplarisch ein Deutschbuch (Deutschbuch – Grundausgabe 8, 2000: 195) herausgegriffen. Die Indizes in Kreisen sind für die Kommentierung eingefügt, sie kommen im zitierten Text nicht vor: – Auch wenn zwei Wörter inhaltlich eng zusammengehören, schreibt man sie normalerweise getrennt. c Das gilt für – die meisten Verbindungen aus Nomen und Verb: Klavier spielen, Boot fahren, Eis essen, Rat suchen d; – die meisten Verbindungen aus mehreren Verben: schlafen lassen, laufen lernen, spazieren gehen e; – alle Verbindungen mit sein: da sein, zusammen sein, müde sein. f c Auch die Bestandteile von Komposita gehören ‚inhaltlich eng zusammen‘; sie schreibt man gerade nicht getrennt. Diese Regelung ist also schlichtweg falsch. d Die meisten ‚Verbindungen‘ aus Nomen und Verb wird man sowieso auseinander schreiben, wer schreibt Eis essen zusammen? Es ist eine Prädikat-Objekt-Struktur, was bei Klavier spielen nicht ohne Weiteres behauptet werden kann; hier werden einfach Fälle vermischt ohne irgendeinen Hinweis auf grammatische Besonderheiten. e Hier werden sehr unterschiedliche Fälle vermischt: kennenlernen/spazieren gehen – laufen lernen/schwimmen gehen, in Deutschbuch (22006, 10: 262) sogar als Beispiel stehen können, die Unterschiede werden aber nicht deutlich gemacht. f stellt eine Sonderregelung für das Verb sein auf, das ist der Sache wohl angemessen.
5.3
Das Wörterbuch als (letztes) Hilfsmittel
Achtung: Wegen mancher Ausnahmen im Wörterbuch nachschlagen! (Deutschbuch 22006, Arbeitsheft 8: 67) Wenn du unsicher bist, ob du getrennt oder zusammenschreiben musst, vergewissere dich im Wörterbuch. (Unsere Muttersprache 22006, 7: 162)
Im Wörterbuch stehen Wörter. Für fast jedes Kompositum finden sich aber im Deutschen Fälle, in denen die gleichen Stämme nebeneinander stehen. Das heißt, das Wörterbuch dient allein dem Wortbildungsprinzip und nicht dem Relationsprinzip. Nimmt man diesen Tipp ernst, dann heißt das auch, dass man eine Folge wie Haus_Türen immer zusammenschreiben muss, weil es im Wörterbuch steht, genauso wie man eine Folge eis_laufen zusammenschreiben muss, weil es im Wörterbuch steht (auch in einem Fall wie er will auf dem Eis laufen). Damit ist dieser Tipp geradezu fatal. Was das Wörterbuch leistet, ist lediglich, die Möglichkeiten aufzulisten, wann zusammengeschrieben werden
Getrennt- und Zusammenschreibung: Kern und Peripherie
255
darf. Auch das ist aber grundsätzlich problematisch, denn die Komposition im Deutschen ist produktiv. Das heißt, der Tipp hilft nur beim Nachschlagen von anerkannten (!) Zweifelsfällen und wenn syntaktisch nichts gegen Zusammenschreibung spricht.
5.4
Wege aus dem Dilemma
In diesem Abschnitt wurde sehr deutlich, dass die Darstellung in den Schulbüchern der Sache nicht angemessen ist. Es ist gerade so, als würde man – um das eingangs genannte Bild nochmals anzuführen – im Zusammenhang mit der Ehe nur über heimliche Mehrfachverheiratung und mögliche Streitereien bei der Gütertrennung bei Scheidung reden. Kurzum, hätte man das Ehegesetz als einzigen Text über die Ehe, man würde niemals heiraten. In den vorangegangenen Abschnitten habe ich gezeigt, dass die Getrenntund Zusammenschreibung grammatisch fundiert ist. Wenn man zunächst den Kernbereich behandelt und diesen grammatisch erklärt, kann man auch den Peripheriebereich entsprechend erklären. Grundsätzlich problematisch erscheint in den Schulbüchern dreierlei: Erstens wird der Kernbereich überhaupt nicht als solcher behandelt. Zweitens wird bei den Zweifelsfällen im Peripheriebereich suggeriert, dass die normierte Schreibung die einzig mögliche ist. Und drittens werden im Peripheriebereich – wenn überhaupt erklärt wird – grammatische Kriterien genannt (‚erweiterbar‘, ‚attributfähig‘ usw.), die ansonsten gar nicht vorkommen. Stattdessen sollte in den Schulbüchern Folgendes vermittelt werden: Die gesamte Getrennt- und Zusammenschreibung ist grammatisch fundiert. Wenn Schüler und Schülerinnen das verstanden haben, können sie auch mit Zweifelsfällen umgehen. Wenn aber die Grammatik nur zur Bewertung der Zweifelsfälle herangezogen wird, hat man keine Chance, die grammatischen Kriterien zu bewerten. Sie müssen völlig zufällig erscheinen. Das heißt, es müsste in der Schule zunächst der Kernbereich erarbeitet werden. Dies geschieht am besten, nachdem man sowohl die Wortbildung und Komposition behandelt hat als auch syntaktische Strukturen. Sinnvoll erscheint sogar, die Getrennt- und Zusammenschreibung für diese Bereiche als ‚Sichtbarmachung‘ der grammatischen Strukturen im Unterricht zu funktionalisieren (Fuhrhop 2006). Damit wäre auch die unangemessene Trennung von Grammatik und Orthografie aufgehoben; die Schriftgrammatik ist ein Teil der Grammatik. Vor dem Hintergrund des Kernbereichs werden die Grenzfälle behandelt, die entsprechende Regelung wird durchaus bis zu einem gewissen Grade als willkürlich dargestellt.
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6
Nanna Fuhrhop
Schluss
Die Getrennt- und Zusammenschreibung wurde hier im Kernbereich und in der Peripherie erläutert. Der Kernbereich mag einem trivial vorkommen, er ist aber für eine grammatische Fundierung unerlässlich. Wenn man erklären will, was ein Vogel ist, fängt man auch nicht mit dem Pinguin an. Die Getrennt- und Zusammenschreibung ist wesentlich durch zwei Prinzipien geregelt, einem morphologischen und einem syntaktischen. Das Gleiche kann auch für die Großschreibung angenommen werden, ist also so außergewöhnlich nicht. Bei der Darstellung des Kernbereichs wird deutlich, dass das System nicht zusammenbricht, wenn Grenzfälle in ihren Schreibungen variieren. Wenn ich nicht weiß, wie ich kennen_lernen schreiben soll, weiß ich aber sehr wohl, dass das_Haus zwei Wörter sind, dieses Wissen ist davon unberührt. Wesentlich für die grammatische Fundierung ist, sich klarzumachen, was die Schüler grammatisch alles implizit wissen (über Komposita, Satzglieder, Satzstrukturen usw.) und auch permanent anwenden. Das System bricht nicht zusammen, wenn die peripheren Bereiche nicht bis ins Letzte geregelt sind, wahrscheinlich trifft sogar das Gegenteil zu.
Literaturverzeichnis Deutschbuch (8–10) (22006): Grundausgabe und Arbeitsheft. – Berlin: Cornelsen. deutsch.werk (3–4) (22006). – Leipzig: Klett. Duden (201991): Rechtschreibung der deutschen Sprache. – Mannheim et al.: Dudenverlag. Engel, Ulrich (2004): Deutsche Grammatik. Neubearbeitung. – München: Iudicium. Fuhrhop, Nanna (2003a): ‚Berliner‘ Luft und ‚Potsdamer‘ Bürgermeister: Zur Grammatik der Stadtadjektive. – In: Linguistische Berichte 193, 91–108. – (2003b): Infinitivverben: Nehmen lernen und lieben einen verbalen Infinitiv als Ergänzung? – In: Claudia Maienborn (Hg.): (A)symmetrien – (A)Symmetries. Beiträge zu Ehren von Ewald Lang. – Papers in Honor of Ewald Lang. – Tübingen: Stauffenburg (Stauffenburg Linguistik 29) 99–114. – (2006): Erfolg versprechend oder erfolgversprechend? Zur Getrennt- und Zusammenschreibung. Modell 9./10. Schuljahr. – In: Praxis Deutsch 198, 48–53. – (2007a): Zwischen Wort und Syntagma: Zur grammatischen Fundierung der Getrennt- und Zusammenschreibung. – Tübingen: Niemeyer (Linguistische Arbeiten 513). – (2007b): Verbale Komposition: Sind brustschwimmen und radfahren Komposita? – In: Maurice Kauffer, René Métrich (Hgg.): Verbale Wortbildung im Spannungs-
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feld zwischen Wortsemantik, Syntax und Rechtschreibung. – Tübingen: Stauffenburg (Eurogermanistik 26) 49–58. – & OliverTeuber (2000): Das Partizip 1 als adjektivischer Infinitiv. – In: Andreas Bittner, Dagmar Bittner, Klaus-Michael Köpcke (Hgg.): Angemessene Strukturen: Systemorganisation in Phonologie, Morphologie und Syntax. – Hildesheim, Zürich, New York: Olms, 173–190. Jacobs, Joachim (2005): Spatien. Zum System der Getrennt- und Zusammenschreibung im heutigen Deutsch. – Berlin, New York: de Gruyter (Linguistik – Impulse und Tendenzen 8). Lüdeling, Anke (2001): On Particle Verbs and Similar Constructions in German. – Stanford: CSLI Publications. Neeleman, Ad, Fred Weerman (1993): The balance between syntax and morphology: Dutch particles and resultatives. – In: Natural language and linguistic theory 11, 433–475. Nerius, Dieter (Hg.) (32000): Duden. Deutsche Orthographie. – Mannheim et al.: Dudenverlag. Unsere Muttersprache (7–9) (22006). – Berlin: Volk und Wissen, Cornelsen. Wahrig (2002): Universalwörterbuch Rechtschreibung. – München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
Ursula Bredel
Strukturfunktionale und erwerbstheoretische Aspekte des Interpunktionssystems am Beispiel des Ausrufezeichens
Die Interpunktion des Deutschen wurde bislang kaum beforscht. Die meisten Analysen stehen in Zusammenhang mit Reformbemühungen und sind eher an der Norm als am System interessiert, fragen also, was sein soll, und nicht, was ist. Die wenigen systembezogenen Arbeiten befassen sich überwiegend mit dem Komma, dessen Gebrauch im Allgemeinen als schwierig (Nerius 3 2000) gilt. Wie Primus (1993, 1996, 1997) und Bredel/Primus (2007) gezeigt haben, ist es jedoch mit einigen wenigen Regularitäten beschreibbar.1 Die Fehlerstatistiken (Menzel 1985) über die Kommasicherheit bei Schüler/innen geben allerdings Nerius recht. Kaum ein Bereich ist bis weit über die Schulzeit hinaus so fehleranfällig wie die Kommasetzung. Möglicherweise aber hängen die unbefriedigenden Ergebnisse nicht mit dem Gegenstand selbst zusammen, sondern mindestens auch damit, dass das Setzen des Kommas und auch das Setzen aller anderen Zeichen traditionell kasuistisch, auf der Basis von Einzelfällen gelehrt und gelernt wird, so dass den Lerner/innen die Einsicht in die interne Systemhaftigkeit erschwert wird. Ein zweiter Grund für die mangelhafte Kommasetzungsfähigkeit von Schülern und Schülerinnen und späteren Schreiber/innen könnte darin liegen, dass das Komma nicht in seiner Gesamtsystematik (also in Relation zu anderen, insbesondere den drei weiteren syntaktischen Interpunktionszeichen Punkt, Doppelpunkt und Semikolon), sondern isoliert erworben wird. Kasuistische, systemisolierende Verfahren führen bei Lernern und Lernerinnen dazu, eigene Hypothesen über den Gegenstand aufzustellen und zu explorieren. Für die Kommafähigkeit hat dies mit einer etwas anderen Herleitung Afflerbach (1997) gezeigt. Im vorliegenden Beitrag wird die Aneignung des Ausrufezeichengebrauchs durch Lerner/innen rekonstruiert. Um zu verstehen, welche Aneignungsroute Kinder bei der Entdeckung des Ausrufezeichens wählen, geht es zunächst um eine systemnahe Rekonstruktion des Ausrufezeichens im Rahmen des Gesamtsystems der Interpunktion (Bredel 2008, 2009). Darauf aufbauend kann gezeigt werden, wie Lerner/innen unter-
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Ich beziehe mich hier explizit auf die Kommasetzung vor 1996. Die Reform hat die Kommasystematik aufgehoben. Und auch die aktuell geltende Orthographie, die auf der Grundlage der Rereform vom März 2006 seit August 2006 in Kraft ist, hat nur teilweise zu einer Resystematisierung beigetragen.
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Ursula Bredel
schiedliche Ebenen der ein Zeichen definierenden Dimensionen sukzessive entdecken. Das Ausrufezeichen eignet sich für eine solche Rekonstruktion besonders gut, weil hier – wie zu zeigen sein wird – leicht voneinander abgrenzbare Dimensionen involviert sind. Umgekehrt kann auf der Grundlage einer Erwerbsrekonstruktion des Ausrufezeichens (möglicherweise auch anderer Interpunktionszeichen) die schülerseitige Zugriffstiefe auf ihre Texte ermittelt werden.
1
Das Interpunktionssystem des Deutschen
In der Regel wird die Interpunktion in der Syntax fundiert (exemplarisch Behrens 1989). Ausgehend von denjenigen Zeichen, die klar mit syntaktischen Strukturen assoziiert sind (das sind Punkt, Komma, Semikolon und Doppelpunkt), wird auf die syntaktische Fundiertheit des Interpunktionssystems als Ganzes geschlossen. In den Einzelrekonstruktionen wird dann versucht, überall dort, wo ein Interpunktionszeichen zusammen mit einer syntaktisch beschreibbaren Konstruktion auftritt, mindestens für diese Fälle Syntaxsensitivität eines Zeichens anzunehmen. So gilt z. B. der Gedankenstrich dort als syntaktisch motiviert, wo er Parenthesen kennzeichnet (Wir hatten – es war Winter geworden – die Öfen angefeuert); für andere, nicht syntaktisch rekonstruierbare Fälle (z. B. in der Verwendung als Markierung einer Redeunterbrechung: Wir hatten – die – nein – äh …) werden dann davon abweichende Sonderfunktionen angenommen, so dass die Gesamtfunktion des Gedankenstrichs in polyfunktionale, nicht aufeinander beziehbare Einzelbestimmungen zerfällt (vgl. Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997). Insgesamt führt eine an Einzelfällen orientierte Interpunktionsbeschreibung zu der bereits erwähnten Kasuistik, an deren Ende ein umfangreicher Regelapparat steht, der kaum noch sinnvoll auf Strukturen oder grundlegende Funktionsweisen bezogen werden kann. In Bredel (2008, 2009) wurde eine Neukonzeptualisierung des Interpunktionssystems versucht, die in mindestens vier Punkten von herkömmlichen Beschreibungen abweicht. Erstens: Jedem Zeichen wird eine und genau eine Funktion zugewiesen; d. h. es gilt strikte Monofunktionalität. Zweitens: Die Funktion der Interpunktionszeichen wird nicht auf der Grundlage von Konstruktionen oder Konstruktionseigenschaften definiert, sondern von der Sprachverarbeitung beim Lesen aus rekonstruiert. Drittens: Die Syntax gilt nur dort als Bezugsebene, wo die syntaktische Sprachverarbeitung involviert ist; wie sich zeigen wird, werden neben syntaktischen auch wortbezogene und textbezogene Sprachverarbeitungsprozesse durch die Interpunktion re-
Strukturfunktionale und erwerbstheoretische Aspekte des Interpunktionssystems
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guliert. Viertens: Es wird davon ausgegangen, dass die Form und die syntagmatische Distribution in der Zeile der Interpunktionszeichen wesentliche Hinweise auf ihre Funktion geben, wobei sich klare Form-Funktions-Gruppen isolieren lassen. Die folgende Darstellung beginnt mit der Skizze dieser Gruppierung; dabei werden nur einige Aspekte der Vollstruktur thematisch (für eine ausführliche Dokumentation vgl. Bredel 2008, 2009). Formen und Funktionen Das aus den 12 Einzelzeichen <. , ; : ! ? „“ ( ) – - ’ …> bestehende Interpunktionssystem unterscheidet mindestens zwei Großgruppen: <. , ; : ! ? „“ ( )> und <– - ’ …>. Eine Rechtfertigung dieser Gruppenbildung erhalten wir auf der Grundlage des Verhaltens der Interpunktionszeichen in der Zeile: Gedankenstrich, Divis, Apostroph und Auslassungspunkte, also die Zeichen der zweiten Gruppe, können symmetrische Kontaktpositionen aufweisen. Das heißt, links und rechts sind Zeichen desselben Typs zugelassen: Links und rechts vom Divis können Buchstaben stehen, links und rechts von Auslassungspunkten und Gedankenstrich Leerzeichen (vgl. 1). Außerdem sind Gedankenstrich, Divis, Apostroph und Auslassungspunkte sowohl am Zeilenanfang als auch am Zeilenende lizenziert. (1)
Magen-Darm-Grippe Heute – nein morgen heil’gen Heute … Nein, morgen
Diese Eigenschaften (symmetrisches Auftreten; freies Erscheinen in der Zeile) zeigen, dass sich die vier infragestehenden Zeichen ähnlich wie Buchstaben verhalten: Sie füllen einen eigenen segmentalen Raum und sind relativ frei beweglich und werden hier deshalb Filler genannt. Das ist anders bei den verbleibenden Zeichen: Punkt, Komma, Semikolon, Doppelpunkt, Frage- und Ausrufezeichen sowie Klammer und Anführungszeichen weisen eine asymmetrische Kontaktposition auf und sind auf eine Zeilenrandposition festgelegt (öffnende Klammer und Anführungszeichen erscheinen nie am Zeilenende, alle anderen können nicht am Zeilenanfang stehen). Dieses Verhalten lässt darauf schließen, dass es die genannten Zeichen klitisieren: Sie besetzen keinen eigenen segmentalen Raum in der Zeile, sondern lehnen sich an ein Stützzeichen an (z. B. an Buchstaben), stehen mit ihrem Stützzeichen im selben segmentalen Raum und können nur mit dem Stützzeichen verschoben werden. Der auf der Basis des syntagmatischen Verhaltens von Fillern einerseits und Klitika andererseits gewonnenen Unterscheidung korrespondiert auch ein funktionaler Unterschied: Filler übernehmen die Aufgabe, defekte Strukturen zu markieren (Divis und Apostroph markieren Wortanomalien – fehlende
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Ursula Bredel
Wortteile oder anormale morphologische Verknüpfungsstruktur –, Gedankenstrich und Auslassungspunkte Textanomalien – fehlende Textteile oder anormale textuelle Verknüpfungsstruktur). Klitika operieren auf fertigen Strukturen: Sie helfen dem Leser, vorläufig gesprochen, bei der Überführung von linear gegebenen Wortketten in Strukturen. Dabei können klitikaintern zwei formal definierte Gruppen unterschieden werden: Fragezeichen, Ausrufezeichen, Klammer und Anführungszeichen weisen Oberlängenkontakt auf; Punkt, Komma, Semikolon und Doppelpunkt nicht:
! ? ( ) „“ . , ; :
Oberlänge
Abb. 1: Interpunktionszeichen mit und ohne Oberlängenkontakt
Auch dieser Formunterschied korrespondiert einem Funktionsunterschied: Die Zeichen ohne Oberlängenkontakt regulieren die Überführung von linear gegebenen Wortketten in syntaktische Strukturen, die Zeichen mit Oberlängenkontakt regulieren die Zuordnung von linear gegebenen Wortketten zu kommunikativen Funktionen. Wir sprechen im Folgenden vom Merkmal [Vertikalität] mit den Ausprägungen [+vert], [-vert], wobei alle diejenigen Zeichen, die Oberlängenkontakt aufweisen, das Merkmal [+vert] erhalten. 2 Auf der Grundlage der hier gegebenen Skizze ergeben sich die folgenden Formgruppen: Interpunktionszeichen
FILLER Markierung unfertiger, defekter Einheiten <- … – ’>
KLITIKA Markierung fertiger, nicht-defekter Einheiten
[–VERT] KLITIKA Markierung grammatischer Funktionen <. , ; :>
[+VERT] KLITIKA Markierung kommunikativer Funktionen
Abb. 2: Formgruppen
––––––– 2
Eine vollständige Analyse berücksichtigt die Tatsache, dass das Apostroph und – in ihrer historischen Entstehungssituation – die Auslassungspunkte ebenfalls Oberlinienkontakt aufweisen (vgl. hierzu Bredel 2008, 2009).
Strukturfunktionale und erwerbstheoretische Aspekte des Interpunktionssystems
2
263
Das Ausrufezeichen
Das Ausrufezeichen gehört zu den vertikalen Klitika und reguliert, so die Behauptung, die Zuordnung linear gegebener Wortketten zu kommunikativen Funktionen. Welche kommunikative Funktion betroffen ist, wird in der Literatur verschieden beantwortet: Ältere Auffassungen sehen das Ausrufezeichen als Marker von spezifischen Sprechakten (Befehl, Aufforderung, Ausruf; vgl. Duden 201991), neuere Auffassungen nehmen die Expressivität/Nachdrücklichkeit als zentrales Bestimmungsmerkmal an (AR 242006, § 69; Primus 1997). In beiden Modellen müssen neben regulär beschreibbaren Fällen Regelabweichungen in Kauf genommen werden: Bei den älteren Auffassungen werden etwa Aufforderungen in institutionellen Zusammenhängen ein Problem (z. B. Aufgaben in Schulbüchern, Aufforderungen auf Formularen), die standardmäßig ohne Ausrufezeichen stehen. Mit dem Merkmal Expressivität können z. B. Grußformeln nicht erfasst werden; sie weisen das Merkmal Nachdrücklichkeit nicht auf. Eine monofunktionale, an der Tätigkeit des Schreibers/Lesers ausgerichtete Bestimmung des Ausrufzeichens wird in Bredel (2009) vorgeschlagen. Demnach aktiviert das Ausrufezeichen die Vorgeschichte einer Äußerung und setzt deren Geltung außer Kraft. Betroffen sein können (a) das Vorwissen oder (b) die vorgängige Handlungsplanung oder (c) die vorgängige Handlungskonstellation des Schreibers oder Lesers. An die Stelle des zuvor Geltenden setzt die mit dem Ausrufezeichen markierte Äußerung (a’) neues Wissen, (b’) einen neuen Handlungsplan oder (c’) eine neue Handlungskonstellation. Alle drei Fälle sollen im Folgenden beispielhaft skizziert werden: (a) Die Dispensierung von rezipientenseitigem Vorwissen erfolgt durch mit dem Ausrufezeichen versehene Deklarative. Im Gegensatz zur einfachen Aussage <Max schläft.> will der Äußerungsproduzent mit der mit dem Ausrufezeichen versehenen Aussage <Max schläft!> nicht einfach Wissen weitergeben; vielmehr schließt er aus dem Verhalten des Rezipienten (dieser verhält sich den Schlaf von Max störend), dass dieser über falsches (gegenteiliges) Wissen verfügt. Das Ausrufezeichen fordert den Rezipienten auf, sein altes Wissen zu löschen und neues an diese Stelle zu setzen. Sekundär entsteht ein exklamativer Effekt: Wer hörerseitiges Wissen löscht, muss etwas Gewichtiges zu sagen haben. (b) Die Dispensierung von rezipientenseitiger Handlungsplanung wird mit mit dem Ausrufezeichen versehenen Aufforderungen erreicht, die sich von ausrufezeichenlosen Aufforderungen genau in diesem Punkt unterscheiden:
264 (2)
Ursula Bredel (i) (ii) (iii) (iv)
Unterstreiche die Verben. Unterstreiche die Verben nicht! Füllen Sie die roten Felder aus. Füllen Sie nur die roten Felder aus!
Nur dort, wo der Schreiber davon ausgeht, dass der Leser nicht auf die von ihm in der Aufforderung verbalisierte Handlung vorbereitet ist, dass also der für den Leser verbalisierte Handlungsplan von seinem tatsächlichen Plan abweicht, wird das Ausrufezeichen gesetzt (2, ii und 2, iv); geht der Schreiber dagegen davon aus, dass der Leser auf die in der Aufforderung verbalisierten Handlung eingestellt ist, steht das Ausrufezeichen nicht (2, i und 2, iii). (c) Der Prototyp für die Dispensierung der aktuellen rezipientenseitigen Handlungskonstellationen ist der selbstsuffiziente Ausrufezeichengebrauch auf Verkehrsschildern. Der Fahrer wird so umgesteuert, dass die vor dem Erscheinen des Ausrufezeichens normale Aufmerksamkeit in erhöhte Aufmerksamkeit wechselt. Analoges gilt für Anzeigetafeln. Mit wird ein in Bezug auf Aufmerksamkeit indifferenter Passant so gesteuert, dass er zum Leser wird. Der Prototyp für die Dispensierung produzentenseitiger Handlungskonstellationen ist der Ausruf. Mit Äußerungen wie
(c) rezipienten-/ produzentenseitig
Handlungsplanung Direktiv Komm!
Handlungskonstellation Attention Getter !!! Wichtig !!!
Entscheidungsbekundungen Ich geh jetzt!
Exklamativ Heureka! Uaahhhh! Hurra! Igitt! Ist der aber groß!
Adhortativ Lass uns gehen!
Wissen Deklarativ Hans schläft!
Volitiv Wäre sie doch hier! Frage WIE alt ist der?! Begrüßen/Verabschieden EntdeckungsBedanken … bekundungen 3 Hallo! Tschüss! Das ist ja Betrug! Glück auf! Danke!
––––––– 3
Unterstellt wird hier, dass weder S noch H bekannt war, dass der (mit das ausgedrückte) infragestehende Sachverhalt als Betrug gewertet werden muss. Andere Konstellationen sind denkbar.
Strukturfunktionale und erwerbstheoretische Aspekte des Interpunktionssystems
265
Die hier aufgezeigte Differenzierung ist nicht mit einer polyfunktionalen Bestimmung zu verwechseln. Es handelt sich um verschiedene Ausdifferenzierungen der Kernfunktion des Ausrufezeichens, spezifische Eigenschaften der Vorgeschichte (Planung, Konstellation, Wissen) bei verschiedenen Kommunikationsbeteiligten (Produzent, Rezipient) zu dispensieren und neue Strukturen einzufügen. Mit dieser Bestimmung lassen sich nicht nur Ausrufezeichenverwendungen rekonstruieren; vielmehr gestattet diese Definition es auch, die Verwandtschaft zwischen den formalen Verwandten Frage- und Ausrufezeichen aufzudecken und die Gemeinsamkeit von Frage-/Ausrufezeichenfunktion mit der Funktion der formal ebenfalls verwandten Zeichen Klammer und Anführungszeichen zu kontrastieren, um von dort aus zu einer Funktionsbestimmung des Merkmals Vertikalität (s. o.) zu kommen. Mit dem Fragezeichen werden nicht – wie es normalerweise heißt – Fragen oder Fragesätze gekennzeichnet (vgl. Max lügt? [Aussagesatz mit Fragezeichen], Wie sieht es denn hier aus! [Fragesatz ohne Fragezeichen]). Vielmehr wird der Leser dazu instruiert, eine gegebene Konstruktion unabhängig von ihrer Struktur wie eine Frage auszuwerten: Der Schreiber macht den Leser mit dem Fragezeichen zum Wissenden; dieser setzt im Anschluss an das Fragezeichen eine Wissenssuche und eine darauffolgende Wissensselektion in Gang. Frage- und Ausrufezeichen ist demnach gemeinsam, dass sie eine vom Normalfall abweichende Leser-/Schreiberrolle etablieren: Normalerweise, also bei ausrufezeichen- und fragezeichenlosen Konstruktionen, ist der Schreiber Wissender, der Leser ist Nicht-Wissender. Steht das Fragezeichen, ist der Leser Wissender, der Schreiber Nicht-Wissender; steht das Ausrufezeichen, ist der Schreiber Wissender, der Leser ein „Anders-Wissender“ 4 , wobei dieses andere Wissen vom Schreiber mit neuem Wissen überschrieben wird. Frage- und Ausrufezeichen regulieren somit die epistemische Rollenkonfiguration in Texten: Sie regeln die Wissensverteilung zwischen Schreiber und Leser. Klammern und Anführungszeichen, die beiden weiteren Klitika mit dem Merkmal [+VERT], unterscheiden sich von Frage- und Ausrufezeichen formal dadurch, dass sie aus gleichförmigen Elementen zusammengesetzt sind; wir sprechen vom Merkmal Reduplikation 5 ; die Klammern bestehen (besonders gut erkennbar in ihrer spitzen Ausprägung) aus jeweils zwei geneigten Verti-
––––––– 4
5
Ich verzichte hier auf die Beschreibung des Lesers/Schreibers als „AndersHandelnder“/„Anders-Planender“; diese Dispositionen sind selbstverständlich mitgemeint. Dieses Merkmal gilt auch für den Doppelpunkt und den Gedankenstrich <-->, dessen Form hier als Kombination aus zwei Bindestrichen konzeptualisiert wird.
266
Ursula Bredel
kalen <¢ ²>. Die Anführungszeichen können aus jeweils zwei Kommas bestehen <„ “>; ihre zugrundeliegende Form ist jedoch die Pfeilstruktur mit einer der Klammer entgegengesetzten Öffnungsrichtung <² ¢>. Ein weiterer Unterschied zwischen Frage- und Ausrufezeichen einerseits und den Klammern und Anführungszeichen andererseits ist die obligatorische Paarigkeit der letztgenannten. Dieser Unterschied ist im Spanischen nivelliert, wo auch Frage- und Ausrufezeichen obligatorisch paarig realisiert werden; mit Bezug aufs Spanische wäre die Klassenbildung der vertikalen Klitika auch syntagmatisch gerechtfertigt. Funktional ist diese Klassenbildung wie folgt gerechtfertigt: Die beiden reduplizierten vertikalen Klitika, also Klammer und Anführungszeichen, steuern wie Frage- und Ausrufezeichen die Rollenkonfiguration von Texten. Betroffen ist jedoch nicht die epistemische, sondern die interaktive Rollenkonfiguration: Mit den Anführungszeichen markiert der Schreiber eine figurale Fremdrolle; mit den Klammern meldet sich der Schreiber als er selbst zu Wort, indem er Erläuterungen, Hinweise etc. gibt, wie die im Trägertext prozessierte Proposition zu verstehen ist. Das Merkmal Vertikalität kann so einheitlich als Rollenmarker gewertet werden. 6
3
Der Erwerb des Ausrufezeichens
3.1
Die gängige Ausrufezeichendidaktik
Der Erwerb des Ausrufezeichens ist unerforscht. Es liegen weder empirische Analysen noch Hypothesen über mögliche Erwerbsrouten vor. Gleichwohl ist das Ausrufezeichen Unterrichtsgegenstand. Didaktische Konzepte beschränken sich jedoch auf Zielangaben: In den Bildungsstandards gehört das Ausrufezeichen neben dem Punkt, dem Fragezeichen und dem Doppelpunkt zu den vier Zeichen, die in der Grundschule zu erwerben sind; möglicherweise handelt es sich nicht zufällig um genau die Zeichen mit einem Punkt auf der Grundlinie <. ! ? :>, also um Zeichen, die häufig an Satzgrenzen stehen.
––––––– 6
Das Merkmal ‚Oberlängenkontakt‘ gilt auch für den Apostroph und für die Auslassungspunkte in ihrer historisch frühen Gestalt, in der sie die Form von drei nach oben geneigte Strichen auf der Mittellinie haben. Betroffen sind weder die epistemische noch die interaktive Rolle, sondern die Kodierrolle: Der Schreiber ist nicht mehr der Enkodierer von Strukturen/Bedeutungen, sondern überlässt diese Rolle dem Leser, der die Informationen nicht mehr aus dem Text herauslesen kann, sondern sie in den Text hineinlesen muss.
Strukturfunktionale und erwerbstheoretische Aspekte des Interpunktionssystems
267
Punkt, Ausrufezeichen und Fragezeichen werden im Unterricht als „Satzschlusszeichen“ operationalisiert, der Doppelpunkt als Einleiter für die direkte Rede. Folgt man Schulbüchern, wird das Ausrufezeichen im Unterricht nach dem Punkt und dem Fragezeichen im Verlauf des 2. und 3. Lernjahrs thematisch. Im Rahmen traditioneller Konzeptualisierungen (s. o.) neigen die Lehrwerke überwiegend der älteren Auffassung zu, nach der das Ausrufezeichen bestimmte Sprechakttypen markiert. Den Startpunkt und zugleich den Endpunkt der Behandlungsvorschläge für den Unterricht bilden Aufforderungs- und Ausrufesätze, also diejenigen Fälle, in denen das Ausrufezeichen die Umstrukturierung der rezipientenseitigen Handlungsplanung (Aufforderung) und die Umstrukturierung der produzentenseitigen Handlungskonstellation (Ausruf) markiert (s. o.). Dabei sind nicht selten konzeptinterne Inkonsistenzen zu beobachten. So wird in „Papiertiger 2“ das Ausrufezeichen mit Aufforderungen und Befehlen assoziiert – auf derselben Seite stehen Aufforderungen (Aufgaben für die Schüler/innen) ohne Ausrufezeichen: „Papiertiger 2“ (Diesterweg 2001: 158): Aufgaben: „[...] Schreibt auf, was ihr sagen würdet. Sammelt auf einem Plakat. Lest eure Sätze mit entsprechender Betonung vor [...].“ Merksatz: „Nach Aufforderungen und Befehlen steht ein Ausrufezeichen“
Dasselbe Phänomen finden wir in „wir sprechen schreiben lesen 4“: „wir sprechen schreiben lesen 4“ (Oldenbourg 1996): Merksatz: „zu etwas auffordern o Aufforderungssatz!“. Aufgabe: „Schreibe passende Sätze auf“ (ohne Ausrufezeichen).
In „Papiertiger 3“ wird das Ausrufezeichen als Markierung des Ausrufesatzes ins Gespräch gebracht; als Beispiel wird ein Aufforderungssatz gegeben: „Papiertiger 3“ (Diesterweg 2001: 112): „So setzt du Satzschlusszeichen: [...] ein Ausrufezeichen am Ende des Ausrufesatzes“, Beispiel für einen Ausrufesatz: „Male das Bild“
Auf der Grundlage solcher Lehrinstruktionen ist kaum ein sinnvoller Zugriff auf das Ausrufezeichen möglich. Sieht man sich Texte von Schülern/ Schülerinnen an, lässt sich zusätzlich erkennen, dass diese bei der Entdeckung des Ausrufezeichens ohnehin ganz eigene Wege gehen (einfache Unterstreichung: Ausrufezeichenkonstruktionen; kursiv: Aufforderungen ohne Ausrufezeichen):
268
Ursula Bredel
Marc, Klasse 3, GS Marcel schlug vor, 5 Runden. Ich war einverstanden. Er traf alle neun! Diesmal treffe ich 7 Kegel. Marcel 6 Kegel ... Dann ist die Runde zuende. Gleichstand. „Komm, wir fahren nach hause“, sage ich. „Ja“, sagt Marcel [...]. Sarah, Klasse 5, RS [...] Plötzlich hörten wir Stimmen die immer neher kamen! Es war so als würden sie uns verfolgen, Larissa rief: „Zum kukuk mit dieser plage los zur Tür.“ Doch die Stimmen hörten nicht auf! Ich schrie: „los Tür auf und hinein“. Alica, Klasse 7, RS [...] Zuerst dachten wir es wären die Bäume gewesen, aber so hörten sich niemals Bäume an. Mein Herz pochte, so Angst hatte ich noch nie gehabt! Ich stubste meinen Freund (Patrick) an. Selbst er hatte Angst, der sonst nie Angst hat! Er sagte zu mir: „Komm lass uns lieber gehen“.
Das, was in Lehrwerken als einer der Kernauslöser für das Ausrufezeichen gilt (die Aufforderung), wird von den Schüler/innen offensichtlich nicht in der erwarteten Intensität als ausrufezeichenrelevant wahrgenommen. Das Ausrufezeichen steht in den Beispieltexten nicht dort, wo Handlungsumstrukturierungen angezeigt werden, sondern dort, wo es um die Umorganisation von Wissen geht.
3.2
Erwerbssequenzen
Ob die Ausrufezeichenverwendung von Marc, Sarah und Alica typisch sind, kann freilich erst auf der Grundlage der Beobachtung größerer Datenmengen evaluiert werden. Zur Ermittlung der lernerseitigen Erwerbsrouten beim Setzen des Ausrufezeichens wurden daher für den vorliegenden Beitrag 613 narrative Schülertexte (Klassen 2 bis 13) ausgewertet. 7 In 195 Texten (ca. 32 %) kam mindestens ein Ausrufezeichen vor. Abbildung 3 zeigt die rein quantitative Vorkommenshäufigkeit des Ausrufezeichens nach Klassenstufen (Angaben in Prozent):
––––––– 7
Das ausgewertete Material stammt aus einem Korpus freier Aufsätze, die 2001, 2002 und 2007 im Raum Köln erhoben wurden. Teilgenommen an der Erhebung haben Schüler/innen der Jahrgänge 1 bis 13. Durchgeführt wurden die Erhebungen von Studierenden des Lehramts. Für die hier durchgeführte empirische Analyse wurden mit Ausnahme der Klassen 11 und 13 aus jeder Klassenstufe mindestens fünfzig Datensätze gesichtet.
269
Strukturfunktionale und erwerbstheoretische Aspekte des Interpunktionssystems 70 60 50 40 30 20 10 0 2. Kl
3. Kl
4. Kl
5. Kl
6. Kl
7. Kl
8. Kl
9. Kl
11. Kl
13. Kl
Abb. 3: Die Nutzung des Ausrufezeichens in narrativen Texten (Klassen 2 bis 13)
In den Lernjahren, in denen das Ausrufezeichen thematisch wird (2./3. Schuljahr), wird es nur selten genutzt: Gerade einmal 2 % der Zweitklässer und ein Viertel der Drittklässer verwenden es produktiv. Die Weiterentwicklungen werden didaktisch nicht mehr begleitet. Es ist also davon auszugehen, dass das Ausrufezeichen vom überwiegenden Teil der Schüler/innen autonom angeeignet wird. Wissen – Planung – Konstellation Insgesamt wurden in den Klassen 2 bis 9 8 332 Ausrufezeichen gesetzt (bei Einfachzählung iterierter Ausrufezeichenverwendungen wie <Ende!!!!>); in Bezug auf die Kategorien Wissen (z. B. Deklarative), Handlungsplanung (z. B. Aufforderungen), Handlungskonstellation (z. B. Grußformeln, Ausrufe) ergab sich die folgende Verteilung: 250 Ausrufezeichen gehören zur Kategorie Wissen, 59 zur Kategorie Konstellation, 23 zur Kategorie Planung. Diese Ergebnis stützt die oben auf der Grundlage der Schülertexte aufgestellte Vermutung, dass diejenigen Äußerungsformate, die den Lernenden im Unterricht als primäre Anlässe zum Setzen des Ausrufezeichens angeboten werden (also die Aufforderung und der Ausruf), für sie sehr viel weniger salient sind als diejenigen, die nie Gegenstand des Unterrichts sind: Insgesamt enthielten die ausgewerteten Texte 54 Äußerungen, die in die Kategorie Handlungsplanung fallen (Aufforderungen „Ja, komm!“, Entscheidungsbekundungen „Ich spiele gleich mit dir, aber erst muss ich mich fertigmachen!“, Adhortative „Gehen wir!“). Weniger als die Hälfte davon (23) wurde mit dem Ausrufezeichen markiert. In die Kategorie Handlungskonstellation (Attention Getter „Ende!!!“, Exklamative „Mist!“, Grußformeln „Hallo!“) fallen insgesamt 93 Äußerungen. Immerhin 62 % sind regelgerecht markiert. Die Anfälligkeit der in diese Kategorie fallenden Markierungen ist also höher als die Anfälligkeit der Äußerungen der Kategorie Handlungsplanung. Am kon-
––––––– 8
Wegen der Schultypenspezifik werden die internen Auswertungen ohne Einbezug der Klassen 11 und 13 vorgenommen. Bis Klasse 9 wurden, soweit möglich, alle Schultypen einbezogen.
270
Ursula Bredel
sequentesten aber wird die Wissensumstrukturierung markiert. Das gilt bereits in Klasse 2/3; die wenigen dort gesetzten Ausrufezeichen fallen überwiegend in die Kategorie Wissen. Die Erwerbsfolge bei der Entdeckung des Ausrufezeichens scheint demnach unabhängig von Lehrinstruktionen, die die umgekehrte Reihenfolge anbieten, folgende Route zu nehmen: Wissen (Deklarativ) >> Konstellation (Ausruf) >> Handlung (Direktiv). Produzent – Rezipient – Produzent/Rezipient Der Abfall der Ausrufezeichenintensität in Klasse 6 (vgl. Abb. 3) geht einher mit dem Rückgang der Verwendung von Ausrufen sowie mit der sparsamen Auszeichnung der Äußerungen der Kategorie Wissen. Der neuerliche Anstieg des Ausrufezeichengebrauchs in Klasse 7 geht mit einer vermehrten Produktion von Texthinweisen wie „Ende!“ oder evaluativen Abschlussäußerungen wie „Diesen Tag werde ich nie vergessen!“ einher, die dann auch regelgerecht markiert werden. Insgesamt werden wieder mehr Äußerungen der Kategorie Wissen mit dem Ausrufezeichen markiert, wobei diejenigen, bei denen mindestens auch eine rezipientenseitige Wissensumstrukturierung beteiligt ist, überwiegen. Es scheint, dass der Ausrufezeichengebrauch die Textproduktionsentwicklung nachzeichnet, wie sie von Feilke/Augst (1989) zur Diskussion gestellt wurde: Nach dieser Modellbildung steht am Beginn der Textproduktion das „expressive Schreiben“ resp. die „expressive Problemdimension“ – geschrieben wird aus subjektiver Perspektive. Die expressive Problemdimension wird von der kognitiven Problemdimension abgelöst (bzw. durch diese ergänzt); es geht den Schüler/innen nun überwiegend um sachlogische und textlogische Strukturierungen, bevor mit der „kommunikativen Problemdimension“ der Leser in den Blick kommt. Bildet man die Ergebnisse des Ausrufezeichengebrauchs nun auf diese Entwicklungslogik ab, ließe sich die erste Phase des Ausrufezeichengebrauchs möglicherweise als „expressiv“ charakterisieren: markiert werden überwiegend produzentenseitige Umstrukturierungen (Wissen, Handlung, Konstellation), weniger intensiv kommen die rezipientenseitigen Handlungsumstrukturierungen (Aufforderung) in den Blick. Nach einer für Aneignungsprozesse typischen Latenz, die auch im Rahmen einer schülerseitigen Umorientierung auf die sachlogische Struktur interpretierbar sein könnte als Phase, in der weder die Arbeit am produzenten- noch die am rezipientenseitigen Wissen/Handeln im Zentrum steht, wechseln die Lerner/innen in den „kommunikativen“ Ausrufezeichengebrauch. Sie markieren nun überwiegend rezipientenseitige Umstrukturierungen (Wissen, Konstellation, Handlung). In einer dritten Hochphase des Ausrufezeichens, die sich nach einer weiteren Latenz im 9. Lernjahr abzeichnet, findet ein Ausgleich zwischen rezipientenund produzentenseitigen Verwendungen des Ausrufezeichens statt; beide, das Schreiber- und das Hörersystem, werden mit dem Ausrufezeichen gesteuert;
Strukturfunktionale und erwerbstheoretische Aspekte des Interpunktionssystems
271
es kommt zu einem ausgeglichenen Ausrufezeichengebrauch. Die Erwerbsfolge kann in Bezug auf die betroffene Rolle idealtypisch wie folgt angegeben werden: Produzent >> Rezipient >> Produzent/Rezipient. Figur – Verfasser – Erzähler Eine dritte Dimension des Ausrufezeichengebrauchs wurde bislang noch nicht angesprochen, ist aber gleichwohl für die Aneignungsanalyse von Bedeutung: die Dimension der Textinstanzen. Bekanntermaßen sind Texte polyphone Konstrukte, in denen nicht einfach ein Schreiber einem Leser gegenübertritt. Vielmehr kontrastieren in narrativen Texten auf Produzentenseite mindestens Verfasser, Erzähler und sprechende Figuren. Ihnen korrespondieren auf Rezipientenseite der Leser (als Korrespondenzpartner des Verfassers), der implizite Leser (als Korrespondenzpartner des Erzählers) und eine hörende Figur (als Korrespondenzpartner der sprechenden Figuren). Die Figurenrede ist durch ein eigenständiges deiktisches Personal- und Temporalsystem gekennzeichnet; der Adressat der Figurenrede ist eine weitere Figur (Dann sagte Leon: „Das ist Fabi!“ [Kl. 4]; „Genau, nur gemeinsam können wir ihn besiegen!“ [Kl. 9]). In der Verfasserrede ist der Adressat der konkrete Leser; sie enthält in der Regel metatextuelle Kommentare (Ende!! [z. B. Kl. 5]; Ein Tag mit meinem Bruder! [Kl. 8]; Den Tag werde ich nie vergessen!!! [Kl. 8]). In der Erzählerrede ist der Adressat der implizite Leser (Dann ging alles ganz schnell! Und dort stand es! Schwarz auf Weiß! [Kl. 7]). Wertet man die Ausrufezeichenverwendungen der Schüler/innen in Relation zu den Textinstanzen aus, die markiert werden, ergibt sich folgendes Bild (Angaben in %): 60 50 40
Figur
30
Verfasser
20
Erzähler
10 0 3 und 4
5 und 6
7 bis 9
Abb. 4: Die Markierung von Figuren-, Verfasser- und Erzählerrede
Am Ausrufezeichengebrauch können wir ablesen, wie weit die Schüler/innen in der Unterscheidung und Modellierung von Textinstanzen fortgeschritten sind. Ganz analog zu dem seit langem bekannten Faktum, dass jüngere Kin-
272
Ursula Bredel
der die Perspektive der Figuren noch nicht von der Erzählerperspektive trennen (Obrig 1934), wird in frühen Lernaltern noch nicht zwischen den unterschiedlichen Textinstanzen unterschieden. Das ändert sich in den Klassen 5 und 6, in denen eine deutliche Zweiteilung zwischen den Figuren einerseits und Verfasser/Erzähler andererseits zu erkennen ist. Im weiteren Verlauf kommt es zu einer deutlichen Differenzierung und autonomen Strukturierung aller Textbeteiligten – möglicherweise zu dem Zeitpunkt, zu dem der „kommunikative“ Ausrufezeichengebrauch beginnt und expliziter und impliziter Verfasser deutlich auseinandertreten. Die Erwerbslogik der Instanzenmarkierung stellt sich zusammenfassend wie folgt dar: Figur/Verfasser/Erzähler >> Figur vs. Verfasser/Erzähler >> Figur vs. Verfasser vs. Erzähler.
3.3
Erste Konsequenzen für eine Ausrufezeichendidaktik
Es wäre verfrüht, auf der Grundlage der hier vorliegenden Befunde bereits Vorschläge für eine neue Ausrufezeichendidaktik zu machen. Denn noch haben die hier vorgestellten Erwerbslogiken den Charakter von Hypothesen, die vor allem durch eine fundierte quantitative Analyse gesichert werden müssten. Es zeichnet sich aber ab, dass die herkömmliche Ausrufezeichendidaktik den Erwerbsverlauf in ganz wesentlichen Punkten verpasst. Das trifft für mindestens drei Aspekte zu: (1) Möglicherweise setzt die Ausrufezeichendidaktik zu früh an; mindestens aber lässt sich sehen, dass der Erwerb des Ausrufezeichens im dritten Lernjahr nicht abgeschlossen ist, so dass es sinnvoll erscheint, die Weiterentwicklungen im Sinne eines Spiralcurriculums zu begleiten. (2) Die Initiierung des Ausrufezeichengebrauchs auf der Basis von Aufforderungen ist sowohl unter sachlogischer als auch unter lernstruktureller Perspektive verfehlt. Unter sachlogischer Perspektive geht es nicht um Aufforderungen, sondern um die Markierung der Umstrukturierung der rezipientenseitigen Handlungsplanung, weshalb nicht alle Aufforderungen markiert werden, sondern nur diejenigen, bei denen der Produzent von abweichenden Plänen des Rezipienten ausgehen muss (s. o.). Mit Blick auf den Lernverlauf stehen zu markierende Aufforderungen nicht am Anfang, sondern bilden einen zweiten Schritt im Entdeckungsprozess, der mit dem „kommunikativen“ Ausrufezeichengebrauch einsetzt, der nach dem „expressiven“ Ausrufezeichengebrauch exploriert wird. Wenn das Ausrufezeichen also überhaupt an spezifische Konstruktionen gebunden wird, eignen sich sog. Ausrufe für den Lernbeginn besser. Sie werden von den Schüler/innen vor allem in der „expressiven“ Phase schneller und sicherer identifiziert.
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Daneben sollten Konstruktionen der Kategorie Wissen einen ausgezeichneten Ort einnehmen. (3) Die übliche Verfahrensweise, orthographische Erkenntnisse mit Merksätzen zu flankieren, ist in Bezug auf Interpunktionszeichen in besonderer Weise fatal: Wie in Kapitel 3.1 gezeigt, sind Interpunktionszeichen Instruktions- und nicht Konstruktionszeichen. Merksätze wie die in „Papiertiger 2“ (Diesterweg 2001: 158): „Nach Aufforderungen und Befehlen steht ein Ausrufezeichen“ sind deshalb nicht nur sachlich falsch, sondern auch in ihrer Struktur lernhinderlich, weil das Ausrufezeichen ohne weitere Durcharbeitung normativ einer Konstruktion zugewiesen wird und somit ein exploratives Durchspielen von Ausrufezeichenmustern gehemmt wird. Möglicherweise sollte auf eine explizite Ausrufezeichendefinition ganz verzichtet und zur Stützung der „inneren Regelbildung“ den Schüler/innen stattdessen die Möglichkeit gegeben werden, mit typischen Ausrufezeichenmustern zu experimentieren.
4
Fazit
Im vorliegenden Beitrag wurde ein Gegenstand thematisiert, der in der Fachdidaktik bislang keine Aufmerksamkeit erfahren hat. Die Skizze der Bearbeitung des Ausrufezeichens in Schulbüchern und Lehrplänen hat gezeigt, dass nicht nur keine, sondern falsche Vermittlungsstrategien verfügbar sind. Umso erstaunlicher ist die Robustheit des Ausrufezeichenerwerbs in normalen Schreibbiographien. Bislang jedenfalls ist kein Fall bekannt, bei dem in der Schreibentwicklung erfolgreiche Schüler/innen Schwierigkeiten mit dem Ausrufezeichen haben. Das mag an der flexiblen Verwendungsweise des Ausrufezeichens selbst liegen, das eben gerade nicht konstruktionsabhängig ist, sondern das eine Konstruktion in Relation zu ihrer Vorgeschichte setzt, was grundsätzlich bei jeder Äußerung möglich ist. Gerade diese Eigenschaft macht Ausrufezeichenkonstruktionen zu einem besonders guten und ergiebigen Experimentierfeld, das didaktisch bislang nicht genutzt wird. Eklatante didaktische Fehlmodellierungen zeigen sich indessen nicht nur in der Ausrufezeichendidaktik, sondern in der Interpunktionsdidaktik insgesamt. Es ist noch nicht ausgemacht, welchen Einfluss die Aufsummierung von methodischen und sachlichen Fehlern (von denen die falsche Ausrufezeichendidaktik nur ein Beispiel gibt) hat, die die Schüler/innen durch die Gabe von Merksätzen davon abhalten, ihre sprachlichen Intuitionen angemessen in die Schrift umzusetzen bzw. umgekehrt an der Schrift ihre Intuitionen zu entwickeln
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Ursula Bredel
resp. zu schärfen, statt das ganze Schriftsystem als undurchdringliche, von außen gemachte Norm wahrzunehmen. Es scheint mir eine der dringlichsten Herausforderungen der Schreibdidaktik insgesamt zu sein, die empirischen Erkenntnisse über schülerseitige Schreib- und Leseaktivitäten zu intensivieren, um von dort aus zu sachstrukturell und lernstrukturell angemessenen Modellierungen von Lernwegen zu gelangen. Ein Baustein in einem solchen Programm wäre die Erforschung der Interpunktionsentwicklung. Auf dieser Grundlage sollte es dann auch möglich werden, die Entwicklung des Ausrufezeichens in einen größeren Kontext zu stellen und die Interdependenzen mit der Entwicklung anderer orthographischer Muster deutlicher wahrzunehmen, als es bisher der Fall ist. Daraus könnte dann ggf. auch eine neue Ausrufezeichendidaktik abgeleitet werden.
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