Spur der Verheißung von
E. C. Tubb Copyright © 1980 by E. C. Tubb
Titel des Originals:
World of Promise Aus dem Engl...
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Spur der Verheißung von
E. C. Tubb Copyright © 1980 by E. C. Tubb
Titel des Originals:
World of Promise Aus dem Englischen von Horst Hoffmann
Band 23 der Saga um Earl Dumarest
Printed in Germany September 1981
Liebe SF-Freunde! Unsere Leserseiten stehen heute im Zeichen der Rezensionen. Hermann Urbanek nahm sich eine ganze Reihe neuer TERRAASTRA-Bände vor und schreibt darüber wie folgt: In den letzten Monaten hat die SF-Redaktion des PabelVerlages wieder einige hochinteressante und spannende Romane für die SF-Heftreihe »Terra Astra« ausgewählt. Erfreulich ist dabei auch zu vermerken, daß neben bestens bekannten Erfolgsautoren auch einige jüngere Autoren in »Terra Astra« vorgestellt wurden. Falk-Ingo Klee, der Autor des Bandes 495, gehört bereits zu den arrivierten TERRA-ASTRA-Autoren, schließlich erschien sein Romanerstling schon vor drei Jahren als TA-Band 358. In seinem vorliegenden neuesten Roman, »Im Zeichen des Schwertes«, behandelt er ein höchst aktuelles Thema auf überraschende Weise. Die Menschheit hat den Raum erobert und beutet die Rohstoffe fremder Planeten aus. Dabei hat der Einfluß der Konzerne auf das öffentliche Leben noch mehr zugenommen, als dies heute schon der Fall ist. Einer der größten, die »New Steel Corporation«, bedient sich der Sekte der Schwertbrüder, einer streng hierarchisch und militärisch organisierten Glaubensgemeinschaft, um ihre dunklen
Pläne in die Tat umzusetzen. Diese Sekte der Schwertbrüder wird von einem Mann geleitet, der von der Droge Psychosom abhängig ist, die er nur von Morton Chroonick, dem Chef der »New Steel«, geliefert bekommt. Wer nicht pariert oder gar versucht, sich der eisernen Faust Chroonicks zu entziehen, wird auf den Ödplaneten Dandil III deportiert. Dort muß der Betreffende dann in Arbeitslagern das Erz Xenogran abbauen, aus dem die Droge gewonnen wird. Sie wird auch den Mitgliedern der Sekte verabreicht, die dadurch auf Gedeih und Verderb an die Corporation und die Sekte gekettet sind. Erlebt wird diese gespenstische Vision der Zukunft von den Privatdetektiven Tommy Land und Walt Steamer. Tommy Land gerät in Kontakt mit der Droge und wird Mitglied der Gemeinschaft, in der er seinen Dienst verrichtet und bis zur Führungsspitze der Sekte der Schwertbrüder aufsteigt, ohne genau über die Machenschaften der NSC unterrichtet zu sein. Walt Steamer hingegen wird von Chroonick engagiert, damit er die Sekte genau im Auge behält. Aus diesem Grund tritt er als Vertrauensmann des Konzernchefs in den Orden ein und tritt schließlich die Nachfolge des von Chroonick beseitigten Sektenchefs Excalibur I an, der versucht hatte, sich vom Einfluß Chroonicks und der Droge zu lösen. Als die beiden Detektive die wahren Hintergründe erkennen, weigern sie sich, weiterhin für Chroonick zu arbeiten und werden ebenfalls auf den Ödplaneten Dandil III deportiert. Eine Spezialeinheit der Drogenpolizei der Regierung, die bereits den Konzern infiltriert hatte, um Beweise zu sammeln, bringt schließlich Chroonick zu Fall. »lm Zeichen des Schwertes« ist ein überaus interessanter und packender Roman, flüssig und routiniert geschrieben, voll mit
relevanten Bezugsthemen zu Problemen der Gegenwart, die in die Zukunft extrapoliert wurden. Erfreulich auch, daß der Autor es vermieden hat, die beiden Detektive sozusagen im Alleingang den Fall lösen zu lassen, sondern in einem zweiten Handlungsstrang, der dem Leser aber erst gegen Ende des Bandes zum Bewußtsein gebracht wird, die Fahndung der Polizei zu einem erfolgreichen Abschluß kommen ließ. Arndt Ellmer ist ganz offensichtlich ein Autor, der zu gewaltigen Steigerungen fähig ist. Das ist der Eindruck, den man gewinnt, wenn man die bisherigen Publikationen dieses Autors mit seinem neuesten Werk vergleicht. Waren die bisherigen Stories und der Roman »Stadt in der Wüste« zwar ganz nett, aber nichts besonders Herausragendes, so ist der Doppelband »Einsatz in Louden« (TA 498) und »Der Kaiser von Louden« (TA 499) schlicht ausgezeichnet. Schauplatz ist die ferne Zukunft. Das Veranische Imperium der Menschheit ist der einzige bekannte Staatenbund der Milchstraße, fremde Intelligenzen wurden nicht gefunden. Plötzlich, aus heiterem Himmel heraus, scheint das Imperium, das vom übervölkerten Planeten Veran aus erschlossen wurde, von Fremdintelligenzen bedroht. Ein Schulschiff der Flotte wird von einem unbekannten Gegner vernichtet. Der Regierungsbeauftragte Helder von Anceynt wird auf diesen mysteriösen Überfall angesetzt. Auf einem Planeten des PentaSystems, in dessen Nähe das Schiff durch Gammastrahlen vernichtet wurde, stößt der Agent auf eine andere Spur – auf den Handel mit gefährlichen Drogen. Helder will schon die Suche aufgeben, als sich der Gegner erneut meldet: Er wendet die Droge gegen einen Planeten des Imperiums an und verseucht die gesamte Bevölkerung. Bei der Weiterfüh-
rung seiner Ermittlungen gerät Helder von Anaceynt in eine Falle, die ihm der unbekannte Gegner gestellt hat. Er als einziger überlebt den Überfall, doch um welchen Preis: Da seine Organe versagen, wird sein Gehirn in einen Maschinenkörper transplantiert. Als auch weitere Planeten in diesem Bereich der Milchstraße von den Fremden verseucht werden, steht für die Verantwortlichen an der Spitze des Imperiums fest, daß die geheimnisvollen Fremden ein Interesse daran haben müssen, daß im Louden-Sektor, in dem all diese merkwürdigen Dinge passieren, das Chaos ausbricht. Diese geheimnisvollen Fremden – das sind die Anhänger des geheimnisvollen »Kaisers von Louden«, der die Macht über den gesamten Sektor an sich reißen will. Zuerst hat er mit seinen Aktionen den geplanten Erfolg. Doch das Blatt wendet sich, als die Agenten des Veranischen Imperiums feststellen, daß die Bedrohung direkt aus dem Louden-Sektor kommen muß, und die Wissenschaftler ein wirksames Gegenmittel gegen die Seuche finden. Doch als Helder van Ayncent am Ende seiner langen Suche endlich vor dem geheimnisvollen Kaiser von Louden steht, wird er mit einer Überraschung konfrontiert. Dieser Doppelband von Arndt Ellmer ist unzweifelhaft das bisherige Spitzenwerk dieses jungen Autors. Gekonnt schildert er die Geschehnisse von drei Erzählebenen aus: aus der Sicht Helder von Ayncents und des Veranischen Imperiums; aus der Sicht der Bewohner des Planeten Kayshyrstan im LoudenSektor und ihres Herrschers; und aus der Sicht des Kaisers von Louden und seiner Anhänger. Ellmer nutzt dabei alle Möglichkeiten, die eine Erzählung auf
mehreren Ebenen bietet, voll aus, um die Spannung noch weiter zu steigern. Von der Anfangsprämisse ausgehend, die dem Leser aber erst nach Beendigung des 2. Bandes vollkommen klar wird, baut er die Erzählung logisch auf und führt sie konsequent bis zum überraschenden und unerwarteten Ende. Dabei zeigt sich der Autor als Verfechter des humanistischen Ideengutes, der Menschlichkeit und Toleranz. Peter Griese ist ein guter alter Bekannter für alle TERRAASTRA-Leser. Der Autor, der schon vor einiger Zeit zum PERRY-RHODAN-Team gestoßen ist und ab dem Zyklus »Die Abenteuer der SOL« auch bei ATLAN mitschreibt, legt mit »Mondgeschichten« (TA 501) nach »Er kam aus der Sonne« (TA 304) und »Sturz in die Vergangenheit« (TA 349) seine dritte Storysammlung innerhalb dieser Heftreihe vor. Wie schon der Titel bezeichnenderweise verrät, haben alle fünf Stories dieses Bandes etwas mit dem Trabanten unserer guten, alten Erde zu tun. »Die Große Katastrophe« schildert das Leben einer Gruppe Erdenmenschen, die unter der Erdoberfläche leben und versuchen, mit einem Raumschiff zum vermeintlichen Mond zu fliegen. Als ihnen trotz aller Widerstände von Seiten der Behörden der Start gelingt und sie zwischen Erde und Mond auf ein gewaltiges Raumschiff von der Erde stoßen, erfahren sie erst, was es mit der vielzitierten »Großen Katastrophe« wirklich auf sich hatte. »Die ultimate Waffe« ist eine kurze Geschichte, in der der Mond als besagte ultimate Waffe im Krieg zwischen der Menschheit und den Harlekins eingesetzt wird, während die längere Folgestory »Der Mann im Mond« von eben diesem Wesen erzählt, das als Wächter der Menschheit und auch als deren Beobachter vom Erdtrabanten aus die Entwicklung unse-
rer Spezies in die Wege leitet und verfolgt – und sich schließlich an einen anderen Ort zurückzieht, als es den Menschen gelingt, auf dem Mond zu landen. In fernste Zukunft führt »Die ewigen Nomaden«: Um dem Strahlentod auf der Erde zu entgehen, wurden die Menschen umgeformt, um auf dem Mond überleben zu können, wobei zwei differente Rassen geschaffen wurden, die Tagmenschen und die Nachtmenschen. Zwar sind seit der Katastrophe schon 300 000 Jahre vergangen, doch wird es noch 100 000 Jahre da uern, bis die Erde wieder bewohnt werden kann – und zwischen den beiden Gruppen bahnen sich Konflikte an. Doch es gibt den Herrn der Scheibe, der eines Tages in der fernen Zukunft die Wiederbesiedlung der Erde in die Wege leiten soll. Die letzte Story des Bandes schließlich erzählt vom »Signal«, das die Schöpfer der Erde wählten, um der Menschheit eindeutig zu belegen, daß sie nicht durch Zufall entstanden ist. Peter Griese ist ein routinierter Schriftsteller, und das merkt man seiner Erzählweise an. Gekonnt spinnt er ein unterhaltsames und vergnügliches Garn, das manchmal zum Nachdenken zwingt. Mit dieser gelungenen Storysammlung dokumentiert er auch die ganze Palette seines Könnens. Die beiden ersten Stories sind reine Pointengeschichten, die dritte – die mir persönlich am besten gefallen hat – ist eine stimmungsvolle Erzählung, die vierte ist überaus ideenreich und die letzte ist originell, keine direkte Pointengeschichte, obwohl diese aber eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Peter Griese – auch er hat es verstanden, sich zu steigern. Diese Sammlung zeigt, daß er neben den Romanen auch ein Meister dieser Erzählform ist.
Zu meinen großen persönlichen Favoriten unter den deutschsprachigen SF-Autoren zählt zweifellos der Wiener Ernst Vlcek, der sich auf dem Fantasy- und Horror-Sektor unter dem Pseudonym »Paul Wolf« einen Namen gemacht hat. Sein Ideenreichtum scheint grenzenlos – man denke da nur an die leider eingestellte Horror-Heftserie »Dämonenkiller«, die unter seiner Ägide für eine Horror-Serie neue Maßstäbe setzte, oder an die neue Fantasy-Heftserie MYTHOR, die Vlcek seit Band 21 betreut und die seither der Fantasy neue Dimensionen erschlossen hat. Das gilt auch für seine eigenen Werke, die leider, bedingt durch seine rege Tätigkeit erst für ATLAN und in späterer Folge dann für PERRY RHODAN und MYTHOR, in den letzten Jahren arg vernachlässigt wurden. Einzige Ausnahme bildete der ausgezeichnete Storyband »Gib mir Menschen« (Terra Taschenbuch 329). Um so erfreulicher ist es daher, daß Günter M. Schelwokat als Herausgeber der Reihe TERRA ASTRA die früheren Romane Ernst Vlceks, die vor vielen Jahren in den Reihen TERRA und TERRA NOVA erschienen sind, einem breiteren Publikum erneut vorlegt. Momentan erscheint in TERRA ASTRA der achtbändige Zyklus »Die Wunder der Galaxis«, der neben dem vierbändigen Zyklus »Das Galaktikum« (in Zusammenarbeit mit H. W. Mommers) zu den besten Werken des Autors zu zählen ist. Der Roman »Jagd auf eine Unsterbliche« (TA 502, 4. Roman des Zyklus) macht dabei keine Ausnahme. Seit Dorian Jones, der Kommandant der Vasco da Gama, das Rätsel der Lotosgärten in der Leier lüftete und dabei auf die Fremden Menschen stieß, ist er auf der Suche nach weiteren Monumenten, die diese
Fremden Menschen in unserem Universum, dessen Freiräume sie sich bedienen wollten, hinterlassen haben. Zuerst gelangte er zum »Tempel der Ewigkeit« und danach zum »Planet der tausend Möglichkeiten«, wo er der schönen Lai'Sinaoe begegnete, der Unsterblichen, die sich als letzte der Homo superiori noch in unserem Universum aufhält – mit dem Ziel, alle bedeutsamen Anlagen ihrer Rasse hier zu zerstören. Auf ihrer Spur gelangt Dorian Jones zum Frostplaneten Zastur und wird hier mit seiner Crew in innenpolitische Auseinandersetzungen verstrickt. Lai'Sinaoe, die nach und nach dem negativen Einfluß unseres chaotischen Universums erliegt und mehr und mehr negative Züge aufweist und das Gerücht ausstreut, in diesem System befände sich die sagenhafte »Quelle des ewigen Lebens«, gelingt die Flucht vor ihren Häschern, die – mit Ausnahme von Jones, der sich mit ihr arrangieren will – darauf aus sind, sie zu töten. Die Spur führt weiter zum »Planet der verlorenen Träume« – und zum Menschenturm. Wie die meisten Romane aus der Feder Ernst Vlceks besticht auch dieser einerseits durch eine ungewöhnliche, packende und gekonnt erzählte Handlung, in der sich Handlungsfluß und Action ausgewogen zu einem komplexen Ganzen vereinigen – und zum anderen durch eine wirklich hervorragende Charakterisierung der einzelnen Personen der Handlung, seien es nun Handlungsträger oder Nebenpersonen. Alles in allem ein großartiger Zyklus, der eine Neuauflage mehr als nur verdient hat. Es gibt Autoren, denen es ihr Leben lang nicht gelingt, den Erfolg und Ruhm zu erwerben, der ihnen eigentlich aufgrund ihrer Leistung zustehen würde. Ein solches Mauerblümchen
der Science Fiction war der Amerikaner H. Beam Piper, der 1957 im Alter von 62 Jahren freiwillig aus dem Leben schied. Er hinterließ dem Genre acht Romane und über 20 Kurzgeschichten, die alle weit über dem Durchschnitt stehen. Seine Romane um die Fuzzies – in den Terra Taschenbüchern als Bände 319 und 321 erschienen – haben ihm für immer einen Ehrenplatz in der modernen SF gesichert. Er schrieb neben Einzelerzählungen zwei Hauptzyklen: der eine schilderte die Abenteuer der Parazeit-Patrouille – der einzige Roman dieses Zyklus erschien vor kurzem als Utopia-Classics-Band 29 – und der andere eine »Geschichte der Zukunft«, wie sie auch Robert A. Heinlein und Poul Anderson verfaßt haben, die die Geburt, den Niedergang und die Wiedergeburt der menschlichen Zivilisation im Kosmos schildert. Der vorliegende 505. Roman der Reihe TERRA ASTRA gehört zu diesem Zukunftszyklus, dem u. a. auch die Romane um die Fuzzies zuzurechnen sind. »Die Vier-Tage-Welt« (FourDay Planet) erschien posthum im Jahre 1961 und schildert die Abenteuer des jungen Reporters Walt Boyd, der auf dem Grenzplaneten Fenris, einer Welt der Extreme, auf die Machenschaften des Genossenschaftsleiters für den einzigen Exportartikel von Fenris, dem Talg der Jarvis-Seeschlange, stößt. Natürlich stellt sich Walt Boyd gegen diesen Profitgeier und dessen Spießgesellen in der Regierung dieses Planeten und macht sich dadurch prompt viele Feinde. Doch durch diese Aktion gewinnt er auch zahlreiche Verbündete, speziell unter den bisher ausgebeuteten Jägern, die ihr Leben einsetzen, um die Jarvis-Seeschlange zu erlegen und den wertvollen Talg zu gewinnen. »Die Vier-Tage-Welt« ist ein flottes Weltraumabenteuer der
allerbesten Sorte, spannend und lehrreich, gekonnt geschrieben von einem Meister der modernen Science Fiction. Es bliebe zu wünschen, daß auch die noch nicht bei uns erschienenen Erzählungen H. Beam Pipers auch bei uns vorgelegt werden. Soweit unser Rezensent, liebe Freunde! Beste Grüße bis zur nächsten Woche sagt Ihnen: Die SF- und Fantasy -Redaktion des PABEL-VERLAGES Günter M. Schelwokat
erscheint wöchentlich im Moewig Verlag, 8000 München. Redaktion: Pabel Verlag KG, Postfach 1780, 7550 Rastatt. Druck und Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG, 7550 Rastatt.
Die Hauptpersonen des Romans: Okos – Ein geisteskranker Kyber. Charisse Chetame – Eine schöne Frau entpuppt sich als Monstrum. Earl Dumarest – Der kosmische Vagabund im Kampf mit einer Mordmaschine. Dino Sayer – Ein Mann in Charisse Chetames Diensten. Myra Favre – Sie muß sterben, sobald sie ihre Schuldigkeit getan hat.
1. Die Puppen waren kleine Kostbarkeiten zwischen dem übrigen Ramsch. Einige hatten Augen wie feurige Edelsteine, Haare zu den phantasievollsten Frisuren zusammengesteckt, lang und glänzend, Kleider aus feinsten Stoffen. »Mami!« Die Stimme war dünn und hoch, erfüllt von kindlichem Verlangen. »Da, schau! Mami, kaufst du mir eine?« »Nein, mein Schatz. Es geht nicht.« »Bitte, Mami. Bitte!« »Nein, Lavinia! Sei jetzt still!« Dumarest drehte sich um und sah die kleine Gestalt an seiner Seite, den schwarzen Haarschopf, die großen Kinderaugen mit dem einen unerfüllbaren Wunsch darin. Er sah den Blick der Frau, die sich mit Mühe hart gab. »Du weißt doch, daß wir uns nicht leisten können, solche Dinge zu kaufen, Lavinia«, sagte sie nun, als spürte sie Dumarests Aufmerksamkeit.
»Später, wenn wir wieder zu Hause sind, mache ich dir eine.« Ein Versprechen, das sie halten würde, für das sie Schlaf opfern und auf andere Dinge verzichten würde. Doch keine noch so schöne, selbstgemachte Puppe würde dem Kind die Fasz ination dieses Augenblicks schenken können – hier in den funkelnden Lichtern des Jahrmarkts. Hinter der Frau hustete ein in abgetragene Kleider gehüllter Mann und griff in seine Tasche. »Vielleicht können wir's doch, Floria, wenn ...« »Nein, Roy!« Die Frau warf einen Blick auf den jungen Mann neben sich. Er trug einen einfachen Umhang. »Bran braucht jetzt alles, was wir haben.« Dumarest versuchte sich vorzustellen, wie diese Leute Jahr für Jahr in Entbehrung gelebt hatten, nur das Ziel vor Augen, ihrem Sohn eine bessere Zukunft zu eröffnen. Der Mann sah zehn Jahre älter aus, als er war, die Frau ebenfalls. Doch sollte auch das Mädchen bezahlen? Dumarest hob sie auf seine Schultern. Als der Mann protestieren wollte, sagte er schnell: »Mit Ihrer Erlaubnis, Sir. Ich habe meine Gründe. Gestatten Sie mir, Ihrer Tochter die Puppe zu kaufen.« »Aber ...! Wir wollen kein Almosen!« »Halt den Mund, Roy«, flüsterte die Frau. Sie mochte begreifen, daß die Geste des Fremden mehr war als ein Almosen, daß Dumarest sich nicht würde abweisen lassen. »Suche dir eine aus«, sagte er zu dem Kind. »Welche willst du?« »Die da!« Sie hatte sich längst entschieden. »Bitte die da!« »Eine gute Wahl.«
Die Verkäuferin kam heran, lächelte, nahm die Puppe und begann, ihre Vorzüge aufzuzählen. Gierig streckte das Kind die Ärmchen danach aus. »Wieviel?« fragte Dumarest. Ein Blick in die Augen der Frau genügte. Den Preis hatte sie längst festgesetzt, als sie die Armut der Familie erkannte. Hier war kein großes Geschäft zu machen, niemand übers Ohr zu hauen. Und Dumarest in seinem Studentenumhang sah auch nicht danach aus, als hätte er Geld zu verschenken. »Fünfzehn Corlms, Mylord.« Als sie die Münzen in ihrer Hand zählte, fügte sie hinzu: »Mögen Eure Studien erfolgreich sein!« »Das wünsche auch ich«, sagte Roy. Er räusperte sich und lächelte verlegen. »Ich glaubte zuerst an ein Almosen, doch Floria klärte mich auf. Ein Aberglaube, ich verstehe. Sie sind auf dem Weg nach Ascelius, genau wie unser Bran. Ich bezahlte ihm eine Passage auf der Evidia – fünfte Klasse, karg aber billig. Jedenfalls danken wir Ihnen. Wir alle.« Dumarest nickte nur. Floria hob das Kind auf die Arme und ließ es Dumarests Stirn küssen. Die kleinen Hände lagen für Augenblicke auf seiner Schulter, und sie fühlten sich warm an. Dann gab es nur noch die Puppe für sie. * Der Wind blies eisig kalt über das nahe Landefeld des Raumhafens, rüttelte an den Zelten und Ständen der Aussteller und zerfetzte die Säulen von aufsteigendem, farbigem Rauch. Dumarests Augen begannen zu tränen. Er suchte Schutz in einem großen Zelt, kaufte sich etwas zu essen und
beobachtete das bunte Treiben. Selbst das Wetter hielt die Menschen nicht davon ab, den Jahrmarkt in Scharen zu besuchen. Es wurden immer mehr, und der Zustrom würde nicht aufhören, bis in zwei Tagen alles vorüber war. Dabei war die Bezeichnung »Jahrmarkt« kaum noch zutreffend. Betrüger und Huren versuchten hier ihr Glück; Spieler und Clowns, fliegende Händler und Strauchdiebe verdrängten die Ausund Schausteller. »Auf ein Wort, Sir.« Ein Mann schob sich an Dumarest heran und flüsterte: »Sie wollen nach Ascelius, um dort zu studieren? Ich kann Ihnen von Nutzen sein, Ihnen Zeit und Geld ersparen. Jemand bat mich, ihm gewisse Informationen zu besorgen. Doch leider verstarb er, bevor ich sie ihm geben konnte. Sie verstehen?« »Ich denke schon«, knurrte Dumarest. »Sie haben die Antworten auf Prüfungsfragen und sitzen nun darauf.« »Sie sind sehr klug, mein Freund«, flüsterte der Mann. »Und als Student werden Sie mein Angebot zu schätzen wissen. Später können Sie die Antworten vervielfältigen und weiterverkaufen. Das bringt Geld und ...« »Kein Interesse.« »Aber das sollten Sie haben! Oder muß ich Sie daran erinnern, was heutzutage ein Studium kostet? Daß ein nichtbestandenes Examen weitere Semester und Unsummen bedeutet? Ist es da nicht logisch, alle Chancen zu ergreifen, die sich ...?« »Ich sagte: kein Interesse«, wehrte Dumarest den aufdringlichen Burschen ab. »Sie verschwenden Ihre Zeit. Verschwinden Sie.« Der Fremde ließ von ihm ab und suchte nach neuen Opfern.
Er würde sie finden – verunsicherte und einfältige junge Männer und Mädchen, die in ihrer Verzweiflung auf seine Lügen hereinfallen und dies später teuer bezahlen würden. Dumarest verließ das Zelt und schlenderte den Weg zwischen den sich gegenüberliegenden Schaubuden entlang. Fackeln und bunte Lichter machten die Nacht zum Tag. Am Himmel standen die Sterne und die drei Monde. Von irgendwoher waren Trommeln zu hören und überall ausgelassenes Gelächter und das Grölen von Betrunkenen. All dies war Fassade, hinter der sich Furcht und Unsicherheit verbargen. Die meisten, die hier ihr Vergnügen und damit Ablenkung suchten, warteten auf die Schiffe, die sie nach Ascelius bringen würden. »Mister!« Eine Frau trat ihm in den Weg und machte aufreizende Bewegungen. »Ein Hörsaal ist ein langweiliger Ort. Warum holen Sie sich nicht Ihr Vergnügen, solange Sie's noch können? Für zehn Corlms zeige ich ihnen den Himmel. Für zwanzig bringe ich Sie ins Paradies.« Sie zuckte die Schultern, als er weiterging. Dumarest hörte, wie sie um neue Kunden warb, als er zwischen zwei Buden hindurch auf freies Gelände trat. Sein Schiff stand schon auf dem Feld. Seine Passage war gebucht. Doch aus guten Gründen wartete er noch, bevor er an Bord ging. Statt dessen hielt er auf eine Menschenmenge zu, die sich um einen erleuchteten Platz versammelt hatte. Augen waren gebannt auf das gerichtet, was sich im Kreis der Neugierigen befand. Zwischen bunten Lichtern stand ein Käfig aus Gitterstäben und auf Rädern zum schnellen Abtransport, um ihn herum eine Handvoll Wächter. Und in ihm bewegte sich ein monströses Geschöpf auf und ab.
Es war anderthalbmal so groß wie ein Mensch, zweimal so breit und hatte Hände wie Schaufeln und lange Krallen an Klauen und gespreizten Füßen. Der eigentliche Körper war mit dickem, schwarzem Haar bedeckt, so dicht, daß es wie ein Hornpanzer wirkte. Das Gesicht war ein Alptraum aus schnappenden Kiefern, Fängen, glühenden Augen und spitzen Ohren. Der platte Schädel verfügte über zwei tödliche Hörner, deren Enden spitz und scharf waren wie die Klingen von Dolchen. Der Nacken war so dick wie die Oberschenkel, die ihrerseits den Umfang einer Frauentaille hatten. »Sieh es dir an«, sagte ein Mann zu der Frau an seiner Seite. »Möchtest du dem des Nachts begegnen? In einer dunklen Gasse?« »Es ist abscheulich«, erwiderte sie. »Zu sehr wie ein Mensch.« Einer der Wächter ging mit einer aufgehaltenen Schale herum, in der einige Münzen lagen. Er zuckte die Schultern, als jemand fragte, welche Art Kreatur das Monstrum sei. »Freunde!« rief er. »Ihr habt das seltene Glück, hier etwas zu sehen, das in den Chetame-Labors entstanden ist! Es ist künstlich geschaffen und doch lebend und wild wie kein anderes Tier. Alle Gliedmaßen stammen von jeweils einer anderen Spezies. Betrachtet die Fänge, sie sind die einer Raubkatze. Die Füße sind denen von großen Laufvögeln nachgebildet und erlauben Bewegungen nach jeder Seite, vor und zurück! Allein die Hörner sind ohne Beispiel! Seht ganz genau hin. Erkennt ihr den metallenen Schimmer? Dies ist ein Wild, von dem jeder Jäger nur träumen kann! Ein unübertrefflicher Wächter für jeden Palast. Wenn einer von euch Gentlemen seine Frau bewachen lassen will, findet er nichts Besseres! Doch seht lieber
zu, daß es vorher auch ...« Nur die Frau, die Dumarest beobachtet hatte, konnte nicht über den rüden Scherz lachen, der sich anschloß. Sie wandte sich angeekelt ab. »Das reicht, Lou«, sagte sie zu ihrem Begleiter. »Ich gehe.« »Warte doch noch einen Augenblick. Ich ...« »Ich gehe. Du kannst mitkommen oder mich vergessen.« Das wirkte. Die beiden zogen davon. Andere näherten sich dem Käfig, junge Männer ohne Umhang, dafür mit langen Stangen in den Händen. Offensichtlich betrunken, versuchten sie, das Biest zu reizen. »Seid ihr verrückt?« schrie der Wächter. »Zurück, verdammt!« »Ist es sicher dort drinnen?« fragte jemand. »Kann es nicht ausbrechen?« »Natürlich nicht.« Der Wächter grinste den Frager an. »Aber dennoch solltet ihr es nicht reizen. Ihr macht uns nur Schwierigkeiten.« Die Jugendlichen lachten und begannen, Steine in den Käfig zu werfen. Dumarest hörte den Wächter wieder schreien, als er sich abwandte und davonging, dann das plötzliche, markerschütternde Gebrüll der Kreatur. Die Wächter waren Narren. Sie hatten Knüppel in den Händen und sollten sie besser gebrauchen. Dumarest mischte sich wieder unter die Menschen, hörte Huren ihre Dienste und Drogenhändler schöne Träume und Sinneserweiterung anbieten. Ein Mädchen, das Pillen zur Erlangung nie gekannter, ekstatischer Genüsse anpries, fragte Dumarest: »Und Sie, Mylord? Haben Sie gar keinen Wunsch?« Keinen, den sie ihm erfüllen konnte. Sie las es in seinen Au-
gen, und ihre eigenen füllten sich mit Tränen. »Das tut mir leid, Mylord«, flüsterte sie. »So schrecklich leid.« Was hatte sie in seinem Blick gesehen, daß sie zu weinen begann? Was ahnte sie? Vielleicht waren die Tränen nur ein Trick, um Mitleid zu erregen. Dumarest zweifelte daran. Eine Warnung? Das war möglich. Der bekannte Schauder lief über seinen Rücken. Er spürte Gefahr. Podesta war der Sammelpunkt für alle, die nach Ascelius wollten. Vor Beginn eines Semesters drängten sich die künftigen Studenten hier in der Nähe des Raumhafens. Deshalb war er in diese Verkleidung geschlüpft, einer unter vielen. Hatte das Mädchen ihn durchschaut? Hatten andere es getan, und sie wußte davon? Er konnte nichts tun, als sich weiterhin unauffällig zu verhalten. Dumarest ging weiter bis zu einem Stand, vor dem ein Mann elektronische Spielzeuge feilbot. »Klein, unauffällig und kompakt«, sagte er gerade. »Jeder Kleinstcomputer ist in der Lage, eine Vielzahl von Programmen zu speichern. Kommt her, Studenten! Mit einem dieser kleinen Wunderwerke der Technik im Hörsaal oder bei der Prüfung könnt ihr ...« Er verstummte, als eine Sirene zu heulen begann. Die Cossos, Dumarests Schiff. Es wurde Zeit für ihn, an Bord zu gehen. * Als er am Käfig mit dem Retortenwesen vorbeikam, war die-
ser immer noch von einer Menschentraube umlagert. Dumarest hörte die markerschütternden Schreie der Kreatur, die an den Gitterstäben rüttelte und sich ihren Peinigern entgegenwarf. Die Wächter versuchten schon gar nicht mehr, die Wahnsinnigen von ihrem Treiben abzubringen. Noch immer flogen Steine und andere Gegenstände in den Käfig und trafen das Monstrum. Dumarest schüttelte den Kopf und dachte daran, daß der Mensch die schlimmste aller Bestien war. Zwei junge Männer in Umhängen liefen an ihm vorbei auf den Raumhafen zu. So eilig hatte er es noch nicht. Das erste Signal war gegeben wo rden, weitere würden noch folgen, bevor sich die Schleusen der Cossos schlossen. Ein anderes Schiff startete. Langsam schob sich die metallene Hülle in den Himmel, unter ihr der blaue Schimmer des Erhaft-Feldes, das da s Schiff zu anderen Sternen tragen würde. Der Anblick war immer wieder etwas Einmaliges – für Menschen. Die Bestie trieb er endgültig zur Raserei. Dumarest hörte das Krachen von aus der Verankerung gerissenen Gitterstäben, den einzigen, panischen Aufschrei der Menge. Er sah einen der Wächter unter den Klauen des ausg ebrochenen Monstrums sterben. Ein zweiter erlitt das gleiche Schicksal, als die Menschen auseinanderstoben, schreiend und wahnsinnig vor Angst. Die Bestie stand hochaufgerichtet da, brüllte ihren Haß und pure Blutgier heraus. Die Fäuste trommelten auf die mächtige Brust. »Lavinia! Mein Gott, Lavinia!« Der Schrei schnitt das Brüllen ab, brachte die panikerfüllte Menge zum Verstummen. Das Monstrum fuhr herum, ließ die
Pranken sinken und sah die kleine Gestalt am Boden im gleichen Augenblick wie Dumarest. Das Kind lag im Schmutz, das lange schwarze Haar strähnig und zerwühlt und die Puppe fest umklammert. »Lavinia!« Sie bewegte sich nicht, offensichtlich von einem der Fliehenden bewußtlos geschlagen. Dumarest zögerte keine Sekunde. Er rannte los, auf das Mädchen zu. Der Wind fuhr in seinen Umhang und ließ ihn wild um seine Schultern flattern. Dumarest achtete nicht darauf, hatte nur Augen für das Kind, das er erreichen und in Sicherheit bringen mußte, und für das Monstrum. Im Laufen versuchte er, seine Chancen abzuwägen. Er sah die entsetzten Gesichter der Eltern, die hilflos bei einer Gruppe von Uniformierten standen. Er war über Lavinia, riß sie in die Höhe und warf sie in hohem Bogen der Mutter zu, die sie schluchzend auffing. Er stolperte und fiel, rollte sich blitzschnell zur Seite, weg von dem Krallenfuß, der ihn nur um Zentimeter verfehlte und den Boden tief aufriß. Dumarest lag auf dem Rücken, schmeckte das warme Blut in seinem Mund und sah den Tod über sich. Das Monstrum war menschenähnlich und doch kein Mensch. Sonst hätte es ohne zu zögern getötet. So aber brüllte es noch einmal auf, schlug sich gegen die Brust und gab Dumarest die Sekunden, die er brauchte, um auf die Füße zu kommen. Er sprang zurück und brachte sich für den Augenblick in Sicherheit, überlegte fieberhaft, was er diesem Gegner entgegensetzen konnte. Er riß den Umhang von den Schultern, um unbehinderter zu sein. Das Messer glitt in seine Hand, seine einzige Waffe, das Metallgeflecht in seiner grauen Plastikbeklei-
dung sein einziger Schutz. Die Kreatur schoß auf ihn zu. Kla uen schlugen in der Luft zusammen, als Dumarest sich duckte und zur Seite sprang. Ein Schlag traf ihn, und gebrochene Rippen stachen in sein Fleisch. Er durfte sich nicht zu hastig bewegen, oder seine Lungen würden zerrissen werden. Dumarest ignorierte den stechenden Schmerz. Aber er mußte kämpfen! Das Monstrum war zu schnell, zu groß und unberechenbar. Vergeblich suchte Dumarest nach verwundbaren Punkten bei ihm. Die Haut war ein Panzer, der Hals schien nur aus Muskeln und Sehnen zu bestehen, durch die kein Messer drang. Die Augen lagen tief unter Knochenvorsprüngen verborgen. Das Herz lag unter dem Hautpanzer geschützt. Und das Geschöpf bewegte sich rückwärts so sicher wie vorwärts. Dumarest warf sich wieder zur Seite. Nur knapp verfehlten ihn die tödlichen Krallen. Für einen Augenblick war die Bestie hinter ihm und drehte ihm den Rücken zu. Blitzschnell zuckte das Messer in die Höhe, stach in die kräftigen Beine. Das Monstrum brüllte und knickte kurz ein. Dann war es erneut heran. Die schrecklichen Augen glühten in purer Mordgier. Dumarest biß die Zähne aufeinander, spürte den Schmerz in seiner Seite und wich wieder aus. Er sah, wie die Bestie sich duckte, um ihn mit den dolchartigen Hörnern aufzuspießen. Dumarest erkannte den einen Fehler, den ihre Schöpfer gemacht hatten. Er wartete, bis der Angriff erfolgte, sprang zur Seite und packte eines der Hörner mit der linken Hand, holte Schwung und landete auf dem Rücken des Monstrums. Blitzschnell stieß er mit der Klinge zu, bohrte sie tief in eines der glühenden Augen und warf sich zurück, um sie wieder he-
rauszuziehen. Wahnsinnig vor Schmerz und Haß, bäumte die Kreatur sich auf. Dumarest verlor den Halt und wurde durch die Luft geschleudert. Brüllend riß sich das Monstrum die Klinge aus dem Auge und schleuderte sie nach dem Gegner. Sie landete einige Meter hinter ihm, fast unerreichbar, doch ohne sie war er hilflos. Seine einzige Chance bestand darin, auch das andere Auge zu blenden. Er hustete und achtete nicht auf den Schmerz, der in seiner Brust wütete. Das Monstrum war schon wieder heran. Dumarest rollte sich zur Seite, griff in den Schmutz und schleuderte eine Handvoll Erde gegen das noch sehende Auge. So gewann er abermals Sekunden. Als er wieder stand, war das Messer in seiner Hand. »Halt, Mann!« Er hörte den Schrei nicht, konzentrierte sich voll auf das Monstrum, das jetzt wieder die Hörner senkte und Anlauf nahm. Dumarest hob den Arm mit dem Messer und zielte. »Zurück, du Narr! Mach, daß du fortkommst!« Dumarest schleuderte die Klinge und wußte, daß er sein Ziel verfehlt hatte, noch bevor sich von hinten Arme um ihn legten. Er versuchte verzweifelt, sich zu befreien, sah die Grimassen des Todes vor sich – und hörte die dumpfen Schüsse. Gefiederte Kanülen bohrten sich tief in die Haut des Monstrums. Etwas traf Dumarest in den Nacken. Augenblicklich versank die Welt um ihn herum in Schwärze.
2. Er wartete in halbwachem Zustand darauf, daß sich sein Kreislauf stabilisierte und seinem Körper die belebenden
Ströme zugeführt wurden. Traumbilder tauchten vor ihm auf und verschwanden, Bilder aus seiner Vergangenheit, Gesichter von Menschen, die ihm einmal etwas bedeutet hatten. Silbernes Haar, das allmählich die Farbe von Flammen annahm, scharlachrot, braun, dann golden. Bilder einer Welt, auf der die Toten umgingen, um mit den Lebenden zu reden. Eine Frau, ein Spielzeug, ein Kind – Lavinia! Eine Welle von Schmerz spülte die Erinnerungen fort. Dumarest war wach. Er blickte in ein Gesicht. Verschwommen zunächst, klärten sich allmählich die Züge. Das Gesicht war vom Schein eines Lichtes umrahmt, geheimnisvoll und fremd. Große Augen unter geschwungenen Brauen, eine leicht gekrümmte Nase, darunter ein sinnlicher Mund. Pechschwarzes Haar, durchsetzt mit kostbaren Edelsteinen und glänzend. »Earl Dumarest«, sagte die Fremde. »Sie sind ein Narr!« »Dann bin ich ein dankbarer Narr, Mylady«, brachte er hervor. »Darf ich wissen, wer meine Wohltäterin ist?« »Charisse Chetame.« Ihr Lachen war tief und warm wie ihre Stimme. »Wofür Dank? Dafür, daß ich Ihr Leben rettete? Oh, Earl!« »Dennoch danke ich Ihnen.« Dumarest sah sie an. Welches Spiel spielte sie? Er schaffte es, sich aufzurichten, kämpfte gegen einen plötzlichen Schwindel an und atmete tief durch. Das Bett, in dem er nun saß, war ein Krankenlager, das Zimmer angefüllt mit medizinischen Instrumenten. Er selbst lag nackt unter einem dünnen Laken, das herabrutschte, als er damit begann, seinen Körper abzutasten. In seinen Ellb ogen stellte er kleine Einstichwunden fest, über der
Brust zwei neue Narben. »Intravenöse Ernährung«, erklärte Charisse. »Sie befanden sich unter Sparzeit, sechs Wochen subjektiv.« Länger als vierundzwanzig Stunden hatte er im Heilschlaf gelegen, während sein Metabolismus durch die Droge stark beschleunigt worden war. Obwohl er ernährt worden war, zeigte sein Körper Abmagerungserscheinungen. »Sie waren ziemlich übel zugerichtet«, erklärte sie. »Ich mußte Ihre Knochen flicken und einen großen Teil des Lungengewebes ersetzen. Ich denke, ein paar Narben mehr oder weniger spielen für Sie keine so große Rolle.« Ihre Hand berührte sanft seine Haut. »Ein Kämpfer«, sagte sie lächelnd. »Sie standen im Ring und lernten, zu überleben. Wie oft mußten Sie töten, Earl?« Zu oft, aber er sagte es nicht. Er beobachtete ihre Augen, ihre Lippen. Sie mochte dreißig Jahre oder älter sein. Chetame? Er erinnerte sich an die Worte des Wächters. »Die Kreatur gehörte Ihnen?« fragte er. »Immer noch, Earl. Sie lebt, und das zerstörte Auge konnte erneuert werden. Eines der Betäubungsgeschosse meiner Männer traf Sie. Sie wurden von ihnen zu mir gebracht.« Er versuchte, in ihrer Miene zu lesen. Dann sagte er: »Nur ein Narr bringt ein solches Geschöpf ins Freie, Mylady. Ich halte Sie nicht für eine Närrin.« »Charisse, Earl. Nenne mich Charisse. Du hast recht. Es war wichtig für mich, die Toleranzgrenze meines Geschöpfs herauszufinden, ebenso seine ganze Kraft und sein Reaktionsvermögen. Meine Kunden schätzen es nicht, mit Kreaturen versorgt zu werden, die sie nicht kontrol-
lieren können. Der Käfig erschien mir stark genug. Er war es nicht. Und ich unterschätzte die kreatürliche Wildheit und Kraft meines Geschöpfes um mindestens fünf Prozent, vielleicht zehn.« Ein Fehler, der zwei Männern das Leben gekostet hatte – und fast das eines Kindes. Warum waren die Betäubungsgeschosse nicht eher abgefeuert worden? Auch ein Test? »Darum nannte ich dich einen Narren, Earl«, sagte sie, als läse sie seine Gedanken. »Sein Leben aufs Spiel zu setzen für etwas so Unbedeutendes wie ein Kind, das leicht zu ersetzen ist.« Sie trat zurück, als er seine Beine über den Rand des Bettes schwang und aufstand, das Laken um seine Hüften gewickelt. Sie war groß, vollbusig und auch sonst eine vollkommene Frau. Sie sagte: »Du brauchst erst einmal Ruhe, Earl, gutes Essen und keine unnötige Aufregung. Du stehst immer noch unter Schockwirkung.« »Ich muß fort.« »Ich weiß. Nach Ascelius.« Sie zuckte die Schultern. »Das war offensichtlich. Du trugst einen Studentenumhang, und wohin sonst starten die Schiffe von hier um diese Zeit? Welches war deines? Die Cossos? Dann wirst du mir vorwerfen müssen, daß du's wegen mir verpaßt hast.« Er fluchte. Sie lächelte wieder und legte die Hände auf seine Schultern. »Earl, du bist ein Mann nach meinem Geschmack. Aber genug geredet: Du brauchst mir nicht für dein Leben zu danken,
und ich muß mir keine Vorwürfe machen. Keiner schuldet dem anderen etwas. Trinken wir darauf?« »So?« »Wie? Was meinst du?« Geduldig erklärte er: »Mylady ... Charisse, ich habe nichts an.« * Seine Kleider waren gereinigt worden. Das Messer erhielt er aus Charisses Hand zurück. »Eine gefährliche Klinge, Earl. Aber du weißt damit umzugehen.« Als sie ihm einen Pokal mit perlender Flüssigkeit reichte, fügte sie hinzu: »Kein anderer Mann hätte länger als zehn Sekunden gelebt, nachdem der Mannek auf ihn losging. Das war nicht nur Glück.« Sie nahm einen Schluck. »Noch nie sah ich einen Menschen mit solchen Reflexen. Wir müssen uns darüber unterhalten, Earl, aber zuerst speisen und trinken wir. Auf dich, Earl – und ein glückliches Zusammentreffen!« »Auf dich, Charisse – und auf deine Schönheit!« Die Worte kamen über seine Lippen, ohne daß er es wollte. Die Tafel war reichlich gedeckt und nur mit dem Besten. Ein leichtfüßiges Mädchen servierte die Speisen und Getränke, ein Geschöpf mit unfertig wirkendem Gesicht, das sich bei jedem Blick Charisses verneigte und wie eine Sklavin jedem Wink gehorchte. »Sie ist schwachsinnig«, erklärte Charisse. »Ich gab mir Mühe
mit ihr. Doch die Genstruktur war von Anfang an verdorben.« Dumarest nickte nur. Seine Gedanken schweiften ab. Es schien, daß Charisse ihr Schiff nie verließ. Warum? »Du bist zu neugierig.« Wieder schien sie seine Gedanken zu erraten. »Wer ich bin? Was ich tue? Was ich bezwecke? Einfache Antworten, Earl: Ich besitze die Chemate-Labors, handle mit künstlich hergestellten Lebensformen und liefere sie an jeden, der meinen Preis bezahlen kann. Genmanipulationen, beschleunigtes Wachstum, das Herauskristallisieren bestimmter Charaktereigenschaften – du kennst das. Und darum weißt du, was dich für mich so interessant macht. Deine Schnelligkeit, dein Reaktionsvermögen und deine Kraft sind ungewöhnliche Eigenschaften und wert, kultiviert zu werden. Du wärst überrascht zu wissen, wie viele Frauen viel Geld dafür bezahlen, einen Mann wie dich an ihrer Seite zu haben. Gar nicht zu reden von den Männern, die sich starke und stolze Söhne wünschen. Wein?« Sie goß ihm nach, ohne die Antwort abzuwarten, wobei sie sich so weit zu ihm herüberbeugte, daß er ihr betörendes Parfüm riechen, ihre fast animalische Hitze und ihre ganze Weiblichkeit spüren konnte. Sie lächelte und lehnte sich wieder zurück. »Von meinem Vater lernte ich alles, was ich wissen mußte«, sagte sie. »Vor einem Jahr starb er, und die Labors gingen an mich über. Ein Mann mit zwei Köpfen, eine Frau mit vier Armen – bezahle den Preis, und du bekommst, was immer du willst. Der Mannek wurde entwickelt, indem ich menschlichen Sa-
men derart manipulierte, daß …« »Er ist fehlerhaft«, warf Dumarest ein. »Die Ausstattung eines Geschöpfs mit mehr Waffen, als sie irgendwo in der Natur vorkommen, behindert es letztlich mehr, als es ihm nützt. Das war meine Chance. Der Mannek konnte mich nicht auf eine bestimmte Art angreifen, ohne dabei durch andere Körperteile behindert zu werden.« Sie starrte ihn an, dann nickte sie. »Hättest du ihn töten können?« »Nein, nicht einmal, falls ich unverletzt gewesen wäre. Obwohl ihn seine Vielzahl von Waffen im Angriff behindert, ist er perfekt geschützt.« »Nicht einmal mit dem Messer? Wenn es ums nackte Leben ginge?« Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht.« Warum drang sie so sehr in ihn? Plötzlich fragte er sich, ob er im Heilschlaf gesprochen hatte. Hatte sie ihm Fragen gestellt, die er unter Hypnose oder stimulierenden Drogen beantworten mußte, ohne daß er sich nun daran erinnern konnte? Er mußte an seine Träume beim Erwachen denken. Waren sie nichts als Reaktionen auf äußeres Stimulans gewesen? Und der Schmerz beim endgültigen Erwachen ... Sie zuckte die Schultern, als er danach fragte. »Ein Mittel, um das Bewußtsein zu stimulieren«, sagte sie. »Bitte, Earl – beantworte jetzt meine Frage.« »Ich kann nicht!« sagte er wahrheitsgetreu. »Wie denn? Du verlangst von mir, eine Aussage über etwas zu machen, was nur Gott mit Sicherheit wissen kann.« »Oder der Ky-Clan?«
Sie lächelte, als er schwieg. Warum hatte sie die Kyber erwähnt? Zufall? Vielleicht. Doch Dumarest mißtraute dem Zufall und hatte lernen müssen, scheinbar Nebensächliches zu beachten. Diese Frau konnte entweder nur das sein, was sie zu sein vorgab – oder mehr. Sie sah auf, als er sich erhob. »Ich muß fort, Charisse, einen Flug buchen und andere Dinge erledigen.« »Natürlich.« Ihre Zustimmung war überraschend. »Im Augenblick starten aber keine Schiffe. Die Ophir fliegt erst in ein paar Tagen ab, kurz nach ihr die Kevore. Sie nehmen die zu spät gekommenen Studenten mit.« Er nickte. »Was wirst du tun?« »Ich muß den Mannek verschiffen. Danach kehre ich nach Kuldip zurück, zu meinen Labors. Earl, du hast noch Zeit. Komm und trinke mit mir.« Sie hielt ihm einen gefüllten Pokal hin und trat ganz dicht an ihn heran. Wieder schlug ihn ihre vollkommene Weiblichkeit in ihren Bann, ihre nicht länger verborgene Leidenschaft. In ihren Augen stand das Verlangen, das auch ihn ergriff. Lange Aufgestautes bahnte sich, seinen Weg an die Oberfläche, ein Trieb, gegen den er machtlos war. »Du begehrst mich«, flüsterte sie. »Du brennst vor Verlangen. Halte mich ganz fest, Earl! Nimm mich!« Sie in den Armen halten und lieben, vielleicht dabei sterben, aber sie lieben. Dumarest vergaß, wo er war, wer sie war oder sein konnte. Vielleicht wirkte der Wein in ihm, vielleicht eine sinnesrau-
bende Droge. Es war ihm plötzlich gleichgültig. * In einem kleinen Raum, der früher einmal Stätte exotischer Genüsse gewesen war, erlebte Kyber Okos einen gänzlich andersgearteten Rausch. Es war immer die gleiche, einzigartige Erfahrung, wenn der Kontakt zur Zentralintelligenz abbrach, zu jener Vereinigung unzähliger Gehirne, und wenn die Homochon-Elemente im Schädel in den Zustand der Inaktivität zurückglitten. Wenn sein Körper erneut zur Maschine wurde und nur der Nachhall des Kontakts mit einer unfaßbaren Intelligenz zurückblieb. Okos kannte es. Lange genug stand er in Diensten des KyClans. Doch diesmal hatte er etwas Neues gespürt. Liegend dachte er darüber nach. Es war gewesen wie so viele Male zuvor, wenn Raum und Zeit bedeutungslos waren und die Zentralintelligenz sich die benötigten Informationen aus seinem Bewußtsein holte. Gleichzeitig wurden ihm Instruktionen übermittelt, schneller als das Licht. Und doch war etwas noch anderes geschehen. Ein Fehler? Unvorstellbar. Absicht? Weshalb war gerade er auserwählt, zusätzliche Informationen zu erhalten? Okos öffnete die Augen und betrachtete sich im Wandspiegel. Auf dem Bett liegend, glich er unter dem scharlachroten Umhang einem lebenden Skelett, über das sich wie Pergament die Haut spannte – eine lebende, atmende, denkende Maschine. Er hatte sein Leben der Organisation geweiht, deren Sym-
bol auf dem Brustteil seines Umhangs prangte. Eine Maschine, die aus einer Handvoll von Daten ein Ganzes ableiten, die logische Folge jeder Handlung und jeder Entwicklung bestimmen konnte. Okos überdachte das soeben Erfahrene. Einige der zur Zentralintelligenz zusammengeschlossenen Gehirne hatten Spuren von Verwirrung gezeigt. Elge, der Oberste Kyber, würde keinem seiner Diener diese Information zukommen lassen, und es war klar, warum. Es gab nur einen Lohn für jeden Kyber – die Aussicht, nach seinem Tod in der Zentralintelligenz aufgehen zu dürfen. Sollte sich nun herausstellen, daß ein Teil dieser Intelligenz krank war, mochten einige Diener der Organisation den einzigen Anreiz verlieren, dem Clan weiter zu dienen. Okos gehörte nicht zu ihnen. Für ihn war die Arbeit als solche Lohn und Befriedigung – das Streben nach Eliminierung aller Gefühle, nach Vollkommenheit des Denkens und der Logik. Das große Ziel des Ky -Clans, sich über die ganze Galaxis auszubreiten und sie zu beherrschen. War ein Teil der Zentralintelligenz krank geworden – wahnsinnig? Okos erhob sich, berührte das goldene Band an seinem linken Handgelenk, hob die Zone absoluter Stille auf, die ihn – zusätzlich zu den verschlossenen Türen – schützte und vor jedem Einfluß von außen abschnitt. Es war eine Vorsichtsmaßnahme gegen elektronische Spione während des Kontakts. Als er die Tür öffnete, verbeugte sich ein Schüler respektvoll vor ihm, ein junger Mann, noch am Anfang seiner Entwicklung zu einem Diener des Clans. »Chan und Elcar sollen alle Schiffsbewegungen und Lan-
dungen der letzten beiden Tage überprüfen«, sagte Okos. »Benachrichtige Corcyn, daß ich alle Daten über das FenilmanProjekt benötige. In einer Stunde will ich die Berichte aller Agenten auf meinem Schreibtisch haben.« Ashir blickte den Kyber ungläubig an, beherrschte sich aber mustergültig. Es war eine schier unlösbare Aufgabe bei der Menge der einfließenden Daten. Doch er wußte, er würde sie bewältigen. »Zwei Besucher warten auf Euch, Herr«, sagte der Schüler, bevor er ging. »Der Manager der Vard-Föderation und Professor Pell vom paraphysischen Labor der Higham-Universität.« Okos empfing den Manager und hörte sich seine Fragen an. Alle wollten den Rat des Ky-Clans, und sie würden dafür zahlen, jetzt und ihr Leben lang. Mit jedem Mann und jeder Frau, die die Dienste der Kyber in Anspruch nahmen und sich in ihre Abhängigkeit begaben, wuchs die Macht der Organisation. Dem Mann war leicht zu helfen. Zufrieden verließ er Okos. Professor Pell hatte ein schwieriges Problem. »Die Higham-Iniversität befindet sich in einem Prozeß der Umorganisation«, sagte er, als er sich in einen Sessel fallen ließ. »Meine Fakultät wurde als von geringer Effizienz eingestuft und ich ... Ich dachte ...« Er war als Bittsteller gekommen, als Bettler. Doch fiel es ihm schwer, den akademischen Stolz fallenzulassen. Nur langsam brachte er die Worte hervor. »Die paraphysikalischen Wissenschaften haben durch die Entdeckungen von Doktor Ahmed Rafiq von der Universität auf Zabouch neue Impulse erhalten«, sagte Okos schließlich.
»Ich könnte Ihnen eine Kopie besorgen.« »Das würden Sie tun?« Pell sah seine gewagtesten Hoffnungen übertroffen. »Ich wäre Ihnen ewig dankbar! Sollte ich Ihnen irgendwann einen Dienst erweisen können, so kommen Sie zu mir!« Er verabschiedete sich, ohne zu wissen, wie sehr er bezahlen würde, einmal und immer wieder. Der Ky-Clan hatte immer Bedarf an Agenten. Endlich allein, studierte Okos die Informationen, die Ashir inzwischen zusammengetragen hatte. Er fütterte Daten in sein Computergehirn, Bausteine der Falle für einen ganz bestimmten Menschen. Dumarest war auf Elysius gewesen, das stand hundertprozentig fest. An Bord der Mercator hatte er den Planeten verlassen. Auf welcher der zahlreichen angeflogenen Welten war er wieder ausgestiegen? Okos hatte die Zahl dieser Welten auf zwei eingeschränkt. Falls Dumarest wußte, daß er gejagt wurde (und die Wahrscheinlichkeit dafür betrug 93 Prozent), würde dieses Wissen seine Handlungen bestimmen. Schiffe wie die Mercator hatten in diesem Teil des Kosmos nur eine Chance auf Profit, wenn sie wußten, wo und wann ausreichend viele Passagiere zu finden waren. Podesta war eine solche Welt, wenn sich dort die Studenten sammelten, um nach Ascelius verfrachtet zu we rden. Und es war ein guter Platz für einen Gejagten, sich in der Menge zu verstecken. Andererseits hätte Dumarest, sich der Macht des Ky -Clans bewußt, gleich nach Quen weiterfliegen können, um dort die Jagdsaison abzuwarten und mit ihr die Unzahl von ankommenden Touristen, unter die er sich mischen konnte. Zwei Möglichkeiten – welche war die richtige?
»Ashir!« Okos drückte die Taste des Kommunikators. »Bringe mir die letzten von Podesta und Quen eingetroffenen Informationen!« Auf Podesta hatte ein Mann ein Kind gerettet. Okos überprüfte die örtlichen Gegebenheiten, alle Umstände, prägte sich alle Daten ein und fühlte kalte Befriedigung. Eine richtige Voraussage getroffen zu haben, war die einzige Freude, die er zu empfinden vermochte. Podesta also – Dumarest hatte sich selbst verraten, sich und die Welt, die nun sein Ziel war. Eine Wand des Raumes bestand aus einem großen Fenster. Okos stand auf und starrte auf die Vielzahl imposanter Gebäude herab, die vielen Flaggen der verschiedenen Universitäten, die überlaufenen Plätze und Straßen. Ein Schiff landete auf dem entfernten Raumhafen, um seine Fracht und weitere Studenten abzuladen. Weitere Streuner, die bald nach Unterkünften und Nahrung suchen würden, wo es keine mehr gab. Weitere Narren, die die Hörsäle und Bibliotheken stürmen würden, in der Hoffnung, mit Geld einen Status erwerben zu können. Es war eine Masse von Namenlosen, Gesichtslosen unter den großen Kapuzen ihrer Umhänge. Bald würde Dumarest einer von ihnen sein.
3. Der kalte Wind hatte den strömenden Regen in prasselnde Hagelschauer verwandelt und die Gebäude und Straßen mit
einer glitzernden, frostigen Schicht überzogen. Es war später Nachmittag, und die Sonne blendete die Augen, als sich die Wolken verzogen. Vor der weißlich schimmernden Wunderwelt wehten die Flaggen der Universitäten, Fakultäten und Studentenvereinigungen, eine Vielzahl von Formen und Symbolen, die Dumarest sich nicht merken konnte. »Verdammt! Ich hasse die Kälte!« Rani Papandrious, ein erfolgreicher Kaufmann, der nun seinem Reichtum jene akademischen Grade hinzuzufügen trachtete, die ihm die Anerkennung der Oberschicht auf seiner Heimatwelt einbringen sollten, ging fluchend neben Dumarest. Hinter ihm blickte ein Mädchen fast ehrfürchtig zu den Türmen und Flaggen auf, eine von vielen, die von ihren Eltern nach Ascelius geschickt worden war, um vor allen Dingen ihnen Ehre zu machen. Papandrious schüttelte den Kopf, als sie vom Raumhafengelände auf eine Gruppe Wartender zuging. »Sie werden ihr das Fell über die Ohren ziehen«, knurrte er. »Werden ihr alles, was sie besitzt, abnehmen und sie dann abschieben in die Slums. Sie ist nicht der Typ, der den an sie gestellten Anforderungen gewachsen ist.« Dumarest hatte nicht diesen Eindruck. Die Wartenden waren Studenten, die um ihre Plätze zu kämpfen gelernt hatten, aber doch auf ihre Art fair zu den Neuankömmlingen waren. Das Mädchen würde zu kämpfen haben wie alle Neulinge, doch sie würde es schaffen und eines Tages hier stehen, um selbst die Neulinge zu begrüßen. Sheen Agnostino kam an Dumarests Seite und lächelte. Sie war klein, rundlich und dunkelhäutig und war nach Ascelius gekommen, um sich als Computerprogrammiererin wei-
terzubilden, nachdem sie schon ein Examen abgelegt hatte; eine Frau mit entwaffnender Offenheit und Herzlichkeit, die es verstand, fast jeder Situation noch etwas Humorvolles abzugewinnen. »So jung und schon so ungeduldig«, sagte sie und nickte in Papandrious' Richtung. »So eifrig zu lernen und diese Welt zu erobern. Ihm zuzuhören, macht mich schon alt.« Papandrious zuckte die Schultern und lächelte nun ebenfalls. »Wart's ab«, sagte er. »Aber ich fürchte, wir müssen uns nun trennen. Ich melde mich bei dir, Sheen, wenn wir Quartiere gefunden haben.« Sein Wunsch, den Kontakt mit dem Mädchen zu vertiefen, war nicht zu überhören. »Und du, Earl? Kommst du mit uns?« »Danke, aber ich habe eine Menge aufzuholen.« Er sah die Erleichterung in Ranis Blicken. Sheen sagte herzlich: »Du schaffst es, Earl. Ganz bestimmt wirst du der beste Geologe, den diese Welt je hervorgebracht hat.« »Danke, Sheen«, sagte er. »Ich werde an dich denken, wenn mich die große Depression überkommt.« Und vielleicht würde er sich früher als geahnt an sie wenden müssen. Sie würde Zugang zu den Computern mit all ihren gespeicherten Informationen haben. Doch jetzt sprach er nicht davon. Später würde sie sich an ihre Bekanntschaft und einige freundliche Worte erinnern. Sie gab ihm noch ein paar gutgemeinte Ratschläge, sagte ihm, welche Universitäten das hielten, was sie versprachen, und welche zwar schnellen Erfolg anboten, dafür aber Verschleißmaschinerien und sündhaft teuer waren, und wünschte ihm noch einmal Glück.
Glück, das er nun nötiger brauchte denn je. * Die Schatten waren länger geworden, als er den Raumhafen verließ. Die meisten angekommenen Studenten waren in den Straßen der Stadt verschwunden. Ascelius war ein Dschungel, in dem sich unter der Kapuze eines Studenten der skrupellose Jäger verbergen konnte. Dumarest betrat die Stadt, sah sich auf den überfüllten Plätzen und in den Straßen um, hielt die Augen offen, wenn jemand ihm zu lange und zu dichtauf folgte, und betrat eine Gaststätte, als die Lampen auf hohen Säulen und Mauern zu strahlen begannen. Der Gastraum zeigte das Bild, das er erwartet hatte: Tische und einfache Stühle oder Bänke, an einem Ende eine Bar und eine Verkaufstheke mit einer viel zu geringen Auswahl an Eßbarem. Dumarest bestellte sich etwas und begab sich an einen der Tische. Ein Mädchen kam und brachte ihm das Gewünschte. Sie war groß, dünn und unausgeschlafen. Ihr blondes Haar hing in langen Strähnen über die Schultern. Ihre Figur war unter der abgetragenen Studentenkluft nicht zu erkennen. Eine von vielen Studentinnen, dachte er, die sich hier ihr Geld verdienen, um über die Runden zu kommen. Er gab ihr ein Trinkgeld und bat sie, sich für einen Augenblick zu ihm zu setzen. »Sie verschwenden Ihre Zeit, Mister«, sagte sie. »Ich bin noch nicht soweit, daß ich's für Geld tue.« »Ich will nur reden, Trisha. Ich bin neu hier und habe keine Lust, Zeit und Geld zu verschwenden.
Einige Informationen ...« »Ich schicke Ihnen Lahee. Der ist Ihr Mann.« Sie verschwand. Kurz darauf tauchte ein abgemagerter Mann auf und setzte sich an den Tisch. »Trisha sagte, du willst Geld sparen und wissen, wo's langgeht«, sagte er herablassend. »Also?« »Du weißt, was ich will. Also kannst du's mir liefern oder nicht?« »Geologie«, brummte Lahee. »Du willst Geologie studieren.« Er kramte einige Bücher und etwas zum Schreiben aus einer Tasche. »Wenn du Geld genug hast, ist die Puden-Universität das beste für dich. Versuche, einen Platz in Etienne Emil Fabulis Klasse zu bekommen. Wenn er ausgebucht ist, mußt du jemanden dazu bringen, dir seinen Platz zu überlassen. Ich kann's für dich arrangieren, wenn du willst.« Als Dumarest ihn nur durchdringend anblickte, seufzte er. »Schön, dann sehen wir, was sonst in Frage kommt.« Er zählte mehrere Universitäten und Professoren auf, während Dumarest ihn studierte. Lahee war älter, als er aussah, ein ewiger Student, zwar noch eingeschrieben, aber einer der Parasiten, die auf Ascelius eine Möglichkeit gefunden hatten, zu überleben. Er schröpfte die ratsuchenden Neuankömmlinge. Aber es war gefahrloser, ihn auszufragen als einen Computer, der gewissen Leuten Auskunft über die geben konnte, die ihm verdächtige Fragen stellten. Als Lahee geendet hatte, nahm sich Dumarest eines seiner Bücher. Lahee erschrak. »Vorsichtig damit, Mann! Das ist ein Kapital!«
»Schon gut.« Dumarest beruhigte ihn. »Wenn du hungrig bist, hole dir etwas zu essen. Ich bezahle für dich.« Lahee zögerte, sah, wie Dumarest behutsam die zerknitterten Seiten umblätterte, und ging zur Theke. Nur ein Buch gab ihm die Antwort, die er suchte. Dumarest merkte sich den Namen der Universität, in welcher der ihn interessierende Mann gelehrt hatte, und erhob sich. Für Lahee warf er eine Münze auf den Tisch. * Clyne war alt und wurde, wie Higham, nur noch von Schier an Jahren und Tradition übertroffen. Diese drei Universitäten bildeten als Dreierverbund das Nonplusultra an akademischem Adel auf Ascelius. Das Gebäude war im Lauf der Zeit immer wieder erweitert worden. Auf den Dächern wehten stolz die Flaggen der Fakultäten. Die Studenten und Professoren arbeiteten, schliefen und aßen in drei Schichten am Tag. Clyne war eine Maschinerie zur Vermittlung von Wissen und Erlangung der heißbegehrten Grade, die auf vielen Welten Macht bedeuteten. Manchmal kam die Universität Myra Favre wie ein lebendes Wesen vor. Die Computer mit ihrer Vielzahl von gespeicherten Daten waren das Gehirn, die atomare Energiezelle das Herz, die Studenten und Professoren die Muskeln und das Blut. Myra Favre hatte sich einen Platz in der Verwaltung erobert, nachdem sie verschiedene Studien abgebrochen hatte. Doch sie wußte, daß andere ihr diese Stelle neideten. Mit dieser Angst lebte sie.
Und sie hatte Probleme genug – Probleme, die sie lösen mußte, wollte sie nicht in Ungnade fallen. Die neuen Studenten waren da. Vorlesungen und Kurse mußten besetzt werden. Die zugkräftigen von ihnen waren überbelegt wie immer. Zur Erzielung eines größtmöglichen Gewinns für die Universität aber mußten auch die anderen, in jedem Semester gleich schlecht besuchten, besetzt werden. Und diesmal sah es damit besonders ungünstig aus. »Madame Favre?« Ihre Sekretärin erschien und brachte ihr angeforderte Unterlagen, die dieses Bild nur bestätigten. Myras Laune war dementsprechend. Professor Koko und einige andere würden ihre Vorlesungen aus eigener Tasche zu bezahlen haben, wenn es ihr nicht gelang, ihnen Studenten zu verschaffen, die allein mit ihren Geldern die Fakultäten finanzierten und über Wasser hielten. Würde man ihr das Ungleichgewicht anlasten? Hatte sie Fehler gemacht? Sie war zu alt, um einen neuen Anfang zu machen, und ihre Karriere konnte schnell zu Ende sein, wenn ihr nicht etwas einfiel. »Madame?« Die Sekretärin meldete sich diesmal über die Kommunikationsanlage. »Doktor Boyce möchte, daß Sie ihn anrufen.« »Stellen Sie die Verbindung für mich her«, sagte sie, wütend über das Protokoll, welches verlangte, daß sie als Untergebene den Dekan anzurufen hatte. Warum konnte er sich nicht bei ihr melden? Dennoch zwang sie sich zum Lächeln, als das Gesicht des Mannes auf dem Bildschirm erschien. »Dekan! Ich freue mich, Sie zu sehen!« Das war eine glatte Lüge. Sein Lächeln war so künstlich wie
ihr eigenes. »Die Freude ist auf meiner Seite, Myra«, sagte er. »Wir haben viel zuwenig Zeit füreinander, aber Sie wissen ja, wie es hier zugeht. Um es kurz zu machen: Ich habe mir die Liste der Belegungen angesehen und bin gar nicht glücklich darüber. Sie werden die notwendigen Umbelegungen arrangieren können, oder?« »Natürlich«, beeilte sie sich, zu versichern. Dabei fragte sie sich, wer ihn informiert hatte. Die Sekretärin? Vielleicht. Hinter ihrem unschuldigen Lächeln mochte sich ein eiskalter Verstand verbergen. Sie alle wollten ihren Job. »In wenigen Tagen wird eine optimale Verteilung der Studenten auf die Kurse erreicht sein.« »Es geht mir darum«, sagte er, »dies mit den Mitteln zu erreichen, die unserer Universität würdig sind. Wir können auf Lockangebote wie die von Reuben verzichten, wo den Studenten der Abschluß nach einem Semester versprochen wird.« Sie nickte und erwiderte sein Lächeln. Doch das gelang ihr nur halbwegs. Der Dekan nickte zögernd und setzte eine väterlich-wohlwollende Miene auf. »Sie sehen schlecht aus, meine Liebe. Ich kenne den Streß, den unsere Arbeit mit sich bringt. Vielleicht sollten Sie einfach für ein paar Tage ausspannen. Das wirkt manchmal Wunder.« »Ja«, murmelte sie. »Sie haben sicher recht. Vielen Dank für den Rat.« Er verabschiedete sich, und lange starrte sie auf den dunklen Schirm. Dieser scheinheilige alte Bastard! Wer hatte ihn auf sie angesetzt? Die Sekretärin? Cleo war ehrgeizig, das wußte sie. Oder war es Jussara von Higham gewesen? Diese Hexe war eifersüchtig und hatte einen bösen Fehler gemacht, als sie Pell
den Laufpaß gab. Die Wände ihres Arbeitsraums kamen ihr plötzlich wie die eines Gefängnisses vor. Die Arbeit türmte sich vor ihr auf. Warum sollte sie nicht wirklich ein paar Tage lang ausspannen? Was hinderte sie daran? Mit frischem Elan ließen sich die Probleme besser lösen. In ein paar Stunden konnte sie in den Kusevitsky-Bergen sein. Bevor sie ihren Entschluß bereuen konnte, bat sie Cleo, ihr einen Gleiter zu rufen. Wenige Stunden später war sie auf dem Weg ins Gebirge – wo Dumarest sie fand. * Lautlos und anmutig, die Flügel gespreizt wie riesige Vögel, segelten Dutzende von Drachenfliegern die Felsen hinab, ließen sich von den Aufwinden tragen und kreisten langsam umeinander. Es war ein buntes, friedliches und erhabenes Bild. Myra saß auf einem Felsen und blickte versonnen auf die in allen Farben leuchtenden Segler. Früher hatte sie zu ihnen gehört, Freiheit und Angst bis zum letzten ausgekostet, wenn der Boden sich einmal viel zu schnell näherte oder ein Windstoß sie in immer größere Höhen hinauftrug. Eine Stimme in ihrem Rücken sagte: »Ein überwältigender Anblick, Mylady. Wie können jene, die einmal das Gefühl des Fliegens kennenlernten, jemals wieder damit zufrieden sein, plump und schwerfällig über Asphalt zu gehen?« Als sie sich überrascht umdrehte, fügte der Fremde hinzu: »Sollte ich mich geirrt haben, so bitte ich um Entschuldigung, aber Sie sind doch Madame Myra Favre?«
»Bin ich«, sagte sie. »Und Sie?« Sie nickte, als er seinen Namen nannte. »Wie haben Sie mich gefunden?« »Ihre Sekretärin war überaus zuvorkommend.« Dumarest hatte die Studentenkluft mit einer militärisch knapp geschnittenen kastanienbraunen Kombination vertauscht, deren Ärmel und Hals mit goldenen Stickereien verziert waren. Sie paßte zu seinem harten Gesicht und gab ihm doch etwas Würdevolles. In dieser Kleidung sah er weder nach einem Studenten noch nach einem Angehörigen der mittellosen Stände aus. »Ich bitte um Entschuldigung, Sie gestört zu haben«, sagte er. »Doch es ist wichtig.« »Für mich?« fragte sie. »Für mich.« Er blickte auf die Drachenflieger hinab. »Können wir uns irgendwo in Ruhe unterhalten?« Sie zuckte die Schultern und stand auf. »Wichtig«, sagte sie. »Was ist nicht wichtig auf Ascelius?« Sie führte ihn zu einem Terrassencafe. Um diese Zeit war es kaum besucht. An einem kleinen Tisch waren sie ungestört. Dumarest bestellte bei einem Kellner etwas zu trinken und wartete, bis der Mann wieder verschwunden war. Sie blickte ihn forschend an. »Sie sind auf Ascelius, um zu lehren? Wenn es so ist und Sie deshalb zu mir gekommen sind, werden Sie mich zuerst davon überzeugen müssen, daß das, was Sie anzubieten haben, sich finanziell für die Universität lohnt. Dann unterzeichnen Sie einen Vertrag, in dem Sie sich verpflichten, die Grundgebühr zu hinterlegen, die Sie dann durch die Gebühren der Studenten wieder hereinholen können. Die Studenten bezahlen für die Kurse. Sie bekommen das Geld und geben einen Teil davon an die Universität ab. Haben
Sie Referenzen?« »Nein.« Sie zuckte die Schultern. »Nein? Warum sind Sie dann gekommen? Um mir meine Zeit zu stehlen?« »Ich hoffe, nein.« Sein Lächeln bat um Vergebung, sein Blick um ihre Hilfe. »Sind Sie schon lange an der Universität?« »In der Verwaltung? Sechs Jahre.« »Und davor?« »Ich belegte einen Kursus in Buchführung und Administration.« Sie lachte trocken. »Mehrere Jahre lang, falls Sie wirklich interessiert daran sind.« Den größten Teil ihres Lebens, doch das verschwieg sie. »Warum fragen Sie danach?« »Dann kennen Sie die Professoren und Dozenten?« fragte er, als hätte er sie nicht gehört. »Nicht alle. Dazu sind es zu viele.« »Auch vor zehn Jahren?« »Vor zehn Jahren war ich schon hier«, antwortete sie ausweichend. Ihre Neugier erwachte. Was interessierte diesen Mann so an ihrer Vergangenheit? »Was wollen Sie wirklich wissen?« »Kannten Sie einen Mann Namens Boulaye? Einen Geologen?« Als sie nickte, legte ihr Dumarest etwas in die Hand. »Er schickt Ihnen dies.« Sie starrte den Edelstein an, der groß genug war, um einen schweren Ring oder gar ein Halsband daraus machen zu la ssen. »Juscar«, murmelte sie. »Also fand Rudi seine Mine.« Er hatte sie gefunden und wieder verloren – wie sein Leben. Das war auf Elysius geschehen. Dumarest sah ihn vor sich,
begraben unter herabgekommenen Gesteinsmassen, erschlagen wie seine Frau und wie Zalman, den Dumarest einen Freund genannt hatte. Und Boulaye hatte sein Geheimnis mit in den Tod genommen: die kosmischen Koordinaten der Erde. Darum war Dumarest auf Ascelius. »Tot.« Myra schüttelte den Kopf, doch nicht in Bestürzung, denn dazu lag das Gewesene zu weit hinter ihr. »Sie kannten ihn gut?« wollte Dumarest wissen. »Gut genug. Wie lange ist das nun her? Zehn Jahre oder nur neun? Ich war jung und unerfahren, er ein Mann, der wußte, was er wollte und wie er es bekam. Sie verstehen?« Dumarest verstand mehr, als sie glaubte. Ihre Zeitangaben waren falsch. Neunzehn Jahre – das wäre der Wahrheit nähergekommen. Sie wollte ihr wahres Alter nicht offenbaren. Litt sie darunter? »Sie hatten ein Verhältnis mit ihm«, stellte er fest. »Sie sind offen, Earl. Darf ic h Sie Earl nennen?« »Natürlich, Myra. Sie hatten ein Verhältnis mit ihm. Was war noch zwischen Ihnen?« Sie blickte ihn irritiert an. Für einen Augenblick zeigte sich Zorn in ihrem Gesicht. »Nichts von Bedeutung.« Sie schien nicht weiter über dieses Thema reden zu wollen, doch Dumarest drang weiter in sie: »Nach Ihrer Affäre lernte Boulaye Isobel kennen. Sie heirateten.« »Ja«, sagte sie. »Isobel war jung und ehrgeizig. Sie glaubte seinen Versprechungen. Sie heirateten und verließen Ascelius, um ihre Mine und ihr Paradies zu finden. Jetzt sind sie tot. Ende des Liedes.«
Für sie vielleicht, nicht für Dumarest. Was Rudi entdeckt hatte, konnte wiedergefunden werden. Und falls diese Chance bestand, mußte er sie beim Schopf ergreifen, koste es, was es wolle. Hatte der Mann Myra eingeweiht? »Legenden«, sagte er. »Rudi hatte großes Interesse an ihnen. Sicher hat er mit Ihnen darüber geredet.« »Ich hatte andere Dinge im Kopf. Wir waren nicht oft zusammen, und wenn wir's waren, standen andere Dinge auf dem Programm. Tut mir leid, Earl, aber ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen. Ist es denn so wichtig?« Sie würde niemals ermessen können, wie wichtig. Dumarest zwang sich dazu, Gelassenheit zu zeigen. Ungeduld könnte alles verderben. »Hat er jemals von der Erde gesprochen?« fragte er ruhig. »Von der Erde?« Sie lachte, als hätte er einen gelungenen Scherz gemacht. »Mein Gott, Earl! Teilen Sie etwa seine verrückten Ideen? Sie sollten Tomlin oder Cucciola kennenlernen. Die beiden sind Experten in den kindischen Spielen um solche Phantasien! Die Studenten und selbst Dozenten ergötzen sich daran, sich auszumalen: ›Was wäre, wenn?‹ Aber es gibt diese Wenns nicht, Earl. Die Erde ist nichts als ein Mysterium, etwas, an dem sich schwache Gemüter erhitzen können, etwas, um die Langeweile hier totzuschlagen! Wie kann ein erwachsener Mann ernsthaft glauben, daß die Erde existiert? Allein der Name ist idiotisch!« Es war die gleiche Reaktion, die Dumarest so oft schon erlebt hatte. Doch wie alle anderen, irrte sich Myra. Die Erde existierte. Er war auf diesem Planeten geboren worden. Ihn wiederzufinden, war der Sinn seines Lebens. »Tomlin?« fragte er. »Cucciola?«
»Beide sind Angehörige der Universitäten im Dreierverbund.« »Ich muß sie treffen.« Myra erschrak beim Anblick seines Gesichts. Schlagartig wurde sie ernst. »Sie und die anderen, die mit Rudi zu tun hatten. Könnten Sie das für mich arrangieren?« »Vielleicht.« Ihr Blick wurde berechnend. Schließlich schien sie zu einem Entschluß zu kommen. »Auf Ascelius gibt es regelmäßig Treffen der akademischen Oberschicht. Eines steht kurz bevor. Ich könnte Sie zu dieser Party mitnehmen. Allerdings müßte uns etwas einfallen, um Sie salonfähig zu machen. Auf Ascelius gilt nur der etwas, der etwas vorzuweisen hat.« Standesdünkel, er verstand. »Bis dahin könnten Sie mein Gast sein«, schlug Myra überraschend vor.
4. Ein Mensch mit viel Sinn für das Bizarre hatte den großen Raum mit Schädeln und Knochen dekoriert, mit Totenmasken und anderem morbiden Popanz. Die Musik paßte dazu: schwere Klänge, die Dumarest Schauder über den Rücken jagten. Raffiniert ausgerichtete Scheinwerfer zauberten unwirkliche Farben auf die Gesichter der Gäste. »Myra! Wie schön, dich zu sehen!« rief eine Frau vom Ein-
gang her und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Sie warf Dumarest neugierige Blicke zu. »Und das ist dein neuer Freund. Was für ein Mann! Du mußt mich ihm vorstellen, meine Liebe!« Sie tat es. Jussara lächelte ihn an und stellte ungeniert ihre Weiblichkeit zur Schau. »Ein Professor? Was lehrt er?« »Dumarest hat einen Doktortitel in modernen Kampftechniken«, erklärte Myra, wie zwischen ihr und dem Terraner verabredet. Auf diese Weise erhielt er den Status, um als gleicher unter gleichen anerkannt und geduldet zu werden. »Wir überlegen, ob wir ihn nicht in die Fakultät aufnehmen und ihm einen Lehrstuhl geben können.« »Und inzwischen wohnt er bei dir.« Jussaras Lächeln verriet ihre Bosheit. »Kein Wunder, daß du so gut aussiehst. Und ich dachte schon, es wäre, weil du deine Probleme lösen konntest. Okos half dir?« »Nein.« »Nun, das ist ja auch egal.« Wieder blickte sie Dumarest an. »Hoffen wir, daß du ihn unterbringen kannst. Sonst kann ich immer noch sehen, was ich in Higham für ihn tun kann.« »Danke, Mylady«, sagte Dumarest und deutete eine Verbeugung an. Ihr Angebot betraf nicht allein seine Anstellung. Sie machte keinen Hehl daraus. »So formal! Nennen Sie mich einfach Jussara. Bis später, Earl. Ich brenne auf unsere nächste Begegnung.« Sie erblickte einen anderen Mann und flog ihm zu. »Ceram, mein Engel! Sei so lieb und ...« Myra mußte etwas trinken. Verächtlich sah sie der Hexe nach. Wenn Dumarest auf sie hereinfiel, hatte er nichts Besse-
res verdient. »Was meint sie damit, du hättest deine Probleme gelöst?« fragte Earl, als hätte er ihre Verärgerung gar nicht bemerkt. Dabei wunderte er sich, wieso sie so heftig reagierte. War es nur Eifersucht – oder gab es andere Gründe dafür? Sie erklärte ihm, worin ihre Aufgabe in der Verwaltung bestand und welche Schwierigkeiten sie damit hatte. Dann fragte sie ihn, ob er tanzen wollte. »Jetzt nicht«, wehrte er ab. »Wo sind die Leute, die wir hier treffen wollten?« »Später, Earl. Laß uns erst die Party genießen.« Er hatte lange genug warten und sich in Geduld üben müssen, sich auf die Spielregeln der Frau eingelassen, die so schnell damit bei der Hand gewesen war, ihn zu sich einzuladen. Wieder fragte er sich, ob dies nur ihrer Einsamkeit und den lockeren Sitten auf Ascelius zuzuschreiben war oder ob etwas anderes dahintersteckte. Fast glaubte er inzwischen, daß sie wirklich ein anderes Spiel mit ihm trieb. Hinter allem, was sie tat, war Berechnung zu erkennen, selbst bei der Liebe. Arbeitete sie für jemanden im Hintergrund? »Wenn du's nicht tust, suche ich mir diese Leute allein«, sagte er. »Ist das alles, was du willst, Earl?« Sie trank erneut und blickte ihn zornig an. »Dann hast du mich nur benutzt, um an Tomlin und Cucciola heranzukommen! Du bist ein Bastard!« Sie schrie ihn an – und verstummte, als sie sich der plötzlich eingetretenen Stille und der Augenpaare bewußt wurde, die sie voller Erstaunen beobachteten. »Myra?« Ein Hüne von einem Mann trat an ihre Seite. »Ärger?«
Moultrie, ganz auf seine Größe und Kraft vertrauend, baute sich neben ihr in Beschützerpose auf. Myra kannte ihn vom Drachenfliegen her und wußte, daß ein Wort von ihr genügte, um ihn sich auf Dumarest stürzen zu lassen – den Mann aus einer Welt, die ihr fremd war und fremd bleiben mußte, den Mann, der getötet hatte, um zu leben. »Ist schon gut, Roy«, sagte sie. »Nur eine kleine Meinungsverschiedenheit. Danke für deine Besorgnis, Roy.« »Bist du ganz sicher?« »Ganz sicher.« Sie lächelte ihn an. »Alles in Ordnung.« Nur widerwillig zog Moultrie sich zurück, und Dumarest hatte den Eindruck, daß er den Kampf gewollt hatte. Weshalb? Nur um Myra und den anderen Gästen zu imponieren? »Roy!« rief Jussara quer durch den Saal. »Bring Myra mit zu uns! Hier wartet ein Drink für sie!« Er drehte sich um, packte Myra am Arm und zog sie von Dumarest fort. Dumarest hätte seinem Hochmut einen Dämpfer verpassen können, doch er durfte nicht unnötig auffallen. Außerdem war er ganz froh über die nun gewonnene Bewegungsfreiheit. Die Musik veränderte sich, wurde noch schwermütiger, und die Scheinwerfer tauchten Einrichtungsgegenstände und Menschen in ein trübes, violettes Licht, in das Blasen von Rot hineingeworfen wurden. Rot wie das Blut. »Verrückt«, sagte ein Mann hinter Dumarest. »Der kindliche Wunsch, zu schockieren. Wo steuert diese Gesellschaft hin?« Dumarest drehte sich zu ihm um. Der Mann war klein und untersetzt, hatte kaum noch Haare auf dem Kopf. In jeder Hand hielt er einen Pokal und bot Dumarest einen davon an.
»Sauber«, versicherte er. »Meine eigene Marke. Nur Dummköpfe trinken von dem Gebräu, das Leverchick auf seinen Partys reicht.« Dumarest nahm den Pokal und nickte dankend. »Ich bin kein Telepath«, sagte der Mann. »Ich kann Ihre Gedanken nicht lesen, also kein Grund zur Beunruhigung. Ihre Miene verriet genug. Das alles hier widert Sie an, oder?« Er verneigte sich lächelnd. »Oh, ich bin Carl Ragin und habe ein Lehramt in Clyne inne.« »Dann kennen Sie Myra Favre?« »Natürlich, mein Freund. Und auch über Sie weiß ich Bescheid. Sie sind ein Kämpfer, stimmt's? Einer, der einen Lehrstuhl für Kampfestechniken anstrebt.« »Kampfestechniken?« Ein junger Bursche kam heran, ein Kleiderschrank wie Moultrie und offensichtlich schon ziemlich berauscht. »Ich nenne es Mordtechnik. Was will ein Kerl wie du hier bei uns, eh? Sieht so aus, als hättest du Myra beleidigt. Ich schätze, du möchtest jetzt gehen.« »Dorf«, seufzte Carl Ragin. »Das ist Steady Dorf.« Der Unterton in seiner Stimme sollte Dumarest warnen. Dorf nahm eine aggressive Haltung ein. Was wollte er? Ihn provozieren? Wußte er nicht, worauf er sich einließ, daß ein Schlag von ihm seinen Tod bedeuten konnte? Dumarest ließ sich auch jetzt nicht aus der Reserve locken. Für die dekadente Oberschicht auf Ascelius wäre er unten durch, wenn er sich auf die Provokation einließe und seine Fäuste gebrauchte. »Was willst du?« stichelte Dorf weiter. »Beweisen, daß rohe Gewalt dem Intellekt überlegen ist?«
»Nein.« Dumarest stellte seinen Pokal ab und verschränkte die Arme über der Brust. »Obwohl es vielleicht besser wäre, den Studenten beizubringen, wie man auf anderen Welten überlebt. Aber das ist euer Problem.« »Mord«, krächzte Dorf. »Du willst sie zu Mördern erziehen!« »Ihnen beibringen, wie sie sich dort verteidigen können, wohin sie das Leben verschlagen kann«, entgegnete Dumarest scharf. Dorf erkannte die warnenden Zeichen nicht. Er schob sich noch näher an ihn heran. »Leere Worte!« knurrte er. »Was würdest du denn tun, wenn ich dir einen Strahler vor die Nase hielte?« Dorf nahm eine Serviette von einem Tisch, rollte sie zusammen und hielt sie Dumarest wie den Lauf einer Schußwaffe vors Gesicht. Er fand sich zwischen zwei Stühlen liegend am Boden wieder, nachdem Dumarest ihm blitzschnell mit der Linken den Arm heruntergeschlagen und gleichzeitig die Rechte ans Kinn gesetzt hatte. »Ich würde das tun«, sagte Earl. »Und dies war eine kostenlose Lektion für Sie: Richte nie eine Waffe auf jemanden, wenn du sie nicht auch zu gebrauchen verstehst!« Ragin blickte ihn erschreckt an. »Sie hätten ihn ebensogut töten können, selbst wenn er eine echte Waffe auf Sie gerichtet hätte. Herrje, ich habe nicht einmal Ihre Bewegung gesehen!« »Training, Reaktionsvermögen und Berechnung«, sagte Dumarest. »Besuchen Sie meinen Kursus, wenn Sie mehr darüber lernen möchten. Das gilt auch für Sie, junger Heißsporn.« Er half Dorf auf die Beine. »Fangen Sie nie etwas an, das Sie nicht zu Ende bringen können.« Dorf fluchte, rieb sich das blutende Kinn und verschwand in der Menge. Ragin runzelte die Stirn.
»Sie haben sich einen Feind gemacht, Earl. Dorf hat gute Verbindungen und wird nicht zögern, diese spielen zu la ssen.« Dumarest winkte nur ab. Die anderen Gäste nahmen ihre Unterhaltungen wieder auf. Er stand allein mit Ragin in einer Ecke des Raumes. Einer Eingebung folgend, fragte Dumarest: »Sie kannten Rudi Boulaye?« Ragin blickte ihn überrascht an. Dann nickte er, sichtlich verwirrt. »Ich kannte ihn, ja. Aber glücklich machte mich das nicht. Ich steuerte hundert Vell zu seinem verrückten Unternehmen bei. Immerhin – ich war nicht der einzige. Tomlin beteiligte sich daran, und Seligman, der inzwischen tot ist. Collett gab ihm tausend Vell. Was wollte er sonst mit dem Geld noch anfangen? Er wußte, daß er bald sterben würde.« »Und Cucciola?« »Er lachte Boulaye aus und nannte ihn einen Narren, aber ich wurde den Verdacht nie los, daß er ihm wie wir anderen sein Geld gab. Auch er war einer jener Romantiker, die sich nicht damit abfinden wollten, daß die uralten Legenden nichts als Legenden waren. Und Rudi verstand es, die Leute zu überreden. Myra kann ein Lied davon singen, aber besser fragen Sie sie nicht danach. Sie kannten ihn also wirklich?« »Ihn und seine Frau«, bestätigte Dumarest. »Sie sind beide tot.« »Eine Schande.« Ragin sah sich nach Getränken um und füllte seinen Pokal zweimal mit einer rotgoldenen Flüssigkeit nach. Er trank hastig. »Rudi war ein hoffnungsloser Träumer, ein Narr. Aber zei-
gen Sie mir einen Idealisten, der keiner ist. Er war auch schwach, doch was zählt das, wenn man Erfolg hat? Zumindest mit Isobel hatte er Glück.« Er zog eine Flasche Brandy aus seiner Tasche und trank weiter. »Nun, Earl, auf den Tod eines Traumes!« »Es war kein Traum«, entgegnete Dumarest. »Rudi fand seine Mine.« »Mine? Wer zum Teufel redet von einer Mine? Ich spreche von seiner Suche, bevor er aufbrach, um auf andere Weise sein Glück zu machen. Ich spreche von dem, in das Tomlin, Cucciola, ich und all die anderen unser Geld steckten – von der Suche nach der Erde!« Er lachte rauh. »Rudi schwor, daß er wüßte, wo sie liegt!« * Nur noch wenige derjenigen, die sich vor Jahren an Boulayes Forschungen finanziell beteiligt hatten, lebten noch. »Zeit«, sagte Cucciola, »die Zeit geht nicht an uns vorbei und reißt die besten Freunde aus unserer Mitte.« Er zählte eine Reihe von Nanen auf. Und auch er selbst war alt geworden. Langsam und unsicher durchschritt er den Raum. Dumarest blickte sich um. Der Staub lag dick auf langen Reihen von uralt erscheinenden Büchern, die auf Regalen ganze Wände bedeckten. Jeder Band war durch einen transparenten Schutzumschlag vor dem Zerfall geschützt. Noch besser erhalten waren die Kassetten und Videoplatten. Cucciolas Wohnung wies ihn als einen Mann aus, der sein Leben der Suche nach Wissen
und Weisheit geweiht hatte; ein Mann, der nun auf den Tod wartete und froh über die Gelegenheit war, sich mit jemandem unterhalten zu können. »Tomlin sollte jetzt hier sein«, murmelte er. »Eine Schande, daß er vor zwei Monaten zur östlichen Halbinsel aufbrach. Er braucht die Seeluft für seine Gesundheit.« Er blieb vor Dumarest stehen und zuckte die alten Schultern. »Ich bin wohl der einzige, der von uns übriggeblieben ist, Earl. Der einzige, der hiergeblieben ist. Ich und Ragin, der damals der jüngste von uns allen war. Carl, ich erinnere mich daran, daß Rudi dir anbot, ihn zu begleiten. Aber du lehntest ab.« »Weil ich die Sinnlosigkeit unserer Suche erkannte«, sagte Ragin. »Ich hatte gerade eine neue Anstellung angeboten bekommen und hätte sie verloren, hätte ich Ascelius verlassen, und du weißt, wie schwer es ist, an eine neue zu kommen. Und um ehrlich zu sein – ich dachte allmählich, das ganze Theater um die Erde sei nichts als ein Scherz. Wie kann die Erde existieren? Mit ihr ist es das gleiche wie mit Bonanza und Eden und all den anderen legendären Welten. Ein Name für einen Traum vom ewigen, unerfüllbaren Glück. Sie müssen all diese alten Geschichten doch kennen, Earl. Eine Welt ohne Schmerz, ohne Angst und Übel. Bäume, die die herrlichsten Früchte tragen, und Flüsse von Wein und Luft so klar wie der Glanz eines Juwels. Die Sonne verbrennt nicht die Haut, die Nächte sind lau. Die Natur ist für die Menschen da.« Er trank und schüttelte sich leicht. »Diese Vorstellung ist ein Rauschgift, und nur zu gern lassen wir uns von ihr einlullen. Die Erde finden! Unsere Hände in ihre unvorstellbaren Schätze tauchen! Unsere Leiden kurieren
und nur leben! Im Paradies sein!« Vorsichtig fragte Dumarest: »Kannte Rudi also die Koordinaten?« »Ich weiß es nicht. Ich glaube zwar nicht daran, aber ich sagte schon, er war ein Bastard, dem alles zuzutrauen war. Jedenfalls verstand er es damals, uns zu überzeugen – und wir Narren folgten ihm.« Er warf dem alten Mann einen Blick zu. »Manche von uns haben es bitter bereut.« »Ich nicht«, sagte Cucciola. »Andere wohl. Aber das Leben ist ein immerwährendes Glücksspiel. Einige gewinnen, andere verlieren. Doch am Ende gleicht sich alles wieder aus. Alle von uns, die Rudi ihr Geld gegeben haben, wollten, daß er die Erde findet.« Und das hatte er! Das hatte er! Rudi Boulaye hatte gelogen und betrogen – aus Gründen, die Dumarest zu kennen glaubte. Er hatte die kosmischen Koordinaten der Erde gefunden, jene Daten, die allein ein Schiff dorthin bringen konnten. Die Daten, nach denen Dumarest nur hätte die Hand auszustrecken brauchen und die nun für immer verloren waren. Gab es Kopien davon? »Ein Jahr etwa, nachdem er aufgebrochen war, kehrte er hierher zurück«, sagte Cucciola. »Er erzählte uns, daß es keine Erde gäbe, daß alles nur eine fixe Idee gewesen sei.« »Aber Sie«, murmelte Dumarest. »Sie alle sind intelligente Menschen gewesen – und Sie glaubten daran, daß die Legende wahr sei.« »Ein Spiel«, sagte Ragin. »Etwas, um uns die Zeit zu vertreiben.« »Nein!« Dumarest ging vor Cucciola auf und ab. »Das rede-
ten Sie sich, ein, nachdem Rudi zurück war. Sie wollten ihm glauben, um nicht als Narren dastehen zu müssen, die an Kindermärchen glaubten. Aber vorher muß es doch etwas gegeben haben, das Sie so sicher machte. Daten, Informationen, logische Folgerungen, vielleicht nur Gerüchte, denen Sie nachgingen. Versuchen Sie sich zu erinnern! Sie legten Ihr Geld zusammen, um Rudi seine Reise zu ermöglichen – wohin? Warum verschwand er für ein Jahr? Was hoffte er zu finden? Redet, verdammt! Redet!« »Earl!« Ragin stand vor ihm, unsicher und verärgert. »Beruhigen Sie sich!« »Ich bin in Ordnung. Ich möchte nur, daß Sie sich erinnern. Wenn Cucciola zu alt dazu ist, dann versuchen Sie es, Carl. Sie waren dabei, als über Rudis Pläne gesprochen wurde!« »Nur selten. Und es war ein Spiel, ein Was-wäre-wenn-Spiel. Mein Gott! Es ist so lange her!« Dumarest verstand gut. Ragin und alle anderen hatten sich auf etwas gestürzt und waren bitter enttäuscht worden. Sie wollten nichts mehr davon wissen. Sie verdrängten es. Dumarest gab nicht auf. Er sagte: »Rudi hatte doch irgendwelche Hinweise!« »Ein Buch«, murmelte Cucciola. »Ja, er besaß wohl ein Buch, in dem er angeblich Hinweise und Daten gefunden hatte.« Eine Geste sagte Dumarest, daß es sinnlos war, danach zu suchen. Rudi hatte es vernichtet oder verschwinden lassen. »Ich erinnere mich jetzt an etwas. Eine Religion oder eine Sekte spielte eine Rolle. Sie nannte sich ... ja, es waren die Wahren Menschen. Sie glaubten an eine allen Menschen gemeinsame Ursprungswelt. Und da gab es einen Namen.
Ich glaube ... Erce ...« Erce – Dumarest sagte das nichts. Er blickte Ragin an, dann wieder Cucciola, schließlich die Regale voller Bücher und Ka ssetten. War nichts von den Sitzungen mit Boulaye übriggeblieben? »Es bestand keine Notwendigkeit, etwas aufzuzeichnen«, sagte Cucciola auf seine entsprechende Frage. »Wir trafen uns eben und redeten. Wir vertrauten Rudi.« »Erce«, murmelte Duarest. »Dies war der Name?« Ragin und Cucciola blickten sich an und nickten beide. »Sonst nichts? Rudi muß doch einen Grund für seine Reise angegeben haben, um Ihr Geld zu bekommen. Er wollte es, um eine Passage zu buchen, oder? Aber wohin? In Ordnung, er kehrte zurück. Aber von wo? Er muß Ihnen doch Rechenschaft abgelegt haben. Können Sie mir wenigstens einige Welten nennen, die er besuchte?« Wenn schon nichts anderes, so sollte ihn dies weiterbringen. Als die Höflichkeit es gebot, verließ Dumarest die beiden Männer und begab sich in ein Cafe, wo er ein starkes Getränk zu sich nahm und grübelte. Zu dieser frühen Tageszeit waren die Straßen mit Menschen überfüllt. Studenten drängten sich an den Tischen und unterhielten sich über Professoren und das Studium allgemein. Dumarest wurde hellhörig, als der Name Pell fiel. Ein Professor, der kurz vor der Entlassung gestanden hatte, konnte seine Haut gerade noch rechtzeitig damit retten, daß er einige wertvolle Dokumente vorweisen und damit eine Vorlesung bestreiten konnte. Das war an sich nichts, was Dumarest hätte interessieren sollen. Doch eine Studentin sagte zu ihrem Begleiter: »Er wird sehen, was er davon hat, sich vom Ky -Clan helfen
zu lassen. Wem die Kyber einen Gefallen tun, den haben sie in der Hand.« Ein Kyber auf Ascelius? Warum? Der Ky-Clan konnte nicht viel Interesse an einer Welt wie dieser haben. Der Rat, den seine Diener zu verkaufen hatten, konnte ebensogut von den Organen der Universitäten gegeben werden. Ein Zufall also? Dumarest wußte, wie fatal eine solche Annahme sein konnte. Es wurde Zeit für ihn, von hier zu verschwinden, aber alles, was er bisher in Erfahrung gebracht hatte, waren einige wenige Namen, die für sich allein nichts hergaben. Aber sie konnten ihn zu weiteren, wichtigeren Informationen führen. Es mußte einen Weg geben!
5. »Earl!« Sheen Agnostino lächelte, als sie ihn sah. »Wie schön, daß du mich nicht vergessen hast.« »Ich brauche deine Hilfe, Sheen«, sagte Dumarest unverblümt. »Immer. Aber aus deinem Anruf wurde ich nicht ganz schlau. Du willst an die Computer?« »Ich möchte, daß du für mich mit ihnen arbeitest. Läßt sich das machen?« Als sie zögerte, fügte er hinzu: »Ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht wichtig und dringend wäre. Natürlich bezahle ich dafür.« »Earl, hältst du mich für eine Geschäftemacherin?« »Ich will es.«
Während ihres gemeinsamen Fluges hierher hatte er einen Eindruck von ihren finanziellen Verhältnissen erhalten und war nun froh darüber. »Lehne nicht ab, Sheen. Auf diesem Planeten kann niemand sich Großzügigkeit leisten.« Er zog Münzen aus seiner Tasche. »Wird das reichen?« Sie starrte die Geldstücke an, dann ihn. »Earl, ich kann nicht ...« »Die Benutzung der Computer kostet etwas«, wehrte er energisch ab. »Bitte, Sheen. Ich brauche deine Hilfe wirklich dringend.« Seine Bitte hatte mehr Wirkung als die angebotene Bezahlung. Er atmete auf, als sie endlich die Münzen an sich nahm. Für sie bedeuteten sie Sicherheit und Unabhängigkeit – ihm garantierten sie jetzt ihre Hilfe und später ihre Verschwiegenheit, sollte ihr jemand Fragen stellen. »Wir gehen am besten zur Zentralstelle«, sagte sie schließlich. »Ich gebe dir einen Technikerkittel und ein Namensschild. Benimm dich unauffällig und stelle dich taub, falls jemand zu neugierig ist. Wenn das nicht geht, dann sage, daß du die Monitore überprüfen mußt.« Kurz darauf waren sie auf dem Weg und unterhielten sich leise wie Kollegen, wenn andere an ihnen vorbeikamen. Sheen strahlte große Selbstsicherheit aus, doch konnte sie ihm seine innere Unruhe nicht nehmen, wenn jemand stehenblieb und sich nach ihnen umdrehte, ihnen zu lange nachblickte oder schnell hinter einer Tür verschwand. Vor einem Bildschirm mit einer Tastatur darunter auf einem halbhohen Sockel blieben sie stehen. Der große Computerraum war angefüllt mit geballter Technik. Studenten riefen
von anderen Terminals Daten ab oder speicherten Informationen. Dumarest wartete, bis niemand mehr in der Nähe war, bevor er Sheen erklärte, welche Auskünfte er brauchte. Sie schien zu erschrecken. »Wozu das alles, Earl? Du verfolgst jemanden? Seine Reisen, die Dauer seiner Abwesenheit, seine Rückkehr? Ist das alles?« Sie biß sich leicht auf die Unterlippe. »Na schön. Beginnen wir mit dem Namen. Boulaye? Rudi Boulaye?« Ihre Finger huschten über die Tastatur und zauberten Worte auf den Schirm. »Exzellente Qualifikationen«, las sie ab, als die Daten erschienen. »Er muß ein As unter den Wissenschaftlern gewesen sein.« »War er«, stimmte Dumarest zu. »Allerdings ist das einige Zeit her. Seine anderen Daten sind doch nicht gelöscht?« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn er's nicht selbst getan hat. Zehn Jahre zurück, sagst du?« »Zwischen zehn und zwölf. Er unternahm eine Reise, kehrte zurück, um sein Lehramt wieder auszuüben, und verschwand erneut nach seiner Hochzeit vor etwa acht Jahren.« Es war überflüssig, das zu erwähnen. Alles, was Boulaye je unternommen hatte, war im Computer gespeichert und erschien auf dem Monitor. Sheen schüttelte den Kopf. »Nichts Ungewöhnliches, Earl.« Aber es mußte etwas geben. Dumarest kniff die Augen zusammen und las ab, was über Boulayes Lehrtätigkeit ausgeworfen wurde, seine Klassen, Krankheiten, Verdienste und so weiter. »Eine Reise«, murmelte Sheen. »Die kann er über eine Agentur gebucht haben. Gehen wir auf dreizehn Jahre zurück.«
Buchstabenreihen erschienen. Sie sagte: »Hier haben wir etwas. Er nahm vor mehr als zwölf Jahren ein Schiff nach Kraig. Es war seine einzige Reise, bevor er dann nach Elysius aufbrach.« »Wie lange war er fort?« Dumarest mußte seine Erregung niederkämpfen. »Zehn Monate? Ist das sicher?« »Zehn Monate und elf Tage.« Sie erahnte die nächste Frage schon. »Um Kraig zu erreichen, braucht man unter normalen Umständen sechs Monate.« Was bedeutete, daß Boulaye den Planeten, den er als sein Ziel angegeben hatte, niemals erreichen konnte. Sheen gab schon die nächste Frage ein und las ab: »Sein Schiff war die Mantua. Zwischenlandungen auf Alba und Cilen.« Nicht einmal das war sicher. Die Mantua war ein freies Handelsschiff, und solche Schiffe änderten ihre Routen je nach winkendem Gewinn auf dieser oder jener anderen Welt. Dumarest ließ Sheen nach Varten und Hutz fragen – zwei Welten, die Cucciola noch erwähnt hatte. Auch sie konnten in der Boulaye zur Verfügung stehenden Zeit nicht erreicht werden. Aber irgendwohin war er geflogen. »Überprüfe Alba«, bat er Sheen. »Zeit für Hin- und Rückflug von den zehn Monaten und elf Tagen abziehen. Die restliche Zeit durch zwei dividieren und überprüfen, wohin er dann von Alba aus noch gehen konnte.« Noch als er das sagte, kam ihm zu Bewußtsein, wie viele unbekannte Faktoren es gab. Hatten Boulaye Schiffe zur Verfügung gestanden? Hatte er den direkten Weg genommen? War er überhaupt an Bord der Mantua gegangen? Eine Passage war schnell gebucht und mußte nicht in Anspruch genommen werden. Boulaye würde sicher Vorkehrungen gegen eine Ver-
folgung getroffen haben. »Zwei Welten, Earl. Tampiase und Kuldip.« »Kuldip?« »Die Alba am nächsten gelegene. Du kennst sie?« »Ich hörte davon.« Und er erinnerte sich an Charisse, die Chetame-Labors auf Kuldip. Gab es einen Zusammenhang? Er kam nicht weiter. Vieles sprach dagegen. Schließlich bat er Sheen, den Computer generell zu fragen, ob Boulaye auf irgendeine Weise in Verbindung mit der Erde gebracht werden konnte. Sheen versuchte es – und gab einen Laut der Überraschung von sich. »Da war etwas«, sagte sie, nachdem sie verschiedene Fragen eingegeben hatte. »Es ist ... gelöscht worden. Was immer du zu finden hofftest, Earl. Boulaye selbst muß dafür gesorgt haben, daß niemand außer ihm davon erfuhr. Ende, Earl. Sackgasse.« Dumarest ballte die Hände zu Fäusten. Zwischen zusammengebissenen Zähnen preßte er hervor: »Erce. Versuche es noch damit.« Nichts. »Keine Informationen, Earl. Das Wort existiert für den Computer nicht. Was ist es? Ein Planet? Nur ein Name?« Ein Traum oder wieder nur eine Lüge, um andere zu täuschen. Dumarest dachte daran, wie Boulaye gestorben war. Hatte er noch triumphieren können? * Dumarest verließ Sheen und suchte in einem Gasthaus
Schutz vor dem peitschenden Sturm. Bei einer Tasse Kaffee dachte er an Myra. Warum hatte sie ihn angelogen? Die Männer, denen sie ihn hatte vorstellen wollen, waren gar nicht auf der Party gewesen. Sie mußte gewußt haben, daß Tomlin nicht kommen konnte und Cucciola fast an seine Wohnung gefesselt war. Warum hatte sie ihn so schnell zu sich eingeladen? Dumarest aß etwas und versuchte, andere Gründe als die naheliegenden für ihr Verhalten zu finden. Sie war nicht so leidenschaftlich, wie sie sich gegeben hatte, keine Frau, die sich ihre Liebhaber ins Haus holte. Warum nicht? Nur aus Angst vor dem Gerede der Leute? Er trank noch mehr Kaffee. Er brauchte ihn, um die Müdigkeit zu vertreiben. Und ein Entschluß reifte in ihm heran. Er wußte, daß es ein Fehler sein konnte, sich weiter um diese Frau zu kümmern. Andererseits würde er sich nie verzeihen, nicht alles versucht zu haben, sie zum Sprechen zu bringen – und sie wußte noch etwas. Draußen war es Nacht geworden. Der Wind peitschte Hagelkörner gegen die Hauswände und die Menschen, die nun noch unterwegs puf den Straßen waren. Dumarest lief durch die Stadt, erinnerte sich an den schon einmal genommenen Weg und betrat kurz darauf das große Gebäude, in dem sich Myras Wohnung befand, dicht unter dem Dach und mit einem großen Balkon, von dem aus die halbe Stadt zu übersehen war. Die Tür des Haupteingangs war unverschlossen und leicht zu öffnen. Er hatte Myra nicht angerufen, wußte nicht, ob sie überhaupt zu Hause war. Doch als er vor ihrer Wohnungstür stand und die Tür geöffnet wurde, fiel sie ihm in die Arme.
»Ich war so dumm«, schluchzte sie. »Dumm und kindisch. Doch diese Hexen ... Earl, kannst du das nicht verstehen?« Er sagte nichts darauf, ließ sich von ihr in die Wohnung führen und sah sich um. Myra trug ein weites Gewand und mit Juwelen besetzte Hausschuhe. Ihr Haar trug sie auf eine ihm völlig neue Art. Ihre Schminke ließ sie um Jahre jünger aussehen. »Warum hast du dich nicht gemeldet?« fragte sie, nun gefaßter. »Ich wartete so auf deinen Anruf.« »Ich hatte zu tun.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Und ich dachte, ich störe dich vielleicht bei ...« »Du meinst Moultrie? Mußt du mich an diesen Idioten und meine Dummheit erinnern? Ja, ich war eifersüchtig und hatte Angst, Earl. Deshalb ging ich mit ihm. Glück ist etwas so Zerbrechliches. Möchtest du etwas Wein?« Ihre Hände berührten seine Brust und legten sich ihm um den Hals. »Du siehst so müde aus, Liebling. Du bist mit Ragin gegangen? Hast du Hunger? Soll ich uns etwas kochen?« Sie löste sich von ihm und brachte Wein. Er nippte nur daran und fragte: »Warum hast du mir nicht gesagt, daß du Rudi auf seiner Reise begleitetest?« Sie erschrak und lächelte nur noch mit den Lippen, nicht mit den Augen. »Ist das so wichtig?« »Ich frage mich, warum du nichts davon sagtest, als wir zusammen waren.« »Vielleicht gerade, weil wir zusammen waren. Aber es ist lange her.« »Zwölf Jahre, fast dreizehn«, sagte er mit schonungsloser Offenheit. »Myra, was geschah auf dieser Reise? Rudi buchte eine Passage nach Kraig, doch wir beide wissen, daß er nie
vorhatte, dorthin zu fliegen. Ich bezweifle, daß er überhaupt an Bord der Mantua ging. Vielmehr folgte er dir mit der Toratrese. Oder traft ihr euch auf Alba?« Es war ein Schuß ins Blaue, doch er traf. Dumarest sah es in ihren Augen. Pure Vermutung in Verbindung mit dem, was Sheen Agnostino schließlich doch noch aus den Computerspeichern hatte herausholen können. »Du solltest aus solchen Dingen keine Geheimnisse machen, meine Liebe«, sagte er sanft, als er ihr neuen Wein eingoß. »Du hattest ein Verhältnis mit Rudi und flogst mit ihm. Wer sollte dir dafür Vorwürfe machen?« »Ein Mann«, sagte sie leise. »Ein Professor, der damals um mich warb. Er hatte Einfluß und ...« Sie winkte ab. »Es ist vorbei. Und was mein Verhältnis mit Rudi angeht: Ich war für ihn nur ein Spielzeug. Ich hoffte auf etwas, das er nicht geben konnte oder wollte. Es ist vorbei!« »Aber du hast ihn begleitet.« »Ja.« Sie trank ihr Glas aus. »Er buchte die Passagen, und wir trafen uns in einem Hotel auf Alba. Flitterwochen nannte er es, um mich mitzulocken – der Bastard!« Sie hatte geliebt und erfahren müssen, daß Boulaye nur seinen Spaß mit ihr haben wollte – oder sie als Werkzeug benutzte? Jedenfalls war sie eine verbitterte und enttäuschte Frau. »Ihr lebtet zusammen«, drang Dumarest weiter in sie. »Ihr spracht über seine Vorhaben.« Das war seine einzige noch verbliebene Hoffnung – daß Boulaye ihr das gesagt hatte, was er im Computer gelöscht hatte. »Myra?« »Wir sprachen über Dinge«, gab sie zu. »Er redete, und ich hörte zu. Aber es waren ganz allgemeine Dinge.«
»Hat er jemals Erce erwähnt?« »Ich bin nicht sicher.« »Dann versuche, dich zu erinnern. Himmel, versuche es!« Ihre Züge verhärteten sich. Ihr Blick wanderte in weite Fernen, als sie sich wieder Wein eingoß und trank. Sie trank viel zuviel. Doch es konnte helfen, sie gesprächiger zu. machen. Sie lächelte, als Dumarest ihr abermals nachschenkte. »Du trinkst nicht mit mir, Earl?« »Natürlich. Auf uns, Myra!« »Auf die Liebe!« Sie starrte auf das leere Glas. »Rudi wußte nie, was Liebe war. Er hatte nichts als Verachtung für jene, die ihm glaubten und vertrauten. Erce? Du sagtest: Erce?« Sie zuckte die Schultern. »Ich bin nicht sicher, aber eines Nachts erwähnte er einen Namen aus einer der alten Legenden. Aber Erce? Nein, es war Circe. Ja, Circe, und es hatte etwas mit einer Frau zu tun, die Menschen in Schweine verwandelte.« Wieder goß sie sich ein und trank. Sie bewegte sich schon wie ein Mensch, dem es an der nötigen Koordination seiner Glieder fehlte. Ihr Gelächter war schrill, fast hysterisch. Mehr denn je begriff er, welche Höllen sie durchgemacht haben mußte, wie groß ihre Einsamkeit gewesen war, ihr Schmerz, ihr verletzter Stolz, als Boulaye sie auslachte und fallenließ. Das Glas zersplitterte in ihrer Hand. Sie schrie auf und starrte auf die blutenden Finger. Dumarest verband die Wunden, die nicht tief waren und schnell zu bluten aufhörten. Er spürte, wie das Verlangen in Myra aufstieg. Ihre unverletzte Hand grub sich in sein Haar. »Earl, warum hören wir nicht auf, zu reden? Warum ...?« »Circe«, sagte er hart. »Und was noch?«
Sie verbarg ihre Enttäuschung nicht. Sie wollte seine Liebe – und er hatte nur Worte im Sinn. Sie zeigte ihre Tränen nicht, drehte sich zur offenstehenden Balkontür um und schritt darauf zu. »Es wird ein Fest vorbereitet, Earl. Hast du nicht davon gehört? Sie bringen die Dek oration an. Komm und schau!« Sie war auf dem Balkon, taumelnd und unsicher, bevor er sie zurückhalten konnte. Er schrie, sie sollte zurückkommen, doch sie hörte ihn nicht. »Komm, Liebling! Sieh dir nur die Lichter an! Oh, Earl, wir werden soviel Spaß auf dem Fest haben!« Der Wind griff in ihr Haar, ließ das Gewand um ihren Körper flattern. Myra griff nach dem Geländer, und bevor sie es erreichen konnte, sah Dumarest sie mit einem Fuß auf dem Eis ausrutschen, mit dem gefrierender Regen und Hagel den Balkon überzogen hatten. »Myra! Sei vorsichtig! Myra!« Er rannte los, als sie das Gleichgewicht verlor, sprang, um sie noch zu erreichen. Doch er sah das Entsetzen in ihren weit aufgerissenen Augen, als sie mit dem Rücken auf das Geländer fiel, für einen schrecklichen Moment darauf in der Luft hing und dann mit einem erstickten Schrei in die Tiefe stürzte. Er stand da, fassungslos, und starrte auf ihren Schuh in seiner Hand.
6. Es war das dritte Verhör – eine reine Routinesache, wie
Welph Bartain versicherte. Bartain bat Dumarest, ihm gegenüber Platz zu nehmen und sagte: »Ich sehe, Sie haben Verständnis für unsere Untersuchungen. Es geht nur noch darum, den Fall abzuschließen. Haben Sie irgendwelche Beschwerden vorzubringen?« »Keine.« Die Wachen waren zuvorkom mend gewesen, Nahrung und Getränke waren gut und in ausreichender Menge vorhanden. Man hatte ihm sogar Bücher und Bänder gebracht. In der Zelle hatte er den so dringend benötigten Schlaf und die Zeit gefunden, sich über vieles Gedanken zu machen. »Aber wieso halten Sie mich noch fest?« »Drei Zeugen sagten unabhängig voneinander aus«, erklärte Bartain, als hätte er die Frage nicht gehört, »daß Sie Myra Favre über das Geländer ihres Balkons warfen. Man sah sie auf dem Balkon stehen und Sie, wie Sie auf sie zustürzten, bevor sie fiel, Korrekt?« »Korrekt. Aber Sie sagten, dies wäre kein weiteres Verhör. Trauen Sie ihren Lügendetektoren nicht mehr?« »Reine Routine. Antworten Sie bitte.« »Ich habe sie nicht umgebracht. Sie rutschte aus. Ich versuchte, sie noch zu erreichen, aber es war zu spät. Aber das sagte ich schon – auch, daß ich nie vorgab, einen Doktortitel zu besitzen. Das war Myras Idee, um mich in ihren Kreisen hoffähig zu machen. Danach wollten Sie doch als nächstes fragen.« »Warum kamen Sie nach Ascelius?« »Um zu lernen.« »Stammte der Wein, den die Tote trank, von Ihnen?« »Nein!« Auch danach war er bereits gefragt worden – eine Frage unter Tausenden, immer und immer wieder. Und der Stuhl, in
dem er saß, war nichts als ein komplizierter Lügendetektor, der dem Polizisten längst angezeigt haben mußte, daß Dumarest die Wahrheit sprach. Wieso also stellte er wieder all diese Fragen? Warum hielt man ihn noch fest? Es dauerte eine gute Stunde, bis Bartain endlich nickte. »Sie sind unschuldig«, verkündete er. »Ab er wir brauchten die letzte Gewißheit. Myra Favre war keine gewöhnliche Frau, sondern ein Mitglied der Dreierverbund-Universitäten in hohem Amt. Außerdem gab es einige höchst dubiose Punkte wie zum Beispiel den Wein. Sie tranken nicht davon?« »Einen Schluck, vielleicht zwei.« »Das bestätigen Ihre Blutuntersuchungen. Wären Sie unvorsichtiger gewesen, so würden Sie Myra wohl übers Geländer gefolgt sein. In diesem Wein befand sich ein schwaches Halluzinogen in Verbindung mit einem Stimulans und, seltsam genug, einem starken Schlafmittel. Eine sonderbare Kombination. Zuerst wird man aufgeputscht und fühlt sich leicht und von allen Sorgen frei, dann kommt die Müdigkeit. Dieser plötzliche Wechsel dürfte für Myra Favres Unglück verantwortlich gewesen sein – zusammen mit dem Alkohol, den sie zu sich genommen hatte. Die Kälte auf dem Balkon mag ihren Teil noch dazu beigetragen haben. Liebten Sie die Frau?« »Nein.« »Aber Sie schliefen mit ihr und wären bei ihr geblieben. Ihr Geld brauchten Sie nicht, dazu haben Sie selbst genug.« Bartain nahm einen Umschlag, schüttete den Inhalt auf den Tisch und betrachtete das Messer. »Madame Blayne beschrieb Sie als einen gefährlichen Mann, einen Kämpfer, und ich teile ihre Ansicht.« Er schob Dumarest das Messer und seine anderen Habse-
ligkeiten zu. »Sie können gehen. Aber irgend jemand gab Myra diesen Wein.« * Das Fest war vorüber. Die Straßen waren voll mit Abfällen, abgebrannten Feuerwerkskörpern und ähnlichem. Dumarest versuchte kurz, sich die Farben- und Lichterpracht der vergangenen Nacht vorzustellen, die begeisterten Gesichter der Studenten. Nun lag alles in düsterem Grau. Es war früher Nachmittag. Nur wenige Menschen begegneten Dumarest, verkaterte junge Leute, die viel zuviel getrunken hatten, und Bettler, die noch jetzt auf ein Almosen hofften. Aber es gab auch andere, die Dumarest zu lange nachblickten, zu schnell hinter Häuserecken verschwanden. Er hatte nun mehr Grund als zuvor, auf der Hut zu sein. Er dachte an den Wein, den Myra Favre ihm angeboten und dann selbst getrunken hatte. Woher hatte sie gewußt, daß er zurückkommen würde? Und warum hätte sie ihn mit dem Wein einschläfern wollen? Wieder sah Dumarest zwei Männer, die ihn anstarrten und schnell verschwanden, als er sie bemerkte. Agenten des KyClans? Außer den Worten einer Studentin gab es keinerlei Indiz dafür, daß sich tatsächlich Kyber auf Ascelius befanden. Dumarest brauchte Klarheit. Er rief Jussara an. Sie lächelte überrascht, als sie sein Gesicht auf dem Bildschirm sah. »Earl! Wie nett, daß Sie sich an mich erinnern! Oh, ich hörte von Myras schrecklichem Unfall. Wa-
rum haben Sie nicht früher angerufen, Earl?« »Ich war verhindert«, antwortete er sarkastisch. »Wie Sie sich vorstellen können. Jussara, ich möchte Sie treffen, um ein paar Dinge zu klären. Sind Sie heute abend frei?« Ihr Lächeln war das einer Füchsin. Bedauernd schüttelte sie den Kopf. »Nicht heute nacht, Liebling.« »Dann morgen? Sie müssen meine Ungeduld entschuldigen. Schreiben Sie sie Ihrer Schönheit zu. Im Ernst: Auf der Party erwähnten Sie einen Namen von jemand, der Myra Ihrer Ansicht nach half. Okos, denke ich. Wenn der Mann gut ist, kann er vielleicht auch mir helfen.« »Ein Kyber ist nicht billig, mein Schatz. Warum versuchen Sie es nicht mit den Computern? Rufen Sie mich aber morgen wieder an, oder besser noch übermorgen, und wir machen etwas aus, einverstanden, Earl?« Ein letztes gekünsteltes Lächeln, und der Bildschirm wurde dunkel. Dumarest begriff. Für sie und ihre feinen Freunde war er uninteressant geworden, und nicht wenige mochten ihm doch die Schuld an Myras Tod geben. Aber Myra hatte den Kyber gekannt. Es gab ihn, und falls er mit Myra Kontakt gehabt hatte, nachdem sie Dumarest kennenlernte, wußte er nun über sein Hiersein Bescheid – oder hatte die Bestätigung einer Voraussage erhalten. Sollte er da rum ihr Gast sein? Sollte er den Wein trinken, um, schla fend, eine leichte Beute für Okos zu sein? Und wehalb hatte Bartain ihn so lange mit überflüssigen Fragen aufgehalten? Er hatte Jussara von einem Hotel aus angerufen. Als er es verließ, erwachten die Straßen zu gespenstischem nächtlichen Leben. Schatten drückten sich durch die engen Gassen, wurden, eins mit der Dunkelheit, und versteckte Augenpaare
mochten sich an Dumarests Fersen heften. Die Gefahr lauerte überall. Dumarest sah zu, daß er aus diesem Teil der Stadt verschwand, kaufte sich in einem Laden einen Studentenumhang und versteckte sein Gesicht unter der großen Kapuze, als er wieder ins Freie trat. Die ersten Schiffe verließen Ascelius erst wieder am nächsten Morgen. Bis dahin mußte er eine Unterkunft für die Nacht finden. Er fand sie in einer verrotteten, alten Herberge. Er dachte an Myra und daran, wie sie gestorben war. Vielleicht hatte sie nichts davon gewußt, daß der Wein vergiftet gewesen war. Vielleicht hatte sie ihn wirklich nur aus Einsamkeit zu sich eingeladen. Sie war zu früh gestorben. Er hatte noch viele Fragen an sie gehabt. Sie hatte zugegeben, mit Boulaye einige Zeit zusammen auf Alba verbracht zu haben. Doch sie war allein zurückgekehrt, lange vor Boulaye. Wohin hatte der Mann sich während dieser Zeit begeben? Was hatte er gefunden? Diese Dinge würde er, Dumarest, nun vielleicht nie mehr erfahren, und die Enttäuschung war bitter. Alles, was ihm blieb, waren zwei Namen: Erce und Circe. Oder war es nur einer, Circe eine Verballhornung von Erce oder umgekehrt? Wo war Boulaye gewesen? Wann schlug der Ky-Clan zu? Dumarest richtete sich auf und starrte eine Zeitlang vor sich hin. Zwei Männer kamen herein, noch Schnee auf ihren Umhängen. Wie zufällig, setzten sie sic h zu Dumarest auf die Bank, einer rechts, der andere links von ihm. »Suppe!« brüllte einer. »Ein Sauwetter draußen! Du kannst fallen und in der Kälte liegenbleiben, und kein Mensch findet dich!« Das war ein überflüssiger Kommentar. Niemand hatte den
Mann gefragt. Dumarest fragte sich, was dies sollte und warum die beiden so dicht zu ihm aufrückten. Nachdem die Alte die Suppe gebracht hatte, versuchte er, aufzustehen. Die beiden Fremden klemmten ihn regelrecht ein. Dumarest stieß sie mit den Ellbogen von sic h und rannte aus der Herberge in das dichte Schneetreiben hinaus. Hinter ihm ertönten Schreie. Er lief weiter, stolperte, fiel und richtete sich wieder auf. Ein geschleudertes Messer verfehlte ihn nur knapp. Die Jagd war eröffnet. Er rannte um sein Leben, bog um eine Ecke und lief nach Süden, wo er den Raumhafen wußte. Seine Verfolger mußten wissen, wohin er wollte, doch ihm blieb keine Zeit mehr für Umwege. Eine Gestalt tauchte vor ihm auf. Jemand schrie: »Stehenbleiben! Wir sind Polizisten!« Er ließ sich nicht darauf ein, die Richtigkeit dieser Behauptung festzustellen. Er schlug Haken, bog in enge Gassen ein, um sich dann wieder nach Süden zu wenden. Der Schneesturm legte sich so abrupt, wie er gekommen war, als Dumarest das Hafengelände erreichte. Einige Schiffe lagen in völligem Dunkel, während andere beladen oder kontrolliert wurden. Licht fiel aus offenen Schleusen. Männer bewegten sich darin. Dumarest betrachtete die Schiffe. Das ihm am nächsten Stehende war verschlossen und dunkel, das zweite hatte eine Schleuse offen, in der Gestalten zu sehen waren, und das dritte wurde beladen, was darauf schließen ließ, daß es bald starten würde. Er mußte an Bord. Alles andere – wie die Passage – konnte später geregelt werden. Aber welches Schiff nehmen?
Noch als er überlegte, hörte er einen schrillen Ton aus einer Pfeife hinter sich. Es klang nahe. Er begann wieder zu rennen, auf das Landefeld. Doch schon tauchten Gestalten aus dem Dunkel auf. Ein Mann stand direkt vor ihm und schwang etwas gegen seinen Kopf. Dumarest tauchte unter dem Schlag hinweg, wirbelte herum und stieß seine Faust gegen das Kinn des Angreifers. Der Mann stürzte hart, doch für ihn kamen andere heran. Dumarest kämpfte, teilte Schläge aus und brachte sich immer wieder mit gewagten Sprüngen in Sicherheit. Dann traf etwas mit Wucht seine Schläfe. Benommen wich er einem weiteren Schlag aus und schlug seine Faust in ein Gesicht unter einer weiten Kapuze. Aber der Kampf war aussichtslos. »Earl! Hierher, Earl!« Die Stimme kam aus einer offenen Schleuse. Die Gestalt, zu der sie gehörte, winkte heftig, nur ein Schemen gegen das aus dem Schiff fallende Licht. »Schnell, Earl!« Eine Hand legte sich um seinen Arm. Er riß sich los und rannte auf die Schleuse zu. Ein Hechtsprung brachte ihn hinein. Er hörte, wie das Schott hinter ihm zufuhr, als er sich über das Deck rollte, liegenblieb und in das Gesicht der Frau blickte, die vor ihm stand. Charisse Chetame sagte: »Es scheint, Earl, daß du mir schon wieder dein Leben schuldest.«
7. Der Schmerz war zu ertragen. Dumarest fuhr sich mit der
Hand über die linke Schläfe und stellte fest, daß die Haut und das Fleisch, die der Schlag mit der Keule aufgerissen hatte, mit einem Verbandfilm bedeckt wären. »Du hattest Glück«, sagte Charisse. »Etwas fester zugeschla gen, und deine Knochen wären zertrümmert. Etwas tiefer, und es hätte dich das Auge gekostet.« »Du verstehst dich darauf, Wunden zu kurieren«, sagte Dumarest. »Das will ich meinen.« Sie wartete, bis ein Mädchen kam, um die medizinischen Geräte fortzuräumen. »Angeblich werden die Studenten auf Ascelius hart rangenommen. Aber sie wissen gar nicht, was das ist. Mit drei Jahren schlief ich an einem Hypnoschuler, der mein Gehirn mit Daten vollpumpte. Mit sieben kannte ich jeden einzelnen Khochen im menschlichen Skelett, jedes Organ und die Bahnen der Venen, Arterien und Nerven. Und das war nur der Anfang. Danach kam das Studium der Zellstruktur, des menschlichen Gewebes, eben das ganze Spektrum all dessen, was Leben ausmacht. Mein Vater war ein strenger Lehrer, der sich nie mit Halbheiten abgab. Nur das Beste war ihm gut genug.« Sie setzte sich. Um ihren Hals trug sie eine funkelnde Juwelenkette. »Und du, Earl? Hast du gefunden, wonach du suchtest?« »Nein«, sagte er. »Weshalb bist du hier?« »Geschäfte. Ich hatte Gewebekulturen an die medizinischen Institute zu liefern.« Sie winkte ab. »Ein Glück für uns beide, daß ich dich im Schnee erkannte.
Was wollten diese Männer von dir? Und warum nahmst du nicht dein Messer?« Er zuckte die Schultern. Was allein zählte, war, daß er sich auf einem Schiff und auf dem Weg nach Kuldip befand. Bald würde er unter Schnell-Zeit stehen, »Schnell-Zeit«, jener Droge, die den Metabolismus verlangsamte und aus Stunden Minuten machte, aus Wochen Tage. Nur so ließ sich die lange Raumfahrt überstehen. »Ich muß für meine Passage bezahlen«, murmelte er. »Später, Earl. Nun laß uns reden. Hast du etwas auf Ascelius gefunden, das dich weiterbringt?« Wer hatte ihr von seiner Suche erzählt? Er selbst? »Die alten Legenden«, fuhr sie fort. »Du sprachst von ihnen, als ich dich auf Podesto behandelte – von deiner Heimatwelt und wie du sie verlassen hast. Du möchtest sie nun wiederfinden. Zuerst dachte ich, du sprichst im Delirium, doch dann klang alles zu logisch dafür. Dennoch – wie kann eine ganze Welt verlorengehen? Bist du sicher, daß es die Erde ist?« »Absolut, ja.« »Mein Vater war ebenfalls an solchen Legenden interessiert und entwickelte eine Theorie. Er meinte, daß sich im Lauf der Zeit die Namen verändert haben könnten, ganz einfach dadurch, daß sie anders ausgesprochen werden. Aber jetzt küß mich, Earl!« Es war nicht ganz so, wie er es in Erinnerung hatte. Das Feuer fehlte, der Funke der Leidenschaft. Wollte sie ihm deutlich machen, daß er ihr gehörte? »Nur, um dich daran zu erinnern, daß wir keine Fremden sind«, flüsterte sie.
»War dein Vater wirklich so an den alten Legenden interessiert?« fragte er. »Ja, Wirklich. Er hat viele alte Bücher und Bänder daheim. Mit ihnen konnte er Stunden verbringen. Wenn du möchtest, kannst du sie dir ansehen.« Er blickte sie an, bewunderte die glitzernden Juwelen um ihren Hals und erinnerte sich an die anderen, die sie auf Podesta in ihrem Haar und bis tief in die Stirn getragen hatte. Wozu? Ältere und häßliche Frauen behängten sich mit Edelsteinen, um von Falten und anderem abzulenken. Doch Charisse war jung und schön. Wieso verbarg sie diese Schönheit hinter glänzenden Steinen, die es schwer machten, ihre Augen, die Nase und den Mund zu erkennen? »Du siehst so nachdenklich aus, Earl? Die Wunde?« »Nein. Ich bin etwas müde – und enttäuscht.« »Lege dich etwas schlafen, Earl.« Es war fast ein Befehl. »Deine Kabine ist vorbereitet. Ich bringe dich hin – und Earl, hier bist du sicher. Du brauchst die Tür nicht zu verschließen ...« * Da war ein Gesicht gewesen, das ihn angelächelt hatte, und etwas hatte ihn berührt, sanft und dennoch wie glühende Nadeln. Er war zu müde gewesen, um sich dagegen zu wehren, und war in eine bizarre Traumwelt gesunken. Nun war er wach und starrte die Decke an. Wie auch die Wände seiner Kabine, in der er nackt auf einem Bett lag, war sie mit Bildern von Schlangen und ähnlichen Kreaturen verziert. Alles hier
war luxuriös, der Teppich, die Möbel – alles Ausdruck von Charisses Reichtum. Er dachte ein Wort und sprach es laut aus: »Erde ... Erde ... Erce!« Es schien so einfach zu sein. Erce – ein anderer Name für die Erde? Dumarest erhob sich, stellte sich unter die Dusche und anschließend vor einen Wandspiegel. Der Verbandsfilm auf seiner Schläfe war kaum noch zu sehen, aufgenommen von seinem heilenden Fleisch. Er fand seine Kleider in einem Wandschrank und zog sich an. Nachdenklich blieb er für Augenblicke auf der Bettkante sitzen und musterte die Schlangenleiber auf den Wänden. Er hatte das Gefühl, ganz nahe an einer wichtigen Entdeckung zu sein, blind für etwas Offensichtliches. Boulaye ... Der Mann war im Besitz eines alten Buches gewesen. Hatte einer seiner Studenten es ihm gegeben, als Gegenleistung für etwas anderes? Oder hatte jemand es nur erwähnt, und Boulaye war aufgebrochen, um sich dieses Buch oder eine Kopie zu besorgen? Was hatte Myra noch gesagt, bevor sie starb? Wie hieß das Wort? Dumarest versuchte, sich daran zu erinnern, doch vergeblich. Und er spürte, daß es wichtig war, daß es ihm wieder einfiel. Er verließ die Kabine. Als er sich dem Bug des Schiffes näherte, stellte ein Uniformierter sich ihm in den Weg. »Tut mir leid, Sir. Auch als Gast von Charisse Chetame haben Sie keinen Zutritt zu diesem Teil des Schiffes.« Dumarest hob eine Braue. Es war sinnlos, sich auf Diskussionen einzulassen. So zuckte er die Schultern und sagte: »Ich
habe ein Problem. Um es zu lösen, bräuchte ich Sternkarten, einen Almanach und Meßwerkzeuge. Ein Hobby von mir, um die Zeit zu vertreiben. Könnten Sie dafür sorgen, daß mir die Dinge gebracht werden?« Der Mann war nicht abweisend. Er befolgte nur Befehle und stimmte bald zu, Dumarest das Gewünschte in die Messe zu bringen. Vor dem Maschinenraum verstellte ihm ein weiterer Posten den Weg. »Ich weiß schon«, sagte Dumarest. »Kein Zutritt.« »Korrekt, Sir.« Der Posten nickte. Er hätte der Zwillingsbruder des anderen sein können. »Aber abgesehen von den Privatkabinen und der Zentrale ist Ihnen der Rest des Schiffes zugänglich.« Auch die Messe war mit Bildern, Reliefs und Nachbildungen von allen möglichen Tieren ausgestattet. Niemand hielt sich hier auf, doch auf einem der Tische lag das, was Dumarest brauchte. Er setzte sich, rollte die Karten auf und nahm Lineal und Zirkel zur Hand. Sheen Agnostino hatte das Feld einengen können. Boulaye war mit Myra auf Alba gewesen, und auch die Dauer ihres gemeinsamen Aufenthalts dort war Dumarest nun bekannt. Er stellte die Planeten fest, die Boulaye in der verbleibenden Zeit hätte erreichen können: Tampiase, Cilen, Elgent, Kuldip, Chord, Freemont ... Auf welcher dieser Welten hatte er erfahren, wo die Erde zu finden war? Wieder fühlte Dumarest, daß er nahe daran war, etwas Wichtiges zu entdecken, einen Schritt zu tun, der vieles verständli-
cher werden ließ. Was war es? Was vernebelte seinen Verstand, seine Erinnerung? Das Wort war wichtig, jenes, das Myra vor ihrem Tod gesagt hatte. Nicht Erce – es war ... Er betrachtete die Tierbilder, und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er starrte die Karten und seine Hände an – die Antwort, die zum Greifen nahe vor ihm lag. . Er glaubte nun zu wissen, wohin sich Boulaye gewandt hatte. Circe – die Frau, die Menschen in Tiere verwandelt hatte. Wie hätte man eine Genetikerin wie Charisse besser beschreiben können? * Kuldip war eine kleine, finstere Welt, erwärmt von einer fernen Sonne. Die kargen Hügel und wenigen kleinen Seen gaben nicht allzuviel her. Das Hauptausfuhrprodukt von Kuldip stellten die Erzeugnisse aus den Chetame-Laboratorien dar. »Sie sind riesig«, sagte Dino Sayer. »Die größten Anlagen auf dem Planeten.« Sayer war alt, kahlköpfig und zerbrechlich unter seiner smaragdgrünen Uniform. Sein Gesicht war von Falten durchzogen. Sayer stand als leitender Techniker hoch in der Hierarchie der Laboratorien. Er sollte Dumarest die Anlagen aus der Luft zeigen. »Erst Armand Chetame, Charisses Vater, baute die Labors zur heutigen Größe aus. Er war ein Genie. Ich kam als Knabe zu ihm, und er behandelte mich wie einen Sohn, erzog mich und lehrte mich vieles. Das gilt auch für andere. Er wollte das
beste Team um sich herum haben, das es nur gab.« Dumarest entging nicht der Stolz in der Stimme des Alten. Die Labors waren sein Lebensinhalt. Hier würde er eines Tages sterben. Dumarest blickte über den Rand des Gleiters auf die langen, barackenähnlichen Gebäude hinab, die Lagerhallen, Zäune und Wachtürme. Tiere grasten dort unten und hoben die Köpfe. »Prototypen?« fragte Dumarest. »Rohmaterial«, sagte sein Führer. »Wir nehmen die Samen und Zellen von allen gerade benötigten Spezies und entwickeln daraus neue Gattungen – widerstandsfähiges Vieh für karge und lebensfeindliche Welten, Tiere, die unter extremsten Bedingungen überleben können, und anderes. Im Augenblick läuft ein neuer Versuch.« Er deutete auf eine Baumgruppe, über die der Gleiter hinwegzog. »Armand scheute vor zu vielen Experimenten zurück. Er begnügte sich damit, jedem das zu liefern, was er brauchte – auf spezielle Welten zugeschnittene Kreaturen. Seine Tochter ist von der Idee besessen, neue Märkte zu eröffnen.« Dumarest mußte an die Bestie denken, gegen die er gekämpft hatte. »Sehen Sie dort!« Sayer sagte dem Piloten, daß er tiefergehen sollte und packte Dumarests Arm. Er deutete auf das Grasland hinter den Bäumen. Dumarest sah zunächst nichts als schwarze Schatten, dann gefletschte Fänge, die das Sonnenlicht reflektierten. Das waren Hunde – größer als Ponys. »Wächter«, erklärte Sayer.
»Eine Spezialanfertigung für einen Kunden, doch wir behielten einige, um sie für unsere Zwecke einzusetzen. Ihre Intelligenz sowie ihr Gruppenzusammengehörigkeitsgefühl wurden vervielfacht. Sie befolgen Befehle und handeln gemeinsam. Es ist natürlich nichts Neues, Hunde als Jäger und Wächter einzusetzen. Doch wir potenzierten ihre natürlichen Instinkte und Waffen bis zur äußersten Grenze. Feld, geh noch tiefer!« Der Pilot ließ den Gleiter weiter absinken. Dumarest erschauderte, als er die Hunde aus der Nähe sah, ihre stählernen Muskeln unter glatter, schwarzer Haut, die Fänge, die glühenden Augen ... »Sie töten nur auf Kommando«, sagte der Pilot.« »Jedenfalls am Tag. Nachts zerfleischen sie jeden, der in die Labors einzudringen versucht.« »Reizende Bestien, nicht wahr?« meinte Sayer. »Aber ich zeige Ihnen etwas wirklich Außergewöhnliches. Feld, bring uns zu den Teleths!« Der Gleiter stieg höher. Nach einer Weile sah Dumarest runde Hütten und Pfade unter sich. Kleine Gestalten standen in den Schatten von Bäumen. Pygmäen? Er kniff die Augen zusammen, als der Gleiter landete. »Hier sind keine Hunde«, beruhigte Sayer ihn. »Keine Gefahr. Ich passe schon auf, daß uns nichts pa ssiert.« Er hatte eine unförmige Waffe in der Hand. »Ein Paralysator. Aber wir brauchen ihn nicht.« Sayer sprang aus dem Gleiter und wartete, bis Dumarest neben ihm stand. Er zeigte auf die kleinen Menschen. »Nun passen Sie auf!« Einen Augenblick lang geschah überhaupt nichts. Dann setzte sich eine Gruppe der Kleinwüchsigen wie auf Befehl in Be-
wegung. Aus der Nähe wirkten sie eher wie Affen. Dumarest konnte keine Geschlechtsmerkmale erkennen. »Ihre sexuelle Entwicklung wurde im vorpubertären Stadium aufgehalten«, erklärte Sayer. »Physisch sind sie große, unentwickelte Kinder. Nun passen Sie auf. Ich befehle ihnen, sich in zwei Gruppen zu teilen.« Er tat es schweigend, und Dumarest sah staunend das Ergebnis. »Telepathie«, sagte Sayer zufrieden. »Ich denke die Befehle nur, und sie empfangen und befolgen sie. Die perfekten Diener, in Massenproduktion für jeden erschwinglich. Sie brauchen nur eine Handvoll Brei am Tag und leben ein Dutzend Jahre. Dazu kommt, daß sie verschwiegen sind. Sie können nicht reden, weil ihnen ein entsprechendes Zentrum im Gehirn fehlt. Die Gabe der Telepathie wurde durch eine komplizierte Gen-Manipulation erreicht. Ansonsten sind sie Wertlos-Tiere. Dies war übrigens Armands letztes Projekt.« »Ich dachte, er produzierte nur für den Markt?« meinte Dumarest verwundert. »Eigentlich ja«, gab Sayer zu. »Aber er war von der Idee besessen, den ursprünglichen Menschen wiederzuerschaffen. Oh nein, ich scherze nicht. Armand interessierte sich für die alten Mythen und Legenden und war fest davon überzeugt, daß es in grauer Vorzeit einmal einen Prototyp aller heute lebenden Menschenrassen gab, der über viele Gaben verfügte, die uns im Lauf der Zeit verlorengegangen sind – unter anderem über die Fähigkeit der Telepathie. Er begründete dies damit, daß die entsprechenden Sektoren unseres Gehirnes zwar verkümmert sind und brachliegen, nichtsdestoweniger aber noch existieren.«
»Also versuchte er, diese Fähigkeit bei den Affen wieder zu erwecken?« »Er wollte nur sehen, ob es überhaupt möglich war. Wenn das entsprechende Gen einmal isoliert war, konnte er es zu weiteren Versuchen verwenden.« Sayer zuckte die Schultern. »Er starb, bevor er sich an diese Aufgabe heranwagen konnte. Aber wir sollten nun besser umkehren, bevor es ganz dunkel wird.«
8. Das riesige Wohngebäude war ein Palast mit Innenhöfen und spitzen Dächern, die durch stilisierte Schlangen aus smaragdgrünem Stein wie von Regenrinnen nach unten abgeschlossen waren. In die gewaltigen Mauern waren reliefartig wieder die verschiedensten Tiergestalten eingearbeitet. Vom Fenster seines Zimmers aus starrte Dumarest auf den Sonnenuntergang hinaus, den blutroten Horizont. Von irgendwoher war Hundegebell zu hören, und er mußte an Sayers Warnung denken. Denn eine Warnung war der Hinweis darauf gewesen, daß die Hunde nachts töteten. Wer heimlich das Haus verließ, war in Lebensgefahr. Eine merkwürdige Art, Gäste zu behandeln, dachte Dumarest. Aber war nicht alles nach der Flucht von Ascelius mehr als merkwürdig gewesen? Die Flugzeit zum Beispiel: Sie war ihm viel zu kurz erschienen, und er hatte nicht einmal unter Schnellzeit gestanden. Vom Augenblick der Landung an bis jetzt war er unter ständiger Bewachung gewesen, auch wenn
Sayer und die anderen dies nicht so nannten. Was war er hier? Ein Gefangener? Was durfte er nicht sehen? Wen? Dumarest nahm ein Bad und legte sich hin. Die Entspannung tat gut, doch die Gedanken quälten ihn weiter. Tausend Fragen. Wen beherbergte Charisse außer ihm? Wieso war ihm der Flug so kurz vorgekommen? Und die Mädchen, die er nur zu rufen brauchte, um sich verwöhnen zu lassen – wieso sahen sie alle gleich aus? Androiden? Charisses Schöpfungen? Unwillkürlich fuhr seine Hand zur Schläfe. Die Wunde war verheilt. Er stand auf und trat vor einen Spiegel. Nichts war mehr zu sehen außer einem winzigen, schwarzen Punkt, der bisher vom Heilverbandfilm bedeckt gewesen war. Und die Haut war zu schnell verheilt, was wiederum darauf hindeutete, daß der Flug länger gedauert hatte, als er es subjektiv em pfunden hatte. Stand er unter Drogen? Das wäre eine Erklärung, doch hatte er nichts als die normale Nahrung und das Wasser aus den jedem zugänglichen Spendern zu sich genommen, nachdem Charisse ihn behandelt hatte. Dumarest betastete den schwarzen Punkt an der Schläfe und fühlte etwas Hartes. Mit den Daumennägeln drückte er die Haut zusammen. Etwas schob sich aus seiner Schläfe und blieb auf dem linken Daumennagel liegen – ein winziger Zylinder, der in seiner Haut gesteckt hatte wie ein Holzsplitter. Dumarest warf ihn in den Abfluß der Toilette und spülte ihn fort. Er massierte sich die Schläfe, um die Daumenabdrücke zu verwischen. Eine rote Stelle blieb zurück. Dumarest fühlte, daß es wichtig war, Charisse nicht merken zu lassen, was er ge-
funden hatte. Mit der Fingerspitze fuhr er über den Boden, kratzte etwas Schmutz ab und trug ihn so auf die Schläfe auf, daß er wirkte wie der Schutzfilm. Bevor er sich weitere Gedanken machen konnte, erschien eines der Mädchen und teilte ihm mit, daß er in einer Stunde zu einem Bankett erwartet wurde. Einem Impuls folgend, fragte Dumarest, ob viele Gäste anwesend sein würden. Als ihn das Mädchen verständnislos anblickte, gab er ihr die Beschreibung eines Kybers. »Ich bin nicht sicher, Mylord«, sagte sie. »Sie werden die Gäste bald kennenlernen.« * Charisse saß am Ende der langen Tafel, ihr Gesicht wie immer von Juwelen und Ketten eingerahmt. Die meisten der Gäste waren Kunden von den verschiedensten Welten, die hierhergekommen waren, um ihre Bestellungen aufzugeben oder um neue Wünsche vorzutragen – Anregungen für Charisse. Agenten beiderlei Geschlechts vertraten einflußreiche Konsortien oder reiche Herrscher. Charisse stellte sie, der Reihe nach vor: »Earl, dies sind einige meiner Freunde: Enrice, Cleo, Krantz ...« Sie nannte weitere Namen, die ihm nichts sagten. »Und dies, meine Lieben, ist Earl Dumarest.« Sie tranken und unterhielten sich ausgiebig, und aus jedem ihrer Worte sprach Dekadenz. Angewidert musterte Dumarest sie und zwang sich zum Zuhören. Die Speisen wurden aufgetragen, jedes Gericht ein Kunst-
werk für sich: Erlesene Früchte und Pasteten, in Formen gereicht, die Tierkörpern nachgebildet waren. Wieder wurde geredet – über Geschäfte und Abwesende, an denen kein gutes Haar gelassen wurde. Die hier zur Schau getragene Selbstgefälligkeit widerte Dumarest an. Er hörte kaum noch zu, als ihn eine Frau mit langen, bemalten Fingernägeln und dicht aufgetragener Schminke fragte: »Was halten Sie davon, Earl? Sie sind so still.« »Ich ziehe es vor, zuzuhören.« Er zwang sich zur Höflichkeit. »Dann haben Sie keine Meinung?« »Keine, die wichtig für Sie wäre.« Die Frau kicherte albern. Eine andere sagte: »Wir sprachen von Farmern, die nicht wissen, was gut für sie ist. Astin hier kann ein Lied davon singen. Ich auch. Ich kenne diese Dickköpfe nur zu gut.« »Besonders, wenn sie Männer sind, Glenda?« Gelächter. Charisse mischte sich ein und sagte: »Ich glaube, wir sollten Earl nicht mit geschäftlichen Dingen langweilen. Hat keiner von euch eine Idee, wie wir ihn besser unterhalten können?« »Ich wüßte etwas, um ihn aufzuheitern«, meinte die Frau mit den langen Fingernägeln, und ihre Blicke waren eindeutig genug. Dumarest gab eine schlagfertige Antwort. »Oh, und Sie haben sogar Humor!« rief sie entzückt aus. »Charisse, wenn du von ihm Kopien machen solltest, bin ich die erste Kundin!« »Earl ist einzigartig, Linda. Ich möchte, daß es so bleibt.« Dumarest rief laut: »Es gibt etwas, das mich interessieren
könnte: die Teleths, die Sayer mir zeigte. Warum entwickelte Armand sie?« »Seine fixe Idee vom ursprünglichen Menschen«, sagte Charisse. Sie hielt eine Hand hoch, und ein Diener füllte ihr Glas mit Wein nach. »Er war davon überzeugt, daß die Natur kein Organ erschaffen hat, das nicht früher einmal einen Zweck erfüllte. Nehmen wir gewisse verkrümmte Gehirnpartien. Armand glaubte sogar, daß unsere gemeinsamen Vorfahren über ein drittes Auge verfügt haben könnten.« »Ein Übermensch«, kam es von Vayne. »Könntest du ein solches Geschöpf selbst entwickeln, Charisse? Denke nur an die Möglichkeiten!« »Du sprichts jetzt von genetischen Manipulationen«, protestierte Glenda. »Armand aber beschäftigte sich mit natürlicher Evolution. Wenn wir uns also zu dem entwickelt haben, was wir heute sind – dann woraus?« »Spekulationen!« Astin verlangte neuen Wein. »Phantasien! Wurden wir Menschen von einem höheren Wesen erschaffen, gegen das wir uns wandten?« Er kicherte bei dieser Vorstellung. »Horrender Unsinn!« Ein »Unsinn«, von dem Dumarest mehr als einmal gehört hatte. Charisse hatte diese Theorien erwähnt – beiläufig? Dumarest blickte zu ihr hinüber, wo sie saß wie eine Puppenspielerin, die jederzeit ihre Marionetten unter Kontrolle hatte. Sie griff kaum noch in die Unterhaltung ein, saß nur da und beobachtete wie eine lauernde Katze. Die Zeit verstrich.
Diener räumten die Tafel ab bis auf die Pokale und Leuchter. Musikanten traten auf und wurden mit Applaus verabschiedet. Das alles war langweilig für Dumarest. Die meisten waren angetrunken. Wer wußte, welche Beigaben Charisse in den Wein und in andere Erfrischungen hatte mischen lassen? Dumarest war vorsichtig und gab nur vor, zu trinken. Dann ließ Charisse die Katze aus dem Sack. »Laßt uns ein neues Spiel spielen«, sagte sie. »Ein ernsthaftes. Ich möchte, daß ihr mir sagt, wie ihr euch den perfekten Mann vorstellt!« »Armand war perfekt, in mancherlei Hinsicht«, meinte Astin. »Aber du denkst an die Eigenschaften des perfekten Mannes? Er muß stark sein, reaktionsschnell und intelligent, tolerant und entschlossen.« »Sollte er fliegen können?« Vayne verwarf ihren Gedanken schnell wieder. »Nein, dazu müßten wir sein Gewicht zu sehr verringern, und im Kampf hätte er keinen guten Stand mehr. Eine neue Methode, seine Kräfte zu potenzieren?« »Er müßte gut im Bett sein«, meinte Linda. »Earl?« fragte Charisse lauernd. Alle Blicke richteten sich plötzlich auf ihn. »Ich bin kein Genetiker«, sagte er. »Aber das sind die anderen auch nicht, und dennoch haben sie ihre Vorstellungen vom perfekten Mann. Du bist ein Kämpfer. Du müßtest doch am besten von uns allen wissen, was am Menschen zu verbessern ist.« »Fragt einen Mönch«, antwortete Dumarest. »Und er wird euch sagen, was ihr kaum hören wollt. Er hat das Elend auf
vielen Welten gesehen und weiß um die Schwächen der Menschen. Toleranz, Mitgefühl, Barmherzigkeit – all das ist wichtiger als Muskeln und ...« »Hör mir mit der Kirche auf!« Charisse winkte ab. »Denkt, was ihr wollt«, versetzte Dumarest verärgert. »Aber seht in den Spiegel und fragt euch dann, was ihr seht: einen Menschen oder eine Bestie ohne Herz!« »Earl! Bist du krank?« Charisse war aufgesprungen und starrte ihn entgeistert an. »Nein. Sollte ich jemandem hier im Raum zu nahe getreten sein, bitte ich um Entschuldigung. Vielleicht war der Wein doch zu stark.« Eine Lüge, die jedoch akzeptiert wurde. Er fragte sich, was Charisse mit ihren Fragen bezweckte. »Bei allen Überlegungen, einen perfekten Menschen betreffend, hat keiner von euch danach gefragt wie ein solches Wesen getestet werden kann. Stimmt ihr mir zu, daß seine wichtigste Eigenschaft die Fähigkeit, zu überlebend sein sollte?« »Natürlich«, sagte Vayne. »Dann darf ich euch sagen, daß ich ein solches Geschöpf erschaffen habe.« Charisse war wieder völlig gefaßt. »Ihr werdet es später sehen können. Jetzt bietet sich uns die einmalige Gelegenheit, seine Fähigkeiten zu erproben. Vorausgesetzt, ihr alle billigt mir zu, daß ich mein Handwerk verstehe – seid ihr bereit, auf einen Sieg meines Geschöpfs im Kampf zu wetten?« Einige klatschten begeistert in die Hände. Das war anscheinend nach ihrem Geschmack. »Die Konditionen?« erkundigte sich Vayne. »Wenn es gewinnt, bekommt ihr jeder eine Kopie von ihm –
zu einem Preis, der lediglich die Produktionskosten deckt. Verliert es den Kampf, bekomme ich eure Einsätze. Ich denke an Zweitausend von jedem. Earl ...« »Nein!« »Du willst nicht?« »Ich werde nicht kämpfen.« »Wie schade. Dann muß ich dich daran erinnern, daß du in meiner Schuld stehst?« »Ich werde die Passage hierher bezahlen.« »Dein Leben, Earl. Du schuldest mir dein Leben und kannst diese Schuld jetzt begleichen. Kämpfe gegen mein Geschöpf. Gewinnst du, schuldest du mir nichts mehr.« Sie hatte ihn in der Hand. Doch wenn er schon kämpfen und ihre Gäste unterhalten sollte, kostete auch dies seinen Preis. Charisse zuckte die Schultern, als er ihn nannte. »Du willst Zugang zu Vaters Bib liothek?« »Und zu seinen persönlichen Aufzeichnungen, zu dem Material, das er zusammentrug, als er sich mit den alten Legenden beschäftigte.« Als sie nickte, fragte er scharf: »Abgemacht?« »Natürlich.« Er lehnte sich zurück und fühlte, wie er sich entkrampfte. Alles, was ihm nun zu tun blieb, war, zu kämpfen und zu gewinnen, das Geheimnis zu lüften, dessentwegen er hierhergekommen war, und sich aus dem Staub zu machen.
9. Der Kampf sollte mittags stattfinden, in einem abgegrenzten,
offenen Gelände vor einer der großen Barakken, einige hundert Quadratmeter groß und eingerahmt von einer hohen Dornenhecke. »Hier testen wir Prototypen auf ihre Beweglichkeit«, erklärte Dino Sayer. Dumarest fügte in Gedanken hinzu: Und nun auf ihre Fähigkeit, zu töten. Er betrachtete das Gebäude. Die einzige große Tür befand sich in der dem Kampfplatz zugewandten Seite, noch geschlossen. Das Dach war dreißig Meter über dem Boden, die Mauern waren zu glatt, um daran hochzuklettern. Es gab keine Vorsprünge, doch dafür mit ziemlicher Sicherheit überall verstreut Charisses Männer. »Das gefällt mir alles nicht«, knurrte Sayer. »Ein neues Geschöpf zu testen, ist eine Sache. Wir lassen gewöhnlich gleiche Tiere gegeneinander kämpfen. Das aber, was Charisse nun vorhat, ist Mord.« »Sie meinen, ihr Geschöpf gewinnt?« Sayers Schweigen war Antwort genug. Dumarest betrachtete nochmals das Gebäude, die Hecke, den Boden, auf dem er stand. Das Gras war kurzgeschoren. Die Sonne brannte wie ein blutiges Auge vom Himmel. »Wie lange müssen wir noch warten?« beklagte sich Enrice Heva. »Ungeduldig?« Linda Ynya tat nichts anderes, als ihre eigene Ungeduld zu überspielen. Wie die anderen, stand sie auf einer Tribüne, die sich über die gesamte Länge einer Seite des Vierecks hinzog, eine Plattform auf Stützen, geschützt durch ein Zeltdach. »Keine Angst, Enrice, du wirst deinen Spaß bekommen. Earl hat keine Chance, zu entkommen.« Daran zweifelte niemand. Charisse erschien und mischte sich
unter ihre Gäste. Ienda Chao sagte zu ihr: »Earl sollte nackt und ohne Waffe sein, wenn es ein fairer Kampf werden soll.« »Auch ein Tier hat seine Waffen«, sagte Linda, etwas zu schnell. »Seinen Pelz und seine Klauen.« »Laßt ihn sein Messer behalten«, brummte Krantz. »Wenn Charisses Schöpfung wirklich perfekt ist, nützt es ihm ohnehin nichts.« Auf ihren Befehl verließ Sayer seinen Platz bei Dumarest und hielt sich bereit, die Tür der Baracke zu öffnen, während die Gäste sich fragten, weshalb Charisse Dumarest das Messer und seine Kleidung ließ. Dumarest musterte die Hecke erneut. Sie war zu dick, um einen Menschen hindurchschlüpfen zu lassen, und über drei Meter hoch. Die Blätter waren scharf wie Messer, die Dornen Dolche. Wer in diese Hecke hineingeschleudert wurde, hatte sein Leben verspielt. Die Plattform selbst war unerreichbar. Der einzige Weg in die Freiheit führte durch die Tür. Und diese öffnete sich. Im dahinterliegenden Dunkel bewegte sich etwas. Dann schob sich die Kreatur ins helle Sonnenlicht. »Mein Gott!« schrie jemand von der Tribüne. Dumarest hörte die Stim me kaum, hatte keine Augen mehr für irgend etwas außer für das Geschöpf vor ihm. Charisse hatte von einem unbesiegbaren Mann gesprochen. Aber vor ihm stand eine Frau! Wie er, trug auch sie einfache, graue Kleider. Sie lagen eng an und ließen ihre weiblichen Formen deutlich erkennen. Dumarest starrte sie an. Ihre Haut war dunkelbraun, ihre Augen waren unter geschwungenen Brauen groß und standen weit auseinander. Sie hatte eine hohe Stirn, umrahmt von einer Mähne
schimmernden, pechschwarzen Haares. Im Mund blitzten scharfe Schneide- und Reißzähne. Ihre Hände waren groß. An den Fingerspitzen befanden sich einziehbare Krallen. Halb Frau, halb Katze! durchfuhr es ihn. Über zwei Meter groß, kauerte sie vor ihm und setzte zum tödlichen Sprung an. Dumarest wirbelte herum und rannte davon, drehte sich wieder und duckte sich unter einem fürchterlichen Prankenhieb. Die Katzenfrau flog, vom eigenen Schwung mitgerissen, über ihn hinweg. Einer ihrer Füße streifte ihn und schleuderte ihn um Meter zur Seite. Wo sie aufkam, rissen ihre Krallen große Stücke aus dem Rasen und schleuderten sie hoch durch die Luft. Blitzschnell war sie auf den Beinen und sprang ihn erneut an. Sie war viel zu schnell für ihn – tödlich schnell, hätte hinter ihren Bewegungen eine entsprechende Erfahrung gestanden. Und die fehlte ihr. Dumarest begriff seine einzige Chance in diesem ungleichen Kampf. Er rannte auf die offene Tür der Baracke zu und sah gerade noch rechtzeitig die in der Sonne blitzenden Waffen der dort auf der Lauer liegenden Männer. Wieder warf er sich im allerletzten Augenblick zur Seite. Die Krallen der Katzenfrau gruben sich in splitterndes Holz. Sie dachte nicht über ihre Aktionen nach. Sie war zu jung dazu, in der Retorte herangezüchtet und in Tagen, höchstens Wochen gewachsen. Sie war eine auf Töten programmierte Maschine, unfähig zu denken und die Aktionen ihres Gegners vorauszusehen. Aber sein Messer konnte ihr nichts anhaben. Dazu war sie zu schnell und zu gut geschützt. Und doch hatte sie ihren schwachen Punkt. Dumarest brachte sich mit einem Satz in Sicher-
heit, riß das Messer noch im Sprung aus dem Stiefel und hielt es so, daß es das reflektierende Sonnenlicht genau auf ihr Auge lenkte. Sie war ein Kind, unerfahren und unwissend. Schon zum Sprung ansetzend, hielt sie inne, als das unheimliche Licht in Dumarests Hand sie blendete. Für sie mußte es etwas Überweltliches sein, das ihre ganzen kindlichen Ängste weckte. Dumarest pokerte. Sie hatte Angst vor dem Unbekannten, doch das brachte die Programmierung zum Töten nicht zum Erlöschen. Sie gab fauchende Laute von sich, hob die Arme zum Schutz vors Gesicht und schlug nach dem Messer. Dumarest wich zurück. Als sie ihm zögernd folgte, rief er: »Hier! Fang auf!« Er warf das Messer hoch in die Luft. Es stieg um viele Meter in die Höhe, verharrte wirbelnd für einen Sekundenbruchteil an seiner höchsten Stelle und fiel dann hinter Charisses Geschöpf herunter. Die Katzenfrau folgte ihm mit den Augen wie hypnotisiert. Als sie die Hände ausstreckte, um das Messer aus der Luft zu greifen, war Dumarest heran. Sie stand vor der Hecke, jetzt zur Seite gedreht. Das Messer würde hinter den tödlichen Dornen und Blättern zu Boden fallen. Sie konnte es nicht erreichen, und doch streckte sie die Arme aus. Dumarest nahm einen kurzen Anlauf, st ieß sich mit all seiner Kraft ab und machte einen gewaltigen Satz auf die Schultern der Gegnerin. Er benutzte die Schultern als Sprungbrett, stieß sich ein zweitesmal ab und flog in hohem Bogen, hinter dem Messer her, über die Dornen, die Hände schützend vor die Augen gepreßt. Blätter schlitzten seine Kleider auf. Er landete auf weichem Boden und rollte sich ab, sah das Messer drei, vier Meter entfernt von sich liegen und holte es sich, als
er die Stimmen von der Tribüne hörte: »Haltet ihn auf! Der Paralysator!« Eine zweite Stimme, aus größerer Entfernung: »Mylady, es funktioniert nicht!« Dumarest begriff, was gemeint war, daß das Ding in seiner Schläfe mehr gewesen war als nur ein Behältnis für die Drogen, die ihn eingelullt hatten. »Versucht es noch einmal!« rief Charisse, und dann: »Bleib stehen, Earl – oder ich lasse die Hunde auf dich los!« * Er hörte das Schnüffeln und wagte nicht, zu atmen, als er in der dunklen Hütte lag und seine einfachen Gedankenbefehle an die Teleths gab. Vor dem verschlossenen Eingang hielten sie Wache oder marschierten eifrig auf und ab, um seine Geruchsspur durch ihre starken Körperausdünstungen zu verwischen. Nach einer Weile zogen die Hunde ab. Dumarest atmete erleichtert auf. Er war überhitzt, seine Kleidung naßgeschwitzt, zerrissen und blutig. Seine Hände und Stiefel waren von einer Schlammkruste überzogen. Es kam ihm so vor, als müßte er für Stunden gerannt sein, immer wieder Haken schlagend, stolpernd und fallend. Er mußte sich vor den Gleitern verst ecken, die über dem Gelände kreisten und nach ihm suchten, gegen die Hunde kämpfen, von denen er viele tot zurückgelassen hatte. Das Dorf der Teleths war seine einzige Hoffnung gewesen. Er schob die Matte zurück, die vor den Eingang der Hütte gespannt war, und sah in die untergehende Sonne. Es wurde
rasch dunkel, und weitere Hunde würden sich auf seine Fährte heften, jeder von ihnen auf Töten programmiert. Er mußte weiter. Es begann heftig zu regnen, als er die Hütte verließ und sich unter eine Gruppe der Teleths mischte, deren starker Eigengeruch seine Fährte überdecken sollte, bis er weit genug fort war. Der Regen wusch das Blut von seinen Wunden und den Schmutz von seiner Kleidung. Dumarest befahl den kleinen Geschöpfen, sich nicht in ihre Hütten zurückzuziehen, trieb sie voran, mit ihm auf das Haus zu. Es war ein weiterer Weg dorthin, als er glaubte. Hindernisse mußten überwunden werden, und von irgendwoher war das Bellen eines Hundes zu hören. Es kam erschreckend schnell näher. Dumarest sah einen Teich vor sich in der Dunkelheit und stürzte sich hinein, ganz gleich, welche Kreaturen darin leben mochten. Die Teleths blieben zurück. Ihnen drohte keine Gefahr von den Hunden. Dumarest wollte im Wasser seine Spur verwischen. Er schwamm mit kräftigen Zügen und erreichte das andere Ufer, als aus der Tiefe Tentakel nach ihm griffen. Einen Aufschrei unterdrückend, befreite er sich mit dem Messer von den Fangarmen, die sich um seine Beine gelegt hatten. Er blieb stehen, als er das Hundegebell erneut hörte. Vor ihm befand sich eine Hecke, zwischen der breite Stufen zu einer dahintergelegenen Plattform hinaufführten. Der monströse Hund schälte sich aus der Dunkelheit, hob witternd den Schädel und sah ihn. Einen schrecklichen Augenblick lang blickten glühende Augen Dumarest an. Dann, als die Bestie sprang, war die Klinge in Dumarests Faust. Er duckte sich, sprang zur Seite und trieb den kalten Stahl in die
Kehle des Tieres. »Chando? Wo bist du, Chando?« Ein Mann kam von der Plattform, eine Taschenlampe in der Hand. Der Lichtkegel fiel auf den Hund und den Mann darunter. Dumarest lag starr, als die schweren Stiefel sich näherten. Er mimte den Toten und bewegte nur leicht den Körper des Hundes, um den Mann glauben zu machen, die Bestie hätte ihn gestellt und lebte noch. »Guter Junge, Chanda! Halte ihn fest. Warte, ich ...« Der erstickte Schrei des Wächters war das Signal für Dumarest. Blitzschnell schob er den Körper des Hundes von sich, sprang auf und schleuderte das Messer. Mit dem Knauf traf es den Wächter an der Schläfe und betäubte ihn augenblicklich. Doch Dumarest kam nicht zur Ruhe. Eine zweite Stimme ertönte. »Levie? Alles in Ordnung?« Der Posten kam die Hecke entlang. Dumarest schaltete die Taschenlampe aus und blieb stehen. Der Mann näherte sich weiter. »Bist du das, Levie? Levie!« Er verstummte, als Dumarests Finger sich um seine Kehle schlossen. Ächzend sank der Mann zu Boden. Noch bevor er aufprallte, war Dumarest über ihn hinweg, hob sein Messer auf und rannte auf das Haus zu, dessen Silhouette sich gegen den Nachthimmel abhob. * Linda Ynya langweilte sich. Sie konnte die Streitereien darüber, ob denn nun Dumarest oder Charisses Geschöpf im Kampf gesiegt hatte, nicht mehr hören. Charisse hatte bislang
keine Stellung dazu genommen. Die Gäste fühlten sich betrogen. Niemand glaubte mehr daran, daß Charisse überhaupt jemals die Absicht gehabt hatte, ihre Schöpfung gewinnen zu lassen und die versprochenen Kopien zu liefern. Während die einen behaupteten, Dumarests Flucht bedeutete seine Niederlage, argumentierten die anderen, ein perfektes Geschöpf hätte diese Flucht niemals zulassen dürfen, und Dumarest sei der Sieger. Linda verabschiedete sich nach Einbruch der Dunkelheit und zog sich in ihre Räume im Gästehaus zurück. Ihr Schlafgemach befand sich unter dem Dach des Hauses, ein großer Raum mit allem, was sie brauchte. Das Bett war breit und mit weichen, kostbaren Bezügen bespannt. Ein Diener hatte eine Karaffe mit Wein und zwei Gläser auf das Tischchen daneben gestellt. Charisse konnte sehr großzügig sein, wenn es ihr nützte. Und immerhin war Linda auch diesmal als gute Kundin nach Kuldip gekommen und würde bei Ihrer Abreise eine Herde mutierter Kühe und ein Brutpärchen einer neugezüchteten Vogelart mitnehmen, das ganz bestimmte schädliche Insekten auf ihrer Heimatwelt vertilgen sollte. Das Geschäft war unter Dach und Fach gebracht, der Höflichkeit Genüge getan. Sie konnte die Narren dort unten nicht mehr sehen. Alles, was sie nun wollte, war Entspannung. Sie trank und legte sich aufs Bett. Ihre Gedanken schweiften zum Kampf zurück. Für sie gab es nur einen Gewinner – und der war Dumarest. Sie spürte einen kühlen Lufthauch, drehte den Kopf und sah, daß das Fenster offenstand. Welcher Narr von Diener hatte es offengelassen? So heiß die
Tage auf Kuldip auch waren – so kalt waren die Nächte. Sie stand auf, um es zu schließen und starrte in die Nacht hinaus. Aus der Ferne war Hundegebell zu hören. Gott helfe Dumarest, sollten sie ihn erwischen! dachte sie. Und Gott helfe Charisse, falls er ihnen entkam! Sie erstarrte, als sie die Scherben auf dem Boden sah. Kein Diener hatte das Fenster offenstehen lassen. Jemand hatte sich gewaltsam Zugang in ihre Räume verschafft, und es konnte kein Zweifel daran bestehen, wer dieser Jemand war. Irgendwie hatte Dumarest es geschafft, seinen Jägern zu entkommen, die glatte Wand emporzuklettern und eine Öffnung ins Fenster zu brechen, um es dann leise von außen zu öffnen. Sie war zu früh zurückgekommen, hatte ihm keine Gelegenheit gelassen, es wieder zu schließen und die Vorhänge zuz uziehen. Sie stand starr und fragte sich, was er getan hätte, hätte sie nun geschrien.
10. Er kam aus dem Badezimmer. Linda hielt den Atem an, als sie sein blutverschmiertes Gesicht und die zerkratzte Hand sah, die das Messer wurf bereit hielt. »Du bist sicher«, sagte sie schnell. »Ich schreie nicht. Aus dem Alter, in dem ein Mann in meinem Bad mich erschreckte, bin ich heraus!« Sie bedauerte die Bemerkung, als sie seine Miene sah. »Vergiß es, Earl. Aber du bist verwundet und blutest. Zieh dich aus und geh unter die Dusche. Keine Angst, ich verspreche, niemanden zu rufen.«
Er mochte spüren, daß sie aufrichtig war, oder fühlen, daß sie nicht viel für Charisse Chetame und ihre Labors übrig hatte. Und etwas an ihr verriet wirkliche Zuneigung, Sorge. Earl steckte das Messer weg, nickte und tat, was sie gesagt hatte. Als das Wasser das Blut von seinem Körper spülte, wusch sie seine Kleider und stieß lauf die Luft aus, als sie sah, in welchem Zustand sie sich befanden. »Wie hast du es nur geschafft, den Hunden zu entkommen und diese Mauer zu erklettern?« fragte sie. Die Antwort gab sie sich selbst: Weil er keine andere Wahl gehabt hatte. Sie starrte auf seine Hände, auf die abgebrochenen Fingernägel. Wie groß mußte die Entschlossenheit dieses Mannes sein? Das Messer mochte ihm eine Hilfe gewesen sein, in Spalten getrieben, ein Halt. Doch das änderte nichts daran, daß er sich bis zum letzten gequält und unter Todesverachtung Meter um Meter in die Höhe gearbeitet hatte. Sie reichte ihm ein Glas Wein und machte sich daran, die schlimmsten Wunden zu verbinden. Dann sagte sie: »Ich nehme an, du wirst Charisse nun töten wollen. Ich kann's dir nicht verdenken, Earl. Aber sei vorsichtig.« »Wachen?« »Wenn ich sie wäre, würde ich so viele Männer um mich versammeln, wie ich nur könnte, und meinen Laser nicht aus der Hand legen.« Sie sah, daß er den Wein nicht angerührt hatte und erriet seine Gedanken. Sie nahm das Glas und trank es leer – Beweis für ihre Aufrichtigkeit, falls es dessen noch bedurfte. »Earl, ich habe ein Schiff gechartert, mit dem ich morgen früh abfliegen werde, sobald meine Fracht an Bord ist.
Wenn du mitkommen willst – es ist Platz genug vorhanden.« »Wohin?« »Nach Souchong. Überleg's dir, ja?« Sie brachte ihm seine inzwischen trockenen Kleider und sah ihm beim Anziehen zu. Er steckte da s Messer in den Stiefel zurück. »Du solltest wirklich mit mir kommen, Earl. Keine Angst, es wird keine Forderungen geben und keine Bindungen, die du nicht willst. Wenn du kannst, bezahle die Passage. Ansonsten gibt es genug Arbeit im Frachtraum. Verdammt, Earl, ich kann nicht mitansehen, wie ein wirklicher, ein guter Mann zugrunde geht! Und das wirst du hier!« Er sah sie an und fühlte wieder, daß sie aufrichtig zu ihm war. Fast schämte er sich der Gedanken, die er sich beim Bankett über sie und ihre direkte Art gemacht hatte. Sie bot ihm ihre Hilfe an, ohne einen Preis zu fordern. Dumarest legte die Hände sanft auf ihre Wangen, strich ihr durchs Haar und küßte sie. »Danke«, sagte er leise. »Danke für alles, Linda. Aber jetzt sage mir, wo ich Charisse finde.« * Dumarest lag flach auf dem zu einem der Innenhöfe abfallenden Dach, das Messer in der rechten Hand, die Finger der Linken in eine Ritze gegraben, um nicht noch weiter abzurutschen. Das Alptraumgeschöpf kam weiter heran. Wie eine riesige Spinne mit unzähligen Tentakeln näherte es sich, ein Schatten im Dunkel, tödlich wie alle Kreaturen Charisses.
Und von allen Wächtern, vor denen Linda ihn gewarnt hatte, war dies der letzte und schrecklichste. Dumarest atmete heftig. Seine Hände und Beine bluteten wieder. Den Posten, die ihn über endlos erscheinende Korridore und durch dunkle Zimmer gejagt hatten, war er entkommen, indem er durch ein Fenster aufs Dach kletterte. So nahe war er am Ziel gewesen. Nun sah es so aus, als wäre alles umsonst gewesen. Die zwei Meter langen Tentakel peitschten durch die Luft. Dumarest schrie auf und schlug mit der Klinge danach. Seine Linke rutschte ab. Verzweifelt suchte er nach einem neuen Halt, warf sich auf den Bauch, mußte für Augenblicke den Gegner vergessen. Er rutschte üb er die glatten Ziegel. Tentakel legten sich um seine Schultern und Beine, als seine Füße die aus Stein gehauenen Schlangen berührten, die das Dach begrenzten. Er stemmte sie dagegen, warf sich erneut herum und durchtrennte Fangarme. Der schwarze Tod war fast über ihm. Riesige Augen glühten in der Dunkelheit. Dumarests Bewegungen waren nur noch Reflexe. Furchtbare, glänzende Scheren schnappten knapp über seinem Kopf zu, und Dumarest wußte, daß er diesen Kampf nicht mehr gewinnen konnte. Noch einmal entging er den zuschnappenden Scheren. Dann, als jede weitere Bewegung den Verlust seines letzten Haltes und den Sturz in die Tiefe bedeutete, geschah das Wunder. Er hörte Motorengeräusch. Im nächsten Augenblick zischte etwas über ihn hinweg. Jemand rief, er solle sich nicht bewegen. Fassungslos sah er, wie sich die Fangarme um den Körper des mutierten Monstrums legten, wie der schwarze Körper über die Ziegel rollte und über die Dachbegrenzungen stürzte
– dorthin zurück, von wo er gekommen war. In aufflammendem Scheinwerferlicht waren die schim mernden Fäden zu erkennen, die quer über den Hof gespannt waren. »Alles in Ordnung, Earl! Kommen Sie jetzt an Bord!« Der Gleiter kam näher. Hinter den Scheinwerfern stand eine Gestalt und winkte. Unter Schmerzen und mit letzter Kraft richtete Dumarest sich auf und griff nach dem Seil, das Dino Sayer ihm zuwarf. »Festhalten!« rief Sayer. »Wir ziehen Sie hoch!« Im gleichen Moment stieg der Gleiter. Dumarest hing für Sekunden in der Luft und wurde vom Gebäude fortgetragen. Sayer und ein anderer Mann zogen ihn in das Fahrzeug. Sayer stemmte die Fäuste in die Hüften und schüttelte den Kopf, als Earl sich vor ihm aufrichtete. »Sie wissen nicht, welches Glück Sie hatten, Mann!« stieß er hervor. »Das Dach ist kein Ort für Menschen, schon gar nicht des Nachts. Die Mutationen greifen alles an, was sich hier oben bewegt.« Dumarest sagte nichts, ließ sich in einen Sitz fallen und bewegte prüfend Arme und Beine. Er sah, daß er immer noch das Messer gepackt hatte und schob es in den Stiefel zurück. »Charisses Idee?« fragte er endlich. »Die Monstren? Nein, Armand erschuf sie, aber sie läßt sie, wo sie sind. Wo sie sich einmal eingenistet haben, sind sie nicht so leicht zu vertreiben, und sie schaden uns nicht.« Sarkastisch fügte er hinzu: »Und normalerweise haben wir keine Eindringlinge auf dem Dach.« Er drehte sich zum Piloten um. »Das ist hoch genug. Zurück zur Station. Brice, den Scheinwerfer aus!«
Finsternis umfing sie wieder, als Brice gehorchte. Nur das Licht der Kontrollen fiel auf die Gesichter der Männer. Dumarest stand auf und machte einen Schritt auf Sayer zu. »Was geschieht jetzt?« Sayer und die anderen mußten wissen, daß er versucht hatte, in Charisses Gemächer einzudringen. Vielleicht hatte sogar sie sie geschickt. »Wir fliegen zur Station zurück, um den Gleiter zu überprüfen.« Wozu das? Dumarest trat noch näher an Sayer heran. »Und was geschieht mit mir?« »Wir kümmern uns schon um Sie, keine Angst. Zuerst müssen Sie untersucht werden. Welch ein Wahnsinn, aufs Dach zu klettern!« War der Mann wirklich ahnungslos, warum er es getan hatte? Dumarest hatte nicht die Absicht, lange auf die Antwort zu warten. Blitzschnell schlang er den linken Arm um Sayers Hals und zog das Messer aus dem Stiefel, setzte es dem Alten an die Kehle. »Himmel!« schrie Sayer. »Was, zum Teufel, fällt Ihnen ein?« »Ich schneide ihm die Kehle durch, wenn sich nur einer von euch rührt!« rief Dumarest dem Mann am Scheinwerfer und dem Piloten zu. »Bringt mich jetzt zu Charisse!« »Und wenn ich mich weigere?« krächzte Sayer. »Sterben Sie.« Dumarests Stimme ließ keinen Zweifel daran, daß er meinte, was er sagte. »Der Kerl am Scheinwerfer wird der nächste sein, und der Pilot wird tun, was ich ihm sage, wenn er Sie beide tot am Boden liegen sieht. Es kommt also aufs gleiche hinaus.« »Bastard!« stieß Sayer hervor.
»Sie bringen mich zu Charisse! Jetzt sofort!« »Jetzt weiß ich, daß Sie verrückt sind, Dumarest. Also gut! Sie werden das bereuen«, und zum Piloten gewandt, rief er: »Zurück zum Haus! Wir landen im Innenhof!«
11. Sie saß in einem Raum voller Schatten. Dunkler Nebel lag wie eine Wolke drei Meter hoch über dem mit kostbaren Teppichen ausgelegten Boden, wie um alles, was sich über dieser Höhe verbarg, zu verstecken. Wie die farbigen Strahlen von den vielen Behältern mit brodelnden Flüssigkeiten, wie der Glanz von Charisses Juwelen und ihrer schwarzen Haarmähne, war auch dies ein durch raffinierte Beleuchtung erzielter Effekt. »Earl!« Sie erhob sich vor ihm, ließ eine Hand auf dem Tisch liegen, an dem sie gesessen hatte und der über und über mit Papieren bedeckt war. »Mein ungeduldiger und impulsiver Freund. Es ist gut, Dino. Du kannst jetzt gehen.« .Aber ...« Er blickte sie an, dann Dumarest. »Sind Sie sicher ...?« »Du glaubst, er könnte mir etwas tun?« Sie lächelte überlegen. »Ich bin so sicher, als hätte ich hundert Wachen um mich herum.« Der Alte schien diese Zuversicht nicht zu teilen. Erst nach einer weiteren Aufforderung Charisses ließ er sie mit Dumarest allein.
Sie wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Vorwurfsvoll blickte sie Dumarest an. »Mußte das sein, Earl? Mußtest du ihn verletzen und einschüchtern? Du hättest ihn getötet, nicht wahr? Oh ja, du hättest es getan. Warum auch nicht? Er hat ja nur dein Leben gerettet, und was zählt das schon. Das Gesetz des Dschungels, Earl, habe ich recht? Töten oder getötet werden. Ist es nicht so?« Er sagte nichts, beobachtete sie, wie sie begann, im Raum auf und ab zu gehen. »Es bedeutet dir nichts, daß jemand dein Leben rettet, Earl. Was mich betrifft, so glaubst du, deine Schuld sei nun abgetragen. Ich will gar nicht davon reden, daß ich dir Blut, Gewebe und Samen entnahm, als du im Heilschlaf lagst. Vergessen wir's. Etwas Wein?« Sie nahm eine Karaffe und zwei Gläser von einem Tisch, ohne eine Antwort abzuwarten. Wie beiläufig schaltete sie dabei eines der Lichter aus, wodurch die dunkle Nebelwolke noch tiefer herabzusinken schien. Als Dumarest keine Anstalten machte, das ihm angebotene Glas zu nehmen, zuckte sie die Schultern. »Mißtrauisch wie immer, Earl? Wollen wir nicht einmal auf dein anhaltendes Glück trinken? Oh, ich verstehe. Es könnte deine Sinne verwirren, und du willst mich im Auge behalten.« Sie trank selbst. »Sicher hättest du nicht abgelehnt, wenn Linda dir den Wein angeboten hätte. War die Hexe nett zu dir? Sie weiß besser als ich, wie man Männer behandelt.« Sie stellte das leere Glas ab. »Komm, Earl. Laß uns wenigstens reden.« »Ich wüßte nicht, worüber noch«, sagte er. »Vielleicht über Dinge, die nicht so sind, wie sie auf den ersten Blick erschei-
nen.« Fragend zog sie eine Braue in die Höhe. »Du zum Beispiel«, sagte er. »Du bist jung und schön. Wer sollte dich für eine Lügnerin halten?« »Du bist immer noch Gast in meinem Haus, Earl. Ich würde dir raten, das nicht zu vergessen.« »Ein Gast?« Er lachte trocken. »Auf Podesta sagtest du mir, daß dein Vater vor einem Jahr gestorben sei. Ich glaubte dir. Warum solltest du mich auch belügen? Später aber erfuhr ich, daß du Besuch von einem Mann namens Rudi Boulaye hattest. Du, Charisse, nicht dein Vater. Circe war kein Mann. Das war vor zehn Jahren.« »Und? Mein Vater hatte eben zu tun.« »Er hätte immer die Zeit gefunden, einen Mann wie Boulaye zu empfangen, denn beide hatten die gleichen Interessen. Kanntest du Boulaye gut?« »Nein. Ich verschaffte ihm lediglich Zutritt zur Bibliothek und Zugang zu Armands Aufzeichnungen. Boulaye bezahlte gut dafür, und ich brauchte das Geld. Also gut. Ich habe gelogen. Und was nun?« »Ich fragte mich, warum. Um dein wahres Alter so zu verheimlichen? Nur aus harmloser Eitelkeit? Dann aber warst du auf Ascelius und nahmst dich meiner erneut so liebevoll an.« Seine Hand berührte die Schläfe. »Das winzige Ding, das du mir implantiertest.« »Etwas, um deine Schmerzen zu lindern«, sagte sie schnell. »Und das meinen Geist einschläferte, mich steuerbar machte und mir das Zeitgefühl nahm. Deshalb entfernte ich es. Was war es noch? Ein Empfänger für einen Paralysator? Etwas, das du aus der Ferne aktivieren konntest, um mich in einen künstlichen Schlaf zu versetzen? Warum, Charisse? Du
hattest Angst vor mir?« Sie lachte belustigt. »Angst vor dir? Earl, wenn es einen Menschen gibt, vor dem ich mich nicht zu fürchten brauche, dann bist du es. Du könntest mich gar nicht angreifen oder verletzen, ebensowenig wie mein Geschöpf, gegen das ich dich antreten ließ. Du hast gegen den Mannek gekämpft, der ungleich gefährlicher war, aber vor einem etwas zu groß geratenen Mädchen bist du davongelaufen. Soll ich dir sagen, warum?« Er nickte. »Es ist so einfach, Earl. Sie hatte schwarzes Haar wie das kleine Mädchen, für das du dein Leben riskiert hast. An wen erinnerte sie dich? An eine Frau, die du einmal liebtest? An ein Kind, das du verloren hast? Ganz gleich, an wen, Earl. Ich hatte den Hinweis bekommen. Der Rest war Routine.« Hinweise, die er ihr flüsternd gegeben hatte, als er ihr, durch Drogen bewußtlos gehalten, ausgeliefert gewesen war. Sie hatte ihn durch Hypnose konditioniert und etwas in sein Unterbewußtsein geprägt, das ihn fast das Leben gekostet hätte. Nicht, daß ihn ihre Schöpfung hätte töten können, aber andere, schwarzhaarige Mädchen, auf Mord programmiert. »Nein, Earl!« rief sie befehlend. »Sei kein Narr!« Er starrte auf seine Hand, auf das Messer darin, auf die Lichtreflexe, die es warf, als seine Muskeln nervös zuckten. »Du haßt mich«, stieß sie hervor. »Aber du kannst mir nichts tun. Es würde dich zerstören. Der Konflikt ist in deinem Kopf, Earl! Du kannst keine Frau mit schwarzem Haar ...!« Ihre Augen weiteten sich, als er einen Schritt auf sie zu machte, das Messer hob, so daß die Spitze der Klinge auf ihren Hals
zeigte. »Earl!« »Ich kann dir nichts tun. Hast du das schon vergessen?« »Das Messer! Steck das Messer weg!« »Ich sagte dir, daß manche Dinge nicht so sind, wie sie scheinen. Ziehe nie die falschen Schlüsse, Charisse. Ein Messer ist ein Werkzeug zum Schneiden und Töten. Du kannst dir also vorstellen, was ich nun damit tun will. Andererseits weißt du, daß ich's nicht tun kann. Also ...« Sie schrie auf, als die Klinge in die Höhe fuhr, an ihren Hals, unter die Juwelenkette, die sie durchtrennte und in hohem Bogen durch den Raum und zu Boden fliegen ließ. Teile ihres Haares folgten ihr. »Nein!« Sie wich zurück, riß schützend die Hände vor ihr Gesicht. »Nein, Earl! Nein!« Sie bebte vor Zorn. »Du Bastard wirst für das bezahlen, was du getan hast!« Er sah ihre Hand zur Hüfte fahren, den Glanz der Waffe. Metall schlug auf Metall, als er den Strahler zur Seite schlug, ihn dann aus ihrer Hand riß und zu den Juwelen auf den Boden warf. »Du ... hast mich angegriffen!« brachte sie ungläubig hervor. »Du hättest mich töten können!« Ihre Augen verloren etwas von ihrem Glanz, als sie murmelte: »Und nun, Earl? Gefällt dir das, was du siehst?« * Das Gesicht halb in den Schatten verborgen, wirkte Charisse
auf den ersten Blick unverändert. Als Dumarest die Augen zusammenkniff, bemerkte er die Veränderung, die mit ihr vor sich ging. Ihr Gesicht schien zu verschwimmen, zu schrum pfen, sich aufzulösen. Die letzten Reste der perfekten Illusion wichen der grausamen Realität. Charisse war ein Monstrum. »Armand«, kam es heiser über spröde, schrecklich verformte Lippen. »Mein liebender Vater. Mein Schöpfer! Ein Narr, der glaubte, er wäre ein Gott! Dieser egoistische Bastard! Soll er in der Hölle rösten!« Sie nahm das Glas Wein, das Dumarest ihr hinhielt, trank und schleuderte das kostbare Gefäß gegen eine Wand. »Und du, Earl – warum mußtest du so grausam sein?« Er sagte nichts und reichte ihr neuen Wein. Diesmal zerschmetterte sie das Glas nicht. Voller Verbitterung sagte sie: »Ich war ein hübsches Kind, Earl. Eine lebende Puppe nannten mich alle. Eine Puppe, die jedermanns Herz gewann. Und Armand buchte diesen Erfolg für sich. Ich war der lebende Beweis für den Erfolg seiner genetischen Experimente. Und was bin ich nun?« Dumarests Messer hatte ihr mit der Kette die Perücke vom Schädel gerissen, von nacktem, porigem Fleisch über Knochen. Das ganze Gesicht war nun nichts als wucherndes, grotesk geformtes Fleisch. Die falschen Augenbrauen und Augenlider verstärkten den Eindruck des Grotesken nur noch zusätzlich, ebenso wie die durch Kosmetika vorgetäuschten Linien der Nase, des Mundes und des Kinns. »Ekelst du dich vor mir, Earl?« »Nein«, sagte er beherrscht. »Das nicht.« »Du bist gütig, aber ich schätze, wer so viel herumgekommen ist wie du, hat zuviel gesehen, um noch intolerant sein zu
können, was Äußerlichkeiten betrifft. Was mit mir geschieht, ist unaufhaltsam. Ein fehlerhaftes Gen ist schuld daran – das eine, das Armand in meinen Chromosomen verankerte, um mir eine ganz besondere Gabe zu verleihen. Auch er konnte nicht damit rechnen, daß es ein Zeitzünder war, eine biologische Bombe, die explodierte, als während der Pubertät gewisse Hormone in meinem Körper frei wurden. Zuerst war die Veränderung kaum feststellbar. Meine Haut verdickte sich an einigen Stellen, und dann bildeten sich Knötchen. Durch entsprechende Behandlung konnte dies zwar für einige Zeit überdeckt, doch der Prozeß nicht aufgehalten we rden. Armand tat, was er konnte. Doch es war nicht genug. Ich war dazu verdammt, mich in ein Monstrum zu verwandeln.« »Aber du fandest ein Mittel ...« »Ein Mittel, um mein wahres Gesicht vor anderen zu verbergen, ja. Wie hast du es erraten?« »Ich fragte mich, weshalb sich eine so attraktive Frau wie du über und über mit Juwelen behängte, und erinnerte mich da ran, daß Glanz und Flitter nur von jenen gebraucht werden, die etwas zu verstecken haben. Diese Kunst hast du bis zur Perfektion entwickelt. Aber es steckte noch mehr dahinter. Die Teleths?« »Du weißt alles«, preßte sie verbittert hervor. »Zuviel, Earl! Armand wollte mir telepathische Fähigkeiten verleihen, ja. Alles, was ich davon hatte, war die Fähigkeit, anderen eine normale junge Frau vorzugaukeln. Wer immer mir gegenüberstand, sah in mir die junge, schöne Frau, selbst wenn ich genau das Gegenteil war. Mit der Hilfe des Schmucks gelang es mir so, von niemandem als das erkannt zu werden, was ich
bin. Bis heute.« Dumarest erschauderte. Hatte er sie wirklich in den Armen gehalten? Sie geküßt und geliebt? Oder war er das Opfer ihrer Telepathie gewesen, die ihm einen warmen, festen Körper vorgaukelte, als er in Wahrheit nur Luft in den Armen hatte? »Armand war verrückt«, fuhr Charisse fort, nachdem sie wieder getrunken hatte. »Er legte eine Gen-Struktur fest und schuf mich in der Retorte, um später, sollte sein Experiment Erfolg haben, weitere Geschöpfe wie mich aus meinen Körperzellen zu klonen! Millionen! Für ihn war ich die Urmutter einer neuen menschlichen Rasse. Dieser Idiot wollte die Uhr zurückdrehen und Wesen erschaffen, die wie jene sein sollten, die seiner Überzeugung nach einst die Erde bevölkerten! Sieh mich an, das lebende Resultat seiner Besessenheit. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, so zu sein? Zu wissen, daß der Prozeß der Selbstauflösung unaufhaltsam weitergeht, daß es von Tag zu Tag schlimmer wird? Ich leide an keiner Krankheit, die man aus dem Körper schneiden oder herausbrennen kann. Es ist in mir, ein Teil von mir, Earl! In zehn Jahren werde ich aufgeschwemmt sein, in zwanzig doppelt so schwer wie jetzt. Die Epidermis wird sich zu verhärten beginnen, bis ich in einem Käfig aus erstarrter Haut gefangen bin. Und danach? In was werde ich mich am Ende verwandeln?« »Wollte Armand das?« fragte Dumarest. »Wollte er, daß sich dein Körper verändert? Daß dir zum Beispiel Flügel wachsen sollten?« »Falls ja, sagte er mir nichts davon.« »Aber seine Aufzeichnungen müßten Auskunft darüber ge-
ben. Bestimmt hat er über das Experiment Buch geführt. Könntest du den Prozeß nicht rückgängig machen, wenn du die Schablone hättest, nach der er dich schuf?« »Meinst du, ich hätte nicht danach gesucht? Der Mann war verrückt, wahnsinnig und in seiner Traumwelt gefangen. In seinen Aufzeichnungen fand ich eine Schablone. Aber ist es auch meine?« »Du mußt es versuchen, Charisse. Finde es heraus. Die Antwort kann nur in seinen persönlichen Aufzeichnungen liegen.« Und diese befanden sich in der Bibliothek. Wenn es ihm gelänge, Charisse zu überreden, ihn dorthin zu bringen, konnte er doch noch hoffen, das Gesuchte zu finden, um damit zu entkommen, solange noch Zeit dazu war. »Was hast du zu verlieren, Charisse?« Er erwartete Ablehnung. Statt dessen nickte sie zustimmend. Sie bückte sich nach ihrer Perücke und den Juwelen und legte sie wieder an. Die funkelnden Steine nahmen ihn sofort wieder gefangen und verbargen das, was sich hinter Charisses schöner Fassade befand. Ihre Fähigkeit, ihm Schönheit zu suggerieren, tat ein übriges. Er starrte auf den Strahler in ihrer Hand, auf jene Stelle des Teppichs, wo er noch eben gelegen hatte. »Ein Fehler, Earl«, sagte sie kalt. »Nicht dein erster, aber wahrscheinlich dein letzter. Eine Bewegung, und ich töte dich.« * »Der Ky -Clan wird dir nichts für eine Leiche bezahlen, Cha-
risse«, sagte Dumarest, während sich seine Gedanken überschlugen. Ein Fehler, ja. Er war zu gierig danach gewesen, in die Bibliothek zu kommen, zu eingenommen von der Verwandlung, die mit Charisse vor sich ging, um auf den Laser am Boden zu achten. »Hilfe« sagte er gedehnt, um ihre Aufmerksamkeit zu schwächen. Er hatte nur eine Chance, wenn ihre Konzentration nachließ. Ihr Finger lag auf dem Auslöser der Waffe. »Die Kyber versprachen dir Hilfe. Hast du dich deshalb an sie gewandt?« »Wie klug du bist«, antwortete sie mit beißendem Spott. »Sie kamen zu mir, nicht umgekehrt. Sie kamen, nachdem ich mir in Podesta von dir genommen hatte, was ich brauchte. Sie wußten, daß du an Bord meines Schiffes warst, und boten mir viel Geld für dich – zuviel für mich, um nicht neugierig zu werden. Was war so besonders an dir? Du bist stark, schnell und intelligent, aber was machte dich so interessant für den mächtigen Ky-Clan? Also folgte ich dir, um die Antwort zu finden.« Dumarest hätte eine Chance gegen sie gehabt, wäre sie eine normale Frau gewesen. Doch so schwach ihre telepathische Begabung auch sein mochte, sie war stark genug, um sie seine Absicht, das Messer zu schleudern, im Ansatz erkennen zu lassend Und sie würde schießen. »Die Kyber versprachen dir, in ihren Labors das schlechte Gen zu isolieren«, erriet er. »Und viel Geld, um dich deine Forschungen ausdehnen zu lassen. Charisse, alles, was sie dir geben, wirst du mit dem Verlust deiner Freiheit bezahlen!
Jeder, der sich auf Geschäfte mit ihnen einläßt, ist ihr Sklave. Sie werden das, was in dir arbeitet, nur betäuben und dir die endgültige Heilung so lange vorenthalten, wie sie dich brauchen. Danach bist du wertlos für sie.« Dumarest machte einen Schritt auf den Tisch zu. Er mußte Zeit gewinnen, bis er in einem günstigen Augenblick nach dem Laser springen konnte. »Die Kyber haben kein Mittel gegen deinen Verfall, selbst sie nicht! Sei nicht dumm! Verkaufe dich nicht für eine Lüge, ein Versprechen, das sie nicht halten können!« »Mach noch einen Schritt, und ich verbrenne dir das Gesicht!« zischte sie. »Ich weiß, wie weit ich gehen darf!« Daß für den Ky -Clan nur sein Gehirn von Interesse war? Das Geheimnis, das darin verankert war und das für den Clan so wichtig war wie für ihn die Koordinaten der Erde? »Wir könnten uns gegenseitig helfen, Charisse«, sagte er. »Du brauchst mich nicht an die Kyber auszuliefern. Im Gegenteil, es wäre ein Fehler. Ich bin wertvoll für sie, und sobald du weißt, weshalb, hast du wirklich etwas, um mit ihnen zu handeln. Sie werden dir alles geben, was du verlangst – und zu deinen Konditionen. Du wirst ihnen nichts sagen, bevor du nicht geheilt bist. Ein neues Gesicht und ein neues Leben, Charisse! Vertraue mir!« Der Laser senkte sich etwas, der Finger am Auslöser begann zu zittern. Glaubte sie ihm? Was ging jetzt hinter ihrer Stirn vor? Von einem Augenblick zum anderen wurde es belanglos. Hinter Dumarest war ein Geräusch zu hören. Ein Laserstrahl
fuhr in Charisses Handgelenk, durchbohrte es. Schreiend ließ sie die Waffe fallen. Langsam drehte Dumarest sich um und erstarrte, als er die große, dürre Gestalt im scharlachroten Umhang sah, das Gesicht, das wie ein Totenschädel aus der in den Nacken geworfenen Kapuze hervorschaute. »Okos!« brachte Charisse hervor. »Warum haben Sie geschossen? Es war unnötig!« Dies also war der Kyber von Ascelius – und ein geisteskranker Mann.
12. Die Zentralintelligenz hatte ihn getestet – und erkannt, daß er von allen Kybern derjenige war, der sich am besten zur Durchsetzung der Ziele des Clans eignete. Selbst die besten Diener des Clans waren zu schwach, um den hohen Ansprüchen der Zentralintelligenz gerecht zu werden. Elge, der Oberste Kyber, war schwach, zu vorsichtig und ungeduldig. Deshalb hatten die vereinten Gehirne ihn, Okos, zu seinem Nachfolger bestimmt. Okos, der Oberste Kyber! Der Wahnsinn war wie ein süßes Gift in ihm, vernebelte seinen Verstand, erstickte alle Zweifel an ihm und der Mission, die er sich einbildete. Wie er Dumarest aufgespürt hatte, seine Aktionen und Wege vorausberechnet – all dies machte ihn zum ultimaten Führer des Clans. Und nun stand er vor seinem Triumph. »Sie werden jetzt das Messer fallen lassen«, sagte Okos und
gestikulierte mit dem Laser. Befriedigung erfüllte ihn, als Dumarest gehorchte – wie ihm bald alle gehorchen würden. »Die Frau ist verletzt«, sagte Dumarest. »Darf ich mich wenigstens um sie kümmern?« Er wußte, daß die Bitte unerfüllt bleiben würde. Doch nun brauchte er Charisses Vertrauen. »Nein? Darf ich ihr wenigstens Wein geben?« Gift für den Intellekt. Wie konnten diese niedrigeren Wesen so grenzenlos dumm sein? Für Okos waren sie nichts als Tiere – noch unverzichtbare Sklaven beim Aufbau des neuen Universums. »Da siehst du, wie besorgt deine Freunde um dich sind«, sagte Dumarest zu Charisse Der Schuß hätte dich deine Hand kosten können. Okos hätte dich ebensogut töten können. Frage ihn, warum er's nicht tat.« »Weil ich sie noch brauche«, antwortete der Kyber für sie. »Du glaubst, doch nicht, daß du Hund noch irgend etwas von mir bekommst?« fuhr Charisse ihn an. »Sie werden mir helfen, wenn Sie geheilt werden wollen. Der Ky-Clan hält seine Versprechen.« War Okos allein? Dumarest sah hinter ihm nichts als eine offene Tür. Wo waren die Wachen, vor denen er aufs Dach fliehen mußte? Arbeiteten sie für Okos? Und warum hatte er geschossen? Die Antworten darauf konnten über Leben und Tod entscheiden. Dumarest betrachtete Okos. Wie alle Kyber, strahlte er etwas Roboterhaftes aus, und doch war er anders als andere. Fast schien es, als würde er die Situation genießen, auskosten bis zum letzten. Aber kein Kyber war in der Lage, solche Befriedigung zu empfinden. Warum hatte Okos ihn entkom men
lassen, wenn er sich seiner schon auf Podesta hätte bemächtigen können? Das war unlogisch. Es gab nur eine Antwort da rauf: Wahnsinn. Okos zeigte menschliche Schwächen – Ehrgeiz und Gier. »Charisse«, sagte Dumarest laut. »Willst du wissen, was mich für den Ky-Clan so wertvoll macht? Soll ich es dir sagen?« »Sie schweigen!« Okos hob den Laser. »Ich bin im Besitz eines Geheimnisses«, fuhr Dumarest ungerührt fort, »das ich vor langer Zeit aus einem Laboratorium des Ky-Clans stahl. Eine biologische Kette aus fünfzehn Einheiten, die ein intelligentes Wesen dazu befähigt, sich ...« Der Strahl des Lasers fuhr nur Millimeter vor Dumarests Füßen in den Boden. »Sie schweigen jetzt, oder ich brenne Ihnen die Stimmbänder weg! Die Frau darf nichts wissen!« »Warum nicht?« fragte Dumarest. »Sie werden sie ohnehin töten.« »Mich töten?« schrie Charisse. »Okos, Sie versprachen mir ...« »Ihnen geschieht nichts, wenn er den Mund hält!« »Sieh dir dein Handgelenk an, wenn du das glaubst«, rief Earl. »Seinen Freundschaftsbeweis. Er schoß, weil er fürchten mußte, du würdest mich im Affekt töten. Und er würde dich auf der Stelle umbringen, wenn ich ihm sagte, worüber wir sprachen.« »Nein!« Sie starrte entsetzt auf die Wunde. »Nein!« Sie glaubte ihm. Dumarest wußte, daß es ihm gelungen war, einen Keil zwischen sie und den Kyber zu treiben – und daß er ihr Leben in seiner Hand hielt. Drei Worte genügten, und Okos würde sie kaltblütig ermorden. Drei Worte: »Sie weiß Bescheid!« Aber wie wurde er den Kyber los?
Dumarests einzige Sicherheit war die, daß Okos ihn nicht töten konnte. Zumindest brauchte er sein Gehirn mit dem Geheimnis der Affinitäts-Zwillinge – der biologischen Kette, die es einem Menschen erlaubte, Körper und Geist eines anderen zu übernehmen. Er konnte schließlich sogar zu diesem anderen werden. Für Charisse hätte das bedeutet, daß sie in den Körper eines jungen, gesunden Mädchens schlüpfen könnte. Die Kyber aber konnten jeden Herrscher, jeden einflußreichen Menschen im Kosmos übernehmen und in fremder Gestalt auf ihr Ziel hinarbeiten. Okos wußte das. Okos wollte zum Obersten Kyber werden. Plötzlich war Dumarest alles klar. Er sagte es Okos auf den Kopf zu, und dieser bestätigte, daß er andere Kyber nicht nach Podesta, sondern auf eine falsche Spur geschickt hatte, um ihn, Dumarest, für sich ganz allein zu haben, den Triumph, mit niemandem teilen zu müssen. Auf Ascelius hatte er ihn dann systematisch in die Enge treiben lassen – bis hierher, wo das grausame Spiel zu Ende war. Und Myra Favre mußte sterben, als sie ihre Schuldigkeit getan hatte. Unbändiger Zorn auf den Ky-Clan stieg in Dumarest auf – Wut, die er noch kontrollierte. Okos trat auf Charisse zu, selbstbewußt und arrogant, sich seiner Macht bewußt. Das Universum stand ihm offen. »Sie werden mir Ihr Schiff zur Verfügung stellen, um Dumarest von hier fortzubringen«, sagte er schneidend. »Seine Sklavin«, knurrte Dumarest. »Ich hatte dich gewarnt.« »Es ist ein Privileg, dem Ky-Clan dienen zu dürfen«, zischte Okos. »Und auf die Belohnung zu warten.« Dumarest feuerte einen Schuß ins Blaue ab. »Wo sind Ihre Schüler, Okos? Haben sie erkannt, daß Sie wahnsinnig geworden sind?«
Der Schuß traf. Okos erstarrte in der Bewegung. Dumarest lachte rauh. »Er braucht dich, Charisse. Doch wenn er bekommen hat, was er will, wird er dich töten.« »Still!« schrie Okos. »Ich warne Sie nicht noch einmal! Und auch Sie gehorchen, Weib! Oder brauchen Sie eine weitere Lektion?« Sie schrie, als er schoß. Der Laserstrahl fuhr in ihr schwarzes Haar und setzte es in Flammen. Charisse riß sich die Perücke vom Kopf. »Sie Bastard, Okos! Dafür bezahlen Sie!« Wieder feuerte er, traf sie in die Schulter. Ihr Entsetzensschrei wurde von etwas beantwortet, das sich aus dem dunklen Nebel unter der Decke löste. Ein schwarzer Körper glitt an einem seidenen Faden auf Okos herab und krallte sich mit behaarten Beinen an seinem Schädel fest. Giftklauen schlugen sich in Okos' Nackenhaut. Eine mutierte, große Spinne, ein Wächter und Beschützer seiner Herrin, der nun jenen bestrafte, der Charisses Leben in Gefahr brachte. Okos brüllte, riß die Spinne von seinem Kopf. Blut lief über sein Gesicht, als er wie blind um sich feuerte. Dumarest zögerte keine Sekunde. Er warf sich auf den Kyber, hob blitzschnell sein Messer vom Boden auf und trieb Okos die Klinge ins Herz. Der Kyber starrte ihn aus gebrochenen Augen an und sank zu Boden. Dumarest zog sein Messer aus Okos' Brust und fuhr herum, als er Charisses Stöhnen hörte. Sie lag am Boden. Blut quoll zwischen ihren auf die Wunde gepreßten Fingern hervor. »Earl! Hilf ... mir ...!« Sie starb und wußte es. Sie starrte ihn an, als er vor ihr kniete,
und schüttelte den Kopf, als er die Wunde untersuchen wollte. »Laß es, Earl. Der Bastard ... hat mich erwischt.« »Ich rufe jemanden. Sayer weiß vielleicht ...« »Nein, Earl. Niemand kann mir mehr helfen. Es ist besser so. Ich ... bin nicht zum Leben geschaffen. Aber rufe ihn und sage ihm, daß er dir helfen soll, zu finden, was du suchst. Er ist ein guter Mensch. Er wird ...« Sie schloß die Augen, schluckte und nahm zitternd seine Hand. »Earl, als wir auf Podesta ... zusammen waren, liebtest du mich?« »Ja, Charisse. Ich liebte dich.« »Du bist ein so guter Lügner. Ein so ...« »Charisse!« Sie konnte ihm nicht mehr antworten. * Dino Sayer war sichtlich mitgenommen. »Sie war auf ihre Art gut, Earl. Ich werde sie vermissen.« Er gab sich einen Ruck. »Ich glaube, daß sie noch leben würde, hätte sie Sie nicht getroffen. Und was mich betrifft, so sollte ich keinen Grund haben, Ihnen zu helfen. Doch wenn sie es so wollte ...« Er deutete auf eine Tür. »Die Bibliothek. Alle Bücher und Kassetten sind aufgelistet. Wenn Sie etwas brauchen, lä uten Sie die Glocke auf dem Lesetisch.« In Gedanken war Dumarest noch bei Charisse, als er sich im riesigen Raum um sah. Charisse hatte mit dem Feuer gespielt und war darin umgekommen, hatte zu spüren bekommen, was es hieß, sich einem Kyber auszuliefern. Später würde er darüber nachzudenken haben, welche Konsequenzen sich aus
der Entwicklung ergeben konnten, die Okos durchgemacht hatte. Jetzt gab es wichtigere Dinge für ihn zu tun. Er ging die Listen durch, lange Themenkataloge mit genauen Bezeichnungen der entsprechenden Bücher und Tonträger. Doch auch nach einer Stunde hatte er keinen Hinweis auf die Erde gefunden. »Mylord?« Das Mädchen erschien, nachdem er die kleine Glocke geläutet hatte. Sie hatte wieder das gleiche Gesicht wie alle anderen Dienerinnen Charisses. Doch nun sah er die Spuren von Tränen unter ihren großen Augen. Am linken Arm trug sie einen schwarzen Trauerflor. »Besaß Armand noch andere Aufzeichnungen? Vielleicht ein Buch, das er geheim verwahrte?« »Ich weiß es nicht, Mylord.« »Wer könnte es wissen?« »Vielleicht der neue Herr, Mylord. Soll ich ihn benachrichtigen?« Es dauerte eine weitere halbe Stunde, bis er erschien. »Sie sind also nun Charisses Nachfolger, Dino«, stellte Dumarest anerkennend fest. »Darf ich gratulieren?« »Jemand muß die Arbeit tun«, wiegelte Sayer ab. »Probleme?« »Ich kann nicht finden, wonach ich suche. All diese Bücher und Kassetten hier geben nichts her. Können Sie sich an Rudi Boulaye erinnern?« Sayer nickte. »Er war vor zehn Jahren hier. Blieb er lange?« »Nicht, daß ich wüßte.« »Hatte er Zugang zu Armands Aufzeichnungen?« »Ja. Earl. Nun, da Sie davon reden – ich kann mich erinnern, daß ein Diener, Octen, ihm alles brachte, was er wünschte. Darunter befand sich auch ein Buch, das Armand nie aus der
Hand gegeben hatte. Octen beschaffte es Boulaye und vergaß offensichtlich, es hierher zurückzubringen.« »Wo ist es dann jetzt?« »Vermutlich verbrannt oder sonstwie verschwunden. Earl, stimmt etwas nicht?« Er erschrak, als er Dumarests Blicke sah, den harten Zug um seinen Mund. »Warten Sie. Ich habe eine Idee.« verschwand und kehrte nach einer Viertelstunde mit einem ziemlich mitgenommen aussehenden Buch zurück. »Dies könnte es sein. Ich sah mich in Armands Arbeitszim mer um und fand es in einer verschlossenen Schublade. Ich mußte sie aufbrechen. Nur Octen kann es dorthin zurückgelegt haben. Armands Arbeitsraum durfte nach seinem Tod von niemandem mehr betreten werden. Charisse wollte es so.« Dumarest setzte sich an den Lesetisch. Armand Chetame hatte von Hand Fußnoten fast auf jeder Seite angebracht. Dumarest las und fühlte die Erregung in sich aufsteigen. Und dann, als vom Raumhafen schon die Sirene von Linda Ynyas wartendem Schiff zu hören war, fand er, was er so lange gesucht hatte. Das Geheimnis, für das er sein Leben und das anderer riskiert hatte. Zwischen den gedruckten Zeilen geschrieben stand: »... ist es nach gründlichem Studi um aller beschafften Unterlagen so gut wie sicher, daß die Erde tatsächlich noch existiert. Den von der Erce-Sekte auf Newdon erhaltenen Informationen zufolge befindet sie sich in einem Sektor, in dem die Sterne weit auseinanderstehen. Von ihrer kosmischen Position aus sind Sternbilder wie das des Löwen, des Krebses und der Leier zu erkennen. Es gibt zwölf solche Sternbilder, die Konstellationen von auf der Erde sichtbaren Sternen sein müssen.« Das war etwas, das Dumarest bereits wußte.
Ungeduldig überflog er die Seiten: »… was uns zu dem Schluß bringt, daß die Erde, auch Terra genannt, in jener Region liegt, die durch die Wolke kosmischen Staubes im galaktischen Norden von Silus begrenzt ist, durch das energetische Feld, das uns als Morgans Senke bekannt ist, im galaktischen Westen von Crom, und durch den Hygenium-Wirbel. Dieses sind die Parameter, die durch die Erce-Sekte bestimmt werden konnten. Namen mögen sich im Laufe der Zeit verändert haben, nicht aber die Koordinaten. Der Rest der Seite fehlte. »Earl?« Sayer hatte den Raum wieder betreten und wich unwillkürlich vor Dumarest zurück. »Gott im Himmel, was ist los? Sie sehen aus, als wollten Sie jemanden umbringen!« Er hätte es wohl getan – aber Boulaye war schon lange tot. Dumarest wünschte ihm alle Qualen der Hölle!
Ende
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SIRENENGESANG von Perry-Rhodan-Autor H. G. Ewers. Band 125 der ORION-Serie.