UN/FAIR TRADE Die Kunst der Gerechtigkeit Herausgegeben von Christian Eigner / Peter Weibel
Ausstellung UN/FAIR TRADE Die Kunst der Gerechtigkeit www.un-fairtrade.org 22.09.–25.11.2007 Neue Galerie Graz am Landesmuseum Joanneum Sackstraße 16, A-8010 Graz T + 43/316/82 91 55 F + 43/316/81 54 01 www.neuegalerie.at
[email protected] Leitung: Christa Steinle Koproduktion steirischer herbst Intendantin: Veronica Kaup-Hasler Idee: Peter Weibel Kuratoren: Günther Holler-Schuster/Peter Weibel Wissenschaftlicher Kurator: Christian Eigner Projektleitung: Christa Steinle Visuelle Gestaltung: System One Wien Organisation: Günther Holler-Schuster Assistenz: Angela Theresia Fink, Birgit Prack Konservatorische Betreuung: Walter Rossacher, Brigitte Lampl Registratur: Brigitte Lampl Sekretariat: Jörg Kaiser, Gertrude Leber Ausstellungsaufbau: Walter Rossacher und Team (Peter Erlacher, Helmut Fuchs, Nikolaus Vodopivec, Kasimir Werschitz) Öffentlichkeitsarbeit: Peter Peer, Jörg Kaiser Vermittlung: Peter Peer und Team Versicherung: Uniqua Transporte: Artex, Wien; Kunsttrans, Wien
Katalog UN/FAIR TRADE Die Kunst der Gerechtigkeit Christian Eigner/Peter Weibel (Hg.) für die Gesellschaft der Freunde der Neuen Galerie Wissenschaftliche Redaktion: Büro für Perspektivenmanagement, Christian Eigner, Michaela Ritter Künstlerische Redaktion: Günther Holler-Schuster, Angela Theresia Fink, Birgit Prack Übersetzungen: Angela Theresia Fink, Birgit Prack, Y'plus, Lektorat: Karin Buol-Wischenau, Jörg Kaiser Grafische Gestaltung, Layout: Luff up, Graz (Umschlag und wissenschaftlicher Teil); Karin Buol-Wischenau/Günther Holler-Schuster (künstlerischer Teil) Umschlagentwurf: Idee Peter Weibel © 2008 Neue Galerie Graz am Landesmuseum Joanneum AutorInnen, KünstlerInnen, FotografInnen, VBK Wien, 2008 © 2008 Springer WienNewYork Printed in Austria SpringerWienNewYork ist ein Unternehmen von Springer Science + Business Media springer.at Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Druck und Bindearbeiten: Universitätsdruckerei Klampfer, St. Ruprecht/Raab Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichten Papier – TCF SPIN: 12076536 Mit zahlreichen farbigen Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-211-73221-2 SpringerWienNewYork
Dank Die Neue Galerie dankt dem Kulturreferenten des Landes Steiermark, Landeshauptmann-Stv. Dr. Kurt Flecker, für die Sonderfinanzierung dieses Ausstellungsprojekts. Für ihre finanzielle Unterstützung dankt die Neue Galerie weiters der ADA/Austrian Development Agency, der Steiermärkischen Sparkasse, der OeKB-Österreichischen Kontrollbank AG sowie der Königlich Niederländischen Botschaft, Wien. Galerien und Museen: The Cranford Collection, London Galeria Max Estrella, Madrid Galerie Greulich, Frankfurt a. Main Studio Guenzani, Milano Galerie heliumcowboy artspace, Hamburg Gallery Hyundai, Seoul Galerie Peter Kilchmann, Zürich Galerie Christine König, Wien Gallery MOMO, Johannesburg Murata & Friends, Berlin Collection museum kunst palast, Düsseldorf October Gallery, London Galerie Emmanuel Perrotin, Paris / Miami Sikkema Jenkins & Co., New York Galerie Clemens Thimme, Karlsruhe Kunstmuseum Wolfsburg Galerie Xippas, Paris ZKM Karlsruhe Galerie David Zwirner, New York Leihgeber und Privatsammlungen: Frau Rübesam- Nuradi u. Herr Rübesam, Frankfurt Bernhard Budzinski, Bad Homburg Sandra u. Didi Dittmar, Bad Orb Edition Staeck, Heidelberg Die Neue Galerie dankt auch all jenen Leihgeber und Privatsammlungen, die nicht genannt werden möchten.
Inhalt Vorwort Die Kunst der Gerechtigkeit: Zur Orientierung Free Trade ist nicht Fair Trade – Peter Weibel Anschwellende Gerechtigkeit – Christian Eigner und Michaela Ritter Über Gerechtigkeit
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Politik ohne Gerechtigkeit? – Julian Nida-Rümelin Allparteilichkeit, Anerkennung und Ausgleich: Die systemische Dreiheit für mehr Gerechtigkeit – Matthias Varga von Kibéd
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und Insa Sparrer im Gespräch mit Michaela Ritter
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Gerechtigkeit, Tausch und kritische Ökonomie
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Kritische Ökonomie, deliberative Kultur und die Grenzen einer gerechten Weltwirtschaft – Martin Schürz im Online-Diskurs mit Christian Eigner und Michaela Ritter
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Der doppelte Boden der ökonomischen Moderne – Peter Nausner im Gespräch mit Christian Eigner und Michaela Ritter
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Die Wurzeln von „Fair Trade“ oder die Genese gerechter (Aus-)Tauschbeziehungen zwischen den Menschen – Ross A. Lazar Kapital. Kunst. Gerechtigkeit – Boris Groys
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Rahmenbedingungen für eine faire Weltwirtschaft
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Gerechter Tausch – (nur) eine Frage der Rahmenbedingungen? – Elisabeth Göbel
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FAIRTRADE global – Marktlogik oder politisches Programm? – Richard Sturn
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Die zwei Ebenen einer gerechten Weltwirtschaft – Wolfgang Sachs im Gespräch mit Christian Eigner und Michaela Ritter
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FairMultitude – Richard Weiskopf im Gespräch mit Christian Eigner und Michaela Ritter
Kunst und Künstler El Anatsui (GHA/NGA) Ecke Bonk (DEU/F/NZL) Werner Büttner (DEU) Neil Cummings/Marysia Lewandowska (GBR/POL) Stan Douglas (CAN) Elmgreen & Dragset (DNK/NOR/DEU) Ismail Farouk (ZAF) Dionisio González (ESP) Andreas Gursky (DEU) Jacqueline Hassink (NLD/USA) Romuald Hazoumé (BEN)
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Kristian von Hornsleth (DNK) Kcho (CUB) Sebastian Lasinger (AUT) M+M (DEU) Casey McKee (USA/DEU) Fernando Moleres (ESP) Vik Muniz (BRA/USA) Nguyen Manh Hung (VNM) Junebum Park (KOR) Esther Polak (NLD) Christine S. Prantauer (AUT) Jan Schmelcher (DEU/JPN) Allan Sekula (USA) Santiago Sierra (ESP/MEX) Klaus Staeck (DEU) Gabriele Sturm (AUT) Wolfgang Temmel (AUT) Yuken Teruya (JPN/USA) Andrew Tshabangu (ZAF) UN/FAIR TRADE
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Die Kollateralschäden des Konsumerismus – Zygmunt Bauman Mit dem FAIRTRADE-System die Welt fair-ändern –
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Karin Astelbauer-Unger
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Die gefrorenen Hühnerflügel und das Wunder der Wüste – Karin Küblböck
FAIRTRADE und regionale Selbstversorgung in der Landwirtschaft – Sarah Laeng-Gilliatt Für eine weniger ungleiche Welt – Branko Milanovic Wissen – Kommodifizierung – An/Enteignung: FAIR?? – NOT AT ALL! – Margit Franz Neo-Politik: Postökonomistische Weltgestaltung
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Das Unmenschliche, die Untoten und der Kapitalismus – 6ODYRMäLåHN über Slums, aktuelle Politik und echte Kulturrevolutionen
Die Moralisierung der Märkte – Nico Stehr CSR, Welthandel und die Notwendigkeit politischer Gestaltung – Bernhard Ungericht im Gespräch mit Michaela Ritter und Christian Eigner
388 400
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Die Entschlüsselung des politisch Möglichen – Saskia Sassen
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Rahmenprogramm und Ergänzendes
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Vorwort Die Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum in Graz/Steiermark besetzt eine singuläre Position in der österreichischen Museumslandschaft. Aus mehreren Gründen ist sie vielleicht ein museologisches Leitmodell der Zukunft. Die Neue Galerie ist nicht nur ein Supportsystem, das dafür sorgt, dass die Kunstwerke toter oder lebender KünstlerInnen nicht verschwinden, also die klassischen Aufgaben des Museums, das Sammeln und Ausstellen, wahrnimmt, sondern darüber hinaus ist die Neue Galerie auch ein Supportsystem für die Produktion von Kunstwerken. Die Neue Galerie übernimmt gezielt eine absolute Verpflichtung zur Zeitgenossenschaft. Sie weicht der Gegenwart nicht aus, auch wenn diese globale Dimensionen angenommen hat. Sie weicht aber auch der Vergangenheit nicht aus, auch wenn diese dunkel ist und daher absichtlich verdrängt und vergessen wird.1 Indem sie junge Künstler bei ihrer aktuellen Produktion unterstützt und stets für aktuelle Positionen – früher als andere Institutionen – Partei ergreift, unterstützt sie auch verstorbene Künstler und deren marginalisiertes, exiliertes oder zerstörtes Werk, ebenfalls früher als andere Institutionen.2 Indem sie sich um die Zukunft der Kunst sorgt, sorgt sie sich auch um deren Vergangenheit. Denn „it is the future that is at issue here, and the archive as an irreducible experience of the future“, wie Jacques Derrida in Archive Fever (1995)3 schreibt. Die Neue Galerie verfügt über eine Sammlung, die mehrere Jahrhunderte und alle Medien und Gattungen umfasst. Es wird nicht behauptet, die Neue Galerie verfüge über eine umfassende Sammlung, am allerwenigsten von Meisterwerken der Moderne. Es wird nur gesagt, die Neue Galerie verschließt sich keinem Medium, keiner Kunstform, keiner Gattung, keinem Stil. Die Neue Galerie betreibt aber auch ein Archiv und damit Zukunft. Für das Labyrinth der Vergangenheit legt sie einen Ariadnefaden aus, für die Unübersichtlichkeit der Gegenwart flaggt sie Positionsbestimmungen. Sie legt einen Kurs fest, sie zeigt Entwicklungen, Diachronien, Genealogien und Chronologien. Indem sie einen Kurs festlegt, bereitet die Neue Galerie einen Diskurs auf, sie öffnet Grenzen und Horizonte. Durch das Archiv, durch die Arbeit am kulturellen Gedächtnis, leistet sie Übersetzungen von Generationen zu Generationen, von Kulturen zu Kulturen. Wie kaum ein anderes Museum in Österreich ist die Neue Galerie eine kontinuierliche Plattform für Diskurse und Wissensverbreitung. Daher bietet sie als einziges Museum in Österreich nicht nur Artist’s Talks, Curator’s Talks, Collector’s Talks, sondern auch Science Talks an, die vom Publikum in großer Zahl besucht werden. Auch in ihrem Ausstellungsprogramm sucht die Neue Galerie immer wieder Allianzen zur Wissenschaft. Sie veranstaltet wissenschaftliche Tagungen zum formalen
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Denken der Mathematik.4 Sie sucht nach den Spuren der Wissenschaft in der Kunst und nach den wechselseitigen Einflüssen von Kunst und Wissenschaft in einem ganzen Jahrhundert zwischen Österreich und Ungarn.5 In den Ausstellungen betreibt sie vergleichende Kulturwissenschaft. Probleme von Gender, Race, Nation and Class werden nicht im weißen Würfel der Moderne ausgeblendet, sondern Riten der Identität und Stile der Differenz werden in wissenschaftlich erarbeiteten Ausstellungen durch Kunstwerke exemplifiziert.6 In eigens entworfenen Ausstellungsarchitekturen werden dem Publikum Zugänge zu den Problemfeldern der Kunst und der Gesellschaft auf einzigartige Weise geboten. In ihren Ausstellungen zeigt die Neue Galerie dem Publikum auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene nicht nur die Welt der Kunst, sondern auch die Welt, wie sie sich in der Kunst darstellt, also somit die Welt, in der das Publikum lebt. Das Publikum der Ausstellungen in der Neuen Galerie soll die Welt, in der es lebt, wiedererkennen und die Galerie mit Erkenntnisgewinn verlassen. Die Neue Galerie widmet sich also in ihren Ausstellungen Themen von gesellschaftlicher Relevanz und geht dabei mit den Wissenschaften eine Allianz ein.7 Sie geht dabei nicht nur thematisch, inhaltlich und formal, sondern auch ausstellungstechnisch neue Wege. Das macht die singuläre Position der Neuen Galerie in der österreichischen Museumslandschaft aus. Wenn die Neue Galerie eine Ausstellung zum Thema UN/FAIR TRADE macht, über den globalen ungerechten Handel, dann stellt sie nicht nur Kunstwerke aus, die davon handeln, sondern gemeinsam mit diversen Wissenschaftlern aus Ökonomie, Soziologie und Kulturtheorie geht sie eine Allianz mit dem Netz ein. Wie bei einer Wikipedia-Struktur oder einem Blog wird jedem die Möglichkeit gegeben, seine eigenen Gedanken, seine eigene Meinung oder sogar sein eigenes Kunstwerk zum Thema UN/FAIR TRADE ins Netz zu stellen. Diese Texte, Meinungen und Kunstwerke werden gleichzeitig in das reale Museum hineinprojiziert. So wird jeder beliebige Netzbesucher zu einem Teilnehmer und Künstler der Ausstellung. Die Ausstellung selbst besteht daher aus einem kuratierten Teil, den realen Kunstwerken in der Neuen Galerie, und aus einem unkuratierten Teil, den Kunstwerken im Netz. Jeder Teilnehmer des Blogs ist Teilnehmer der Ausstellung, anonym oder individualisiert, weil der gesamte Blog in der Ausstellung selbst mehrmals projiziert wird. Aber auch die realen Besucher sehen nicht nur die kuratierten Kunstwerke, sondern auch die nicht kuratieren Netzwerke. Betrachter, die das Museum real besuchen, können in einer Art Computerinstallation Zugang zu den Netzdaten finden. Sie können im Museum am Netzgeschehen teilnehmen. Die Netzdaten werden über Projektionen Teil der realen Ausstellung. So wird auch jeder reale Besucher Teil der Ausstellung. Die Besucher des Museums haben somit nicht nur Zugang zu
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Informationen, die von den Kuratoren und Künstlern vor Ort kommen, sondern über das Netz auch die Informationen von Personen, die nie im Museum waren oder auch nie ins Museum kommen werden. Umgekehrt sitzt jemand zuhause in Malaysia oder Südamerika an seinem Computer und kann von der Ferne nicht nur als Betrachter an dieser Ausstellung teilnehmen, sondern auch als Benutzer, er kann nämlich seine eigenen Kunstwerke und Texte einbringen und diese Eingaben erscheinen, wie schon erwähnt, dann direkt im Museumsraum. Virtuelle und reale Sphären durchdringen einander. Dislozierte Betrachter nehmen an der Ausstellung teil, sowohl im Netz wie im realen Ausstellungsraum, da die Netzinhalte in den realen Ausstellungsraum projiziert werden. Lokale Betrachter partizipieren im Netz und am Geschehen im realen Raum. Die Methode der Ausstellung ist also bereits selbst ein Beispiel für „fair play“ und „fair trade“. Sie wendet sich gegen historische Ausstellungstechniken, bei denen die Künstler als Experten die Interessen der Eliten bedienten. In den meisten Museen hängen nur deswegen fast ausschließlich gemalte Portraits von kirchlichen und weltlichen Führern, weil nur wenige (Experten) ein Bild malen konnten und daher nur wenige (Elite) ein Bild bezahlen konnten. In der Ausstellung UN/FAIR TRADE hat jeder Bürger eine Chance, selbst an der Ausstellung teilzunehmen. Das demokratische Versprechen eines fairen Handels und einer gerechteren Gesellschaft kann am Beispiel der Ausstellung selbst eingelöst werden. Er geht also bei den Ausstellungen der Neuen Galerie nicht um die berühmte Passage zwischen Skylla und Charybdis, zwischen einer Ästhetisierung der Politik wie im Faschismus und einer Politisierung der Ästhetik wie im Kommunismus (siehe Walther Benjamins These in seinem berühmten Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1935/36)), sondern die Präsentation der Ausstellung selbst ist eine Einführung in die Atmosphären und Optionen der Demokratie. Mit der Allianz von Wissenschaft und gesellschaftlicher Relevanz sucht die Neue Galerie neue Wege der Ausstellungspolitik angesichts einer zunehmenden Allianz von Massenmedien und Markt, die gemeinsam nach absoluter Macht und Meinungsmonopol streben („Märkte machen Meinung“ heißt es stets im Wallstreet Journal). Diese Ambition der Neuen Galerie wäre im Jahre 2007 nicht möglich gewesen ohne die großzügige Subvention des Sonderprojektes UN/FAIR TRADE durch den Landeshauptmann-Stellvertreter und Kulturreferenten Dr. Kurt Flecker. Wir danken dem steirischen herbst und seiner Intendantin Veronica KaupHasler für die Unterstützung durch ihre Kooperation. Die Neue Galerie dankt auch Christian Eigner und Michaela Ritter für die wissenschaftliche Betreuung dieses Projekts. Günther Holler-Schuster verdient unseren Dank und unsere Anerkennung für seine kuratorische Leistung und die organisatorische Leitung der Ausstellung. Tom Fürstner und Michael Schuster von System One danken wir für die Entwicklung des Netzprojektes. Danken möchten wir auch dem ORF für die Möglichkeit,
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seinen Beitrag zum Thema Gerechtigkeit und Wirtschaft in CD-Form dem Buch beifügen zu können. Dem gesamten Team der Neuen Galerie, wie immer, ein fröhliches und herzliches Danke.
Christa Steinle, Peter Weibel
Anmerkungen 1
Günter Eisenhut, Peter Weibel (Hg.), Moderne in dunkler Zeit: Widerstand, Verfolgung und Exil steirischer Künstlerinnen und Künstler 1933 –1948. Ausstellung Neue Galerie Graz am Landesmuseum Joanneum, 2001, Graz: Neue Galerie Graz, Droschl Verlag, 2001.
2
Nadja Rottner, Peter Weibel (Hg.), Ruth Vollmer 1961-1978: thinking the line und Gego 1957-1988: thinking the line. Ausstellung Ursula Blickle Stiftung, Kraichtal, 2003; ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, 2004; Neue Galerie Graz am Landesmuseum Joanneum, 2004, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag, 2006.
3
Jacques Derrida, Archive Fever. A Freudian Impression, in: Diacritics, Ithaca, N.Y.: Johns Hopkins University Press, Sommer 1995.
4
Rainer E. Burkhard, Wolfgang Maas, Peter Weibel (Hg.), Zur Kunst des formalen Denkens, Publikation zu gleichnamigem Symposium an der Neuen Galerie Graz 7.-8.3.1997, Wien: Passagen Verlag, 2001.
5
Peter Weibel (Hg.), Beyond Art: A Third Culture. A comparative study in cultures, art and science in 20th century Austria and Hungary. Ausstellung Ludwig Museum Budapest, 1996; Neue Galerie Graz am Landesmuseum Joanneum, 1997; MUKHA, Antwerpen, 1998, Wien/New York: Springer Verlag, 2005.
6
Peter Weibel (Hg.), Identität: Differenz, Tribüne Trigon 1940 –1990, Eine Topografie der Moderne, Ausstellung Neue Galerie Graz am Landesmuseum Joanneum, 1992, im Rahmen des steirischen herbst `92, Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag, 1992.
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Franz Kaltenbeck, Peter Weibel (Hg.), Trauma und Erinnerung/Trauma and Memory: Cross-Cultural Perspectives. Publikation zu gleichnamigem Symposium an der Neuen Galerie Graz 1999. Wien: Passagen Verlag, 2000; Peter Weibel, Günther Holler-Schuster, M_ARS, Kunst und Krieg, Ausstellung Neue Galerie Graz am Landesmuseum Joanneum, 2003. Ostfildern: Hatje Cantz, 2003; Peter Weibel (Hg.), Phantom der Lust, 2 Bände. Ausstellung Neue Galerie Graz 2003, München: belleville Verlag, 2003.
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Die Kunst der Gerechtigkeit: Zur Orientierung
Free Trade ist nicht Fair Trade von Peter Weibel
Anschwellende Gerechtigkeit von Christian Eigner und Michaela Ritter
Free Trade ist nicht Fair Trade Von Peter Weibel
I Spirale der Armut Die Idee des Meeres ist in einem Wassertropfen vereint. Spinoza1 Zwei Arten von Schiffen kreuzen vor den Küsten Afrikas: kleine billige Holzboote und große teure Hightech-Boote. Die einen werden von Einheimischen, die anderen von Europäern betrieben. Ihr gemeinsames Ziel ist der Fischfang. Die Hightech-Boote sind dabei den Holzbooten überlegen: besser ausgerüstet und mit mehr Personal fangen sie viel mehr Fische. Die Mehrkosten der Ausrüstung, des Personals, des Benzins etc. werden getilgt durch großzügige finanzielle Zuwendungen der Wirtschaftsgemeinschaft Europäische Union (EU). Daher können die vielen Fische, die von den großen Booten gefangen werden, billiger verkauft werden als die wenigen Fische der kleinen Boote, die zudem nicht subventioniert werden. Der Konkurrenzkampf ist – einseitig verzerrt durch die EU-Fischereipolitik – für die kleinen Boote aussichtslos. Die Inhaber der kleinen Boote können vom Fischfang nicht mehr leben. Daher verkaufen sie ihre Boote. Ihrer Einnahmequelle verlustig, verarmen sie. Sie verarmen nicht passiv, durch Nichtstun, durch eigene Schuld. Sie verarmen aktiv, durch Zutun der EU, durch unsere Schuld. Armut ist und wird konstruiert, sie ist nicht immer selbstverschuldet, sondern immer auch fremdverschuldet. Sie ist Ergebnis der EU-Politik, der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds, etc. Denn die Agrarund Zinspolitik der EU unterstützt und subventioniert klarerweise die Interessen der europäischen Staaten. Von der staatlichen Preisbindung des europäischen Zuckers gegen den Import wesentlich billigeren Zuckers aus Brasilien und Kuba bis zu den gelben, von Banken subventionierten Rapsfeldern in Deutschland, deren Biodiesel die Landwirtschaftsmaschinen in Afrika antreibt, weil deren Öl wir selber für unsere Autoindustrie verbrauchen, sehen wir ein soziales, politisches und wirtschaftliches System der Eigen-Protektion und Fremd-Ausbeutung, das weltweit Armut erzeugt. Armut ist eine soziale Konstruktion, bewusst in Kauf genommen oder produziert, um den eigenen Wohlstand zu sichern und zu steigern. Die Armut der Einen ist der Preis für den Reichtum der Anderen.
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Genauso ist die Migration kein Naturphänomen, kein Schicksal, sondern ebenfalls sozial konstruiert. Denn die Boote, welche die verarmten Fischer verkaufen, als das einzige, was sie noch kapitalisieren können neben ihrer Arbeitskraft, die niemand braucht, dienen dazu, anderen Armen zur Flucht zu verhelfen. Arbeitslos geworden suchen viele ihr Heil auf den Booten, die selbst schon das Produkt von Arbeitslosigkeit sind, und versuchen, in jenes Land, Europa, zu emigrieren, das ihre Arbeitslosigkeit und Armut verursacht hat. Schlepper kaufen nämlich die Fischerboote und schiffen die Verarmten über das Meer in Richtung Europa, wobei sie entweder ertrinken oder unterwegs als Schiffbrüchige von den großen Hightech-Booten, welche die Ursache ihrer Schiffsfahrt sind, aufgenommen werden oder wenn sie als humanes Strandgut an Europas Küsten landen, nur um später wieder zurückgewiesen zu werden. Armut ist kein Schicksal, sondern eine Konstruktion: Wenn vor Afrikas Küsten Fischer in kleinen Holzbooten mit hochsubventionierten Hightech-Fangflotten aus der EU um die Wette fischen, können erstere nur verlieren. Was am Ende bleibt ist der Verkauf des Bootes – z.B. an Schlepper, die die arm Gemachten dann vielleicht mit ihren eigenen Ex-Booten an die Küsten jenes Europas bringen, dessen Agrar-, Fischfang- oder Zinspolitik hinter dem Elend steht. All das passt zur Geschichte der Industrienationen, die immer eine Geschichte der Zerstörung von Strukturen ist; auch der eigenen. England beispielsweise ruinierte um der Industrialisierung willen seine Landwirtschaft, indem es Agrarprodukte aus den USA kaufte und so die Landbevölkerung arbeitslos und zu Arbeitern in der Stadt machte. Ergänzend zu dieser eigenen Industrialisierung erfolgte aber eine Deindustrialisierung von Ländern wie Indien, das noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Textilproduktion weltweit eine führende Position einnahm. Erst so – und nicht einfach durch wissenschaftlich-technologischen Fortschritt, wie Verfechter einer Wissensökonomie gerne behaupten – konnte England zum Baumwollverarbeiter Nr.1 aufsteigen. Auch in anderen Ländern wie China wurde diese Deindustrialisierungs-Strategie umgesetzt, wobei in letzterem Fall gezielt Opium und – man kennt solche „wars on drugs“ ebenso aus der Gegenwart – ein Krieg um Opium als Zerstörungsmittel eingesetzt wurden. Was als „Free Trade“ tituliert wird, war deshalb in Wirklichkeit stets ein äußerst unfairer Handel, in dem auf Freiheit nie sonderlich viel Wert gelegt wurde. Wozu auch passt, wie die Industrienationen gegenwärtig auf die Tatsache reagieren, dass ihnen nun selbst durch Billigarbeitskräfte des Südens eine Deindustrialisierung in arbeitsintensiven Branchen droht: Umgehend werden Schutzzölle und andere Handelshemmnisse errichtet; „Free Trade“ endet eben dort, wo die eigenen Interessen gefährdet sind. All dieser fragwürdigen Wirtschaftspraktiken nicht genug, laden speziell die USA auch noch ihre Schuldenlast auf die Schwellen- und Entwicklungsländer ab. Z.B. dann, wenn sie etwa China dazu bringen, Dollar-Stützungskäufe zu tätigen, weil die Währung schwächelt, gleichzeitig aber die Zinsen gesenkt werden müssen, um eine auf Pump lebende Gesellschaft und Ökonomie nicht völlig abschmieren zu lassen: Wo das passiert, werden die alten Logiken des Kolonialismus fortgeschrieben – auf Kosten des Südens, der auf diese Weise dem Norden seinen Reichtum finanziert. Europa ist also eine zweifache Festung. Die EU-Wirtschaftspolitik ist die Ursache der Verarmung, zwingt also die Einheimischen zum Verlassen
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ihrer Heimat, zwingt sie zur Emigration. Europa nimmt aber die Vertriebenen dann nicht auf, wenn sie an den Küsten Europas landen, sondern weist sie aus und zwingt sie wieder zur Rückkehr in ihre Heimat, die sie mangels Arbeit und wegen Armut, beides Produkte der EU, verlassen mussten. Diese Parabel von den Schiffen beschreibt den Kreislauf der Armut, den circulus vitiosus von Ausbeutung und Armut. Wir wollen nun das wirtschaftliche Denken, das zu dieser Spirale der Armut führt, punktuell näher untersuchen.
II Wie der freie Markt unfreie Knechte erzeugt Die Drohung mit Billiglöhnen in unterentwickelten Ländern und die Angst vor dem Verlust globaler Wettbewerbsfähigkeit geht zurück auf den Merkantilismus des 17. und 18. Jahrhunderts und dessen Verherrlichung des Handels. Siehe z.B. William Petty, Essays on Mankind and Political Arithmetic (1676): “The great and ultimate effect of trade is not wealth at large, but particulary abundance of silver, gold and jewels, which are not perishable, not so mutable as other commodities, but are wealth at all times, and in all places.” Für diesen Handel ist internationaler Wettbewerb schlecht, denn die anderen Völker könnten versuchen, uns diesen Goldschatz wegzunehmen. Wenn James Goldsmith in The Trap (1994) schreibt: „During the past few years, 4 billion people have suddenly entered the world economy, these new entrants into the world economy are in direct competition with the work forces of developed countries. They have become part of the same global labor market“ 2 , so hören wir noch das Echo des Merkantilismus. Adam Smith (The Wealth of Nations, 1776) und David Ricardo definierten die politische Ökonomie im 18. und 19. Jahrhundert neu, indem sie als Reaktion auf den Merkantilismus den Reichtum einer Nation nicht in Gold, sondern in Arbeit und Produktionskraft maßen. Daher müsse man vor Wettbewerb keinerlei Angst haben, sondern darin komparative Vorteile suchen, “the theory of comparative advantage”. Was für Individuen gilt, gilt auch für Nationen. Jede spezialisiert sich in dem Feld, worin sie vergleichsweise am besten ist. Darauf soll der Handel aufgebaut sein. Ist eine Nation besser in der industriellen Produktion, soll sie sich darauf spezialisieren und agrikulturelle Produkte importieren. Der Markt und der Handel werden für den Ausgleich der Produkte, der Preise, der Löhne, der Interessen sorgen. Großbritannien spezialisierte sich auf die industrielle Produktion, importierte agrikulturelle Produkte und ruinierte seine Landbevölkerung. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war die britische Bevölkerung zu 70% Landbevölkerung, am Ende des 19. Jahrhunderts war die Landbevölkerung fast verschwunden. Die Bauern, ruiniert durch die Substitution ihrer einheimischen
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Produkte durch importierte Güter, flohen das Land und zogen in die Städte, um in den Fabriken Arbeit zu finden. Der Mythos der Stadt als Jobmaschine begann, der heute noch Ursache der „Verslumung“ der Welt ist.3 Die Romane von Charles Dickens und die Bücher von Henry Mayhew, z.B. London Labour and the London Poor (1851), erzählen vom Schmutz der Industriestädte und vom Prekariat der neuen Arbeiterklasse. Die Theorie der Spezialisierung wurde auch „globalisiert“. Nachdem Großbritannien sich für die industrielle Revolution entschieden hatte, musste es nach Ländern suchen, die im Gegenteil sich entindustrialisierten und auf Agrikultur setzten. Da die anderen europäischen Länder den gleichen Weg gingen wie Großbritannien, konnten es nur die Länder der Dritten Welt unter der Herrschaft Großbritanniens sein wie Indien. Als Gegenstück zur britischen Industrialisierung wurde Indien deindustrialisiert. Das war eine strukturelle Notwendigkeit. Der Ruin der industriellen Basis von Indien war der notwendige Preis für den industriellen Aufstieg Englands im Zeitalter des Kolonialismus. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts exportierte Indien Textilien, seine Baumwollindustrie war hoch entwickelt. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurden 3/4 der Textilien aus England importiert. Da England Weizen und andere Nahrungsmittel aus den USA bezog, spezialisierte sich Indien auf Produkte, die seine Nahrungsversorgung nicht mehr garantierten. Es konnte nicht mehr genügend Nahrung importieren, wenn die Handelsbilanz nicht stimmte. Hungerepidemien waren die vorprogrammierte und regelmäßige Folge der Deindustrialisierung Indiens als Gegenstück zur Industrialisierung Englands. So war der „freie Handel“ nur der Vorwand, die eigene Industrialisierung auf Kosten anderer Nationen voranzutreiben, also den Reichtum der einen Nation auf Kosten der Armut einer anderen Nation zu vermehren. So wurde Großbritannien zur führenden Industrienation des 19. Jahrhunderts, was heute die USA mit gleich desaströsen Effekten für die Dritte Welt sind. Das beste Beispiel ist der berühmte „Opiumkrieg“. In Indien konnten Mohnfarmen am besten (comparative advantage) kultiviert werden, der beste Markt war der Nachbar China. China wusste aber um den schädigenden Effekt von Opium auf seine Bevölkerung und verbot den „freien Handel“ mit Opium. Großbritannien erklärte daher China den Krieg, den berüchtigten „Opiumkrieg“, und zwang China 1842, Opium zu importieren. Der freie Handel, durch einen Krieg erzwungen, diente Großbritannien und seinem Export von Opium. Heute glauben die Menschen im Westen, unterstützt von der Parfüm-Industrie, Opium sei eine chinesische Erfindung, siehe das Parfüm „Opium“ von YSL – Yves Saint Laurent. Das erzwungene Elend eines Volkes wird diesem noch als eigene Erfindung aufgebürdet. Es bedurfte eines Jahrhunderts und der Kommunistischen Revolution, um dieses Desaster des „freien Handels“ zu beseitigen. Heute führen die USA einen „Drogenkrieg“ gegen Kolumbien und andere südamerikanische Staaten, deren Deindustrialisierung und Enteignung durch ausländische Investoren sie erzwingen. Anstatt
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des britischen „Opiumkriegs“ im Namen des Freihandels führen die USA heute „Ölkriege“ im Namen der Freiheit gegen die arabischen Golfstaaten. Die führende Industrienation des 20. Jahrhunderts, die USA, führt seit 1945 so viele Kriege gegen die Staaten des Ostens und Südens, destabilisiert so viele Regionen von Iran bis Afghanistan, von Vietnam bis Venezuela, um diese Nationen in ihrem ökonomischen Einflussbereich, als Abnehmer ihrer Produkte, als Zulieferer ihrer Ressourcen, als „entindustrialisierte“ Zonen zu sichern. Wenn ein unterentwickeltes Land industrialisiert wird, dann geschieht die Industrialisierung durch transnationale Firmen ihrer Hemisphäre, wenn sie nicht überhaupt in Händen der USA bleibt. Daher arbeiten die Nationen des Ostens, z.B. die vier Tigerstaaten Asiens (Hongkong, Singapur, Südkorea, Taiwan), so hart an ihrer Industrialisierung, und zwar mit Erfolg.
Wachstumsraten in Prozent. In: Daniel Cohen, The Wealth of the World and the Poverty of the Nations, 1998, S. 24.
Nun beginnen aber die Staaten des Nordens, die Effekte der Globalisierung, des Welthandels und des Freihandels zu fürchten, nämlich dass sie aufgrund der Billiglöhne der Dritten Welt deindustrialisiert werden. Seit 1990 steigt der Anteil des Beitrags der Dritten Welt zum industriellen Sektor unaufhörlich. Textil- und Stahlindustrie, Aufzug- und Autoindustrie in den ehemaligen Industrieländern des Nordens werden defizitär, werden zugesperrt unter dem Druck des Südens. Amerika schließt seine Häfen, schützt seine Stahlindustrie durch Schutzzölle. Europa überlebt ohnehin nur durch EU-Protektionismus und Preisbindung aller Sorten. Schluss ist mit dem „free trade“, denn dieser galt nur, wenn er den eigenen Interessen diente. Nun fürchtet die Erste Welt wieder das „Defizit“. Die fortschreitende Industrialisierung Chinas und anderer Staaten des Ostens zwingt die Erste Welt zur Spezialisierung (wie einst die Dritte Welt im 19. Jahrhundert) im tertiären Sektor, den Dienstleistungen, der Software und der Luxusgüter. Neo-Ricardo-Ökonomen wie Eli Heckscher, Bertil Ohlin und Paul A. Samuelson gehen davon aus, dass viele industrialisierte Länder sich in Gütern auszeichnen, die wenig Arbeit, aber viel Kapital, also Maschinen benötigen und dass arme agrikulturelle Länder Güter produzieren, die wenig Kapital und viel Arbeit benötigen. Der Handel zwischen reichen
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und armen Ländern wird also ein Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt der reichen Länder mit sich bringen. Durch Billigprodukte aus dem Süden verlieren Arbeiter im Norden ihren Job oder arbeiten selbst billiger. Diese Ideologie wird in der Tat dazu verwendet, um Löhne zu drücken. Aber in Wahrheit ist es falsch, dass Industrieländer kapitalintensive Güter exportieren und arbeitsintensive Güter importieren, wie Wassily Leontiefs Paradox in den 1950er Jahren zeigte. Die USA exportierten mehr arbeitsintensive Güter als sie importierten. Der Unterschied liegt in „skilled labor“, in qualifizierter Arbeit. Die Zahl der Arbeitsplätze, die Exporte erzielen, kann kleiner sein als die Zahl der Arbeitsplätze, die Importe beseitigen. Das heißt aber nicht, dass Exporte Kapital gut belohnen und Arbeit schlecht. Das heißt nur, dass Exporte weniger Stunden für besser ausgebildete Arbeiter besser bezahlen als schlecht ausgebildete. Daher ist Ausbildung wichtiger als Statistik. Der Arbeitsmarkt ist also der Ort, und nicht der Freihandel, an dem zu unterscheiden ist, wie der „Reichtum der Nationen“ (Adam Smith) sich in den „Reichtum der Welt und die Armut der Nationen“ 4 (Daniel Cohen) verwandeln konnte oder wie es zu den “Misfortunes of Prosperity” 5 (ebenfalls David Cohen) kommen konnte. Auch Jeffrey D. Sachs, Direktor des UN-Millennium-Projekts zur globalen Armutsbekämpfung, gesteht in Das Ende der Armut – Ein ökonomisches Programm für eine gerechtere Welt (2005) ein, dass „vor einigen Jahrhunderten (…) alle ein ähnliches Einkommensniveau hatten“ und „die Entwicklung von universeller Armut zu unterschiedlichen Graden wirtschaftlichen Wohlergehens sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte innerhalb sehr kurzer Zeit vollzog.“ 6 Die heutige Kluft zwischen reichen und armen Ländern ist Folge des modernen Wirtschaftswachstums. Im Jahre 1820 differierte das Pro-Kopf-Einkommen zwischen Großbritannien und Afrika in einem Verhältnis von 4:1. Im Jahre 1998 zwischen den USA und Afrika 20:1.
BIP pro Kopf nach Regionen 1820 und 1998 In: Jeffrey D. Sachs, Das Ende der Armut, 2005, S. 44.
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Anhaltendes Wirtschaftswachstum oder keines hat die heutige extreme Ungleichheit hervorgebracht. Aber, sagt Sachs, „diese langfristigen Produktionszuwächse in der reichen Welt wurden hauptsächlich durch technische Erfindungen angeschoben, nicht durch Ausbeutung der armen Länder“7. Er übersieht, dass die Entindustrialisierung und damit die fehlenden technischen Erfindungen verordnet waren, und notfalls durch Kriege. Der Unterschied zwischen agrikulturellen und industriellen Produktionen war ja die hauptsächliche Ursache des amerikanischen Bürgerkriegs selbst und nicht die Sklavenfrage. Erzwungene Deindustrialisierung eines Teils der Welt, den Schwächeren aufgezwungener monolateraler Freihandel, Enttechnisierung, Ausbeutung der Ressourcen durch ausländische Investoren und transnationale Firmen sind die Säulen modernen Wirtschaftswachstums für Europa und die USA und die strukturellen Ursachen für die universelle Armut und das Elend in der Dritten Welt, nicht zufällig meist ehemalige Kolonialländer. Dennoch schreibt J. D. Sachs: „Eine verbreitete Vorstellung sollten wir von vornherein aufgeben. Viele Menschen nehmen an, die reichen Länder seien reich geworden, weil die Armen arm wurden. Mit anderen Worten: Europa und die Vereinigten Staaten hätten während der Kolonialzeit und danach ihre militärische und politische Macht erfolgreich eingesetzt, um an den heute ärmsten Regionen ihren materiellen Vorteil zu ziehen“ 8. Nicht die Reichen, die Armen sind selbst schuld, dass sie arm sind. Im Abschnitt „Die Armutsfalle: Die Armut selbst als Ursache wirtschaftlicher Stagnation“ heißt es, „dass die Armen ihr natürliches Kapital aufbrauchen, indem sie Bäume fällen, die Böden auslaugen, ihre Bodenschätze abbauen und die Gewässer überfischen“ 9. Also die Armen selbst, die zwar kein Kapital haben, und nicht die kapitalintensiven ausländischen Firmen überfischen und bauen Ressourcen ab. Für so einen gefälligen Unsinn wird man natürlich für die New York Times zum „wichtigsten Ökonomen der Welt“ und später vielleicht sogar Nobelpreisträger für Ökonomie durch die Zentralbank von Schweden. Auf alle Fälle bekam sein Buch Das Ende der Armut ein Vorwort von Bono, dem Sänger der Popgruppe U2, Steuerflüchtling und gnadenloser, prozessierender Ausbeuter des Monopols der Musikindustrie. Denn Bono und Sachs wollen die Welt verbessern, ohne ihre eigenen Privilegien zu verschlechtern. Sie wollen eine Umverteilung von reich und arm, ohne dass sie selbst ärmer würden, also im Grunde keine Umverteilung. Sie wollen, wie Warren Buffett, Bill Gates, Richard Branson und wie die Superreichen dieser Welt heißen – die Armen der Welt retten, aber weiter reich bleiben, d.h. ohne strukturelle Transformationen vorzunehmen, die auch ihren Reichtum, z.B. im Monopol der Software, antasten würden. Anders und besser ist das Buch von Jean Ziegler, Das Imperium der Schande. Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung (2005), dessen Motto lautet: „Es kommt nicht darauf an, den Menschen der Dritten Welt mehr zu geben, sondern ihnen weniger zu stehlen.“ 10 30 Konzerne des
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Nordens beherrschen den gesamten Weltgetreidehandel. 10 transkontinentale Gesellschaften (Aventis, Monsanto) kontrollieren mehr als ein Drittel des Weltmarktes für Saatgut, das sind 23 Milliarden Dollar. 80% des Marktes für Schädlingsbekämpfungsmittel (28 Milliarden Dollar pro Jahr) werden von transkontinentalen Firmen beherrscht (Aventis, Monsanto). Dass diese Herrschaft über den Weltmarkt auch erkauft wird durch Allianzen mit Folter und Feudalismus, mit Despoten und Tyrannen der Dritten Welt, mit europäischen Banken und deren Geheimkonten für veruntreute Gelder der Entwicklungshilfe in Milliardenhöhe, mit Korruption und Massensterben, belegt er mit zahllosen Beispielen. Jean Ziegler, UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, zeigt in Wie kommt der Hunger in die Welt? (2002), nie war die Welt reicher und nie waren Elend und Hunger größer. 100.000 Menschen sterben täglich, obwohl das Bruttosozialprodukt in den letzten 200 Jahren um das Fünfzigfache angeschwollen ist. Im Jahr 2000 kontrollierten die 500 größten Konzerne 52% der auf der Welt produzierten Güter. Das Komplott der Konzerne, ihre Komplizenschaft mit korrupten Diktatoren und Banken, eine Allianz der Korruption zwischen den Feudalherren und Eliten des Nordens und Südens, siehe die anhaltenden Korruptionsaffären des Weltkonzerns Siemens in den Jahren 2006 und 2007, sind die Ursache für die Armutsspirale, für Elend und Hunger in den Ländern des Südens. Vergleichbar zeigt Mike Davies in Planet of Slums (2006), wie korrupte Staaten- und Konzernlenker, Weltbank und das SAP (Structural Adjustment Program) des IMF (International Monetary Fund) als Resultat die Verslumung der Welt erzeugen, gesteigerte Armut der Vielen zugunsten gesteigerten Reichtums ganz weniger. Mehr als 1 Milliarde Menschen leben in Slums in den Städten des Südens, Megastädte mit mehr als 8 Millionen und Hyperstädte mit mehr als 20 Millionen Einwohnern. Zur Zeit der französischen Revolution betrug die gesamte urbane Bevölkerung der Welt 20 Millionen Menschen. 2030 werden 2 Milliarden Menschen in Slums leben, die Hälfte der Stadtbevölkerung der Welt wird in extremer Armut leben. Die Mehrheit der Menschen, 4 Milliarden, wird in Städten der Dritten Welt leben. Die Hälfte davon von Abfällen.
Bevölkerungswachstum weltweit In: Mike Davies, Planet of Slums, 2006, S. 3.
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Die Einwohnerzahl der Megacities der 3. Welt (in Millionen) In: Mike Davies, Planet of Slums, 2006, S. 4.
Vor allem warnt Davies vor der Illusion der Hilfe zur Selbsthilfe. Auch Jeremy Seabrook warnt in In the Cities of the South (1996) vor dem unverantwortlichen Mythos der Selbsthilfe. “It would be foolish to pass from one distortion – that the slums are places of crime, disease and despair – to the opposite: that they can be safely left to look after themselves.” 11 Die Ethik der Entwicklungspolitik. Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung (2003) fasst ihr Autor Thomas Kesselring so zusammen: Die Kluft zwischen dem reichsten und dem ärmsten Fünftel der Weltbevölkerung hat sich im 20. Jahrhundert versiebenfacht. Nur die Einkommen des reichen Fünftels steigen, für die übrige Welt sinken die Einkommen. Die Entwicklungsländer (ca. 100) erleben einen starken wirtschaftlichen Niedergang. Die Früchte des Wirtschaftswachstums betreffen eine kleine
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Minderheit der Weltbevölkerung: die reichsten 200 Personen besitzen so viel wie 48% der Weltbevölkerung zusammen. Von den 6 Milliarden der Weltbevölkerung leben 4,6 Milliarden in „Entwicklungsländern“, d.h. chancenlos. Sie sind mangelhaft ernährt, weil arbeitslos. Sie sind arbeitslos, weil ohne Ausbildung. Sie haben keine Ausbildung, weil keinen Zugang zu Ressourcen und Informationen. Sie können sich daher politisch nicht artikulieren und auf ihre Rechte pochen. Sie sind rechtlos, machtlos. Dazu passt, dass der Internationale Währungsfonds verschuldeten Ländern Privatisierung und die Senkung der Sozialabgaben vorschreibt, bevor er ihnen Geld gibt. Der IWF vereitelt den Zugang zu Bildung, Gesundheit, Saatgut etc. Er konstruiert „Entwicklungsländer“. Ohne Kaufkraft sind deren Bewohner vom Markt ausgeschlossen. Das ist das Ziel des „freien Marktes“ und des „freien Handels“: Ungleichheit, Unrecht, Unfreiheit, Ausschluss. „Die Liberalisierung des Kapitalmarkts“, schreibt Joseph Stiglitz, „erwies sich als nicht geeignet für Länder, die sich in Frühphasen der Entwicklung oder Transformation befanden“ 12, also für Entwicklungsländer. Der „freie Markt“ knechtet, macht die Länder des Nordens zu Herren und die Länder des Südens zu Sklaven. In Summe können wir feststellen: Der Freihandel ist oberstes Gebot. Er ist das Instrument eines massiven Transfers (von unten nach oben) und massiver Kontrolle (von oben nach unten). Ihm ist alles untergeordnet, vor allem Gerechtigkeit, Menschenrechte und gerechter Handel. Unfair Trade ist die Kehrseite von Free Trade.
III Die Schuldenspirale und Schurkenwirtschaft Die Rolle Englands im 19. Jahrhundert spielte Amerika im 20. Jahrhundert mit keiner Ausnahme: Die USA sind nicht nur die mächtigste Nation der Welt, sondern gleichzeitig auch die verschuldetste. Mit etwa 2.500 Milliarden Dollar sind die USA derzeit gegenüber dem Ausland verschuldet, insbesondere gegenüber China. Auch hier folgen die USA England. Seit Premierminister Sir Robert Walpole in den 1780er Jahren das Finanzierungssystem in England eingeführt hat, war das Geheimnis bekannt, dass Schulden der Regierung niemals zurückgezahlt würden müssen. Walpoles System bewährte sich bei der Finanzierung der britischen Expansion in Übersee und bei den Kriegen des Empires im 18. und 19. Jahrhundert. „Das britische Empire wurde auf mehr als dem Blut seiner Soldaten und Seeleute errichtet, es wurde auf Schulden errichtet.“ 13 Das amerikanische Volk gibt mehr Geld aus, als es einnimmt. Man nennt dies Konsumwirtschaft, und sie ist der Motor der Weltwirtschaft. In der Tat, das amerikanische Imperium beruht auf zwei Säulen: Massenkonsum und Militär. Der Militäretat der USA entspricht der Summe der Verteidigungsetats der 20 auf die USA folgenden Länder. Aber die USA
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können dies gar nicht finanzieren. Die Regierung gibt mehr Geld aus als sie hat und ebenso die Privathaushalte. Alle produzieren Defizite und leben von Krediten. Die US-Wirtschaft ist eine Schuldenwirtschaft. Wir leben in dem Paradox, dass der größte Schuldenstaat der Welt die Länder der Dritten Welt zu Schulden zwingt und sie mit Schulden erpresst. Dieses Paradox wiederholt sich auch mit dem Begriff Schurkenstaat (rogue state), den die Clinton-Regierung nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Blocks in den Jahren 1997 – 2000 in Umlauf brachte. Noam Chomsky in Rogue States. The Rule of Force in World Affairs (2000) und William Blum in Rogue State. A Guide to the World‘s only Superpower (2000) haben mit einer Vielzahl erdrückender Informationen gezeigt: „Der erste und gewalttätigste rogue state ist derjenige, der das Völkerrecht, als dessen Vorkämpfer er sich ausgibt, missachtet hat und fortwährend verletzt, jenes Völkerrecht, in dessen Namen er spricht, und in dessen Namen er gegen die so genannten rogue states in den Krieg zieht, wann immer es sein Interesse gebietet. Nämlich die USA.“ 14 „Der perverseste und gewalttätigste, der destruktivste der rogue states: das wären also die Vereinigten Staaten an erster Stelle und gelegentlich ihre Verbündeten“, schreibt Jacques Derrida weiter. Diese zwei Paradoxa, größter Schuldner der Welt und größter Schurkenstaat der Welt zu sein, der Panama, Nicaragua, Vietnam, Libyen, Irak, Sudan etc. nach Belieben bombardiert, Regierungen von Iran bis Chile nach Belieben absetzt, Währungen von Argentinien bis Mexiko nach Belieben entwertet, machen die USA zur „most dangerous nation alive“. Dazu kommt das dritte Paradox, dass die USA sich weigern, dem KyotoAbkommen zum Umweltschutz beizutreten, aber gleichzeitig größter Energieverbraucher der Welt sind, sie verbrauchen nämlich insgesamt fünfmal soviel wie der Rest der Welt. Ginge es nach der Energiegier der USA, müsste die Erde fünfmal größer sein als sie ist. Die Energiepolitik der USA ist der Gipfel der Schurkerei und ist Teil ihrer Schurkenwirtschaft, getarnt als „unsichtbare Hand“ des „freien Marktes“, aber geleitet von der sichtbaren regulierenden Hand der Zinspolitik der amerikanischen Notenbank, der Finanzpolitik der Weltbank und des IWF, und der umfassenden Subventionierungspolitik.
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„Im Jahr 2003 belief sich die öffentliche Entwicklungshilfe der Industrieländer des Nordens für die 122 Länder der Dritten Welt auf 54 Milliarden Dollar. Im selben Jahr haben diese Länder der Dritten Welt den Kosmokraten der Banken des Nordens 436 Millionen Dollar als Schuldendienst überwiesen“, schreibt Jean Ziegler in Das Imperium der Schande.15 Die Ärmsten der Welt arbeiten, um den Reichtum des Nordens zu finanzieren. „Die gesamte amerikanische Wirtschaft hängt inzwischen von den Ersparnissen armer Menschen an der Peripherie ab, ohne deren Geld sie in sich zusammenbrechen würde. Die Amerikaner konsumieren mehr als sie verdienen. Für die Differenz kommen freundliche Fremde auf – sparsame Asiaten, deren gewaltige Ersparnisse überall in den Vereinigten Staaten in Form von Marmorarbeitsplatten und Flachbildschirmen recycelt werden.“ 16 Verschuldung ist die neue Kolonialisierung und der Kreditmarkt, zu welchem Zinssatz Geldgeber ihr Geld kurzfristig verleihen und Kreditnehmer es entleihen, ihr bewusstes politisches Instrument. Nicht Dollars, sondern Kredite sind die eigentliche Währung im globalen Welthandel, und zwar eine politische Währung, deren zentrale Planer in der US-Notenbank entscheiden. Eigentlich leben wir daher in einer Planwirtschaft, in einer monetären Planwirtschaft. Durch Steuersenkungen und niedrige Zinssätze verlockt, „kauft die Nation Dinge, die sie sich nicht leisten kann und die sie nicht braucht, mit Geld, das sie nicht hat.“ 17 Denn irgendwo muss das Geld ja herkommen, z.B. aus China oder Japan. Auf Drängen der US-Notenbank musste Japan im Mai 2003 den USA helfen, die Zinssätze niedrig zu halten – durch den Ankauf von Dollars und in Dollars notierten Anlagen, vor allem US-Schatzbriefe. „Japan schöpfte in den nächsten 15 Monaten 35 Billionen Yen und liehen sie den Vereinigten Staaten. Die Japaner mussten ihren Bürgern mit 35 Billionen Yen die Dollars abkaufen, die sie durch Warenverkäufe an die Amerikaner aufgehäuft hatten. Hätte Japan dies nicht getan, wäre ihre Währung im Wert gestiegen und damit hätten ihre Güter auf dem US-Markt an Konkurrenzfähigkeit verloren. Zugleich finanzierten sie die amerikanischen Steuersenkungen, die der Weltwirtschaft wieder Schub gaben.“ 18 Die Vereinigten Staaten von Amerika sind Verschwenderstaaten, die immer weniger und weniger Dinge produzieren, die sie im Ausland verkaufen können. Sie konsumieren immer mehr Produkte aus dem Ausland, die sie aber nicht bezahlen können und daher von diesem Ausland diese Kredite bekommen, mit denen sie die auswärtigen Produkte bezahlen können. Die Rolle Japans hat heute China inne. Die chinesische Währung ist an den Dollar gekoppelt. Das macht China und die USA trotz aller politischer Unterschiede zu Verbündeten. Deswegen pumpt China die Ersparnisse seiner hart arbeitenden, von einer Diktatur ausgebeuteten, armen Bevölkerung in die amerikanische Volkswirtschaft, täglich 5 Millionen Dollar. Mit diesem Geld kaufen Amerikaner Produkte, die wiederum in China erzeugt werden, die sie aber nicht bezahlen können und dafür die Kredite von China brauchen. China wiederum braucht den
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amerikanischen Absatzmarkt und finanziert dadurch einen Boom im eigenen Land. China muss den Dollar stützen, weil seine eigene Währung daran gekoppelt ist. Eine Entwertung des Dollars würde ihre eigene Währung entwerten. China glaubt, wie der Rest der Welt, die USA seien der Motor der Weltwirtschaft, wo die Profitraten der Investitionen am größten sind. Das mächtigste Land der Welt hängt von den Ersparnissen und der Produktivität der ärmsten Länder ab. Dies funktioniert so lange, so lange es möglich ist, durch Geld- und Fiskalpolitik, die ein Imperium diktieren kann, einen Boom auszulösen, Inflationsraten auszugleichen, und solange die Peter Weibel, geboren 1944 in Odessa, Immobilienpreise in Amerika um einige studierte Medizin, Literatur, Film, PhiloMale schneller steigen als die nominelle sophie und Mathematik (modal logic) Inflationsrate und die Haushaltseinin Wien und Paris. Neben seinen Tätigkommen. Noch 2006 glaubte man, dass keiten als Künstler und Kurator machfallende Zinssätze und steigende ten ihn seine Schriften zur Kunst- und Hauspreise die amerikanische VolksMedientheorie international bekannt. wirtschaft sanieren können. Niemand Peter Weibel lehrte an zahlreichen Hochglaubte, dass die Immobilienpreise fallen schulen in Österreich, Deutschland und könnten. Heute, 2007, ist es soweit, dass den USA und gründete 1989 das Instider amerikanische Immobilienmarkt tut für Neue Medien in Frankfurt/Main. in einer tiefen Krise ist. Die Hoffnung, Der langjährige künstlerische Leiter der Häuser könnten immer teurer verkauft Ars Electronica in Linz, der von 1993 bis werden als sie gekauft wurden und von 1999 den österreichischen Beitrag zur diesen Differenzen könnten die MenBiennale von Venedig kuratierte, leitet schen leben, erfüllte sich nicht. Häuser seit Januar 1999 das Zentrum für Kunst wurden wie Futures gehandelt: Man und Medientechnologie in Karlsruhe macht Geschäfte mit den Margen und und ist Chefkurator der Neuen Galerie liefert die Ware nie aus. Häuser wurden Graz am Landesmuseum Joanneum. nicht als Wohnungen gekauft, sondern Im Januar 2007 erhielt er die Ehrenals Aktien. Niemand dachte daran, eines doktorwürde der University of Art and Tages das Haus selbst kaufen zu müsDesign Helsinki. sen. Die meisten Amerikaner leben also in Häusern, die sie selbst nicht kaufen können. Sie leben vom Immobilienwert, d.h. von den Zinsen des vermeintlichen Wertes. Deswegen ist ein Haus so gut wie Geld auf der Bank. Wenn der Immobilienwert sinkt und die Häuser verkauft werden müssen, wird aus dem vermeintlichen Guthaben auf der Bank ein Defizit. Eine Wirtschaft, die von Immobiliendarlehen lebt, hängt daher von den Immobilienpreisen ab, die jetzt in den Keller gesunken sind. Das Vermögen der Amerikaner war virtuell. Die Kritik von Bonner und Wiggin 19 war richtig. Sie sahen die Immobilienpleite vom August 2007 und die Finanzkrise voraus, die nur durch hunderte Millionen Dollar Injektionen der Europäischen Zentralbank und durch Zinssenkung der US-Notenbank und andere „Rettungsaktionen“
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gestoppt werden konnte. Eine Rezession lag in der Luft. Umschuldungsmaßnahmen wie sonst nur für die Dritte Welt, waren für die USA notwendig. Es ist zu vermuten, dass der Immobilienmarkt ebenso rechtswidrig handelte wie die Großfirmen Enron und WorldCom. Nicht nur die handelnden Personen der US-Wirtschaft sind gelegentlich Schurken; ihr System des staatlich organisierten Kapitals ist Schurkenwirtschaft. Die Schulden der Entwicklungsländer sind eigentlich auch virtuell. Die armen Länder des Südens zahlen nämlich in Wahrheit den herrschenden Klassen der reichen Länder jährlich viel mehr Geld als sie von ihnen in Gestalt von Investitionen, Krediten und Entwicklungshilfe erhalten. „Im Jahr 2003 belief sich die öffentliche Entwicklungshilfe der Industrieländer des Nordens für die 122 der Dritten Welt auf 54 Milliarden Dollar. Im selben Jahr hatten diese Länder der Dritten Welt den Kosmokraten der Banken des Nordens 436 Millionen Dollar als Schuldendienst überwiesen“, schreibt, wie schon erwähnt, Jean Ziegler 20.
IV Finanzmarkt Die modernen ökonomischen Theorien, basierend auf eleganten mathematischen Modellen von Harry Markowitz, William F. Sharpe, Fischer Black, Myron S. Scholes und Paul A. Samuelson, meist Nobelpreisträger, haben es ermöglicht, die Architektur eines modernen Geldwesens zu errichten, das vollkommen unabhängig von der realen Arbeitswelt operiert. Diese Finanztheorien sind keine deskriptiven externen Analysen des Markts, neutral wie ein Fotoapparat, sondern sind intrinsische Teile und operative Elemente der Marktprozesse selbst, auf denen der Handel mit Derivaten, Optionen, Futures etc. aufgebaut ist, also der Handel Geld gegen Geld, Aktie gegen Aktie, und der die eigentliche Quelle des Reichtums von heute ist. Donald MacKenzie hat in „An Engine, Not a Camera. How Financial Models Shape Markets“ 21 diese Mechanismen genau untersucht. Einer der ersten kritischen Finanztheoretiker war übrigens der Austromarxist Rudolf Hilferding (1877 – 1941) mit seinen Werken Das Finanzkapital (1910) und Theorie des organisierten Kapitals (1927). Den Grundstein für die moderne Finanztheorie legte Louis Bachelier (1870 –1946) mit seiner Dissertation Théorie de la Spéculation (1900) bei dem berühmten Mathematiker und Physiker Henri Poincaré. In der Einleitung schrieb er: „Es gibt unzählige Faktoren, von denen die Aktualität an der Börse bestimmt wird, so etwa laufende oder erwartete Ereignisse, die oft in keiner erkennbaren Beziehung zu Kursänderungen stehen … die Feststellung dieser Aktivität hängt von einer unendlichen Zahl von Faktoren ab. Deshalb kann man unmöglich auf eine mathematische Vorhersage
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Tsuyoshi Ozawa, Marquette of the Museum of Soy Sauce Art, 1999, Installationsansicht, Museum of Soy Sauce Art Annex, Ota Fine Arts, Tokyo, Japan, in Zusammenarbeit mit dem Quest House-Tokyo, verschiedene Materialien, 110 x 147 x 68 cm, © the artist, Courtesy Ota Fine Arts, Tokyo, Collection Lambert Avignon, Frankreich
hoffen … Es ist aber möglich, den Zustand des Marktes in einem bestimmten Augenblick mathematisch zu untersuchen – das heißt, die Gesetze der Wahrscheinlichkeit von Kursänderungen zu formulieren, die der Markt in diesem Moment diktiert. Wenn der Markt auch seine Fluktuationen nicht wirklich vorhersagt, so schätzt er sie doch als mehr oder weniger wahrscheinlich ein, und diese Wahrscheinlichkeit kann mathematisch bewertet werden.“ Bachelier versuchte also, die Wahrscheinlichkeit abzuschätzen, mit denen Kurse sich ändern würden. Dies gelang ihm auch durch eine Analogie zwischen der Ausbreitung von Wärme durch eine Substanz und den Kursveränderungen einer Anleihe. In Anlehnung an Joseph Fouriers (1768 –1830) Gleichungen der Wärmeausbreitung konnte er die Wahrscheinlichkeit berechnen, mit der Kurse von Anleihen fallen oder steigen würden. „Unwissentlich gehorcht der Markt einem Gesetz, das ihn regiert, dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit.“ Er nannte seine Methode „Streuung der Wahrscheinlichkeit“. Die Frage ist nur, handelt es sich in der Wirtschaft um die Abschätzung von großer Streuung, großer Abweichungen bzw. Fehler oder um kleinere. Die „milde“ Form der Verteilung eines Zufallsprozesses ist die „Normalverteilung“, ausgedrückt in der berühmten „Glockenkurve“, die wir A. M. Legendre (1752 –1833) (Über die Methode der kleinsten Quadratzahlen, 1806) und C. F. Gauß verdanken. Die „wilde“ Form verdanken wir A. L. Cauchy (1789 –1857), der 1853 einen blinden Bogenschützen (statt blinden Uhrmacher) ersann, der auf das auf eine unendlich lange Wand gemalte Ziel schießen sollte. Dabei kann ein Fehlschuss, der einen Kilometer weit daneben fliegt, statistisch 100 Schüsse überlagern, die einen Meter vom Ziel trafen. Die Fehler konvergieren Daten auf keinen Mittelwert. Ihr Erwartungswert
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ist unendlich und daher auch ihre Varianz, ihre Abweichung. Dies ist die „wilde“ Form des Zufalls. Bachelier hat die Gauß’sche Normalverteilung, die Glockenkurve, auf die Analyse der Finanzmärkte übertragen: die Kursänderungen bilden eine Reihe unabhängiger und gleichverteilter Zufallsvariablen. Benoît B. Mandelbrot ist der Auffassung, dass die Finanzwelt von „wildem“ Zufall, dem blinden Bogenschützen Cauchys, beherrscht wird.22 Die Vorstellung von Zufall auf den Märkten ist schwer zu begreifen. Damit soll aber nur ausgedrückt werden, dass Kurstabellen nicht vorhersagbar sind, genauso wenig wie die Bewegung von Teilchen in einem Magneten oder von Molekülen in Gas. Wie die nach Robert Brown benannte Brownsche Bewegung der Gasmoleküle, sind auch die finanziellen Transaktionen von Millionen von Menschen nur statistisch erfassbar. Deswegen konnte Harry Markowitz, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, mit W. Sharpe und Merton Miller sein Marktmodell auf dem Lehrbuch Introduction to Mathematical Probability (1937) von J.V. Uspensky aufbauen. Immer wieder nutzen auch heute Naturwissenschaftler, z.B. Astrophysiker oder Informatiker, ihre mathematischen Kenntnisse, um an den Bakkara- oder Roulettetischen von Monte Carlo oder Las Vegas ungewöhnliche Gewinne zu erzielen. In der Tradition von Blaise Pascal kombinieren sie Mathematik und Glücksrad. Siehe das Buch The Newtonian Casino von Thomas A. Barr (1991). Der Titel verweist darauf, dass das Spiel des Zufalls, das Glücksspiel, berechenbar und damit zu Gunsten des Spielers beeinflussbar ist. Das Schicksal ist machbar, Herr Nachbar, lautet die Botschaft. Wenn allerdings die Form des Zufalls im Wirtschaftsleben zu „wild“ ist, im Sinne von Mandelbrot, also der blinde Bogenschütze dominiert und überhaupt keine „erkennbare Beziehung zu Kursänderungen“ (Bachelier) bestehen, wenn also der Kapitalismus zu wild wird, zu einer reinen Lotterie verkommt, dann spricht man bekanntlich von Casino-Kapitalismus, im Gegensatz zum Newtonian Casino, das berechenbar ist. Der Finanzmarkt ist also letzlich der blinde Bogenschütze, der die globale Armut hervorbringt, allerdings bewußt gestützt vom „organisierten Kapital“ (R. Hilferding). Bewusste Anwendung der Gesetze des Kapitalbzw. Finanzmarkts erzeugt den unfairen Handel.
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Anmerkungen 1
Englische Übersetzung des Spinoza-Zitats: „The whole idea of the sea is in any drop of water“.
2
James Goldsmith (1994), S. 26 –27.
3
Vgl. Mike Davies (2006).
4
Vgl. Daniel Cohen (1998).
5
Vgl. Daniel Cohen (1995).
6
Jeffrey D. Sachs (2005), S. 41.
7
a.a.O., S. 46.
8
Ebda
9
a.a.O., S. 75.
10
Vgl. Jean Ziegler (2005).
11
Jeremy Seabrook (1996), S. 197.
12
Joseph Stiglitz (2002), S. 31.
13
Vgl. H.A. Scott Trask (2004).
14
Jacques Derrida (2003), S. 136.
15
Jean Ziegler (2005), S. 69.
16
Bill Bonner, Addison Wiggin (2006), S. 12 –13.
17
a.a.O., S. 359.
18
a.a.O., S. 380 –381.
19
Vgl. Bill Bonner, Addison Wiggin (2006).
20
Jean Ziegler (2005), S. 69.
21
Vgl. Donald MacKenzie (2006).
22
Vgl. Benoît B. Mandelbrot, R. L. Hudson (2004).
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Bibliografie Bill Bonner, Addison Wiggin, Das Schuldenimperium, München: Riemann Verlag, 2006. Daniel Cohen, The Misfortunes of Prosperity: An Introduction to Modern Political Economy, Cambridge, Mass.: MIT Press, 1995. Daniel Cohen, The Wealth of the World and the Poverty of Nations, Cambridge, Mass.: MIT Press, 1998. Mike Davies, Planet of Slums, London, New York: Verso Verlag, 2006. Jacques Derrida, Schurken, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 2003. James Goldsmith, The Trap, New York: Carroll & Graf Verlag, 1994. Donald MacKenzie, An Engine, Not a Camera, Cambridge, Mass.: MIT Press, 2006. Benoît B. Mandelbrot, R. L. Hudson, Fraktale und Finanzen: Märkte zwischen Risiko, Rendite und Ruin, New York: Basic Books, 2004. Jeffrey D. Sachs, Das Ende der Armut – Ein ökonomisches Programm für eine gerechtere Welt, Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn, 2005. Jeremy Seabrook, In the Cities of the South: Scenes from a Developing World, London, New York: Verso Verlag, 1996. Joseph Stiglitz, Die Schatten der Globalisierung, Berlin: Siedler, 2002. H.A. Scott Trask, Perpetual Debt: From the British Empire to the American Hegemon, Ludwig von Mises Institute, veröffentlicht am 27.1.2004, http://www.mises.org/story/1419. Jean Ziegler, Das Imperium der Schande. Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung, München: Bertelsmann Verlag, 2005.
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Globalisierung bis 1000
Im 9. Jahrhundert zeichnet sich mit dem normannischen Abenteuer am Rande Westeuropas eine zerbrechliche Weltwirtschaft von kurzer Dauer ab. Deren Erbe Andere antreten.
Laut Plinius dem Älteren verlor Rom bei seinem Handelsaustausch mit dem fernen Osten jährlich hundert Millionen Sesterzen, noch heute findet man römische Münzen in Indien.
Im Jahr 1000 sind die Schiffe und die Navigationskunst in Europa nicht weiter entwickelt als zur Zeit des Römischen Reichs. Der Fortschritt setzt ein, als Venedig 1104 seine staatliche Werft, das Arsenal, errichtet, um seine Galeeren zu bauen und die Konstruktion der Schiffe zu verbessern.
Im Jahr 1000 entfallen auf Asien (ohne Japan) über zwei Drittel des Welt-BIP, während Westeuropa weniger als 9% hervorbrachte.
Zwischen dem 1. Jahrhundert und dem Jahr 1000 geht der Lebensstandard in Westeuropa drastisch zurück. Die Urbanisierungsraten sind der deutlichste Beweis dafür, dass das Jahr 1000 einen Tiefpunkt darstellte.
Im 9. und 10. Jahrhundert bestehen die Handelsaktivitäten Venedigs hauptsächlich darin, Konstantinopel mit Getreide und Wein aus Italien, Holz und Sklaven aus Dalmatien und Salz aus seinen Lagunen zu beliefern und Seide und Gewürze zurückzubringen.
Montierte Quellen: Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Der Handel. Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Aufbruch zur Weltwirtschaft. Angus Maddison, Die Weltwirtschaft: Eine Milleniumsperspektive. Jürgen Osterhammel, Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Wikipedia, Globalisierung (Stand: 15.8.2007). Montiert von Michaela Ritter
Anschwellende Gerechtigkeit Über die post-ökonomistische Suche nach einer fairen Weltwirtschaft Von Christian Eigner und Michaela Ritter
I Die große Ungleichheit Die Industrienationen brauchen Stahl: 42% der aktuellen Weltproduktion werden in den Großregionen EU, USA und Japan verbaut oder anders verbraucht; noch einmal 22% der Gesamtmenge fließen in das Noch-Schwellenland China. Verschwindend klein ist neben solchen Volumina der Stahl-Bedarf der Entwicklungsländer. Gerade einmal 5% des auf diesem Planeten hergestellten Stahls wird etwa in Lateinamerika verarbeitet; in Afrika sind es überhaupt nur 2%.1 Was schon problematisch genug erscheint, wenn man bedenkt, dass Stahl für Infrastrukturen, Bauwirtschaft und Wirtschaftsentwicklung steht. Noch problematischer macht diese große Differenz zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern aber, dass die Verhältnisse bezüglich des Vormaterials von Stahl genau umgekehrt sind: Nahezu 50% desselben stammt aus Entwicklungsländern mit unterem, respektive unterem mittleren Einkommen (vgl. zur Länder-Typologie nach Einkommen Tabelle 1); mithin aus jenem Süden, in dem so gut wie kein Stahl verbaut oder verbraucht wird. Die notwendigen Erze werden zwar in der südlichen Hemisphäre gewonnen; das, was durch Veredelung – also durch die Erzeugung von Stahl – aus diesem Rohstoff gemacht wird, fließt jedoch nicht mehr in die Entwicklungsländer zurück. Ähnliches lässt sich über Bauxit sagen, der die Basis der Aluminiumherstellung bildet. Oder über Erdöl und Ergas: Beispielsweise liegen nur 5% der Erdölreserven in den Industrienationen. Doch nicht weniger als die Hälfte aller Mengen an Öl und Gas, die auf den Weltmarkt gelangen, wird von den Industrienationen konsumiert.
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Tabelle 1: Ländertypologie nach Einkommen Industrieländer mit einem Einkommen im Schnitt zwischen 20.000 und 70.000 Dollar pro Jahr Andorra Australien Belgien Dänemark Deutschland Färöer-Inseln Finnland Frankreich Gibraltar Griechenland Grönland Großbritannien Irland Island Israel Italien Japan Kanada Liechtenstein Luxemburg Malta Monaco Neuseeland Niederlande Norwegen Österreich Portugal San Marino Schweden Schweiz Spanien St. Pierre Miquelon USA
Entwicklungsländer mit hohem Einkommen zwischen 15.000 und 30.000 Dollar pro Jahr Aruba Bahamas Barbados Bermuda Brunai Cayman Islands Französisch Polynesien Guam Hong Hong Katar Kuwait Macau Singapur Slowenien Vereinigte Arabische Emirate Zypern
Entwicklungsländer mit oberem mittlerem Einkommen zwischen 6.000 und 19.000 Dollar pro Jahr Antigua und Barbuda Argentinien Bahrain Botsuana Brasilien Chile Costa Rica Dominikanische Republik Estland Gabun Grenada Republik Korea Kroatien
Libanon Libyen Mauritius Mexiko Polen Saudi Arabien Samoa Seychellen Slowakei Südafrika Tschechische Republik Türkei Ungarn Uruguay Venezuela
Entwicklungsländer mit unterem mittlerem Einkommen zwischen 3.500 und 9.500 Dollar pro Jahr Ägypten Albanien Algerien Bosnien Herzegovina Bulgarien Guatemala Irak Iran Jamaika Lettland Litauen Kuba Mazedonien Namibia Peru Philippinnen Rumänien Russland Volksrepublik China
Und natürlich gilt all das auch für die Landwirtschaft, oder genauer gesagt: für landwirtschaftliche Rohstoffe. Die EU der 15 verfügte vor einigen Jahren etwa über 85 Millionen Hektar Acker- und über 65 Millionen Hektar Weideland. Zusätzlich zu diesen in der Europäischen Union liegenden Flächen waren noch einmal 43 Millionen Hektar Landwirtschaftsraum außerhalb Europas für die Agrarbedürfnisse der Union
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Entwicklungsländer mit niedrigem Einkommen zwischen 360 bis 2.600 Dollar pro Jahr Afganistan Angola Bangladesh Burkina Faso Elfenbeinküste Ghana Indonesien Kambodscha Kamerun Kenia Indien Lesotho Madagaskar Mosambik Nepal Simbabwe Ukraine Uganda Tansania Vietnam
Quelle: FAIR FUTURE. Begrenzte Ressourcen und Globale Gerechtigkeit. Hg. vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie.
abgestellt; und zwar vornehmlich in den Entwicklungsländern: 80% dieser 43 Millionen Hektar lagen in letzteren, wobei sie allerdings nicht nur dazu da waren, um den europäischen Bedarf an Kaffee abzudecken. Aus den Entwicklungsländern (wie auch aus Ländern wie Brasilien) kommen ebenso jene gewaltigen Volumina an Soja und Sojaprodukten, die die Europäer u.a. für ihre Tiermast benötigen. Die damit auf Kosten der Länder des Südens erfolgt, deren Landwirtschaften es deswegen an Anbauflächen fehlt. Auch wenn sich die Situation in den vergangenen 20 Jahren verändert hat und Asien einen Aufholprozess sondergleichen durchlaufen hat: Viele Entwicklungsländer sind „RohstoffÖkonomien“ geblieben, die sich nicht diversifizieren können und dementsprechend keine komplexen Wirtschaftssysteme hervorbringen. In den Industrienationen des Nordens hingegen werden Rohstoffe veredelt – was das deutlich bessere und auch ökologischere Geschäft ist. Diese unterschiedlichen wirtschaftlichen Ausrichtungen – Grundstoff- vs. Veredelungsökonomie – sind die Quelle der Ungleichheit auf diesem Planeten, die weiter anwächst: Im Norden ist ein „Club der Reichen“ entstanden, der immer homogener wird. Viele Länder, die 1961 noch die Chance hatten, in diesen „Club“ aufzusteigen, sind stattdessen zu Dritt- und Viertweltländern abgestiegen. So besehen ist es nicht verwunderlich, dass Gerechtigkeit auch in der ökonomischen Theorie wieder zu einem Groß-Thema geworden ist. Wobei es nicht bloß um Verteilungsgerechtigkeit geht: Für den Ökonomie-Nobelpreisträger Amartya Sen etwa ist eine Gesellschaft dann gerecht, wenn ihre Mitglieder über die Freiheit verfügen, ihre (menschlichen) Fähigkeiten in umfassendem Maße zu realisieren, wenn also die Menge an „Verwirklichungschancen“ zunimmt. Was nur dann möglich ist, wenn es eine Vielzahl von Institutionen gibt, die von der Bildung bis hin zu medizinischer Versorung die Entwicklung von Menschen sicherstellen. Ein gerechter Welthandel ist dem zu Folge eine höchst politische Angelegenheit. Denn die Verwirklichungschancen werden nur dort zunehmen, wo es eben ein komplexes institutionelles Setting in obigem Sinne gibt, für das aber nur die Politik sorgen kann, was keine einfache, aber doch eine bewältigbare Aufgabe ist. Denn genau solche Gestaltungsleistungen zu erbringen, ist das „eigentliche Wesen“ der Politik – auch wenn es scheint, dass dies vergessen worden ist. Nach wie vor ist also der Süden der Rohstoffproduzent und -lieferant des Nordens, was am Beispiel Afrika besonders drastisch deutlich wird: 70% aller Exporte dieses Kontinents sind so genannte „Grundstoffe“ für verschiedenste Industrien, während sich die Ausfuhr von Industriegütern auf 30% beschränkt. Die afrikanischen Entwicklungsländer sind damit weiterhin primär Rohstoffökonomien; ein Befund, der noch vor 20 Jahren für die meisten Entwicklungsländer gegolten hätte, speziell in Asien aber seine Berechtigung verloren hat. Dort hat sich die Situation förmlich umgedreht und aus 70% Grundstoff-Export sind 70% Manufakturgüter-Ausfuhr geworden; der Handel mit Rohstoffen ist auf 30% gesunken.2 Womit diese Länder aufgehört haben, primär Grundstoffproduzenten zu sein und damit eine andere wirtschaftliche Entwicklung nehmen konnten.
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Trotz dieser asiatischen Entwicklungen ist (Welt-)Handel zwischen Nord und Süd noch immer zu einem großen Teil Rohstoff-Handel, was auf den ersten Blick nicht weiter tragisch erscheint, sondern nach Adam Smith’scher kontinentaler Arbeitsteilung aussieht („Wer sich auf den Rohstoff Ab- und Anbau versteht, baut Rohstoffe ab und an; wer hingegen Verarbeitungs- und Veredelungsspezialist ist, konzentriert sich auf dieses Können“). Doch schon ein zweiter Blick macht klar, wie problematisch diese Art der „Arbeitsteilung“ ist. Denn einerseits ist Rohstoffgewinnung buchstäblich ein „schmutziges Geschäft“. Wie eine Forschergruppe des „Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie“ dargestellt hat, entsteht ein enormer Verschleiß an allen möglichen Ressourcen (= der „ökologische Rucksack“, der mit Rohstoffproduktion verbunden ist), bis z.B. nur eine Tonne Primäraluminium gewonnen ist. Konkret sind 7 bis 8 Tonnen an Rohstoff, Energie, Wasser und vielem mehr nötig, um besagte Tonne zu erhalten. Was aber noch gar nichts gegen den „ökologischen Rucksack“ ist, der anfällt, wenn es um die Gewinnung lediglich einer Tonne Kupfer oder einer Tonne Gold geht: Um erstere herzustellen sind Rohstoff-, Energie- und sonstige Aufwendungen in der Größenordnung von 500 Tonnen (!) nötig; der ökologische Rucksack, der bei der Herstellung einer Tonne Gold anfällt, wiegt überhaupt 500.000 (!) Tonnen. Und generell kann davon ausgegangen werden, dass eine Tonne Import im Rohstoffbereich „durchschnittlich 5 Tonnen an Bergbauabfällen, Emissionen und Erosion im exportierenden Land“ hinterlässt, wie es besagte Wuppertaler Forschergruppe formuliert. Was nichts anderes bedeutet, als dass die Rohstoffökonomien auch als die Öko-Müllhalden der Industrienationen fungieren.3 Rohstoffproduktion ist aber nicht nur ein schmutziges Geschäft; es ist tendenziell auch kein sonderlich ertragreiches. Zumindest nicht in Relation zu dem, was z.B. die Europäer aus den Rohstoffen oder den importierten, nur wenig bearbeiteten Gütern des Südens machen. Die Produkte, die auf Basis der Importe entstehen, weisen nämlich einen deutlich höheren (Geld-)Wert als ihre Ausgangsbasis auf: 0,70 Euro pro Kilogramm kosten etwa die eingeführten Güter niedriger Verarbeitungsstufe im Durchschnitt; 2,20 Euro pro Kilogramm muss hingegen der ausgeben, der Waren hoher Verarbeitungsstufe in der Europäischen Union einkauft. Zwischen Stoffimport und -export klafft damit ein Graben in der Dimension des Faktors 3 (0,7 versus 2,20 Euro), weshalb die EU bei 1.400 Millionen Tonnen Importen und nur 400 Millionen Tonnen Exporten trotzdem eine ausgeglichene Handelsbilanz aufweist. Und über deutlich mehr Kapital und in letzter Konsequenz über ein fundamental anderes Wirtschaftssystem wie auch über eine andere Kultur als die Süd-Exporteure verfügt. Betrachtet man zudem explizit die Rohstoffe, wird die Kluft noch größen: Zwar bilden diese 75% aller EU-Importe, in Geldwerten machen
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Tabelle 1a: Die so genannten „Neuen Verbraucherländer“ Argentinien Brasilien Republik Korea Malaysien Mexiko Polen Saudi-Arabien Südafrika Türkei Venezuela Iran Kolumbien Philippinen Russland Thailand Volksrepublik China Indien Indonesien Pakistan Ukraine
„Neue Verbraucherländer“ sind Schwellenländer mit mehr als 20 Millionen Einwohnern; aufgrund dieser Größe ist der Anstieg ihrer Verbraucher von globaler Relevanz.
Quelle: FAIR FUTURE. Begrenzte Ressourcen und Globale Gerechtigkeit. Hrsg. vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie.
sie jedoch weniger als 20% (der Importkosten) aus. „Diese Ungleichheit hat seit langem zu jenem unfairen Tausch zwischen Norden und Süden geführt, der ein Strukturmerkmal des Welthandels geworden ist“, bringen deshalb die Wuppertaler Forscher den Effekt dieser Differenz und dieser Gräben auf den Punkt. Was besser als jedes der vielzitierten Beispiele aus der Kaffee-, Bananen- oder Bauwollproduktion verdeutlicht, wo die Probleme im Welthandel liegen und, noch besser, wie sie sich konstituieren.
II Problematisches Outsourcing Diese Verhältnisse und Zustände pflanzen sich auch in einem Bereich fort, der weitaus mehr als der Rohstoffhandel im Interesse der Öffentlichkeit steht – und zwar im „Outsourcing“. Letzteres ist in den vergangenen 10 bis 15 Jahren zu einem Synonym für „Globalisierung“ geworden, und tatsächlich gehört es zu den herausragenden Eigenschaften der modernen Weltwirtschaft, dass eine weltweit verteilte Produktion entstanden ist: Bekleidungs- oder Autoindustrie sind längst dazu übergegangen, verschiedenste Produktionsbereiche in Billiglohnländer „outzusourcen“, also auszulagern, um beispielsweise Lohnvorteile auszunutzen. Der Welthandel hat sich auf diese Weise zur Weltproduktion ausgeweitet, weshalb UN/FAIR TRADE immer beide Felder – Handel wie Produktion – thematisiert und so schließlich die moderne Weltwirtschaft im Fokus hat. Welche Folgen das Outsourcing dabei für die Industrienationen hat, ist nach wie vor umstritten. Laut einem offiziellen französischen Bericht, der im Atlas der Globalisierung von Le Monde diplomatique zitiert wird, sind durch Outsourcing in den letzten Jahren in Deutschland nicht einmal 100.000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Wie in den USA nicht mehr als 0,15 bis 0,2% der Bevölkerung durch Auslagerung von Produktionszweigen in Billiglohnländer betroffen sind. Kritikern der Globalisierung erscheinen diese Zahlen zu niedrig; in der Tat dürften sich die Abwanderungstendenzen von Arbeitsplätzen aber in Grenzen halten.4 Nicht umstritten ist hingegen, dass in den Entwicklungs- und speziell in den Schwellenländern kräftig investiert wird. So erreichte die Summe an Direktinvestitionen in China im Jahr 2004 die 62 Milliarden Dollar Marke5 – was in etwa das 2,5-fache von dem ist, was zwischen 1991 und 2002 in Indien direkt investiert wurde (24 Milliarden Dollar). Die Betriebe und Niederlassungen, die auf diese Weise entstehen, haben u.a. dafür gesorgt, dass die Textil- und Bekleidungsbranche, die Leder- und Holzverarbeitung sowie die Spielwaren- und Elektrogeräteherstellung tatsächlich vermehrt außerhalb der Industrienationen heimisch gewor-
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den ist. Die Bekleidungsindustrie hat etwa Bangladesh für sich entdeckt, wo Frauen, wie der Ökonom Jeffrey Sachs schreibt, in „Ausbeuterbetrieben“ 6 bis zu 12 Stunden am Tag Kleidung für Firmen wie Esprit, Wal-Mart oder auch H&M produzieren; und zwar unter Bedingungen, die Tabelle 2: Zusammensetzung der Weltbevölkerung nach Einkommen durch Niedriglöhne, fehlende Sozial- und Umweltstandards sowie durch sexuelle 1 Milliarde Menschen, 1/6 der 2,5 Milliarden „Menschen mit Belästigungen von Seiten der männlichen Weltbevölkerung: „Extrem Arme, mittlerem Einkommen“: Einige die Ärmsten der Armen“. Reine 1000 $ pro Jahr werden Mitarbeiter gekennzeichnet sind. Eigenbedarfswirtschaft; 16,6 % erwirtschaftet; leben in Das Outsourcing hat in Bangladesh krank schlecht ernährt, mittellos; Großstädten, gehören noch nicht allerdings dazu geführt, dass die Textilmüssen täglich ums Überleben zur Mittelschicht (zumindest arbeiterinnen im Sinne der aktuellen kämpfen. Kommt es zu nicht wenn das Maß die Armuts-Typologie (Tabelle 1 und 2) nicht Umweltkatastrophen oder Mittelschicht der reichen Länder brechen gar die Weltmarktpreise ist); sind in der Lage, ihre mehr als extrem Arme gelten, die nur maxifür ihre Agrarerzeugnisse Wohnungen und Häuser mit mal 1 Dollar pro Tag verdienen, sondern zusammen, führt das in den einem gewissen Komfort „bloß“ noch zu den (mäßig) Armen dieser meisten Fällen zu entsetzlichem auszustatten, vielleicht sogar mit Welt gehören, deren Jahreseinkommen Elend, oft sogar zum Tod. sanitären Anlagen. Sie können rund 760 bis 2.000 Dollar beträgt und bei Verdienst pro Tag: Ein paar Cent. sich einen Motorroller, eventuell sogar ein Auto leisten; sind denen deshalb – bei aller Geldnot – der „Tod 1,5 Milliarden „Arme“: Oberhalb angemessen gekleidet und nicht unmittelbar vor der Tür steht“, um es der Eigenbedarfswirtschaft; ermöglichen ihren Kindern einen mit den Worten des schon erwähnten JefÜberleben ist weitgehend Schulbesuch. Ernährung ist frey Sachs zu formulieren. Was tatsächlich gesichert, sie kämpfen in ihren ausreichend, beginnender einen Fortschritt darstellt, aber dennoch Dörfern und Städten darum, ihr Fastfood-Konsum. Auslangen zu finden. Chronische nicht über das Faktum hinwegtäuschen Geldnot, Fehlen von Grundaus1 Milliarde „Menschen mit darf, dass zwischen den 5 bis 6 Euro pro stattungen wie Trinkwasser und hohem Einkommen“: Die Tag, die diese Frauen verdienen, und dem, Sanitäranlagen gehören zu ihrem wohlhabenden Haushalte (20.000 was Unternehmen wie Wal-Mart oder H&M Alltagsleben. Dollar pro Jahr aufwärts) durch den Absatz dieser Produkte einnehumfassen neben Menschen in men (die Erben des Wal-Mart-Gründers den reichen Ländern auch die wachsende Zahl reicher Sam Walton verfügen über ein Vermögen Personen in den Ländern mit von rund 90,7 Milliarden Dollar, das in den mittlerem Einkommen und die vergangenen 30 bis 40 Jahren angehäuft zig Millionen Individuen mit wurde), ein unendlich tiefer Graben liegt. hohem Einkommen in Auch im Outsourcing wiederholt sich damit das Ungleichgewicht, das sich im Rohstoffhandel verzeichnen lässt: Die billige und wenig wertvolle Basisarbeit wird im Süden getan, während das große Geld im Norden durch Veredelung verdient wird. Wobei die Veredelung in diesem Fall vor allem durch die Marke passiert, die Firmen wie etwa H&M im Sinne einer modernen Markenpolitik primär „gebaut“ (und weniger durch jahrzehntelange Qualitätsproduktion vor Ort erworben) haben, und die nun auf dem günstig hergestellten Produkt platziert wird.
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Großstädten wie Shanghai, Sao Paulo oder Mexiko Stadt.
Quelle: Jeffrey D. Sachs, Das Ende der Armut. Ein ökonomisches Programm für eine gerechtere Welt.
Diese Grundtendenz verändert sich auch nicht, wenn man gleichsam die Branche wechselt und die Näherin aus Bangladesh gegen eine indische Schreibkraft im IT-Bereich austauscht: Zwar verdient diese laut Jeffrey Sachs bis zu 500 Dollar pro Monat; im Verhältnis zu dem Gewinn, den die IT-Riesen im Norden erzielen, ist der bezahlte Lohn dennoch marginal bis verschwindend klein.
III Der Weg nach unten Natürlich hinterlässt dieser unfaire Tausch zwischen Norden und Süden seine Spuren. Laut dem schon angeführten Globalisierungsatlas von Le Monde diplomatique hat die Ungleichheit zwischen den einzelnen Ländern dieses Planeten in der jüngeren Vergangenheit deutlich zugenommen; eine Behauptung, die der Weltbank-Ökonom und Ungleichheitsforscher Branko Milanovic nur bestätigen kann: Wie er in seinem Buch Worlds Apart darlegt, ist es dem Westen in den beiden letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gelungen, sich als „Club der Reichen“ zu etablieren. Noch 1961, so Milanovic, hatten 22 nichtwestliche Staaten die Chance, in den „Club der Reichen“ aufzusteigen; darunter auch afrikanische Staaten wie Ghana oder der Senegal. Am Ende des Jahrhunderts war die Zahl der Anwärter nicht nur geschmolzen, sie bestand nun auch u.a. aus Ländern, die – wie Argentinien – aus dem „Club der Reichen“ hinausgefallen waren. Was auch inkludierte, dass von den afrikanischen Staaten, die 1961 noch eine Chance gehabt hatten, zu reichen Ländern zu werden, keiner mehr einen Anwärterstatus besaß; schlimmer noch: sie waren laut Milanovic zur Jahrtausenwende alle auf den Level von Dritte-Welt-Staaten zurückgefallen (das entspricht in etwa Ländern mit unterem mittlerem Einkommen; vgl. Tabelle 1). Wie jene Nationen, die vor rund 40 Jahren zur Dritten Welt gehörten, auf das Niveau der Vierten Welt abgesackt waren (was in etwa den Ländern mit niedrigem Einkommen aus Tabelle 1 entspricht).7 Freilich lässt sich dieser „Trend nach unten“ nicht verallgemeinern, da Länder wie Taiwan, Südkorea oder Singapur in den vergangegen Jahren gegenläufige Entwicklungen erlebt haben. Dennoch ist er aber empirisch eindeutig nachweisbar, wie er auch mit der in den beiden vorigen Abschnitten skizzierten Nord-Süd-Dynamik in Verbindung steht, zu der sich dann weitere Momente hinzufügen, die die Abwärtsspirale antreiben. Z.B. die veränderten Kapitalbewegungen der USA, die aufgrund der notwendigen Defizitabdeckungen im letzen Viertel des 20. Jahrhunderts die Geldabflüsse in die Entwicklungsländer drastisch reduzierten und das Kapital stattdessen im Land zu halten versuchten. In Kombination mit der gängigen Welthandels- und Weltproduktionsordnung sorgen
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diese weiteren Momente dafür, dass die armen Länder immer ärmer werden und sich das Nord-Süd-Gefälle gleichsam einzementiert. Was wiederum speziell für Afrika gravierende Folgen hat: Dieses hat sich förmlich in seiner Rolle als typische „Süd-Ökonomie“ festgefressen und ist nur passiv an der Globalisierung beteiligt; d.h. ein ganzer Kontinent hat vor allem die Funktion, als „Zulieferer“ für den Norden und seine Industrieländer zu fungieren. Mit dem Effekt, dass es zu einer Konzentration auf Rohstoff-Export kommt, was jede wirtschaftliche Diversifizierung und damit Ausdifferenzierung bzw. Eigenentwicklung der Ökonomie verhindert. 45% seiner Wirtschaftsleistung erbringt der „schwarze Kontinent“ deshalb für die Industrienationen, womit Afrika auch ein Kontinent der Exportwirtschaft ist. Jedoch nicht im Sinne einer Ökonomie, die ihre erwirtschafteten Überschüsse ausführt, sondern im Stile eines kolonialisierten Landes, das nur dazu da ist, um für andere Nationen zu produzieren.8 Verbunden mit der für den Süden so unfairen wie desaströsen Produktions- wie Handelsordnung ist aber auch die Verschuldung, die mit der skizzierten Verarmung und Entwicklungslosigkeit einhergeht. 520 Milliarden Dollar beträgt nach Darstellung des Le Monde diplomatiqueGlobalisierungsatlas der Schuldenstand der 40 einkommensschwächsten Länder dieser Erde – was die absurdesten Konsequenzen hat: So muss etwa die Subsahara, die mit Abstand ärmste Region der Welt, im Zuge der Schuldentilgung seit 1995 pro Jahr 1,5 Milliarden Dollar mehr in den Norden transferieren, als es von diesem an Entwicklungshilfe und ähnlichem erhält. Und Nicaragua beispielsweise hat mit dem Problem fertig zu werden, dass der zu bedienende Schuldenbetrag 172% seines Bruttonationaleinkommens erreicht hat, was einer ausweglosen Situation gleichkommt. Oft bleibt den Schuldnern deshalb nichts anderes übrig, als ihre Rohstoffproduktion und -ausfuhr nach oben zu schrauben. Womit sie aber in die „afrikanische Falle“ geraten: Die Diversifizierung der Wirtschaft bleibt aus; die Entwicklung in Richtung quasi-kolonialer Exportwirtschaft wird forciert. Was am Ende die Ungleichheit mit all ihren negativen Folgen gewissermaßen „festschreibt“.9 Paradoxerweise hat das Weltwirtschaftssystem bei all seinen negativen Folgen für die Entwicklungsländer zugleich auch positive Effekte auf dieselben: Zwar verdienen viele Bewohner des Südens schlecht, wie auch viele Süd-Länder permanent ärmer werden; es ist aber auch eine Tatsache, dass die Gesamtzahl der Armen in den vergangenen 2 Jahrzehnten kleiner geworden ist. Übereinstimmend wird von Beobachtern festgestellt, dass die Zahl derjenigen, die mit rund einem Dollar pro Tag auskommen müssen, von rund 1.480 Millionen Menschen im Jahr 1980 auf rund 1.090 Millionen im Jahr 2001 zurückgegangen ist. Wird dabei berücksichtigt, dass es in diesem Zeitraum einen deutlichen Anstieg der
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Weltbevölkerung gab, schrumpft im genannten Zeitraum der Anteil der extrem Armen an der Weltgesamtbevölkerung von 40,4% auf 21,1%. An dieser positiven Entwicklung ändert auch der immer wieder vorgebrachte Hinweis darauf nichts, dass speziell in China die Zahl der extrem Armen dank der „chinesischen Wirtschafts-Revolution“ am Ende des 20. Jahrhunderts drastisch gesunken ist. Und mag sich die Zahl der Armen ohne Berücksichtigung von China und Indien zwischen 1980 und 2001 auch von 840 auf 890 Millionen erhöht haben (woran unter anderem der wirtschaftliche Niedergang des ehemaligen Ostblocks großen Anteil hatte), so ändert das nichts daran, dass bei Betrachtung der Gesamtwelt offensichtlich die Zahl der extrem Armen zurückgeht: Mögen viele Entwicklungsländer auch, wie u.a. Milanovic aufgezeigt hat (vgl. oben), ärmer werden – für ihre Bewohner gilt das nicht unbedingt.10 Was allerdings umgekehrt auch wieder kein Grund zur Beruhigung oder für Jubelstimmung ist. Trotz des Rückgangs der Zahlen an extrem Armen lebt nach wie vor über eine Milliarde Menschen – und damit rund ein Sechstel der Weltbevölkerung – in extremer Armut mit täglichen Einnahmen im Ein-Dollar-Bereich (vgl. Tabelle 2). Was in der Regel inkludiert, dass diese Menschen keine Chance haben, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen und folglich an chronischer Unterernährung leiden. An dieser Situation sind freilich auch korrupte politische Systeme, Aids, Malaria und (klimabedingte) Hungersnöte schuld; doch all das Leiden ist strukturell ebenso mit einer Handels- und Produktionslogik verbunden, in die, um noch einmal die Forscher des Wuppertal Instituts zu zitieren, Unfairness gleichsam als immanentes Moment eingeschrieben ist.
IV Auf der Suche nach Gerechtigkeit Vor diesem Hintergrund von Zahlen und Fakten, die in den vergangenen drei Abschnitten aufgezeigt wurden, ist es nicht verwunderlich, dass die Frage nach dem gerechten Tausch und dem fairen Welthandel zunehmend zu einem Thema wird. Nicht nur in den Medien und im Zuge von G8-Gipfeln, die von Massenprotesten begleitet werden. Vom gerechten Handel wird auch in den Wissenschaften vermehrt gesprochen, wie Publikationen zum Thema „Fairness“ im Management- oder Klimaforschungsbereich (vgl. den FAIR FUTURE-Report, Anmerkung 1) zeigen. Und auch in der Wirtschaft selbst, für die dieses Thema keineswegs nur der Promotion und moralischen Selbstdarstellung dient: Offensichtlich ist tatsächlich gerade eine „Weltgesellschaft“ im Entstehen – zumindest auf der symbolischen Ebene. Dank der Globalisierung und der (neuen) Massenmedien wissen heute die Menschen mehr voneinander als noch vor 30 Jahren. Wobei die Informationsflut längst auch die Bewohner der Entwicklungsländer erfasst hat. Auch diese kennen
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ihre im Norden lebenden Welt-Mitbürger deutlich besser, als diese oft erahnen; denn selbst wer sich etwa am Mekong-Delta nur ein kleines Boot mit einem Wellblechdach als Bleibe leisten kann – der batteriebetriebene Fernseher fehlt nicht einmal dort. Norden wie Süden sind damit enger aneinander gerückt, was speziell viele Menschen im Süden dazu veranlasst, sich mehr denn je mit den Menschen im Norden zusammen als Bewohner einer Welt zu fühlen, wie die schon genannten Wuppertaler Forscher in ihrem Report nahelegen. Wo aber eine Gesellschaft entsteht oder „heranwächst“, werden auch Fragen der Gerechtigkeit vakant. Wie es scheint, kann es keine Gesellschaft geben, in der nicht die Frage nach der gerechten Verteilung oder dem gerechten Tausch gestellt wird. Was die antiken Philosophen schon behaupteten – nämlich dass es keine Polis, kein Gemeinwesen, ohne Gerechtigkeit geben kann –, wird zunehmend durch die empirische Forschung bestätigt, wie sie etwa der Ökonom Ernst Fehr betreibt. Denn in dieser wird deutlich, dass sich Menschen in der Realität sogar oft noch fairer verhalten, als man es ihnen in der Theorie ohnedies zugesteht; Gerechtigkeit scheint in Gruppen und Gesellschaften offenbar ein Prinzip von fundamentaler Wichtigkeit zu sein.11 Was systemisch orientierte Forscher nur bestätigen können, die den „Ausgleich“ als fundamentale systemimmanente Größe betrachten. Insofern ist es nur plausibel, dass auch die beginnende Weltgesellschaft, die „New World Society“, letzterem nicht wenig Raum einräumt. Vorerst einmal auf der Wirtschaftsebene, da diese „New World Society“aufgrund ihrer (noch) fehlenden politischen Organisiertheit vor allem eine WeltWirtschafts-Gesellschaft ist, die dementsprechend Fragen der Moral und Fairness um das Thema Wirtschaft herum entfaltet. Was zudem wohl auch deshalb passiert, weil allmählich das Bewusstsein dafür wächst, welche Folgen das Ausbleiben einer Vergesellschaftung der Weltbevölkerung haben könnte; konkret für die Wirtschaft: Ökonomisch wächst die Welt, wie u.a. Fernand Braudel, Immanuel Wallerstein oder Angus Maddison eindrucksvoll gezeigt haben, bereits seit Jahrhunderten zusammen, und bekanntlich hat der Welthandel erst vor rund einem Jahrzehnt wieder das Niveau der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg erreicht. Die Weltwirtschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war nicht zuletzt daran gescheitert, dass es eben keine Welt-Gesellschaft gegeben hatte; die Weltwirtschaft allein konnte die Dynamiken nicht abfedern, die zu den gesellschaftlich-politischen Katastrophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten. Weshalb heute gerade in der Wirtschaft Gerechtigkeit und auch die Politik wieder an Bedeutung gewinnen. So sind es beispielsweise längst nicht mehr bloß Globalisierungsgegner oder Protestgruppen, die generell den internationalen Kapitalismus im
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Visier haben, die heute über den gerechten Tausch und über eine faire Weltwirtschaftsordnung nachdenken. Theoretische wie praktische Initiativen gehen mittlerweile ebenso von Unternehmen, Fonds und Ökonomen aus; interessanterweise gerade von letzteren: Sukzessive ist das Thema Gerechtigkeit im vergangenen Jahrzehnt in den Wirtschaftswissenschaften immer wichtiger geworden; und zwar über etwaige (ideologische) Lagergrenzen hinweg, bis tief in den ökonomischen Mainstream hinein. Was sich am deutlichsten daran zeigt, dass zwei der lautesten Stimmen zum Thema Weltwirtschaft und Gerechtigkeit – jene von Amartya Sen und Joseph Stiglitz – bereits um die Jahrtausendwende mit dem Nobelpreis für Ökonomie ausgezeichnet wurden. Auffallend ist dabei allerdings, dass von diesen Ökonomen aber noch lange keine typischen oder schlichten Mainstream-Positionen bezogen werden, im Gegenteil: Das Nachdenken erfolgt auf eine substantielle und umfassende Weise, die nicht einfach bei den gängigen und traditionellen wirtschaftswissenschaftlichen Verteilungsdiskussionen ansetzt oder umgekehrt stehen bleibt. Stattdessen wird danach gefragt, was Gerechtigkeit im Kontext von Weltwirtschaft und Welthandel überhaupt bedeuten kann. Eine Grundsatzdiskussion wird also initiiert, die offensichtlich auch bereit ist, einige Selbstverständlichkeiten ökonomischen Denkens – z.B. die Vorstellung, dass die Gerechtigkeitsthematik mit der Frage der Effizienz eines Marktes zu koppeln ist – über Bord zu werfen: Amartya Sen etwa, der 1999 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt, dockt seinen Gerechtigkeitsbegriff nicht am Effizienz-Begriff, sondern an der Entwicklung an, den ein Wirtschaftskontext zulässt.12 Eine Wirtschaft – oder umfassender gedacht: eine Gesellschaft – ist demnach dann gerecht, wenn sie die Handlungsfähigkeit der Gesellschaftsmitglieder erweitert. Sie müssen die Möglichkeit und vor allem die real lebbare Freiheit haben, als Menschen gleichsam „zu wachsen“. Wozu laut Sen mehr gehört als eine solide Wirtschaft, in der das Pro-KopfEinkommen steigt und sich der Reichtum quer über die Bevölkerung verteilt: Entwicklung ist nur dort möglich, wo es neben politischen Freiheiten auch soziale Sicherheit oder beispielsweise soziale Chancen gibt. Denn es ist, so Sen, nur wenig hilfreich, wenn zwar potenziell das Einkommen steigt, aber das fehlende Gesundheitswesen dafür sorgt, dass es den meisten Gesellschaftsmitgliedern nicht möglich ist, aus Krankheitsgründen und körperlicher Unterentwicklung an der wirtschaftlichen Entwicklung teilzuhaben. In diesem Fall ist die Handlungsfähigkeit der Bürger nicht größer geworden, auch wenn sie tendenziell vielleicht kurz angestiegen war.
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Die Handlungsfähigkeit – und mit ihr die Freiheit – soll aber nicht nur potenziell, sondern real wachsen, was jedoch nur dann erfolgen wird, wenn z.B. (öffentliche) Institutionen die Krankheitsvorsorge übernehmen. Jene Gesellschaft/Wirtschaft wird bei Sen deshalb gerecht sein, die nicht nur für eine Wohlstandsmehrung sorgt, sondern mit institutionellen Maßnahmen und Einrichtungen dafür sorgt, dass aus dem wirtschaftlichen Wachstum auch ein Wachstum an „Verwirklichungschancen“ (so Sens Formulierung) wird. Und zwar von Verwirklichungschancen, die sich in der Analyse darin zeigen, dass die Mitglieder einer Gesellschaft ihre ihnen je eigenen Lebensformen und –stile verwirklichen konnten. Wobei eine Gesellschaft umso gerechter ist, je größer die Menge an Verwirklichungschancen ausfällt, die sich beobachten und – dank Überprüfung der Einkommenslage, des Zugangs zum Gesundheitssystem und ähnlichem – feststellen lässt. Was Sen hier im Stile einer Ökonomie, die sich zur Sozialwissenschaft wandelt, andenkt, lässt erstmals erahnen, was einen gerechten Welthandel auszeichnen könnte: Es geht nicht bloß darum, das oben skizzierte strukturelle NordSüd-Gefälle zu durchbrechen und dafür zu sorgen, dass in den Entwicklungsländern etwa höhere Preise an die Rohstoffproduzenten gezahlt werden. Vielmehr müssen die Chancen der Beteiligten steigen, sich nach ihren Vorstellungen entwickeln zu können, was in den meisten Fällen soziale, politische und wohl auch ökologische Maßnahmen inkludieren wird. Gerechter Handel, das wird damit deutlich, ist keine Sache der Ökonomie und Wirtschaftswissenschaft, sondern muss als komplexer sozialer Prozess betrachtet werden, der sich auch nur mit Hilfe eines solchen etablieren lässt. Mit diesem Ansatz bringt Sen eine Gerechtigkeitsdiskussion ins Spiel, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten von der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum angeregt wurde (mit der Sen im Übrigen zusammenarbeitete) und die ihre Wurzeln in einer umfassenden Aristoteles-Reinterpretation hat. Denn es war Aristoteles, der vor gut 2.300 Jahren in Zusammenhang mit Gerechtigkeit in Richtung Handlungsfähigkeit dachte.13 Und auf diese Weise das Fundament für das legte, was Martha Nussbaum auszeichnet; nämlich ein Denken, das deutlich ausspricht, was Sen nur andeutet, aber nicht weiter diskutiert: Dass es letztlich dort, wo fairer Handel und gerechtes Wirtschaften ein Thema sein soll, um Gestaltung von Gesellschaft geht; konkret um eine Gestaltung, die stets das Ganze und das Gesamtsystem, das eine Gesellschaft darstellt, im Auge hat. Weshalb Nussbaum fürs erste weder in den Kategorien „Politik“ oder „Wirtschaft“ denkt, sondern einen „feineren Filter“ aufsetzt und überlegt, welche institutionellen Settings eine Gesellschaft für ihr (gerechtes) Funktionieren und ihr Gelingen braucht.
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Nussbaum geht damit einen ganz anderen Weg als heute üblich. Denn was die aktuelle Diskussion um Gesellschaftsgestaltung ausmacht, ist nicht nur, dass sie meist in den Kategorien des Politischen und Ökonomischen steckenbleibt – und erst gar nicht bis zum Begriff der Institution als Träger des Politischen wie Ökonomischen kommt. Symptomatisch ist zudem, dass etwa das Politische und Ökonomische gegeneinander ausgespielt werden; durchaus auf der Basis von Argumenten, die Autoren wie der Moralphilosoph Michael Walzer oder Systemtheoretiker aus der Schule Niklas Luhmanns geliefert haben. Laut diesen sind nämlich Politik, Wirtschaft oder auch Bildung und Wissenschaft eigenständige soziale Bereiche und Terrains, die über spezifische Abläufe und Logiken verfügen, also eine operationale Schließung vollzogen haben. Die einzelnen sozialen Felder sind deshalb separiert zu behandeln und sollen auch nicht miteinander vermischt werden. Natürlich gibt es – im Sinne struktureller Koppelungen – wechselseitig Korrespondenzen und Beeinflussungen; am Ende bleibt jedoch die Politik die Politik und wie Wirtschaft die Wirtschaft, und jede dieser Sphären ist primär damit beschäftigt, sich selbst zu erhalten, respektive zu reproduzieren. Gesellschaftsgestaltung mutiert hier zur Gesellschaftsverwaltung auf Basis eines seltsamen Nicht-Angriffspakts, die eine andere, veränderte Zukunft schwer denkbar, geschweige denn realisierbar macht. Mit Aristoteles im Rücken lässt Nussbaum – ebenso wie Sen – diese „schrebergartenmäßig“ parzellierte Welt hinter sich und richtet den Blick eben auf die Gesellschaft, mithin auf das, worum es letztlich geht. Um dann mit Aristoteles danach zu fragen, welche Rahmenbedingungen die Bürgerinnen und Bürger benötigen, damit sie „an Lebensunterhalt“ keinen „Mangel leiden“, ergo zu einem „guten Leben“ fähig sind. Dieser Zugang macht es zuerst jedoch vorerst notwendig, das „gute Leben“ zu spezifizieren, bzw. „das Gute“ zu erläutern. Was nur auf Basis eines Konzepts des Menschen erfolgen kann, das Aristoteles ja bereits geliefert hat: Von ihm, so Nussbaum, stammt eine „starke und doch vage“ Konzeption des Menschen, die aus einer erweiterbaren Liste besteht, in die eingetragen ist oder wird, was Mensch-Sein (egal wo und wie man lebt) auf jeden Fall ausmacht: Nussbaum/Aristoteles zu Folge ist das etwa die Sterblichkeit, mit der jeder Mensch konfrontiert ist, wie auch das Erleben von Körpererfahrungen wie Hunger, Durst und sexuellem Begehren. Ebenso auf die Liste gehört das Vermögen, Freude und Schmerz zu spüren, und auch die kognitiven Fähigkeiten Wahrnehmen, Vorstellen und Denken dürfen nicht fehlen. Tatsächlich erfahren wir ja auch Menschen, die z.B. keine Freude erleben oder über kein Vorstellungsvermögen verfügen, als „unmenschlich“ – was genauso dann gilt, wenn jemand keine sozialen Beziehungen besitzt oder unfähig zu Humor und Spiel ist. Letzteres – die Beziehungen, das Spiel, der Humor – gehören deshalb ebenso auf die
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Liste wie die praktische Vernunft oder das Faktum, dass wir Menschen – bei aller Verbundenheit mit Anderen – letztlich doch von ihnen getrennt sind, völlige Verschmelzung also unmöglich ist. All diese Kennzeichen menschlichen Existierens können von Lebenskontext zu Lebenskontext variieren (weshalb die Liste eben eine vage Liste ist); nichts desto Trotz sind sie unhintergehbare Größen des MenschSeins, denen sich niemand entziehen kann (weshalb die Liste und damit das in ihr enthaltene Konzept des Menschen dann doch auch ein „starkes“ ist). Aus dieser vagen, offenen Liste, die damit ein Bild des Menschen produziert, ohne ein fixes Menschenbild festzuschreiben und zu verankern, kann deshalb auch eine weitere (wieder jederzeit erweiterbare) Liste abgeleitet werden, die jene Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten aufzählt, die potenziell jedem Menschen angesichts der Eigenheiten des Mensch-Seins offenstehen – und folglich für ihn auch in realiter erreichbar sein sollten. Es sind dies laut Nussbaum: „1. Die Fähigkeit, ein volles Menschenleben bis zum Ende zu führen; nicht vorzeitig zu sterben oder zu sterben, bevor das Leben so reduziert ist, dass es nicht mehr lebenswert ist. 2. Die Fähigkeit, sich guter Gesundheit zu erfreuen; sich angemessen zu ernähren; eine angemessene Unterkunft zu haben; Möglichkeiten zu sexueller Befriedigung zu haben; sich von einem Ort zu einem anderen zu bewegen. 3. Die Fähigkeit, unnötigen Schmerz zu vermeiden und freudvolle Erlebnisse zu haben. 4. Die Fähigkeit, die fünf Sinne zu benutzen, sich etwas vorzustellen, zu denken und zu urteilen. 5. Die Fähigkeit, Bindungen zu Dingen und Personen außerhalb unserer selbst zu haben; diejenigen zu lieben, die uns lieben und für uns sorgen, und über ihre Abwesenheit traurig zu sein; allgemein gesagt: zu lieben, zu trauern, Sehnsucht und Dankbarkeit zu empfinden. 6. Die Fähigkeit, sich eine Vorstellung vom Guten zu machen und kritisch über die eigene Lebensplanung nachzudenken. 7. Die Fähigkeit, für andere und bezogen auf andere zu leben, Verbundenheit mit anderen Menschen zu erkennen und zu zeigen, verschiedene Formen von familiären und sozialen Beziehungen einzugehen. 8. Die Fähigkeit, in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der ganzen Natur zu leben und pfleglich mit ihnen umzugehen. 9. Die Fähigkeit, zu lachen, zu spielen und Freude an erholsamen Tätigkeiten zu haben. 10. Die Fähigkeit, sein eigenes Leben und nicht das von jemand anderem zu leben. 10.a. Die Fähigkeit, sein eigenes Leben in seiner eigenen Umgebung und seinem eigenen Kontext zu leben“.14
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Damit ist auch geklärt, was das Gute bzw. das „gute Leben“ in dieser ethisch-normativen Konzeption ist. Und zwar jenes, in dem alle diese genannten Fähigkeiten realisiert werden können. Was jenseits europäischer Mittelschicht-Grenzen keineswegs immer der Fall ist, da Kriege, Hungersnöte oder Repression das Entwickeln und Ausleben wesentlicher Fähigkeiten gänzlich unmöglich machen. Gute und gerechte Regierungen (bzw. Gesellschaften oder generell: soziale Gefüge) sind deshalb dadurch gekennzeichnet, dass sie ihren Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, sich für ein solches gutes Leben zu entscheiden. Eine gesellschaftliche oder überhaupt: eine soziale Gestaltungsarbeit, die auf Gerechtigkeit abzielt, sollte deshalb Rahmenbedingungen schaffen, die das gute Leben, respektive ein Leben der verschiedenen genannten Fähigkeiten fördern. Was nichts anderes bedeutet, als dass es einen „institutionellen Wohlfahrtsstaat“ zu schaffen gilt, zu dessen Aufgaben von der Bildungs- bis hin zur Wirtschafts- und Bevölkerungspolitik inklusive aller nötigen Maßnahmen und Schritte gehören. Dabei agiert dieser „Wohlfahrtsstaat“ aber nicht im Sinne eines paternalistischen Staates, der alles regelt und die Lebensformen und –stile bestimmt, sondern ist vielmehr – so kann man Nussbaum verstehen – ein „Institutionen-Manager“, der eben all jene institutionellen Settings baut, reformiert oder auch wieder abschafft, die es den Menschen ermöglichen, gleichsam ihre „Liste von Fähigkeiten“ zu entfalten. Auf das Thema des gerechten Tausches und Handels übertragen bedeutet das, dass eine Etablierung desselben nicht bloß, wie Sen nahe legt, eines komplexen sozialen Prozesses bedarf: Konkret ist vielmehr das von Not, was einstmals Politik genannt wurde. Mithin das, was sich nicht auf die erfolgreiche Reproduktion eines ausdifferenzierten, von Wirtschaft, Wissenschaft oder Kunst abgetrennten Sphären-Bereichs beschränkt, sondern als Institutionen-Manager und –Gestalter die Gesellschaft verändern will. Wo folglich das Bestreben nach gerechteren Tauschverhältnissen nicht zur sympathischen Einzelmaßnahme werden möchte, ist stets der Bau (oder Umbau) eines umfassenden Institutionen-Settings nötig. Nicht in einem idealistisch-platonischen Sinn, wo logisch-konzeptuell vom Reißbrett aus eine neue Welt „designt“ wird, sondern auf Basis einer genauen Analyse der bestehenden Institutionen, die stets auf ihre empirisch nachweisbaren Leistungen hinsichtlich der Beförderung von Menschen und ihrer Fähigkeiten zu überprüfen sind. Wobei das Institutionen-Management nicht nur auf internationaler Ebene zu erfolgen hat. Zwar braucht ein gerechter Welthandel dieses auf hohem Niveau angesiedelte Vorgehen; ebenso profitiert er aber auch von jenen Menschen, die im Tun ein neues Institutionen-Gefüge entstehen
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lassen, um z.B. einen Handel zwischen Österreich und Mali zu realisieren, in dem beide Seiten auf vielfache Weise profitieren – und der deshalb auch ökologische oder z.B. Bildungs-Momente inkludiert (was etwa zunehmend ein Anliegen und Thema der verschiedenen FAIRTRADEOrganisationen ist, die sich herausgebildet haben). Denn die neue Weltgesellschaft ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nicht nur auf der Welt-Ebene und in traditionellen wirtschaftlichen Bahnen organisiert, sonder auch Kontexte des Mikropolitischen ausbildet.
V Das Gute und Gerechte in der Praxis Ein weiterer Autor, der in eine ähnliche Richtung wie Nussbaum und Sen argumentiert, mithin das „gute Leben“, die Verwirklichungschancen und generell die Entwicklung von angelegten Fähigkeiten mit Unterstützung durch das Gemeinwesen in den Mittelpunkt rückt, ist Joseph Stiglitz, der Nobelpreisträger für Ökonomie von 2001. In den vergangenen Jahren hat er sich nicht nur mit den Risken, sondern auch mit den Chancen der Globalisierung beschäftigt und explizit herausgearbeitet, wie ein gerechter Welthandel und überhaupt: wie eine gerechte Weltwirtschaft aussehen könnte. Das führt auch Stiglitz zum Thema „Gesellschaftsbau“, wobei er diesen jedoch als „ganzheitliche Entwicklungsarbeit“15 bezeichnet. Was vielleicht am deutlichsten macht, worum es zu gehen hat, wenn eine gerechte Handelsordnung entstehen soll: Nämlich stets um die Veränderung des Gesamtsystems, in dem sich eine Person oder ein Handelspartner bewegt, auf dass sich die Lebensweisen der Menschen verändern können. Und zwar in eine Richtung, die erneut die Verwirklichungschancen der/des Einzelnen ansteigen lässt. Wo Wirtschaft entwickelt und entfaltet wird, so Stiglitz, muss deshalb auch der Staat entwickelt und entfaltet werden; das eine ist ohne das andere unmöglich. Was allerdings die Frage aufwirft, wie man all das ganz praktisch macht: Wie entfaltet man den Staat parallel zur Wirtschaft? Wie entwickelt man die passenden, notwendigen Institutionen, die eine Gesellschaft braucht, damit ihre Bürgerinnen und Bürger das „gute Leben“ leben können? Wie findet man heraus, was in einem bestimmten Lebenskontext in Relation zum Guten, respektive zum „guten Leben“ alles an institutionellen Settings gebraucht wird? Stiglitz wie auch Nussbaum machen ihre spezifischen Antworten an Beispielen deutlich, wobei Nussbaum zu diesem Zweck auf das Bangladesh Mitte der Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts verweist; also auf jene Zeit, in der sich das heutige, etwas weniger arme Bangladesh zu entwickeln begann.
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Damals, so Nussbaums Darstellung16, wurde u.a versucht, das Los der Dorf-Frauen zu verbessern, die gegenüber ihren Männern sowohl bezüglich Status, Bildung und Ernährung klar benachteiligt waren. Die Verbesserung sollte konkret über einen Anstieg des Bildungsgrades bewirkt werden, weshalb internationale Entwicklungsorganisationen wie örtliche Behörden Unterrichtsmaterialien an die Frauen verteilten, was jedoch überhaupt keine Wirkung zeigte: Die Frauen befanden laut Nussbaums Darstellung ihre Lebenssituation als zufriedenstellend und sahen von sich aus keinerlei Handlungsbedarf. Das Bildungsangebot empfanden sie als gut gemeint, aber nicht als für ihr Leben relevant. Das begann sich erst zu ändern, als man das Leben der Frauen ausführlich zu analysieren begann: „Ausländische Frauen“, so Nussbaum, taten sich mit den Dorfbewohnerinnen zusammen und arbeiteten mit diesen durch, welche Rolle Lesen und Schreiben in ihrem Lebenskontext bisher spielten und warum es die Frauen nicht erstrebenswert fanden, das „Unterrichtsangebot“ anzunehmen. Auf diese Weise begann etwas in Bewegung zu kommen; aus der Analyse des Ist-Zustands wurde ein Nachdenken darüber, was alles sein könnte, wenn die Frauen ihre intellektuellen Fähigkeiten besser nutzen würden. Was in weiterer Folge dazu führte, dass auch die Konsequenzen für die Produktionsverhältnisse durchdacht wurden und schließlich bezüglich derselben echte Veränderungen in Gang kamen – freilich, weil es dann doch ein Annehmen und Nutzen der Bildungsangebote gab. Für Nussbaum ist diese – letztlich aufklärerische, jegliche Sorge um kulturellen Kolonialismus oder dergleichen hinter sich lassende – Vorgehensweise paradigmatisch: Sollen die Fähigkeiten, deren Nutzen-Können das „gute Leben“ ausmacht, tatsächlich in Gebrauch kommen, reicht es nicht, irgendein Angebot zu etablieren, das rein logisch betrachtet einen Gebrauch dieser Fähigkeiten vorantreibt. Notwendig ist vielmehr, mit einer ausführlichen Analyse zu beginnen, die detailliert die Situation der Betroffenen überprüft und untersucht, was alles schon an menschlichen Fähigkeiten und Potenzialen zur Entfaltung gebracht wird und was nicht – um genau auch dadurch etwaige Fähigkeiten zu einem Thema zu machen, deren Relevanz von den Betroffenen bisher nicht einmal in Erwägung gezogen worden war. Erst auf Basis solcher umfassenden Analysen „designt“ laut Nussbaum „der Aristoteliker“ dann jene Institutionen, die nötig sind, um ein „gutes Leben“ voranzutreiben. Was, um beim Beispiel Bangladesh zu bleiben, zur Folge hatte, dass sich schließlich Frauenkooperativen organisierten, die die Bildung wie auch eine Veränderung von Tausch und Produktion vorangetrieben haben: Das war offensichtlich die „institutionelle Lösung“, die dieser Kontext brauchte – und die sich erst im Rahmen einer solchen aktiven wie zugleich genauen Analyse zeigte.
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Am Beginn einer gerechten Gesellschaft oder allgemeiner: am Beginn gerechter sozialer Strukturen steht also analytische, kontextsensitive Arbeit – was auch für den Fall gilt, dass es sich nicht „bloß“ um eine kleine Dorfgemeinschaft in Bangladesh handelt. So darf man zumindest aus den Ausführungen des Ökonomen Jeffrey Sachs schließen, der in seinem Buch „Das Ende der Armut“ seine Strategie gegen das Elend der Entwicklungsländer präsentiert: Was sich, so Sachs, in über 20 Jahren praktischer Arbeit für ihn klar herausgestellt hat, ist, dass jede Entwicklungsarbeit mit einer genauen Analyse beginnen muss; mit einer „Differentialdiagnose“17 (vgl. Tabelle 3), wie er in Anlehnung an die Medizin auch schreibt, dabei aber genau jene Arbeit im Auge hat, die auch Martha Nussbaum im Anschluss an Aristoteles empfiehlt. Laut Sachs gehörte es die längste Zeit über zu den Kernfehlern von Institutionen wie der Weltbank, dass sie auf diese kontextsensitive Analysearbeit verzichtet hatten. Weshalb sie heute am Beginn aller Konzepte und institutionellen Maßnahmen stehen muss – egal, ob es sich um kleine Dorfgemeinschaften oder ganze Staaten handelt, für die solche Analysen genau so realisierbar sind. Wohin das führen kann, wird von Joseph Stiglitz thematisiert, der sich weniger für die analytische Arbeit als für das, was auf diese folgt, interessiert; mithin für die staatlichen Interventionen und Aktivitäten, die die Analyse-Ergebnisse gewissermaßen „verarbeiten“. Wobei es ihm nicht um Prinzipielles, sondern um ganz praktische und auch bereits erfolgreich genutzte Ansätze und institutionelle Maßnahmen geht. So plädiert Stiglitz etwa dafür, dass Entwicklungs- und Schwellenländer durchaus mit Schutzzöllen operieren sollen18, um ihren Bauern ein umfassendes Wachstum zu ermöglichen. Denn andernfalls haben etwa die Baumwollzüchter aus Burkina Faso keine Chance gegen jene 25.000 amerikanischen Pflanzer, die – im traditionellen und nur wenig plausiblen Stile amerikanischer wie europäischer Landwirtschaftspolitik – alle zusammen jährlich Subventionen in der Höhe von nicht weniger als 3 bis 4 Milliarden US-Dollar erhalten. Was es diesen (bekanntlich zum Teil steinreichen) Produzenten erlaubt, ihre Produkte zu Preisen zu verkaufen, bei denen der Bauer aus Burkina Faso mit seinem Pro-KopfEinkommen von 250 Dollar im Jahr einfach nicht mitkommt. Ebenso macht es für Stiglitz Sinn, wenn Entwicklungsländer gegen die WTO-Logik und –Politik mit „gestalteten Subventionen“ arbeiten oder aktiv ihre Wirtschaft ankurbeln. In China beispielsweise waren es örtliche politisch-institutionelle Körperschaften, die die Gründung von Betrieben in den vergangenen 20 Jahren vorantrieben. All das sind für den Ökonomen Strategien, mit dem sich „ganzheitliche Entwicklungsarbeit“ und damit ein Zuwachs an Chancen und dementsprechend Gerechtigkeit auf der Handels- wie Wirtschaftsebene realisieren lässt. Allerdings nur dann, wenn zu dieser ganzheitlichen Entwicklungsarbeit auch die Schaffung eines Sozialsystems, eines Bildungssystems, eines
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Tabelle 3: Die Differentialdiagnose (als Basis einer zeitgemäßen Entwicklungsökonomie) 1. Armutsfalle a. Bestandsaufnahme der Armut b. Anteil der Haushalte ohne Deckung der Grundbedürfnisse c. Räumliche Verteilung der armen Haushalte d. Räumliche Verteilung der primären Infrastruktur (Strom, Straßen, Telefon, Trinkwasser, Kanalisation, Müllbeseitigung) e. Ethnische, geschlechts- und altersspezifische Verteilung der Armut f. Wichtige Risikofaktoren i. Demografische Trends ii. Lebenswelt iii. Klimatische Probleme iv. Infektionskrankheiten v. Schwankungen der Güterpreise vi. Sonstiges 2. Wirtschaftspolitischer Rahmen a. Gewerbliche Umwelt b. Handelspolitik c. Investitionspolitik d. Infrastruktur e. Humankapital 3. Fiskalischer Rahmen und Steuerfalle a. Staatliche Einnahmen/ Ausgaben nach Kategorien i. Prozent des BSP ii. Absolutes Niveau im Vergleich zu internationalen Normen b. Steuer- und Ausgabenverwaltung c. Öffentliche Investitionen müssen die Armut lindern d. Makroökonomische Instabilität e. Überschuldung des staatlichen Sektors f. Quasifiskalische und versteckte Schulden g. Mittelfristige Ausgaben des staatlichen Sektors 4. Physikalische Geographie a. Transportverhältnisse i. Entfernung der Bevölkerung von Häfen, internationalen Transportwegen, schiffbaren Wasserwegen ii. Zugang zu befestigten Straßen iii. Zugang zu Güterfernverkehr b. Bevölkerungsdichte i. Kosten der Anbindung an das Strom-, Telekommunikations- und Straßennetz ii. Ackerland pro Kopf iii. Umwelteinflüsse auf das pro Kopf verfügbare Ackerland c. Landwirtschaftliche Bedingungen i. Temperatur, Niederschläge, Sonneneinstrahlung ii. Dauer und Zuverlässigkeit der Vegetationsperiode iii. Böden, Topografie, Eignung für Bewässerungssysteme iv. Mittelfristige Klimaveränderung v. Langfristige Klimatrends 5. Regierungsführung und Staatsversagen a. Staatsbürgerliche und politische Rechte b. Staatliche Verwaltungssysteme c. Dezentralisierung und fiskalischer Föderalismus d. Muster und Intensität von Korruption e. Politische Nachfolge und Dauerhaftigkeit f. Innere Gewalt und innere Sicherheit g. Grenzüberschreitende Gewalt und Sicherheit h. Ethnische, religiöse und andere kulturelle Spaltungen 6. Kulturelle Schranken a. Geschlechterverhältnis b. Ethnische und religiöse Spaltung c. Diaspora 7. Geopolitik a. Internationale Sicherheitsbeziehungen b. Bedrohung der inneren Sicherheit von außen i. Krieg ii. Terrorismus iii. Flüchtlinge c. Internationale Sanktionen d. Handelsschranken e. Beteiligung
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Gesundheitswesen, eines Rechtssystems, einer Raumordnung und noch vielem mehr gehört.
VI Über die angebliche Unmöglichkeit gestaltender Politik Freilich hört sich das alles einfacher und leichter an, als es dann letztlich ist. Denn mögen auch die Analysen, von denen gerade die Rede war, noch zu bewältigen sein – spätestens die Etablierung von Institutionen ist ein alles andere als einfaches Unterfangen. Nicht alle Institutionen, die für die relative Stabilität und Ausgewogenheit der europäischen Volkswirtschaften sorgen, sind beispielsweise geplant und „gebaut“ worden, wie liberale Theoretiker und Ökonomen aufgezeigt haben.19 Sie entstanden in langwierigen, evolutionären Prozessen, die nicht vollständig theoretisch beschrieben werden können und folglich auch nicht einfach wiederholbar sind. Das europäische Netz von Sozialstaaten hat insofern auch etwas Zufälliges und „Glückhaftes“, das sich im Falle einer Zerstörung nicht ohne weiteres wieder herstellen ließe. Was auch daran gemahnt, sich nicht einzubilden, dass sich eine Wirtschaft des gerechten Tausches einfach in Form eines „großen Rucks“ verwirklichen ließe. Es erscheint dann aber doch wieder seltsam, dass trotz existierender Strategien und Ansätze, wie sie von Sen, Stiglitz oder Sachs in einem „aristotelischen Geist“ konzipiert wurden, bei allen neuen Bemühungen um eine gerechtere Weltwirtschaft im Verhältnis noch immer sehr wenig passiert. An einer prinzipiellen Unmöglichkeit scheitert es offensichtlich nicht, wie der letzte Abschnitt gezeigt hat; wohl eher an eingefahrenen Denkmustern und an einem fehlenden politischen Willen, evolutionäre Institutionen-Entwicklungsprozesse wenigstens anzustoßen. Oder um es so zu formulieren: Es ist ein ganzes Paket von Ursachen und Zusammenhängen, das die heutigen Entscheidungsträger daran hindert, sich an der „Kunst der Gerechtigkeit“ zu versuchen: • Da sind einerseits die methodisch-technischen Fehler, von denen Jeffrey Sachs (wohl vor allem aus eigener Erfahrung) spricht. Statt mit genauen Analysen nähern sich viele Politiker wie auch Entwicklungsorganisationen bestimmten Zielgebieten mit fertigen Konzepten oder Ideologien, die über eine Region oder einen Kontext gleichsam „übergestülpt“ werden. Einen freien Markt dort zu „verordnen“, wo etwa Kleinproduzenten mit Weltmarktfirmen aufeinander treffen, ist mehr als nur grob fahrlässig – es ist schlichtweg dumm. Speziell vor dem Hintergrund, dass Wirtschaftshistoriker längst aufgezeigt haben, dass jene Länder, die für Freihandel plädieren oder plädierten, das stets erst dann tun oder taten, wenn sie sich mit protektionistischer Politik erfolgreich abgeschottet hatten, schließlich aber so hohe Überschüsse produzierten,
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dass ein Export und „freier Handel“ notwendig und unumgänglich wurde.20 • Ebenso darf nicht übersehen werden, dass den Behörden und Entscheidungsträgern in den Entwicklungsländern oft die Kraft fehlt, ein „aristotelisches Institutionen-Management“ zu betreiben. Es fehlt ihnen, so kann man Jeffrey Sachs verstehen, nur allzu oft an Geld, das die reichen Industrieländer aber nicht wirklich zu geben bereit sind. Bereits seit den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wird auf Konferenzen und Vollversammlungen der Vereinten Nationen betont und beschworen, dass die Industrienationen ihre Entwicklungshilfe auf 0,7% ihres Bruttosozialprodukts erhöhen sollten – was bis 2003, so der Atlas der Globalisierung, aber nur „5 der 22 wichtigsten Geberländer“ getan hatten, „darunter kein Mitglied der G7“.21 Die aktuelle Weltwirtschaftsordnung ist eben für die reichen Länder des Nordens gemacht; sie ist „geformt durch politische Interessen“, wie es Stiglitz formuliert22 und dabei auch gleich daran erinnert, dass viele der Vertragswerke, die den Welthandel regulieren, auf die Bedürfnisse der Industrienationen zugeschnitten sind. Was sich im Landwirtschafts- und damit im Rohstoff-Bereich besonders deutlich zeigt: Mit Vorliebe werden etwa Anti-Dumping-Zölle genutzt, um sich ungeliebte Produkte vom Leib zu halten. Kurzerhand wird dann etwa Mexiko von Seiten der USA vorgeworfen, ein „Tomaten-Monopol“ anzustreben und zu errichten. Wofür es zwar keine Belege gibt, was aber ausreicht, um Anti-Dumpingzölle aufzusetzen, die einen mexikanischen Tomaten-Import in Richtung USA unattraktiv machen. Übertroffen wird eine solche schamlose Ausnutzung von Rechtsrahmen nur mehr dann, wenn so genannte „technische Handelshemmnisse“ ins Spiel kommen – und sich die USA nicht entblödet, Mexiko z.B. vorzuwerfen, dass auf mexikanischen Avocados unsichtbare Taufliegen sitzen würden, die gesundheitsgefährdend wären und deshalb von den Vereinigten Staaten ferngehalten werden müssten. Laut Schätzung der chinesischen Regierung, so Stiglitz, werden rund 90% der chinesischen Agrarerzeugnisse mit solchen technischen Handelshemmnissen belegt, was das Land um Milliarden-Einnahmen bringt. Und in anderen, ärmeren Ländern, die ähnlichen Maßnahmen ausgesetzt sind, dafür sorgt, dass die wichtigen Gelder für ein umfassendes Institutionen-Management fehlen. Gerade solche Fakten werden von den reichen Industrienationen gerne erst gar nicht erwähnt oder gut verdrängt – was in der Regel jedoch nicht ganz gelingt und so mit ein Motor für jene Diskussionen über Gerechtigkeit und Verantwortung sind, die auch an dieser Stelle geführt werden. Die „Weigerung“ vieler Entscheidungsträger, ernsthaft etwas für eine gerechtere Weltwirtschaft und einen gerechten Handel zu tun, hat aber auch Ursachen, die noch viel tiefer liegen.
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Mit der „ganzheitlichen Entwicklungsarbeit“, von der Stiglitz spricht, oder mit der gestaltenden, analytisch-kontextsensitiven Politik, die Nussbaum propagiert, wird auch ein Konzept und Verständnis von Politik forciert, das gewissermaßen „aus der Mode“ gekommen ist. Denn was Nussbaum, Stiglitz, Sen oder Sachs fordern, ist Politik als Arbeit, d.h. eine Politik, die Strukturen entwickelt und nicht bloß zur Verwaltung übernimmt. Genau diese Politik ist jedoch seit wenigstens einem Jahrzehnt nicht mehr en vogue, ja mehr noch: Sie wird in der Regel als nicht leistbar und als unmöglich deklariert. Eine Politik, die im Sinne Nussbaums die Gesellschaft und deren Gestaltung im Fokus hat, wird gerne als Opfer der Globalisierung beschrieben, als Relikt einer vergangenen Zeit, die historisch mit der Entstehung und Entfaltung des Nationalstaats in Verbindung gebracht wird. Was aber nur als absurd bezeichnet werden kann. Denn was sich durch die enorme Entfaltung und das Zusammenwachsen des Weltwirtschaftssystems seit den frühen 1990er Jahren tatsächlich verändert hat, ist etwa der Status der „Medien-Politik“, die mit den 1980ern modern wurde. Ergo der Status einer Politik, die die medientaugliche Selbstinszenierung in den Mittelpunkt rückte und sich ansonsten auf die Verwaltung wohletablierter politischer Strukturen beschränkte: Wer unter Politik ein solches Tun versteht, wurde von der Globalisierung in der Tat an eine Grenze des Möglichen und Machbaren gebracht, die sich nicht überschreiten lässt. Denn „Medien-Politik“, die auf Inszenierung, Selbstdarstellung und mediales Spiel setzt, kann nur dort funktionieren, wo strukturell in gewisser Hinsicht „bereits alles geschehen ist“ und das Verteilen und Erhalten von institutioneller Macht das „eigentliche“ politische Geschäft darstellt. Was für eine Weltgesellschaft nicht gilt – hier muss strukturell gleichsam (fast) alles erst geschehen. Vergleichbares lässt sich über technologisch-pragmatische Politik sagen; mithin über eine Politikform, die die Sicherstellung des politischen Status quo zum Programm erhoben hat und sich ansonsten auf gut kontrollierte Weiterentwicklungen bestehender Gesellschaftsstrukturen beschränkt: Auch sie muss vor der Entfaltung eines Weltwirtschaftssystems kapitulieren, weil sie genau das aus der Politik ausgeschieden hat, was „das Politische“ solcher Situationen ausmacht – nämlich die experimentelle politische Arbeit, d.h. das – durchaus riskante – Entwickeln und Erproben neuer Strukturen und Institutionen, die dem neu entstandenen Gesellschaftstyp adäquat sind. Politikformen dieser Art haben sich tatsächlich überlebt – was aber nicht heißt, dass sich Politik generell oder speziell eine Politik überlebt hat, die gestalten will und die Gesellschaft im Auge hat. Im Gegenteil: Sie ist nicht unmöglich geworden, sondern bildet weiterhin die Aufgabe,
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die ansteht. Vor dem Hintergrund der Globalisierung ist gerade wieder Politik als Arbeit gefordert, und wer als Politiker findet, dass sie nicht realisierbar ist, hat seinen Beruf nicht verstanden oder sich zumindest den falschen Beruf ausgesucht. Selbstverständlich ist Politik als Arbeit ein langwieriger, mühsamer und konflikthafter Prozess, was aber nichts an seiner Möglichkeit und Notwendigkeit ändert: Dass sie dauert und Rückschläge kennt, unmöglich Erscheinendes denkt und aktiv verfolgt, aber dennoch nicht aufgibt, ist das Kennzeichen arbeitender Politik, wie sowohl die Entstehungsprozesse der europäischen Staaten wie der Europäischen Union selbst nur allzu deutlich zeigen. Doch wenn sie gelingt (und wahrscheinlich gibt es politisch keine reizvollere Aufgabe, als dieses Gelingen zu bewerkstelligen), wird vieles möglich – irgendwann auch wieder eine bequeme Medien- und Inszenierungspolitik, die sich auf Spektakel, Verwaltung und kleine Reformen und Innovationen beschränkt. Gestaltende Politik, respektive eine gerechte Politik, die das „gute Leben“ im Hinterkopf hat, muss also vor allem damit kämpfen, dass man sie ungerechtfertigter Weise und wohl auch aus Gründen der Bequemlichkeit für „am Ende“ erklärt (mitunter auch mit dem Argument, dass ihr durch die globalisierungsbedingte Abwanderung der Konzerne die notwendigen Steuermittel fehlen; doch wie oben schon gezeigt wurde, gehen durch Outsourcing kaum Arbeitsplätze verloren, wie es auch nicht den Anschein hat, dass die Veredelungsprozesse aus den Industrienationen ausgelagert würden), was freilich auch dem Bestreben der IndustrieLänder entgegenkommt, nichts an der Welthandelsordnung zu ändern. Das sind wohl – neben den genannten technischen Gründen – die Hauptursachen dafür, weshalb nach wie vor nur wenig von dem, was alles schon als Maßnahmen für eine gerechte Weltwirtschaft angedacht und erprobt ist, in der Realität umgesetzt wird. Vieles wird mit angeblicher Unmöglichkeit wegargumentiert – doch Unmöglichkeit gibt es nicht; mit Unmöglichkeit zu argumentieren bedeutet lediglich, sich schuldig zu machen.
VII Der irrige Glaube an Effizienz Zu all diesen Abgesängen auf die Politik kommt noch etwas hinzu, das ebenfalls etwaige Bestrebungen unterminiert, Gerechtigkeit im Weltwirtschaftssystem anzustreben: Es ist heute selbstverständliches Gedankengut geworden, dass sich Politik und Wirtschaft nicht vertragen. Womit vieles zugleich gesagt sein soll. Etwa, dass beides eben verschiedene gesellschaftliche Sphären sind und nicht vermengt werden dürfen; aber auch, dass politische Interventionen dem freien Spiel der Marktkräfte schaden. Und noch etwas steckt in diesem Gedankengang, nämlich
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dass Gesellschaftsgestaltung in Sinne einer gerechten Gestaltung und wirtschaftliche Effizienz nicht zusammengehen. Diese Überzeugung hat die politische Rhetorik wie das politische Tun seit bald zwei Jahrzehnten geprägt und ist der Hintergrund für all jene Aussagen, die einen Abbau wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen prinzipiell für notwendig halten, wenn die Wirtschaftskraft des Landes oder der (Groß-) Region nicht gefährdet sein soll. Nun ist es keine Frage, dass Wohlfahrt und Institutionen Geld kosten und aus der privaten wie öffentlichen Wirtschaftsleistung eines Gemeinwesens finanziert werden müssen – wie es auch keine Frage ist, dass dabei alle möglichen Fehler gemacht und der Bogen überspannt werden kann (z.B. durch eine Finanz- und Steuerpolitik, die die Inflation auf eine Höhe treibt, die, wie in den späten 1970ern, die wirtschaftliche Entwicklung gefährdet). Doch keiner dieser möglichen Fehler ist ein Beleg oder Beweis dafür, dass Gerechtigkeitsbestrebungen im Hinblick auf eine Gesellschaft die Wirtschaft und deren Entwicklung unterminieren würden: Sie bedeuten lediglich, dass die beiden Ziele, eine gerechte Gesellschaft und eine effiziente Wirtschaft zu haben, technisch-gestalterisch verfehlt wurden; jede andere Schlussfolgerung wie die, dass die beiden Ziele unvereinbar sind, ist illegitim, weil sonst die sprichwörtlichen Äpfel mit den Birnen vermischt werden. Effizienz und Gerechtigkeit können nämlich in gar keinen Zielkonflikt miteinander geraten, wie etwa das Autoren-Team Richard Sturn, Martin Held und Gisela Kubon-Gilke, alle drei in den Bereichen Wirtschafts- und Finanzwissenschaften tätig, eindrucksvoll aufgezeigt haben.23 Einfach weil sie, wie die genaue logische Analyse zeigt, unterschiedlichen kategorialen Feldern angehören, die in keinem direkten „Kontakt“ miteinander stehen, weshalb ein Abwägen zwischen Gerechtigkeit und Effizienz letztlich einen Kategorienfehler darstellt. Was doch deutlich von der Standardmeinung abweicht. Denn laut dieser ist, wie Sturn und seine MitautorInnen zeigen, eben sehr wohl ein Abwägeverhältnis gegeben; Gerechtigkeit wie Effizienz sind demnach Konzepte, die auf der gleichen Zielebene „zu Hause“ sind. Wobei das Effizienz-Konzept, so die Standardmeinung, weit mehr als bloß ein Konzept ist: Eigentlich handelt es sich bei ihr um so etwas wie eine empirische Größe und ein „Faktum“ (das sich z.B. mathematisch in Form der Pareto-Optimalität eines Marktes klar definieren und bestimmen lässt), während das Konzept „Gerechtigkeit“ in der Tat ein Konzept, d.h. voll der normativen Voraussetzungen und stillen Annahmen ist. Für Sturn, Held und Kubon-Gilke sind beide Bilder, die die Standardmeinung zum Verhältnis von Gerechtigkeit und Effizienz hat, falsch. Denn beispielsweise ist Effizienz keineswegs eine empirische Größe, son-
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dern ebenfalls nur ein Konzept, in dem normative Annahmen stecken. Das zeigt sich z.B. daran, dass Effizienz ein relationaler Begriff ist: Es macht keinen Sinn, zu sagen, dass man effizient sein will; stets muss dazu angegeben werden, in Bezug worauf man effizient sein will; im Hinblick worauf man einen optimalen Mitteleinsatz zu pflegen gedenkt. Das setzt aber voraus, dass es Einzelakteure gibt, die Ziele haben und diese auch verfolgen wollen – womit aber auch Wertungen ins Spiel kommen. Denn es existieren keine Ziele, die nicht in irgendeiner Form von Werthaltungen und normativen Annahmen durchzogen sind. Insofern ist auch der Effizienz-Begriff stets „schwammig“ und von Momenten geprägt und durchzogen, die sich nicht logisch – a priori, sondern nur durch Erhebungen und Befragungen klären lassen – ganz so, wie das im Zuge einer umfassenden Bestimmung des Begriffs „Gerechtigkeit“ notwendig ist. Darüber hinaus macht die normative „Impregmiertheit“ des Effizienzbegriffs auch gleich deutlich, in welcher logischen Relation „Gerechtigkeit“ und „Effizienz“ zueinander stehen: Effizienz braucht, wie gerade dargestellt, einen Bezug, wenn nicht eine Leerformel gesagt werden soll, wobei dieser Bezug konkret die Ziele von Einzelnen sind, die diese effizient, unter optimalem Mitteleinsatz, erreichen wollen. Ziele inkludieren aber auch Werte und Werthaltungen, zu denen z.B. auch der Wunsch nach Gerechtigkeit und Fairness gehören. Gerechtigkeit ist so besehen eine Voraussetzung oder Vorbedingung von Effizienz; etwas, das nötig ist, damit Menschen überhaupt wissen und entscheiden können, in Bezug worauf sie effizient agieren wollen. Effizienz und Gerechtigkeit stehen deshalb in keinem Zielkonflikt miteinander; die Effizienz ist der Gerechtigkeit gleichsam logisch „nachgelagert“, bzw. die Gerechtigkeit geht ihr vor. Was auch erklärt, weshalb – wie die oben bereits mehrfach zitierten Wuppertaler Forscher betonen – europäischen Staaten (bei allen Schwächen und Mängeln, die gegeben sind) sehr wohl gesellschaftliche Gerechtigkeit verwirklichen konnten24 und zugleich doch auch extrem erfolgreiche und effiziente Volkswirtschaften bilden: Ganz offensichtlich schließt sich beides nicht aus; es bedarf „nur“ der intensiven (politischen) Bemühungen, den richtigen und immer wieder zu erneuernden Institutionen-Mix zu finden, der Verwirklichungschancen und zugleich wirtschaftliches Wachstum zulässt.
VIII Lokalität: Keimzellen neuer Handlungsfähigkeit Der „Allianz der Unwilligen“, die mit Pseudo-Argumenten Gerechtigkeit gegen Effizienz ausspielt und die Unmöglichkeit einer gestaltenden Politik beschwört, stehen allerdings auch genügend engagierte Personen und Gruppen gegenüber, die mit dem Bau gerechter Wirtschafts- und
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Handelsgefüge einfach beginnen. Und zwar jenseits der „großen Politik“ und des Mainstreams, dem Sen, Sachs oder auch Stiglitz angehören. Denn nicht wenige Beobachter und Analytiker der Weltwirtschaftsordnung sind der Ansicht, dass die „strukturelle Gewalt“, die im Nord-Süd-Gefälle steckt und sich u.a. in den geschilderten divergierenden Gewinnspannen zwischen (südlichen) Rohstoffproduzenten und (nördlichen) Veredelungsökonomien äußert, nicht durch neu zu schaffende institutionelle Settings verändert werden kann. Für diese Beobachter, zu denen keineswegs nur Globalisierungskritiker zählen, sind diese Settings entweder für ein komplexes Gefüge, wie es die Weltwirtschaft darstellt, einfach nicht schaffbar, oder quasi per definitionem korrumpiert: Wie die Weltbank, die WTO oder der Währungsfond würden sie wahrscheinlich die Interessen und Ziele der Industrienationen vertreten – und sei es, indem sie in einem kleinen indischen Dorf Bildungsstrukturen etablierten, die einer westlichen Wissensvermittlung und nicht einer traditionellen folgen. Was in weiterer Folge die Basis für zusätzliche westliche Strukturen ist, die von der Ökonomisierung der Beziehungen bis hin zu einer Landwirtschaft reichen, die nicht lokale, sondern internationale Märkte zu bedienen gedenkt. Zudem fehlt diesen Beobachtern, zu denen etwa Sarah Laeng-Gilliatt vom Santa Fe „Institute for Non-Violent Economics“ (New Mexico) zu zählen ist 25, der Glaube daran, dass überhaupt irgendjemand Interesse daran hat, tatsächlich neue institutionelle Settings im Sinne einer Martha Nussbaum oder eines Joseph Stiglitz zu schaffen. Ganz ohne Hilfe der Industrienationen ist das nämlich, wie oben schon angedeutet, nicht möglich; allerdings würden die Industrienationen durch Strukturen, die Menschen dabei helfen, ihre grundlegenden Fähigkeiten zu realisieren, nur verlieren: Wo ein Gemeinwesen mit Gesetzen, Institutionen und Strukturen dafür sorgt, dass z.B. Menschen ihre Bedürfnisse nach sozialer Sicherheit leben können (und deshalb etwa ein Sozialversicherungssystem, Arbeitsrechte und ökologische Schutzprogramme etabliert) oder die kognitive Entwicklung der Bürgerinnen und Bürger mit Bildungs- und Persönlichkeitsentwicklungsprogrammen unterstützt, also seinen Mitgliedern dabei hilft, ein „gutes Leben“ zu verwirklichen, werden z.B. die naiven, kritiklosen Billigarbeitskräfte rar – und damit das, was dieses Gemeinwesen davor möglicherweise für einen westlichen Großkonzern interessant gemacht hatte. Handels-Gerechtigkeit zu forcieren, die eben immer mehr als nur eine veränderte Preispolitik zu sein hat, würde mithin bedeuten, eigene Vorteile zu reduzieren. Was, wie besagte Beobachter meinen, nicht vorkommen wird. Diejenigen, die WTO, Währungsfond und Weltbank misstrauen, setzen daher weder auf Makro-, noch auf Mikropolitik, also weder auf Welt- noch auf nationale oder lokale Politik, um an veränderten Wirtschaftsgefügen
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im Sinne eines „guten Lebens“ zu arbeiten. Stattdessen konzentrieren sie sich wie die schon genannte Sarah Laeng-Gilliatt auf Lokalwirtschaft, ergo auf eine lokal ausgerichtete Ökonomie. Womit nicht etwa eine wirtschaftliche Organisationsweise gemeint ist, die den Welthandel generell ablehnt: Verfechter einer Lokalwirtschaft stehen bloß auf dem Standpunkt, dass alles, was z.B. an Lebensmitteln auf regionaler Basis produziert und gehandelt werden kann, auch auf regionaler Basis produziert und gehandelt werden sollte. Weil das nicht nur ökologisch sinnvoll ist, da es etwa Transportkosten einspart. Ebenso hilft es lokalen Produzenten, zu überleben, ohne zu Zulieferern des Weltmarkts zu werden. Was es wiederum den Produzenten in den Entwicklungsländern ermöglicht, ihr Geschäft abzusichern, da für sie ja Importe eines der zentralen Probleme darstellen: Wären europäische Bauern damit beschäftigt, europäische lokale Märkte zu beliefern, würden, woran in dem Film We feed the world erinnert wird, nicht etwa senegalesische Bauern unter Druck geraten, die ja heute u.a. damit zu kämpfen haben, dass EU-Lebensmittel auf den Marktplätzen von Dakar billiger sind als jene, die im Senegal produziert werden. Noch wichtiger ist für Laeng-Gilliatt aber, dass eine lokal orientierte Ökonomie eines schafft und am Leben erhält, was in der internationalen Wirtschaft verloren gegangen ist – und zwar direkte Beziehungen. Denn solche sind unerlässlich, wo es eine Gemeinschaft und eine gemeinschaftliche Gestaltung von Lebenszusammenhängen geben soll. Gemeinschaftliche Gestaltung inkludiert aber – bei allen Konflikten und Auseinandersetzungen – jenen Respekt und jene Achtsamkeit gegenüber anderen, die wieder die Basis von Freiheit und damit von Entwicklungschancen ist. Konkret von Entwicklungschancen, die nicht nur formal und rechtlich bestehen, sondern durch gemeinschaftliche Gestaltung (zu der dann z.B. eine aristotelische Analyse im oben skizzierten Sinne und verschiedenste Unterstützungsmaßnahmen gehören) auch tatsächlich gefördert werden. In vielerlei Hinsicht sind diese lokalwirtschaftlichen Ansätze noch Programm, jedoch nicht nur: So existiert in Santa Fe beispielsweise eine „Independent Business Citizen Alliance“, die ihre Mitglieder dazu motivieren will, nur in lokalen Geschäften und nicht in den Outlets internationaler Ketten einzukaufen. Der Sinn dieser Initiative ist die Stärkung der Lokalwirtschaft wie auch der Beziehungsaufbau zwischen den Menschen (was u.a. zu einer „Food Sovereignty“, zu einer regionalen Autonomie im Lebensmittelbereich, führen soll), wozu diese Initiative aber weniger auf Institutionalisierung und Politik als vielmehr auf Moral und Überzeugung setzt: Die Bürgerinnen und Bürger sollen begreifen, dass Lokalwirtschaft sinnvoll ist, um danach selbstverantwortlich und aus sich heraus – und nicht durch Gesetze oder Normen – auch so zu handeln, wie es lokalwirtschaftlich sinnvoll erscheint.
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Den Hintergrund für diese ethisch motivierte Herangehensweise an die Trade- und Produktionsproblematik bildet bei Laeng-Gilliatt die so genannte buddhistische Ökonomie, die von ihrer Denkweise her repräsentativ für verschiedenste Ansätze ist, die als Basis für lokalwirtschaftliches Denken und Handeln fungieren. Allerdings ist die buddhistische Ökonomie kein umfassendes und ausformuliertes Theoriegebäude, wie der deutsche Wirtschaftenswissenschafter Karl-Heinz Brodbeck (bekannt für sein Buch „Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie“) betont.26 Mehr ist sie als Ideensammlung zu begreifen, die aber doch eine klare Linie verfolgt: Als kritische Ethik geht es ihr nicht wie der klassischen ökonomischen Theorie um die Erklärung wirtschaftlicher Strukturen und Kausalitäten, sondern um die Aufklärung jener Zusammenhänge, in der man als Mensch und Mitglied einer Gesellschaft buchstäblich handelt, also auch Handel betreibt. Genauer gesagt: Die buddhistische Ökonomie will dazu anhalten, zu reflektieren, welche Konsequenzen das Handeln in jeder Hinsicht hat. Und zwar nicht nur im Sinne eines Begreifens der möglichen sozialen oder ökologischen Folgen des Tuns; die hier angestrebte Reflexion geht noch tiefer: Es gilt zu begreifen, dass man als Mensch kein in sich geschlossenes Subjekt darstellt, also nicht jemand fixer „ist“, der ganz bestimmte Wünsche, Bedürfnisse und Begierden hat, die gleichsam unveränderbar vorliegen. Im Rahmen einer genauen Selbstuntersuchung soll vielmehr verstanden werden, dass ein solches narzisstisches Selbst-Bild – ich bin ich und was ich brauche, brauche ich – schlichtweg keine Passung hat, weil der Mensch relational mit anderen Lebewesen und Strukturen vernetzt ist. Praktisch bedeutet das, dass sich ein Mensch, wie man auch bei jedem genauen Hinsehen feststellen kann, von Kontext zu Kontext verändert oder zumindest verändern kann. Alles Fixe, Stabile, jedes zu stark und substantiell gedachte „Ich“ ist eine Illusion, deren krampfhafte Verteidigung nur zu Kummer und Leid führt; bestenfalls existieren verschiedene „Iche“ oder „Ich-Anteile“, deren größte Qualität aber die Flexibilität bei gleichzeitiger Konstanz ist. Hat man das aber erst begriffen und noch wichtiger: erlebt, inkludiert das in der Regel auch eine Verhaltensänderung: Die Ich-Fixierung und -Konzentration geht zurück; aus einem Ich-bezogenen Lebewesen wird eines, das auf andere Menschen ausgerichtet ist. Und deshalb das Kooperieren über das Abgrenzen und das „Um-den-eigenen-Vorteil-besorgt-Sein“ stellt. Was nun auch, ökonomisch betrachtet, der entscheidende Punkt ist: Wer sich buddhistischer Ökonomie verpflichtet fühlt, strebt nach Zusammenarbeit statt einen Konkurrenzkampf zu pflegen. Wirtschaft wird, ähnlich
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wie bei Aristoteles, Nussbaum oder Sen, zu einem sozialen Beziehungsgeschehen, in dem es dann z.B. darum geht, lokale Tausch-Gemeinschaften zu entwickeln, die eben etwa nach „Food Sovereignty“ streben, oder Käufergemeinschaften in lokalen Netzwerken bilden – nicht unähnlich den Bauern-Märkten, die in den vergangenen 20 Jahren wieder an Bedeutung gewonnen haben. Die Befriedigung von BedürfChristian Eigner und Michaela Ritter betreitigkeit wird hier gleichsam zum ben in Graz das „Büro für PerspektivenManageInhalt des Wirtschaftens – was ment“ (www.perspektivenmanagement.com), etwas fundamental anderes als das sich auf systemisch-analytische Organisadie Befriedigung von Gier ist. tionsberatung, Coaching sowie ProjektkonzepUnd auch wenn es die gegention und –realisierung spezialisiert hat. In diewärtige Wirtschaftskultur kennsen Feldern steht die Auseinandersetzung mit zeichnet, dass diese Grenze den gesellschaftstheoretischen und psychodyzwischen Gier und Bedürftignamischen Aspekten von Organisationen und keit verwischt wird: Gier fühlt Institutionen im Mittelpunkt. Ergänzt wird diesich anders als Bedürftigkeit ser Tätigkeitsbereich durch den Zusatzschweran (die wieder nicht mit irgendpunkt Wissenschaftskommunikation; letztere welchen objektiv definierten wird sowohl beratend-konzeptiv als auch in Grundbedürfnissen zu verwechseln ist, da Bedürftigkeit das Form von Textproduktionen realisiert. Ergebnis von gewachsenen BioÜber die nächsten Jahre hinweg wird das grafien ist) – was wir nur zu Büro zudem zu einer psychotherapeutischen Praxis (Systemische Therapie/Psychoanalyse) genau zu unterscheiden wissen. ausgebaut. All das bedeutet im Übrigen Christian Eigner, geb. 1966, ist gelernter Geisnicht, dass eine buddhistische teswissenschafter und veröffentlichte u.a. als Ökonomie und lokale WirtWissenschaftspublizist in zahlreichen Medien, schaftspraktiken „kollektivisetwa in „Lettre International“. Seit Herbst 2005 tisch“ oder dergleichen sind. Das Tun erfolgt, wie Laengist er Ausbildungskandidat im „Arbeitskreis für Psychoanalyse Linz/Graz“. Gilliatt und Brodbeck betonen, aus verstehender Erkenntnis Michaela Ritter, geb. 1968, ist promovierte und in weiterer Folge aus jener Eigeninitiative, zu der diese Betriebswirtin (Studium in Graz und Harvard), hat eine Ausbildung zum systemischen Coach Erkenntnis antreibt. und ist als Organisationsberaterin wie auch als Damit ist die GerechtigkeitsSystemische Therapeutin (i.A.u.S.) tätig. problematik allerdings auf eine Ebene zurückverschoben, von der sie die Ökonomen seit Adam Smith gerade ablösen wollten – nämlich auf die individuell-ethische. Ähnlich wie der von Aristoteles inspirierte Weg eine „Re-Sozialisierung“ der Ökonomie in Form einer Politisierung (im weitesten Sinn des Wortes) betreibt, betreibt die buddhistische Ökonomie (auch als Metapher für verschiedenste lokalwirtschaftliche Ansätze verstanden) eine „Re-Sozialisierung“ wirtschaftlichen Handelns
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durch Ethisierung. Das gerechte Wirtschaften und Handeln wird wieder zu einer Sache des Einzelnen, während die ökonomische Theoriebildung in den vergangenen 200 Jahren versuchte, Gerechtigkeit zu einem Struktureffekt zu machen: Wo Märkte im Gleichgewicht sind, so die ökonomische Logik, und die Lage eines Marktteilnehmers nicht mehr verbessert werden kann, ohne dass sich die Lage eines anderen Marktteilnehmers verschlechtert, wird die Verteilungs- und damit überhaupt die Gerechtigkeitsfrage obsolet. Die Wirtschaft wächst dann nämlich, und wo das der Fall ist, gilt das gleiche wie bei Flut am Meer: Sie hebt stets alle Schiffe; die großen Yachten ebenso wie die kleinen Boote. Wie problematisch diese Logik der ökonomischen Theoriebildung ist – denn nur allzu oft werden die kleinen Boote von der Flut mit- und weggerissen –, wurde mittlerweile oft genug aufgezeigt. Es stellt sich jedoch auch die Frage, ob die Re-Ethisierung ein geeigneter Weg zu einer gerechteren Wirtschaft ist. Denn meist reicht es nicht, mit ethischen Steuerungskonzepten allein zu arbeiten; es bedarf, wie Immanuel Kant aufgezeigt hat, auch des Rechts und darüber hinaus der Verfassung, um ein brauchbares Gefüge von Normen und Regelwerken für eine komplexe Gesellschaft zu erhalten. Womit aber wieder Institutionen und institutionelle Settings ins Spiel kommen. Nichts desto trotz ist die Lokalwirtschaft eine jener Keimzellen, in der Fairness für den Handel und das Wirtschaftsleben generell zurückgewonnen werden. Und vielleicht ist sie am Ende auch die einzige Alternative, die zur aktuellen globalisierten Wirtschaft bleibt – nämlich wenn sich zeigt, dass diese aufgrund ihres Umfangs und Komplexitätsgrades beim besten Willen und geschicktesten Institutionen-Management nicht veränder- und reformierbar ist.
IX Die Kunst des Ausgleichs – und der Gerechtigkeit Natürlich gibt es auch noch eine ganze Reihe anderer Kontexte, in denen die Akteure um Gerechtigkeit im Sinne eines Eröffnens von Entwicklungschancen bemüht sind. Die FAIRTRADE – Bewegung etwa ist ein solcher Kontext, wenn sie internationale, globale Produktionsketten, von denen schon die Rede war, dahingehend zu verändern sucht, dass die Produzenten aus Entwicklungsländern in ihnen höhere Preise erzielen können (und dabei vielleicht nicht weit genug geht, weil eben, wie aufgezeigt wurde, ein gerechter Handel ein ganzes Paket an institutionellen Maßnahmen braucht). Wie auch die moderne Organisationsentwicklung27 mit ihrer Betonung von quasi-aristotelischen Kontextanalysen und halbbuddhistischen Selbstentwicklungsaufträgen für die organisationalen Akteure eine solche Keimzelle ist. Mitten in der Wirtschaft ist die Kunst der Gerechtigkeit also bereits ein Thema; nicht bloß als Problem der gerechten Verteilung von Gewinn oder
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Ressourcen, sondern als Aspekt des „guten Lebens“, den es als Horizont des Handelns zu sehen und weiter zu etablieren gilt. Das ist eine neue und hoffnungsvolle Entwicklung, die aber nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass in der Regel meist das Gegenteil der Fall ist. Die Arenen des Tausches sind nur allzu oft von Unfairness gekennzeichnet; von einer konsequenten und kalkulierten Nutzung des Strukturgefälles, das zu Beginn aufgezeigt wurde. Weshalb der vorliegende Band auch einen Doppeltitel trägt: Es geht um FAIRTRADE aber auch um UNFAIR TRADE; um die positiv zu verzeichnende Entwicklung hin zu mehr Fairness wie um die herrschenden Realitäten der Ungerechtigkeit. Die Priorität liegt jedoch eindeutig auf dem gerechten Tausch, der auf seine Rahmenbedingungen, seine Möglichkeiten und auch auf das hin untersucht wird, was sein Aufkommen für die Politik, oder besser: für das politische System bedeutet.
Grundsätzlich verlässt UN/FAIR TRADE also den Weg der Klage und der Kritik und versucht, neue Wege zu einer gerechteren Weltwirtschaft aufzuzeigen – die allerdings nicht utopisch, sondern praktisch orientiert sind und bereits erprobt wurden. Was aber nicht heißt, dass UN/FAIR TRADE übersieht, wie schwierig der Weg von einem ungerechten Handel zu einem fairen ist. Denn selbst für den Fall, dass von nun an Strukturen des gerechten Tausches auf diesem Planeten existieren würden, gäbe es noch immer eine gewaltige Erbschuld zu tragen, die de facto einen „Start bei Null“ verhindert. Und zwar dahingehend, dass Milliarden von Menschen in den Entwicklungsländern nicht nur „objektiv“ ungerecht behandelt wurden, sondern sich auch ungerecht behandelt fühlen. Was, wie psychologische und systemische Forschung aufgezeigt haben, von Bedeutung ist und Folgen haben kann. Denn Gerechtigkeit zu erfahren bedeutet auch, von demjenigen, der einen ungerecht behandelt hatte, so etwas wie ein Eingeständnis der Schuld zu hören – bzw. zu sehen, dass dieser für sein Verhalten verurteilt wird. Nur so wird der Ausgleich möglich28, der zur Gerechtigkeit dazu gehört – mag er auch noch so symbolisch und asymmetrisch in Relation zu dem sein, was gleichsam „verbrochen“ wurde. Auf das Phänomen des Ausgleichs wird in der Diskussion um eine gerechtere Weltwirtschaft meist vergessen, weshalb es in UN/FAIR TRADE gezielt zum Thema gemacht wird. Ja, vielleicht ist es sogar das Thema des Projekts schlechthin. Weil dieses eine Ungerechtigkeit
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ausspricht und etwas zurückerstattet, was nicht nur in den Entwicklungsländern verloren gegangen ist: Die Kunst der Gerechtigkeit.
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Anmerkungen 1 Diese und die in den folgenden Absätzen aufgelisteten Zahlen stammen aus: Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie (2006). Vgl. speziell Kapitel 2, Ungleichheit im Umweltraum, S. 45 ff.
Vgl. dazu: Le Monde diplomatique, Atlas der Globalisierung. Die neuen Daten und Fakten zur Lage der Nation, Das Kapitel Rohstoffe für die Welt ist auf den Seiten 28 ff. zu finden.
2
Auch diese Zahlen wie jene über den Geld-Wert der importierten Stoffe und Waren stammen aus dem in Anmerkung 1 genannten Kapitel Ungleichheit im Umweltraum des FAIR FUTURE-Reports. 3
Standorte: die Drohung mit dem Ausland, in: Le Monde diplomatique, Atlas der Globalisierung. Die neuen Daten und Fakten zur Lage der Nation, S. 94 ff. 4
Le Monde diplomatique, Atlas der Globalisierung. Die neuen Daten und Fakten zur Lage der Nation, vgl. Anmerkung 2, S. 156 ff. 5
Jeffrey D. Sachs (2006). Der Verweis auf die Ausbeuterbetriebe sowie die hier und im folgenden genannten Zahlen sind dem Kapitel 1, Ein globales Familienbild, S. 17 ff., entnommen.
6
Branko Milanovic (2005). Vgl. speziell S. 61 ff., „Winners and Losers: Increasing Dominance of the West“. Zu den Kapitalflüssen der USA (nächster Absatz): S. 79 7
8 Über diese Problematik gibt erneut der Atlas der Globalisierung. Die neuen Daten und Fakten zur Lage der Nation (vgl. Anmerkung 2) umfassend Auskunft, vgl. S. 66, Afrika – ein Drama und seine Akteure. 9
Ebda, S. 86, In der Schuldenfalle: kein Ausweg für die ärmsten Länder.
10 Diese Zahlen sind dem FAIR FUTURE-Report entnommen, vgl. Anmerkung 1. Konkret befinden sie sich in Kapitel 1, Gerechtigkeit für Realisten, S. 13 ff. 11
Karl Sigmund, Ernst Fehr, Martin A. Nowak (2006), S. 55 ff.
12
Alle folgenden Aussagen zu Sen beziehen sich auf: Amartya Sen (1999).
Alle folgenden Passagen, in denen Martha Nussbaum genannt wird, beziehen sich auf folgenden Text von ihr: Der aristotelische Sozialdemokratismus, in: Martha C. Nussbaum (1999), S. 24 ff.
13
14
Ebda, S. 57 ff.
15 Joseph Stiglitz (2006). Vgl. zum Thema „ganzheitliche Entwicklung“ oder „ganzheitlicher Entwicklungsansatz“, S. 73 ff. 16
Vgl. Anmerkung 13.
Vgl. Anmerkung 6. Interessant in diesem Zusammenhang ist speziell Kapitel 4 aus Sachs’ Buch, Eine klinische Ökonomie, S. 97 ff.
17
Stiglitz – vgl. Anmerkung 15 – beschäftigt sich ausführlich mit möglichen Maßnahmen in Kapitel 3, Eine faire Welthandelsordung, ab S. 89.
18
Der evolutionäre Charakter von Institutionen wird etwa von Friedrich August von Hayek immer wieder betont; vgl. etwa Die Ergebnisse menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs, in: F.A.v. Hayek (1994). 19
20 Das wird bei Stiglitz immer wieder deutlich, im Kapitel Eine faire Welthandelsordnung, vgl. Anmerkung 18. Ebenso interessant in diesem Zusammenhang: Le Monde diplomatique, Atlas der Globalisierung (Vgl. Anmerkung 2), S. 90 ff.: Freihandel, das Prinzip des Stärkeren.
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21 Aus: Le Monde diplomatique, Atlas der Globalisierung (Vgl. Anmerkung 2), S. 86 ff.: In der Schuldenfalle: kein Ausweg für die ärmsten Länder.
Vgl. Stiglitz (Anmerkung 15), der das gleich zu Beginn seines Buches (S. 22) betont. Die Passagen zum Tomaten-Monopol und zu den technischen Handelhemmnissen finden sich im Abschnitt Was zu tun ist ab S. 113.
22
Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf folgenden Artikel: Richard Sturn, Martin Held und Gisela Kubon-Gilke, Unproblematische Effizienz und problematische Gerechtigkeit? Dimensionen eines Trade-offs besonderer Art, in: Martin Held, Gisela Kubon-Gilke, Richard Sturn (Hg.) (2002), S. 11 ff.
23
Vgl. FAIR FUTURE, Anmerkung 1; Überlegungen zur Gerechtigkeit finden sich in diesem Report in Kapitel 1, Gerechtigkeit für Realisten, S. 13 ff.
24
25 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf nachstehende Text von Sarah Laeng-Gilliatt, die auf der WebSite www.nonviolenteconomics.org zu finden sind (Stand: 16.6.2007): Globalization and Human Friction, Strengthening Peace through Building the Local Econony, Promoting Local Food Systems Globally: The World Trade Organization versus People’s Food Sovereignty, sowie über Sarah Laeng-Gilliatt: Santa Fe Resident Takes A Different Approach To Modernization, von Gussie Fauntleroy.
Ausführlich dargestellt werden die Positionen der buddhistischen Ökonomie auf der WebSite „Buddhismus und Ökonomie“ www.buddhanetz.org/texte/ texte.htm#wirtschaft (Stand: 16.6.2007), auf der sich etwa folgende Texte befinden: Karl-Heinz Brodbeck, Buddhistische Ökonomie; Martin H. Petrich, Die ‚Entwicklungs‘-Mönche in Thailand; E. F. Schumacher, Buddhist Economics; Hans-Günter Wagner, Buddhistische Wirtschaftslehre. Das stille Glück des einfachen Lebens. Diese Texte sind die Grundlage für die nachfolgenden Passagen. 26
Solche Positionen sind etwa formuliert in: Peter Nausner (2006); Robert Kana, Jeanny Gucher (2006). Vgl. aber auch Systemischanalytische Organisationsentwicklung, www.perspektivenmanagement. com/Service/Systemisch_analytische_Organisationsentwicklung
27
Vgl. zum Thema des „Ausgleichs“ das Interview mit Matthias Varga von Kibed und Insa Sparrer in diesem Band!
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Bibliografie ATTAC (Hg.), Zwischen Konkurrenz und Kooperation. Analysen und Alternativen zum Standortwettbewerb, Wien: Mandelbaum Verlag, 2006. Jean-Pierre Boris, (UN) FAIR TRADE. Das profitable Geschäft mit unserem schlechten Gewissen, München: Wilhelm Goldmann Verlag, 2006. Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts, Der Handel, München: Kindler Verlag, 1986. Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts, Aufbruch zur Weltwirtschaft, Frankfurt a.M./Wien: Büchergilde Gutenberg, 1986. F.A.v. Hayek, Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze, Tübingen: J. C. B. Mohr Verlag, 1994 (2. Aufl.). Martin Held, Gisela Kubon-Gilke, Richard Sturn (Hg.), Normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik, Jahrbuch 1: Gerechtigkeit als Voraussetzung für effizientes Wirtschaften, Marburg: Metropolis-Verlag für Ökonomie, 2002. Martin Held, Gisela Kubon-Gilke, Richard Sturn (Hg.), Normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik, Jahrbuch 6: Ökonomie und Religion, Marburg: Metropolis-Verlag für Ökonomie, 2007. Karl Homann, Andreas Suchanek, Ökonomik. Eine Einführung, Tübingen: Mohr Siebeck Verlag, 2000. Robert Kana, Jeanny Gucher, The Pentagon Challenge. Das Management des Ausnahmezustands, Wien: MANZ, 2006. Le Monde diplomatique, Atlas der Globalisierung. Die neuen Daten und Fakten zur Lage der Nation, Berlin: Le Monde diplomatique, taz Verlags- und Vertriebs GmbH, 2006. Angus Maddison, Die Weltwirtschaft: Eine Milleniumsperspektive, OECD Entwicklungszentrum, 2004. Branko Milanovic, Worlds Apart. Measuring international and global inequality, Princeton/Oxford: Princeton University Press, 2005. Peter Nausner, Projektmanagement, Wien: Facultas Verlags- und Buchhandels AG/ WUV UTB, 2006. Martha C. Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Gender Studies, Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 1999. Èrik Orsenna, Weisse Plantagen. Eine Reise durch unsere globalisierte Welt, München: C. H. Beck Verlag, 2007. OECD, OECD Factbook 2007 – Economic, Environmental and Social Statistics, OECD, 2007. Jeffrey D. Sachs, Das Ende der Armut. Ein ökonomisches Programm für eine gerechtere Welt, München: Pantheon Verlag, 2006. Amartya Sen, Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München/Wien: Carl Hanser Verlag, 1999. Spektrum der Wissenschaft – Dossier, Fairness, Kooperation, Demokratie. Die Mathematik des Sozialverhaltens, Dossier 5/2006. Joseph Stiglitz, Die Chancen der Globalisierung, München: Siedler Verlag, 2006.
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Karl Sigmund, Ernst Fehr und Martin A. Nowak, Teilen und Helfen – Ursprünge sozialen Verhaltens, in: Spektrum der Wissenschaft – Dossier, Fairness, Kooperation, Demokratie. Die Mathematik des Sozialverhaltens, Dossier 5/2006. Immanuel Wallerstein, Das moderne Weltsystem – Die Anfänge kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert, Frankfurt: Syndikat Verlag, 1986. Immanuel Wallerstein, Das moderne Weltsystem II – Der Merkantilismus. Europa zwischen 1600 und 1750, Wien: Promedia Verlag, 1998. Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie (Hg.), FAIR FUTURE. Begrenzte Ressourcen und globale Gerechtigkeit. Ein Report, München: C.H. Beck Verlag, 2006 (3. Aufl.). www.buddhanetz.org/texte/texte.htm#wirtschaft (16.6.2007) www.nonviolenteconomics.org (16.6.2007) www.perspektivenmanagement.com/Service/Systemisch_analytische_ Organisationsentwicklung
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Globalisierung bis 1000
Im 9. Jahrhundert zeichnet sich mit dem normannischen Abenteuer am Rande Westeuropas eine zerbrechliche Weltwirtschaft von kurzer Dauer ab. Deren Erbe Andere antreten.
Laut Plinius dem Älteren verlor Rom bei seinem Handelsaustausch mit dem fernen Osten jährlich hundert Millionen Sesterzen, noch heute findet man römische Münzen in Indien.
Im Jahr 1000 sind die Schiffe und die Navigationskunst in Europa nicht weiter entwickelt als zur Zeit des Römischen Reichs. Der Fortschritt setzt ein, als Venedig 1104 seine staatliche Werft, das Arsenal, errichtet, um seine Galeeren zu bauen und die Konstruktion der Schiffe zu verbessern.
Im Jahr 1000 entfallen auf Asien (ohne Japan) über zwei Drittel des Welt-BIP, während Westeuropa weniger als 9% hervorbrachte.
Zwischen dem 1. Jahrhundert und dem Jahr 1000 geht der Lebensstandard in Westeuropa drastisch zurück. Die Urbanisierungsraten sind der deutlichste Beweis dafür, dass das Jahr 1000 einen Tiefpunkt darstellte.
Im 9. und 10. Jahrhundert bestehen die Handelsaktivitäten Venedigs hauptsächlich darin, Konstantinopel mit Getreide und Wein aus Italien, Holz und Sklaven aus Dalmatien und Salz aus seinen Lagunen zu beliefern und Seide und Gewürze zurückzubringen.
Montierte Quellen: Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Der Handel. Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Aufbruch zur Weltwirtschaft. Angus Maddison, Die Weltwirtschaft: Eine Milleniumsperspektive. Jürgen Osterhammel, Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Wikipedia, Globalisierung (Stand: 15.8.2007). Montiert von Michaela Ritter
Politik ohne Gerechtigkeit? Von Julian Nida-Rümelin
Es ist paradox: Die Ungleichheit an verfügbaren Grundgütern der Lebensgestaltung, an Einkommen, an Vermögen, an Lebenschancen hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten dramatisch zugenommen. Während seit Ende der 1970er Jahre die Real-Einkommen der Arbeitnehmer ohne College-Abschluss in den USA stagnieren, haben sich die Einkommen und vor allem die Vermögen an der Spitze vervielfacht. Vor 20 Jahren waren in den USA schon Manager-Gehälter in der Größenordnung des 50fachen eines Facharbeiters verbreitet, heute bewegen sich diese in der Größe des 500fachen. Ganz so dramatisch ist die Entwicklung in Europa noch nicht, aber auch hier hat offenbar ein Dammbruch stattgefunden. Die Ungleichheit nimmt in allen Lebensbereichen zu. Die Politik, die dieser Entwicklung entgegensteuern sollte, verliert hingegen an Bedeutung, respektive muss mit ansehen, wie der politische Grundwert der „Gerechtigkeit“ gleichsam ausgemustert wird. Hintergrund für diese Entwicklung ist der so genannte „Neo-Liberalismus“, der genau besehen aber nichts mit „Liberalismus“ zu tun hat. Denn die liberale Tradition dachte stets die Freiheit mit der Gleichheit zusammen, ja: die europäische Moderne ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit Grundpostulate darstellen. Über das, was heute als „liberal“ bezeichnet wird – die Dominanz der Freiheit, der Individualität und der Märkte –, sollte daher besser mit dem Begriff „libertär“ gesprochen werden – während es gleichzeitig die „grundlegende Norm“ von der „gleichen Freiheit“ und dem „gleichen Respekt“ weiter zu forcieren gilt. Denn diese sind keine Phänomene, die ihre Zeit gehabt haben, sondern bilden die Basis jeder humanen Ordnung. Es ist noch nicht allzu lange her, dass die Vorstandsgehälter etwa der Deutschen Bank jeweils unter einer Million Mark gehalten wurden, weil es als unschicklich galt, darüber hinaus zu gehen. Es gibt eine Unzufriedenheit in der breiten Bevölkerung mit dieser Entwicklung, aber diese ist politisch kaum noch repräsentiert und wird daher in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der westlichen Industrienationen nicht mehr wirksam. Die Globalisierung führt bei den Arbeitnehmergehältern jeweils zu Vergleichen mit billigeren Standorten und bei den ManagerGehältern jeweils zu Vergleichen mit teureren Standorten. Das Ethos der politischen Gerechtigkeit wird durch die Logik des Marktes unterlaufen. Dass diese Logik meist nur eine postulierte und keine reale ist, zeigen internationale Vergleiche. So gehört Japan, eines der Länder mit der erfolgreichsten kapitalistischen Entwicklung in den vergangenen Jahren, zugleich zu denen mit vergleichsweise geringer Ungleichheit.
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Und dies, obwohl der japanische Sozialstaat gemessen an den Transfer-Zahlungen europäischer Staaten nur schwach entwickelt ist. Eine Erklärung für dieses Phänomen ist das Ethos der Einpassung. Einzelne sollen sich nicht zu deutlich von den Anderen der Gruppe, der sie angehören, abheben. Über neunzig Prozent der japanischen Bevölkerung zählt sich folgerichtig zur Mittelschicht, ein einmalig hoher Wert weltweit. Hier sind wir mit einem egalitären Ethos konfrontiert, das offenkundig messbare Wirkungen auf dem Arbeitsmarkt, im Wirtschaftsleben, in Sozialbeziehungen zeitigt. Die vermeintliche Logik des Marktes, die sich um Ethos-Normen nicht schert, ist eine Illusion, oder genauer: eine heute zunehmend dominierende Ideologie. China erlebt einen bewunderten Wirtschafts-Boom, der in den großen Metropolen, insbesondere in Shanghai eine eindrucksvolle Fassade entwickelt, und zur gleichen Zeit verschlechtern sich die Lebensbedingungen auf dem Lande, allein die durch eine ungesteuerte Industrialisierung verursachte Umweltverschmutzung fordert jährlich Hunderttausende von Todesopfern. Es wird geschätzt, dass über 80% der chinesischen Bevölkerung vom Wirtschafts-Boom abgekoppelt sind, ja seine Nebenwirkungen zu einer Verschlechterung der Lebenslage auf dem Lande führt. Das sub-saharische Afrika ist außer Südafrika, das unterdessen schon zu den großen Schwellenländern wie China, Russland, Türkei und Brasilien hinzugezählt werden kann, in einer politisch, sozial und ökonomisch verzweifelten Situation. Die Aids-Epidemie senkt die Lebenserwartung und belastet die rudimentären Sozialstaatsleistungen. Die Korruption hat ein Ausmaß angenommen, das ein geordnetes Wirtschaften auch für ausländische Firmen immer schwieriger macht. Die wenigen großen Konzerne, die in diesem Bereich der Welt aktiv sind, beuten meist in rücksichtsloser Form Umwelt und Menschen aus, Einnahmen aus Rohstoffverkäufen werden in die Aufrüstung von Bürgerkriegs-Armeen investiert. Das Paradoxe ist: Während die Ungleichheit nach fast jedem Maßstab in fast jeder Beziehung dramatisch zunimmt, wird der politische Grundwert der Gerechtigkeit zunehmend ausgemustert. Man könnte meinen, dass skandalöse Formen von Ungleichheit, Ausbeutung und Anarchie die Forderung nach politischer Verantwortung, nach gerechter Gestaltung der Lebensbedingungen verstärken würde. Das Gegenteil ist der Fall. Was noch in den 1980er Jahren als skandalös ungerecht galt, ist heute normal geworden. Die dominanten politischen und wirtschaftlichen Diskurse sind einer in ihrem Kern libertären Marktideologie verhaftet und die Linke reagiert mangels theoretischem Konzept und programmatischem Profil erratisch und bleibt weitgehend wirkungslos. Es gibt allerdings bemerkenswerte Ausnahmen: Die sozialdemokratische Hegemonie in den skandinavischen Ländern bleibt auch in Zeiten konservativ-liberaler Regierungen bestehen. In Südamerika, wo die sozialistische Linke eine
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USA: Vor 20 Jahren verdiente ein Manager 50mal so viel wie ein Facharbeiter, heute ist es 500 (!) Mal soviel. Japan: 90 % der japanischen Bevölkerung zählen zur Mittelschicht. China: In den Metropolen herrscht ein Wirtschafts-Boom – doch 80% der Bevölkerung leben völlig abgekoppelt davon; ihre Lage verschlechtert sich täglich.
eher nostalgische Rolle spielte und die Kämpfe gegen die von den USA gestützten Militärregime nur noch den Älteren in Erinnerung waren, sind mit den Charismatikern Chavez in Venezuela und Lula in Brasilien zwei ganz unterschiedliche, aber in ihrer kapitalismuskritischen Politik doch markante und bislang auch recht erfolgreiche politische Führungsfiguren erwachsen. Und schließlich gibt es eine globalisierungskritische Bewegung, die eine extreme Spannbreite unterschiedlicher politischer Positionen aufweist, von katholisch-karitativ orientierten bis hin zu revolutionär-marxistischen Aktivisten. Das Mobilisierungspotential der Globalisierungs-Kritiker ist beträchtlich. Dies steht allerdings in deutlichem Kontrast zu ihrer weitgehenden politischen Wirkungslosigkeit. Die ideologische, politische und wirtschaftliche Dominanz dessen, was meist irreführenderweise als „Neo-Liberalismus“ bezeichnet wird, ist ungebrochen. Irreführenderweise deshalb, weil der Liberalismus auf zwei Grundwerten (oder besser: Normen) beruht, nämlich dem der Freiheit und dem der Gleichheit. Allen Menschen sollten unabhängig von Stand und Herkunft die gleichen Möglichkeiten einer selbstbestimmten Lebensführung offen stehen. Die Verkürzung von Liberalismus auf die Ideologie des entfesselten globalen Marktes ist ein Bruch mit liberaler Tradition, ideengeschichtlich steht diese Position dem individualistischen Anarchismus näher als dem Liberalismus. „Libertär“ hat sich daher zu Recht als Charakterisierung im englischsprachigen Raum zunehmend eingebürgert. Wir leben gegenwärtig in einer Phase doppelter Auflösung: Die politische Gestaltungskraft in Nationalstaaten schwindet und die in den westlichen Wohlfahrtsstaaten etablierte Form institutionalisierter Solidarität gerät in den meisten ihrer Formationen unter den Druck eines Standort-Wettbewerbs um niedrigere Sozialabgaben und Steuern. Die zeitgenössische politische Philosophie intoniert als Begleitmusik den Abgesang auf die Gleichheit aller Menschen. Gleichheit, so wird behauptet, sei ohne jeden intrinsischen Wert. Weder Gleichheit der Chancen, noch Gleichheit der Ergebnisse, weder Gleichheit der Ressourcen, noch Gleichheit der Wohlfahrt sei ein legitimer politischer oder sozialer Wert. Dies sollte man nicht nur als ideologische Unterfütterung wirtschaftlicher Interessenslagen, die auf einen Abbau aller Staatlichkeit und speziell aller Sozialstaatlichkeit zielt, interpretieren, sondern darüber hinaus: Es ist der Versuch die politische Moderne abzuwiegeln, ihre Versprechungen und Hoffnungen zu beerdigen. Liberté, Egalité, Fraternité, das waren die historisch machtvollen normativen Orientierungen der Französischen Revolution, der europäischen Demokratie. Der letzte dieser Werte, älter als die beiden anderen, erfolgreich aus der feudalen Ordnung in die politische Moderne transformiert und im mittel- und nordeuropäischen Sozialstaat geronnen, löst sich im globalen Standort-Wettbewerb auf. Gleichheit beruht demnach auf einem fundamentalen Irrtum. Gleichheit sei ohne jeden intrinsischen Wert. Freiheit bleibt, aber lediglich in
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Gestalt der Freiheit des Konsumbürgers auf einem globalen Markt und des Produzenten, dessen Kapital auf der beständigen Suche nach dem ertragreichsten Standort weltweit ist. Die für die europäische Aufklärung charakteristische Verkoppelung von Freiheit und Gleichheit, die Herauslösung aus der ständischen Ordnung, die rechtliche und soziale Gleichstellung als Versprechen, eine Staatlichkeit, die die realen Bedingungen dieses Versprechens zu realisieren suchte, scheinen nun obsolet, überholt nach Auflösung der bipolaren Weltordnung und dem Triumph des kapitalistischen Weltmarktes. Diese Argumentation beruht auf einem philosophischen Irrtum und sie wird sich auch politisch als fatal herausstellen. Der philosophische Irrtum besteht in einer unzulässigen Isolierung eines der drei Grundnormen der politischen Moderne. Das Gleichheitspostulat der politischen Moderne lässt sich nur in seinem Bezug zum Freiheitspostulat angemessen charakterisieren. Gleichheit ist die gleiche Freiheit, ist die gleiche Fähigkeit ein selbstbestimmtes Leben zu führen, über die gleichen Bedingungen zu verfügen, um Autor und Autorin des eigenen Lebens zu sein. Diese gleiche Freiheit kann nicht reduziert werden auf die Freiheit der Konsumenten und Konsumentinnen auf dem globalen Markt und erst recht nicht auf die (negativen) Abwehrrechte gegen staatliche Interventionen. In dieser Verkürzung besteht das libertäre Missverständnis liberalen Denkens. Bei dieser Interpretation von Gleichheit als gleicher individueller Autonomie entfallen die üblichen anti-egalitaristischen Argumente: Erstens dasjenige, Freiheit sei mit Gleichheit unvereinbar und Freiheit gebühre der Vorrang. Zweitens das berühmte levelling down Argument: Ein Zustand wird nicht besser, wenn man den besser Gestellten etwas nimmt und damit das Maß der Gleichverteilung verbessert. Die moderne Verkoppelung von Freiheit und Gleichheit kennt im Gegensatz zur Antike keine Herrschaft und keine Rangunterschiede von Natur, sie fordert gleichen Respekt bei allen Unterschieden der Lebensformen und Kulturen. Diese Gleichheit ist deswegen unteilbar, weil Ungleichheit in dieser fundamentalen Form je individuell kränkt, die Selbstachtung beschädigt, mit einer menschenwürdigen Gesellschaft, einer Gesellschaft, die der je individuellen Selbstachtung Unverletzlichkeit zuerkennt, unvereinbar wäre. Es geht nicht um die beliebigen Maße der Verteilung, der Verteilung von Ressourcen, der Verteilung von Wohlfahrt, der Verteilung von Einkommen, ja nicht einmal um die Verteilung von Chancen, sondern es geht um die fundamentale Norm des gleichen Respekts, der gleichen Achtung vor menschlicher Individualität und sofern diese durch die Zugehörigkeit zu kulturellen Gemeinschaften bestimmt ist, die gleiche Achtung kultureller Gemeinschaften. Diese Verkoppelung von Freiheit und Gleichheit ist in dem Sinne eine humanistische, als dem Menschen zuerkannt und zugemutet wird, dass er sich von Gründen leiten lässt – theoretischen
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„Konsumbürger“ Der Konsumbürger (als idealtypische Konstruktion) bezieht seine Identität aus der Jagd und der Erlangung von Konsumgütern; sein gesamtes Schaffen wie Arbeiten und auch die Informationsgewinnung ist darauf ausgelegt, das nächste begehrte Stück sein Eigen nennen zu dürfen. Die SubjektKonstituion ist eng mit dem Erwerb und Genuss eines Gutes verwoben. Die Freiheit des Konsumbürgers beschränkt sich auf den freien Zugang zu diesen Objekten – und ist somit ungleich leichter zu bewerkstelligen als die umfassende Freiheit und Gleichheit, die ein aufgeklärtes Subjekt sucht, um von Gerechtigkeit sprechen zu können.
Politische Gerechtigkeit: In der Gerechtigkeitsdiskussion sind zwei Grundwerte, deren Ursprung im Liberalismus liegen, von zentraler Bedeutung: Freiheit und Gerechtigkeit. Nida-Rümelin verwehrt sich gegen eine Absage an die Gleichheit; konkret an eine Absage, die mit dem Ziel erfolgt, die Freiheit als einzige Kraft mit intrinsischem Wert stehen zu lassen. Für ihn ist Gleichheit die gleiche Freiheit, ist die gleiche Fähigkeit ein selbstbestimmtes Leben zu führen, über die gleichen Bedingungen zu verfügen, um Autor und Autorin des eigenen Lebens zu sein. Es geht folglich nicht einfach um eine gerechte Verteilung von Ressourcen, von Wohlfahrt, Einkommen oder gar Chancen; viel mehr geht es darum, eine fundamentale Norm des gleichen Respekts, der gleichen Achtung vor der Individualität des Menschen und der kulturellen Gemeinschaft zu haben. Dies sind die Gründe, von denen sich verteilende Instanzen leiten lassen müssen, wenn Gerechtigkeit nicht nur zum politischen Kalkül werden soll, sondern im Dienst einer humanen Ordnung steht.
Gründen für Überzeugungen und praktischen Gründen für Handlungen, ja darüber hinaus erwarten wir, dass auch unsere moralischen Gefühle von Gründen geleitet sind.1 Diese besondere Fähigkeit sich von Gründen leiten zu lassen, macht die spezifische Würde von Menschen aus und die angemessene normative Haltung ist die des gleichen Respekts, der gleichen Freiheit. Die Gleichheit vor dem Gesetz ist nur ein Aspekt dieser fundamentalen Norm. Jede staatliche Verteilungsinstanz, die ohne Grund ungleich verteilt, verletzt die Selbstachtung Einzelner. Sofern der Staat oder auch Unternehmen, oder auch Instanzen des dritten Sektors, Ressourcen, Wohlfahrt, Chancen oder anderes verteilen, haben sie dies gleich zu verteilen. Nicht, weil die Gleichverteilung besser ist, sondern weil jedes einzelne Individuum gleichen Respekt verdient. Diese spezifische Normativität der politischen Moderne, deren Kern gleiche Achtung ist, scheint mir kein historisches Übergangs-Phänomen zu sein, sondern ist Grundlage jeder humanen Ordnung. Dieser Universalismus ist unverzichtbar, um Menschlichkeit politisch, wirtschaftlich und sozial zu realisieren. Dieser normative (Minimal-) Universalismus ist mit einer Vielfalt kultureller Prägungen, Religionen und Weltanschauungen vereinbar. Er macht den Kern des Menschenrechts-Diskurses aus, dessen größter Erfolg die Annahme der beiden Menschenrechts-Konventionen in den 1960er Jahren war. Das lässt hoffen, dass das Argument, nicht nur das politische Kalkül, einer humanen Ordnung förderlich ist.2 Politische Gerechtigkeit ist von Platon bis John Rawls die zentrale politische Tugend. Bei Platon ist der Stadtstaat gerecht, wenn er eine innere Balance aufweist, die mit sophrosyne, andreia und sophia charakterisiert wird. Besonnenheit/Selbstbeherrschung (sophrosyne), Willenskraft/ Durchsetzungsstärke (andreia) und Orientierung an philosophischer und wissenschaftlicher Erkenntnis (sophia) sind die drei normativen Orientierungen, deren richtiges Verhältnis zueinander politische Gerechtigkeit schafft. Bei John Rawls sind die maximalen gleichen individuellen Freiheiten der ökonomischen Effizienz, aber auch der Förderung der schlechter gestellten Gruppen der Bevölkerung vorgeordnet. Aber Freiheit steht nicht gegen Gerechtigkeit bei Rawls, vielmehr ist eine politisch-institutionelle Grundstruktur (basic structure) dann gerecht, wenn sie diesen beiden Prinzipien – der vorgeordneten gleichen maximalen Freiheit und dem Differenzprinzip – entspricht. Die gegenwärtig modische Entgegensetzung von Freiheit und Gerechtigkeit schlägt sich im gesamten Spektrum des politischen Denkens nicht nieder und das hat seinen guten Grund: Die Norm der politischen Gerechtigkeit muss als die umgreifende verstanden werden, die alle anderen normativen Aspekte des sozialen und politischen Zusammenlebens umfasst und in eine Ordnung bringt. Adäquate Gerechtigkeitsprinzipien stehen nicht im Gegensatz zu ökonomischer Effizienz, sondern fördern und nutzen diese. Wer sich von dieser
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Tradition des politischen Denkens entfernt, wer das Ziel sozialer und politischer Gerechtigkeit aus den Augen verliert, stellt politische Legitimation in der Demokratie insgesamt in Frage. Der ökonomische Markt bezieht seine Legitimation aus der Praxis und der Idee einer demokratischen Ordnung, die die Regeln des Zusammenlebens an die rationale Zustimmungsfähigkeit jedes einzelnen Bürgers und jeder einzelnen Bürgerin bindet. Der globale ökonomische Markt bezieht seine Legitimation aus der Zustimmung demokratisch verfasster Nationalstaaten zu seinen konstitutiven Regeln und er bedarf eines politischen Ordnungsrahmens, der bis heute nur in rudimentären Formen entwickelt ist. Dieser politische Ordnungsrahmen hat als regulative Idee die politische Gerechtigkeit. In den nächsten Jahren und Jahrzehnten wird sich herausstellen, ob der Prozess der ökonomischen Globalisierung die Ordnungsprinzipien der Demokratie durch den universellen kapitalistischen Markt ersetzt oder ob er den Aufbau einer zivilen Weltgesellschaft einleitet, die ihre institutionelle Form um den Nukleus der Vereinten Nationen bildet. Nur der zweite Weg würde globaler politischer Gerechtigkeit eine Chance geben.
Julian Nida-Rümelin, geboren 1954 in München, studierte Philosophie, Physik, Mathematik und Politikwissenschaft in München und Tübingen. Promotion 1983, Habilitation 1989. Von 1991 bis 1993 Gastprofessor in den USA, Professor für Ethik in den Biowissenschaften an der Universität Tübingen. Von 1993 – 2003 Professor für Philosophie an der Universität Göttingen, seit 2004 Ordinarius für politische Theorie und Philosophie an der Universität München. Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. 1994 – 1997 Präsident der Gesellschaft für analytische Philosophie, 1998 – 2000 Kulturreferent der Landeshauptstadt München, 2001– 2002 Kulturstaatsminister, seit 2002 Honorarprofessor an der Humboldt Universität Berlin, seit 2004 Vorsitzender des Kuratoriums des Deutschen Studienpreises. Buchpublikationen in Auswahl: Kritik des Konsequentialismus (1993), Logik kollektiver Entscheidungen (1994, m. L. Kern), Angewandte Ethik (1996), Economic Rationality and Practical Reason (1997), Demokratie als Kooperation (1999), Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über praktische Vernunft (2001), Ethische Essays (2002), Über menschliche Freiheit (2005), Humanismus als Leitkultur (2006), Demokratie und Wahrheit. Vier Kapitel zum Verhältnis philosophischer und politischer Vernunft (2006).
Anmerkungen 1 Vgl. Julian Nida-Rümelin, Über menschliche Freiheit, Stuttgart: Reclam Verlag, 2005, bes. Kap. I und Kap. V.
Vgl. Julian Nida-Rümelin, Demokratie und Wahrheit, München: Beck Verlag, 2006.
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Allparteilichkeit, Anerkennung und Ausgleich: Die systemische Dreiheit für mehr Gerechtigkeit Grundlagen für eine faire Weltwirtschaft Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer im Gespräch mit Michaela Ritter „Gerechtigkeit“, „Fairness“: Diese Begriffe sind in der philosophischen Diskussion seit bald drei Jahrzehnten wieder ein großes Thema, und die Ökonomie beginnt sie neuerdings ebenfalls verstärkt für sich zu entdecken. Welche Konzepte von Gerechtigkeit sind für Sie interessant und denkbar, oder genauer gesagt: wo gilt es gleichsam zu denken zu beginnen, wenn man eine Bestimmung von „Gerechtigkeit“ versucht? Matthias Varga von Kibéd: Wir, das heißt meine Frau Insa Sparrer und ich, setzen bei den Ideen „Ausgleich“ und „Austausch“ an, wenn wir uns mit dem Thema „Gerechtigkeit“ beschäftigen. Konkret ist es das Empfinden von Ausgleich, mit dem wir uns besonders auseinandersetzen. Denn es hilft nur wenig, wenn etwas als gerecht beurteilt, aber nicht so empfunden wird. Nur das Urteil allein verändert oft nichts – so wie es nichts verändert, wenn Ihnen der Arzt nur versicherte, dass alles in Ordnung sei, Ihre Schmerzen aber nicht geringer würden.
Gerechtigkeit hat also viel mit einer „Ausgleichs- und Angemessenheitsempfindung“ zu tun… Matthias Varga von Kibéd: Genau. Da meine Frau Insa Sparrer und ich im Bereich systemischer Beratung und Therapie tätig sind, steht dieser Aspekt von Gerechtigkeit für uns im Vordergrund. Im Beratungsbereich ist es nämlich dieser, der zählt und von Relevanz ist.
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Insa Sparrer: Aber er ist es nicht nur dort; was uns genau interessiert ist, welche Abläufe in gelingenden Kooperationen als gerecht empfunden und dementsprechend von allen Beteiligten akzeptiert werden, weshalb neben „Austausch“ und „Ausgleich“ „Allparteilichkeit“ für uns ein ganz wichtiger Begriff ist. Matthias Varga von Kibéd und seine Frau Insa Sparrer sind „Gerechtigkeitsschaffende“ für Systeme. Die beiden sind im Beratungskontext tätig und arbeiten mit Gefügen, die durch tradierte Unfairness oder falsche Loyalitätsbekundungen gleichsam aus der Bahn geworfen wurden. „Schuld“ und deren Schwere an den richtigen Systemplatz zu bringen: Das ist dabei das Prinzip, das Entlastung für die Betroffenen bringt. Anders als in anderen Ansätzen stellen die beiden jedoch die subjektive Empfindung ganz zentral in den Mittelpunkt. Doch wenn Subjektivität einen solchen hohen Stellenwert genießt, wie dann damit in der Praxis umgehen – wenn doch der Einzelne mit seinen Bedürfnissen meist in der Menge verschwindet? Die Antwort liegt bei Varga/Sparrer in der Allparteilichkeit, denn wo diese zum Leitmodus wird, geht es nicht mehr darum, dem einzelnen Recht zu geben, sondern die vorhandenen Perspektiven aller am Systemgeschehen Beteiligten zu sehen und mit einzubeziehen. Spannend bei dieser Blickwinkelerweiterung ist, dass damit wiederum für alle eine Vergrößerung ihrer eigenen Handlungsfähigkeit entstehen kann. Varga und Sparrer gehen allerdings – bedingt durch ihren auf Lösungen fokussierenden Ansatz – noch einen Schritt weiter. Konkret wollen sie für die betroffenen Systeme die nächsten Handlungsschritte, die aus dem Ungleichgewicht heraus führen, finden. Und so muss darüber nachgedacht werden, wie ein Ausgleich für das erfahrene Unrecht geschaffen werden kann. Wofür beiden eine sehr interessante und praktikable Herangehensweise gewählt haben: Sie sprechen nicht von Wiedergutmachung, sondern von einer angemessenen Anerkennung als Ausgleichshandlung. Angemessenheit hat hier den angenehmen Nebeneffekt, dass eine 1:1 Wiedergutmachung nicht der Fall sein muss, also die realitätsnahe Asymmetrie nicht als Störung, sondern sogar als Notwendigkeit empfunden wird. Gleichzeitig unterstellt man „Perspektivenabhängigkeit“, die eine genaue Auseinandersetzung der einzelnen Parteien untereinander und damit ein Eintauchen in die gegensätzlichen Wertsysteme des je anderen nach sich zieht. Besseres Kennen heißt dann auch oft besseres Verstehen – und das führt in den meisten Fällen zu mehr Fairness. Was kann man sich darunter vorstellen? Insa Sparrer: Wo „Allparteilichkeit“ zum Thema wird, geht es nicht darum, herauszufinden, wer Recht hat und wer nicht. Stattdessen ist es wichtig, alle vorhandenen Perspektiven einzubeziehen und alle Parteien zu verstehen. Oder anders gesagt: Sie dürfen alle SEIN. Wir gehen nämlich davon aus, dass jede Partei auf etwas hinweist, das richtig ist. Manchmal geschieht dies natürlich in einer sehr verqueren Weise; dennoch nehmen wir auch das ernst und auf und versuchen herauszufinden, in welcher Weise diese Partei auch Recht hat.
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Gerechtigkeit: Gerechtigkeit ist bei Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd eine Art Verhandlungsprozess, in dem es darum geht, dass die Beteiligten in gelingenden Kooperationen Abläufe als gerecht empfinden – und dass erfahrenes Unrecht durch Anerkennung und Ausgleich egalisiert wird. Trotzdem sieht Varga den Begriff der Gerechtigkeit auch als inkonsistent an: Es gibt Situationen, in denen jemand nicht umhin kann, Unrecht zu tun; das Ideal der Gerechtigkeit kann dann nur mehr dadurch aufrechterhalten werden, dass ein Leiden ob der Ungerechtigkeit respektiert und nach dem passenden Ausgleich gesucht wird.
Für konkrete Fälle ist das gut nachvollziehbar; was aber, wenn es allgemeiner wird – und z.B. Strukturen und Verhältnisse zum Thema einer Gerechtigkeitsdiskussion werden? Matthias Varga von Kibéd: Auch hier hilft der Begriff der „Allparteilichkeit“ weiter: Zunächst einmal ist dieser eine durchaus nützliche Verbesserung des Begriffs „Neutralität“, wenngleich auch er verbesserungswürdig ist. So enthält er ja die Forderung, alle Parteien gleichzeitig und dann auch im gleichen Maße zu berücksichtigen – was eine unrealistische Forderung ist. Ivan Boszormenyi-Nagy, einer der Pioniere der Familientherapie, hat diesen Begriff in Umlauf gebracht – wobei er allerdings nicht von „Allparteilichkeit“ spricht; das ist ein Übersetzungsfehler. Bei ihm heißt es “multidirectional partiality”, was man mit „vielgerichteter Parteilichkeit“ übersetzen kann. „Vielgerichtete Parteilichkeit“ ist aber kein statischer, beschreibenden Begriff, sondern ein regulativer, der zu etwas auffordert. Nämlich, so kann man Boszormenyi-Nagy verstehen, zu folgendem: Sei stets bereit, weitere Perspektiven beteiligter Parteien mit einzubeziehen, und diese Einbeziehung kann durchaus unterschiedlich sein: Anrainer eines Bauprojekts werden beispielsweise von den Baumaßnahmen unterschiedlich stark betroffen sein. Würde man dementsprechend allen Anrainern das gleiche Stimmrecht geben, würde es unter Umständen zu einer ungerechten Behandlung Betroffener kommen. Verteilt man umgekehrt unterschiedliche Stimmrechte, werden sich möglicherweise wiederum jene, die weniger Stimmrechte erhalten haben, ungerecht behandelt fühlen. Insa Sparrer: Was bleibt da? Eben die – durchaus – unterschiedliche Einbeziehung aller Beteiligten; das ist weitaus pragmatischer und auch leichter durchzuführen als die Idee der Gerechtigkeit, die hinter dem Versuch steht, gerechte Stimmenzahlen zu vergeben. Gerechtigkeit ist ein wunderbares übergeordnetes Prinzip, aber in der Durchführung führt sie fast immer zu Inkonsistenzen oder lässt sich erst gar nicht realisieren.
Die Einbeziehung oder Allparteilichkeit ist das eine, der Ausgleich das andere. Was hat man sich nun unter letzterem vorzustellen – und wie gehen Allparteilichkeit und Ausgleich zusammen? Matthias Varga von Kibéd: Nun, wir gehen eben davon aus, dass die Perspektiven aller Betroffenen in einem Prozess wie dem exemplarischen Bauvorhaben von oben ihren Platz finden. Entscheidend wird dann sein, dass jemand sagt: Ja, mir und meinem Anliegen wurde Genüge getan, oder es wird das Gegenteil betont. „Angemessenheit“ ist das Stichwort!
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Und diese „Angemessenheit“ kann viele Gesichter haben: In unserem Rechtssystem ist es beispielsweise so, dass es zu einer Verfahrenseinstellung kommt, sobald der vermutliche oder tatsächliche Täter stirbt. Das ist insofern problematisch, als dass so keine öffentliche Feststellung erfolgt: Gegenüber dem Opfer des Täters wird nie öffentlich klargestellt, dass ihm Unrecht widerfahren ist. Was für viele Opfer eine echte Katastrophe darstellt. Insa Sparrer: Denn es geht diesen nicht um Wiedergutmachung, sondern um Anerkennung – das ist dann der Ausgleich, der passiert. Und genau diese Anerkennung und dieser Ausgleich bleiben aus, wenn der Täter eben frühzeitig stirbt.
Angemessen ist bereits die „öffentliche Feststellung“, es muss nicht gleich eine 1:1-Wiedergutmachung sein… Matthias Varga von Kibéd: Angenommen es geht um Kriegsverbrechen – dann ist eine volle Wiedergutmachung sowieso nicht möglich; denn die Toten können nicht wieder zum Leben erweckt werden. Und es kann auch nicht darum gehen, dass nun das gleiche Maß an Unrecht auf der anderen Seite zu geschehen hätte. Ein Ausgleich im Sinne einer direkten Wiedergutmachung ist hier also ohnedies nicht möglich. In einem solchen Fall kann es dann hilfreich sein, dass die Nicht-Ausgleichbarkeit der Folge eines schweren Verbrechens anerkannt wird, und zwar in einem öffentlich akzeptierten Akt. Das stellt paradoxerweise für die Opfer sehr häufig einen sehr wirksamen Teil eines echten Ausgleichs dar! In dem Sinne nämlich, dass sie die ständige Auseinandersetzung mit einer bestimmten Form des Leidens nun beiseite lassen können. Insa Sparrer: Sogar Ausgleichszahlungen funktionieren auf diese Weise: Ihr Wert besteht nicht einfach im Geld, sondern darin, dass sie zeigen, wie ernst es jemandem um die Anerkennung, die es zu praktizieren gilt, ist. Ausgleichszahlungen sind gewissermaßen der Siegellack auf einem Dokument und sagen: Ich meine es ernst!
Mit anderen Worten: Der Ausgleich kann durchaus „asymmetrisch“ sein; Hauptsache er ist ernst, angemessen. Wie wird nun aber die Angemessenheit bestimmt? Woher weiß man, dass es „passt“ und Genüge getan wurde? Insa Sparrer: Wir glauben nicht, dass die Ausgleichsleistung perspektivenunabhängig ist. Mit anderen Worten: Man kann nicht objektiv feststellen, wie eine Leistung auszusehen hat; das hängt von den Perspektiven der beteiligten Parteien ab.
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Allparteilichkeit als Grundlage für die Schaffung von Gerechtigkeit: Es stellt sich nicht die Frage, wer recht und wer unrecht hat, wenn einem konstruktivistischen Weltbild gefolgt wird; es ist vielmehr entscheidend, ob die Perspektiven aller Beteiligten gehört und respektiert wurden. Und damit kommt der Begriff der Allparteilichkeit ins Spiel: Geht es um Gerechtigkeit, ist er eine sehr nützliche Weiterentwicklung des Begriffs der Neutralität, die vielleicht in diesem Zusammenhang zu wenig Gewicht haben könnte. Einen interessanten Aspekt führt der Begriff der Allparteilichkeit noch mit sich: Die Einbeziehung der einzelnen Parteien kann durchaus unterschiedlich sein, es lassen sich sozusagen notwendige Gewichtungen durchführen. Und so verwundert es nicht weiter, dass oft ein gewisses Maß an Ungerechtigkeit Gerechtigkeit per se fördert.
Matthias Varga von Kibéd: Man kann das mit Währungsunterschieden vergleichen: Etwas, das in der Währung der einen Partei ein wirksamer Ausgleich sein könnte, muss es in der Währung der anderen Partei überhaupt nicht sein. Das spricht dafür, dass immer der Ausgleichsempfänger die Währung zu bestimmen hat. Wobei dieser jedoch dem Schuldner den Ausgleich nicht unmöglich machen darf; sonst wird das Opfer mitschuldig daran, dass kein Ausgleich erfolgen kann. Und das mindert dann in gewissem Umfang die Ansprüche des Opfers. Insa Sparrer: Bei besonders schweren Verbrechen ist es gar nicht so einfach, anzugeben, was eine ausgleichende Wirkung haben könnte – das kann für die Opfer wirklich zu einer schwierigen Aufgabe werden. Mitunter ist sie nur zu lösen, indem sie die Gemeinschaft übernimmt. Besser gesagt: Ein symbolischer Vertreter der Gemeinschaft muss dann einen hochsymbolischen Gestus setzen, wie das etwa Willy Brandt mit seinem berühmten Kniefall machte.
Damit sind jetzt der Staat bzw. die Institutionen ins Spiel gebracht worden. Wie wichtig sind diese für den Ausgleich, über den jetzt so viel gesprochen wurde? Matthias Varga von Kibéd: Es gibt Bedingungen, unter denen der Ausgleich schwieriger ist als unter anderen. Aber tendenziell gilt: Ausgleich ist an sich zunächst nicht abhängig von den Institutionen; es gibt das Bedürfnis nach einem solchen in allen menschlichen Systemen. Ja, man könnte sogar sagen: Ausgleich ist etwas, dass sich in menschlichen Systemen und in Systemen überhaupt spontan bildet. Wohl auch, weil dort, wo Ausgleich gelingt, Kräfte frei werden, die sonst gebunden sind. Wohl aber spielt eine große Rolle, wer als Handelnder eines Ausgleichsaktes gesehen wird – und dafür können Institutionen eine entscheidende Rolle spielen.
Ist der Ausgleich mithin ein notwendiges Systemmoment, etwas Systemimmanentes? Insa Sparrer: Ja, wobei die Regelsysteme, die im Sinne eines Ausgleichs entstehen, einmal einen weiseren, dann wieder einen weniger weisen Umgang mit der Ausgleichsthematik eröffnen. Wo es keine Justiz gibt, kommt es beispielsweise zur Selbstjustiz… Matthias Varga von Kibéd: …es kann ungemein grausame Ausgleichssysteme geben – die auch lange Zeit akzeptiert werden. Allerdings nicht vollständig; die Suche nach alternativen Ausgleichssystemen ging und
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geht weiter, was aber nicht ausschließt, dass vielleicht doch ein Zustand erreicht wird, in dem die Suche einem apathischen Akzeptieren weicht. Doch das ist wieder eine andere Thematik. Der Ausgleich als Systemmoment – mir fällt dazu der Vergleich mit Flüssigkeiten ein: Wenn man eine heiße und eine kalte Flüssigkeit miteinander vermischt bis eine mittlere Temperatur zustande kommt, so haben wir den Eindruck, dass das so passt, stimmt; dass sich uns hier ein naturgesetzlicher Zusammenhang zeigt. Soziale Systeme sind nicht unähnlich: Gibt es zumindest in bestimmten Teilbereichen so etwas wie „Balancierungen“ oder „Gleichgewichtsbildungen“, so erleben wir das System als stimmig. Dieses Phänomen soll wohl auch im Gerechtigkeitsbegriff ausgedrückt werden – zumindest deckt es sich mit gewissen Aspekten desselben, mit anderen freilich nicht. Insa Sparrer: Beispielsweise dreht sich Gerechtigkeit nicht nur um Balancierung, sondern auch um Anerkennung, was – wie wir ja schon gesehen haben – zwar mit der Ausgleichsthematik zusammenhängt, aber nicht identisch ist.
Das alles ist sehr plausibel; was bedeutet das aber für die Praxis? Was konkret passiert in einem System, wenn es nach Ausgleich strebt? Matthias Varga von Kibéd: Eines meiner Lieblingsbeispiele dafür ist das eines Mannes, der beruflich gerade eine Krise durchmacht, weshalb seine Familie zeitlich gesehen zu kurz kommt. Ein Ungleichgewicht ist also entstanden, um das der Mann sich zu kümmern hat, was jetzt aber nicht dadurch erfolgen kann, dass er plötzlich die beruflich notwendigen Überstunden streicht oder einfach nicht mehr in die Firma geht. Dieser 1:1-Ausgleich ist vorerst nicht möglich, wenn die Bestrebungen nicht existenzgefährdend werden sollen. Stattdessen kann der Mann zu Hause aber einmal erklären: Ja, ihr habt mich in letzter Zeit wirklich wenig gesehen, und seid dabei wirklich kurz gekommen. Und ich bin euch dankbar, dass ihr mir den Rücken gestärkt habt. Nun geht es endlich in der Firma wieder besser; lasst uns doch am nächsten Wochenende einen schönen Ausflug zusammen machen und feiern! Insa Sparrer: Damit sind wir wieder beim Begriff der Anerkennung gelandet: Es kommt zu keinem Ausgleich in einem direkten Sinne, aber es wird anerkannt, dass die Familie eine schwere Zeit hatte; es kommt gleichsam zu einer „Währungskonsolidierung“, um die Metapher von oben noch einmal zu nutzen.
Und wenn wir den Familienkontext verlassen und die Weltwirtschaft und konkret den Welthandel in den Fokus nehmen?
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Anerkennung und Ausgleich als „Wiedergutmachung“ von Ungerechtigkeit Ist jemandem ein Unrecht widerfahren, liegt die Wiedergutmachung meist nicht in der Zufügung der gleichen Anzahl von Unrecht auf der anderen Seite. Denn das ist weder erwünscht, noch ist – aus den unterschiedlichsten Gründen – möglich. Sparrer und Varga sehen als ersten, aber sehr gewichtigen Schritt der Wiedergutmachung die Anerkennung des Unrechts: Anerkennung, wenn sie als (öffentlich) akzeptierter Akt erfolgt, ist sozusagen der Siegel dafür, dass die verursachende Seite ihr Unrecht bekennt und das damit verbundene Leid respektiert. Doch es geht noch einen Schritt weiter: Der Anerkennung muss eine Ausgleichsverpflichtung folgen, die in der „Währung“ des Geschädigten zu erfolgen hat. Gleichzeitig ist jedoch auch der Empfänger verpflichtet, dem Verursacher den Ausgleich zu ermöglichen, anderenfalls macht er sich mitschuldig und mindert dann den Umfang seiner eigenen Ansprüche.
Matthias Varga von Kibéd: Da gilt es zuerst einmal zu überprüfen, ob die Fairness-Vorstellungen der mächtigeren, finanziell überlegeneren Seite den Fairness-Vorstellungen der schwächeren Seite entsprechen. Insa Sparrer: Denn es ist leicht denkbar, dass die mächtigere Seite zwar um Fairness oder einen Ausgleich bemüht ist, dabei aber ganz wichtige Dinge übersieht. Matthias Varga von Kibéd: Wir kennen das aus der ganzen GenderDiskussion – und die Gender-Diskussion ist auch im Zusammenhang mit FAIRTRADE wieder ein gutes Beispiel: Vielleicht haben wir viel zu wenig bedacht, wie die Situation der Frauen auf der schwächeren Seite, das heißt in den Ländern des Südens, aussieht, und diktieren in weiterer Folge eine Sicht von Fairness, die zu unserer Kultur passt, nicht aber zur Situation dieser Frauen. Am Anfang muss also ein Dialog über Fairness stehen.
Wie ist aus systemischer Sicht das Faktum zu beurteilen, dass in den reichen Industrienationen das Fairness-Thema sehr oft von jenen forciert wird, denen es, überspitzt formuliert, an nichts fehlt und die die Problematik nicht wirklich tangiert? Matthias Varga von Kibéd: Auch so kann man Menschen entmündigen. Genau das wollen wir vermeiden, weshalb wir etwa von Allparteilichkeit sprechen und zu einem multiperspektivischen Agieren auffordern. Dazu gehört eben, dass die unterschiedliche Sicht von Fairness berücksichtigt wird, die die andere Seite vielleicht hat. Das „andere Wertsystem“ muss eruiert und berücksichtigt werden. Insa Sparrer: Was zur Folge haben kann, dass unser Gegenüber auch für unser Wertsystem empfänglicher wird, also etwa für unsere Fairnessvorstellungen, für Frauenrechte, für eine andere Auffassung über den Zugang zu Bildung und vieles mehr…
Wie könnte ein „Mini-Fahrplan“ zu einer gerechteren Weltwirtschaft aussehen, der dem hier vorgestellten Gedanken rund um Ausgleich, Anerkennung und Allparteilichkeit gerecht wird? Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd: Eine in wenigen Zeilen weniger beantwortbare Frage ist uns auf den ersten Blick zwar schwer vorstellbar; was aber aus unserer Sicht da vielleicht als erstes zu erwägen wäre, ist das Folgende: (1) eine Serie von allparteilichen Gesprächen (2) auf allen Ebenen der Gesellschaft und der Weltgemeinschaft,
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(3) die sich netzwerkartig ausbildet und ausbreitet. Wir glauben, dass hier die Verbindung folgender Ansätze von besonderem Wert wäre: (a) zur geeigneten Ideengeneration und Ressourcenfindung: die lösungsfokussierte Arbeit in Institutionen im Sinne der Schule von Milwaukee (S. de Shazer, I. Kim Berg) (b) für eine geeignet veränderte Kommunikation und Erzeugung von Zusammenarbeitsbereitschaft: die “Nonviolent Communication” von M. Rosenberg (c) für die konkrete Arbeit mit Konfliktparteien, insbesondere auch bei schwersten politischen Konflikten: der TRANSCEND-Ansatz von J. Galtung, insbesonders in der in Österreich am IICP vertretenen Form (d) zur Systemsimulation sowie zur Entwicklung und Nützung der Wahrnehmungs- und Lernfähigkeit menschlicher Gruppen: die Nutzung der Möglichkeiten von Gruppensimulationsverfahren für das Verständnis komplexer Prozesse, insbesondere die Ansätze von V. Satir, J. Moreno und die transverbale Sprache der Strukturaufstellungen (vor dem Hintergrund des systemischen Ansatzes) (e) für ein systemtheoretisches Verständnis und Ansatzmöglichkeiten des Einzelnen: E. Lászlós neueste Ideen zur systemtheoretischen Betrachtung und Umwandlung der Weltsituation. Darüber hinaus sollten weitere methodische Ansätze wie F. Glasls Konfliktmoderation, das „Worldwork“ der Mindells, der Bohm’sche Dialog, inspirierende Beispiele wie die Ideen und Aktivitäten von M. Yunus und selbstverständlich auch jene Vielzahl von Ideen, die sich erst im Laufe eines solchen Prozesses ergeben werden, einbezogen werden. Es wäre wichtig, dass die Frauen dieser Erde in viel höherem Maße an diesem Prozess teilhaben. Das Treffen der spirituellen Führerinnen der Menschheit 2002 an der UNO in Genf erschiene uns als ein guter Ausgangspunkt dazu. Es wäre wichtig, dass ein Journalismus entsteht, der inmitten all der schweren Themen auch über positive Ausnahmen und ungenutzte Ressourcen in viel größerem Maße berichtete; deutlicher im Sinn eines Friedensjournalismus wirksam würde und berichtete, wo auf erstaunliche Weise wirkliche Schritte gelungen sind. Es wäre wichtig, die Jugend der Welt für einen solchen Prozess zu gewinnen und dazu wäre die Mitwirkung berühmter Künstler, Musiker und Schriftsteller sehr wünschenswert. Wir brauchten ein Zusammenwirken von Menschen, die international als Vorbilder wirken könnten und deren Leben ihre Selbstlosigkeit, Weisheit und menschliche Größe bestätigt hat. Und wir brauchen ein sich ausbreitendes Netz von Ideen, die jedem Einzelnen erlauben, sich in ein solches Unterfangen einbezogen zu fühlen.
Insa Sparrer, Matthias Varga von Kibéd, ich danke Ihnen für das Gespräch!
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Matthias Varga von Kibéd, geboren 1950, studierte Philosophie, Logik, Wissenschaftstheorie und Mathematik und war u.a. Professor an den Universitäten München, Graz, Wien und Tübingen. Zusammen mit seiner Frau Insa Sparrer gründete er 1996 das SySt/ Institut für systemische Ausbildung, Fortbildung und Forschung, das in München angesiedelt ist. Zusammen mit Insa Sparrer entwickelte er auch die so genannte Systemische Strukturaufstellung. Insa Sparrer, Jahrgang 1955, studierte zuerst Mathematik, später Psychologie und ist seit 1989 als Psychotherapeutin in freier Praxis tätig. Beide leben in München.
Über Gerechtigkeit
Politik ohne Gerechtigkeit? von Julian Nida-Rümelin
Allparteilichkeit, Anerkennung und Ausgleich: Die systemische Dreiheit für mehr Gerechtigkeit Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer im Gespräch mit Michaela Ritter
Kritische Ökonomie, deliberative Kultur und die Grenzen einer gerechten Weltwirtschaft Zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft des fairen Tausches Martin Schürz im Online-Diskurs mit Christian Eigner und Michaela Ritter
Die Geschichte der modernen Ökonomie ist nicht wirklich vom Thema Gerechtigkeit zu trennen: Wenn die Wirtschaft wächst und es allen besser geht, wird, so eine der ökonomischen Grundüberzeugungen, die Frage der Verteilung in den Hintergrund gedrängt. Die Gerechtigkeitsthematik wird zwar nicht obsolet, aber doch entschärft, bzw. in einen völlig neuen Lösungszusammenhang gerückt. So besehen könnte man sogar sagen, dass Ökonomie ein moralisch-ethischer Versuch ist – auch wenn man über dessen Ergebnisse streiten kann. Auf jeden Fall aber gibt es einen ideengeschichtlichen Konnex zwischen Ökonomie und Gerechtigkeit. Martin Schürz: Ich würde die Geschichte von „Ökonomie und Gerechtigkeit“ beim Philosophen Aristoteles anfangen lassen. Und für die ökonomische Theoriegeschichte sollte man sich insbesondere auf das Werk des moralphilosophischen Nationalökonomen Adam Smith konzentrieren. Da kommt es dann zur Trennung von Ökonomie und Moralphilosophie; Adam Smith, der Klassiker in der Ökonomiegeschichte, hatte ja noch einen Lehrstuhl für Moralphilosophie inne. Die Hauszentrierung (oikos = Haus) wird fortan zugunsten einer marktzentrierten Reflexion aufgegeben. Und erst mit der Reflexion auf das Marktgeschehen – mit Wert und Preisen – kann der Tauschbegriff theoretisch erörtert werden. Die Wertgleichheit, die Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung im Sinne von Tauschgerechtigkeit (iustitia commutativa) steht für die Ökonomie nachher im Vordergrund und überlagert den aristotelisch ethisch fundierten Ruf nach Tauschgerechtigkeit.
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Konkreter: Im Gerechtigkeitsbuch V der Nikomachischen Ethik wird von Aristoteles der allgemeine Grundsatz der Verteilungsgerechtigkeit formuliert, dass gleiche Personen gleich und Ungleiche ungleich zu behandeln seien. In der Nikomachischen Ethik bezeichnet gerechter Tausch einen bestimmten Gerechtigkeitstyp, wo keine Seite einen Gewinn und keine einen Verlust erzielt. Getauschte Dinge müssen unterschiedlich, aber vergleichbar sein. Das Maß ihrer Vergleichbarkeit ergibt sich durch den Bedarf. Und Bedarf kann in Geld ausgedrückt werden. Daneben gibt es aber auch eine illegitime Bedarfsdeckung. Diese unmoralische und ungerechte Bereicherung führt zu Geldvermehrung. Gerechtigkeit ist seit der Antike ein Thema der Ökonomie: Von Aristoteles etwa stammt die Bestimmung des Tausches als eine Handlung, bei der keiner der Beteiligten einen Gewinn oder Verlust machen darf. In der Neuzeit erfährt diese moralische Diskussion eine verteilungstheoretische Wende. Konkret durch Adam Smith, dessen Idee vom freien Tausch, der allen nutzt, sich als extrem wirkmächtig erweist. Die Tradition der ökonomischen Gerechtigkeitsdiskussion wird heute beispielsweise von Amartya Sen fortgesetzt, der einen Lebenslagen-Ansatz verfolgt. Armut drückt sich demnach nicht in zu wenigen Ressourcen aus, sondern in einem Mangel an Verwirklichungschancen. Arm ist also, wer nicht bestimmte mögliche menschliche Handlungsoptionen leben kann. Wobei die Handlungsoptionen bzw. „Funktionsweisen“, zu denen Menschen befähigt werden sollen, im Sinne eines deliberativen Demokratiemodells zu klären sind. Deliberative Modelle, mithin eine Form von Demokratie, die nicht auf Konsens, sondern auf ein öffentliches, breites, nicht von Spezialisten dominiertes Herausarbeiten und Stehenlassen unterschiedlicher (normativer) Positionen abzielt, wären überhaupt für die Ökonomie generell von Bedeutung. Laut Schürz ist die Wirtschaftswissenschaft nämlich zu sehr auf sich selbst fixiert; an die Stelle methodischer Formalisierungsschritte, die längst den Erkenntnisgegenstand aus den Augen verloren haben, sollte eine kritische Auseinandersetzung mit Macht und Herrschaft treten, die das Veränderbare im Bestehenden auslotet. Und so in öffentlichen Debatten und auf deliberative Weise die eigenen normativen Voraussetzungen des Denkens klärt. Ob auf diese Weise einer gerechten Weltwirtschaft zugearbeitet werden kann, bleibt allerdings offen. Denn die Durchsetzung von Gerechtigkeit ist Sache sozialer Auseinandersetzungen und kann nicht auf der Basis ökonomischer Erkenntnisse entschieden werden, da diese ihrerseits wieder von Werten abhängig sind. Bei David Hume taucht dann der Gedanke wechselseitigen wirtschaftlichen wie kulturellen Nutzens von Tausch auf. Der Tausch selbst steht in der liberalen Ökonomie im Mittelpunkt. Bei Adam Smith ist Tausch ein Prinzip, das der Arbeitsteilung zugrunde liegt. “Give me that which I want and you shall have this which you want”. Die Menschen haben eine Neigung zu tauschen. Und es ist die Neigung zum Tausch, die zu Ungleichheit führt. Aber Adam Smith war nicht nur Autor des Klassikers aus dem Jahr 1776 “Inquiry into the nature and causes of the wealth of nations”, sondern auch des heute weniger bekannten Buches und Jahre zuvor verfassten “Theory of Moral Sentiments”. Die zentrale Figur dieses Werks war ein unparteiischer Beobachter. Die unparteiische
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Beobachtung ermöglicht es, sich in Mitmenschen hineinzufühlen, jenseits des egoistischen Eigennutzes, und motiviert über Sympathie und Kommunikationstriebe. Theoriegeschichtlich wirkungsmächtiger war aber der den Eigennutz legitimierende Theoriestrang im Denkgebäude von Smith. Doch die liberale ideologische Verallgemeinerung, dass der freiwillige – für beide Parteien vorteilhafte – Tausch auch von allgemeinem Nutzen sei, ist allein deswegen schon falsch, weil Tausch stets auf Kosten Dritter (Umwelt, Arbeiter, Entwicklungsländer usw.) gehen kann. Und eine enge Auslegung der Tauschgerechtigkeit konnte nicht einmal in der effizienzorientierten ökonomischen Disziplin überzeugen. Die Verhaltensökonomie machte auf egalitäre Motive der Menschen und divergierende Gerechtigkeitsvorstellungen aufmerksam, und die Spieltheorie modellierte im experimentellen Rahmen Ideen zur Verteilungsgerechtigkeit. Die analytische Trennung von Effizienzfragen und Verteilungsfragen hält nicht und damit bleibt Gerechtigkeit stets ein Thema, auch der Ökonomie.
Wo und wie wird diese Gerechtigkeitsdiskussion heute fortgesetzt? Das interessante an den genannten Ansätzen ist ja, dass die Grenze zu den Sozial- und Rechtwissenschaften de facto fließend sind; d.h. es geht nie nur um Märkte, sondern um Gesellschaft im weitesten Sinne des Wortes. Und darum, was diese alles für ihr Gelingen braucht… Martin Schürz: Eine Theorie, in der man auf diese Grenzüberschreitung stößt, ist jene des indischen Ökonomienobelpreisträgers Amartya Sen. Sie setzt an mit der alten philosophischen Frage nach dem guten und gerechten Leben: Worum soll es im Leben gehen? In einer gewissen Weise ist der Ansatz von Amartya Sen tatsächlich interdisziplinär, denn er wildert in der Philosophie, Politik- und Kulturwissenschaft. Ökonomie wird als Sozialwissenschaft im weiteren Sinn verstanden. Dass Sen diesen Weg geht, ist nicht verwunderlich. Gesellschaftskritische Wirtschaftsexperten rekurrieren in ihrer Arbeit notwendigerweise auf andere Disziplinen, da die Ökonomik hinsichtlich ihrer Annahmen zum menschlichen Verhalten zu dürftig ist. Konkret wendet sich Sen gegen den Ressourcenansatz von Rawls. Nach dem Ressourcenansatz gelten Menschen als arm, wenn sie über zu wenige Ressourcen (Einkommen, Vermögen) verfügen, um Ausgaben tätigen zu können, die zu einem als normal erachteten Lebensstandard gehören. Was normal ist, wird recht willkürlich festgelegt. Gebräuchlich sind Definitionen, die Bezug nehmen auf die Einkommensverteilung in der Gesellschaft. Danach gilt als arm, wer nur über ein deutlich unterdurchschnittliches Einkommen verfügt. Der Lebenslagenansatz hingegen betrachtet Armut zwar auch, aber nicht nur unter finanziellen Gesichts-
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punkten. Im Mittelpunkt dieses Ansatzes steht die Frage, in welchen Lebensbereichen (z.B. Wohnen, Gesundheit) eine konkrete Unterversorgung vorliegt. Welche Verhältnisse als Unterversorgung anzusehen sind, ist zu definieren und demnach offen für Interpretationen. Sen geht aber weiter als diese Konzepte es tun. Er meint, dass nicht nur wirtschaftliche Maßzahlen – wie etwa Einkommen und Vermögen – den Lebensstandard bestimmen. Es gehe eher um Verwirklichungschancen, und die seien beeinflusst durch individuelle Besonderheiten wie etwa körperliche und geistige Beeinträchtigungen und Behinderungen. Verwirklichungschancen bezeichnen, was konkrete Menschen in ihrer komplexen Identität tun können; die Verwirklichungschancen sind bezogen auf Funktionsweisen. Und Funktionsweisen sind verschiedene Dinge, die eine Person als wertvoll erachtet zu tun oder zu sein. Sie sind konstitutiv für menschliches Dasein. Offen bleibt, zu welchen Funktionsweisen Menschen befähigt werden sollen – was allerdings Sen auch bewusst offen halten möchte. Während die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum eine Liste von Grundgütern definiert, betont Sen, dass die politische Deliberation, also das öffentliche Argumentieren über die auszuwählenden Funktionsweisen, entscheidend sei. Doch gibt es ein solches deliberatives Demokratiemodell überhaupt? Historisch steht Demokratisierung in einem Spannungsverhältnis zu den Imperativen des Kapitalismus. Demokratischer status quo ist der liberale repräsentative kapitalistische Nationalstaat. Ein Wettbewerb von politischen Parteien, begrenzte Mitbestimmungsmöglichkeiten in Form von Wahlen und organisierten Interessensvertretungen, verfassungsmäßige Beschränkungen der Staatsaktivitäten und die Abschottung der Wirtschaft von demokratischen Mechanismen sind wesentliche Elemente einer solchen liberalen repräsentativen Demokratie. Alternative normative Demokratieansätze reichen von direkter Demokratie über feministische Demokratie, soziale Demokratie, kosmopolitische Demokratie bis zu radikaler Demokratie. Radikale Demokratie wäre die Souveränität des Volkes, meinte Cornelius Castoriadis so schön, und souverän sein hieße, es 24 Stunden zu sein. Eine solche Demokratie schließt die Delegation von Macht aus. Das deliberative Demokratiemodell ist genügsamer in seinen Annahmen. In den Mittelpunkt rückt der politische Meinungs- und Willensbildungsprozess. Deliberation, das heißt eine Kultur des Argumentierens, wurde originär als Mittel verstanden, mit moralischen Problemen umzugehen, die nicht interessengeleitet aufgelöst werden können. Zur Deliberation gibt es eine breite politikwissenschaftliche Auseinandersetzung und der Begriff wurde schnell zu einem sozialwissenschaftlichen Gemeinplatz.
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Das spricht aber noch nicht gegen seine Verwendung. Ein rationaler Prozess, eine Diskussion unter Gleichen, wo Argumente respektvoll abgewogen werden und alle Betroffenen eine freiwillige Zustimmung anstreben, ist natürlich fern der Wirklichkeit einer sozial antagonistischen Gesellschaft. Der deliberative Diskurs ist kein Substitut für den verlorenen Klassenkampf, und doch könnte er eine wichtige Rolle in der Wirtschaftspolitik haben. Denn Diskurse stellen mögliche Einfallsschleusen für Kritik dar. Ihre Durchsetzungschancen sind aber dann vom Ausgang sozialer Auseinandersetzungen und nicht deliberativ determiniert. Zwischen deliberativer Wertorientierung und interessengeleiteter Handlungsorientierung muss kein Gegensatz konstruiert werden. Minimalistisch verstanden dient Deliberation der Klärung von Interessenspositionen. Damit steht das deliberative Modell in Nähe der marxistischen Ideologiekritik. Im deliberativen Ansatz wird die lebendige dialektische Denkweise weiterverfolgt. Dies ist nicht so wenig angesichts einer hegemonialen neoliberalen Ideologie. Eine öffentliche Argumentation verlangt die Bezugnahme auf verallgemeinerungsfähige Interessen. Ein Demokratieproblem aus deliberativer Sicht lässt sich an Begründungs- und Argumentationsverweigerung ablesen. Allein die Notwendigkeit, Geltungsansprüche argumentativ einlösen zu müssen, verbessert den Entscheidungsprozess und stärkt die Öffentlichkeit in ihren Kontrollkompetenzen. Aber Ideologeme, interessengeleitete Strategien und Fehlurteile sind auch in diesem Modell nicht ausgeschlossen. Eine besondere Gefahr hierfür ist ein technokratisches Expertentum in der Ökonomie, welches den Laien bei wirtschaftspolitischen Themen zum Schweigen verurteilen will. Diese neoliberale Hegemonie hat weit reichende Folgen für die Durchsetzungschancen von alternativen Demokratiekonzeptionen. In der ökonomischen Theoriegeschichte reicht die Geringschätzung von Demokratie ja weit zurück. Schumpeter negierte die Idee eines Gemeingutes, das sich auf Grund von rationalen Debatten ergeben könnte. Individuen und Gruppen seien oft irrational, und Demokratie bedeute nur einen Wettbewerb von Eliten um Stimmen. Mitbestimmung könne wegen der Ignoranz der Bevölkerung zum Hindernis für Effektivität werden. Annehmen muss Sen hierfür zudem auch einen politischen Partizipationswillen der Menschen. Dies nähert seinen Ansatz einem republikanisch-liberalen Politikverständnis an. Doch das Grundproblem des Republikanismus war bereits von Dewey formuliert worden. Es liegt in den hohen ethischen Anforderungen an den Einzelnen. Politische Partizipation müsste ja als zentrales Ziel in unserem Leben verstanden werden. Doch Menschen gehen nach der Arbeit gerne ihren Neigungen und Interessen nach, und diese unterscheiden sich beträchtlich voneinander. Sie konsumieren, betreiben mehr oder weniger Sport und interessieren sich mehr oder weniger für Politik. Die Armen interessie-
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ren sich übrigens weniger für politisches Mitgestalten als die Reichen und dies verstärkt das Problem noch. Die Hoffnung auf Deliberation startet also verteilungspolitisch mit Ballast. Wichtig zur Erklärung des wirtschaftspolitischen Erfolgs von Sen scheint mir, dass er eine liberale Grundhaltung hat und die passt aktuell in den gesellschaftspolitisch vorherrschenden Rahmen. Dies zeigt sich an seinem Freiheitsverständnis. Freiheit gilt ihm ja als zentrales Ziel und als Bewertungskriterium für Politik. Er geht also von der Annahme aus, dass Menschen die Möglichkeit, selbstbestimmt leben zu können, als solche schätzen. Freiheit ist seiner Ansicht nach ein intrinsischer Wert und kann daher nicht auf ein Mittel reduziert werden; also Freiheit als Instrument zur Schaffung einer gerechten Gesellschaft wäre so eine instrumentelle Perspektive. Bei Sen hat die Freiheit des Einzelnen Vorrang hat vor kollektiver Normativität. Normativ ist das alles streng individualistisch. Die Bewertung einer Situation muss immer durch den Einzelnen erfolgen; aber Freiheit in einer Hinsicht soll Freiheit in anderer Hinsicht begünstigen. Ein Beispiel von ihm ist, dass Tauschfreiheit soziale Freiheit begünstigt. Ein Marktapologet ist er deswegen natürlich noch nicht. Freie Märkte beschränken Freiheit, wenn sie etwa zu Hungersnöten führen. Dennoch ist anzumerken, dass sich eine egalitaristische Gerechtigkeitstheorie bei Sen nicht findet. Es geht nicht um soziale Gerechtigkeit, sondern nur um eine Sockelgleichheit, eine Art humane Fundamentalgerechtigkeit.
Mit Sen ist die Gerechtigkeitsdiskussion zu einem guten Teil „ökonomischer Mainstream“ geworden – auch wenn der Mainstream weiterhin und vielleicht sogar primär andere Richtungen kennt und nimmt. Was kennzeichnet die aktuelle Ökonomie? Martin Schürz: Ökonomie baut auf Hypothesensystemen auf und entwickelt kohärente Modelle, mit denen eine Vielzahl empirisch beobachtbarer Daten bearbeitet werden kann. Wie die Naturwissenschaften haben die Sozialwissenschaften ein Interesse, Gesetze zu formulieren, die Prognosen und Kontrollen ermöglichen. Eine strikte Trennung von Subjekt und Objekt, wie sie die Naturwissenschaften kennzeichnet, ist jedoch nicht erreichbar. Im Unterschied etwa zum Historiker hat die Volkswirtschaftslehre die eigene Welt zum Gegenstand, an der sie selbst Anteil nimmt. Objektivität in der Ökonomie kann nur in Abhängigkeit von den erkenntnisleitenden Interessen konzeptualisiert werden. Und normative Fragen, wie jene nach der Gerechtigkeit der Gesellschaft, sind der Ökonomie also gleichsam eingeschrieben.
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Eine auf sich selbst fixierte Ökonomie vernachlässigt aber die Analyse sozialer Prozesse und gesellschaftlicher Themen. Die Beurteilungskriterien des wissenschaftlichen Erfolgs in der Ökonomie sind oft allein im methodischen Feld zu verorten, und methodische Strenge dient eher zum Reputationserwerb in der ökonomischen Wissenschaft als zur Erkenntnis der Sache. Orthodoxe ökonomische Forschung konzentriert sich auf einen mathematischen Formalismus, der nicht einmal die Oberflächenphänomene des Kapitalismus zu dechiffrieren sucht. Fragen nach der Bedeutung der Forschungsresultate für die soziale Wirklichkeit werden zurückgewiesen oder mit „Ad-hoc-Überzeugungen“ zu überbrücken versucht. Und dies ist immanent betrachtet sogar konsequent. Denn die modellierten Individuen haben nichts mit realen Menschen zu tun. Die modellierten Monaden der Ökonomen sind in ihrem Verhalten ja sehr armselig. Sie maximieren nur rational ihren Nutzen.
Diese Kritik an den Grundlagen der Ökonomie ist im vergangenen Jahrzehnt ja immer lauter geworden – nicht nur von Seiten der Philosophie und Wissenschaftstheorie; die Kritik erfolgt auch durch die Wirtschaftswissenschaften selbst, um nur an Karl-Heinz Brodbeck zu erinnern. Wie könnte eine andere Ökonomie aussehen, eine „gesellschaftskritische Ökonomie“ z.B.? Martin Schürz: Aus meiner Sicht krankt die vorherrschende Ökonomie vor allem daran, dass sie mit der Welt so einverstanden ist. Was auch schon einen ersten Anhaltspunkt dafür liefert, was eine gesellschaftskritische Ökonomie sein und leisten könnte: Gesellschaftskritische Ökonomie untersucht die verschiedenen gesellschaftlichen Formen von Macht und Herrschaft und möchte durch ihre Analyse an deren Überwindung mitwirken. Gesellschaftskritische Ökonomen sind die Gegenexperten zu den neoliberalen Fachleuten. Sie verorten ihre Arbeit explizit normativ, während die Neoliberalen ihre eigenen impliziten Werturteile ja bestreiten. Sie können ihre gesellschaftspolitischen Interessen benennen und sind in sozialen Auseinandersetzungen parteiisch. Ihre ökonomischen Argumente entwickeln sie an verschiedenen Ausformungen gesellschaftlichen Leids. Gesellschaftskritische Ökonomie bleibt ihrer Natur nach daher negativ auf die bestehende Gesellschaft bezogen und erlaubt durch ihre Analyse der jeweiligen politisch-ökonomischen Situation vielleicht ein Erkennen von deren Veränderungspotenzialen. Ihr Schwerpunkt liegt nicht in der Entwicklung positiver Utopien einer gerechten Gesellschaft, sondern im Versuch, das Veränderbare im Bestehenden auszuloten. Sie hat kein archimedisches Fundament, vom dem aus sie Ihr Nein formulieren könnte. Zu ihr zählen Zukunftsoffenheit und Unabgeschlossenheit.
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Natürlich kann wissenschaftliches Wissen aber nicht einfach in lebensweltliche Orientierung übersetzt werden. Nicht nur sind die meisten Fragen – insbesondere die Gerechtigkeitsthemen – von zu großer Komplexität, sondern es kann zudem auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Vermittlung von Fachwissen gelingt. Wichtig ist gesellschaftskritische Ökonomie allein, weil sie aufzeigt, inwiefern gesellschaftliche Akteure von Ungerechtigkeit und Ungleichheit betroffen sind. Dies könnte es erleichtern, verschiedene Themen einer demokratischen Entscheidung zuzuführen, die bislang in der Domain der Experten betreut wurden. Die Durchsetzung alternativer Wirtschaftspolitik ist keine primäre Frage der richtigen Instrumente und des angemessenen institutionellen Designs – dann wäre es doch recht leicht –, sondern abhängig von der sozialen Durchsetzung bestimmter Normen, sowohl auf dem Feld der Wissenschaft wie auch auf dem Feld der Politik.
Was für Rückkoppelungseffekte hat eine solche gesellschaftskritische Ökonomie auf die Wirtschaftswissenschaften selbst? Bewirkt sie dort etwas – oder ist sie ein neuer, eigenständiger Zweig? Martin Schürz: Gesellschaftskritische Ökonomie trägt vielleicht ein klein wenig zu einer Klärung der normativen Ansprüche in den wissenschaftsinternen Auseinandersetzungen bei. Das typische Ökonomenbewusstsein wird herausgefordert, nicht länger normative Fragen ungeklärt zu lassen bzw. diese zu leugnen, sondern sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Die historisch, klassen-, kultur- und geschlechtsspezifisch dominierenden Wertorientierungen, seien es Perspektiven der Staatsaufgaben und der Reichtumsakkumulation oder wirtschaftspolitische Prioritäten, werden damit reflexiv hintergehbar. Eine Ökonomie, die kritisch sein will, muss selbstreflexiv sein. Kritik als Reflexionsmodus bewährt sich als Erkenntniskritik. Die Diskursivität ökonomischer Erkenntnisprozesse belegt, dass die Ökonomie, die ja selbst Teil der sozialen Realität ist, elementar auf Erkenntniskritik angewiesen ist. Reflexivität könnte die ideologische Allianz von Interesselosigkeit und Expertenkult unterminieren. Die Ökonomik müsste sich selbst zum Gegenstand machen und die sozialen Determinanten, denen sie ausgesetzt ist, zu erforschen suchen. Die sozialen Determinanten, die bestimmte Forschungszweige mit finanziellen Mitteln fördern, die Machtmechanismen, die ausschließen und die kurzlebigen wissenschaftlichen Moden wären auch ihr Thema. Eine konkret situierte Reflexion ist eine notwendige Bedingung der Emanzipation von gesellschaftlichen Machverhältnissen. Besondere Aktualität erhalten gesellschaftskritische ökonomische Analysen in gesellschaftlichen
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Krisensituationen. Denn diese zeichnen sich durch ein vergleichsweise höheres Maß an historischer Offenheit aus. Wenn Sie also konkret nach Rückkoppelungseffekten fragen, antworte ich: die gibt es vermutlich nur minimal. Gesellschaftskritische Ökonomie lebt zumeist eine universitäre Nischenexistenz. Insgesamt würde ich die praktischen Effekte einer gesellschaftskritischen Ökonomie auf der Ebene spezifischer wirtschaftspolitischer Verbesserungsvorschläge, insbesondere im institutionellen Bereich und bei der Förderung einer deliberativen Kultur in der Ökonomie vermuten.
Kritik am ökonomischen Mainstream kommt aber auch aus dem Feld der Institutionen-Ökonomie, die ja nicht wenig dazu beigetragen hat, die Rolle von Institutionen und Politik wieder in den Mittelpunkt der Diskussion über Gesellschaftsgestaltung zu rücken – auch wenn es um die Frage einer gerechteren Weltwirtschaft geht. Sind das wertvolle Ansätze? Oder bleiben die gleichsam zu nahe am Status quo dran? Martin Schürz: Das ist richtig. Gegenwärtig boomen Forschungsrichtungen wie Institutionen-Ökonomie, Verhaltensökonomie, Kulturökonomie und Glücksforschung. Diese dehnen ihr wissenschaftliches Untersuchungsfeld auf alltägliche menschliche Verhaltensweisen aus. Die neoklassische Modellwelt von monadenhaften Individuen, die vollständig informiert sind und dann rational ihre Eigeninteressen zu maximieren suchen, wird verlassen und Gesellschaft gerät in einer multidimensionalen Form in den Blickpunkt. Die Proponenten dieser Forschungsrichtungen können aber wenigstens theorieimmanent nicht beanspruchen, einen besonderen Spürsinn für soziale Relevanzen zu haben. Alltagsbeobachtungen werden in formalisierter Weise dargestellt. Dass es sich dabei um die uns allen vertraute alltägliche Welt handelt, erleichtert eine breitere mediale Rezeption und ermöglicht quasi en passant die Kritik herrschender Dogmen (wie Nutzenmaximierung). Und dies ist eine Verschiebung von den monetären Nutzen maximierenden Individuen der neoklassischen Welt zu den vielfältigen Verhaltensformen der Menschen, die beanspruchen kann, realitätsnäher zu sein. Die Gefahr besteht jedoch, sich in der unendlichen Weite des menschlichen Verhaltens zu verlieren. Menschen kommunizieren, haben Vorstellungen von Gerechtigkeit, sind erlebnishungrig usw. Doch dies sind keine zureichenden Charakteristika, die Gesellschaft entsprechend gerade diesen subjektiven Merkmalen zu definieren. Es erfolgt eben keine theoretische Konzeptualisierung der Verhaltensstrukturen wie etwa im soziologischen Theoriekonzept von Pierre Bourdieu, welcher das Ensemble an Denkschemata, moralischen Standards und Verhaltensge-
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wohnheiten als Habitus zu konzeptualisieren gesucht hat. Die soziale Wirklichkeit aus der Perspektive der Verhaltensökonomie erscheint eher wie ein unübersichtliches Labyrinth an unverknüpften Daten und Informationen. Wertvoll ist aber der damit einhergehende Pluralismus in der Ökonomie. Eine pluralistische Orientierung führt nicht zur Preisgabe des Wahrheitsanspruchs und auch nicht zur Relativierung in kontextabhängige Ansprüche auf Wahrheit. Pluralismus trägt der Erwartung Rechnung, dass in kontroversen ökonomischen Fragen eine noch so rational geführte Debatte nicht zu Einverständnis führen wird. Die Güte einer ökonomischen Expertise bzw. Gegenexpertise kann ja nicht objektiv beurteilt werden. Eine „falsch/richtig“-Unterscheidung, welche die ökonomischen Sichtweisen in eine verfehlte „Mainstream-Sicht“ und in eine angemessene emanzipatorische Sicht unterteilt, unterliegt einem Trugschluss. Denn sie nimmt eine objektive Wahrheit an, die nur durch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse unterdrückt werde und von gesellschaftskritischen Experten enthüllt werden könnte. Doch ökonomische Urteile stehen stets in einem historischen und sozialen Kontext und reflektieren immer auch gesellschaftliche Macht- und Interessensauseinandersetzungen. Weder setzt sich kritische ökonomische Expertise durch, weil sie an sozialer Gerechtigkeit orientiert ist, noch ist der gesellschaftskritische Ökonom der Statthalter der Vernunft.
Wie steht es aber um die Rolle von Institutionen, wenn es um eine Veränderung der Weltwirtschaft geht? Das scheint doch ein wichtiger Punkt des Institutionen-Ansatzes zu sein. Martin Schürz: Institutions matter, sagen mittlerweile ohnehin alle. Alle wirtschaftspolitischen Institutionen tangieren natürlich mehr oder weniger stark Gerechtigkeitsfragen. Doch die für Gerechtigkeit zuständigen Institutionen gibt es nicht. Insbesondere im Zusammenhang von Globalisierung und Gerechtigkeit wird auch stets auf die Notwendigkeit verwiesen, solche neuen Institutionen zu schaffen; etwa eine global agierende Steuerbehörde, die eine Vermögenssteuer einhebt. Dies ist jedoch Aufgabe der Politik und nicht der Ökonomie. Und Hoffnungen darauf scheinen angesichts divergierender Interessenslagen (Nord-Süd, ArmReich, Zentrum-Peripherie) und hegemonialer Machtstrukturen doch ein wenig illusionär.
Das hört sich nicht besonders gut an… Martin Schürz: Ich bin generell skeptisch und in dieser Frage besonders vorsichtig: Das neu erwachte Interesse an Gleichheit (in der
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Weltbank, der OECD und in anderen internationalen Organisationen) zeigt noch nicht, dass Gerechtigkeit zu einem zentralen Thema der Ökonomie wird. Im Gegenteil, es könnte darauf hinweisen, dass im Neoliberalismus Ungleichheit immer leichter zu legitimieren ist. Meiner Vermutung zufolge wird es jetzt leichter, Vermögensungleichheit empirisch zu untersuchen, da substantielle Vermögensbesteuerungen durch eine Schwächung des Staates unmöglich gemacht wurden. Ein paradoxer Befund wäre: Je weniger man wirtschaftspolitisch gegen die Ungleichheit zu tun vermag, desto eher kann dazu geforscht werden. Die aktuelle Diskussion in Österreich zur Abschaffung der Erbschafts- und Schenkungssteuer zeigt eindrücklich, dass trotz des Wissens um die negative Wirkung vom Vererben auf soziale Ungleichheit (wer hat, dem wird gegeben) ein ideologiegetriebenes Vorgehen in der Wirtschaftspolitik möglich ist. Ein anderes Beispiel: Das politische Projekt der Eigentümergesellschaft, also die Idee, dass jeder ein Aktienpaket sein eigen nennen soll und dann vernünftig für Alter und Gesundheitsrisiken vorsorgt, arbeitet auch mit dem Gleichheitsanspruch. Alle seien gleich in ihren Eigentümerinteressen in der neuen Eigentümergesellschaft. Wenn der Arbeiter Aktien seiner Firma besitze, dann stehe er nicht als feindlicher, streikbereiter Lohnarbeiter dem Kapitalisten gegenüber, sondern teile mit den anderen Eigentümern das gleiche unternehmerische Schicksal. Doch in Wirklichkeit ist dies kein Narrativ von der Ausweitung individueller Verfügungsfreiheit, sondern nur der historisch wiederkehrende Versuch, eine gesellschaftliche Dimension, jene des Privateigentums, zur zentralen Kategorie der Gesellschaft zu machen. Die Ideologie ist ebenso verführerisch wie vordergründig. Der alte philosophische Gedanke der Autonomie, die Hoffnung auf das schnelle Geld an der Börse und die Abkehr von den Bevormundungen des bürokratischen Staats suggerieren eine rosige Zukunft. Doch in Wirklichkeit besitzen in jenem Land, in dem die Eigentümergesellschaft am weitesten entwickelt ist, den USA, die reichsten 10% über 85% der Aktien. Mit anderen Worten, zwar gibt es, mittlerweile auch schon in Österreich, eine Reihe von Aktienbesitzern (in den USA etwa die Hälfte der Bevölkerung, in Österreich 16%), aber viel besitzen sie halt nicht. Nur die Reichen sind wirklich prominent an der Börse vertreten. Diese können ihr Risiko dann auch schön diversifizieren, während die Armen auf eine Karte setzen müssen, ohne die finanziellen Ressourcen dafür mitzubringen. Ohne ausreichend hohes und sicheres Einkommen sind die Schalmeienklänge von der Eigentümergesellschaft nur für die Vermögenden interessant. Die Legitimation des neoliberalen Gesellschaftsprojekts erfolgt über vorgebliche ökonomische Effizienzgewinne bei Marktlösungen, über Chancengleichheit und über Thesen zur Unvermeidlichkeit der Ungleichheit.
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Insbesondere Vermögensungleichheit soll zum unhintergehbaren factum brutum einer Gleichheit der Aktionäre suggerierenden Eigentümergesellschaft werden. Dafür ist aber auch eine Bedeutungsverschiebung innerhalb des Gerechtigkeitsdiskurses notwendig. Egalitäre Kriterien müssen delegitimiert werden. Die These, alle Menschen seien gleich, war stets ohnehin ein Bumerang. Sie setzte sich der bequemen Widerlegung durch die Sinne aus, wie Adorno in den Minima Moralia anmerkte. Mit dem Verweis auf die faktische – und nicht abänderbare – Ungleichheit der menschlichen Natur konnte dann die vorgebliche Gleichmacherei der Linken vorab lächerlich gemacht werden. Manche Ökonomen – Martin Feldstein etwa – meinen, dass Ungleichheit gar kein Thema für die Ökonomie sei. Armut ja, aber Ungleichheit nicht, denn wenn alle etwas dazubekommen, läge kein Problem vor. Es komme moralisch nur darauf an, dass niemand ein schlechtes Leben hat, aber nicht wie das Leben des einen gegenüber dem Leben des anderen abschneidet, betont auch Harry Frankfurt. Doch ist dem tatsächlich so? Nehmen wir an, dass jeder Österreicher ein Geldgeschenk vom Staat erhält. 10 Personen erhalten jeweils 10.000 Euro und der Rest 5 Euro. Aus Verteilungsgesichtspunkten gilt, die Einkommensungleichheit ist gewachsen, doch der Wohlstand aller ist auch gewachsen. Ist das nicht gut? Ergebnisse der Verhaltensökonomie zeigen, dass manche ihre 5 Euro-Scheine empört zurückweisen würden, denn ihr Gerechtigkeitsempfinden würde empfindlich verletzt. Manche Menschen würden – wenn Sie wissen, dass ein bereits Reicher 10.000 Euro erhielt, sich vielleicht sogar schlechter fühlen als ohne das kleine Geldgeschenk. Einkommen ist nicht nur die Ressource für Ausgaben, sondern auch der gesellschaftliche Maßstab von Anerkennung. Dies unterstreicht eine Erkenntnis von Amartya Sen: die Bezugnahme auf eine Referenzgruppe ist unumgänglich. Menschen müssen andere als Gleiche in einem bestimmten Sinn verstehen. Und es ist daher fragwürdig, inwieweit wir von Ungleichheit und Globalisierung gehaltvoll sprechen können. In der Ökonomik wird das Arbeiten mit Mikrodaten immer beliebter. Mikrodaten sind Informationen zu Einkommen, Ausgaben und Vermögen, die direkt in Haushaltsbefragungen erhoben werden. Und erst das Verfügen über solche Datensets erlaubt das Forschen zu Einkommens- und Vermögensverteilung. Es ist aber sehr schwierig, die Vermögensverteilung global überhaupt zu messen. Davies und Shorrocks, die seit Jahrzehnten zur Ungleichheit forschen, haben im Rahmen eines UN-Projekts nun Schätzungen zur weltweiten Vermögensungleichheit vorgelegt. Sie müssen dies aber auf der Basis von nur 20 nationalen Datensets tun, wobei sogar diese nationalen Daten aus industrialisierten Ländern eine Reihe von Problemen aufweisen. Es zeigt sich die erwartete extreme Ungleichheit im globalen Kontext. Doch global ist
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Mag. Dr. rer. soc. oec. Martin Schürz, geb. 1964, studierte Ökonomie, Philosophie und Politikwissenschaft. Seit dem Jahr 2000 ist er Leiter der Gruppe für monetäre Analysen/Volkswirtschaftliche Abteilung der Österreichischen Nationalbank (OeNB). Seine Forschungsarbeiten erstrecken sich insbesondere auf Fragen der Vermögensverteilung in Österreich. Er ist Mitherausgeber mehrerer ökonomischer Fachbücher wie Institutional Conflicts and Complementarities (Kluwer Verlag, Boston 2004) oder Economic Policy under uncertainty: the role of truth and accountability in policy advice (Edward Elgar Verlag, Cheltenham 2005).
keine Institution für Gerechtigkeit zuständig. Die Ergebnisse zur globalen Ungleichheit könnten daher leicht als unvermeidlich interpretiert werden. Interessanterweise ist in der Philosophie eine Debatte zwischen Egalitarismus und Nicht-Egalitarismus zu beobachten, die durchaus in Zusammenhang mit den politischer Kontroversen zwischen egalitären Linken und nicht-egalitären Neoliberalen verortet werden kann. Die nicht-egalitären Konzepte gewinnen auch in der Philosophie an Terrain. Im Egalitarismus wurde Gerechtigkeit durch Gleichheit bestimmt. Gleichheit ist demnach ein intrinsischer Wert, der relational bestimmt wird. Es geht um Gleichheit der einen Menschen mit den anderen. Gleichheit kann hinsichtlich der Lebensaussichten, der Möglichkeiten, gut zu leben interpretiert werden. Als pluralistischer Glücksegalitarismus wird Gleichheit bezüglich unverdienter Lebensaussichten mit einem Wohlfahrtsprinzip kombiniert. Die Verantwortung für eigenes Verschulden bleibt beim Individuum verortet. Bei Konflikten zwischen Gleichheit und Wohlfahrt werden dann auch Abstriche von Gleichheit für größere allgemeine Wohlfahrt akzeptiert. Dem klassischen Einwand gegen die Gleichheit, dass diese nur auf Kosten des wirtschaftlichen Wachstums möglich sei, konnte so begegnet werden. Übrigens hört man diese Kritik auch in der Ökonomie viel seltener als früher, und sogar die Weltbank zeigte in ihrem vorletzten Jahresbericht die Wichtigkeit von Gleichheit für Wachstum auf. Dem Egalitarismus wird seine Staatsorientierung vorgeworfen, da dadurch die Folgen des Bürokratismus verkannt werden und ein etatistischer Leviathan entstehen könne. Im immer prominenter werdenden Nicht-Egalitarismus ist Gleichheit hingegen kein zentrales, unabgeleitetes Ziel von Gerechtigkeit. Proponenten wie Harry Frankfurt und Michael Walzer konzentrieren sich auf absolute Ziele. Wichtig sei nicht der Vergleich zwischen dem Wohlergehen von Menschen, sondern wie sie absolut betrachtet dastünden. Harry Frankfurt spricht von der “doctrine of sufficiency”. In der Ökonomie würde man sich dann auf Armutsbekämpfung und nicht auf Reduktion von Einkommens- und Vermögensungleichheit konzentrieren.
Wie steht es vor diesem Hintergrund um das „Projekt“ eines gerechteren Handels bzw. einer gerechteren Weltwirtschaft? Ist ein solches Projekt also nur Illusion? Martin Schürz: Während die Bedarfsgerechtigkeit im Diskurs zur Grundsicherung in verkleinerter Form verschwindet, bleibt die Gerechtigkeitsforderung nach Gleichheit in vielerlei Varianten und Kontexten fortbestehen. Gerechtigkeit im Handel ist eine moralische
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Sparvariante im unübersichtlichen globalen Terrain. Sie rückt die Kategorie des Tausches in den Mittelpunkt. Versucht wird dort richtig zu handeln, wo zumeist bestenfalls konsumistische Distinktion zu erlangen ist. Die Betonung der feinen Unterschiede, der demonstrative FAIRTRADE-Konsum ist wahrlich noch nicht systemverändernd. Zwar ist es nachvollziehbar, dass es angenehmer ist, dem Verkäufer der Obdachlosenzeitung Augustin in einer Tauschtransaktion auf Augenhöhe zu begegnen als dem auf den Knien flehenden Bettler. Doch dies hat mehr mit Symmetriewünschen in der menschlichen Interaktion zu tun als mit dem Ideal eines gerechten Tausches. Im Tausch erhält zwar jeder das Seine, doch trotzdem ergibt sich soziales Unrecht. Wie Theodor W. Adorno konzis formulierte: der Widerspruch lautet, dass beim Tausch alles mit rechten Dingen zugeht und doch nicht mit rechten Dingen. Denn wo ist die reale Gleichheit zwischen nicaraguanischen Kaffeebauern und einem österreichischen „FAIRTRADEKonsumbohemien“? Größer ist sicher die Gemeinsamkeit zwischen dem Konsumproletariat, das gezwungenermaßen beim Diskonter einkauft, ohne die Kinderarbeit bei den gekauften Billig-T-Shirts zu beachten und den entrechteten lateinamerikanischen Landarbeitern. Beide Gruppen zählen zu den Armen ihrer jeweiligen Gesellschaft. Die relative Armut ist die entscheidende Größe bei Scham, fehlender Anerkennung und Respektverletzungen.
Gesellschaftskritische Ökonomie und die Orientierung an einer deliberativen Kultur in obigem Sinne helfen auch nicht weiter? Martin Schürz: Die gesellschaftskritische Ökonomie hebt ideologiekritisch gegen den Expertenkult in der ökonomischen Disziplin an und leistet so einen Beitrag zum empowerment einer oft nur schlecht informierten Öffentlichkeit. Die ökonomischen Experten sind so wertfrei nicht und ihre Ideologie ist so fern nicht jener der Herrschenden. Deliberative Kultur in diesem Zusammenhang meint eine breite öffentliche Debatte zur Offenlegung der impliziten Gerechtigkeitsvorstellungen der Ökonomen. Gesellschaftliche Vorstellungen sowohl von ökonomischer Effizienz als auch von Gerechtigkeit haben sich gewandelt und werden dies weiter tun. Die Durchsetzung von Gerechtigkeit bleibt Sache sozialer Auseinandersetzungen und kann nicht auf Basis ökonomischer Erkenntnisse entschieden werden, da diese ihrerseits von Werten und Interessen abhängig bleibt.
Martin Schürz, wir danken Ihnen für das Gespräch!
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Globalisierung 1100 –1200
Venedig entwickelt den Handel mit chinesischen Produkten über die Karawanenrouten und die Schwarzmeerhäfen, es handelte dabei mit indischen und anderen asiatischen Produkten über Syrien und Alexandria.
Die Lagunenstadt spielt eine ganz wesentliche Rolle, die Wirtschaft des Mittelmeerraums wieder dem Handel mit Westeuropa zu öffnen und Verbindungen zu Nordeuropa aufzubauen. Es schafft die institutionellen Grundlagen für den Handelskapitalismus, erzielt bedeutende Verbesserungen in der Seeverkehrstechnik und ermöglicht es dem Westen, in Asien und Ägypten angewandte Techniken für die Erzeugung und Verarbeitung von Rohrzucker sowie Verfahren der Seidenherstellung, Glasbläserei und Juwelierskunst kennen zu lernen.
Venedig verfügt über wichtige Verbindungen zu Nordeuropa. Der Handel mit Flandern wird größtenteils auf Messen in der Champagne abgewickelt, wo italienische Händler Wollwaren kauften und Seide, Gewürze, Alaun, Zucker und Lacke verkauften. Nach der Öffnung der Seeverbindung zwischen dem westlichen Mittelmeerraum und dem Atlantik erfolgt der Warenaustausch mit Flandern direkt auf dem Seeweg.
Zwischen 1100 und 1433 ist China die dynamischste Macht im asiatischen Handel.
Montierte Quellen: Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Der Handel. Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Aufbruch zur Weltwirtschaft. Angus Maddison, Die Weltwirtschaft: Eine Milleniumsperspektive. Jürgen Osterhammel, Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Wikipedia, Globalisierung (Stand: 15.8.2007). Montiert von Michaela Ritter
Der doppelte Boden der ökonomischen Moderne Über Marcel Mauss, Tauschunverhältnisse und ein archaisches Moment, das soziales Leben stiftet Peter Nausner im Gespräch mit Christian Eigner und Michaela Ritter In den vergangenen 15 bis 20 Jahren wurde ein Begriff sehr wichtig, der lange Zeit eine theoretische Außenseiter-Existenz geführt hatte – nämlich jener der „Gabe“. Ursprünglich zentral im Werk von Marcel Mauss, wurde er u.a. von Jacques Derrida ab den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts verstärkt rezipiert. Und mit Fragen der Moralität – „Ethik der Gabe“ hieß bezeichnenderweise der Sammelband, der zu Jacques Derridas 60. Geburtstag erschien – verwoben. Was hat es mit der Gabe auf sich – und in welcher Differenz befindet sich diese z.B. zum Tausch oder zum Geschäft? Peter Nausner: Der Gabentausch bei Marcel Mauss ist nichts anderes als der symbolische Tausch: Wer eine Gabe gibt, gibt auch etwas von sich selbst – in symbolischer Form. Natürlich geht es um eine Sache, vielleicht um ein Ding, das man gibt, aber der Clou der Gabe ist, dass der Geber in derselben präsent wird. Man legt gewissermaßen sich selbst in die Transaktion hinein. Bei Mauss wird das nicht allzu deutlich, wenn er über die polynesischen Austauschformen spricht; er arbeitet diesen Aspekt nicht allzu stark heraus. Und doch ist er in seinem „Gabe“-Buch spürbar.
Wie kann man sich dieses „Selbst-Geben“ vorstellen? Peter Nausner: Jeder Gabe haftet also die Identität des Gebenden an, ist in ihr präsent. Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen, dass aus unserer aktuellen Ökonomie stammt – auch wenn diese auf den ersten Blick rein gar nichts
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mit Gaben zu tun hat: Es ist üblich, einer Kellnerin oder einem Kellner Trinkgeld zu geben. Wozu tut man das? Warum reicht es nicht, einfach den verrechneten Betrag zu bezahlen? Warum bleibe ich nicht beim simplen monetären Tausch, beim Geschäft, das aus Leistung gegen Geld besteht? Der Grund dafür ist einfach: Ein Kellner serviert in der Regel nicht bloß das Essen; er versucht mit seinen Kunden auch in Kontakt zu treten. Man hat miteinander Worte gewechselt, hat sich vielleicht nach dem Befinden erkundigt, bringt eine Kleinigkeit an den Tisch, die nicht zur Bestellung gehört. In Marcel Mauss’ Buch über die Gabe wird selbige als fundamentales Prinzip menschlicher Gesellschaften bestimmt: Es ist demnach der Gabentausch, der soziales Leben konstituiert. Die Gabe ist nämlich dadurch gekennzeichnet, dass in ihr der Gebende ein Stück von sich selbst gibt. Sie ist insofern ein Beziehungsangebot, mit dem jedoch keine „starke“ Aufforderung zur Beziehungsaufnahme einhergeht. Denn der Gabentausch hat stets eine „freiwillige Form“; er muss nicht erwidert werden, sollte aber doch zu einer Gegen-Gabe führen, die damit irgendwie Pflicht und zugleich auch keine Pflicht ist. Durch diese eigenwillige Form spricht die Gabe ihren Empfänger weniger als Subjekt, als Person, sondern vielmehr als soziales Wesen an: Wer eine Gabe erhält, gibt um des Gebens willen zurück; der Adressat ist insofern nicht das Gegenüber, es ist vielmehr die Gemeinschaft, die Gesellschaft an sich, deren (Austausch-)Dynamik so entsteht. Mit dem Gabentausch geht dementsprechend auch nie eine finanzielle, sehr wohl aber eine moralische Schuld einher: Wo die Gegen-Gabe nicht erfolgt, entsteht ein moralisches Ungleichgewicht, das sich letztlich als problematisch erweist. Denn wer diese moralische Schuld auf sich lädt, gilt nicht mehr als vertrauenswürdig; er hat die (Gaben-)Investitionen, die Vorleistungen, die in ihn erfolgt sind, zu Unrecht erhalten. Und sich damit auch ökonomisch desavouiert. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass der Homo Oeconomicus nie ohne den Homo Moralis auskommt; ohne all die mit der Moral verbundenen Gesten und Handlungen ist Wirtschaft nicht möglich. Dieses Faktum wird von der modernen Ökonomie, respektive von der modernen ökonomischen Theorie, gerne verdrängt und ausgeklammert. Was sich u.a. daran zeigt, dass sich ihre Sprache auf rationalistische Transaktionstermini wie „Preisbildung“, „Angebot und Nachfrage“ und dergleichen beschränkt. Obwohl ihre Sprache eigentlich eine politische sein sollte – zumindest dann, wenn die Menschen nicht, wie es Mauss formuliert, „ökonomische Tiere“ bleiben wollen. …eine kleine Gabe also… Peter Nausner: …genau. Aber bei dieser Gabe ging es weniger um die Sache, die an den Tisch gebracht wurde, als um das soziale Beziehungsangebot, das damit verbunden ist: Ein wenig hat die Bedienung etwas von sich selbst hergegeben, etwas das niemals im Preis inkludiert sein kann; sie hat sich als Person und soziales Wesen eingebracht und damit einen Gabentausch eröffnet. Das ist etwas anderes, als wenn jemand einer Verkäuferin an der Supermarktkasse sein Geld in die Hand drückt, nachdem sie die Waren über den Scanner gezogen hat. Im Supermarkt passiert ein Geschäft und die Gaben verstecken sich unpersönlich in
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Sonderaktionen und Rabatten. Wo immer Gaben im Spiel sind, entsteht soziales Leben. Auch wenn, wie im Supermarkt, nicht die persönliche Begegnung im Mittelpunkt steht.
Und was bedeutet das Trinkgeld? Peter Nausner: Der Geber eines großzügigen Trinkgeldes signalisiert dadurch, dass er wahrnimmt und anerkennt, etwas von der Person des Dienstleistenden erhalten zu haben, das nicht im Leistungsangebot enthalten ist. Ein Dienstleistender wiederum verschenkt etwa seine spezielle Aufmerksamkeit, die nicht vertraglich geregelt werden kann und für die kein Preis existiert – in der Hoffnung, durch deren Annahme eine soziale Bindung zu etablieren und damit den Tauschpartner anzuhalten, ihm ein weiteres Mal zu begegnen, ihm sozusagen „treu“ zu bleiben. Das wird im Ritual des Trinkgeldes erkennbar. Das soziale Leben, das damit in Gang kommt, lässt sich nun nicht mehr über die Begriffe des materiellen Tausches oder besser: des Geschäfts beschreiben. Denn Geschäfte sind abstrakt und auf ein Zusammenspiel von Waren und Geld abgestellt. In ihnen hat die „Beziehungslogik“ der Gabe keinen offiziellen Platz mehr – zumindest auf den ersten Blick nicht. Tatsächlich kommt das Gespräch an der Kasse der Autobahnraststation in der Regel über ein „Guten Tag“ und „Auf Wiedersehen“ nicht hinaus. Man spricht in diesem Zusammenhang deshalb auch von Transaktionen, die erfolgen. Genau auf dieses Moment der Gabe kommt es aber auch beim marktlichen Agieren an. Weshalb wir ja dann auch von Kundenbindung oder von Stammkunden sprechen. „Stammkunden“ kann man dabei auch in dem emotionalarchaischen Sinne verstehen, der in im Begriff „Stamm“ – tribe – steckt.
Man verschenkt sich selbst, was in weiterer Folge soziales Leben ermöglicht – Stammes-Leben, um es metaphorisch zu formulieren… Auch in unserer Ökonomie läuft das Stammes-Leben mithin weiter? Peter Nausner: Mauss ist es ein Anliegen zu zeigen, dass die archaischen Momente des Gabentausches auch in unserer modernen Welt weiterhin existieren. Selbst in kapitalistischen Ökonomien gibt es nicht nur geschäftliche Transaktionsbeziehungen; die Gabe ist ständiger Begleiter auch bei unseren wirtschaftlichen Tätigkeiten. Über das Zusammenspiel von Extra-Service und Trinkgeld, aber auch über alle möglichen anderen Formen. Der Anthropologe Evens-Pritchard hält in seinem Vorwort zum Buch Die Gabe fest, dass wir ein rationales ökonomisches System an die Stelle eines Systems setzten, in welchem der Austausch von Gütern eine moralische Transaktion war. Mithin eine, die soziale Beziehungen zwischen Individuen herstellt und aufrechterhält. Diese Dimension des
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Moralischen ist dabei keineswegs verloren gegangen, sondern besteht in gut verschleierter Form weiter fort.
Kein Geschäft also ohne Gabe? Peter Nausner: Das ist damit noch nicht gesagt. Keine Kultur und Wirtschaft ohne Gabe wäre wohl zutreffender. Allerdings verweist diese Frage auf einen wichtigen Punkt: Meiner Ansicht gibt es in der Tat eine enge Verknüpfung von Geschäft oder Tausch und Gabe, die in Richtung „ineinander greifen“ geht. Doch um das zu zeigen muss ich weiter ausholen und ein paar Differenzierungen einführen: Tausch, Geschäft und Gabe sind nicht die einzigen Formen des Austausches, über die eine Gesellschaft verfügt; es kommen noch zwei weitere hinzu. Sodass sich folgende fünfteilige Skala oder Liste erstellen lässt: Eine der basalsten und radikalsten Formen des Austausches ist das Opfer, es ist deshalb auch der erste Eintrag in dieser Liste. Auf das Opfer folgt die Gabe, auf die Gabe das Geschenk, auf das Geschenk der Tauschhandel und auf den Tauschhandel schließlich das Geschäft. Jede dieser Austausch-Formen konstituiert dabei auf verschiedenste Weise Relationen und Verknüpfungen. Das Opfer beispielsweise hat ein universelles Moment an sich; wo ein Opfer gebracht wird, wird eine Verknüpfung mit dem Universellen hergestellt, wie an religiösen KultOpfern deutlich wird. Die Gabe hingegen…
…stellt soziale Beziehungen her… Peter Nausner: …mehr noch, man könnte sagen: Gaben erzeugen Gemeinschaft, es entwickelt sich das Gesellschaftlich-Soziale. Mit dem Geschenk wird dieses Soziale verstärkt, die entstandene soziale Beziehung wird stabilisiert. Im Tauschhandel hingegen werden wirtschaftliche Beziehungen etabliert, die im Geschäft eine Abstraktion erfahren: Geschäfte in moderner Form betreffen den Warenverkehr und benötigen Medien; z.B. Geld. Wichtig ist nun folgendes: Im Tauschhandel etwa gibt es einen direkten, zuordenbaren Austausch. Das heißt es geht um klare, berechenbare Werte, die jedoch nicht symmetrischer Natur sind: Brot gegen Wurst zu tauschen hat immer ein Moment der Ungleichheit und des möglichen Konflikts, weil Brot nun einmal Brot und Wurst Wurst ist – auch der Warentausch bleibt immer unvollständig, es gibt keinen 1:1-Tausch, weil immer ein subjektiver Bewertungsprozess unterschiedlicher Partner mitläuft. Es bleibt ein Rest, ein Moment der Unschärfe und potentiellen „Ungerechtigkeit“, das man nur dadurch bewältigen kann, indem man
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versucht, diese Ungleichheit in einer fortwährenden Tauschbeziehung immer wieder aufs Neue auszugleichen. Tut man das aber, hat man gleichsam eine „Geschenksdimension“ in den Tausch eingezogen. Man verschenkt sozusagen den „Rest“, der bleibt, also das potenzielle „Mehr“, dass einem vielleicht zugestanden hätte, als man drei Würste gegen zwei Brote tauschte.
Das dem Tausch obiger Liste vorgelagerte Geschenk schwingt sozusagen in ersterem nach? Peter Nausner: Exakt! In der Gabe wirkt das Opfer nach, im Geschenk die Gabe, im Tausch das Geschenk und im Geschäft der Tausch.
Vom Opfer zum Geschäft: Die Austauschformen der Gesellschaft
Die Gabe: Der Tauschhandel: Das Opfer: Das Geschenk: Das Geschäft: Von einer Gabe ist dann die Rede, wenn Er ist die erste Form des unpersönlichen Als die radikalste Form des Austausches Das Geschenk ist zumeist anlassbezoGeschäfte in moderner Form betreffen den ein Mensch einem anderen etwas gibt – Austausches: Jemand will etwas, das ein anderer hat das Opfer ein universelles Moment. gen und eine Geste des verstärkten Waren- und Dienstleistungsverkehr und und dabei ein Stück von sich selbst hat, woraufhin Verhandlungen beginnen, Im Opfer „gibt“ ein Mensch für das Beziehungsaufbaus bzw. -erhalts. Ein benötigen Medien, z.B. Geld. Der Charakter mit„verschenkt“. Der Geber ist gleichsam wogegen das begehrte Gut getauscht werden metaphorisch verstanden Göttliche, für Geschenk erwartet unbedingt ein des Tauschens bleibt erhalten, wird jedoch in seiner Gabe präsent. Gabe erwartet kann. Im Tauschhandel werden folglich das „erhaben Verbindliche“, das Gegengeschenk, wobei in einem durch diese Mediatisierung verschleiert, keine Gegen-Gabe – und erwartet sie wirtschaftliche Beziehungen etabliert. Im gleichsam über einer Gemeinschaft „funktionierenden Geschenk“ auch denn das begehrte Gut wird gegen einen doch. Der Wert für den „Beschenkten“ Tauschhandel liegt in der Regel ein Stück steht. Die eigene Person tritt in ihrer immer ein Gabenmoment enthalten ist. allgemein anerkannten Geldwert getauscht. liegt vor allem in dem, was nicht durch Geschenk, da aufgrund der subjektiven Eigenschaft als (Selbst-)Opfer in den Letzteres hilft darüber hinweg, dass Die Asymmetrie liegt hier darin, dass mit den Wert des gegebenen Gutes Werteinschätzung im Tausch nahezu niemals Hintergrund, was bis zur eigenen Gegengeschenke nicht im gleichen dem Geld kein „echter“ Wert ertauscht wird, transportiert wird. Denn die Gabe stellt Symmetrie erreicht werden kann: Es bleibt ein Vernichtung reichen kann. In unserer Sachwert liegen müssen. Die sondern nur ein repräsentierender. Die soziale Beziehung her, sie erzeugt „Rest“, ein Stück „Ungerechtigkeit“ (ein Pferd ist heutigen westlichen Zivilisation ist diese Asymmetrie des Geschenks kann durch wirtschaftliche Beziehung des Tausches Gemeinschaft. eben ein Pferd und kann nie 1:1 gegen eine Kuh erste Stufe des Austausches kaum zu den Anteil der Gabe im Geschenk erfährt hier eine Abstraktion. getauscht werden), das sich nur mit einem finden. überwunden werden. „Geschenksmoment“ überwinden lässt.
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Welches weitere Beispiel kann das noch verdeutlichen? Peter Nausner: In der Gabe steckt ein „Opfer-Moment“. Erkennbar wird dieses daran, dass man, um beim Eingangsbeispiel zu bleiben, vom Dienstleister zwar ein besonderes Service erhält. Es geht bei all dem aber um keine persönliche Beziehung. Man will nicht die Person kennenlernen und ein Rendezvous ausmachen; das Ziel ist der „Stamm“, die Gemeinschaft, das allgemeine Feld sozialer Beziehungen, das in seiner Gesamtheit soziales Leben ausmacht. Nicht der Einzelne ist mithin der Adressat der Gabe, sondern ein Allgemeines, das allerdings – anders als beim Opfer – nicht mehr das Universelle, sondern das „Gemeinschaftliche“, die Sozietät darstellt. Insofern wirkt das Opfer noch nach, wird aber gewissermaßen „gebrochen“ und neu ausgerichtet. Dass die Gabe wiederum im Geschenk nachwirkt, zeigt sich daran, dass sich das Geschenk zwar schon an einen konkreten Adressaten richtet – man schenkt einer Person, einem Subjekt, eine Einheit – die durchaus mit der Idee des Gegengeschenks verwoben ist, es aber nie zu einer Einforderung des Gegengeschenks kommt: Letztere müssen wie Gaben einfach „passieren“; von selbst und ohne jedes Wort. Das ist die GabenDimension des Geschenks.
Und wie greifen nun Tausch oder Geschäft und Gabe ineinander? Ja, kann das überhaupt passieren, wo doch das Geschenk gewissermaßen zwischen ihnen liegt? Peter Nausner: Gabe bringt das Thema der Gegen-Gabe auf – was nicht mit dem Gegen-Geschenk verwechselt werden darf: Das Gegen-Geschenk ist bereits eine wirksame Forderung, auch wenn dies unausgesprochen bleibt. Die Gegen-Gabe dagegen ist eine stille Aufforderung, eine stumme moralische Verpflichtung, die mit Annahme einer Gabe entsteht; eine Hoffnung, die möglicherweise aber nicht erfüllt wird. Im Tausch findet sich nicht nur die schon aufgezeigte Geschenksdimension; ebenso ist ganz schwach noch die „Logik der Gabe“ wirksam. Das Beispiel mit dem Brot und der Wurst zeigt das deutlich: Die Asymmetrie zwischen diesen beiden Lebensmitteln wird einerseits durch ein Geschenk „überwunden“ (ich akzeptiere, dass die zwei Würste nicht ganz dem „Wert“ der drei Brote entsprechen und umgekehrt), andererseits hat dieses Geschenk auch Gabencharakter. Weil durch die Akzeptanz der Asymmetrie eine Tauschkette eröffnet wird, die nicht nur die beiden Tauschpartner, sondern immer die ganze Gesellschaft betrifft: Es entsteht regelmäßiger Handel und damit werden Kooperationsgewinne möglich, wovon die Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit profitiert.
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Im Geschäft werden die Asymmetrien des Austausches im Übrigen verschleiert – nämlich durch die Mediatisierung des Tausches, d.h. dadurch, dass ein Medium in die Tauschbeziehung eingebaut wird. Durch Geld und Preise, die als Medien dienen, beginnt man zu übersehen, dass sich Brot und Wurst tauschtechnisch besehen zueinander wie Äpfel und Birnen, mithin nicht-identisch, verhalten. Allerdings kommt man selbst in diesem Fall der „Logik der Gabe“ und der „Logik des Geschenks“ nicht aus: Eine mediatisierte Ökonomie funktioniert nämlich nur dort, wo sichergestellt ist, dass man für sein Geld auch etwas kaufen kann – wozu es jedoch eines komplexen Institutionengefüges bedarf. Diese muss mit Vertragsrechten, Klagrechten, stabilen politischen Verhältnissen und vielem mehr sicherstellen, dass der Tauschwert des Geldes erhalten bleibt. In diesem Fall tritt die Gemeinschaft als Tauschpartner auf die Bühne, die eben institutionalisierte Märkte und entsprechende Rahmenbedingungen schafft. Gesellschaftliche Institutionen kosten nun allerdings etwas – weshalb sie nur dort existieren, wo Menschen in Form von Abgaben in die Gesellschaft, in das Soziale, einzahlen, ergo eine Gabe erbringen. Weshalb selbst im Geschäft die Gabe noch nachwirkt – wenn auch auf nicht leicht zu durchschauende Weise.
Das hört sich nach einem doppelten Boden an, auf dem die globale Wirtschaft permanent steht: Er ist modern, er ist aber auch archaisch. Peter Nausner: Gaben und Gegengaben haben laut Mauss eine freiwillige Form, obwohl sie eigentlich streng obligatorisch sind. Die darin begründete Verpflichtung zur Erwiderung schafft soziale Bindungen und ist die Voraussetzung zur Zirkulation von Gütern aller Art. Sich weigern etwas zu geben – also sich selbst zu involvieren –, ebenso wie die Weigerung etwas anzunehmen, kommt einer Kriegserklärung gleich, so Mauss. Es bedeutet etwa Freundschaft und Gemeinschaft abzulehnen. Der Anthropologe und Strukturalist Levi-Strauss spricht sogar davon, dass Tauschhandlungen friedlich beigelegte Kriege sind. Die Gabe als freiwilliger und freigiebiger Akt hatte früher die Bedeutung von gerechtem, also fairem Handeln und hat erst viel später den Charakter des Almosens angenommen. Mauss weist auch darauf hin, dass der Gabentausch ein wirtschaftlicher, rechtlicher und moralischer Komplex ist, bei dem genau genommen „öffentliche Güter“ entstehen. Die symbolischen Werte der Tauschobjekte werden immer durch die Gemeinschaft definiert. Er sieht auch den Ursprung des Kredits im Gabentausch – Darlehen sind aus dem System von Gabe und Gegengabe entstanden. Lange bevor Menschen Verträge signierten, haben sie Ihre Ehre und ihren Namen
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verpfändet und sich verpflichtet, die Gabe mit Zinsen zu erwidern, um ihr Gesicht und damit ihre soziale Stellung zu bewahren. Eine Gabe anzunehmen ist nicht nur in archaischen Gesellschaften genauso zwingend, wie sie zu geben – man hat im Grunde nicht das Recht sie auszuschlagen, weil man sich sonst von vornherein als besiegt erklärt. Der Nehmende gerät in einen ungewissen Zustand der „Quasi-Schuld“, es entsteht eine Art Unterlegenheit, eine moralische Ungleichheit gegenüber dem Gebenden. Diese Asymmetrie ist für den Gabentausch konstitutiv, der Empfänger kann sich von dieser Schuld nur befreien, indem er selber zum Gebenden wird – sonst bleibt er ein sozusagen gekauftes Subjekt und damit unfrei. Etwas annehmen zu müssen kann deshalb auch gefährlich sein, denn der Nehmende muss seine Identität, sein durch die Annahme verpfändetes Sozialkapital, quasi zurückkaufen. Der Soziologe Pierre Bourdieu hat auf die strukturbildende zeitliche Asymmetrie zwischen Gabe und Gegengabe hingewiesen, d.h. der genaue Zeitpunkt der Gegengabe bleibt im symbolischen Tausch (Anm.: Gabentausch) prinzipiell offen. Diese Differenz etabliert Beziehungen gerade dadurch, dass mit der Verpflichtung zur gegenseitigen Erwiderung von Gaben eine Art oszillierendes wechselseitiges Dauerschuldverhältnis entsteht. Im Grunde sind Gaben deshalb in aller Regel Gegenleistungen für bereits erhaltene Gaben und dienen hauptsächlich dazu, nutzbringende soziale Bündnisse aufrecht zu erhalten. Die Zirkulation der Gaben und Gegengaben sichert die Wiederholung der Tauschakte und somit die Reproduktion von Gemeinschaften jenseits von Verwandtschaft etc.
Was bedeutet das alles jetzt für die Thematik des gerechten Tausches, oder besser gesagt: für das Problem des gerechten Geschäfts? Peter Nausner: Die Essenz des bisher Gesagten besteht darin, dass Wirtschaft stets ein komplexes Zusammenspiel von verschiedenen Formen des Austausches ist. Zu diesem Zusammenspiel gehört mit der Gabe deshalb auch ein „Modus“, der Soziales und Gesellschaft erzeugt. Bei der Zirkulation von Gütern und Kapital fallen in modernen Gesellschaften Abgaben in Form von Steuern an. Dieser Modus, diese Verpflichtung zur Gegengabe, dient der Produktion öffentlicher Güter, sie ist obligatorisch und bindend, wenn man seine Identität als wertvolles Mitglied der Gemeinschaft wahren will. Auch hier bleibt die Asymmetrie durch die zeitliche Verzögerung der Transaktionen erhalten, wobei nun allerdings auch die Gemeinschaft zum Tauschpartner wird, der als Gegengabe für das Abführen von Steuern – also das Entrichten von
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Abgaben – die Verpflichtung zur Sicherung angemessener Lebensbedingungen übernimmt. Gaben sind im Grunde Vorleistungen, d.h. dem ökonomischen Charakter nach Investitionen. Eine Vorleistung zu erbringen heißt letztlich Vertrauen in das Verhalten des Empfängers zu setzen, und zwar trotz des Risikos der Ausbeutung. In der Form der Investition wird sichtbar, dass Moral und Ökonomie ein untrennbares Ganzes sind, auch wenn der moralische Aspekt ökonomischen Handelns weitestgehend aus den einschlägigen Diskursen verschwunden ist. Die aktuelle moderne Ökonomie scheint nun aber gerade so gebaut, dass sie auf eine Verweigerung des Sozialen im ökonomischen Feld hinausläuft. Genauer gesagt sollen die sozialen Aspekte und Momente verschleiert werden, und zwar tatsächlich bis zur Unkenntlichkeit: Moderne Ökonomie ist auch der Wille, all das Archaische, das in den Austauschbeziehungen mitschwingt – und auch mitschwingen muss –, unsichtbar zu machen.
Eine Art „gewollte“ Blindheit… Peter Nausner: …mit fatalen Folgen: Die Gabe als symbolische Tauschform läuft ja in jeder ökonomischen Investition mit. Ihr Gabencharakter stellt letztlich jene sozialen Bedingungen her, die von der Ökonomie als selbstverständlich erachtet werden. Der Homo Moralis – das zeigt etwa Professor Priddat (Anm: von der Zeppelinuniversität Friedrichshafen) in seinem Buch über unvollständige Akteure sehr deutlich – schafft die Basis für den Aktionsraum des Homo Oeconomicus. Die Produktion von Moral geht immer mit dem ökonomischen Tausch zumindest einher, wenn nicht voraus. Genau genommen ist sie jedenfalls inhärenter Bestandteil der Transaktion. “Unfair Trade” heißt dann, „unmoralische“ Transaktionen zu tätigen, das heißt z.B. den Anderen „nicht leben zu lassen“, ihn „über den Tisch zu ziehen“, ihm die ebenbürtige Partnerschaft zu verweigern, ihm letztlich den Krieg zu erklären. Die Abgewerteten und Gedemütigten wehren sich irgendwann, Hass entsteht, Krieg wird zum Thema – weshalb es meist nicht ganz verkehrt ist, von Handelskriegen zu reden. Die Blindheit der modernen Ökonomie führt nun dazu, dass die eine Seite dieses Problem gar nicht sieht und die andere sich nicht recht zu wehren weiß – weil durch die Verschleierung und Ausblendung des Sozialen keine der beiden Seiten über eine brauchbare Sprache verfügt, um diese Situation überhaupt beschreiben zu können!
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Wobei diese Sprachlosigkeit wahrscheinlich sogar erwünscht ist. Weil man andernfalls von ausgebliebenen Gaben, nicht gemachten Geschenken und ignorierten Tauschlogiken in einer abstrakten Geschäftswelt sprechen müsste… Peter Nausner: Wovon reden aber die Ökonomen? Von „Preisbildung“ und „rationalen Playern“, von hochtechnischen Transaktionsprozessen, die scheinbar ohne jede soziale Verankerung auskommen. Würde man die „Logik der Gabe“ oder die des Geschenks reflexiv mitlaufen lassen, wäre eine solche Sprache unmöglich. Allen Beteiligten wäre dann bewusst, dass es anders zu sprechen und anders zu handeln gälte. Es würde recht schnell klar, dass soziale Formen der Begegnung zwischen den einzelnen Akteuren auf der ökonomischen Ebene immer eine zentrale Rolle spielen; Begegnungen, in denen über Wertfragen und Wertzuweisungen diskutiert werden kann und muss. Das klingt nach Politik und ist auch ein Verweis auf selbige. Womit indirekt auch gesagt ist, dass die Verweigerung des Sozialen eine Verweigerung des Politischen ist. Der Homo Moralis und der Homo Oeconomicus sind komplementäre Ausprägungen handelnder Akteure, die nur in gemeinsamem Auftritt die Zirkulation von symbolischen und materiellen Gütern dauerhaft und friedlich sichern können. Ohne Homo Moralis gibt es keine Verpflichtungen, kein Vertrauen, keine friedliche Begegnung – gibt es keine Wiederkehr des Anderen, des Freundes, des Tauschpartners, des Kunden. Moralische Menschen handeln „ohne Netz“, ohne die Sicherheit, dass andere ebenso handeln. Aber genau dieses Signal des Vertrauens, die Großzügigkeit dieses Aktes entfaltet den Mechanismus der Verpflichtung, sich ebenso zu verhalten, sich als ebenbürtig zu erweisen, sein Gesicht zu wahren. Man erkennt das moralische Moment im ökonomischen Feld recht gut an der Ächtung des Schuldners, der seinen Verpflichtungen nicht nachkommt oder nicht nachkommen kann. Diese Akteure werden noch immer entehrt, verlieren ihre Reputation, verspielen ihre Kreditwürdigkeit und werden des Platzes verwiesen. Ehre z.B. kann man nicht kaufen, sondern nur durch ein bestimmtes Verhalten erlangen. Ehre wird einem erwiesen, durch die Gemeinschaft verliehen, etwa dadurch, dass man bereit ist Vorleistungen zu erbringen, zu investieren, Risiko zu tragen.
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„Der moralische Rationalist“ Die Berücksichtigung der Logik der Gabe stellt den homo oeconomicus in seiner ureigensten Form in Frage. Denn fernab der Rationalität, die Geschäftsbeziehungen innewohnt, werden diese von Menschen unterhalten, die soziale Formen der Begegnung als eine ihrer Grundvoraussetzungen für menschliches Handeln sehen: Erst wenn der „Ökonomie-Mensch“ seinem homo moralis-Anteil die Möglichkeit gibt, an den Entscheidungen maßgeblich beteiligt zu sein, ist die Zirkulation von symbolischen und materiellen Gütern dauerhaft und friedlich gesichert. Und letztlich wird nur so tatsächlich Kundenbindung erzeugt. Der moralische Geschäftspartner ist natürlich immer der Gefahr ausgesetzt, durch Asymmetrie seine eingesetzte Gabe unbeantwortet zu finden – was letztlich zur Folge haben kann, dass seine Investitionen keinen Gegenwert finden. Vertrauen muss im Voraus gegeben werden. Und dabei kann ein „moralischer Rationalist“ als Vertragspartner genau jenes beziehungsaufbauende Moment sein, das Nachhaltigkeit garantiert.
Heißt dass nun im Umkehrschluss, nur moralische Akteure erhalten Zutritt in die ökonomische Sphäre? Peter Nausner: Dem Grunde nach ja, womit aber keineswegs gesagt ist, dass sich alle ökonomischen Akteure so verhalten. Immerhin müssen wir in modernen Gesellschaften unsere „Geschäftsfähigkeit“ nachweisen, d.h. zu erkennen geben, dass man die Spielregeln kennt und bereit ist, durch die Abgabe so genannter „Verallgemeinerungsprofite“ – sprich Steuern – an der Produktion öffentlicher Güter mitzuwirken. Priddat spricht meines Erachtens zu recht von „moralischer Effizienz“, die unter anderem darin besteht, dass Moral den ökonomischen Akteuren das Hinterfragen klassischer ökonomischer Effizienzregeln ermöglicht, ohne dabei Gefahr zu laufen, die Identität als Mitspieler zu verlieren. Ich rede hier nicht einer bestimmten Moralvorstellung das Wort, sondern es geht mir um die allgemeine Rolle von Moral im ökonomischen Kontext. Moral hilft sozusagen dabei, die kapitalistische Logik zu transzendieren, welche ohne moralische Interventionen längst an ihren selbst erzeugten Paradoxien gescheitert wäre. Es entbehrt übrigens nicht einer gewissen Ironie, dass gerade die schottischen Entwickler der modernen Ökonomie als Moralphilosophen es geschafft haben, genau jenes Moment aus dem ökonomischen Diskurs nachhaltig ausblenden zu helfen, das letztlich Ausgangspunkt und Kernelement ihrer Lehre war und ist. Moral ist sozusagen eine Revisionsinstanz, sie produziert z.B. Fragen, ob bestimmte ökonomische Transaktionen und deren Auswirkungen auch sozial angemessen sind oder ob und wie sie zu regeln sind. Damit sind wir bei der Politik angelangt. Sie hat sich in der ökonomischen Sphäre zunehmend aus ihrer Rolle als „moral entrepreneur“, als Begründer und Entwickler moralischer Vorstellungen ökonomischen Handelns zurückgezogen und das Feld verstärkt den NGOs überlassen.
Was könnten die Gründe für diesen Rückzug sein? Peter Nausner: Das Marktmodell – d.h. das Bild, dass der Markt alles von selbst regelt und Gleichgewichte schafft, dass es zur Preisbildung kommt und dass Pareto-Optimalität herrscht – ist sehr trivial und erhebt mittlerweile den Anspruch auf die Stellung eines Naturgesetzes. Es inkludiert eine Sprache, die so gut wie jeder auf der Welt versteht. Angebot, Nachfrage, Preis – damit kommt man überall durch, auch wenn man sonst keine Ahnung von der Kultur, in der man sich bewegt, hat. Die Business-Sprache ist daher die optimale Sprache für eine immer globaler und komplexer werdende Welt.
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Was wäre eine moderne Sprache der Ökonomie? Peter Nausner: Es erscheint paradox, aber die passende Sprache der Ökonomie wäre eine politische. Eine, die über eine umfassende Begrifflichkeit in Bezug auf Institutionen und institutionelle Rahmenbedingungen verfügt. Natürlich gibt es eine solche Sprache, denn ohne sie gerät man in der Wirklichkeit in unüberbrückbare Widersprüche. Ein Beispiel dafür bieten die Liberalisierungstendenzen, die nach wie vor modern sind: Zur Liberalisierung gehört der Kampf gegen staatliche Versorgungsinstitutionen, speziell gegen die Produktion öffentlicher Güter im Allgemeinen. Sie sollen in ihrer Zahl reduziert werden oder überhaupt verschwinden – was dann zum paradoxen Aufbau von neuen Kontrollbehörden führt, wie etwa im Rahmen der Medien- oder Stromliberalisierung. Man löst eine Institution auf und schafft im gleichen Atemzug eine neue. Weil entgegen der neoliberalen Sprachregulierungen und gesellschaftlichen Visionen ein vernünftiges Leben ohne diese institutionellen Gefüge nicht möglich ist.
Peter Nausner, MA, wurde 1954 in Linz geboren und studierte Kulturwissenschaften (Master of Arts) an der Donauuniversität Krems. Von 1973 bis 1976 war er als Techniker im planenden Straßenbau (Zivilingenieurbüro in Graz), danach bis 1988 hauptberuflich beim ORF als Moderator, Autor, Gestalter, Redakteur und Regisseur (Hörfunk- und Fernsehdokumentationen, Features, Hörspiele etc.) tätig. Seit 1990 arbeitet Peter Nausner als selbständiger Unternehmensberater, Coach und Supervisor (Nausner&Nausner Consulting GmbH), war in dieser Zeit Mitbegründer und wissenschaftlicher Leiter (zusammen mit Frau Prof. Dr. Ursula Schneider) des Universitätslehrganges „Internationales Projektmanagement“ an der Karl-Franzens-Universität Graz, des weiteren Mitbegründer des Universitätslehrganges „Projektmanagement-Bau“ der Bauakademie Steiermark und Leiter des Bereiches „Management-Skills“, sowie Entwickler des MBA-Lehrganges „Project and Business Development“. Seit 1993 lehrt er an verschiedenen Hochschulen und Universitäten im In- und Ausland mit den Themenschwerpunkten „Projektentwicklung“ und „Projektmanagement“. Zudem ist er Gründer und geschäftsführender Gesellschafter einer Universitätsbuchhandlung in Graz und Verleger (www.nnv.at). Zu seinen letzten Publikationen gehören Medienmanagement als Entwicklungs- und Innovationsmanagement In: Grundlagen des Medienmanagements. Matthias Karmasin, Carsten Winter (Hg.), München: Fink, 2000, S. 115–147, und Projektmanagement – Die Entwicklung und Produktion des Neuen in Form von Projekten; Wien: WUV-UTB, 2006.
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Wichtig ist also festzuhalten, dass es zu einer Sprache mit ganz einfachen Codes bzw. Differenzierungen gekommen ist, die sich leicht internationalisieren lässt. Man kann sich gegen diesen mächtigen, hegemonialen Sprachcode und die damit verbundenen Ansprüche auf universelle Gültigkeit kaum mehr zur Wehr setzen. Es darf nicht verwundern, dass eine Ökonomie ohne Moral zusehends zum Schreckgespenst der modernen Gesellschaften wird, der man hilflos ausgeliefert scheint und die nach ihren eigenen Gesetzen verfährt. Was heute dementsprechend gebraucht wird, ist ein Gegenmodell zur Smith’schen Marktlogik und zur unsichtbaren Hand; konkret ein Modell, das dem „doppelten Boden“, d.h. dem symbolischen und materiellen Tausch als Einheit Rechnung trägt. Das wäre freilich ein Modell, in dem die Politik eine ganz wesentliche Rolle spielt – als Entwickler und Gestalter von ökonomischen Instituten und Institutionen, die auch das Soziale, das mit der Gabe verwoben ist, mitproduzieren. Der doppelte Boden der ökonomischen Moderne schwankt deshalb so bedrohlich, weil der moralische Diskurs im Rahmen der Ökonomie nachhaltig ausgeblendet bleibt. Die Politik hat das ökonomische Feld weitgehend aufgegeben und es den Wirtschaftsexperten überlassen. Ohne Wiedereinführung der Politik in die Ökonomie – als moralische Instanz – werden wir allerdings, wie Marcel Mauss so treffend formuliert hat, ökonomische Tiere bleiben.
Peter Nausner, wir bedanken uns für das Gespräch!
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Die Wurzeln von „Fair Trade“ oder die Genese gerechter (Aus-)Tauschbeziehungen zwischen den Menschen Versuch einer biologisch/theologisch/ entwicklungspsychologischen Darstellung Von Ross A. Lazar
I Adams Rippe Da versetzte Gott, der Herr, den Menschen in einen tiefen Schlaf, nahm eine seiner Rippen heraus und füllte die Stelle mit Fleisch. Aus der Rippe machte er eine Frau und brachte sie zu dem Menschen. (1. Mose, 21, 22, 23) So soll es angeblich angefangen haben! Ein fairer Tausch? Wurde Adam überhaupt gefragt, ob er bereit sei, eine seiner Rippen für eine Lebensgefährtin einzutauschen? Vermutlich nicht. Aber die Begründung dieses Tausches können wir, müssen wir wohl oder übel, Gott in seinen uns nicht zugänglichen Überlegungen überlassen. Beschäftigen wir uns lieber damit, wie‘s weiter ging.
II Spermien und Ei Da es unmöglich gewesen wäre, jedes neue Menschenkind „aus den Rippen zu ziehen“, wurde ein anderes geniales System entwickelt. So hat
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Adam – und alle seine männlichen Nachkommen – durch die „Spende“ von Samen an die Frau seinen Beitrag, seine „Investition“ in die Zukunft der menschlichen Rasse zu leisten. Die Frau wiederum muss als ihren Beitrag ein Ei pro Monat zum selben Zweck „spenden“. Und damit es sich für beide „lohnt“, als „Bonus“ für ihre „Spendenfreude“ sozusagen, wurde die Sache so eingerichtet, dass es ihnen sogar Spaß macht, ihnen gute, lustvolle Gefühle spendet und die Beiden damit aneinander „bindet“. Mit dieser Bindung wurde gleichzeitig eine Art „Leistungsgarantie“ für die notwendige Versorgung des „Produktes“ dieser Investition, sprich des daraus resultierenden Kindes, eingerichtet. Allerdings ist die Sache damit nicht erledigt, sondern die „Folgekosten“ für diesen kurzen körperlichen Austausch, für diese augenblickliche Lustbefriedigung sind noch auf lange Sicht zu „leisten“.
III Plazenta, Nabelschnur & Fötus Nachdem Vater und Mutter ihren „Spaß an der Arbeit“ des Zeugens gehabt haben, müssen die diversen Körperteile und Teilfunktionen von Vaters Sperma und Mutters Vagina, Eileiter und Gebärmutter die Arbeit übernehmen. Sperma muss Ei befruchten; Zellen müssen sich teilen; die Blastozyste (griech. Sprössling, Keim) muss sich erfolgreich in den Uterus einnisten und Plazenta und Nabelschnur müssen gebildet werden, damit sie dann die Hauptarbeit des Austausches zwischen Mutter und Fötus übernehmen können. Spätestens ab diesem Zeitpunkt in der Entwicklungsgeschichte haben wir es mit einer neuen, noch nie dagewesenen menschlichen Austauschbeziehung zu tun, die von Gegenseitigkeit, d.h. von gegenseitiger Bedingtheit und Abhängigkeit, geprägt ist, auch wenn diese zunächst einmal extrem ungleich verteilt ist. Denn der heranwachsende Fötus braucht die Mutter als „Wirtin“ unbedingt. Die Mutter braucht das Baby zum Überleben zwar nicht, aber um Mutter zu werden, eben schon!
IV Gemeinsame Verantwortung bei unterschiedlichen Rollen Das Ergebnis dieses Austausches besteht also darin, dass Mann und Frau, die sexuell miteinander zu verkehren pflegen, damit zu rechnen haben, dass ein – zunächst einmal total abhängiges – Kind daraus resultieren kann, und dass beide für dieses neue Lebewesen Verantwortung tragen. Allerdings weist die Natur Vater und Mutter recht unterschiedliche Rollen zu. Vater übernimmt, während der Schwangerschaft zumindest, eine unterstützende, versorgende Rolle, Mutters Körper und Psyche tragen die Hauptlast beim Austragen des Babys.
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Das Baby, das bis zu neun Monate im Mutterleib verbringt und dementsprechend von Mutter 24 Stunden am Tag herumgetragen und versorgt wird, ist rund um die Uhr von Mutters Herzens, Mutters Körperfunktionen, die es hört und spürt, umgeben. Für seine Nahrung, für Sauerstoff, Wärme, Feuchtigkeit und für die Beseitigung seiner Abfallprodukte ist der Fötus zu 100% auf die Mutter angewiesen. Das heißt, das heranwachsende Baby hat keine Wahl, als seine existentielle Abhängigkeit von der Mutter zu erleben. Die Mutter wiederum, obwohl ihre leibliche Existenz nicht im gleichen Maße vom Leben des Kindes abhängt, wird ebenso existentiell gezwungen zu spüren, welch ungeheure Verantwortung sie als werdende Mutter für das neue Leben in ihr zu tragen hat. Die Tatsache, dass das Baby für sein körperliches Überleben völlig auf Mutters Körper angewiesen ist, ist das eine. Ebenso wichtig, wie wir inzwischen genau wissen1, ist seine psychisch/mentale/emotionale Versorgung, und das bereits in utero. Denn ohne psychische Besetzung, ohne das Baby “in mind ” 2 zu haben, ist es um seine Entwicklung zum reifen Menschen denkbar schlecht bestellt. Mensch-Sein ist von Anfang an an ein komplexes Gefüge von Austauschbeziehungen gebunden. Schon der Fötus steht mit seiner Mutter in einer Beziehung der gegenseitigen Bedingtheit, die sich mit der Geburt des Kindes speziell für dasselbe zu einer physischen wie psychischen Abhängigkeit hohen Grades steigert. Die Komplexität dieses spezifischen Mutter-Kind-Austausches bringt auch die wirtschaftliche Tauschbeziehung ins Spiel; und zwar dahingehend, dass Rollen und Arbeitsteilungen entstehen, konkret zwischen Vater und Mutter, wobei der Mutter die Aufgabe des Gebärens und dem Vater die Aufgabe der Versorgung von Mutter und Kind zukommt. Mit der Geburt passiert in Sachen Austausch bzw. Tausch aber noch etwas: Es entscheidet sich nun, ob aus dem kleinen Menschen eines Tages ein “Fair-Trader” wird – oder ob doch das „Unfair“ sein Leben bestimmt. Denn ob Großzügigkeit, Sattheit oder Glück seine spätere Existenz kennzeichnen, hängt wesentlich damit zusammen, wie der erste Austausch zwischen Mutter und Kind auf der Ebene des Stillens aussieht: Wie nicht nur die psychoanalytische Theorie behauptet, sondern wie auch die Säuglingsforschung bestätigt hat, sind es gerade jene Menschen, die zu rücksichtslosen Egomanen – zu ökonomischen Heuschrecken – werden, deren Welt in „gute“ und „böse“ Objekte gespalten bleibt; die also auf einer ganz frühen Entwicklungsstufe verharren. Wo Menschen hingegen lernen, dass der Andere stets gut und böse zugleich ist, dort entsteht auch die Fähigkeit, sich ganz auf den anderen in all seinen Facetten einzulassen. Was die Basis für faire (Geschäfts-) Beziehungen darstellt. Somit beginnt unsere Existenz als Menschenkinder in einem Zustand der extremen Abhängigkeit von Mutters Körper und Mutters Psyche. Woher soll sie die Ressourcen haben, um diese extreme Abhängigkeit zu verkraften? Von ihrer Umgebung, ihrer Familie, ihrem Stamm, ihrer Sippe; in unseren „westlichen“ Gesellschaften konzentriert sich diese Aufgabe auf den Kindsvater 3.
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V Brot gegen Arbeit Seit dem ‚Rausschmiss’ aus dem Garten Eden bleibt dem Vater als Hauptaufgabe, „im Schweiße seines Angesichts“ 4 Mutter und Baby zu ernähren und Schutz und Sicherheit für sie zu gewährleisten. Mit anderen Worten wird er dazu verpflichtet, seine gesamte Energie, sein Können, sein Wissen und seinen Fleiß in den Dienst des Überlebens seiner Familie, seines Stammes und damit des menschlichen Geschlechtes zu stellen. So begann die erste, grundlegende wirtschaftliche Beziehung überhaupt, die unser aller Leben bis heute prägt: Brot gegen Arbeit, die einzige Möglichkeit außerhalb des Paradieses (und nicht als Almosenempfänger, d.h. durch die Arbeit anderer) zu überleben.
VI „…unter Mühen sollst Du Kinder gebären“ Entsprechend dem „Fluch“ über den Mann, sich nun immerfort durch Arbeit ernähren zu müssen, wird die Frau dazu verdonnert, ihre Nachkommen unter Schmerzen zu gebären. Im Englischen wird der Prozess des Gebärens deshalb “labour”, sprich „Arbeit“ genannt. Und nun – aus dem Paradies für immer und ewig verbannt und zum Arbeiten und Leiden verpflichtet – zieht der Mensch in die Welt hinaus, pflanzt sich fort und muss „die Erde, aus der er stammt, bebauen“. (1. Mose 3;19)
VII Ein „Land von Milch und Honig“ Aber gar so schlimm kam es dann doch nicht, denn selbst außerhalb des Paradieses war das, wie es sich – allerdings etwas später – herausstellen sollte, „Land von Milch und Honig“ (2. Mose/Exodus 3:8). Denn durch das „Wissen“, das er vom Baum der Erkenntnis mitgenommen hat, war der um seine Existenz kämpfende Mensch bald in der Lage, sogar ein Mehr an (Über-)Lebensmitteln anzuhäufen, als er selber brauchte. Und so fand der Mensch beste Voraussetzungen, um mit den ihm überlassenen und reichlich vorhandenen Ressourcen einen Überfluss schaffen zu können, mit dem er dann handeln konnte. Aber darauf müssen wir später zurückkommen, denn zuvor müssen wir wieder zu unserem neuen Menschenkind zurück, seine psychosoziale Entwicklung verfolgen, d.h. ob und wie aus ihm ein handlungsfähiger Partner, ein “Fair Trader” werden kann.
VIII ’Raus aus dem Bauch, ran an die Brust! Oder: die Brust/MundBeziehung als die eigentliche Quelle von “Business Ethics” Kaum von den Mühen und Schmerzen der Geburt erholt und von den Gefühlsstürmen der Überlebensangst befreit, kehrt – wenn alles gut
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geht – eine besondere Art von Ruhe und Freude ein. Denn es gibt wohl kein anderes Gefühl im Leben eines Menschen, das so viel Erfüllung, soviel Glück mit sich bringt als die Gewissheit, einen gesunden, wohlbehaltenen Säugling zur Welt gebracht zu haben und an der eigenen Brust nähren zu können. Aber jetzt wird es richtig spannend, denn just an dieser Brust wird unser junger Weltbürger seine erste Schulung, seine ersten und grundlegenden Lernerfahrungen machen, die letztendlich entscheiden werden, inwiefern er ein “Fair Trader” bzw. “Unfair Trader” werden wird. Denn die Qualität dieser ersten Erfahrungen des „Austausches“ zwischen Mutter und Baby, konkret gesagt zwischen Brustwarze und Mund, wird entscheiden, ob aus unserem Säugling ein satter, glücklicher, zufriedener und deshalb dankbarer und großzügiger Mensch werden wird – oder ob er frustriert, unglücklich, hungrig, neidisch, geizig und womöglich auch eifersüchtig wird. Wenn alles gut klappt, werden sowohl die Mutter als Spenderin wie auch Baby als Empfänger in ihren physiologischen wie auch psychischen Bedürfnissen befriedigt. Baby braucht Nahrung und Flüssigkeit, Wärme, Nähe und Berührung, während Mutter wiederum die Erleichterung ihrer vollen Brust und die Möglichkeit, ihre primären mütterlichen Instinkte auszuleben braucht. Theoretischer Hintergrund Das Wissen über die Entwicklung des Menschen sowohl im Mutterleib wie auch nach der Geburt ist seit Freuds Zeiten enorm gewachsen. Durch Methoden wie die direkte teilnehmende Beobachtung von Säuglingen (Tavistock-Bick-Methode, siehe Lazar, 1986, 1991), durch Ultraschalluntersuchungen während der Schwangerschaft (Piontelli, 1996) und den immer größer werdenden Bereich der Säuglingsforschung (siehe z.B. Stern, 1985) entdecken wir, wie diese unglaublich komplexen, subtilen Prozesse vonstatten gehen, was sie erfolgreich werden lässt und was nicht. Ebenso bemüht sich die moderne psychoanalytische Theoriebildung um weitere Präzisierung, Revisionen und, wenn nötig, um Paradigmenwechsel (Kuhn, 1962), was unser Bild des sich entwickelnden Säuglings immer weiter verfeinert und vervollständigt. Mit Hilfe einer dieser Theorien, Melanie Kleins Theorie der paranoidschizoiden und depressiven Positionen 5 (Klein, 1935, 1946) sowie deren Modifizierung durch den englischen Psychoanalytiker Wilfred R. Bion, (Bion, 1990) möchte ich nun diesen wesentlichen Entwicklungsschritt, nämlich die Entstehung von Moral und Ethik in der Persönlichkeit des Menschen, darstellen. Wie ich unten (siehe Fußnote 5) ausgeführt habe, geht es hier um eine Charakterisierung der beiden grundsätzlichen Angstformen, denen der Mensch ausgeliefert ist, deren Anfänge in der frühen Kindheit zu finden sind.
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Von der Angst um das eigenen Überleben zur Angst um das Überleben des Anderen Vereinfacht gesagt ist – laut Melanie Klein – die primäre Form der Angst, die bereits das Neugeborene erlebt, die Angst um das Wohlergehen, ja das Überleben des eigenen Körpers, des eigenen Selbstes. Bedroht durch die neue, unkontrollierbare und fremdartige Umwelt außerhalb des Mutterleibes und konfrontiert mit seiner Hilflosigkeit und Abhängigkeit, versucht das Baby so gut es geht, alles, was ihm Unbehagen, Unlust oder gar „Todesangst“ (im Sinne von Überlebensangst) bereitet, „los“ zu werden durch die psychischen Mechanismen der Spaltung und der Projektion. Gleichzeitig versucht es, sich alles, was „gut“ tut, was ihm Wohlergehen und lustvolle Gefühle spendet, an sich heranzuholen. Bedingt durch seine Hilflosigkeit und beschränkte Wahrnehmungsfähigkeit, nimmt das Baby die Mutter und die Umwelt zunächst nur partiell wahr. Das heißt Objekte und Beziehungen werden nur „teilhaft“ wahrgenommen, Zusammenhänge können noch nicht erkannt werden. So nimmt das Baby die „gute“ nahrhafte und versorgende Brust und die „böse“ oder „schlechte“ (frustrierende, nicht anwesende) Brust zunächst als getrennte, nicht zu einer Person gehörende wahr. Diese sog. „TeilObjekt-Beziehungen“ lassen die Welt nur als „gut“ oder „schlecht“ erscheinen, Zusammenhänge, Interdependenzen und Konsequenzen für den Anderen können noch nicht erkannt werden. Vom hilflosen Baby zur „Heuschrecke“: der Paranoid-Schizoide als Handelnder Dieses relativ hilflose Baby ist bestrebt, jegliche Art von Frustration, (Hunger, Müdigkeit, Langeweile usw.) und die dadurch entstandenen „Unlustgefühle“ unbedingt los zu werden und an deren Stelle unbedingt bessere, lustvollere zu bekommen. Wenn der Mensch allerdings auf dieser Entwicklungsstufe stecken bleibt (was sehr oft der Fall ist) und dieses völlig egoistische Prinzip sein späteres Verhalten als wirtschaftlich Handelnder prägt, wird er immer vor allem auf den eigenen Vorteil bedacht sein, ohne Rücksicht auf den Anderen. D.h. er wird gar nicht in der Lage sein, das Schicksal und die Auswirkung seines eigenen Verhaltens auf den Anderen zu reflektieren. Oder aber, selbst wenn er darüber nachdenken kann, ist es ihm entweder egal oder es wird zum (u.U. sadistischen) Triumph, wenn es ihm im Gegensatz zum anderen gut geht. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass aus einer solchen Haltung unser wirtschaftlich handelnder Mensch einzig und allein auf den eigenen Gewinn, die eigenen Vorteile bedacht sein wird und entsprechend handeln wird. Mit anderen Worten, hier entsteht die nächste „Heuschrecke“. Diese Lernerfahrungen und die Muster, die in der frühesten Lebensphase durch diese ersten Beziehungen gemacht werden, prägen das ganze Leben, die ganze weitere psychosoziale Entwicklung. D.h.: Diese
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erste Phase an Mutters Brust (oder deren Ersatz) bestimmt letztlich, ob man Altruist oder „Heuschrecke“ wird. Diese ersten Erfahrungen bilden das Fundament der Persönlichkeit, und der Verlauf dieser Phase wird darüber entscheiden, ob eine Person die notwendigen Kapazitäten entwickeln kann, die ihn zu einem fairen und ehrlichen Handlungspartner werden lassen oder nicht. Denn es bedarf der weiteren Entwicklung hin zu einer „Position der Besorgnis“ (um Winnicotts schönen Ausdruck zu verwenden), die sowohl seine eigenen wie auch die Interessen seines Verhandlungspartners im Auge behalten kann. Vom geliebten, gut versorgten Baby über die „Triangulierung“ zum “Fair Trader”, oder auch nicht? Wie verläuft hingegen die psycho-soziale Entwicklung zu einer solchen inneren „Position der Besorgnis“, zum moralisch-ethischen anständigen Menschen hin? Entscheidend für diese Weiterentwicklung ist die Fähigkeit (neurologisch bedingt erst ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres möglich), sogenannte „ganze Objekte“ wahrzunehmen und anzuerkennen. Die Erkenntnis, dass die „gute“ Brust die gute, versorgende, Liebe und Geborgenheit spendende Mutter und die „böse“ oder „schlechte“ frustrierende, nicht anwesende Mutter ein und dieselbe ist. Je genauer, je deutlicher und gefestigter sich diese Erkenntnis in der Wahrnehmung und Haltung des Menschen etablieren kann, desto besser ist er in der Lage, auf die Interessen, Nöte und Wünsche des Anderen einzugehen und Rücksicht zu nehmen. Sobald diese entwicklungsbedingten Voraussetzungen gegeben sind, ist der Mensch nicht mehr auf ein dyadisches, nur auf das eigene Wohlergehen bedachtes Verhalten angewiesen, sondern ist nun in der Lage zu „triangulieren“. Das heißt, erst dann ist er in der Lage, als Partner mit einem anderen Partner so zu (ver)handeln, dass die Interessen Beider wahrgenommen und berücksichtigt werden können im Dienste eines „Dritten“, eine von der Dyade Versorger/Versorgten getrennte unabhängige Aktivität. Erst dann sind wir in der Lage, uns um das Gedeihen der nachkommenden Generationen zu kümmern, um die Felder, die uns ernähren, die Wirtschaft, die uns die notwendigen Güter liefert, bis hin zum Überleben und Florieren der Völker und der Gesellschaft insgesamt. Wenn zunächst an Mutters Brust – oder deren ausreichend guten Ersatz (D. W. Winnicott’s “good enough mothering”, Winnicott, 1953) – nicht nur ausreichend Milch, Nähe und Wärme „fließen“, sondern regelmäßig Liebe und Geborgenheit erfahren werden, das Gefühl, in Sicherheit gehalten, geliebt und akzeptiert zu werden, geschieht etwas geradezu Wunderbares. Dann transformiert sich die Innenwelt – und damit automatisch die Wahrnehmung der Außenwelt – des Säuglings von einer feindlichen Umwelt, in der er um das Überleben kämpfen muss, in eine viel friedlichere, in der er sich selbst und den Anderen „leben und leben lassen“ kann. Infolge jener guten Erfahrungen über längere Zeit verändert sich
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die Qualität aller Beziehungen – nach innen wie nach außen – zu einer wohlwollenden, von Liebe und Dankbarkeit geprägten, auf den Anderen und sein Wohlergehen bedachten Bezogenheit hin. Diese Haltung kann selbstverständlich nicht immer vorherrschen, denn man ist im Leben immer wieder aufgefordert, sich für seine Eigeninteressen einzusetzen, gar zu kämpfen, vor allem dann, wenn das Gegenüber eben nicht nach den Gesetzen der „Position der Besorgnis“ agiert. Entwicklungsdynamisch gesehen bleiben aber die einmal erlebten und „durchgearbeiteten“ guten Erfahrungen etablierter Bestandteil der Persönlichkeit. (Ausnahmen: z.B. die Folgen von extremer Traumatisierung; Krieg, Folter oder extreme materielle bzw. psychische Deprivation). Das heißt, wenn man dieses Stadium der psychosozialen Entwicklung erreicht hat, hat man zuerst einmal die Möglichkeit, zum Wohlergehen Aller zu handeln. Erreicht man dieses Stadium nicht oder nur partiell, dann erlebt man alle Widrigkeiten des Lebens als gegen sich selbst gerichtet und meint, dauernd darum kämpfen zu müssen, auf jeden Fall zu den Gewinnern und bloß nicht zu den Verlierern zu gehören. Die Folgen für das wirtschaftliche Handeln liegen auf der Hand und sind in der heute ungezügelten Globalisierung an Umwelt und Gemeinwesen überall festzustellen. Aber das oben vorgestellte psychoanalytische Modell ist ein Modell der Entwicklung des Einzelnen, der individuellen menschlichen Persönlichkeit. Wie kommt man von der Entwicklung einer solchen „Geschäftsethik des Einzelnen“ zu einer, die gruppenübergreifend in einer Firma, einem Wirtschaftszweig, einer Gesellschaft, Nation oder Wirtschaftsmacht die Position der Besorgnis ermöglicht bzw. fördert? Ein kurzes Beispiel aus meiner organisationsberaterischen Praxis mag illustrieren, wie dies in der ökonomischen Wirklichkeit von heute realisiert werden kann. Gegenseitigen Respekt als Wettbewerbsvorteil nützen! Eine große Zulieferfirma von Autokomponenten sieht sich von der “cut throat competition”, dem mörderischen Wettbewerbsdruck, der weltweit in dieser Branche herrscht, existentiell bedroht. Was tun? Der Vorstand berät in Klausur, analysiert, rechnet, spekuliert, fantasiert und kommt nach eingehender Beratung, u.a. auch mit mir, zu dem Schluss, dass er diesen Kampf niemals gewinnen kann, wenn er mit den selben Mitteln (unrealistische Preisreduktionen, Qualitätsminderung, bis hin zu fast illegalen Absprachen, Schmiergeldzahlungen usw.) zu konkurrieren versucht. Der Firmenchef beschloss, das Gegenteil zu versuchen. Er entwickelte einen Plan, wobei die gesamte Firma, die selbstverständlich auch von dem bisher üblichen Kampfgeist des Marktes geprägt war, eine neue, „benignere“ Haltung an den Tag legen würde, und zwar nach innen wie nach außen. Anstatt nur auf den eigenen Vorteil zu pochen und mehr oder weniger geschickt den Konkurrenten über den Tisch zu ziehen,
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würde jedes Gegenüber als „Partner“ deklariert, mit dem es gilt, wo immer möglich die gegenseitige Leistungsfähigkeit und die gegenseitigen Vorteile in den Vordergrund zu stellen. Mit dieser „Fair Trade-Taktik“, meinte der Chef, habe die Firma eine Art „Geheimwaffe“, die die anderen, rücksichtsloseren Firmen nicht hätten. Mit dieser inneren Haltung, meint er, würde seine Firma mittel- bis langfristig eher reüssieren als die Konkurrenz, die nur darauf aus sei, den Markt alleine beherrschen zu können. Nun, das Experiment läuft noch. Es wird noch dauern, bis man sieht, ob er mit dieser „humaneren“ Strategie Recht behält.
Ross A. Lazar, B.A., M.A.T., ist psychoanalytischer Psychotherapeut für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Familien sowie Supervisor und Organisationsberater. Er wurde 1945 in New Jersey, USA, geboren und studierte Kunstgeschichte an der University of Michigan in Ann Arbor, Michigan, und an der LudwigMaximilians-Universität, München. Danach folgte ein Studium der Früh- und Sonderpädagogik an der Harvard University, Graduate School of Education im Cambridge, Massachusetts, sowie eine klinische Ausbildung zum analytischen Psychotherapeuten an der Tavistock Clinic/Tavistock Institute of Human Relations – School of Family Psychiatry am Community Mental Health in London, wo er gleichzeitig auch intensiv am Tavistock Group Relations Training Programm teilnahm. Seit 1978 lebt er in München und ist u.a. Initiator und Mitbegründer von MundO, dem Arbeitskreis zur Förderung des Lernens von Menschen und Organisationen, und des BionForum (dem Wilfred R. Bion Forum zur Förderung der Psychoanalyse) gewesen.
IX „…denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“ (1 Mose 8, 21) Obwohl Gott die von ihm geschaffene Menschheit wegen ihrer „Bosheit im Herzen“ verurteilte, entschied er, die Menschheit durch seine gute Erfahrung mit wenigstens einem guten Menschen, Noah, weiter auf der Erde leben zu lassen und nicht auszurotten. Dabei betonte er die Ordnung der Natur 6 „solange die Erde besteht“. Aber was heißt das heutzutage: ‚solange die Erde besteht‘? Das gilt, für die menschliche Rasse zumindest, nur solange dieser gierige, süchtige „böse“ Mensch sie nicht selber ein für allemal unwiederbringlich ruiniert! Denn sind wir Erdbewohner nicht gerade alle dabei, „Aussaat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter“ so nachhaltig zu zer-stören, dass selbst Gott alle Hände voll zu tun hat, dieses Versprechen einzuhalten? Viele unserer Politiker und Wirtschaftsbosse versuchen uns glaubhaft zu machen, dass wir nicht anders handeln können, aber ist die Sache nicht
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gerade anders herum? Stellt sich nicht eher die Frage: Wie lange können wir es uns überhaupt noch leisten, weiter zu wirtschaften wie gehabt? Viele Experten meinen, es ist bereits zu spät, es ist eher fünf nach und nicht fünf vor zwölf. Das will natürlich keiner hören, keiner glauben. Was daran wahr ist, wissen wir letztlich nicht, können wir nicht wissen. Aber die Voraussetzungen für ausreichende Überlebenschancen aller Erdenbewohner sind hinlänglich bekannt. Nur wie man es zustande bringt, dass eine ausreichende Zahl von uns das nicht nur einsieht, sondern auch praktiziert, dafür hat bisher leider noch niemand eine Lösung gefunden. Der Kommunismus war dafür zu rigide, zu korrupt; die soziale Marktwirtschaft zu teuer, und der so genannte „freie Markt“ nicht wirklich frei, sondern ein Kampfeld, auf dem momentan nur die Stärkeren gewinnen können. Aber zurück ins Paradies können wir nicht. Und wie Gott Adam nicht gefragt hat, ob er seine Rippe für eine Partnerin tauschen wollte, werden wir auch nicht gefragt, ob wir miteinander in einer für alle Beteiligten gedeihlichen Partnerschaftlichkeit zusammenleben wollen, uns mit Fairness, Respekt und Anstand austauschen wollen. Sicher ist nur: Wenn wir es nicht genügend wollen, nicht genügend können, nicht genügend tun, werden wir uns alle miteinander sehr ge-täuscht haben, unseren „Schöpfer“ wieder schwer ent-täuscht haben, und der Tausch untereinander wird insgesamt immer weniger zum Vorteil aller, sondern zum Krieg Aller gegen Alle geraten.
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Anmerkungen 1
Als nur ein Beispiel für die experimentell bewiesene Notwendigkeit von psychischer Präsenz und emotionaler Aufmerksamkeit für das Gedeihen des Menschen seien hier die berühmten Studien von René Spitz aus den 1940er Jahren über Hospitalismus bei Kindern angemerkt.
2
Die englische Bezeichnung „to keep something in mind“ hat im Deutschen keine rechte Äquivalenz, bedeutet aber in etwa ‚etwas im Sinn zu haben, zu behalten‘. Interessanterweise allerdings liegt u.a. die Wurzel des englischen Worts „mind“ wiederum im Goth. „muns, munan und im Germanischen „minne“.
3
Es ist eine spannende und ungeklärte Frage, inwiefern diese Vorstellung von der unbewussten Rolle des Vaters für das Gedeihen des ungeborenen Lebens in anderen Kulturkreisen überhaupt gültig ist. Dieser Frage nachzugehen würde leider den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
4
„Dein Leben lang wirst du hart arbeiten müssen, damit du dich von seinem Ertrag ernähren kannst. Viel Mühe und Schweiß wird es dich kosten“ (1 Mose/Genesis 3, 17–18, S. 5).
5
Da die Erkenntnisgewinne der Psychoanalyse sich vornehmlich aus der Untersuchung von der Psychopathologie des Menschen speisen, werden ihre Forschungsergebnisse oft mit Namen versehen, die an jene psychischer Krankheiten erinnern. Nichtsdestotrotz haben die hier beschriebenen Phänomene eminente Relevanz für die normale psycho-soziale Entwicklung der Person. Übersetzt in etwas alltäglichere Sprache bezeichnet „paranoid-schizoid“, jene verfolgenden (paranoiden) Ängste und psychischen Zustände, die durch den Abwehrmechanismus der „Spaltung, der Abspaltung“ (schizoid = gespalten) Gedanken und Gefühle auseinander zu halten versucht, die eigentlich zusammen gehören, und zwar um die „Unlust“, die sie in der Psyche produzieren, sozusagen „los“ zu werden. Die „depressive“ Position wiederum hat nur indirekt mit depressiven Erkrankungen zu tun, sondern beschreibt vielmehr den psychischen Zustand oder Modus der primär von der Angst um das Wohlergehen des Anderen charakterisiert ist. Eine zutreffendere, wenn auch leider nicht populär gewordene Bezeichnung hat der englischer Pädiater und Psychoanalytiker Donald Winnicott vorgeschlagen mit “the position of concern”, die „Position von Besorgnis“.
6
„Solange die Erde besteht, folgen in stetem Wechsel Aussaat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ (1 Mose 8, 21).
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Bibliografie Die Bibel, Stuttgart: Württembergische Bibelanstalt, 1970. Die Bibel in heutigem Deutsch. Die Gute Nachricht des Alten und Neuen Testaments, Stuttgart: Deutsche Bibel Gesellschaft, 1982. Bion Wilfred R., Lernen durch Erfahrung, Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, 1990. Spitz René A., Hospitalism: An inquiry into the genesis of psychiatric conditions in early childhood, Psychoanalytic Study of the Child, 1, (1945), S. 53–74. Klein Melanie, Zur Psychogenese der manisch-depressiven Zustände, (1935), in: Thorner, Hans A. (Hg.) Das Seelenleben des Kleinkindes, Stuttgart: Klett-Cotta Verlag, 1983. Klein Melanie, Bemerkungen über einige schizoide Mechanismen, (1946), in: Thorner Hans A. (Hg.) Das Seelenleben des Kleinkindes, Stuttgart: Klett-Cotta Verlag, 1983. Kuhn Thomas S., The Structure of Scientific Revolutions, Chicago: University of Chicago Press, 1962.
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Globalisierung 1200 –1300 Die Organisation des Londoner Marktes hat die Auflösung des traditionellen Marktes zur Folge, jenes öffentlich abgehaltenen, überschaubaren open market (streng überwachter öffentlicher Markt), auf dem der Erzeuger als Verkäufer und der städtische Verbraucher als Nachfrager unmittelbar in Beziehung zueinander treten. Der Abstand zwischen „Produzenten“ und „Konsumenten“ wird so groß, dass die kleinen Leute ihn nicht mehr überbrücken können. Und so ist seit dem 13. Jahrhundert der Kaufmann als Dritter im Bunde der Vermittler zwischen Stadt und Land. Die Kette der Mittelspersonen wurde immer größer.
Um 1250 gibt es in Frankreich schon weit engere Netze, als man sie beispielsweise 200 Jahre später findet. Alle Wirtschaftsverbindungen sind gelockert, die Wirtschaftsträger bleiben sich selbst überlassen und nutzten diesen Zustand jedoch auch zu ihren Gunsten aus. Es genügen Messen und Märkte, um den Güteraustausch anzukurbeln. Durch Preissteigerungen bei Gewerbeprodukten und Preissenkungen von landwirtschaftlichen Erzeugnissen gewinnen die Städte immer mehr die Überhand.
Der Handel Venedigs spielt eine wichtige Rolle für die Einfuhr hochwertiger Gewürze und Seiden nach Europa, trägt aber ebenso zum Technologietransfer aus Asien, Ägypten und Byzanz bei, z.B. bei der Herstellung von Seiden- und Baumwolltextilien, in der Glasbläserei, beim Reisanbau in Italien, sowie bei Anbau und Verarbeitung von Zuckerrohr in den venezianischen Kolonien Kreta und Zypern.
Der venezianische Staat spielt auch als größter Schiffbauer eine führende Rolle im Handel.
Zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert kommt es zu bedeutenden Veränderungen im Schiffsbau und bei den Navigationstechniken.
Im Jahr 1291 fügen die Genueser einer marokkanischen Flotte, die die Meerenge von Gibraltar kontrolliert, eine Niederlage zu und öffnen dem europäischen Handel den Zufahrtsweg vom Mittelmeer zum Atlantik. Von diesem Zeitpunkt an benutzen die venezianischen Galeeren diese Route für den Handel mit London und Brügge.
Der Rohseide- und Seidenwarenhandel mit Asien führt in Europa letztlich zu einer Importsubstitution. Die Seidenherstellung hat sich bereits von China nach Indien und Syrien ausgebreitet, und gelangt im 12. Jahrhundert nach Italien – zunächst nach Lucca, dann nach Venedig, Florenz, Genua, Mailand und Bologna; und später auch nach Lyon in Frankreich. In der arabischen Welt kam die Seidenherstellung von Syrien nach Spanien. Die venezianische Seidenherstellung ist bereits für das 13. Jahrhundert belegt.
Montierte Quellen: Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Der Handel. Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Aufbruch zur Weltwirtschaft. Angus Maddison, Die Weltwirtschaft: Eine Milleniumsperspektive. Jürgen Osterhammel, Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Wikipedia, Globalisierung (Stand: 15.8.2007). Montiert von Michaela Ritter
Kapital. Kunst. Gerechtigkeit Von Boris Groys
Die allgemeine Bestimmung der Gerechtigkeit, mit der auch unser heutiger Diskurs über die Gerechtigkeit operiert, hat sich schon seit den alten Griechen, vor allem aber seit Aristoteles in unserer Kultur etabliert. Gerecht ist, Gleiches mit Gleichem und Ungleiches mit Ungleichem zu vergelten. Ausgehend von dieser Definition der Gerechtigkeit ist es relativ leicht, den linken und rechten Diskurs über die Gerechtigkeit im Kapitalismus zu formulieren und zu positionieren. Der linke Diskurs tendiert dazu, alle Menschen, vielleicht aber auch Menschen und Tiere oder sogar Menschen und Dinge gleichzusetzen. Die linke Kritik am Kapitalismus verweist also vornehmlich darauf, dass der Kapitalismus dort neue Ungleichheiten produziert bzw. alte historische Ungleichheiten immer weiter reproduziert, wo eigentlich Gleichheit herrschen sollte. Die linke Kritik am Kapitalismus bemängelt bei ihm also, dass er das Gleiche ungleich behandelt. Darüber hinaus ist uns aber auch eine rechte Kritik am Kapitalismus bekannt, die darauf insistiert, dass der Kapitalismus vielmehr das Ungleiche gleich behandelt. Und in der Tat: Der Kapitalismus wird immer wieder der globalen Gleichmacherei, der Standardisierung, der Uniformierung bezichtigt – der Ignorierung oder sogar der Einebnung aller kulturellen Differenzen inklusive der Wertdifferenzen. Diese rechte Kritik am Kapitalismus im Namen der Differenz wird übrigens oft kombiniert mit der schon erwähnten linken Kritik im Namen der Gleichheit. Im Ergebnis werden wir mit einer großen Vielfalt an kritischen Diskursen konfrontiert, die alle dem Kapitalismus einen Mangel an Gerechtigkeit vorwerfen – wenn auch oft aus entgegengesetzten Gründen. So ist, wenn man über das Thema Kapitalismus und Gerechtigkeit spricht, die Versuchung groß, eine eigene Position innerhalb dieser diskursiven Vielfalt finden zu wollen, sich selbst im Feld der kritischen Theorie zu situieren. Ich möchte aber dieser Versuchung zunächst einmal widerstehen – und stattdessen vielmehr fragen, in welchem Verhältnis zum Kapitalismus sich die Sprache als solche befindet, in der wir versuchen, das Gleiche und das Ungleiche auf unterschiedliche Weise zu definieren. Denn die Antwort auf diese Frage gibt vielleicht Auskunft darüber, warum wir alle – ich werde dieses „wir“ im Weiteren genauer definieren – warum wir alle, ob links oder rechts, das gleiche Gefühl haben, dass der Kapitalismus als solcher ungerecht ist. Ich betone: Der Kapitalismus als solcher – und nicht nur diese oder jene seiner Aktionen, Manifestationen oder Folgen.
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Dem Kapitalismus wird von links wie rechts ein Mangel an Gerechtigkeit vorgeworfen. Wobei es der linken Kritik um die Ungleichheit geht, die vom aktuellen Wirtschaftssystem dort produziert wird, wo eigentlich Gleichheit das Thema sein sollte; der rechten Kritik hingegen geht es um die Gleichheit oder besser: um die (kulturelle) Gleichmacherei, die durch den Kapitalismus (angeblich) permanent droht. Nichts wäre naheliegender, als sich in diesen Diskurs einzumischen und in seinem Spannungsfeld eine eigene Position zu finden. Allerdings erscheint es klüger, stattdessen das Verhältnis von Kapitalismus und Sprache genauer zu analysieren; konkret das Verhältnis des Kapitalismus zu einer Diskurse ermöglichenden Sprache, die erst die Formulierung von Definitionen des Gleichen wie Ungleichen erlaubt. Denn es ist für den Kapitalismus kennzeichnend, dass er sich des Diskurses, der Sprache, gleichsam entledigt hat: In ihm werden Gleichheit/Ungleichheit nicht diskursiv bestimmt, sondern durch den wirtschaftlichen Erfolg. Ja, mehr noch: Es ist gewissermaßen zu einem Medienwechsel gekommen, in dessen Verlauf das Medium Geld dem Medium Sprache den Rang abgelaufen hat. Geld entscheidet über gleich/ungleich, was auch der Hintergrund für die tiefe Unzufriedenheit mit dem kapitalistischen System ist. Und auch als Ungerechtigkeit empfunden wird. Diese Ent-Diskursivierung ist in der Tat eine neue historische Situation, denn selbst die umfassendste politische Macht bedurfte stets der Legimitation durch Diskurse. Solche Legimitationsdiskurse scheinen aber überholt; kritische Diskurse fungieren lediglich noch als Werbeträger, mit denen Intellektuelle auf ihre nächste Publikation aufmerksam machen. Dementsprechend gehört zum Kapitalismus aber auch eine systematische Unterforderung von Künstlern und Intellektuellen, da deren „Kern-Medium“, die Sprache, ja nicht mehr wichtig ist, respektive dem Medium Geld den Vortritt lassen muss. Überhaupt verändert sich das kulturelle Umfeld auf gravierende Weise: Der Kapitalismus ist permanent auf der Suche nach neuen Märkten für die immer gleichen Güter; nicht immer Neues, sondern immer das Gleiche für immer neue Kunden ist seine Devise. Was nun auch schon zum Prinzip von Museen und Kulturinstitutionen geworden ist. Sie sind vor allem damit beschäftigt, für ihre Bestände immer neue Kultur-Konsumenten zu gewinnen. Und zwar am besten solche, die keine „Archiv-Kenner“ sind. Denn wer (Kunst-)Archive kennt und im Kopf hat, ist mehr an Neuem als an Bekanntem interessiert – und hört damit auf, der ideale neue Kultur-Konsument zu sein. Allerdings sind Kapitalismus und Kunst strukturell durchaus ineinander verwoben: Beide arbeiten mit Prinzipien wie Selektion, Neuordnung oder Deterritorialisierung; die Avantgarde-Ideen eines Duchamp werden so in Kapitalismus und aktueller Pop-Kultur fortgeschrieben. Nur dass in der Pop-Kultur nicht mehr der Kommentar die Kunst ergänzt, sondern die Zahlen: Spannend ist, wie gut oder wie schlecht z.B. ein Film angekommen ist; ob die Zahlen stimmen – das zählt. Nun – und das ist das Entscheidende – benutzt der Kapitalismus selbst keinen Diskurs, sei es ein religiöser, ideologischer, philosophischer, moralischer oder politischer Diskurs, um über das Gleiche und Ungleiche zu urteilen. Das Kriterium für ein solches Urteil unter den Bedingungen des Kapitalismus ist bekanntlich allein der wirtschaftliche Erfolg. Das Gleiche ist das, was den gleichen wirtschaftlichen Erfolg erzielt, und das Ungleiche ist das, was einen ungleichen wirtschaftlichen Erfolg erzielt. Was aber ist es an diesem Urteil, das verstörend oder unbefriedigend auf uns wirkt – und zwar unabhängig davon, ob wir denken, dass
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dieses Urteil das Ungleiche im Gleichen oder das Gleiche im Ungleichen produziert? Es ist, so scheint es mir, allein die Tatsache, dass der Kapitalismus, um sein Urteil zu fällen und es zu manifestieren, nicht das Medium Sprache benutzt, das wir diskutierende, kritisierende und theoretisierende Menschen benutzen. Der Kapitalismus benutzt einfach ein anderes Medium – nämlich das Medium des Geldes. Und dieses Medium ist erstens dem Medium Sprache heterogen und zweitens der Sprache als Medium nicht gleich gestellt. Auf dem Grund unserer Unzufriedenheit mit dem Kapitalismus als solchem liegt also die Einsicht in eine tiefe, fundamentale Ungerechtigkeit: die Ungerechtigkeit in der Behandlung von Diskurs und Kapital als zweier Medien, in denen wir die Unterscheidung zwischen Gleichem und Ungleichem feststellen können. Und diese Ungerechtigkeit besteht darin: Die Urteile, die im Medium des Geldes gefällt werden, zählen. Und die Urteile, die wir in unserer diskursiven, theoretischen Sprache fällen – wie auch immer sie im Einzelfall ausfallen mögen – zählen nicht. Gerade deswegen können wir die Frage nach dem Verhältnis von Gerechtigkeit und Kapitalismus als solchem stellen. Denn die Ungerechtigkeit ist zwar geschichtlich nichts Neues: Man wurde auch früher immer wieder mit Entscheidungen, Verfügungen und Befehlen von Machthabern konfrontiert, die einem als schreiend ungerecht erschienen sind. Doch alle diese Entscheidungen, Verfügungen und Befehle waren immer noch in der gleichen Sprache formuliert, in der auch eine Kritik an diesen Entscheidungen und Verfügungen formuliert werden konnte. Noch die kommunistischen oder, sagen wir, sozialistischen Staaten gründeten auf einem ideologischen Diskurs und auf einem geschichtlichen Narrativ. Jeder, der in diesen Staaten irgend etwas unternehmen wollte, musste sich ständig ideologisch rechtfertigen, musste ständig beweisen, dass seine Worte und Taten im Einklang mit der herrschenden Ideologie stehen. Doch auch die Macht musste sich ständig ideologisch rechtfertigen und beweisen, dass sie etwa in der Tat die Avantgarde des historischen Progresses darstellt. Auch alle ökonomischen Entscheidungen mussten in diesen Staaten politisch, d.h. letztendlich ideologisch und sprachlich begründet werden. Die Sprache funktionierte also sowohl als Medium der staatlichen Selbstbehauptung und Repression wie auch als Medium der Opposition. Alle gesellschaftlichen Konflikte mussten letztendlich sprachlich ausgetragen werden. Macht und Opposition bewegten sich auf dem gleichen Terrain – dem Terrain der sprachlichen, ideologischen Selbstrechtfertigung. Unter solchen Bedingungen macht es Sinn, darüber zu reden, ob dieser oder jener Machthaber gerecht oder ungerecht ist. Oder ob diese oder jene Entscheidung gerecht oder ungerecht ist. Denn jedem einzelnen Urteil der Macht konnte sprachlich widersprochen werden. Die Tatsache, dass die Macht und die Kritik an der Macht die gleiche Sprache sprachen, schuf die Möglichkeit eines Ausgleichs und eröffnete die Aussicht auf eine höhere Gerechtigkeit, von der in unserer kulturellen Tradition immer wieder die Rede ist. Man kämpfte damals gegen eine
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Macht, die auf einem Diskurs gründete, der als wahr anerkannt wurde – sei es ein religiöser oder ein ideologischer Diskurs. Man kämpfte gegen diesen Diskurs und seinen Anspruch auf absolute Wahrheit für das Recht einer frei diskutierenden demokratischen Öffentlichkeit, diesen Diskurs und somit auch jede Entscheidung, jedes Urteil der Macht in Frage zu stellen. Dieser Kampf wurde weitgehend gewonnen. Die Gesellschaft hat sich vom wahren Diskurs der Macht emanzipiert. Aber zugleich hat sie sich dabei von jedem Diskurs überhaupt emanzipiert. Sie ist zu einer postdiskursiven Gesellschaft geworden, in der die Gerechtigkeit nicht mehr im Medium der Sprache geschieht – und der Kapitalismus ist eben diese postdiskursive Gesellschaft. Mit dem Kapitalismus befreit sich die Macht von jeder Ideologie, von jeder sprachlichen Begründung und somit auch von jedem Rechtfertigungszwang. Und das bedeutet: Die Macht verlässt das Terrain der Sprache, sie wird gegen jede Art sprachlicher Kritik grundsätzlich immun, weil sie das Medium ihrer Selbstdefinition ändert. Wenn die Macht einen wirtschaftlichen Erfolg erzielt, ist sie dadurch genügend gerechtfertigt. Wenn sie Misserfolg produziert, gibt es darüber ebenfalls nicht viel zu diskutieren, denn durch ökonomischen Misserfolg erledigt sich die Macht selbst. Die Gerechtigkeit des Kapitals wirkt in beiden Fällen ohne jede sprachliche Intervention. Erst unter diesen neuen Bedingungen kann man deswegen über die Gerechtigkeit und den Kapitalismus als solchen sprechen – aber zugleich nicht mehr darüber, ob dieser oder jener Kapitalbesitzer gerecht handelt oder nicht. In der heutigen, postdiskursiven Gesellschaft ist keiner eine Erklärung oder eine Legitimierung schuldig – wenn er sich innerhalb bestimmter, gesetzlich definierter Rahmen bewegt. Ob man etwas kauft oder verkauft, ob man bei den Wahlen für diese oder jene Partei stimmt – man tut es schweigend. In allen diesen Fällen nach einer Erklärung zu verlangen ist eine unerlaubte Zumutung. Die Tatsache, dass man genug Geld besitzt, um etwas zu kaufen, ist eine ausreichende Rechtfertigung für diesen Kauf. Und eine Stimme bei politischen Wahlen ist ein Äquivalent des Mindestlohns. Die Souveränität, über die der einzelne in der kapitalistischen Gesellschaft verfügt, ist somit eine absolute, weil stumme Souveränität. Nicht einmal Könige verfügten über ein so ungeheures Maß an Souveränität, denn auch wenn sie ihren Untertanen keine Erklärung schuldig waren, so mussten sie ihre Taten immer noch vor ihrem Gott rechtfertigen. Ein interessantes Symptom dieser neuen Lage ist das Austrocknen der affirmativen, legitimierenden Diskurse. Wir bewundern immer noch die komplizierten, subtilen und zugleich gewaltigen theologischen Konstruktionen, die der Legitimierung der kirchlichen Autorität dienen sollten. Die marxistische bzw. kommunistische Theorie, welche die Avantgarderolle der kommunistischen Partei legitimieren sollte, ist ebenfalls sehr vielfältig, oft interessant und zugleich mit echter Leidenschaft geschrieben. Die Schriften, die den Kapitalismus legitimieren wollen, d.h. die beweisen wollen, dass die Gerechtigkeit, die durch den Markt erzielt wird,
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die gleiche Gerechtigkeit ist, die man auch durch den Diskurs definieren und legitimieren kann, wirken dagegen flach und leblos. Und man versteht sofort, warum. Diese Schriften erfüllen eine überflüssige, antiquierte Aufgabe: Sie wollen etwas legitimieren, das keine Legitimierung braucht, das vollkommen souverän ist. Der Diskurs überlebt sicherlich auch in einer postdiskursiven Gesellschaft des entwickelten Kapitalismus, aber nur als eine Ware unter vielen anderen Waren – jenseits seiner traditionellen legitimierenden Funktion. Nicht von ungefähr erhält die Sprache ihre legitimierende Funktion erst dann wieder, wenn es sich um das Verbrechen handelt, d.h. um Handlungen jenseits der etablierten Marktwirtschaft. Vor allem wenn man die Hollywood-Filme der letzten Zeit ansieht – und diese Hollywood-Filme sind für diagnostische Zwecke immer besonders gut geeignet – fällt auf, dass die nachdenklichsten und wortgewaltigsten Helden in diesen Filmen Mafiosi, Diebe und insbesondere professionelle Killer sind. Von diesen Helden erwartet und bekommt man die tiefsten Aussagen über den Sinn des Lebens. Ein Philosophieprofessor, wenn er überhaupt in solchen Filmen je vorkommt, wird dagegen in der Regel als Hysteriker und Alkoholiker dargestellt, der niemals einen halbwegs gut formulierten Satz zustande bringen kann. Und in der Tat: Nachdem der Philosophieprofessor sein Gehalt erhalten hat, wird alles, was er gesagt oder noch zu sagen hat, vollkommen irrelevant – weil immer schon bezahlt. Der Profikiller wird dagegen nicht für seine Sprüche bezahlt, sondern allein für seine Taten. Deswegen sind seine Einsichten für das Publikum interessant. Doch so bleibt es nur, solange der Profikiller nicht in die legitime Marktwirtschaft einbezogen wird – z.B. als Spezialist für Spezialoperationen. Dann bekommt auch der Profikiller seine finanzielle Berechtigung – und wird schweigsam. In einer postdiskursiven Gesellschaft ist allerdings nicht nur der affirmative, sondern auch der kritische Diskurs überflüssig. Da die kapitalistische Souveränität keine religiöse oder ideologische Legitimierung hat oder braucht, kann diese Souveränität durch eine Religions- oder Ideologiekritik auch nicht erschüttert werden. Die Religionskritik hatte ihre Berechtigung unter dem ancien régime. Die Ideologiekritik hatte ihre Berechtigung unter den totalitären Regimen. In beiden Fällen konnte der Intellektuelle den Anspruch erheben, im Namen der Allgemeinheit zu sprechen. Dieser Anspruch war von dem Anspruch abgeleitet, den die herrschende Ideologie selbst erhoben hat. Wenn eine Religion oder eine Ideologie nämlich den Anspruch erhebt, die Gesellschaft in ihrem Ganzen zu legitimieren, dann hat eine kritische Delegitimierung dieser Gesellschaft ebenfalls eine allgemeine Bedeutung. Unter den Bedingungen einer postdiskursiven Gesellschaft fragt man sich aber vielmehr, wenn man einen kritischen Diskurs anhört: Wieviel mag dieser Intellektuelle mit seinen kritischen Diskursen jährlich verdienen? Der Intellektuelle, der Schriftsteller, der Künstler werden heute allein als Kleinunternehmer angesehen. Der kritische Diskurs, falls sie ihn führen, wird dementsprechend als zusätzliche Werbung für ihre Auflagen eingeschätzt. Man
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fragt nicht mehr nach der Wahrheit des Diskurses – man fragt allein nach seiner Finanzierung und nach dem Profit, den er bringt. Wenn Zola heute „J‘accuse“ publizieren würde, dann würde man sich sofort fragen, wie sich das auf die Auflage seines nächsten Buchs ausgewirkt haben mag. Würde diese Auflage dann höher ausfallen als die Auflage seines vorherigen Buchs, dann würde man sagen, Zola hatte mit seiner Kritik recht. Würde die Auflage sinken, dann würde man sagen, dass Zola sich verkalkuliert hat, und dass seine Kritik sich als nicht mehrheitsfähig und somit als irrelevant erwiesen hat. Und das zeigt: Nicht der Diskurs legitimiert oder delegitimiert heute den Kapitalismus, sondern der Kapitalismus legitimiert oder delegitimiert jeden Diskurs – inklusive jedes kritischen Diskurses. Nun kann jetzt vielleicht jemand sagen, dass ich eine elitäre Position einnehme und nur eine gebildete Minderheit anspreche, wenn ich die Ungerechtigkeit in der Behandlung von Kapital und Diskurs als das zentrale Problem des Kapitalismus hinstelle, scheint dieses Problem auf den ersten Blick doch zu marginal zu sein im Vergleich zu solch gewaltigen Problemen wie der weltweiten Armut, dem Hunger in der Dritten Welt oder den neokolonialistischen Kriegen – Probleme, von denen Millionen, wenn nicht Milliarden von Menschen direkt betroffen sind. Ich glaube aber, dass das Problem der Sprache doch das zentrale Problem darstellt – und zwar aus einem einfachen Grund. Die Klagen und Proteste gegen diese konkreten und gewaltigen Ungerechtigkeiten werden letztendlich ebenfalls in der Sprache formuliert. Und sie bleiben aus dem gleichen Grund ungehört, aus dem die Klagen der gebildeten Minderheit ungehört bleiben. Die ungleiche Behandlung von Kapital und Diskurs betrifft nämlich alle, denn wir alle agieren in diesen beiden Medien – mehr oder weniger geschickt. Der Unterschied zwischen einem philosophischen Traktat und dem schlicht formulierten Protest eines Hungrigen ist kleiner, als man möglicherweise denkt. Die Ineffizienz beider unter den Bedingungen einer postdiskursiven Gesellschaft hat auf jeden Fall eine gemeinsame Ursache. Es gibt eine Gerechtigkeit des Marktes: Diese Gerechtigkeit des Marktes manifestiert sich im Medium des Geldes, des Kapitals. Und jeder Diskurs, inklusive des Diskurses über die Gerechtigkeit, unterliegt dem Urteil des Marktes. Unter den Bedingungen des Kapitalismus werden also das Kapital und der Diskurs ungleich behandelt. Die Frage nach dem Verhältnis von Kapitalismus und Gerechtigkeit ist deswegen vor allem die Frage nach der Gerechtigkeit dieser ungleichen Behandlung selbst. Kann man wirklich sagen, dass das Kapital besser ist als die Sprache, als der Diskurs – und soll es deswegen auch besser behandelt werden? Mir scheint, die meisten werden heutzutage sagen, dass das Kapital in der Tat besser ist als die Sprache. Viele Regimes, die sich auf den Diskurs, auf die diskursive Wahrheit berufen haben, bleiben den Menschen in unangenehmer Erinnerung. Jedem Anspruch auf einen wahren Diskurs wird daher heute mit Misstrauen begegnet – und er wird als potentiell
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totalitär abgelehnt. Die Emanzipation von der Sprache, die Souveränität im Schweigen wird immer noch von vielen als Segen empfunden. Sokrates und Platon, die den Staat auf einen wahren Diskurs gründen wollten, hätten heutzutage keine Chance, mehrheitsfähig zu werden. Ob man allerdings die Gerechtigkeit des Kapitals der Gerechtigkeit des Diskurses vorzieht oder umgekehrt – es passiert immer noch innerhalb der Sprache, und so verfehlt man das Niveau des eigentlichen Problems. Die Frage nach der Gleich- oder Ungleichbehandlung von Diskurs und Kapital kann nur die Kraft beantworten, die wir als Kraft des Faktischen bezeichnen können. Heute scheint uns der Sieg des Kapitalismus endgültig zu sein. Fredrick Jameson wird zitiert mit dem Wort, dass wir uns leichter den Untergang der Welt als den Untergang des Kapitalismus vorstellen können. Aber die faktischen Grundlagen und Infrastrukturen der Marktwirtschaft sind bekanntlich leicht zu gefährden. Der neuerliche Aufstieg des Militarismus und das Wiederauftauchen der imperialen Visionen, die wir gerade jetzt beobachten können, bringen die Macht der Sprache zurück. Denn militärische Ziele und Befehle werden in der Sprache formuliert, die auch wir sprechen – und lassen sich somit wiederum in der Sprache kritisieren. Nicht von ungefähr wurde die sozialistische bzw. sowjetische Wirtschaft als Kommandowirtschaft bezeichnet, d.h. als Wirtschaft, die im Medium der Sprache und nicht im Medium des Geldes operiert. Die Militarisierung bedeutet also eine neue Versprachlichung – und falls die Militarisierung der Wirtschaft irgendwann zur Realität wird, wird dies eine Unterordnung des Kapitals unter die Sprache, unter den Diskurs bedeuten. Dann erhält auch die diskursive Kritik wiederum eine echte Chance. Momentan sind wir also nicht imstande zu sagen, ob die Emanzipation von der Sprache im Namen des Kapitals und die Entstehung einer postdiskursiven Gesellschaft definitiv sind oder nicht. Da wir aber zunächst einmal unter den Bedingungen der Ungleichbehandlung von Kapital und Diskurs leben, ist es sinnvoll zu fragen, wie sich diese fundamentale Ungerechtigkeit – wenn es eine ist – auf unsere Situation als Sprechende, Schreibende, Kunstschaffende usw. auswirkt. Mir scheint, dass die beste Formulierung in dieser Hinsicht seinerzeit von Clement Greenberg getroffen wurde. Er hat nämlich gesagt, dass unter den Bedingungen des Kapitalismus die Wissenschaftler und Techniker systematisch überfordert und die Künstler nicht weniger systematisch unterfordert werden. Diese Unterforderung, die übrigens mit Unterförderung wenig zu tun hat, ist unter den Bedingungen des Kapitalismus nicht zufällig, nicht kontingent, sondern wesensmäßig. Im Kapitalismus wird von Künstlern, Schriftstellern oder Intellektuellen aus strukturellen Gründen gefordert, dass sie weniger gut arbeiten, als sie es eigentlich können. Von ihnen wird verlangt, ihre Aktivität, ihr Talent, ihren Elan bewusst und konsequent zu reduzieren. Und der Grund dafür ist klar: Unter der allgemeinen Ungleichbehandlung von Kapital und Sprache wird auch von jedem Einzelnen gefordert, dass er möglichst
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wenig Sprache produziert – und wenn er sie trotzdem produziert, muss sie von minderer Qualität sein. Greenberg definierte die Avantgarde als Revolte der modernen Künstler gegen diese systematische Unterforderung, die ihre Ungleichbehandlung manifestiert – verglichen mit früheren Epochen, in denen von den Künstlern mehr gefordert wurde. Der Konflikt zwischen Künstler und Gesellschaft, der für den Kapitalismus konstitutiv ist, entsteht demnach als Reaktion des Künstlers auf seine Unterforderung, die er als Ungleichbehandlung auffasst, und gegen die er sich auflehnt. Im Weiteren werde ich nun versuchen, die Mechanismen dieser Ungleichbehandlung genauer zu analysieren (was Greenberg selbst nicht tut – er belässt es bei einer allgemeinen Feststellung dieser Ungerechtigkeit, ohne zu verdeutlichen, wie sie funktioniert). Das Kapital operiert bekanntlich mittels Expansion und Zirkulation. Und das bedeutet vor allem: Das Kapital wendet sich in erster Linie an diejenigen, die mit ihm noch nicht in Berührung gekommen sind – also an immer neue Bevölkerungsschichten, aus denen Konsumenten gemacht werden müssen. Diese neuen Bevölkerungsschichten müssen für die gleichen Produkte gewonnen werden, damit diese Produkte weiter Profit bringen können, damit also der Markt nicht stagniert. Die Dynamik des Kapitalismus dient vor allem der Erschließung neuer Märkte – der Suche nach einem neuen Konsumenten für die gleiche Ware. Vor kurzem konnten wir einen neuen Schub dieses Prozesses beobachten, als in Moskau und Peking neue Filialen von MacDonald‘s eröffnet wurden und in den Filmtheatern Osteuropas zum ersten Mal amerikanische Blockbuster liefen. Nichts ist dem Kapital fremder als das Prinzip der Akkumulation, als die Sammlung, als das Archiv, das die Werte aus dem Umlauf herausnimmt und ruhen lässt – und aus der Sicht des Kapitals damit auch entwertet. Jede diskursive oder künstlerische Produktion, wenn sie qualitativ hochwertig sein will, braucht dagegen ein Archiv, denn wenn es kein Archiv gibt, dann besteht auch keine Möglichkeit, die heutige Kulturproduktion mit der gestrigen Kulturproduktion qualitativ zu vergleichen. Wenn das Archiv fehlt – wenn alle Kunstwaren gleichermaßen zirkulieren – dann fehlt auch das Kriterium des Vergleichs. Und der Intellektuelle oder der Künstler wissen einfach nicht mehr, ob sie gut sind oder nicht. Und vor allem wissen sie nicht mehr, ob das, was sie machen, neu ist oder nicht – wobei man nur, wenn man das Gefühl hat, etwas ganz Neues zu tun, in sein Werk die gehörige Energie investiert, um zu beweisen, dass sich dieses Neue mit dem Alten messen lässt. Wenn man nicht das Gefühl hat, etwas Neues zu tun, arbeitet man bekanntlich nur mit halber Kraft. Erst das Archiv, d.h. die Akkumulation der existierenden Kulturgüter, ermöglicht aber die Produktion des Neuen – und zwingt gleichzeitig zur Produktion des Neuen. Denn das Archiv bietet den Vergleich zwischen dem, was früher, und dem, was später produziert wurde, und eröffnet damit erst die Möglichkeit zu sagen, worin die Neuigkeit des Neuen eigentlich besteht. Und das Archiv zwingt zum Neuen, weil es Wieder-
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holungen und Nachahmungen nicht in sich aufnimmt. Für das Archiv, für das historische Gedächtnis zu arbeiten bedeutet, ständig das Neue produzieren zu müssen. Wenn also der Konsument, d.h. in diesem Fall das Archiv, das Gleiche bleibt, muss die Kunst neu werden. Wenn das Archiv fehlt, so fehlt auch der Zwang zum Neuen – er wird durch die Suche nach immer neuen Konsumenten für die gleiche Kunst ersetzt. Statt dem Zwang zum neuen Werk wird der Zwang zum neuen Markt erzeugt. Nun, dass das Archiv heute zunehmend fehlt, ist offensichtlich. Die Institution Museum bietet dafür das beste Beispiel, weil das Museum lange Zeit als Ort des Kunstarchivs par excellence gedient hat. Die Bedeutung der permanenten musealen Sammlung tendiert aber seit einigen Jahren gegen Null. Das Museum wird heute hauptsächlich als Ort für große Ausstellungen genutzt, die das Publikum immer erneut anziehen sollen. Wenn früher die permanente Sammlung immer noch einen würdigen Hintergrund für solche Ausstellungen abgegeben hat, wird sie heute in dieser ihrer letzten gesellschaftlich relevanten Rolle durch die spektakuläre, spezifisch museale Architektur ersetzt. Die Kunst beginnt somit auch innerhalb des musealen Systems zu zirkulieren. Dabei will sie sich an ein immer neues Publikum oder, was noch auffälliger ist, an das junge Publikum wenden. Dieser Ruf nach dem neuen und vor allem nach dem jungen Zuschauer, der mit allen Mitteln ins Museum, ins Theater, in die Oper usw. gebracht werden muss, ist zu einer richtigen Plage für den heutigen Kunstbetrieb geworden. Zu welcher Konferenz, zu welchem Symposium, zu welchem Kongress in Sachen Kunst und Kultur man auch kommt, man hört immer nur das Eine: Jetzt müssen wir uns ernsthaft Gedanken darüber machen, wie wir die Menschen ins Museum, ins Theater, ins Konzert bringen, wie wir unsere künstlerische Arbeit für diejenigen attraktiv gestalten, die noch nie in einem Museum, in einem Theater oder im Konzert waren. Diese Sätze werden meist in einem milden, aber sorgenvollen Ton ausgesprochen, die den tiefen Wunsch des Sprechenden zum Ausdruck bringen soll, demokratisch, offen und kommunikativ zu sein – und den Ausschluss des Anderen durch seinen Einschluss zu ersetzen. Es handelt sich schließlich um den Ton, in dem das Kapital zu uns spricht, denn in diesem Ton klingt vor allem eine echte Sorge um das finanzielle Überleben der entsprechenden kulturellen Institutionen mit, das allein durch die Erschließung neuer Märkte und die Einbeziehung neuer Konsumenten gesichert werden kann. Wie soll man diese Sorge bewerten? Was soll man der Stimme des Kapitals antworten? Zunächst einmal ist diese Sorge in jedem einzelnen Fall durchaus berechtigt – und leicht nachvollziehbar. Man muss aber bei aller Sympathie zu dieser Sorge nicht vergessen, dass ihr Ursprung in der schon angesprochenen fundamentalen Ungerechtigkeit liegt, d.h. in der Ungleichbehandlung von Kapital und Diskurs. Um das festzustellen, genügt es, sich in die Zeiten der früheren Avantgarde am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zurückzuversetzen. Damals gab es auch
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hitzige Diskussionen über das Neue, aber es handelte sich um das Neue in der Kunst – nicht um das Umwerben eines neuen Publikums. Freilich wurde auch damals zur Rechtfertigung dieser neuen Kunst das Argument benutzt, dass eine neue Generation von Betrachtern eine neue Kunst braucht. Diese neue Generation wurde aber als eine historisch neue gedacht. Im Kontext eines großen historischen Narrativs, das in den musealen Archiven repräsentiert war, wurde jede Generation durch ihre eigene Kunst ausgewiesen: Renaissance, Barock, Romantik oder Impressionismus. Der Künstler der damaligen Zeit wollte zu einem Helden dieses großen Narrativs werden, in dem die Geschichte der modernen Kunst erzählt wurde. Und er wollte einen Platz in der musealen Sammlung erlangen, in der dieser Geschichte repräsentiert wurde. Vor allem wollte der Avantgarde-Künstler diesen Platz im Museum auch dann und gerade dann erlangen, wenn er gegen das Museum kämpfte. Heute macht ein solcher Kampf keinen Sinn mehr, denn das Museum ist nicht mehr der Ort, an dem der Wert eines Kunstwerks festgestellt wird. Und jede Geschichte, inklusive der Kunstgeschichte, ist schon seit langem zur Fiktion erklärt worden – was macht es da für einen Sinn, zum Helden einer fiktiven Geschichte zu werden? Heute wird die junge Generation nicht historisch, sondern rein biologisch begriffen. Dementsprechend stellt sich auch nicht mehr die Frage, wie man einer neuen historischen Generation einen geschichtlich einmaligen Ausdruck gibt. Stattdessen will man dieser neuen Generation das Gleiche verkaufen – aber so, dass man zugleich dem „Lebensgefühl der jungen Menschen gerecht wird“. Die kulturelle Innovation vollzieht sich heute als zeitgemäße Anpassung der kulturellen Tradition an neue Lebensumstände, neue Präsentations- und Distributionstechniken oder neue Wahrnehmungsmuster. Das Ziel dieser Anpassung besteht darin, die historischen Unterschiede zu überbrücken, die infolge der technischen und sozialen Entwicklung entstanden sind, und die heutige Jugend davon zu überzeugen, dass sich die Helden der Vergangenheit von der heutigen Jugend im Grunde nicht unterscheiden: Wie die Heutigen sind diese Helden geboren, haben geliebt und gelitten und sind später gestorben. Romeo und Julia leben in Slums, Orpheus singt in Begleitung seiner Gitarre. Auf diese Weise wird die junge Generation erreicht – ob sie es will oder nicht. Wenn sie nicht ins Theater geht, dann geht sie zumindest ins Kino – aber sie sieht auf jeden Fall das Gleiche. Der Generationenkonflikt, der lange Zeit als Motor der Moderne funktionierte, ist inzwischen erledigt. Die junge Generation kommt nicht mehr als potentiell gefährlicher diskursiver Konkurrent, sondern als willkommener Konsument auf die Welt. Indem das Kunstsystem von heute sowohl die eigene Aufgabe wie auch die Aufgabe des Künstlers vor allem darin sieht, die Kunstproduktion an den Mann zu bringen, agiert der heutige Künstler selbst so, wie das Kapital agiert. Die Kunst von heute, wie Beuys zurecht sagte, auch wenn er dabei etwas anderes meinte, gleicht dem Kapital. Um das zu ver-
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deutlichen, muss man allerdings zunächst mit einem weitverbreiteten Missverständnis aufräumen. Oft meint man: Das Kunstwerk ist eine Ware wie jede andere. Der Kunstmarkt ist ein Teil des Marktes als solchen und funktioniert nach den üblichen Gesetzen der Warenökonomie. Die Kunstwerke zirkulieren in unserer Ökonomie wie jede andere Ware auch – im Kontext der allgemeinen Warenzirkulation. Daraus entsteht die Illusion, dass die heutige Kunst als Produktion dem Kapital entgegengesetzt ist. Zumindest seit Duchamp wissen wir aber, dass der heutige Künstler nicht produziert, sondern selektiert, kombiniert, transportiert und neu situiert. Die heutige Kunst operiert mit Readymades – auch dann, wenn diese Readymades selbst produziert sind. Und das bedeutet: Die Kunst operiert so, wie das Kapital operiert. Denn das Kapital operiert ebenfalls durch Selektion, Neuordnung, Neuverpackung, Deterritorialisierung, Reterritorialisierung usw. Man kann sagen, dass der größte Künstler unserer Zeit das Kapital ist. Und der Künstler, wenn er ebenfalls groß sein will, beginnt, kapitalartig zu agieren – die Aufmerksamkeit wird verschoben vom Produkt selbst auf die Art und Weise seiner zeit- und ortsgemäßen Situierung. Jetzt wird deutlich, warum im Unterschied zur klassischen Avantgarde die heutige Kunst keine Revolte gegen das klassische Erbe inszeniert. Die Produzenten konkurrieren unter einander. Der heutige Künstler ist aber kein Produzent, sondern ein Appropriator – er steht in einem mimetischen Verhältnis zum Kapital, er appropriiert, wie das Kapital appropriiert. Die heutige Kunst behandelt das gesamte Kunsterbe so, wie Duchamp sein Urinoir behandelt hat: Sie stellt dieses Erbe unter anderen Bedingungen noch einmal aus, um für das gleiche Produkt ein neues Publikum zu gewinnen. Duchamp praktizierte sein Readymade-Verfahren freilich immer noch als Insider-Witz. In letzter Zeit hat sich in der Kunstszene dagegen der Pop-Geschmack als der führende Kunstgeschmack etabliert. Der Pop-Geschmack definiert sich als Vorliebe für alles, was populär ist, was sich medial verbreitet, was eine Massenwirkung erzeugt, was gute Statistiken in den Umfragen und gute Verkaufszahlen aufweisen kann. Und das bedeutet zunächst einmal: Der Pop-Geschmack als solcher ist mit dem Massengeschmack keineswegs identisch. Nehmen wir das folgende Beispiel, das sicherlich, wie jedes Beispiel, hinkt, aber trotzdem die Sache beleuchtet. Ein „einfacher“ Massenzuschauer mag den Film „Titanic“, weil er meint, dass dieser Film wunderbar und großartig ist – dass er ein Meisterwerk ist, das einen zum Lachen und Weinen bringt. Das ist übrigens das Hauptkriterium bei Bewertung durch den Massengeschmack: dass man bei der Betrachtung der Kunst lachen und weinen kann. Nun denkt hingegen der Zuschauer mit dem guten Geschmack, der in der Tradition der high culture erzogen wurde, dass „Titanic“ einfach Schrott ist, dass der Film ein typisches Produkt von Hollywood und seinen zynischen, kommerziellen Strategien ist, dass er der Verdummung der Massen und der Verschleierung der wirklichen sozialen Umstände und Konflikte dient. Wohl bemerkt lacht und weint auch
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dieser hochkulturelle Zuschauer mit dem guten Geschmack, wenn er „Titanic“ sieht. Aber er interpretiert sein eigenes Weinen als ein zusätzliches Beweis dafür, wie zynisch und manipulativ Hollywood sein kann. Je mehr der Zuschauer mit dem guten Geschmack bei „Titanic“ weint, desto mehr wächst in ihm die Entschlossenheit, noch mehr Widerstand gegen die Übermacht der amerikanischen Kulturindustrie und überhaupt gegen den american way of life zu leisten. Denn wenn sogar er, der Mensch mit dem guten Geschmack, weint – wie können dann die breiten Massen sich der Manipulation durch die Kulturindustrie widersetzen? Die Antwort auf diese Frage ist allerdings bekannt: Nur durch ununterbrochene Aufklärung. Wie situiert sich aber ein Mensch mit Pop-Geschmack – nennen wir ihn den Pop-Fan – in diesem Spannungsfeld zwischen unmittelbarer Begeisterung und Kulturkritik? Er weint nicht – aber er empört sich auch nicht. Er schaut überhaupt nicht so sehr auf den Film selbst – ihn interessieren nur die Zahlen. Wenn die Zahlen stimmen und beweisen, dass der Film ein großer Erfolg ist, dann findet der Pop-Fan diesen Film auf jeden Fall relevant. Aber eigentlich auch großartig. Einfach wunderbar. Weil dieser Film irgendwie dem Zeitgeist entspricht, weil seine Macher irgendwie den Zeitgeist gespürt haben. Und in diesem Sinne ist der Film lehrreich. Und das ist doch bei einem Film das Wichtigste. Dabei tendiert der Pop-Fan eigentlich dazu, „Titanic“, wenn er schon nach seiner ganz persönlichen Meinung gefragt wird, ebenfalls für Schrott zu halten. Aber ein Schrott, wenn die Zahlen stimmen, ist für ihn kein Schrott mehr, sondern ein Meisterwerk. Und das ist der zentrale Punkt für die Konstituierung des Pop-Geschmacks: Der Pop-Geschmack reagiert nicht auf das Kunstwerk selbst, sondern auf das Kunstwerk plus auf die Zahlen, die seine Verbreitung fixieren. Und dieses Verfahren ist, muss man schon sagen, durch und durch avantgardistisch. Arnold Gehlen sprach seinerzeit von der Kommentarbedürftigkeit der modernen, der avantgardistischen Kunst. Diese Formulierung ist genau und ungenau zugleich. Die Fähigkeit zum avantgardistischen Geschmack besteht ja eigentlich darin, das Kunstwerk und dessen Kommentar als eine untrennbare Einheit zu sehen. Denn das avantgardistische Kunstwerk ist eben ein solches, das seine eigene historische, politische, und sonstige Kontextualisierung explizit in sich selbst reflektiert. Wenn man von einem avantgardistischen Kunstwerk den Kommentar abzieht, dann bleibt eben ein sehr traditionelles Kunstwerk übrig – auch wenn es äußerlich und rein ästhetisch gesehen etwas anders aussieht als andere, traditionellen Kunstwerke. Ohne den Kommentar sind das „Schwarze Quadrat“ von Malewitsch oder „Fountain“ von Duchamp trivial. Der Kommentar ist ihnen also nicht äußerlich, sondern ein integraler Teil dessen, was aus ihnen interessante Kunstwerke macht. Der Pop-Geschmack konstituiert sich dadurch, dass er den Kommentar, d.h. die Worte, durch Zahlen ersetzt. So kann man in diesem Sinne
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von der Zahlenbedürftigkeit des Pop-Geschmacks sprechen. Der PopGeschmack ist nämlich so konstituiert, dass er im primären Akt der Wahrnehmung eines Kunstwerks die Zahlen seiner Verbreitung mit wahrnimmt, mit fühlt, mit denkt. Das Kunstwerk und seine Statistik bilden hier eine untrennbare Einheit – so wie in der Kunst der Avantgarde das Kunstwerk und sein Kommentar eine untrennbare Einheit gebildet haben. Und das bedeutet: Der Pop-Geschmack ist vom Massengeschmack meilenweit entfernt – und hat eine völlig andere Genealogie. Der Pop-Geschmack ergibt sich aus einer durch und durch elitären Sensibilität, für welche die unmittelbare Reaktion eines Zuschauers, eines Zuhörers oder eines Lesers – eben Lachen und Weinen – einfach naiv ist. Der Pop-Geschmack ist dagegen ein reflektierender Geschmack: Er nimmt nicht nur das Kunstwerk, sondern auch seinen Kontext wahr – und beurteilt beide gleichzeitig. In diesem Sinne ist der Pop-Geschmack eine Variante oder eine Weiterentwicklung des avantgardistischen Geschmacks. Diese Genealogie wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass der Pop-Geschmack ständig aktualisiert werden muss. Wer heute immer noch von Madonna schwärmt, ist passé. Und passé zu sein ist durch den Pop-Geschmack verboten. Wie die klassische Avantgarde strebt der Pop-Geschmack nach dem Neuen, nach dem Jetzt – danach, absolut modern zu sein. Der Pop-Geschmack ist aber eine Variante der avantgardistischen Sensibilität, die, wie gesagt, Worte durch Zahlen ersetzt. Oder anders gesagt: Der Pop-Geschmack entsteht, wenn man einen alten Betrachter durch einen jungen Betrachter ersetzt. Denn dem Kunst- und Kulturschaffenden schweben nicht bloß abstrakte Zahlen vor, wenn er beginnt, seine Kunst zu praktizieren, und wenn er sich seinen Konsumenten, seinen Leser oder seinen Zuschauer vorstellt, für den er arbeitet. Vielmehr handelt es sich dabei um ein ganz bestimmtes Bild von einem solchen Konsumenten. Mir persönlich scheint, dass sich dieses Bild der Imagination des heutigen Autors als das „Schwarze Quadrat“ von Malewitsch präsentiert. Dieses Bild ist nämlich völlig gereinigt von jeder kulturellen Voraussetzung, von jedem Vorwissen, von jedem Archiv. Malewitsch sprach von seinem „Schwarzen Quadrat“ als von einem Baby, einem Neugeborenen – und zwar einem Neugeborenen aus dem Nichts. Das Schwarze Quadrat ist somit das ideale Bild jenes jungen Lesers oder jenes jungen Zuschauers, für den die heutige Kunst gemacht wird. Dieser ideale junge Konsument verfügt über kein Archiv von kulturellen Vergleichsmöglichkeiten. Sein Bewusstsein ist ein Quadrat – auf dem alles platziert sein kann, was vom Kapital transportiert wird. Für diesen Konsumenten ist jede Kunst gleich neu und aufregend. Damit entfällt also die Suche nach dem Neuen in der Kunst definitiv. Dabei kann der heutige Kunstbetrieb übrigens seine grenzenlose Verachtung für diejenigen nicht verbergen, die aus dem einen oder anderen Grund ein solches Archiv immer noch im Kopf haben – und zum historischen Vergleich fähig sind. Solche dunklen, unangenehmen Gestalten
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gelten als theorielastig, kopflastig und generell kunstfeindlich. Sie verderben nämlich ein unmittelbares Erlebnis der Kunst, d.h. eben diesen ekstatischen Schwarz-auf-Weiss-Zustand der totalen Unschuld, durch einen überflüssigen und gehässigen historischen Kommentar. Aber vor allem gelten sie als diejenigen, die es unter dem Vorwand, nach einer neuen Kunst zu suchen, vermeiden, die eigentliche Kunst-Arbeit unserer Zeit zu tun: Ein immer neues Publikum für die gleiche Kunst zu gewinnen. Diese dunklen Gestalten können somit in der Tat nur Abscheu hervorrufen – und zwar sowohl bei Konsumenten, denen sie den ganzen Spaß verderben, als auch bei den Künstlern, denen sie das Geschäft mit diesem Spaß ruinieren. Auch von den Freunden, wenn sie in der Kunstszene tätig sind, hört man heutzutage immer wieder, dass bei dieser oder jener Kunstveranstaltung zum Glück nicht die üblichen Verdächtigen dabei waren, sondern ganz frisch aussehende junge Menschen, die fröhlich Bier getrunken haben – und schon deswegen das Ganze gut wahrgenommen und richtig verstanden haben, weil sie nichts dazu gesagt haben. Wer also das Unglück hat, sich selbst zu den üblichen Verdächtigen zu zählen, und noch dazu von der schlechten Angewohnheit nicht lassen kann, das Gesehene zu kommentieren, kann sich dabei nur zutiefst schämen. Die Zeiten sind definitiv vorbei, in denen die Kunst in erster Linie für diejenigen gemacht wird, die diese Kunst am besten verstehen können, weil sie in ihrem eigenen Kopf das größtmögliche Archiv am Vergleichsmöglichkeiten haben. Die heutige Kunst braucht keine Hermeneutik – diese stört nur, weil sie im Ruf steht, die Kunst schwieriger, unzugänglicher und anspruchsvoller zu machen, als sie es eigentlich sein soll. Stattdessen braucht die heutige Kunst allein die Konsumenten, deren hermeneutisches Vermögen gegen Null tendiert. Das „Schwarze Quadrat“ war als das letzte, minimale Bild konzipiert. Heute strebt man nach dem letzten, unbekannten Konsumenten, der minimale Forderungen an die Kunst stellt. Im beiden Fällen steht das Ganze auf dem Spiel. Für Malewitsch symbolisierte sein „Schwarzes Quadrat“ alle Bilder, weil alle Bilder die minimale Struktur aufweisen müssen, die im „Schwarzen Quadrat“ zum Ausdruck kommt. Der unbekannte Konsument, der jenseits aller Kenntnisse und Voraussetzungen die Kunst wahrnehmen soll, und für den die heutige Kunst gemacht wird, symbolisiert ebenfalls das Ganze des potentiellen Publikums. Sowohl das Kapital wie auch die Kunst befinden sich auf der Suche nach diesem unbekannten Konsumenten – nach dieser undeutlichen schwarzen Gestalt, die im weißen Nichts schwebt. Dabei werden übrigens nicht nur berüchtigte Kunstinsider, sondern im Grunde alle real existierenden Leser und Zuschauer vom heutigen Kunstsystem ungerecht und schlecht behandelt, weil sie alle das eine oder andere persönliche Archiv an Erinnerungen in ihren Köpfen haben – und vom Ideal des absolut archivlosen unbekannten Konsumenten immer noch zu weit entfernt sind.
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Daher wird übrigens auch verständlich, warum es gerade in der heutigen Kunstwelt eine starke Sehnsucht gibt nach Subjektlosigkeit, Anonymität, Wissenschaftsähnlichkeit und Warenförmigkeit – und zwar nicht nur in Bezug auf die Konsumenten, sondern auch in Bezug auf die Künstler selbst. Man protestiert immer wieder gegen den der Kunst immanenten Kult der künstlerischen Subjektivität, gegen die Figur des Autors, gegen die auktoriale Signatur. Diese Rebellion versteht sich meistens als Aufbegehren gegen die Machtstrukturen, die in der Figur des souveränen Boris Groys, geboren 1947 in Ost-Berlin, Autors ihren sichtbaren Ausdruck studierte in Leningrad Philosophie und finden. Immer wieder wollen die KritiMathematik. Danach war er u.a. am ker beweisen, dass es so etwas wie ein Institut für strukturale und angewandte künstlerisches Genie gar nicht gibt, Linguistik im Moskau tätig. Ab 1981 und dass dementsprechend der auktolebte in der BRD, 1988 erhielt er eine riale Status eines jeweiligen Künstlers Gastprofessur an der University of Pennnicht von seiner angeblichen Geniequasylvania, drei Jahre später eine an der lität abgeleitet werden kann. Vielmehr Southern California in Los Angeles. Seit wird in der Zuschreibung der Autor1994 hat er den Lehrstuhl für Kunstschaft eine Konvention gesehen, welche wissenschaft, Philosophie und Mediendie Institution Kunst, der Kunstmarkt theorie an der Staatlichen Hochschule und die Kunstkritik dazu benutzen, um Stars strategisch aufzubauen und für Gestaltung in Karlsruhe inne. Boris von diesen Stars kommerziell zu profiGroys ist zudem Mitglied der Association Internationale des Critiques d’Art. tieren. Der Kampf gegen die Figur des Autors wird demnach verstanden als Zu seinen wichtigsten Publiaktion gehören Über das Neue. Versuch einer ein Kampf gegen das undemokratische Kulturökonmie (1992), Logik der SammSystem der willkürlichen Privilegien lung (1997) und Das kommunistische und unbegründeten Hierarchien, die de Postskriptum (2005). facto niedere kommerzielle Interessen reflektieren. Und immer wieder wird der Autor im Verlauf dieses Kampfes für definitiv entmachtet und sogar für tot erklärt. Freilich führt dieser Sieg über den Autor unweigerlich dazu, dass die Kritiker der Autorschaft ihrerseits zu berühmten Autoren erklärt werden – und zwar gerade deswegen, weil sie die traditionelle Figur des Autors entmachtet haben. So kann man hier auf den ersten Blick bloß die Wiederholung des altbekannten Verfahrens des Königsmordes am Werk erkennen, der aus dem Königsmörder den neuen König macht. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Vielmehr muss nach den Gründen für die Polemik gegen die Autorschaft in der heutigen gesellschaftlichen Lage des Künstlers gesucht werden. In der Regel wird der Autor von seinen Kritikern als Herrscher präsentiert, der dem Publikum seinen auktorialen Willen diktiert, der eine institutionell verankerte Autorität besitzt, der als Genie gilt, dessen Werke einen großen Marktwert haben. Und das bedeutet: Der Autor wird ausschließlich als erfolgreicher, prosperierender Autor beschrieben – und
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als ein solcher kritisiert und dekonstruiert. Was dabei systematisch übersehen wird, ist die Figur einer missglückten, gescheiterten Autorschaft. Ein gescheiterter Autor ist aber in Wirklichkeit eine viel weiter verbreitete Figur als der erfolgreiche Autor. Und für einen gescheiterten Autor liegen die Dinge völlig anders als für einen erfolgreichen Autor. Für einen gescheiterten Autor bedeutet seine eigene auktoriale Signatur nicht das Zeichen der Autorität, sondern das Zeichen eines Misserfolgs – kein Gütesiegel, sondern ein Stigma. Wie man beklagt, dass auch „schwache“ Arbeiten eines berühmten Künstlers gefeiert werden, so lässt sich sagen, dass auch die „guten“ Arbeiten eines gescheiterten Künstlers in der Regel als gescheitert gelten. Die Autorschaft ist also nicht nur eine Prärogative der Herrschaft, sondern auch ein Fluch für den Gescheiterten. Wie gesagt: Der Autor ist souverän. Aber die Souveränität führt meistens zum Scheitern – nicht zum Erfolg. Die Souveränität ist also keineswegs zu beneiden, und souverän zu sein ist alles andere als attraktiv. In der Tat kann man in der Kunst so gründlich scheitern, wie man etwa in der Wissenschaft nicht scheitern kann. Für eine wissenschaftliche Theorie übernimmt ihr Autor nicht die volle auktoriale Verantwortung. Eine wissenschaftliche Theorie ist kein Ausdruck der eigenen, souveränen Selektion – sie hat immer bestimmte Vorläufer, besteht meistens aus Umformulierungen von schon Bekanntem und kann im Weiteren ihrerseits modifiziert, verbessert und den Fakten besser angepasst werden. Der einzelne Autor leistet einen Beitrag zur Entwicklung der Wissenschaft, aber er kann dafür nur bedingt und partiell Verantwortung übernehmen. Da der Wissenschaftler niemals die volle Verantwortung für seine Arbeit übernimmt, wird er auch im Fall des Erfolgs weniger berühmt als der Künstler. Dagegen kann der Wissenschaftler aber auch nicht so tief fallen, wie der Künstler es kann. Um dies einzusehen, genügt es, einen Blick darauf zu werfen, wie etwa ein Gott als Autor der Welt gründlich scheitern kann. Wenn sein Werk als enttäuschend empfunden wird, werden seine Altäre und Kirchen verwüstet, seine Diener umgebracht, seine Bilder und Statuen verbrannt. So etwas passiert einem Wissenschaftler dagegen niemals. Auch wenn seine Theorie irgendwann als falsch eingestuft wird, behält er in der Regel seine akademische Position, wird in Ehren emeritiert und nach seinem Tod respektiert. Sowohl der Erfolg wie auch das Scheitern verzeiht unsere Kultur aber einem Autor nur dann, wenn er ehrlich ist. Und der Autor gilt, wie gesagt, nur dann als ehrlich, wenn er ehrlich zugibt, das er nichts anderes im Sinne hat, als etwas Geld zu verdienen. Und das heißt: wenn der Autor sich ebenfalls in ein schwarzes Quadrat verwandelt – in eine pure Form, der allein das Kapital Inhalt verleihen kann. Nun weiß ich, dass nach einer Analyse, die als eine kritische wahrgenommen wird, immer die Frage gestellt wird: Was ist dann die Alternative? Was können Sie vorschlagen, um es anders zu machen? Und wenn Sie es nicht können, dann wird Ihre Kritik möglicherweise allein vom
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Ressentiment gegen den Zeitgeist diktiert. Und von Ressentiment geleitet zu werden gilt seit Nietzsche als schlecht. Aber warum eigentlich? Wie verhält es sich eigentlich mit dieser Moralkeule des Ressentiments, die man sofort zu schwingen beginnt, wenn von einer kritischen Auseinandersetzung mit der Gegenwart die Rede ist? Das Buch „Il faut défendre la société“ von Michel Foucault ist vor allem dank des Begriffes der Biopolitik bekannt geworden, den er dort eingeführt hat. Mir scheint aber, dass das Interessanteste in diesem Buch die Rehabilitierung des Ressentiments ist, die dort, wenn auch nicht in diesen Termini formuliert, de facto betrieben wird. Foucault beschreibt nämlich die genuin politische Einstellung als eine solche, die Beleidigung, Ungerechtigkeit, Niederlage nicht vergisst und nicht verzeiht – auch wenn sie dabei hilflos und ohne Hoffnung bleibt. Oder die sogar Beleidigungen und Ungerechtigkeiten bloß erfindet, um sich selbst zu konstituieren. Dementsprechend lässt sich eine genuin politische Einstellung nicht durch den Nachweis ihrer Antiquiertheit oder historischen Überholtheit entmutigen – auch wenn dies bedeutet, dass sie für alle Zeiten nur auf ohnmächtige, gehässige Kommentare voller Ressentiments reduziert wird. Nun wissen wir sehr wohl, dass die Ungleichbehandlung von Kapital und Diskurs früh erkannt wurde – schon zu Zeiten von Flaubert und Baudelaire, die an ohnmächtig-gehässigen Kommentaren nicht gespart haben. Seitdem wurde vieles unternommen, um diese Ungerechtigkeit zu korrigieren – einschließlich der kommunistischen Revolutionen. Heute tendieren wir dazu, diese Revolutionen als gescheitert anzusehen und die Regimes, die infolge dieser Revolutionen entstanden sind, als ungerecht einzuschätzen. Das mag so sein. Aber es bedeutet noch lange nicht, dass die Ungleichbehandlung von Kapital und Diskurs dadurch plötzlich gerecht geworden ist. Und das bedeutet weiter: Die Politik des Widerstands gegen diese Ungerechtigkeit muss fortgesetzt werden. Sie muss vor allem dadurch fortgesetzt werden, dass man als Autor der systematischen Unterforderung durch die heutige Gesellschaft widersteht – und damit die Tradition der modernen Kunst fortsetzt, wie sie von Greenberg verstanden wurde. Doch darüber hinaus muss man, denke ich, auch die Tradition des ohnmächtig-gehässigen Kommentars, also die Tradition des Ressentiments fortsetzen, die heute im Namen einer falsch verstandenen quasi-nietzscheanischen Moral unterdrückt wird. Denn ein solcher Kommentar voller Ressentiments bietet seinem Autor immer wieder eine Genugtuung, auf die man nicht ohne Not verzichten sollte.
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Rahmenbedingungen für eine faire Weltwirtschaft
Gerechter Tausch – (nur) eine Frage der Rahmenbedingungen? von Elisabeth Göbel
FAIRTRADE global – Marktlogik oder politisches Programm? von Richard Sturn
Die zwei Ebenen einer gerechten Weltwirtschaft Wolfgang Sachs im Gespräch mit Christian Eigner und Michaela Ritter
FairMultitude Richard Weiskopf im Gespräch mit Christian Eigner und Michaela Ritter
Gerechter Tausch – (nur) eine Frage der Rahmenbedingungen? Von Elisabeth Göbel
I Menschendienliche Wirtschaft – Von der Tugend zur Institution Der ursprüngliche Sinn der Wirtschaft und des Wirtschaftens liegt in der bestmöglichen Versorgung der Menschen mit nützlichen Gütern. Diese in ausreichendem Maße für alle Menschen zur Verfügung zu stellen, so dass sie ein gutes Leben führen können, ist Ziel und Zweck der „naturgemäßen Erwerbskunst“ oder Ökonomik, wie sie von Aristoteles vor über 2000 Jahren in seinen Schriften zur Politik definiert wurde. Freilich hat auch Aristoteles schon eine andere, in seinen Augen tadelnswerte Art des Wirtschaftens beobachtet, von ihm „gewinnsüchtige Erwerbskunst“ genannt, die nicht auf Güterversorgung zielt und auf den Endzweck des guten Lebens für alle, sondern die das grenzenlose Anhäufen von Geld zum Selbstzweck macht. Diese Art der Erwerbskunst schien ihm eng verbunden mit dem „gewerbsmäßigen Handel“, also dem Austausch von Gütern gegen Geld, insbesondere wenn dieser in „weitere Ferne“ vorstößt1. Beim gewerbsmäßigen internationalen Handel mit seinen Kennzeichen der Verwendung von Münzgeld und der Anonymität der Tauschpartner sei es naheliegend, den eigentlichen Sinn der Wirtschaft zu verfehlen. Für den griechischen Philosophen war es letztlich eine Frage des Charakters, der festen inneren Grundhaltung oder Tugend der Akteure, ob sie „naturgemäß“ wirtschaften oder „gewinnsüchtig“. Allerdings meint bei Aristoteles das naturgemäße Wirtschaften hauptsächlich die ausreichende gütermäßige Versorgung des eigenen Haushaltes durch den pater familias (Ökonomik = Haushaltsführung). Für die moderne Wirtschaft ist dagegen der gewerbsmäßige und auf Geld gestützte globale Handel zwischen weitgehend anonymen Wirtschaftsakteuren absolut prägend. Von daher hat man in der modernen Weltwirtschaft mehr denn je mit „gewinnsüchtiger Erwerbskunst“ zu rechnen. Heutige Ökonomen sehen darin allerdings häufig gar kein Problem mehr. Seit der von Adam Smith in seinem Werk über den „Wohlstand der Nationen“ (1776) vollzogenen „paradigmatischen Wende“ seien die Ergebnisse des Wirtschaftens doch völlig losgelöst von der Haltung bzw.
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Tugend der Wirtschaftsakteure, konstatiert beispielsweise der deutsche Ökonom Karl Homann. In der Moderne werde der gute Mensch ersetzt durch die zweckmäßige Institution. Im Bereich der Wirtschaft heiße die zentrale Institution „Markt“. Im System „Markt“ verwandle sich das „geradezu unbändige Streben nach individuellen Vorteilen“ durch den Einzelnen in das höchste Gemeinwohl für alle 2. Die Individuen in der Wirtschaft werden von allen moralischen Ansprüchen entlastet, denn gerade der strikteste Egoismus der Einzelnen fördert nach dieser Auffassung das Wohl des Ganzen. Ungeplant dient die gewinnsüchtige Erwerbskunst dem eigentlichen Zweck der Wirtschaft, dem guten Leben für alle Menschen, und wird so – institutionell vermittelt – zum sinnvollen „naturgemäßen“ Wirtschaften. Mit der modernen ökonomischen Theoriebildung ist der moralische, um – wirtschaftliche – Gerechtigkeit bemühte Mensch durch die zweckmäßige Institution ersetzt worden: Letztere ist es nun, welche in der Theorie und konkret in Form des Marktes den Wohlstand aller fördert – und so letztlich das „gute Leben“ (im Sinne antiker Philosophie) ermöglicht. Allerdings hat die Phantasie von der Institution Markt als „magischer Trichter“, der Egoismus in Gemeinwohl und damit in Wohlstand verwandelt, einen großen Haken. Und zwar den, eben nur eine Phantasie zu sein. Mit Märkten gehen nämlich Marktdefizite einher; etwa jenes, dass von Märkten keine kollektiven Güter produziert werden, die jedoch in Gesellschaften unverzichtbar sind. Zudem ist es um die Tauschgerechtigkeit von Märkten alles andere als gut bestellt. Denn anders als die Theorie besagt, herrscht auf Märkten keine vollständige Transparenz, im Gegenteil: Informationsasymmetrien sind die Regel, speziell auf der Ebene des Welthandels. Auf dieser haben die Industrienationen beispielsweise sogar dafür gesorgt, dass ihr überlegenes Wissen oft nur in patentierter Form vorkommt – auf dass es ihnen die Entwicklungsländer abkaufen müssen. Zusammen mit der mangelnden Markttransparenz und vergleichbarem sorgt die Informationsasymmetrie so dafür, dass sich der Norden gegenüber dem Süden in einer überlegenen Position befindet. Die der Norden auch nutzt, um den Süden auszubeuten. Aus diesem Grund gilt es auf der Welthandelsebene das gleiche zu tun wie in den entwickelten Industrienationen: Der Markt muss „institutionell kanalisiert“ werden, was z.B. durch neue, andere Handelsregeln erfolgen kann. Zu diesen haben u.a. das Ende der Marktabschottung und der Abbau von Zöllen durch die entwickelten Länder sowie die Etablierung von Tarifbarrieren und ähnlichem durch die armen Staaten des Südens zu gehören. Allerdings setzt das etwas voraus, das gerade mit dem Beginn des modernen ökonomischen Denkens aus der Ökonomie verbannt wurde: Ein moralisches, tugendorientiertes Subjekt, das beschließt, mit anderen zusammen solche Rahmenbedingungen zu schaffen. Weshalb eine gerechte Wirtschaft neben einem umfassenden Institutionengefüge auch ein „Comeback“ der Moral benötigt. II Der Markt als „magischer Trichter“ Wie funktioniert der „magische Trichter Markt“ 3, der den Egoismus der Individuen in das Gemeinwohl verwandelt? Die Menschen, so die Vorstellung, signalisieren ihre Bedürfnisse dem Markt, wobei sich die
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Dringlichkeit des Bedürfnisses im Preis widerspiegelt, den der Nachfrager zu zahlen bereit ist. Das Selbstinteresse der Anbieter lässt sie die benötigten Güter bereitstellen, die dringlichsten zuerst, weil ein hoher Erlös winkt. Bei der Produktion der Güter verfahren die Anbieter – wiederum aus Selbstinteresse – so effizient wie möglich, da sich die eingesetzten Ressourcen bei ihnen als erlösmindernde Kosten niederschlagen. Anbieter und Nachfrager tauschen schließlich Güter gegen Geld, freiwillig und zu beiderseitigem Nutzen. So verspricht der Marktmechanismus die bestmögliche Güterversorgung bei effizienter Nutzung der knappen Ressourcen. Zugleich ist die Iustitia Commutativa, die Tauschgerechtigkeit, gewährleistet, denn warum sollten die Akteure einem Tausch zustimmen, wenn sie nicht profitierten? Ausbeutung scheint ausgeschlossen. Der Glaube, dass mehr Marktwirtschaft zu höherem Wohlstand, weniger Ressourcenverschwendung und mehr Gerechtigkeit führt, lässt nur eine Botschaft zu: Liberalisiert die Märkte! Eine Botschaft, die in den letzten Jahren immer eindringlicher von den reichen Industrieländern in Richtung der armen und unterentwickelten Länder gesandt wurde. Durch Handelsliberalisierung – so das Versprechen – sollen alle Beteiligten profitieren, besonders aber die armen Länder an Wohlstand gewinnen. „Wettbewerb ist solidarischer als Teilen“ heißt das Credo 4.
III Marktdefizite Leider funktioniert der magische Trichter nur im Modell des vollkommenen Marktes so gemeinwohlfördernd wie unterstellt. Zu den Modellbedingungen zählen unter anderem die vollkommene Konkurrenz, die vollkommene Markttransparenz, die kostenlose und unendlich schnelle Anpassung an neue Marktgegebenheiten, die Vollbeschäftigung der Ressourcen, das Fehlen externer Effekte. Die Bedürfnisse des souveränen Konsumenten bestimmen das Angebot. Der reale Markt weist gegenüber diesen Annahmen zahlreiche Abweichungen auf, die Zweifel an den wohltätigen Wirkungen freier Märkte aufkommen lassen. Zweifel an der optimalen Güterversorgung Im Modellmarkt findet eine optimale Güterversorgung statt, weil die Angebote sich der Dringlichkeit der Bedürfnisse automatisch anpassen. Was knapp ist, erzielt hohe Preise, hohe Preise locken Anbieter, die die Knappheit beseitigen. Übersehen wird, dass es nicht die Dringlichkeit des Bedürfnisses an sich ist, welche den Anbieter interessiert, sondern die mit dem Bedürfnis gekoppelte Kaufkraft. Produziert wird, was sich verkaufen lässt, nicht was dringend gebraucht wird. Es gibt keinen Automatismus, der den objektiv dringenden Bedarf mit dem kaufkräftigen Bedarf zur Deckung bringt. Wie sonst wäre es möglich, dass man
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in unseren Supermärkten Festtagsmenüs für Katzen und Diätfutter für den übergewichtigen Hund kaufen kann, während an anderen Stellen der Welt Kinder an Hunger sterben? Ebensowenig wird der Markt die kollektiven Güter bereitstellen, die zwar jeder braucht und schätzt, für die aber kein selbstinteressiertes Individuum privat zahlen will, solange der Nutzen auch denen zugute kommt, die nicht zahlen. Innere und äußere Sicherheit, Infrastruktur, Umweltschutz sind solche kollektiven Güter, für die es an privater Nachfrage und daraus folgend an Angeboten mangelt. Der Markt hat aber nicht nur Probleme damit, die Versorgung mit wünschenswerten Gütern zu gewährleisten, er stellt auch Produkte bereit, die als „Güter“ zu bezeichnen sich eigentlich verbietet. Kaufkräftige Nachfrage ruft bspw. die Anbieter von Drogen, Waffen, Gewaltvideos und Kinderpornografie auf den Plan. Ob damit dem guten Leben gedient wird, wäre gewiss der Diskussion wert, aber dem Markt sind Angebot und Nachfrage die letzterreichbaren Instanzen zur Bewertung von Gütern. Zweifel an der effizienten Ressourcennutzung Auch die These von der automatischen Effizienz der Ressourcennutzung im System Marktwirtschaft kann hinterfragt werden. Im Modell wird vorausgesetzt, dass die objektive Knappheit einer Ressource erstens in ihrem Preis zum Ausdruck kommt und dass daher – zweitens – knappe (und teure) Ressourcen schon aus Selbstinteresse sparsam eingesetzt werden. Wie die langjährige Auffassung von der Umwelt als „freies Gut“ zeigt, muss aber die tatsächliche Knappheit eines Gutes vom Markt keineswegs erkannt und in Preise umgesetzt werden. Der selbstinteressierte Käufer einer knappen Ressource wird überdies alles daran setzen, deren Knappheit herunter zu spielen, um den Preis zu drücken. Oder er nutzt seine Nachfragemacht aus, so dass trotz bekannter Knappheit der Preis nicht entsprechend steigen kann. Auch die zweite Prämisse, nämlich dass knappe (und teure) Ressourcen automatisch sparsam verwendet werden, stimmt im realen Markt nicht immer. Den Anbieter interessiert nur, ob ein Käufer bereit ist, den Ressourceneinsatz zu vergüten. Rentabilität ist der Maßstab des Unternehmers, nicht Sparsamkeit. Solange jemand dafür zahlt, gilt es im Markt als effizient, in der Wüste einen Golfplatz anzulegen, der ständig mit Trinkwasser gepflegt werden muss oder vom Aussterben bedrohte Tierarten auf die Speisekarte zu setzen. Aus Sicht der Konsumenten ist außerdem die Kostenminimierung der Anbieter beim Einsatz der Ressourcen manchmal alles andere als wünschenswert. Oder muss man es unbedingt als sinnvolle Effizienzsteigerung verstehen, wenn die teuren Früchte im Joghurt durch billigere künstliche Farb- und Geschmacksstoffe ersetzt werden?
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Manche Ressourcen können gerade deshalb nicht da eingesetzt werden, wo sie den größten Nutzen erzeugen würden, weil sie „vermarktet“ werden. So wird die Ressource „Wissen“ von den selbstinteressierten Anbietern über Patente zum marktfähigen „geistigen Eigentum“ gewandelt. Solche “property rights” mögen durchaus ein Anreiz sein, Wissen zu produzieren, eben weil es sich anschließend teuer verkaufen lässt. Allerdings fließt das Wissen dann wieder nur nach Maßgabe der Kaufkraft an die Anwender und nicht nach der Dringlichkeit des Wissenstransfers. Beispiel: Pharmazeutisches Wissen kann von den armen Ländern nicht zur Produktion lebensrettender Medikamente eingesetzt werden, weil sie die teuren Lizenzgebühren nicht zahlen können. Schließlich stimmt auch die Prämisse der Vollbeschäftigung der Ressourcen, bspw. der Humanressourcen, sehr häufig nicht. Im Modellmarkt wechseln bei Verschiebungen im Gefüge von Angebot und Nachfrage die Arbeitnehmer lediglich die Arbeitsstelle. Sie wandern – ohne Anpassungskosten – in die effizientere Verwendung ab, was den allgemeinen Wohlstand fördert. Im realen Markt erzeugen bzw. verstärken solche Verschiebungen dagegen häufig Arbeitslosigkeit, denn in der Realität kann ein arbeitslos gewordener Tagelöhner nicht einfach zum gefragten IT-Spezialisten mutieren, wenn es der Markt verlangt. Hohe Arbeitslosigkeit aber senkt den Wohlstand. Zweifel an der Tauschgerechtigkeit Erhebliche Zweifel sind angebracht an der These von der automatischen Tauschgerechtigkeit im Markt. Von der Neuen Institutionenökonomik5 werden vor allem zwei Marktdefizite beschrieben, welche die Tauschgerechtigkeit in Frage stellen: Die mangelnde Markttransparenz und der unvollkommene Wettbewerb. Für den realen Markt sind sog. Informationsasymmetrien typisch, das heißt einer der Tauschpartner verfügt über Wissen, welches dem anderen nicht zur Verfügung steht. Bei dem vorausgesetzten „unbändigen Eigennutz“ der Marktteilnehmer schöpft der besser informierte Akteur seinen Informationsvorsprung natürlich zu seinen Gunsten aus. Der Vertragspartner stimmt dem Tausch zwar freiwillig zu, aber nur weil er bspw. als Käufer einen versteckten Mangel des Produktes nicht kennt. Die Freiwilligkeit des Tausches ist dann kein Garant mehr für dessen Gerechtigkeit. Ein weiteres Merkmal des realen Marktes sind Machtasymmetrien. Der ideale Markt unterstellt für alle Transaktionen sehr viele austauschbare Marktpartner auf beiden Seiten. Die Marktkontrolle funktioniert über diese Austauschbarkeit nach dem Motto: Wenn die Brötchen beim Bäcker A zu klein werden, dann gehe ich eben zu Bäcker B, wenn die Arbeit in Firma X zu schlecht bezahlt wird, dann arbeite ich in Zukunft für Firma Y. Sobald die dabei vorausgesetzte Austauschbarkeit nicht gegeben ist, was im realen Markt häufig vorkommt, dann ist der Tausch-
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partner, der nicht ausweichen kann, in einer Transaktion „gefangen“ und muss sich die Tauschbedingungen vom stärkeren Gegenpart diktieren lassen. Schon Adam Smith war dieser Marktmangel durchaus bewusst, vor allem im Hinblick auf die Arbeitnehmer. Bei hoher Arbeitslosigkeit komme es leicht zu einem Lohnniveau, auf dem die Menschen gerade noch vegetieren könnten oder gar verhungern müssten, weil die Unternehmer aufgrund ihrer Macht Hungerlöhne erzwingen könnten6. Ausbeutung ist möglich. Wer schon im freiwilligen Vertragsschluss den Beweis für einen gerechten Austausch ohne Ausbeutung sieht, der unterstellt im Grunde Vertragsverhandlungen, wie sie als Bedingungen des „idealen Diskurses“ Habermas’scher Prägung vorausgesetzt sind. Gleich starke und gleich gut informierte Diskursteilnehmer suchen wohlwollend nach dem allseits akzeptablen Konsens, der allen Vorteile verspricht7. Eine solche prozedurale Gerechtigkeit kann der reale Markt mit seinen Defiziten und den unbändig selbstinteressierten Akteuren nur schwerlich für sich in Anspruch nehmen. Arglist und Täuschung, Druck und Drohung sind alltäglich im eigennützigen strategischen Verhandeln der Marktteilnehmer.
IV Marktdefizite im globalen Handel Die beschriebenen Defizite, welche bereits in den entwickelten Marktwirtschaften der Industriestaaten die magische Transformation von Eigennutz in Gemeinwohl verhindern, treten in den Entwicklungsländern und im Handel zwischen Industrie- und Entwicklungsländern deutlich verstärkt auf. Macht- und Informationsasymmetrien zwischen den reichen industrialisierten sowie den armen, unterentwickelten Ländern der Welt sind eklatant. Die großen “gobal player” können ganze Volkswirtschaften „erpressen“, weil diese als Anbieter deutlich stärker auf den Austausch angewiesen sind als die Nachfrager. Durch Vorratsbildung und den Hinweis auf Alternativanbieter können die Nachfrager bspw. bei vielen Agrarprodukten niedrige Preise und günstige Austauschbedingungen erzwingen. Auch bei Ernteausfällen in einigen Regionen steigt der Marktpreis in der Regel nicht, da es für die Nachfrager genügend Ausweichmöglichkeiten gibt. Den Verlust tragen alleine die Anbieter. Der Preisdruck wird im Markt weitergereicht vom Endabnehmer über den Importeur, Exporteur und Zwischenhändler bis zum Produzenten und seinen Arbeitern, den letzten und schwächsten Gliedern in der Kette. Auf allen Stufen nutzen die selbstinteressierten Akteure ihre Macht, um die größtmögliche Gewinnspanne abzuschöpfen, mit dem Effekt einer äußerst ungleichen Verteilung des Mehrwertes. So müsste bspw. eine äthiopische Arbeiterin, die die Kaffeebohnen für den Export sortiert, sechs Tage arbeiten um sich eine einzige Tasse in
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einem Kaffeehaus in Berlin leisten zu können. Eine Gegenmachtbildung durch Zusammenschluss der Anbieter scheitert daran, dass diese enorm unter Druck stehen und um jeden Preis verkaufen müssen. Die Nachfrager nutzen ihre starke Stellung, um durch bilaterale Verhandlungen drohende Zusammenschlüsse aufzubrechen. Informationsasymmetrien wirken sich in zwei Richtungen schädlich für die Entwicklungsländer aus. Das überlegene Wissen der Industrieländer wird über Patente monopolisiert und muss dann teuer eingekauft werden, wozu die Kaufkraft oft nicht reicht. Manchmal eignen sich westliche Unternehmen sogar das traditionelle Wissen der Bevölkerung eines Entwicklungslandes an (bspw. über Heilmittel aus der Natur), lassen es als ihr geistiges Eigentum schützen und verkaufen es dann für viel Geld an die eigentlichen Wissenserzeuger zurück (sog. Biopiraterie). In manchen Bereichen haben aber auch die Industrieländer Informationsdefizite. Westliche Investoren scheuen die Investition in Entwicklungsländern, weil sie sich außerstande sehen, die politischen und wirtschaftlichen Risiken sicher einzuschätzen. Wissens- und Kapitaltransfer von den reichen Industriestaaten in die armen Länder werden so verhindert. Für die Entwicklungsländer ist eine Unterbeschäftigung der Ressourcen, insbesondere in Form hoher Arbeitslosigkeit, typisch. Bei Marktverschiebungen wandern die Arbeitskräfte oft nicht in die effizientere Verwendung ab, wie es der Modellmarkt vorsieht, sondern die Arbeitslosigkeit erhöht sich. Weil die Kapitalmärkte nicht gut ausgebaut sind, überleben auch viele kleine einheimische Betriebe wegen mangelnder Kreditmöglichkeiten Nachfrageverschiebungen nicht. Da eine soziale Absicherung gegen Arbeitslosigkeit in der Regel fehlt, sind die Folgen für die Betroffenen besonders schlimm. Das heißt, diese Länder haben mit besonders starken Anpassungsproblemen und -kosten zu kämpfen. Ihren Macht- und Informationsvorsprung haben sich die Industrieländer in der Vergangenheit oft zunutze gemacht, um die natürlichen Ressourcen der Entwicklungsländer billig zu verwerten. Wenn es die Gesetzgebung zulässt (oder auch nicht), wird die Umwelt in vielen Entwicklungsländern – von einheimischen und ausländischen Unternehmern – noch immer und wider besseres Wissen als freies Gut behandelt. Die Lücke zwischen den Bedürfnissen und der Kaufkraft ist für große Bevölkerungsteile in den armen Ländern ein existenzielles Problem. Nicht nur das Kaufkraftgefälle zwischen den Industriestaaten und den Entwicklungsländern ist enorm, sondern auch das Kaufkraftgefälle innerhalb der Entwicklungsländer. Den Markt interessiert aber ein Bedürfnis ohne dahinter stehende Kaufkraft nicht. Er bedient die Luxusbedürfnisse der Reichen und ignoriert die existenziellen Bedürfnisse der Armen. Dem selbstinteressierten Anbieter im Markt scheint es allemal
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dringlicher, den Reichen die Falten wegzuspritzen als Slumkinder gegen Polio zu impfen. Auch schädliche Güter werden ohne Bedenken in die Entwicklungsländer exportiert, solange kaufkräftige Nachfrage besteht, seien es nun Waffen oder in den Industrieländern wegen ihrer Gefährlichkeit längst verbotene Pestizide. Der Staat fällt in den armen Ländern als Nachfrager kollektiver Güter häufig aus, weil er zu arm oder die Regierung zu korrupt ist, um das Geld in Infrastruktur, Bildung und Sicherheit zu investieren.
V FAIRTRADE als Nischenprogramm Bisher haben die Vertreter der Industrieländer getreu der Vorstellung vom natürlichen und berechtigten Vorteilsstreben im Markt ihre überlegene Position im globalen Handel ausgenutzt. Das moralische Recht dazu leiten sie zwar aus dem Modell des idealen Marktes ab, tatsächlich aber haben sie die Marktdefizite häufig noch weiter verschärft. Wo der Marktpreis signalisiert, dass die Industrieländer weniger effizient wirtschaften als die Entwicklungsländer, wird der Preis kurzerhand korrigiert: Subventionen für einheimische Anbieter machen deren Produkte künstlich billiger, Zölle verteuern ausländische Produkte. Dabei sind die Zölle gegenüber den Entwicklungsländern deutlich höher als gegenüber anderen Industrieländern. Eskalierende Zölle, die mit dem Verarbeitungsgrad der Produkte steigen, sollen die Konkurrenz der Entwicklungsländer im verarbeitenden Gewerbe unterbinden. Auch mit nicht-tarifären Handelshemmnissen – etwa ausufernden Sicherheitsbestimmungen – wird versucht, Importe zu verhindern. Alle Industrieländer schotten sich gegen den Zuzug billiger ungelernter Arbeitskräfte aus den Entwicklungsländern ab, obwohl das dem Geist der freien Marktwirtschaft widerspricht. Offen sind die Arbeitsmärkte dagegen für hochqualifizierte Fachkräfte, die den Industrieländern Vorteile einbringen, die aber auch in ihrer Heimat dringend benötigt würden. Mit dem Bemühen um einen verstärkten Schutz geistigen Eigentums sollen Wissensvorsprünge und Monopolrenditen gesichert werden. Gleichzeitig werden die Entwicklungsländer gezwungen, ihre Märkte vollständig zu liberalisieren. Sie dürfen die Instrumente, welche die Industriestaaten zum Schutz der einheimischen Wirtschaft einsetzen oder in der Aufbauphase eingesetzt haben, nicht benutzen (beispielsweise Einfuhrzölle, Kontingente). Da die Staatshaushalte der Entwicklungsländer auf Zolleinnahmen besonders angewiesen sind, schwächen Zollverbote zusätzlich die Regierungen dieser Länder. Bisherige Dispute zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern über die Austauschbedingungen verliefen alles andere als fair. Während man die armen Länder mit der Androhung von Handelssanktionen leicht
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einschüchtern kann, zeigen solche Drohungen im umgekehrten Fall kaum Wirkung. Außerdem stehen den reichen Ländern bei Verhandlungen ganze Heerscharen bestens ausgebildeter Anwälte zur Verfügung. Langjährige Rechtsstreitigkeiten können sie auch finanziell problemlos verkraften. Da verwundert es kaum noch, dass bisher die ärmsten Länder das Streitschlichtungssystem der World Trade Organization (WTO) überhaupt nicht in Anspruch genommen haben, während die reichsten Industriestaaten diese Möglichkeit weidlich ausnutzten. Der globale Handel hat bisher nicht die versprochenen Wohlfahrtsgewinne für die armen Länder gebracht, sondern die Ungleichheit zementiert, wenn nicht sogar verschärft. Das ist unter der Voraussetzung von unbändig eigennützigen Wirtschaftsakteuren und bei den geschilderten Marktdefiziten auch unbedingt zu erwarten. Nach der Marktlogik sind Anbieter und Nachfrager, die ihre Informations- und Machtvorsprünge nicht ausnutzen und die für ein Produkt oder eine Arbeitsleistung aus Fairness weniger verlangen oder mehr bezahlen, als der Markt erzwingt, einfach irrational. FAIRTRADE wird zum Nischenprogramm für wenige weltfremde Idealisten. Die Mengen fair gehandelter Produkte bleiben denn auch trotz zunehmender Präsenz in den Supermärkten insgesamt marginal8.
VI Rahmenbedingungen für einen faireren globalen Handel Handel kann sehr wohl wohlstands- und entwicklungsfördernd sein. Die Industrieländer haben in ihrer Geschichte diese Erfahrung gemacht. Allerdings haben sie ihre Märkte immer schon institutionell kanalisiert und ergänzt. Der Staat greift zum Beispiel in Europa und Nordamerkika auf nationaler Ebene mit großer Selbstverständlichkeit an zahlreichen Stellen in den Markt ein. Wettbewerb findet „unter geeigneten Regeln“ statt9. Zu große Machtunterschiede sollen verhindert werden, etwa indem Kartellbehörden marktbeherrschende Stellungen von Unternehmen zu verhindern trachten oder indem der schwächeren Partei das Recht auf Gegenmachtbildung eingeräumt wird (z.B. Bildung von Gewerkschaften). Auch soziale Sicherungssysteme verhindern eine allzugroße „Erpressbarkeit“ der schwächeren Seite. Informationsasymmetrien werden ausgeglichen durch den Zwang zur Offenlegung von Informationen. Bspw. müssen die Inhaltsstoffe von Produkten deklariert und die Tauschbedingungen transparent gemacht werden. Institutionen zur Verbraucheraufklärung und -bildung sollen die Position der Konsumenten stärken, staatliche Kontrollen Sicherheit und Qualität der Produkte auch dort garantieren, wo der Käufer mit der Kontrolle überfordert wäre. Der Staat versucht, der Umwelt einen angemessenen Marktpreis zu verschaffen, etwa über Verschmutzungszertifikate. Durch gezielte Steuern werden Ressourcen verteuert, deren Knappheit der
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Markt nicht ausreichend im Preis widerspiegelt. Allzu große Ressourcenverschwendung wird möglicherweise sogar direkt verboten, wenn hohe Preise die Nachfrager nicht genügend abschrecken. Der Staat fängt auch die Härten der Marktanpassung teilweise ab (z.B. durch Arbeitslosengeld) und hilft bei der Anpassung (z.B. durch kostenlose Weiterbildung). Er springt als Nachfrager ein, wo die private Nachfrage versagt oder tritt selbst als Anbieter von Gütern und Dienstleistungen auf, wenn es an Marktangeboten fehlt (z.B. bei billigem Wohnraum). Er überbrückt die Lücke zwischen Bedürfnissen und Kaufkraft durch Transferzahlungen an die Bedürftigen oder durch die Möglichkeit, zinsgünstige Kredite aufzunehmen. Insolvenzgesetze sollen die Menschen vor lebenslangem Schulddienst bewahren. Der Handel mit schädlichen Produkten wird verboten oder zumindest stark reglementiert und kontrolliert. Die faire Lösung von Handelsdisputen wird über eine unabhängige und unparteiische Rechtssprechung gewährleistet. Die Erfahrung hat die Industriestaaten gelehrt, dass der ideale Markt keine Institution ist, die sich naturwüchsig einstellt, wenn man sie nur ohne störende Eingriffe in Ruhe wachsen lässt. Vielmehr ist der ideale Markt ein äußerst ambitioniertes Projekt, welches sich nur durch die ständige Korrektur der Defizite, und auch dann nur annähernd verwirklichen lässt. Ein menschendienlicher Markt ist ein institutionell gebändigter Markt. Der Institution „Markt“ wird die Institution „Staat“ übergeordnet. Das gilt selbstverständlich auch für den globalen Markt. Wenn der globale Markt das Gemeinwohl der Menschheit fördern soll, dann muss auf internationaler Ebene ein starker institutioneller Rahmen geschaffen werden, mit dem die enormen Marktdefizite gemildert werden (zu den Maßnahmen vgl. Stiglitz/Charlton10. Das heißt konkret: Die Industriestaaten geben zunächst ihre Marktabschottung gegenüber den Entwicklungsländern auf, bauen Zölle und nicht-tarifäre Handelshemmnisse besonders gegenüber den ärmsten Ländern ab und erleichtern die (befristete) Migration ungelernter Arbeitskraft. Sie verzerren die Preisbildung nicht länger durch hohe Exportsubventionen und geben so den Entwicklungsländern eine realistische Chance, ihre komparativen Vorteile auch zur Geltung zur bringen. Damit die armen Länder ihre Nachteile aufholen können, wird ihnen im Sinne einer iustititia correctiva erlaubt, ihre Märkte gezielt und vorübergehend zu schützen, bspw. durch Zölle und local-content-Vorschriften. Der Wissens- und Technologievorsprung der Industriestaaten wird nicht durch überzogene Eigentumsrechte und eskalierende Zölle zementiert, vielmehr werden Wissens- und Technologietransfer – notfalls durch Zwangslizenzierung – gefördert. Jede Form der Biopiraterie wird unterbunden. Eine neutrale internationale Instanz berät die Entwicklungsländer bei Verhandlungen mit den Industrieländern und prüft die Fairness von Abkommen. Die Entwicklungsländer bekommen
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wirksamere Sanktionsmöglichkeiten, damit sie ihre de jure festgestellten Rechte auch de facto durchsetzen können. Dem schwächeren Part bei einer Transaktion wird Gegenmachtbildung erlaubt. Gravierende Lücken zwischen Bedürfnissen und Kaufkraft werden durch Transferzahlungen ausgeglichen, erdrückende Schulden erlassen. Bei der Lösung von Anpassungsproblemen an neue Marktgegebenheiten wird den armen Ländern durch Kapital- und Wissenstransfer ebenso geholfen wie beim Ausbau von Infrastruktur, Rechtsstaatlichkeit und Bildung. Das Geld dafür kann bspw. durch die Einsparung der Exportsubventionen aufgebracht werden. Der Handel mit schädlichen Produkten wird stärker kontrolliert und sanktioniert, Korruption geächtet. Geheime Bankguthaben werden verboten, illegal erworbenes Geld kann leichter beschlagnahmt werden. Für die Benutzung der Ressource „Umwelt“ werden der Knappheit angemessene Preise durchgesetzt, statt die Schwäche vieler armer Länder beim Umweltschutz auszunutzen. Umweltaspekte werden bei den Verhandlungen im Rahmen der WTO stärker berücksichtigt, bspw. durch die Anhörung der Umweltminister betroffener Länder. Der Beitritt zur WTO ist an klare und transparente Bedingungen geknüpft und kann nicht mehr zur Erpressung von Zugeständnissen benutzt werden. Die Verhandlungen selbst werden demokratischer, offener und transparenter.
VII Menschendienliche Wirtschaft – von der Institution zur Tugend Rekapituliert man den bisherigen Gedankengang, dann war die erste These: Der Mensch in der Wirtschaft ist unbändig eigennützig. Dieses individuelle Vorteilsstreben ist unproblematisch, ja sogar sittlich, denn es wird durch die Institution Markt so kanalisiert, dass sich das Gemeinwohl einstellt. Gewinnsüchtige Erwerbskunst erreicht via Marktwirtschaft das Ziel der natürlichen Erwerbskunst, das gute Leben für alle. Es wurde aufgezeigt, dass der reale Markt mit seinen Defiziten dieses Versprechen nicht halten kann. Daraus ergab sich als zweite These: Die Institution „Markt“ muss wiederum von einer übergeordneten Institution kontrolliert und korrigiert und ergänzt werden, dem Staat. Nur Marktwirtschaft „unter geeigneten Regeln“ ist wohltätig. Im Welthandel treffen nun die Interessen verschiedener Länder aufeinander, bei eklatanten Macht- und Informationsasymmetrien, die Raum für “moral hazard” lassen. Das führte zur dritten These: Auch die Staaten bedürfen wiederum der institutionellen Lenkung und Kontrolle, wenn sich aus ihrem eigennützigen Vorteilsstreben in einer globalen Marktwirtschaft ein Plus an Wohlfahrt für alle ergeben soll. Internationale Institutionen müssen die geeigneten Regeln etablieren, damit aus Wettbewerb Gemeinwohl resultiert. Prädestiniert dafür wäre bspw. die WTO.
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Doch: Warum sollten die Mitglieder der WTO das eigentlich tun? Warum sollten sie auf einmal abweichen von der Politik der Maximierung des Selbstinteresses und einen institutionalen Rahmen kreieren, der ihren eigenen Wirtschaftsinteressen widerspricht? Warum sollten sie ihre Macht- und Informationsvorsprünge nicht mehr ausnutzen? Schulden erlassen? Freiwillig Transferzahlungen leisten? Wie Friedrich Nietzsche11 bereits an der Theorie vom Gesellschaftsvertrag bei Thomas Hobbes12 kritisierte, passt dessen Menschenbild vom egoistischen, nur auf seinen Vorteil bedachten „Wolf“ gar nicht zur Gestaltung einer gerechten Gesellschaft. Je höher man gedanklich steigt in der Hierarchie der den Eigennutz „bändigenden“ Institutionen, desto klarer wird, dass die Basisthese von der Möglichkeit, das Gemeinwohl mit unbändig auf ihren eigenen Vorteil bedachten Menschen erreichen zu können, auf reichlich wackligen Füßen steht. Hinter einer institutionellen Reform des Weltwirtschaftssystems müssen offenbar ethische Werte und Prinzipien stehen und Menschen, die sie vertreten. Zumindest die Menschen, die die Rahmenordnung gestalten, müssen doch ihren Eigennutz transzendieren Elisabeth Göbel, apl. Prof. an der Uniund sagen: Wir wollen mehr Gerechtigversität Trier, Dr. rer. pol. habil., Jahrkeit und Wohlstand für alle Menschen. gang 1956. 1975 bis 1978 Ausbildung Wir wollen Armut, Hunger, Krankheit, zur Industriekauffrau, 1979 bis 1981 Analphabetismus und Umweltzerstörung Studium der Wirtschaftswissenschafweltweit durch eine menschendienten an der RWTH Aachen, 1982 bis 1985 lichere Wirtschaft bekämpfen und wir Studium der Betriebswirtschaftslehre sind bereit, dafür auf (kurzfristige) in Tübingen, Promotion 1991, Habiliwirtschaftliche Vorteile zu verzichten. tation 1997, beides in Tübingen. 1985 So führt der Weg von der Institution bis 1999 wissenschaftliche Mitarbeiteletztlich doch wieder zurück zum morarin am Lehrstuhl für Planung und Orlischen Subjekt, dem an der Gestaltung ganisation von Prof. Dr. F. X. Bea, 2000 gerechterer Strukturen liegt. Ein instituUmhabilitation nach Trier. Verheirationelles Setting fragt nicht nach seinem tet, eine Tochter. Wichtige VeröffentliSinn, das kann nur der Mensch. Er muss chungen aus den letzten Jahren: Neue entscheiden, auf welches Ziel hin InstituInstitutionenökonomik, Konzeption und tionen ins Leben gerufen oder reformiert betriebswirtschaftliche Anwendungen, werden. Da Menschen die RahmenordStuttgart 2002; Organisation, zusamnung und die geeigneten Regeln schaffen, men mit F.X. Bea, 3. A., Stuttgart 2006; um den Wettbewerb menschendienlich Unternehmensethik, Stuttgart 2006. zu gestalten, kann man die Individualverantwortung nicht durch Institutionen ersetzen. Gerechtere Wirtschaftsstrukturen entstehen nur durch Menschen, die Gerechtigkeit wollen.
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Anmerkungen 1
Aristoteles (1991), S. 1257a,b.
2
Homann Karl (2003), S. 3 –25; S. 18.
3
Ulrich Peter (2005), S. 141f.
4
Homann Karl (2003), S. 13.
5
Vgl. Göbel Elisabeth (2002).
6
Vgl. Smith Adam (1993), S. 58f, S. 63.
7
Vgl. Habermas Jürgen (1991).
8
Pilz Brigitte (2001), S. 132.
9
Vgl. Homann Karl (2003), S. 3 –25; S. 13.
10
Vgl. Stiglitz Joseph E., Charlton Andrew (2006) bzw. Stiglitz Joseph E. (2007).
11
Nietzsche Friedrich (1966), S. 827.
12
Vgl. Hobbes Thomas (1996).
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Bibliografie Aristoteles [Politik], Buch I, Über die Hausverwaltung und die Herrschaft des Herrn über Sklaven, übersetzt und erläutert v. Eckart Schütrumpf, Werke Band 9/I, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1991. Göbel Elisabeth, Neue Institutionenökonomik, Stuttgart: Lucius & Lucius Verlag, 2002. Habermas Jürgen, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M., 1991. Hobbes Thomas, Leviathan, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1996 (1. A. London 1651). Homann Karl, Taugt die abendländisch-christliche Ethik noch für das 21. Jahrhundert? In: Homann Karl, Anreize und Moral, hg. v. Christoph Lütge, Münster: LIT Verlag, 2003, S. 3 –25. Nietzsche Friedrich, Zur Genealogie der Moral, Jenseits von Gut und Böse, Werke Band 2, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1966. Pilz Brigitte (Hg.), Zum Beispiel Fairer Handel, 2. Aufl., Göttingen: Lamuv Verlag, 2001. Smith Adam, Der Wohlstand der Nationen, Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, hg. v. Horst Claus Recktenwald, 6. Aufl., München: DTV, 1993 (nach der 5. Aufl., London 1789) Stiglitz Joseph E., Die Chancen der Globalisierung, Für eine andere Weltwirtschaft, München: Siedler Verlag, 2007. Stiglitz Joseph E., Charlton Andrew, Fair Trade, Agenda für einen gerechten Welthandel, Hamburg: Murmann Verlag, 2006. Ulrich Peter, Zivilisierte Marktwirtschaft, Eine wirtschaftsethische Orientierung, Freiburg i. Br.: Herder Verlag, 2005.
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Globalisierung 1300 –1400 Das Zentrum der Weltwirtschaft ist Venedig: Die Ostgrenze dieser Weltwirtschaft verläuft auf der Höhe von Polen und Ungarn; am Balkan verschwimmt die Grenze, ganz klare Verhältnisse herrschen jedoch in Westeuropa: Dieses ist ganz von Venedig abhängig und dasselbe gilt für auch für den Mittelmeerraum einschließlich Konstantinopel und den Bereich um das Schwarze Meer. Venedig unterhält auch Beziehungen zu Mailand, zu den lombardischen Städten, zu Genua und Florenz.
Handelstreibende, die nach Venedig kommen, erfahren die umfassende Macht der Stadt: (Deutsche) Kaufleute müssen ihre Waren in der Nähe des Rialto aufbewahren; nachdem sie unter Beaufsichtigung ihre Verkäufe getätigt haben, müssen sie den Erlös wieder in venezianische Waren investieren.
Gleichzeitig verbietet Venedig seinen eigenen Kaufleuten den direkten Verkauf und Kauf von Waren in Deutschland: Deutsche müssen persönlich anreisen, um Tuch, Baumwolle, Seide, Spezereien, Pfeffer, Gold usw. einzukaufen. Venedig ist somit eine Art Welt-Vorratskammer, damit nimmt sie die spätere Rolle Amsterdams vorweg.
Venedig beschneidet den von ihm abhängigen Volkswirtschaften zu seinem eigenen Vorteil den Bewegungsspielraum, saugt sie aus und hindert sie an einer ihren eigenen Bedürfnissen gemäßen, freien Entfaltung.
Die maritime Expansion Venedigs beruht in erheblichem Maße auf den verbesserten Schiffbautechniken im Rahmen des Arsenals, der Benutzung des Kompasses und anderen neuen Navigationstechniken. Auch institutionelle Innovationen – wie etwa die Entwicklung des Bankwesens, der Buchhaltung, des Geldwechsels und der Kreditmärkte, oder auch die Schaffung eines solventen öffentlichen Finanzsystems sowie die Einrichtung eines kompetenten diplomatischen Dienstes – tragen entscheidend dazu bei, Venedig noch weiter als führende Volkswirtschaft jener Epoche zu etablieren.
Im 14. Jahrhundert holt Westeuropa China (die führende asiatische Wirtschaftsmacht) bei der Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung ein. Danach stagnieren die Pro-Kopf-Ergebnisse Chinas und der meisten anderen asiatischen Länder mehr oder weniger bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zunächst ist die Stagnation auf die einheimischen Institutionen und die nationale Politik zurückzuführen; sie wird aber in der Folge durch die von den westlichen Hegemonialmächten betriebene kolonialistische Ausbeutung – besonders ausgeprägt ab dem 18. Jahrhundert – noch verstärkt.
Bei der Ausweitung seines Handels und seines Imperiums in Übersee wird Portugal im Wesentlichen durch drei Faktoren begünstigt: a. Ein klarer strategischer Vorteil ist seine Lage an der südatlantischen Küste Europas nahe dem Ausgang des Mittelmeers. b. Hochseefischer decken einen wesentlichen Teil des portugiesischen Lebensmittelbedarfs und sind in ihren Kenntnissen über die Wind-, Wetter- und Gezeitenverhältnisse im Atlantischen Ozean unübertroffen. c. Ein dritter wirtschaftlicher Vorteil ist Portugals Fähigkeit, „neue Christen“ aufzunehmen – d.h. jüdische Kaufleute und Gelehrte, die während der islamischen Herrschaft eine bedeutende Rolle gespielt haben. Diese finden nach ihrer Vertreibung aus Spanien in Portugal Zuflucht und vergrößern die dort bereits vorhandene jüdische Gemeinschaft. Sie verfügten aber über wichtige Kenntnisse, die es Portugal ermöglichen, seine wirtschaftlichen Interessen in Afrika, Brasilien und Asien zu entwickeln und den Stand der Wissenschaft zu verbessern.
Montierte Quellen: Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Der Handel. Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Aufbruch zur Weltwirtschaft. Angus Maddison, Die Weltwirtschaft: Eine Milleniumsperspektive. Jürgen Osterhammel, Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Wikipedia, Globalisierung (Stand: 15.8.2007). Montiert von Michaela Ritter
FAIRTRADE global – Marktlogik oder politisches Programm? Von Richard Sturn
I Fairer Tausch heißt faire Rahmenbedingungen Was ist der Kernpunkt der Frage nach der Fairness in den globalen Handelsbeziehungen? Klar scheint jedenfalls zu sein, worum es dabei aus ökonomischer Sicht nicht gehen kann: nämlich um ein ganz bestimmtes Gefüge von Preisen, dessen Gerechtigkeit ein für allemal festgestellt werden könnte. Schon scholastische Denker wie Thomas von Aquin und Duns Scotus sahen, dass die Dynamik von Handel und Wandel ein solches Festschreiben nicht wirklich erlauben. Ein breiter Konsens scheint auch in Hinblick darauf zu bestehen, was Fairness in globalen Austauschbeziehungen im Grunde bedeutet: einen fairen globalen Ordnungsrahmen für friedlichen Austausch. Auch dies haben im Prinzip schon die ökonomisch intelligenteren Scholastiker auf ihre Weise erkannt: Die Ergebnisse des Austauschs sind dann gerecht, wenn die Startbedingungen des Austauschs nicht durch unfaire Asymmetrien zwischen den Beteiligten verzerrt sind. Klassische Beispiele dafür sind Machtungleichgewichte, Monopole, Gewalt und Betrug. Diese Asymmetrien zu beseitigen ist Aufgabe eines politischen, rechtlichen und auch ethischen Rahmens. So weit, so gut. Ein dramatischer theoretischer – und eminent praxisrelevanter – Unterschied in der Auffassung von Ökonomen verschiedener Richtungen ergibt sich jedoch in Bezug auf folgende harmlose Frage:
Lässt sich der Ordnungsrahmen der Weltwirtschaft als Regelkatalog analog zu den Regeln des Fußballspiels begreifen, welche verteilungsneutral formuliert sind? Was steckt dahinter? Gute Spielregeln ermöglichen ein interessantes Fußballspiel und sind insofern im Interesse aller aktiven und passiven FußballinteressentInnen, auch jener, die gerade „verlieren“. Aus guten Gründen haben die Fußballregeln nicht die Verteilung von Siegchancen zum Gegenstand. Sie sind deshalb vergleichsweise konfliktfrei und sollten
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problemlos zustimmungsfähig sein. Neoliberale Ökonomen argumentieren nun mehr oder minder explizit, die Rahmenordnung von Märkten dürfe ebenfalls nur Regeln enthalten, die verteilungsneutral, aus dem allseitigen Interesse an funktionierendem Austausch, herzuleiten seien – ähnlich den Fußballspielregeln. Die Verteilung von Gütern und/ oder Chancen dürfe nicht berücksichtigt werden. Dies sei ein unzulässiger Eingriff in den spontanen Marktwettbewerb und behindere dessen Funktion als Entdeckungsverfahren und Disziplinierungsmechanismus. Meine Gegenthese hierzu lautet: Dass das Streben nach gerechten internationalen Handelsbeziehungen nicht auf die Schaffung festgeschriebener gerechter Preise hinauszulaufen hat, ist klar. Wie auch klar ist, dass das „eigentliche“ Thema solcher Gerechtigkeitsbestrebungen nur die Schaffung eines „fairen globalen Ordnungsrahmens“ sein kann. Was jedoch die Frage aufwirft, welchen „Charakter“ oder welche „Natur“ dieser Ordnungsrahmen aufweisen sollte. Neoliberale etwa charakterisieren ihn gerne als „verteilungsneutral“ – ganz so wie Fußballregeln, die bekanntlich nicht die „Verteilung von Siegchancen“ zum Gegenstand haben. Was jedoch problematisch erscheint. Weist der Ordnungsrahmen nämlich gar keine Regeln auf, die die politisch gestaltete faire Verteilung von Vorteilen betreffen, so wird tatsächlich die Ungleichheit zunehmen. Und es wird zumindest langfristig mit gesellschaftlicher Instabilität zu rechnen sein. Weshalb im Übrigen die Politik der Moderne auch stets von den drei Prinzipien Solidarität, Gleichheit und Freiheit geleitet war. Natürlich lässt sich nun – wie es von neoliberaler Seite aus passiert – argumentieren, dass die Verteilungsthematik Sache des Nationalstaats bleiben soll und erst gar nicht als Aspekt eines globalen Ordnungsrahmens zu betrachten ist. Doch gerade liberale Privatisierungsbestrebungen wie Umverteilungsprozesse, die durch die Globalisierung in Gang kommen, heben die Verteilungsthematik auf die Global-Ebene. Und wenn auch eine globale Verteilungspolitik tatsächlich nicht zur Diskussion steht, so bedeutet diese „Globalisierung der Verteilungsfrage“ doch, dass die Diskussion über einen globalen Ordnungsrahmen zumindest verteilungssensitiv geführt werden muss. Insofern kann man sogar davon sprechen, dass die Entwicklung einer internationalen Rahmenordnung mit der Entwicklung politischer Lösungen bei Verteilungskonflikten zusammenfällt. Und dass es letztlich um die Schaffung ganzer Komplexe verteilungsregulierender Institutionen geht. Die Spielregeln der globalen Rahmenordnung müssen auch Bestandteile enthalten, welche die politisch gestaltete faire Verteilung von Vorteilen betreffen. Die Geschichte der Marktwirtschaften zeigt: Marktförmige Arbeitsteilung funktioniert mittelfristig auch mit sehr ungleicher Verteilung. Langfristig drohen aber krisenhafte Spaltungen der Gesellschaft und Klassenbildungen1. Beispiele sind die prekäre Entwicklung des Proletariats im 19. Jahrhundert, anderer „Unterklassen“, der bildungsmäßig bzw. durch digital divide Ausgegrenzten oder auch geographischer Peripherien. Die normativen Leitmotive der wichtigsten Strömungen
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moderner Politik: Solidarität, Gleichheit und in ambivalenter Weise auch Freiheit haben im Verein mit dem politischen Kampf der Benachteiligten und pragmatischen Problemdiagnosen weitblickender Zeitgenossen zur verteilungspolitischen Korrektur solcher Spaltungstendenzen beigetragen. Die FAIRTRADE-Bewegung versucht in kleinem Rahmen, solche verteilungspolitischen Korrekturen auf globaler Ebene vorwegzunehmen: Etwa, indem darauf geachtet wird, dass die in den globalen Handel Integrierten Zugang zu Bildung erhalten. Denn es ist seit langem bekannt, dass Bildung eine zwar nicht hinreichende, aber notwendige Bedingung für eine zivilisierte Teilnahme der Arbeitsanbieter am marktförmigen Austausch ist. Zivilisiert ist dabei im politischen Sinn zu versehen: Wer seine Arbeitskraft verkauft, soll gleichzeitig selbstbewusster Citoyen sein können und nicht auf den Status eines Ausbeutungsobjekts – eines Rohstoffs gleichsam – reduziert werden. Ich werde in diesem Aufsatz ökonomische Argumente für die eben angedeutete Sicht diskutieren. Diese zeigen auch, dass die Analogie zu den Fußballspielregeln erhellend ist, aber zu kurz greift. Im Einzelnen besagen diese Argumente: 1. dass die unbestrittene Bedeutung von “Good governance” auf nationalstaatlicher Ebene nicht impliziert, dass – wie von vielen Neoliberalen und Neokonservativen unterstellt – Diskussionen um die übergreifende Verantwortung für die faire Verteilung auf der globalen Ebene irrelevant sind; 2. dass die neoliberale Vision einer verteilungsneutralen Rahmenordnung für die globale Wirtschaft nicht tragfähig ist; 3. dass Spaltungsgefahren und strukturelle Bestimmungsgründe von Prosperitätschancen aktueller denn je sind.
II Good governance als Hebel der Globalisierungsfalle? “Responsibility for achieving the goal of cutting global poverty rates in half lies firmly at the door of domestic governments. The possibility of concerted international action playing a major role is remote.”2 Dieses Zitat ist Teil der Schlussfolgerungen des Einleitungsaufsatzes eines prominent besetzten einschlägigen Symposiums. Seine Grundlagen sind jene institutionenökonomischen Modellierungen, welche good governance als notwendige und hinreichende Bedingung für den Erfolg nationaler Ökonomien in einer Welt globaler Märkte, global produzierender Unternehmungen und schlechter Regierungen betonen. “And there has been a lot of very bad government in poor countries […] Excessive and intrusive regulation and protectionism are also the enemies of
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greater economic opportunity and freedom. Developing countries thus face enormous challenges. But if globalisation has magnified the penalties for failure, it has also increased the rewards for success. The opportunities for gains from free trade and increased investments are greater than ever”, diagnostiziert in diesem Sinne Peter Sutherland3, früherer GATTund WTO-Generaldirektor. Wie immer es auch um die historische Einzigartigkeit aktueller Gewinnchancen bestellt ist: Über die Wichtigkeit eines wohlgeordneten institutionellen Rahmens auf nationaler Ebene besteht weitgehender Konsens. Freilich sind daraus jene zwei komplementären Thesen nicht ableitbar, die in der neoliberalen Propaganda ganz oben stehen: – Da Armutsbekämpfung primär ein nationales Problem ist, sind Verteilungsaspekte kein Thema für die Rahmenordnung der Globalisierung. – Nationale Verteilungspolitik soll möglichst schlank sein, weswegen höhere Sozialquoten zu einer niedrigeren Einstufung in diversen Standortqualitäts-Rankings führen. Es scheint, dass der verteilungsignorante Zynismus der neoliberalen Konzeptionen von good governance im Licht der Erfahrungen der 1990er Jahre an Einfluss verloren hat. Für die Neoliberalen ist Privatisierung die absolute Priorität der Reformagenda. Im Kontext des reformpolitischen Primats der Privatisierung spielte oft nur ein Typus von Verteilungsargumenten eine Rolle: Verteilungseffekte gelten als vorteilhaft, wenn sie die politischen Bedingungen für eine ausreichend mächtige privatisierungsinteressierte Koalition und die politisch-soziale Marginalisierung potentiell privatisierungsfeindlicher sozialer Gruppen (wie beispielsweise Bezieher staatlicher Pensionen) förderten. Dies wird als politische Bedingung weiterer Privatisierungen in Erwägung gezogen4. Die in umfassenden Privatisierungsprozessen latente Gefahr ungeheurer Macht- und Vermögenskonzentration ist inzwischen in etlichen bedeutenden Reformländern traurige Tatsache geworden. Dies vorherzusehen bedurfte es nur alter Binsenweisheiten liberaler Ökonomik und politischer Philosophie, welche Konkurrenz als Korrektiv gegen Macht und Privilegien hochhielten. Bei den Neoliberalen war und ist jedoch die Idee verbreitet, es komme nur darauf an, wohldefinierte private Eigentumsrechte als Startpunkt für marktlichen Austausch zu schaffen, alles andere sei sekundär. Der Markt werde schon alles zum Guten richten. Ein Insistieren auf der Diskussion möglicher Probleme schwäche nur die Wirksamkeit der zentralen Botschaft. Dabei ist der verteilungspolitische Einbettungsbedarf großangelegter Privatisierungs- und Marktintegrationsprozesse theoretisch gut nachvollziehbar. Zwei weitere Argumente sprechen dafür, dass eine Rahmenordnung im Sinne wohlverstandener good governance Verteilungsregulierung enthalten muss. Gerade weil
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– die Globalisierung als dynamischer Prozess der Neuorganisation von Arbeitsteilung unweigerlich prekäre Umverteilung impliziert und – die globale Rahmenordnung zunächst nur schwache verteilungsregulierende Elemente enthält, wird zunächst die Förderung (und nicht die Pönalisierung) zweckmäßiger politisch gestalteter Mechanismen von Risiko- und Chancenausgleich auf nationaler Ebene zu der globalen ordnungspolitischen Agenda im Sinne von Fairness gehören – und nicht die neoliberal propagierte Ausdünnung. Sonst wird die marktförmige Globalisierung tatsächlich zur sozialen Falle – und der Marktwettbewerb degeneriert – was die Rolle des öffentlichen Sektors anbelangt – zum race to the bottom.
III Wie plausibel ist eine verteilungsneutrale Rahmenordnung auf Weltebene? Eine etwas respektablere Version der Neoliberalismus spielt nicht so sehr die Bedeutung nationaler good governance gegen die Idee globaler Verantwortung aus, sondern argumentiert von der Eigenlogik des globalen Rahmens her, wie er etwa in der Welthandelsorganisation WTO verhandelt wird. Die These lautet: Die Entwicklung der internationalen Ordnung kann auf absehbare Zeit nur Rechtsfrieden, Sicherheitskooperation und fairen Freihandel zum Ziel haben. Der Versuch, dabei distributive Anliegen einzubeziehen, ist illusorisch oder kontraproduktiv. Eine derartige Sicht, die einen möglichst umfassenden und stabilen Rahmen für alle Arten wechselseitig vorteilhafter Handelsbeziehungen als Hebel für eine Friedensordnung plausibel zu machen versucht, ist weit verbreitet. Sie scheint aus ökonomischer Sicht einzuleuchten und ist in der Nachfolge Kants als Welt-Friedensordnung zu deuten. C. Christian von Weizsäcker5 sieht beispielsweise Freihandel als Nukleus einer Welt-Friedensordnung und einer Welt-Rechtsordnung. Nun steht eine umfassende globale Verteilungspolitik auf absehbare Zeit sowieso nicht zur Diskussion. Gleichwohl ist der Prozess der Herstellung eines Ordnungsrahmens nicht verteilungsneutral. Er sollte daher verteilungssensibel vorangetrieben werden. Denn die Entwicklung eines rechtsförmigen Ordnungsrahmens für eine dynamische Wirtschaft ist immer konfliktbehaftet, wie Abba Lerner6 (1972, 259) feststellte: “Every day devices are invented that require new sets of rights. […] Each set of rights begins as a conflict about what somebody is doing or wants to do which affects others.” Der Prozess, welcher die Schaffung und permanente Ergänzung eines global wirksamen Systems von Rechten zum Gegenstand hat, ist eben nicht zureichend anhand der Fußballregeln zu verstehen. Bei der Entwicklung von Fußballspielregeln spielen Interessenskonflikte längst nicht dieselbe Rolle wie bei den Regeln des Welthandels, man denke etwa an die aktuellen kontroversen
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Diskussionen um intellektuelle Eigentumsrechte. Übrigens: Anders liegt der Fall, wenn es um die Regulierung von Spielbetrieb und speziell das Transferwesen in Profiligen geht. Hier bestehen aus gutem Grund sehr wohl bedeutende Interessensdivergenzen bei der Fortentwicklung der Regeln, denken wir an die Ablösemodalitäten für Nachwuchsspieler. Der Geist der WTO impliziert den Verzicht auf (Androhung) kriegerische(r) Gewalt als Mittel der Schaffung neuer Märkte. Mag sein, dass dies der Kern einer neuen Friedensordnung ist, obwohl der amerikanische Unilateralismus zu Zweifeln Anlass gibt. Die Normen der WTO sind jedenfalls strategiebeschränkende Regulierungen jener Verteilungskämpfe, die in die Entwicklung einer globalen Ordnung der Ökonomie unweigerlich eingelagert sind. Diese strategiebeschränkenden Regulierungen können mehr oder weniger einseitig und mehr oder weniger anspruchsvoll sein. Anspruchsvollere, machtneutralisierende Ausgestaltungen dieser Prozeduren, also beispielsweise die Beschränkung der Definitionsmacht privilegierter Akteure über die zu verhandelnde Agenda, werden derzeit nicht bloß von „Globalisierungskritikern“ gefordert, sondern relativ breit und kontrovers diskutiert7 . Dies ist verständlich. Denn die auszuhandelnden Rahmensetzungen werden Einfluss auf die Verteilung der Vorteile der „Globalisierung“ haben.
Richard Sturn, geboren 1956 in Bregenz, studierte Volkswirtschaftslehre in Wien, wo er auch promovierte. 1995 war er als Gastprofessor an der University of Minnesota, USA, tätig; seit 1997 ist Sturn Professor am Institut für Finanzwissenschaft in Graz, dessen Vorstand er auch ist. Zudem ist Richard Sturn seit 2004 Forschungsdekan der SOWIFakultät der Karl-Franzens-Universität Graz. Des weiteren ist er Mitglied zweier Ausschüsse der Gesellschaft für Wirtschaftswissenschaften und Mitherausgeber des „Jahrbuchs für normative und institutionelle Grundlagen der Ökonomik.“ Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Steuer- und Transfersysteme sowie die politische Ökonomie sozialer Sicherung und öffentlicher Güter. Ausgewählte Publikationen: Individualismus und Ökonomik. Marburg/Lahn 1997. Subjectivism, Joint Consumption, and the State. European Journal of the Hist. of Economic Thought 13/1 (2006), Basic Income in Complex Worlds, Analyse und Kritik 22 (2000).
In diesem Sinn erscheint eine systematische Integration verteilungsbezogener Aspekte der internationalen Rahmenordnung unabweisbar. Auf prozeduraler Ebene sollten zumindest Vorkehrungen getroffen werden, welche ungleichen Zugang zu Information und Expertise neutralisieren. Aufgrund des neuerdings innerhalb der Weltbank proklamierten “consensus on poverty reduction” 8 (Ahmed 2002) scheint auch die Forderung nach minimalen verteilungsbezogenen Normen als Beschränkungen für die Entwicklung des globalen ordnungspolitischen Rahmens nicht utopisch zu sein. Dies betrifft nicht nur in diesem Kontext oft aufgezeigte Probleme wie – Patentschutz für Medikamente und dessen Folgen angesichts der afrikanischen Aids-Krise,
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– Eigentumsrechte für den wirtschaftlichen Umgang mit „Biodiversität“ oder – die Zuteilung von CO2-Emissionsrechten. Es betrifft auch Regimeänderungen, welche eine rasche Ausdehnung der Marktbeziehungen auf Kosten von Subsistenzwirtschaft forcieren und die Proletarisierung der neu in den Marktprozess Integrierten bewirken, wenn nicht politisch gegengesteuert wird: Beispielsweise durch staatliche Bildungs- und Gesundheitspolitik, die vielfach empirisch dokumentierte vicious circles der unregulierten Verwendung unqualifizierter Arbeit in der (agrar-)industriellen Massenproduktion verhindern kann. Fazit: Es ist abwegig, einen distributiv neutralen, entpolitisierten Ordnungsrahmen für die Weltökonomie zu postulieren. Ökonomie funktioniert nicht in einem sozialen Vakuum, sondern auf der Basis politisch vermittelter Interessens- und Verteilungskonflikte. Märkte produzieren weder politische Lösungen noch die Expertise hierfür. Bei der Entwicklung der internationalen Rahmenordnung geht es um die Entwicklung politischer Lösungen bei Verteilungskonflikten; Lösungen, welche ihrerseits typischerweise die Voraussetzung zur Realisierung kooperativer Vorteile im Wege ökonomischer Transaktionen sind, nicht aber deren Resultat. „Die Weltprobleme werden dadurch gelöst, dass man der Wirtschaft die Führungsrolle vor der Politik überlässt“ erklärt hingegen Weizsäcker9 (1999, 123), weil „die wettbewerbliche Wirtschaft […] die Kraft der Veränderung“, jegliche „Politik die Kraft der Beharrung und Bewahrung“ sei. Was immer mit dem Postulat über den Führungsanspruch der Wirtschaft gemeint ist: Insofern damit die Suggestion verbunden ist, die Entwicklung einer globalen Rahmenordnung finde in einem politikfreien, ausschließlich effizienzorientierten Koordinatensystem statt, liegt ein gravierender Irrtum vor.
IV Ist die Weltökonomie ein Netz von Marktbeziehungen? Die Neudefinition von Eigentumsrechten und Verpflichtungen bei Problemen wie Klimaregulierung, Investititionsschutz, Patentschutz oder Biodiversität werfen teils dramatische Verteilungsfragen auf. Dies ist unmittelbar einsichtig. Nicht so klar ist, weshalb Verteilungsfragen in umfassender Weise in die globalen Interdependenzen, Mechanismen und Prozesse eingelagert sind. Marktförmige Globalisierung ist ein Prozess dynamischer Arbeitsteilung und Spezialisierung. Diese ist weit mehr als ein Netz von Marktbeziehungen, aus dem man sich jederzeit wieder zurückziehen kann, wenn einem die Bedingungen nicht mehr gefallen. Spezialisierungsdynamiken und ökonomische Integrationsprozesse schaffen latente Abhängigkeiten und Ausbeutungsrisken. Sie schaffen weitergehende Abhängigkeiten, als dies im statischen Modell des Austausches zwischen freien Kontraktpartnern deutlich wird – und dies sogar
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noch ohne Berücksichtigung der Macht transnational agierender Konzerne. Fazit: Marktförmige Gobalisierungsprozesse sind nicht zu trennen von gerechtigkeitsprekären Spezialisierungsrisken. Dass moderne Ökonomien über Privateigentum und Kontrakt hinaus einen Komplex verteilungsregulierender Institutionen besitzen, ist folglich weder Zufall noch eine sozialistische (oder katholische) Erfindung, sondern durch die Marktdynamik und deren Probleme bedingt.
V Lifting all the Boats: Globalisierung als säkulare Erfolgsgeschichte? Aber auch wenn dies alles stimmt: Gibt es nicht gerade aktuelle Erfolgsgeschichten, die belegen, dass letztlich doch alle von der globalen Marktintegration profitieren? Betrachten wir etwa Zahlen von Bourguignon/ Morrisson (2002): Die Erhöhung des Gini-Koeffizienten der Welt-Einkommensverteilung 1820 –1992 1820 1910 1950 1992
0.50 0.61 0.64 0.657
Höhere Gini-Koeffizienten zeigen größere Ungleichheit an: Ein GiniKoeffizient von 0 impliziert Gleichverteilung. Nimmt er den Wert 1 an, herrscht maximale Ungleichverteilung.10 Aus diesen Zahlen ist zunächst zu schließen, dass Behauptungen, wonach die sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelnde Globalisierung alle gleichermaßen begünstige, schwer aufrecht zu erhalten sind. Die direkte Aussagekraft globaler empirischer Verteilungsbefunde ist jedoch begrenzt, weil eine Auffächerung von Fragestellungen nach Perioden und geographischen Räumen differenzierte Muster zeigen. So kann man unterscheiden: – Epochen der Konvergenz (im atlantischen Wirtschaftsraum 1870–1914). – Epochen der Divergenz (Asiens Zurückbleiben und Europas/Nordamerikas Fortschritt im 19. Jahrhundert). – Epochen der Stabilisierung von Unterschieden (1945 –1990). Die hier genannten Epochen betreffen durchwegs Perioden der „Ausdehnung der Reichweite des Marktes“, im Gegensatz zur Periode von 1914–1945, die als partielle Umkehrung des historischen Globalisierungstrends gilt. Für die jüngste Vergangenheit diagnostiziert die Mehrzahl der Studien eine Reduktion der Raten absoluter, extremer Armut, während auf wichtigen Untersuchungsebenen gleichzeitig Trends
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zur Zunahme der Ungleichheit zu verzeichnen sind. Insbesondere sind die asymmetrischen Effekte des aktuellen Globalisierungsschubs auf bestimmte Gruppen (Frauen, Hochqualifizierte, Junge, Metropolen etc.) bzw. deren Komplementärgruppen zu beachten. Bei aller Differenzierung zeigen diese Befunde doch eines: Die faszinierende Entwicklung Chinas und anderer Staaten relativiert nicht den Bedarf für jene Elemente eines globalen Ordnungsrahmens, welche verhindern, dass sich Asymmetrien zu bedrohlichen sozialen Spaltungen entwickeln. Lifting all the boats – das folgt auch langfristig nicht aus dem Automatismus der Marktlogik, sondern ist ein politisches Programm. Mehr denn je gilt: Verteilungsregulierung und nachhaltige Stabilität sind zwei Seiten der notwendigen politischen Ordnung, welche wirtschaftlichen Austausch erst zu einem fairen Austausch macht.
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Anmerkungen 1
Zum theoretischen Hintergrund vgl. z. B. diverse Arbeiten Matsuyamas (2002).
2
Besley T., Burgess R. (2003), S. 3 –22; S. 19.
3
Sutherland, P. (2002), S. 21 –22; S.21.
4
So etwa von Shleifer, 1995 und Boycko/Shleifer/Vishny 1995, prominenten ökonomischen Wegbegleitern der russischen Privatisierung.
5
Weizsäcker Ch.C. (1999), S. 122.
6
Lerner A.P. (1972), S. 258 –266; S. 259.
7
Vgl. Basu K. (2003), S. 885 –99.
8
Ahmed M. (2002), S. 8.
9
Weizsäcker Ch.C. (1999), S. 123.
10
Vgl. Bourguignon F., Morrisson Ch. (2002), S. 727–744.
Bibliografie Ahmed M., Building Consensus on Poverty Reduction, Finance & Development 39/2 (2002). Basu K., Globalization and the Politics of International Finance. The Stiglitz Verdict (Review of: Gobalization and its Discontents by J: Stiglitz), Journal of Economic Literature XLI/3 (2003), S. 885 –99. Besley T., Burgess R., Halving Global Poverty, The Journal of Economic Perspectives 17/3 (2003), S. 3 –22. Bourguignon F., Morrisson Ch., Inequality among World Citizens 1820 –1992, The American Economic Review 92/4 (2002), S. 727 –744. Boycko M., Shleifer A., Vishny R., Privatizing Russia. Cambridge (MA)-London, (1995). Lerner A.P., The Economics and Politics of Consumer Sovereignty, The American Economic Review, Papers and Proceedings, 62/2 (1972), S. 258 –266. Matsuyama K., Financial Market Globalization, Symmetry-Breaking, and Endogeneous Inequality of Nations. Department of Economics, Northwestern University, Evanston IL. (2002). Shleifer A., Establishing Property Rights, in: Bruno, M. u. Pleskovic, B. (Hg.), Annual World Bank Conference on Development Economics 1994, Washington,1995, S. 93 –128. Sutherland P., Why we should embrace Globalization, Finance and Development 39/3 (2002), S. 21–22. Weizsäcker Ch.C., Logik der Globalisierung. Göttingen, 1999.
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Rahmenbedingungen für eine faire Weltwirtschaft
Gerechter Tausch – (nur) eine Frage der Rahmenbedingungen? von Elisabeth Göbel
FAIRTRADE global – Marktlogik oder politisches Programm? von Richard Sturn
Die zwei Ebenen einer gerechten Weltwirtschaft Wolfgang Sachs im Gespräch mit Christian Eigner und Michaela Ritter
FairMultitude Richard Weiskopf im Gespräch mit Christian Eigner und Michaela Ritter
Die zwei Ebenen einer gerechten Weltwirtschaft
Oder: Warum FAIRTRADE heute besonders wichtig ist Wolfgang Sachs im Gespräch mit Christian Eigner und Michaela Ritter
Das Weltwirtschaftssystem ist durch ein Gefälle gekennzeichnet: Im Norden die reichen Industriestaaten, im Süden (und wohl auch im Osten) die Schwellen- und Entwicklungsländer. Strukturelle wie finanzielle Ungleichheit ist mithin in die Weltwirtschaft eingeschrieben – was aber noch nicht automatisch bedeutet, dass die Weltwirtschaft ungerecht ist. Ungleichheit und Ungerechtigkeit sind nicht dasselbe; letztere muss eigens bestimmt werden. Was zur ersten Frage führt: Woran kann man die Ungerechtigkeit des Weltwirtschaftsystems festmachen?
Gerechtigkeit A Gerechtigkeit in einem Wirtschaftssystem herrscht dann, wenn zum einen die Menschenrechte garantiert und die minimalen ökonomischen wie sozialen Voraussetzungen für Versorgung mit Nahrung, Sicherheit und Gesundheitsvorsorge gewährleistet sind. A Gerechte (Wirtschafts-) Systeme kennzeichnet zudem, dass die Entwicklungschancen der einzelnen (Nationen) annähernd gleich und deren Relation zueinander über die Zeit relativ konstant sind.
Wolfgang Sachs: Wo über Ungerechtigkeit gesprochen und nachgedacht wird, gilt es immer zweierlei im Auge zu haben: Zum einen ist ein Wirtschaftssystem dann ungerecht, wenn es die Menschenrechte nicht garantieren kann. Wo die minimalen ökonomischen wie sozialen Voraussetzungen für Nahrung, wirtschaftliche Sicherheit oder Gesundheit nicht gegeben sind – dort kann man davon sprechen, dass ein System ungerecht ist. Der zweite Aspekt oder die zweite Dimension, auf die es zu achten gilt, sind die Folgen, die für die Nationen auftreten: Gestaltet sich deren Verhältnis immer ungleicher und entwickeln sie sich auseinander, ist das Wirtschaftsgefüge ebenfalls als ungerecht zu beurteilen.
Damit sind zwei eindeutige Kriterien gegeben; erfüllt die heutige Weltwirtschaft beide? Wolfgang Sachs: Das erste auf jeden Fall; alle Zahlen zum Thema „Zugang zu Wasser“ oder „Nahrungsmittelknappheit“ belegen das. Laut dem Atlas der Globalisierung von Le Monde diplomatique haben beispielsweise mehr als 1,1 Milliarden Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, und jene 60% der Menschheit, die in Asien leben, müssen mit knapp 30% der Süßwasserbestände auskommen.
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Beim zweiten Kriterium muss man genauer hinsehen: Einmal kann man den Gini-Koeffizienten betrachten. Bei diesem handelt es sich um ein statistisches Maß, mit dem verschiedenste Ungleichverteilungen berechnet werden können, etwa im Einkommensbereich. Je näher das Ergebnis dabei an der 1 oder – in Prozenten ausgedrückt – an der 100 ist, desto größer ist die Ungleichheit. Der Gini-Koeffizient im Bereich Einkommensverteilung beträgt für Dänemark laut dem UN Development Programme Report von 2004 etwa 24,7% – was besagt, dass die Einkommen in diesem Land nicht besonders ungleich verteilt sind –, für Brasilien aber knapp 60%. Die Ungleichheit ist hier also deutlich größer; ja, sie kann ruhig als drastisch bezeichnet werden. Nach Darstellung der Vereinten Nationen entspricht der Ungleichheitsgrad der Welt nun in etwa dem Brasiliens – die einzelnen Staaten sind also sehr unterschiedlich reich; ihre Ungleichheit ist sogar drastisch und sie hat laut UN zugenommen. Ob ein Wirtschaftssystem ungerecht ist, lässt sich laut Wolfgang Sachs an zweierlei feststellen: Einmal daran, ob die Menschenrechte nicht gewahrt werden, bzw. ob es an wirtschaftlicher wie sozialer Sicherheit fehlt. Und das andere Mal an der wachsenden Ungleichheit zwischen den einzelnen Nationen. Ersteres Kriterium wird von der heutigen Weltwirtschaft mit Sicherheit erfüllt; zweiteres tendenziell, auch wenn es diesbezüglich widersprüchliche Zahlen gibt. Auf jeden Fall aber kann ein Nord-Süd-Gefälle konstatiert werden, das seine Wurzeln in der schlechten Diversifikation hat, die die Ökonomien vieler Entwicklungsländer kennzeichnet: Wo, so Wolfgang Sachs, etwa die Rohstoff-Produktion im Vordergrund steht, können – anders als in wissensbasierten Volkswirtschaften – keine neuen, attraktiven Wachstumszweige entstehen; z.B. keine Pharma-Industrie mit all den Forschungs- und Distributionszweigen, die an diese Industrie angedockt sind. Soll sich das Verhältnis zwischen Nord und Süd verändern, gilt es nun eine Doppelstrategie zu verfolgen: Auf der Ebene der internationalen Abmachungen müssen neue Regeln – z.B. gegen Dumping oder gegen Billig-Exporte, mit denen die Märkte von Entwicklungsländern erobert werden sollen – etabliert werden. Gleichzeitig gilt es, sich – wie Sachs betont – auf die transnationalen Produktionsketten und deren interne Abmachungen (wer bekommt an welcher Station der Kette was und wieviel?) zu konzentrieren. Denn auch diese haben ein anderes Aussehen zu erhalten, wenn der Welthandel gerechter werden soll. Da die Veränderung der Abmachungen innerhalb der transnationalen Produktionsnetzwerke das Anliegen von Organisationen wie FAIRTRADE ist, kommt diesen momentan eine fundamental wichtige Rolle zu. Denn auf der Ebene der internationalen Abmachungen tut sich wenig; de facto sind diese stecken geblieben. Wenn deshalb in den kommenden Jahren die Weltwirtschaft gerechter werden sollte, dann wird es vor allem den Aktivitäten von FAIRTRADE und vergleichbaren Institutionen zu verdanken sein. Allerdings ist diese Analyse des Verhältnisses der Staaten zueinander mit Hilfe des Gini-Koeffizienten nur ein Blickwinkel. Je mehr Faktoren man beim Vergleich von Ländern berücksichtigt, desto mehr geht die Ungleichheit zurück. Wird beispielsweise die Landesgröße miteinbezogen oder kommt es zu einer Gewichtung der Bevölkerung, so stellt sich
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Gini-Koeffizient Der Gini-Koeffizient ist ein statistisches Maß, mit dem verschiedenste Ungleichverteilungen berechnet werden können. Besonders interessant ist dieser Koeffizient für den Einkommensbreich: Je näher das Ergebnis an der 1 oder – in Prozenten ausgedrückt – an der 100 ist, desto größer ist die Ungleichheit; je näher die Zahl hingegen an der 0 ist, desto geringer fällt letztere aus. Ein Beispiel: Laut dem UN Development Programme Report von 2004 betrug der Gini-Koeffizient für Dänemark etwa 24,7%, für Brasilien aber knapp 60%.
heraus, dass sich die Ungleichheit nicht verschärft hat; im Gegenteil: sie hat sich sogar etwas vermindert, weil sich China so rasch entwickelt.
…was die Beurteilung der Weltwirtschaft als „ungerecht“ gar nicht so einfach und eindeutig macht, wie man vielleicht glauben könnte. Was sorgt aber überhaupt für das Nord-Süd-Gefälle, von dem oben schon die Rede war? Gilt nach wie vor die alte Regel: „Der Süden ist der Rohstoff-Produzent, im Norden liegen die Veredelungs-Ökonomien; so kommt es dazu, dass ein gewaltiges Ungleichgewicht entsteht“? Wolfgang Sachs: Ja und nein. Viele Rohstoffe – etwa Eisenerz, Erdöl oder Bauxit – kommen zu rund 50% aus den Entwicklungsländern, werden aber in den Industrienationen verarbeitet. Bei landwirtschaftlichen Gütern sieht es so aus, dass man z.B. Fisch und Früchte zu einem guten Teil aus den Ländern des Südens importiert, während etwa Zuckerpflanzen und Gemüse in den Industrieländern nur in dem Ausmaß verbraucht werden, in dem man sie dort auch selbst herstellen kann. Dennoch ist es ein Faktum, dass 75,4% der Ackerflächen dieses Planeten in den Entwicklungsländern – meist in solchen mit unterem Einkommen – liegen, und nur 24,6% in den industrialisierten Nationen. Allerdings bedeutet das nicht, dass der Süden die Welt ernährt; in den letzten Jahrzehnten wurde ja der Hektarertrag u.a. durch Kunstdünger verdoppelt und erlaubt die Ernährung gestiegener Bevölkerungszahlen mit gleich bleibender oder nur leicht gestiegener Flächenzahl. Eine AusnahmePosition nimmt in all dem Afrika ein: Der Kontinent ist tatsächlich ein Rohstoff-Produzent geblieben, so wie auch weite Teile Südamerikas. Insofern kann man eben sagen: Ja, der Süden ist der Rohstoff-Produzent, aber er ist es nicht nur: In den letzten Jahrzehnten hat die Bedeutung von Manufakturwaren im Welthandel stark zugenommen; speziell die asiatischen Entwicklungs- und Schwellenländer sind mit ihren Gütern am Weltmarkt ungemein präsent. Doch Sie fragten ja vor allem nach den Ursachen für das Nord-SüdGefälle. Ich denke, dieses hängt schon mit der Landwirtschaft und der Rohstoffproduktion zusammen, aber auf etwas andere Weise, als Ihre Frage es andeutet: Wo etwa Baumwolle an- und Kupfer abgebaut wird, kommt es zu dem Problem, dass wirtschaftliche Aktivitäten im Vordergrund stehen, die keine großen Effekte haben. Das heißt, es gehen von ihnen keine Wachstums- und Diversifizierungsimpulse aus; es gibt keine anderen Wirtschaftsfelder, die einfach andocken und sich entwickeln könnten. Wo es wie z.B. in Holland eine Pharmaproduktion gibt, sieht die Situation anders aus: Diese benötigt Forschung und Wissenschaft; verschiedenste Qualifikationen und Ausbildungen sind notwendig. Daran können viele andere Wirtschaftsbereiche anschließen, Wachstum entsteht. Das ist der Vorteil, wenn die wirtschaftliche Aktivität am oberen
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Ende der Qualifikationskette angesiedelt ist; wer hingegen mit landwirtschaftlichen Produkten oder Manufakturgütern gleichsam das untere Ende dieser Kette bildet, ist über die Zeit gesehen immer schlechter dran, weil es nicht besagte „Ausstrahlung“ in andere Wirtschaftsbereiche gibt und nicht jene Produktivität entsteht, die mit einer Pharmaindustrie verbunden ist.
Gerade diese hochqualifizierten Tätigkeiten sind aber nicht mehr bloß Sache der Industrieländer; auch die Forschungsabteilungen von Konzernen werden heute immer öfter in Entwicklungsländer und Schwellenländer ausgelagert; etwa nach China. Über 700 solcher Auslagerungen sind im letzten Jahrzehnt erfolgt, einer Unctad-Umfrage zu folgen sind rund 69% der Firmen, die solche Auslagerungen vorgenommen haben, dazu bereit, noch mehr Geld in den ausländischen Forschungsabteilungen zu investieren. Macht so besehen eine Trennung zwischen Industrie- und Entwicklungsländern überhaupt noch Sinn? Wolfgang Sachs: Globale Produktionsnetzwerke sind die Essenz der Globalisierung: Was Sie ansprechen, betrifft ja nicht nur die Forschung, sondern alle möglichen Bereiche einer Wertschöpfungskette. Es ist üblich geworden, den Produktionsvorgang so aufzugliedern, dass er aus verschiedenen Etappen besteht, wobei die einzelnen Etappen jeweils dort auf der Welt angesiedelt werden, wo ihre Realisierung am günstigsten ist. Natürlich – Wirtschaft besteht heute zu einem nicht geringen Teil aus transnationalen Produktionsketten…
Muss dann aber nicht die ganze Frage nach Ungleichheit und Ungerechtigkeit ein wenig anders gestellt werden? Wolfgang Sachs: Es gilt eine weitere, zusätzliche Frage zu stellen, denn die Existenz von transnationalen Produktionsketten ändert nichts an der Tatsache der Länder-Ungleichheiten. Die Frage, die hier nun auftaucht, ist die, wie die Verteilung von Gewinn und Entwicklungspotential entlang einer solchen Produktionskette aussieht: Wer bekommt an welcher Station wie viel? Ist der Tausch gerecht oder nicht? Im Agrarbereich etwa weisen die Ketten große Disparitäten auf: Die unmittelbaren Produzenten, die Kleinbauern, sind oft extrem unterbezahlt. Sie haben den geringsten Anteil an der gesamten Wertschöpfung; Bananen-Bauern beispielsweise erhalten laut der Organisation BANAFAIR oft weniger als einen Dollar pro gefülltem Bananen-Karton. Denken Sie daran, was Sie für einige wenige Bananen im Supermarkt zahlen und Sie wissen, wer den größten Anteil an der Wertschöpfung hat – nämlich der Einzelhandel. Wie zu den Gewin-
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Nord-Süd-Gefälle Wo die Rohstoffproduktion – der Anbau von Baumwolle, der Abbau von Kupfer – im Vordergrund steht, konzentriert sich die Wirtschaft auf Tätigkeiten von geringer Effizienz: Von letzteren gehen keine Wachstums- und Diversifizierungsimpulse aus; es entstehen keine neuen Wirtschaftsfelder (wie es z.B. in hochtechnisierten, mit wissensintensiven Produkten arbeitenden Ökonomien der Fall ist). Damit ergibt sich ein Nord-SüdGefälle: Viele Länder des Südens sind am unteren Ende der Qualifikationskette angesiedelt, während die Industrienationen am oberen Ende stehen.
nern auch die Corporations gehören, die die Bananen vom Hersteller- ins Konsumentenland transferieren. Rückt das Problem des gerechten Tausches innerhalb von Produktionsketten in den Fokus, muss es aber nicht zwangsläufig immer nur um Geld und Gewinnverteilungen gehen: Wie steht es beispielsweise um die Arbeitsbedingungen, die im Netzwerk herrschen? Was für Folgen hat es, dass nicht nur fast nichts verdient wird, sondern zusätzlich auch noch Arbeitsrechte fehlen und eigentlich die Existenz permanent gefährdet ist? Ungerecht kann auch sein, dass die Entwicklungschancen von Produzenten oder Mitarbeitern nicht gewahrt sind, ja, schlimmer noch: dass sie abnehmen, weil so wenig an Gewinn überbleibt, dass es nicht einmal ausreicht, um das weitere Leben zu bewerkstelligen.
Was bedeutet das für die Idee eines gerechten Welthandels, respektive für die Idee einer gerechten Weltwirtschaft: Was ist in welchem Zusammenhang zu tun, auf dass die Zustände gerechter werden und beispielsweise die Entwicklungschancen der Menschen wachsen statt zu sinken? Wolfgang Sachs: Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten haben wir es offensichtlich mit zwei verschiedenen Ebenen zu tun, auf denen wir ansetzen müssen: Die eine Ebene ist die – politisch besehen – globale, auf der internationale Abmachungen getroffen werden; die andere die der gerade besprochenen Produktionsnetzwerke, auf der nur die Produktionskette betreffende Abmachungen anstehen. Was gilt es nun auf diesen Ebenen zu tun? Wenn es um die internationalen Abmachungen geht, steht z.B. eine Überprüfung derselben auf ihre Menschenrechtstauglichkeit an. Würde das gemacht, müsste eine ganze Reihe von Regelungen verändert werden; z.B. jene, die Importzugänge für billige Produkte eröffnen. Denn diese können katastrophale Folgen haben, die Menschen um ihre Existenz bringen. Das war etwa der Fall, als im Senegal Billig-Hühnerschenkel aus Brasilien eingeführt wurden: Die senegalesische Hühnerindustrie ist unter diesem Ansturm förmlich zusammengebrochen. Ähnlich „funktionieren“ die europäischen Milchprodukte im karibischen Raum; die örtlichen Produzenten können mit den Dumping-Preisen nicht mithalten. Des Weiteren müsste man diese internationalen Abmachungen beispielsweise daraufhin untersuchen, ob und wie sie Arbeitsstandards fördern oder unterminieren; z.B. die Arbeitsstandards der „International Labour Organisation“. Zu tun haben dabei all das diejenigen, die für solche Abmachungen auch zuständig sind; also die staatlichen Gremien und Institutionen, die sich mit diversen nationalen und bilateralen Abkommen auseinandersetzen.
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Rücken nun die Abmachungen innerDr. Wolfgang Sachs, geboren 1946 in halb der Produktionsketten in den München, hat Theologie, Soziologie Mittelpunkt, werden andere Akteure und Strategien wichtig. Es geht dann weniger und Geschichte studiert. Lehr-, Arbeitsund Forschungstätigkeit in Berlin, um Politik und Institutionen; hier sind Rom, Pennsylvania, Essen. Seit 1993 auch die Konsumenten gefragt. Wissenschaftler am Wuppertal Institut Und diese haben mittlerweile auch Macht. Schließlich achten markenfür Klima, Umwelt, Energie. Jährlich Gastdozent am Schumacher College, orientierten Unternehmungen sehr England, sowie Honorarprofessor an darauf, nicht mit Produkten in Verbinder Universität Kassel. 1993-2001 auch dung gebracht zu werden, die ökologisch Aufsichtsratsvorsitzender von Greenoder vom Standpunkt der Menschen- und peace Deutschland. Mitglied des Club Arbeitsrechte aus bedenklich sind. Das of Rome. würde – für eine Marke desaströs – einen Zahlreiche Veröffentlichungen im InReputationsverlust mit sich bringen, der und Ausland. Zuletzt: Nach uns die möglicherweise vernichtend ist. Zukunft. Der globale Konflikt um ÖkoZudem wächst generell der Markt für logie und Gerechtigkeit (Frankfurt: Produkte, die einen ökologischen wie Brandes&Apsel Verlag, 2002) und (als „fairen“ Hintergrund haben. Kleidung ist Hauptautor) der vom Wuppertal Instiso ein Bereich; es gibt mittlerweile eine tut herausgegebene Report Fair Future. Reihe großer Händler – von Otto-Versand Begrenzte Ressourcen und globale zu H&M – die Textilien anbieten, die aus ökologischer oder auch fair gehandelGerechtigkeit (München: C.H. Beck Verlag, 2005). ter Baumwolle hergestellt werden. Viele Konsumenten wollen, wenn sie schon konsumieren, fair konsumieren – was auch dafür sorgt, dass in dem Bereich der Produktionsketten letztlich mehr in Bewegung ist als auf der internationalen Ebene.
Sie würden also meinen, dass eine neue, gerechtere Weltwirtschaft eher auf der Basis von FAIRTRADE-Initiativen entsteht und weniger ein Effekt politischen Engagements und politischer Institutionen ist? Wolfgang Sachs: Ja, denn die Welthandelsordnung ist wohl in einer Sackgasse angekommen. Selbst wenn die aktuelle WTO-Runde zu einem Abschluss kommt – ist damit wirklich etwas gewonnen oder ist das Ergebnis letztlich nicht miserabel? Denn eine globale Ökonomie hat auch für das Gemeinwohl zu sorgen; doch dazu müsste einmal danach gefragt werden, was eine internationale Handelsordnung überhaupt ist. Regeln für das internationale Gemeinwohl müssten entwickelt werden, wovon zur Zeit aber keine Rede sein kann. Auf der Ebene der Welthandelsordnung gibt es mithin kein Weiterkommen. Anders sieht es auf der Fair- und BioTrade-Ebene aus. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Politik und überhaupt: dass wir alle den Akteuren
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Ökologischer Fußabdruck Jeder Bewohner dieser Welt erzeugt mit seiner Lebensweise einen „ökologischen Fußabdruck“. Dieser gibt an, wie viel Fläche ein Mensch benötigt, um seinen Lebensstil realisieren zu können. Das heißt, es wird berechnet, wie viel Land nötig ist, um die konsumierten Mengen an Nahrung, Energie etc. zu produzieren, respektive um den erzeugten Müll wieder abzubauen. Der „ökologische Fußabdruck“ des Bewohners eines Industrielandes hat eine Größe von etwa 6,5 Hektar; derjenige eines Menschen, der in einem Entwicklungsland lebt, ist hingegen bloß 1,5 Hektar groß. Dementsprechend wird von den Bewohnern der Industrienationen viel mehr Land beansprucht, als ihnen zusteht: Von den Bevölkerungszahlen her müssten sich die Industrienationen eigentlich mit 30% der verfügbaren Biokapazität (= 11,4 Milliarden Hektar) zufrieden geben, also mit 3,42 Milliarden Hektar. 42% des realen „ökologischen Fußabdrucks“ der Menschheit von 13,5 Milliarden Hektar (!!, die Biosphäre ist mithin überbeansprucht) gehen auf das Konto der reichen Staaten, ergo 5,4 Milliarden Hektar. Das sind in Relation zu den eigentlich legitimen 30% der Biokapazität rund 2 Milliarden Hektar zu viel.
dieses Bereichs einmal genauso dankbar sein werden wie wir den ÖkoFreaks dafür dankbar sind, dass sie vor 30, 40 Jahren mit Öko-Landbau begonnen haben, als noch niemand einen Gedanken an eine solche Produktionsweise verschwendete. Im FAIRTRADE entstehen zur Zeit Infrastrukturen und Marketingstrategien, auf die man einmal wird aufsetzen können…
…um jenseits von WTO und Co. zu gerechteren Weltwirtschaftsstrukturen zu kommen? Wolfgang Sachs: Genau, ja. Wenn es um gerechten Handel und gerechtes Wirtschaften geht, sind der Fair- und Öko-Trade im Augenblick wohl das innovativste und interessanteste, das sich finden und ausmachen lässt. Und zwar deshalb, weil es hier nicht einfach nur um produzieren, distribuieren und konsumieren geht. An FAIRTRADE teilzunehmen, heißt zu lernen; zu verstehen, was es überhaupt bedeutet, Kaffee zu kaufen und zu trinken. Denn FAIRTRADE ist ja auch immer mit Informationen und Aufklärung verbunden. Auf diese Weise kann eine neue Kultur entstehen, die sich bewusst macht, welche Prozesse mit fertigen Produkten verbunden sind. Genau das ist aber die Basis für ein anderes Welthandelssystem; ein Laboratorium ist damit gegeben, das die Anforderungen für eine neue Weltwirtschaft im Kleinen erprobt. Hier passiert soziales Lernen, das Produktions- und Einkaufskulturen tangiert und modifiziert – bis irgendwann dann auch die große Politik an dieser neuen Kultur nicht mehr vorüber sehen kann und reagieren muss. Ist diese gerechtere Weltwirtschaft dann auch eine ökologischere? In dem Buch „FAIR FUTURE“, das das „Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie“ unter Ihrer Federführung herausgegeben hat, wird ein interessantes Bild entworfen: Die Biosphäre wird durch den Menschen überbeansprucht, was sich z.B. am Wachstum des „ökologischen Fußabdrucks“ der Menschheit zeigt; das sind die in Hektar umgerechneten Stoffströme, die wir verursachen, etwa in der Landwirtschaft, aber überhaupt in allen Produktionsbereichen. Im Jahr 1999 betrug der „ökologische Fußabdruck“ der Menschheit bereits 13,5 Milliarden Hektar – und war damit vor dem Hintergrund der (natürlichen) Stoffkreisläufe der Biosphäre um rund 2 Milliarden Hektar zu groß. Denn die natürliche Biokapazität beträgt, wiederum in Flächenmaßzahlen ausgedrückt, rund 11,4 Milliarden Hektar. Zum Schutze der Biosphäre muss der Ressourcenverbrauch folglich reduziert werden, was aber nicht nur ökologische Konsequenzen hat. Denn wenn man bedenkt, dass der „ökologische Fußabdruck“ zu 42% von den Industrieländern verursacht wird, bedeutet ein Zurückschrauben des Ressourcenkonsums in selbigen nicht nur eine
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ökologische Trendwende, sondern auch eine Wende hin zu mehr Fairness gegenüber den Entwicklungsländern, weil das Ungleichgewicht zwischen Nord und Süd damit automatisch kleiner wird. Unter bestimmten Bedingungen gibt es also einen Konnex zwischen Gerechtigkeit und Ökologie; speziell dann, wenn „Ressourcen-Gerechtigkeit“, wie es in „FAIR FUTURE“ heißt, ins Spiel kommt… Wolfgang Sachs: Das führt nun zwar ein wenig von der FAIRTRADEThematik weg, bringt aber einen wichtigen Aspekt in unser Gespräch ein: „Ressourcen-Gerechtigkeit“ haben wir in FAIR FUTURE deshalb als Begriff in den Mittelpunkt gestellt, weil es heute de facto nicht möglich ist, das Thema „Gerechtigkeit“ ohne das Thema „Ökologie“ zu behandeln. Noch vor 30 Jahren war das anders; damals galt noch die Logik der Moderne, die sagte: Wenn ich Ungleichheit und Ungerechtigkeit reduzieren will, sorge ich am besten dafür, dass die, die unten sind, aufsteigen können; dass es also zu wirtschaftlichem Wachstum kommt. Das ist jedoch eine Strategie, die ich nur so lange verfolgen kann, wie ich über unbegrenzte Ressourcen verfüge. Das ist heute aber nicht mehr der Fall; würde die Aufstiegsstrategie weiter verfolgt werden, würde die Biosphäre förmlich platzen. Dementsprechend muss Gerechtigkeit anders erreicht werden, und zwar über einen veränderten Wohlfahrts- und Lebensstil, der Umwelt und Ressourcenbestände nicht so belastet wie der jetzige. Nur ein ressourcenleichter Wohlstand ist ein demokratischer Wohlstand. Übrigens: Jeder Bewohner der Industrieländer hinterlässt, um an die Zahlen aus Ihrer Frage anzuschließen, einen „ökologischen Fußabdruck“ von 6,5 Hektar; derjenige eines Menschen, der in einem Entwicklungsland lebt, ist hingegen bloß 1,5 Hektar groß. Was zur Folge hat, dass die Bewohner der Industrienationen insgesamt eine viel größere Hektarzahl für sich beanspruchen, als ihnen zusteht: Von den Bevölkerungszahlen her müssten sich die Industrienationen eigentlich mit 30% der verfügbaren Biokapazität von 11,4 Milliarden Hektar zufrieden geben. 42 % des „ökologischen Fußabdrucks“ von 13,5 Milliarden Hektar gehen aber auf das Konto der reichen Staaten, ergo 5,4 Milliarden Hektar. Das sind in Relation zu den eigentlich legitimen 30% der Biokapazität rund 2 Milliarden Hektar zu viel.
Der Wohlfahrts- und Lebensstil muss sich also verändern… Was bedeutet das aber im Detail? Wie lebt man Ressourcen-Gerechtigkeit? Und: Was hat sie im Weltmaßstab betrachtet für Konsequenzen? Wolfgang Sachs: Fangen wir einmal mit der Frage an, wie man Ressourcen-Gerechtigkeit voranbringt: Für uns am Wuppertal-Institut
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Ressourcen-Gerechtigkeit „Ressourcen-Gerechtigkeit“ ist deshalb ein wichtiger Begriff, weil es heute de facto nicht möglich ist, das Thema „Gerechtigkeit“ ohne das Thema „Ökologie“ zu behandeln: Würde die alte modernistische „Aufstiegsstrategie“ – gesellschaftliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit werden durch Wirtschaftswachstum reduziert – weiter verfolgt, würde die Biosphäre gleichsam platzen. Dementsprechend muss Gerechtigkeit anders erreicht werden: Über einen veränderten, ressourcenschonenden Wohlfahrts- und Lebensstil. Soziale Gerechtigkeit und Ressourcen-Gerechtigkeit gehen so Hand in Hand: A Erst wenn die reichen Ökonomien mit einem Durchsatz an fossilen Ressourcen auskommen, der um einen Faktor 10 geringer ist als heute, sind für alle etwa gleiche Entwicklungschancen gewahrt. A Gleichzeitig wird die Biosphäre nicht weiter so in Mitleidenschaft gezogen, wie es zur Zeit passiert.
Die Realisierung von Ressourcen-Gerechtigkeit Ressourcen-Gerechtigkeit lässt sich mit den drei Strategien Effizienz, Konsistenz und Suffizienz realisieren: Effizienz: Tue das, was du tust, besser und effizienter! Technischer Fortschritt muss nicht verschwenderisch mit der Natur umgehen; er kann den effizienten RessourcenVerbrauch unterstützen. Konsistenz: Nutze statt der fossilen besser die solare Ressourcenbasis! Das heißt: Es gilt, die existierenden Naturströme – Windkraft, Wasserströmung, Sonneneinstrahlung – intelligent zu nutzen, statt fossile Stoffströme zu verursachen. Suffizienz: Brauche weniger! Werden übliche Leistungserwartungen – Erdbeeren zu jeder Jahreszeit in jedem Supermarkt! – heruntergeschraubt, können alltägliche Dinge wie z.B. Autos auf eine Weise gebraucht werden, die hilfreich ist, aber die Umwelt nicht belastet.
sind es drei Strategien, mit denen sich letztere umsetzen lässt: die Strategien der Effizienz, Konsistenz und Suffizienz. Erstens muss man die Dinge, die man tut, besser und effizienter tun. Lange Zeit ist der technische Fortschritt ja sehr verschwenderisch mit der Natur umgegangen. Mittlerweile wird auf die optimale Energie- und Stoffausnutzung bei technischen Entwicklungen größter Wert gelegt; Beispiele hierfür sind Kraft-Wärme-Kopplung bei der Energieerzeugung oder Öko-Waschmaschinen und Niederverbrauchs-Autos im Konsumbereich. Erstere brauchen heute deutlich weniger Wasser und Strom, letztere weniger Benzin. Die zweite Strategie besteht darin, von einer fossilen auf eine solare Ressourcenbasis umzusteigen, also statt fossile solare Energien und Stoffe zu nutzen. Wind- und Sonnenkraftwerke, der ökologische Landbau – sie alle vermindern die Ansprüche an fossilen Ressourcen und tragen damit zu einer größeren Ressourcen-Gerechtigkeit bei. Statt fossile Stoffströme zu verursachen, die existierenden Naturströme – Windkraft, Wasserströmung, Sonneneinstrahlung – intelligent zu nutzen: das ist eine Kunst, die neu für eine post-fossile Zivilisation erfunden werden muss. Die dritte Strategie schließlich ist jene der Suffizienz und lautet einfach: Brauche weniger! Auf welche Geschwindigkeiten sollen Autos ausgelegt sein? Brauchen wir Erdbeeren im Winter? Kann der Warenumsatz nicht anders dimensioniert werden? Kurzum, mittlere statt maximale Leistungserwartungen sind unerlässlich für eine ressourcen-leichte Ökonomie. Ein wahrhaftes Öko-Auto zum Beispiel würde die Strategien Suffizienz, Konsistenz und Effizienz kombinieren: Es würde vom Motorendesign her auf mittlere Leistung ausgerichtet sein, mit biogenem Treibstoff angetrieben werden und auf seine Komponenten bezogen eine höchst effiziente Konstruktion aufweisen.
Und der zweite Teil der Frage? Was für Folgen haben diese Strategien nun für die Welt? Inwiefern wird aus diesen Strategien „Ressourcen-Gerechtigkeit“; wie genau partizipieren z.B. die Entwicklungsländer von diesen? Wolfgang Sachs: Die Beantwortung der Frage verlangt eine kurze Zusammenfassung von bereits Gesagtem: Derzeit nehmen die Industrieländer einen unverhältnismäßig großen Teil des globalen Umweltraums in Anspruch. Gerade im Zeitalter heraufziehender bzw. bereits erreichter Grenzen der Naturbelastung geraten die Existenzrechte wirtschaftlich schwächerer Menschengruppen unter Druck, wie etwa die von indigenen Gruppen oder Kleinbauern. Überdies verbleibt für schwach industrialisierte Länder kaum mehr Raum für eine ebenbürtige Entwicklung.
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Gerechtigkeit also verlangt aus meiner Betrachtungsweise vor allem Rückzug aus der Überaneignung des Umweltraums. Oder anders in eine Zahl übersetzt: Erst wenn die reichen Ökonomien mit einem Durchsatz an fossilen Ressourcen auskommen, der um einen Faktor 10 geringer ist, dann sind für alle etwa gleiche Entwicklungschancen gewahrt. Gleichzeitig wird – und das ist ein besonders wichtiger „Nebeneffekt“ – die Biosphäre nicht weiter so in Mitleidenschaft gezogen.
Wolfgang Sachs, wir bedanken uns für das Gespräch
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Globalisierung 1400 –1500
Im 15. Jahrhundert setzen sich die unheilvollen Entwicklungen und Schwächen der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts fort, bis sich dann nach 1450 ein Aufschwung anbahnt. Es dauert viele Jahre, bis das Abendland zu seinem früheren Leistungsniveau zurückfindet. Das Frankreich des 13. Jahrhundert war dem Frankreich des 15. Jahrhunderts weit überlegen.
Venedig zählt 100.000 Einwohner.
1458 kommt es zu einem Aufblühen der Wollkunst: Die Venezianer lassen Tuch nach florentinischer Art produzieren, jedoch in Flandern oder England, wo die Arbeitskräfte billiger sind und die Vorschriften großzügiger gehandhabt werden.
England wandelt sich zu einem vom Kontinent losgelösten, autonomen Raum und kann so seine Überlegenheit am Handelssektor begründen.
Zu Beginn der Neuzeit wenden sich die Engländer mit gesteigertem Interesse den Aufgaben im eigenen Land zu.
Venedig hat auch großen Anteil an der intellektuellen Entwicklung Westeuropas. Ihm verdankt die Welt die ersten Manuskriptbibliotheken und auch auf dem Gebiet des Buchverlagswesens spielt es eine Pionierrolle. Seine Glasindustrie stellt erstmals Brillen in großem Maßstab her.
1427 werden mitten im Atlantik (etwa 1.300 bis 1.500 km von Portugal entfernt) die unbewohnten Azoren von den Portugiesen entdeckt und ab 1439 besiedelt. Für die Zuckererzeugung ist die Inselgruppe zwar so gut wie ungeeignet, bildet aber eine gute Etappe für die spätere Ausweitung des Handels im Atlantik und ermöglichte den Portugiesen eine Verbesserung ihrer Navigationskenntnisse im Atlantischen Ozean.
Christoph Kolumbus, ein genuesischer Seefahrer, der acht Jahre auf portugiesischen Schiffen verbracht hat, die zu den Inseln im Atlantik und an die Küste Guineas fuhren, unterbreitet 1484 Johann II. den Vorschlag, eine Passage in Richtung Westen zu finden. Er bittet den König, ihm einige Schiffe zur Verfügung zu stellen, um die Insel Zipango über diesen westlichen Ozean zu erreichen.
China hat im 15. Jahrhundert seine aktive Rolle im Asienhandel eingestellt und strenge Kontrollen für den privatwirtschaftlichen Handel sowie ein Embargo über den Handel mit Japan verhängt.
In der Zeit von 1400 bis 1700 erzielen die Niederlande das rascheste Pro-Kopf-Einkommenswachstum in ganz Europa, und von 1600 bis in die zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts weisen sie auch das höchste Pro-Kopf-Einkommensniveau auf.
In England entsteht zwischen 1485 und 1700 ein moderner Nationalstaat; zugleich werden dem Handelskapitalismus förderliche Institutionsstrukturen geschaffen.
Vom 16. bis zum 19. Jahrhundert ist die Handelspolitik von merkantilistischen Überlegungen bestimmt. In England ebenso wie in Kontinentaleuropa gilt es als selbstverständlich, dass der internationale Wettbewerb den Prinzipien der Beggar-your-Neighbour-Politik zu gehorchen hat.
Montierte Quellen: Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Der Handel. Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Aufbruch zur Weltwirtschaft. Angus Maddison, Die Weltwirtschaft: Eine Milleniumsperspektive. Jürgen Osterhammel, Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Wikipedia, Globalisierung (Stand: 15.8.2007). Montiert von Michaela Ritter
FairMultitude Richard Weiskopf im Gespräch mit Christian Eigner und Michaela Ritter
Wer auf die Suche nach einer gerechteren Weltwirtschaft geht, setzt sich notwendigerweise mit Systemen und Institutionen auseinander, da diese in diesem Zusammenhang eine tragende Rolle spielen. Das führt aber auch zum Thema „Organisation“ – und in weiterer Folge zu der Frage, wie es um die Gerechtigkeit und Gerechtigkeitskonstitution in Organisationen steht. Denn eventuell kann man auf diese Weise interessante Impulse für das Nachdenken über die „Organisation“ namens Welthandel erhalten… Richard Weiskopf: Damit haben Sie gleich mehrere Denkfelder eröffnet. Denn es existiert ja nicht nur eine Konzeption von „Organisation“; herkömmlichen Ansätzen stehen zunehmend neue gegenüber; dabei sind insbesondere solche interessant, in denen die Begriffe „Praxis“ und „Praktiken“ eine wichtige Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, zuerst einmal nach herkömmlichen Konzepten von Organisation zu fragen und zu überlegen, wie diese mit der Idee „Gerechtigkeit“ umgehen, um von dort aus zu Praxis-zentrierenden Ansätze und deren Gerechtigkeitsvorstellungen weiterzugehen. Prinzipiell ist aber festzuhalten, dass Gerechtigkeit für Organisationsforschung wie Organisationstheorie von zentraler Bedeutung sind – wobei ich in diesem Zusammenhang auch an die Organisation von Beziehungen und an die Organisation von Handels- und Austauschbeziehungen denke.
Existieren aber nicht auch mehrere Konzepte von „Gerechtigkeit“? Richard Weiskopf: Natürlich. Besonders interessant finde ich die Position von Jacques Derrida, der meint, dass Gerechtigkeit eine Unmöglichkeit ist, sie ist keine Präsenz, die je gegeben ist. Mit dieser Position ist auch verbunden, dass keine allgemeinen eindeutigen und abschließenden Urteile möglich sind: etwa mit Sicherheit zu sagen, „Diese Situation oder diese Entscheidung ist gerecht“ – das zu sagen ist schwer, wenn nicht sogar unmöglich. Jede Entscheidung bringt es mit sich, dass diese oder jene Möglichkeit gegenüber einer anderen bevorzugt wird, sie bringt ein “violently cutting off ” von anderen Möglichkeiten mit sich. Selbst dann, wenn man einer Gruppe gerecht wird, wird man das höchstwahrscheinlich einer anderen nicht. Immer dann, wenn jemand meint oder behauptet, gerecht entschieden zu haben, Gerechtigkeit realisiert zu haben, ist mit Derrida Skepsis angebracht: Positive Feststellungen
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von Gerechtigkeit sind seiner Ansicht etwas, das Misstrauen erwecken sollte. Zu dieser Grundidee kommt noch folgender Gedankengang hinzu: Gerechtigkeit, und auch das ist mir wichtig, ist eigentlich so etwas wie eine ‚Unendlichkeit’. Sie ist nie vollständig und abschließend bestimmbar, und hier sind wir schon beim Thema Organisation – ein Blick auf das Feld der Organisationen bzw. die organisationale Praxis bestätigt: In diesem existieren – wie im Übrigen auch in der Philosophie – so viele unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit, dass jede definitorische Eindeutigkeit illusorisch ist; dazu kommt, dass Gerechtigkeit stets von zeitlichen und räumlichen Kontexten abhängig ist.
Was bleibt dann aber noch? Richard Weiskopf: Wenn Gerechtigkeit nicht vollständig bestimmbar ist und viele Konzepte der Gerechtigkeit gleichzeitig existieren, so muss sich die Perspektive verändern: Gerechtigkeit bleibt dann eine unendliche Aufgabe; das Streben nach etwas Unmöglichem, wie es Derrida formuliert, ein Un-Mögliches, das nicht der Ordnung der Utopie angehört, sondern die „Härte, Nähe und Dringlichkeit“ des Wirklichen hat, eine Dringlichkeit im hier und jetzt, in den einzigartigen Situationen; ein Streben, dem ich aber nachgebe, wohlwissend, dass Gerechtigkeit in der Realität niemals als realisiert anzusehen ist.
Von der realisierten Gerechtigkeit also zur Bewegung auf Gerechtigkeit zu, die aber nie endet und nie enden kann. Richard Weiskopf: Ja, und von dieser Denkfigur oder Basis aus frage ich mich dann, wie das Verhältnis von Organisation und Gerechtigkeit zu verstehen ist. Freilich handelt es sich um ein ungemein komplexes Verhältnis. Denn einerseits sind Organisationen – oder auch einfach: Formen des Organisierens – Bedingungen der Möglichkeit, um – kollektives – Handeln hervorzubringen, zu dem dann Gerechtigkeitsvorstellungen dazu gehören. Organisationen erlauben also die Durch- und Umsetzung von Gerechtigkeit. Andererseits sind Organisationen aber nicht nur Ermöglicher, sondern auch Verhinderer von Gerechtigkeit; konkret dann, wenn es Entscheidungen oder Festlegungen angesichts der Heterogenität von Gerechtigkeitsvorstellungen geht. Schließlich bedeutet eine Umsetzung von Gerechtigkeit stets, dass ein bestimmtes Konzept eine Realisierung erfahren hat, also gegenüber anderen bevorzugt wurde, die gewissermaßen nicht zum Zug gekommen sind. Das scheint unausweichlich so, denn Organisationen sind in modernen Gesellschaften so etwas wie
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Gerechtigkeit ist für die Organisationsforschung ein wichtiges Konzept. Wenn auch kein einfach zu bewältigendes. Denn wie Jacques Derrida aufgezeigt hat, ist Gerechtigkeit stets eine Unmöglichkeit: Es lässt sich nicht einfach feststellen, dass etwas „gerecht“ ist; jedes positive Urteil, das immer auch ein Urteil für etwas ist, produziert nämlich automatisch Ausschlüsse – und mithin Ungerechtigkeiten. Zudem existieren unzählige Gerechtigkeitskonzeptionen, was man auch dahingehend verstehen kann, dass „Gerechtigkeit“ etwas „Unendliches“ ist. Letztlich kann „Gerechtigkeit“ deshalb nur prozessual, als unendliche Bewegung, als Streben, gedacht werden. Genau diese „unendliche Bewegung“ ist in Organisationen im Augenblick jedoch kein Thema. Denn – zumindest klassisch vorgestellte – Organisationen sind durch starke, das Allgemeine beschreibende und erzeugende Regeln gekennzeichnet. Wo aber das Allgemeine im Zentrum steht, wird das Spezifische, Singuläre leicht ignoriert. Weshalb Organisationen gleichsam automatisch Ausschlüsse und damit Ungerechtigkeiten hervorbringen. Gleichzeitig sind sie aber auch Ermöglicher von Gerechtigkeit, sind es doch paradoxerweise diese ausschlußproduzierenden Regeln, die umgekehrt wieder vor Willkür, Nepotismus und ähnlichem, ergo vor Ungerechtigkeiten, schützen. Dementsprechend ist Organisation sowohl der Anfang als auch das Ende von Gerechtigkeit – wenigstens dann, wenn es sich um klassische Organisationen handelt. Allerdings ist letzteres nicht unbedingt nötig: Es sind auch Formen des Organisierens denkbar, die über sich entfaltende und wieder zusammenfaltende Praktiken erfolgen. Konkret über Praktiken, die in dem Raum angesiedelt sind, der sich zwischen dem Allgemeinen und dem Singulären, von dem schon die Rede war, befindet. In diesem Raum können sich auch Konzepte von Gerechtigkeit ent- und wieder zusammenfalten, womit jene „Prozessualisierung“ von Gerechtigkeit möglich wird, die Derrida andeutet. Und die in der organisationalen Praxis eine „Beeinspruchung“ bestehender Organisationsregeln und damit bestehender Gerechtigkeitskonzeptionen bedeutet. Am besten realisiert sich diese „Logik“ des Organisierens und Entfaltens/Zusammenfaltens dabei vielleicht in Netzwerken, was zur Idee der „Multitude“ von Negri und Hardt hinführt – auch dann, wenn es um Fragen eines gerechten Welthandels geht.
Maschinen, die sicherstellen sollen, dass Handlungen voraussehbar, berechenbar, ja geradezu kalkulierbar sind: Organisationen schaffen (eine oft illusionäre) Eindeutigkeit. Etwa mit Regeln, die Arbeitsabläufe festlegen, Positionen definieren oder bestimmen, wie Kompetenzen oder Ressourcen zu verteilen sind. Organisationen setzen Prozeduren ein, mit denen schwierige und oft unentscheidbare Fragen in „Rechenaufgaben“ umgewandelt werden; so soll das Unentscheidbare entscheidbar gemacht werden.
Organisationen ermöglichen folglich Gerechtigkeit, bremsen aber, indem sie das tun, auch schon wieder diese „Gerechtigkeits-Bewegung“? Richard Weiskopf: Das ist der Punkt. In der klassischen Organisationstheorie wird dem aber nicht weiter Rechnung getragen; ja, in dieser wird
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vielmehr die Idee der Gerechtigkeit ausgeklammert, Gerechtigkeit wird als etwas der Organisation Externes und Fremdes aufgefasst. Traditionelle Ansätze sind dadurch gekennzeichnet, dass sie die Organisation als hierarchisches Gebilde beschreiben: An ihrer Spitze steht ein souveräner Entscheider, dem die restlichen Mitglieder unterstellt sind. Letztere haben nur zu funktionieren, und zwar nach bestimmten Regeln, die ihre Aufgaben, Pflichten und Befugnisse genau festlegen. Tauchen dann doch Fragen der Gerechtigkeit auf – z.B. der Lohngerechtigkeit –, wird das hierarchische Modell zum Beispiel durch arbeitswissenschaftliche Verfahren ergänzt, mit denen man angeblich objektiv den „gerechten Lohn“ feststellen bzw. festlegen kann. Das ist freilich eine Fiktion, weil diese Art der Objektivierung nicht möglich ist – eben weil sich Gerechtigkeit, wie ich oben kurz skizziert habe, nicht eindeutig festschreiben lässt. Die Objektivierung hat eher die Funktion eines Deckmantels oder Schutzschildes, die dazu dienen, bestimmte Ansprüche aus der Betrachtung auszuschließen; sie sollen verhindern, dass Menschen ihre Ansprüche artikulieren und gewissermaßen den effizienten Lauf der Maschine durch unbequeme Fragen stören…
…und damit einen Diskurs oder eine Auseinandersetzung beginnen, wie er für das Ringen um Gerechtigkeit symptomatisch ist? Richard Weiskopf: Ja, und dennoch kann diese AuseinandersetzungsVerweigerung nicht vollständig gelingen; der Ausschluss, der auf diese Art „organisiert“ wird, bleibt nicht ohne Folgen. Genauer gesagt: Ich glaube, um noch eine Denkfigur von Jacques Derrida zu bemühen, dass die ausgeschlossenen Ansprüche, die verletzten Gerechtigkeitsvorstellungen und -erwartungen in der Organisation gespenstisch gegenwärtig bleiben, und sie zuweilen „heimsuchen“. Aus der Organisationsforschung und -soziologie weiß man, dass es vielfältige Widerstandsphänomene in komplexen Gebilden gibt; Arbeitsfrust oder -verweigerung, innere Kündigung und ähnliches sind an dieser Stelle zu nennen. Man könnte in ihnen auch Produkte der gespenstererzeugenden Objektivierung sehen, die mittels wissenschaftlicher Berechnung von Gerechtigkeitsgrößen die Gerechtigkeit selbst verrät, die aber als verratene, wie eben die Gespenster, keine Ruhe findet: Die verratene Gerechtigkeit spukt und geistert herum, nimmt immer wieder andere Formen an; einmal ist er ein Betriebs-Unfall, dann die Arbeitsverweigerung, oder ein kleiner Sabotageakt. Mit „Wissenschaft“ lässt sich das unlösbare Problem der Gerechtigkeit also nicht lösen. Was alles in allem auch bedeutet, dass die klassische Organisationstheorie nur eine sehr unzufriedenstellende Lösung für das Thema Gerechtigkeit anzubieten hat.
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Wie passt das zu Ihrem Verweis von vorhin, dass Organisationen aber sehr wohl auch Gerechtigkeit ermöglichen? Richard Weiskopf: Dafür sorgt ja nicht die Objektivierung; die Ermöglichung von Gerechtigkeit hängt eher mit den Regeln zusammen, von denen vorher die Rede war: Welche Rolle können diese im Hinblick auf die Reüssierung von Gerechtigkeit in Organisationen spielen? Wieder kommen wir hier zu einem komplexen und widersprüchlichen, ja fast schon aporetischen Verhältnis. Auf der einen Seite ist nämlich ganz klar, dass ohne Regeln Gerechtigkeit in Organisationen nicht reüssieren kann. Auf der anderen Seite sind generelle Regeln hochproblematisch, weil sie in ihrer Allgemeinheit der Singularität eines Einzelfalls eventuell größtes Unrecht zufügen können. Ich finde in diesem Zusammenhang die Überlegungen Zygmunt Baumans hochinteressant. In seinem Buch Modernity and the Holocaust macht er deutlich, welche fatalen Folgen allgemeine, speziell bürokratische Regeln, Objektivierung und die Produktion sozialer Distanz haben können. Sie stellen einerseits Effizienz sicher, sie haben aber auch das Potenzial dazu, den „moralischen Impuls“ des Menschen zu zerstören. Sie lassen uns gewissermaßen den Schlaf des Gerechten schlafen, der die Ungeheuer hervorbringt. Einfach, weil sie mit ihrer Fixierung auf das so genannte Allgemeine die Bereitschaft und Fähigkeit der Menschen unterminieren können, sich auf einzelne, konkrete Personen einzulassen. Was auch der Ausblendung von Gerechtigkeit entspricht, respektive dafür sorgt, dass man nicht mehr versucht, dem Einzelnen gerecht zu werden. Aus diesem Grund ist Bauman generell gegenüber Regeln und Organisationen sehr kritisch eingestellt; ja, in seinem Holocaust-Buch könnte man den Eindruck gewinnen, dass er eine „Anti-Organisations-Position“ einnimmt. Was dann auch wieder problematisch ist, weil Regeln und Organisationen eben erst Gerechtigkeit möglich machen; ein Faktum, auf das selbst so organisationskritische Autoren wie Adorno hingewiesen haben. Es ist tatsächlich eine Paradoxie: Generelle Regeln, abstrakte Verfahrensweisen, wie sie für Organisationen typisch sind, sorgen einerseits dafür, dass dem Einzelnen gegebenenfalls nicht mehr Gerechtigkeit zukommt, andererseits sind sie doch eine notwendige Bedingung der Gerechtigkeit, ein Schutz gegen Willkür, Nepotismus und Zufälligkeit. Kurz: Es ist schwer zu sagen, ob die Organisation der Anfang oder das Ende der Gerechtigkeit ist!
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Zumindest bezüglich der klassischen Organisation, respektive: bezüglich klassischer Formen des Organisierens stellt sich diese Frage. Wie kann man sich den Zusammenhang von Organisation und Gerechtigkeit auch anders vorstellen? Anfangs haben Sie ja bereits von Organisationsweisen gesprochen, in denen „Praxis“ oder „Praktiken“ eine zentrale Rolle und Funktion einnehmen. Richard Weiskopf: Ich möchte noch einmal den Gedanken von vorhin aufgreifen: Allgemeine Regeln sind also die notwendige Bedingung von Gerechtigkeit, sie müssen aber, so könnte man auch sagen, im Lichte der Umstände gebrochen werden, wenn dem Einzelnen Gerechtigkeit widerfahren soll. Zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelfall, der Singularität, besteht damit aber nicht nur ein Paradox; zwischen ihnen liegt auch ein Zwischenraum – ein Zwischenraum, der immer wieder neu zu füllen ist…
…die „Unendlichkeit“ der Gerechtigkeit, von der oben die Rede war… Richard Weiskopf: …wobei dieser Zwischenraum auch der Raum ist, in dem die „Praktiken“, nach denen Sie fragen, angesiedelt sind. Man könnte auch sagen: der Zwischenraum ist der Raum der Faltung im Sinne von Gilles Deleuze, d.h. hier ereignet sich die Faltung, Entfaltung und Wiederfaltung, der Aufbau und Wiederabbau von Ideen und Konzepten und Regelsystemen – mithin die Faltung dessen, was Gerechtigkeit ermöglicht und zugleich, wie wir gesehen haben, verunmöglicht. Gerechtigkeit wird so zu einem Prozess und ist nicht länger mehr ein fest gefügtes Gebilde; sie bleibt – und das meint der Begriff der Faltung – in Bewegung und ist offen; auch für diejenigen, die eigentlich durch das spezifische Regelsystem ausgeschlossen sind, es nun aber prinzipiell beeinspruchen und neu ausrichten, ergo ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit einbringen können. Zur Gerechtigkeit, oder wenn Sie so wollen, zur „gerechtigkeitsfähigen Organisation“, gehört auch die Fähigkeit und Bereitschaft, sich sozusagen von Außen infrage stellen zu lassen – was doch etwas anderes ist als jene Logik, die oben skizziert wurde. Eine solche prozessuale Gerechtigkeit braucht aber auch eine andere Konzeption von Organisation. Diese ist dann klarerweise kein hierarchisches, starres Gefüge mehr, sondern wird mit der Gerechtigkeit gewissermaßen „mit-dynamisiert“: Die Gerechtigkeit, das Verlangen nach Gerechtigkeit, ist die Antriebskraft, die immer wieder zur Öffnung und Infragestellung von festgefügten Strukturen und Abläufen führt, d.h. die Organisation gleichsam an ihren eigenen Anfang zurückführt.
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Ein spannender Gedanke, irgendwie aber auch ein unvorstellbarer: Was für ein Aussehen kann eine solche Organisation haben? Richard Weiskopf: Diese Frage könnte man auch so verstehen: Wie lässt sich die Infragestellung, von der ich sprach, realisieren oder praktisch umsetzen? Wie kann die Beeinspruchung aussehen? Das Wichtigste ist, dass diese Beeinspruchung möglich ist. Wie das genau passiert oder ‚organisiert‘ werden kann, ist ein eigenes Thema; fürs erste einmal zählt, diese Möglichkeit als solche prinzipiell zu eröffnen: Wer sich durch die bestehenden Regeln ungerecht behandelt fühlt, soll das sagen können, soll Gehör finden. Der Ausgeschlossene soll eine Stimme bekommen. Im Detail wird das natürlich wieder zu Regeln, zu Regelungen führen; zu Organisationsweisen und Abläufen. Die dann aber eben wieder beeinspruchbar sein müssen…
…womit wir wieder bei Faltung / Wiederfaltung sind… Richard Weiskopf: …aber auch noch bei etwas anderem: Man könnte eventuell die Idee der „Unternehmensverfassung“ wieder aufgreifen – diese aber auch anders denken, als dies in konsensorientierten Modellen der Fall ist. Nicht um Konsens im Sinne „Wir sind ein Team und wollen alle das gleiche!“ würde es dabei gehen, sondern um Differenz und Differenzbetonung. Das würde nicht nur zu anderen Unternehmensverfassungen führen, sondern die Idee der Unternehmensverfassung selbst hinterfragen: Statt einer solchen gälte es einen Dialog zu institutionalisieren, der die Unterschiede zwischen den Organisationsmitgliedern herausarbeitet und als solche stehen lässt. Ein differenzproduzierendes Forum würde das z.B. leisten, also ein Forum, an dessen Ende nicht der Konsens, sondern die Vielzahl von Positionen steht. Aber natürlich gilt auch hier: Ohne Regelsysteme geht das nicht – und die Regelsysteme sind mit all den Problemen und Effekten behaftet, die schon erwähnt wurden.
Lässt sich eine solche Form des Organisierens aber auch auf Welt-Ebene realisieren – z.B. innerhalb von Handelsketten, oder als Basis neuer Handelsketten? Richard Weiskopf: Ich würde meinen, dass sich solche Prozesse – und um die geht es letztlich ja: um Prozesse und ein prozessuales Denken – auf allen Ebenen realisieren lassen. Etwa in Netzwerken des Organisierens, die das Konzept der Multitude verwirklichen. Mithin jene Idee, die Antonio Negri und Michael Hardt in Empire formuliert haben: Es geht darum, eine Multitude, d.h. Singularitäten, die gemeinsam handeln, zu schaffen;
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Richard Weiskopf, geboren 1963, ist außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Organisation und Lernen an der Universität Innsbruck. Er beschäftigt sich mit der Analyse und Kritik von Management- und Organisationspraktiken vor dem Hintergrund poststrukturalistischer Philosophie. Derzeit arbeitet er an dem FWF-Projekt „organizing work and the work of organizing as ethico-aesthetic practice“, in dem es um die Erforschung von Arbeits- und Organisationsformen im Kultur- und Kreativsektor geht sowie um die Erarbeitung eines Organisationskonzepts, das ethische und ästhetische Praktiken impliziert. (www.re-creating.org) Ausgewählte Veröffentlichungen: Menschenregierungskünste. Anwendungen poststrukturalistischer Analyse auf Management und Organisation (Westdeutscher Verlag, 2003), Management, Organisation und die Gespenster der Gerechtigkeit, In: Schreyögg, G./ Conrad, P. (Hg.): Managementforschung 14 (2004), S. 211–251; Gouvernementabilität: Die Produktion des regierbaren Menschen in postdisziplinären Regimen, In: Zeitschrift für Personalforschung, 2005, S. 289 –311; Die Anordnung der Leidenschaften (gem. mit G. Krell, Passagen Verlag, 2006; A snake’s coils are more intricate than a mole’s burrow’. Individualization and subjectification in post-disciplinary regimes of work, (gem. mit B. Loacker), In: management review 2006, S. 395 – 419; Filling the Empty Shell. The public debate on CSR in Austria as a Paradigmatic example of a Political Discourse (gem. mit B. Mark-Ungericht), In: Journal of Business Ethics, 2006.
eine Bewegung in Gang zu setzen und zu halten. Dazu sind transversale Verbindungen, Verknüpfungen nötig. Organisieren bedeutet hier also etwas anderes, als abgeschlossene Einheiten zu schaffen. Wo eine Vielheit in eine Multitude verwandelt wird, wird der Weg der klassischen, hierarchischen Organisation verlassen; es gibt kein eindeutiges Innen und Außen mehr; alles – auch die Regelwerke – bleiben in Bewegung.
Von FAIRTRADE also zu FairMultitude also… Richard Weiskopf: Sozusagen…
Richard Weiskopf, wir danken Ihnen für das Gespräch!
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UN/FAIR TRADE
Die Kollateralschäden des Konsumerismus von Zygmunt Bauman
Mit dem FAIRTRADE-System die Welt fair-ändern von Karin Astelbauer-Unger
Die gefrorenen Hühnerflügel und das Wunder der Wüste von Karin Küblböck
FAIRTRADE und regionale Selbstversorgung in der Landwirtschaft von Sarah Laeng-Gilliatt
Für eine weniger ungleiche Welt von Branko Milanovic
Wissen – Kommodifizierung – An/Enteignung: FAIR?? – NOT AT ALL! von Margit Franz
Die Kollateralschäden des Konsumerismus Von Zygmunt Bauman
Im Zuge der „Slum Talks“, die während des „steirischen herbst“ 2006 in der Neuen Galerie Graz stattfanden, versuchte Zygmunt Bauman aufzuzeigen, welche Prozesse Armut erzeugen und, noch wichtiger, welche Folgen diese Armut haben kann. Sein – durchaus als Provokation zu verstehender – Beitrag steht deshalb am Beginn des Buchabschnitts. Um eindrucksvoll daran zu erinnern, was es bedeutet, von wirtschaftlichen Dynamiken und Netzwerken ausgeschlossen zu sein. Die Redaktion I Kollateralschäden, Konsumerismus und funktionslose Arme Der Begriff „Kollateralschaden“ hat – zumindest im Englischen – eine militärische Wurzel. Das heißt, er kommt aus dem Militärjargon und wird im Kriegsfall angewendet. Konkret dann, wenn es z.B. zu einem Angriff auf einen Ort kommt, in dem angeblich Terroristen und Selbstmordattentäter ausgebildet werden: Sterben im Zuge des Bombardements ein Dutzend Frauen und Kinder, die gerade in der Nähe waren, sind diese ein typischer Fall von Kollateralschaden. Ihr Tod war nicht beabsichtigt; er ist einfach „passiert“, als eine Art versehentliches Nebenprodukt des Krieges. Kollateralschäden gibt es aber nicht nur dort, wo Konflikte mit Waffengewalt ausgefochten werden. Mein Fokus liegt auf jenen „Kollateralschäden“, die der Konsumerismus anrichtet. Und es gibt genug Menschen, die aufgrund der existierenden Konsumkultur leiden müssen – unbeabsichtigt leiden müssen. Ihr Leiden ist gleichsam ein Versehen, mit dem niemand gerechnet hat. Und das eng mit Armut verknüpft ist: Das wunderbare, üppige und aufregende Leben, das wir Konsumleben nennen, basiert darauf, dass wir neue Dinge kaufen und alte wegwerfen. Wenn ein neues Mobiltelefon auf den Markt kommt, entsorgen wir kurzerhand das alte – genau so, wie der alte Computer gegen den neuen ausgetauscht wird; angeblich, weil dieser „mehr kann“, wie man sagt. Das gleiche geschieht mit Autos – und sogar mit Lebenspartnern. Das alles ist furchtbar aufregend; es hat etwas von einem Abenteuer.
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Doch nicht alle können an diesem aufregenden Fest teilnehmen. Konkret jene nicht, die kein Bankkonto und keine Kreditkarten haben und einfach kein verdientes Geld ausgeben können, weil sie einkommenslos sind. Natürlich handelt es sich bei diesen Menschen schlichtweg um Arme, und diese sind als Phänomen nichts Neues: Soweit wir im historischen Gedächtnis zurückgehen können, hat es immer Armut gegeben. Und die Chancen, eines Tages eine Gesellschaft ohne Armut zu haben, sind relativ gering. Ja, es ist fraglich, ob eine armutslose Gesellschaft überhaupt existieren kann, wenn man all die Versuche betrachtet, die – mit mehr oder weniger Erfolg – in Richtung Abschaffung der Armut gingen. Nicht nur Krieg fordert ungewollte – zivile – Opfer; solche so genannten „Kollateralschäden“ bringt auch der aktuelle „Konsumerismus“ hervor. Und zwar insofern, als dass es heute fatale Folgen hat, nicht ein Konsum-Leben leben zu können: Wer über kein Konto oder über keine Kreditkarten verfügt, gehört rasch zu den Armen. Was insofern problematisch ist, als dass die Armen erstmals in der Geschichte keine Funktion haben. Denn früher waren es die Armen, an denen man etwa – mittels Gaben – seine Tugendhaftigkeit beweisen konnte. Wie selbige auch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch als „Reservearmee“ an Arbeitskräften fungierten, die bei Bedarf wieder in die wirtschaftliche Produktion zurückkehrten – und deshalb auch vom Sozialstaat gut versorgt wurden. Mittlerweile geht es aber vor allem darum, durch Konsum (und nicht durch Produktion) das Bruttonationalprodukt zu steigern. Konsumieren ist jedoch eine augenblicksbezogene Tätigkeit; einen „Reserve-Konsumisten“ gibt es nicht. Wer nicht konsumiert, ist deshalb schlichtweg nutzlos – er oder sie ist zu „verworfenem Leben“ geworden. Dass es verworfenes Leben allerdings überhaupt geben kann, daran hat nicht nur der Konsumerismus Schuld. Der Ursprung dieser Entwicklung liegt in der Logik der Moderne, in der permanent neue, noch perfektere und ästhetischere Lösungen für gesellschaftliche Strukturen und Ordnungen hervorgebracht werden sollten. Durch diese Logik wurden Exklusionsprozesse in der europäischen Kultur „normal“ (wer nicht in die aktuelle ästhetische Ordnung passte, wurde im Extremfall sogar ermordet) und führte zu jenen gewaltigen Migrationsbewegungen in ferne Länder und Kontinente, die das 18. wie 19. Jahrhundert kennzeichneten. Für lokale Probleme wurden auf diese Weise globale Lösungen gefunden – eine Strategie, die heute nicht mehr möglich ist. Was sich u.a. in den problematischen Migrationsbewegungen der Gegenwart zeigt. Die Kollateralschäden des Konsumerismus werfen mithin Schwierigkeiten auf, die alles andere als leicht zu bewältigen sein werden. Wobei den Armen vielleicht aber doch noch eine andere Aufgabe zukommt: Da die Mitglieder der neuen Unterschicht den Konsumbürgern – angeblich – nach Leib und Leben trachten, kann der Staat angesichts solcher „Bedrohungen“ zur „LeibesSchutzmacht“ werden. Und so über die Armen eine neue Legitimation finden. Neu ist jedoch, dass Armut in der Konsumkultur eine andere Bedeutung hat als in früheren Jahrhunderten: Zum ersten Mal können wir behaupten, dass arme Menschen für die Gesellschaft keine Rolle spielen und für sie keine Funktion haben. Was gravierende, weitreichende Konsequenzen für die Menschenwürde und das menschliche Überleben hat. Denn die Armen gehören damit gewissermaßen zur Kategorie des
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„unwerten Lebens“, um einen Begriff zu nutzen, der vor nicht allzu langer Zeit geprägt wurde. Sie sind Menschen, deren Leben nichts wert ist und die nicht am Leben erhalten werden sollten. Was auch impliziert, dass es der Gesellschaft ohne diese Menschen besser ginge; wenn sie also ihre Sachen packten und fortgingen, stürben oder einfach nicht mehr da wären. Zum ersten Mal haben die Armen keine Funktion mehr. Das Leiden, das daraus entsteht, ist der Kollateralschaden des Konsumerismus.
II Vom Reservisten zum „fehlerhaften Konsumenten“ Das ist ein gravierender Traditionsbruch. Denn im europäischen Mittelalter haben Arme eine sehr wichtige Rolle gespielt. Sie gaben Gelegenheit für gute Taten, Wohltätigkeit und Tugendhaftigkeit; an ihnen konnte man die eigene Seele retten und den ewigen Segen im Himmel verdienen. Dann kam die moderne Gesellschaft, in deren ersten, frühen Stadium unsere Vorfahren hauptsächlich Produzenten, Arbeiter und Soldaten waren. Im Kriegsfall ermöglichten sie es ihrem Land, Feinde abzuwehren oder sogar feindliches Gebiet zu erobern und zu kolonialisieren. In Friedenszeiten schufen sie Wohlstand, dessen Umfang durch die Anzahl der fähigen Männer bestimmt wurde, die in den Fabriken durchhielten und unter harten Bedingungen arbeiteten. Wenn es – z.B. im Zuge einer Wirtschaftskrise – vorübergehend keine Arbeit gab, waren sie arbeitslos, gerieten also in eine abnorme Situation, denn normal war es freilich, Arbeit zu haben: Die Arbeitslosigkeit war die Ausnahme von der Regel. Weshalb unsere Vorfahren im Zustand der Arbeitslosigkeit einer Reservearmee glichen; einer Reservearmee der Arbeiter, die nur darauf wartete, zum Einsatz zu kommen. Jeder General wird betonen, dass man für Reservisten gut zu sorgen hat: Es könnte ja sein, dass man diese zurück in den Dienst beruft, in dem sie dann fit sein müssen. Reservisten müssen deshalb gut genährt, ordentlich ausgebildet und gesund sein. Auch wenn sie gerade nicht gebraucht werden, haben sie eben eine Funktion. Während des gesamten 20. Jahrhunderts blieben arme Menschen also von gesellschaftlicher Bedeutung. Im Wohlfahrtsstaat, oder wie ich lieber sagen möchte: im Sozialstaat, kulminierte das Bemühen um etwaige Reservisten, von denen man annahm, dass sie auch wieder leistungsfähig sein würden. Sie wurden deshalb auch in die kollektiven Anstrengungen der Nation eingeschlossen: Alle waren sich darin einig, dass eine
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Investition in Arme eine gute Investition ist. Sie zahlt sich aus, weil die Nation dadurch gestärkt wird. Doch dieses Denken der Produktionsgesellschaft gilt heute nicht mehr. Nun ist es erstmals in der Geschichte so, dass arme Menschen abgelehnt werden und keine Funktion mehr haben: Eine Armee von Reservearbeitern und -produzenten ist ja sinnvoll – aber welchen Sinn haben Konsumreservisten? Der Wohlstand einer Nation wird am BNP, am Bruttonationalprodukt, festgemacht. Dieses wird über die Geldmenge, die in Umlauf ist, errechnet. Wenn vermehrt gekauft und konsumiert wird, steigt das BNP; beispielsweise sogar dann, wenn jemand einen Unfall hat und den Arzt für seine Dienstleistung bezahlt. Anders als zu einer Produktionsgesellschaft können Arme zu einer solchen Sozietät nichts beitragen: Sie sind Menschen, die den Wohlstand einer Nation nicht vermehren. Sie sind gleichsam fehlerhafte Konsumenten. Was offensichtlich sehr beunruhigend ist. Und den Effekt hat, dass der Abbau des Sozialstaats sowohl von rechts wie auch von links vorangetrieben wird – und zwar zum Wohle der Nation und gegen jedes schlechte Gewissen, das vielleicht doch existiert.
III Verworfenes Leben – und kategorischer Mord Arme und arbeitslose Menschen werden schlichtweg als „überflüssig“ bezeichnet. Wo noch von Arbeitslosigkeit die Rede ist, bleibt die Hoffnung bestehen, dass die von selbiger Betroffenen mit entsprechender Hilfe eines Tages wieder zu normalen Mitgliedern der Gesellschaft werden können. Der Begriff ‚überflüssig‘ birgt keine solche Hoffnung in sich, sondern klingt nach Aussichtslosigkeit. Denn wer überflüssig ist, ist nutzlos. Er wird nicht gebraucht, und der Gesellschaft ginge es eindeutig besser, wenn es ihn nicht gäbe. Das soll nicht heißen, dass unsere Gesellschaft die Armen verhungern lässt. Schließlich besteht diese aus Menschen, die ein Herz und Gefühle haben und über einen natürlichen Instinkt verfügen, jemandem in Not zu helfen. Aber – es gibt kein vernünftiges, rationales Argument mehr für diese Hilfestellung. Der ethische Impuls ist nicht mehr im rationalen Denken verankert: Die Menschen können sich nur mehr von ihrer Herzenswärme, von ihrer moralischen Überzeugung leiten lassen. Und letztere ist ein wackeliger Boden für eine systematische Betreuung von Armen. Ich nenne das Leben dieser neuen Armen, die nutzlos sind und nicht zur Konsumgesellschaft gehören, „verworfenes Leben“. Dieses „verworfene
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Leben“ ist ein Phänomen der Moderne und kann als das Resultat von zwei Prozessen betrachtet werden, die immanent zur Moderne gehören: Der eine ist die Schaffung von Ordnung. Modernes Leben kann auch als Lebensstil definiert werden, in dem Ordnung ständig optimiert wird. Eine Ordnung wird durch eine nächste ersetzt; ganz so wie bei der Gartenarbeit: Wird ein Garten neu angelegt, legt man fest, wo die Blumen, die Büsche und wo die Obstbäume angelegt werden sollen. Und ganz so wie die Gartenarbeit sieht sich auch das moderne Leben immer wieder mit einem bestimmten Problem konfrontiert. Nämlich mit dem, dass – nachdem alles im Sinne einer bestimmten Ästhetik angelegt wurde – diese Ästhetik nicht durchgehalten werden kann. So wie der Gärtner feststellen muss, dass plötzlich einige Pflanzen an einem Platz wachsen, an dem sie nicht wachsen sollen, müssen auch die Menschen der Moderne feststellen, dass die gesellschaftliche Ordnung nicht durchgängig ist. Und wie der Gärtner seinem „Unkraut“, das die Ästhetik des Gartens stört, mit Unkrautvernichtungsmitteln zu Leibe rückt, so greifen auch die Modernisten im Extremfall zu drastischen Mitteln: Bestimmte, nicht passende Kategorien von Menschen werden kurzerhand ausgelöscht. Es passiert ein kategorischer Mord, ein Genozid, der ein konstanter Trend der Moderne war. Menschen werden mithin umgebracht, weil sie der falschen Kategorie angehören. Es geht nicht um ihre Taten. Es geht darum, dass für ihre Kategorie in der idealen ästhetischen Ordnung kein Platz ist. Oder genauer gesagt: In der idealen Ordnung, die gerade geschaffen wurde. Und auf die wieder eine andere Ordnung folgen wird, weil es zum modernen Leben gehört, zwanghaft zu modernisieren. Eine Moderne, die nicht modernisiert, wäre wie ein Wind, der nicht weht oder wie ein Fluss, der nicht fließt – sie wäre folglich eine contradictio in adiecto. Wird aber modernisiert, wird auch ausgeschlossen, ja: der Ausschluss einer Kategorie von Menschen, die nicht dazu passt, ist untrennbar mit unserem modernen Lebensstil verbunden. Der zweite Prozess, der verworfenes Leben oder auch verworfene Menschen hervorbringt, ist der so genannte wirtschaftliche Fortschritt. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass man lernt, dieselben Dinge mit weniger Aufwand, weniger Arbeit und weniger Ausgaben zu machen. Das inkludiert aber auch, dass einige Verdienstarbeiten nicht mehr konkurrenzfähig sind und damit abgeschafft werden müssen. Was diejenigen betrifft, die von diesen Arbeiten gelebt haben: Sie werden mit letzteren zusammen ausgeschlossen. Sie gehen gleichsam über Bord und können nicht am fortschreitenden Wirtschaftswunder teilhaben.
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IV Lokale Lösungen für globale Probleme. Und umgekehrt Europa war die erste Region auf diesem Planeten, in der die Moderne als Lebensstil Einzug gehalten hat. Europa war damit auch die erste Region, in der verworfenes Leben produziert wurde. Überflüssige Menschen, die den falschen Minderheiten angehörten, nicht in die neueste gesellschaftliche Ordnung passten oder einfach nicht mehr konkurrenzfähig waren, wurden eliminiert. Und zwar indem sie, es war ja die Ära des Imperialismus und Kolonialismus, nach Amerika, Australien, Neuseeland oder in Teile Afrikas und Asiens exportiert wurden – oder sich selbst dorthin exportierten. Dort angekommen blieben diese Menschen aber Europäer, die ihr Leben in einem Land neu aufbauten, das aus der privilegierten europäischen Position betrachtet leeres Land, Niemandsland, war. Es waren Territorien, die für Kolonialisierung und eine bessere Nutzung offen standen. Europa befand sich damit in der überaus günstigen Lage, für seine lokalen, modernisierungsbedingt entstandenen Probleme globale Lösungen zu finden. Mittlerweile hat die Moderne aber buchstäblich die Welt erobert. Überall, auch an den entferntesten Plätzen, wird heute modernisiert. Was nichts anderes bedeutet, als dass auf der ganzen Welt verworfenes Leben produziert wird. Ohne dass es aber nun noch Territorien gibt, in die ausgewichen werden kann. Es gibt keine globale Lösung für lokale Probleme mehr! Würden die überflüssigen Menschen einfach auf einen anderen Kontinent geschickt, würden sie dort nicht aufgenommen. Vielmehr würden Sie von den Zielländern wieder zurückgeschickt. Was vertraut erscheint: Die Migrationsbewegung in der Welt ist nicht größer als vor 100 oder 200 Jahren – sie geht nur in die andere Richtung. Sie führt nicht aus Europa weg, sondern geradewegs nach Europa hinein, wo aber die Zielländer nicht bereit sind, diesen Zufluss zu akzeptieren. Das bringt die „Newcomer“ im Feld der Modernisierung in größte Schwierigkeiten: Sie können eben nicht wie Europa eine globale Lösung für ihr lokales, aus der Modernisierung entstandenes Problem des verworfenen Lebens finden. Im Gegenteil – die globalisierte Moderne fordert von ihnen, eine lokale Lösung für globale Probleme zu finden! Womit sie mit einer unlösbaren Aufgabe konfrontiert sind. Ein Beispiel hierfür bietet die Elfenbeinküste, eines der ärmsten Länder der Welt. Als vor einigen Jahren Tanker in Amsterdam versuchten, ihre giftigen Industrieabfälle loszuwerden, und – von den Kosten in der Höhe von 500.000 Dollar abgeschreckt – nach Afrika weiterfuhren, boten örtliche Unternehmen an der Elfenbeinküste an, den Giftmüll für wenige tausend Dollar zu übernehmen. Es wurden kuzerhand LKWs gemietet und die Ladung an 18 verschiedenen Orten verteilt. Die giftige
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Flüssigkeit landete auf den Feldern der Armen – was zur Folge hatte, dass 85.000 Menschen medizinisch behandelt werden mussten. Das ist nicht nur eine „Lösung“ für ein globales Problem – es ist auch das, was ich oben mit Kollateralschaden meinte: Das sind die Kollateralschäden des Konsumerismus!
V Politisch hilfreiches Bedrohungspotenzial „Unterschicht“ Vielleicht kommt den Armen aber doch eine Funktion in unserer Gesellschaft zu. Ich denke in diesem Zusammenhang an die Manipulation der Angst. Womit folgendes gemeint ist: Angst und Furcht sind heute allgegenwärtig. Beide basieren auf einem Phänomen, das „existentielle Unsicherheit“ genannt wird: Wir leben in unsicheren Zeiten; es gibt wenig, worauf man zählen kann und die Zukunft ist zunehmend unvorhersehbar, überraschend und ungewiss. Das macht freilich Angst, da damit bestimmte Aspekte von Sicherheit nicht mehr gegeben sind. Denn Sicherheit bedeutet ja vielerlei: Sicherheit steht einmal dafür, dass ein selbstbewusstes Agieren möglich ist. Man verfügt über Daten und Material und über Konstanten, mit denen man rechnen kann. Was eben Sicherheit gibt. Sicherheit steht aber auch für echte Sicherheit. Wer über diese echte Sicherheit verfügt, weiß, wo er im Leben steht und die gesellschaftliche Position ist gefestigt. Eine Identität besteht, zu der auch gehört, dass man um die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten, aber auch um die eigenen Grenzen weiß. Und schließlich steht Sicherheit auch noch für körperliche Integrität. Der Leib muss sicher, geschützt, sein – und mit ihm das, was über ihn hinaus geht: Das Eigentum, aber ebenso die Straße, auf der man sich bewegt bis hin zu den Nachbarn, mit denen man lebt. Man sollte keine Überraschungen fürchten müssen. Diese Sicherheiten sind heute eben ein Problem. Was auch politisch relevant ist. Denn jede Regierung, jeder Staat muss sich legitimieren, wie schon Max Weber gezeigt hat. Immerhin wird von den Bürgern ja verlangt, dass sie Gesetze einzuhalten haben – weshalb dann auch erklärt werden muss, warum die Regierungen gleichsam ein Recht darauf haben, dass das tatsächlich passiert. In der Regel wird dann darauf verwiesen, dass der Staat die Bürger schützt, etwa vor unangenehmen Überraschungen und vor unerwarteten Abenteuern im hohen Alter. Wie er auch Schutz im Falle von Krankheit, Invalidität und Arbeitslosigkeit gewährt. Die Legitimation erfolgt also über den Sozialstaat – was jedoch im Rahmen der Globalisierung immer schwieriger wird. Weil eben die Armut ein anderes
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Gesicht erhalten hat, weil sich die Migrationsbewegungen verändern, weil die Armen keine Reservearmee mehr darstellen; weder für den Arbeitsmarkt noch für das wirkliche Militär – diese Entwicklungen wurden oben schon aufgezeigt. In dieser Lage können die Regierungen auch nicht mehr auf die Legitimationsstrategien zurückgreifen, die Max Weber vor hundert Jahren beschrieben hat. Nämlich auf den Appell zur Disziplin im Namen der umfassenden Sicherheit, die der Staat allen seinen Bürgern bietet. Was bleibt dann aber den Regierungen, wenn sie ihren Machtanspruch legitimieren wollen? Sie müssen sich auf die dritte oben genannte Sicherheitsdimension beschränken, also auf die Sicherung von körperlicher Integrität, Besitz und allem, was sonst noch zu dieser Ebene gehört. Alle jene, die Macht haben – und in der Regel ist das in Europa der Staat –, fokussieren auf diese gefährdete Sicherheit des Leibes. Und auf die Furcht, die mit dieser Gefährdung einhergeht.
Zygmunt Bauman, geboren 1925, ist Emeritus für Soziologie an der Universität Leeds. Bekannt wurde er in den letzten 20 Jahren u.a. mit seinen Untersuchungen über den Zusammenhang von Moderne und Totalitarismus. In den 1990er Jahren wurde er zu einem Pionier eines postmodernen soziologischen Denkens, in dessen Mittelpunkt Fragen der Kontingenz und des „Liquiden“ standen. Er erhielt zahlreiche Preise und Ehrungen, u. a. den Amalfi-Preis für Soziologie und den T.W.Adorno-Preis der Stadt Frankfurt. Zu seinen bekanntesten Publikationen gehören Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Postmoderne Ethik, Unbehagen in der Postmoderne oder Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne (alle Hamburger Edition HIS Verlagsges.mbH), wobei letzteres 2005 erschien.
Gefährdungspotenziale gibt es dabei genügend: Wir fühlen uns bedroht von Bettlern, Einbrechern, Dieben, Vergewaltigern und Terroristen. Ein wahrer Speicher für eine große Menge potenzieller Bedrohungen ist dabei die so genannte „Unterschicht“; ein Begriff, der erst jüngst geprägt wurde. Unter ihn werden all jene subsumiert, die ein gemeinsames Charakteristikum haben – und zwar für nichts gut zu sein. Zur Unterschicht gehören die Parasiten, die Schmarotzer des nationalen Wohlstands. Wer das genau ist, bleibt unklar, weshalb die Unterschicht auch einen so guten Speicher für eine ganze Menge potenzieller Bedrohungen abgibt. Damit tut sich aber eine neue nützliche Aufgabe für die Armen auf: Sie werden zu einer Art „politischem Kapital“, mit dem sich Staat und Regierungen legitimieren lassen. Der Staat als Schutzmacht, die die Bürger vor den Gefährdungen, die von den Armen ausgehen, bewahrt.
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VI Ungewisse Konsequenzen Zudem kommt den Armen möglicherweise in Zukunft noch eine weitere Funktion zu: Sie könnten als lebendiges Beispiel dafür dienen, wie die Alternative zum Konsumleben aussieht. Das heißt, wenn jemand auf die Idee kommt, auszusteigen, weil er einfach nicht mehr den neuesten Produkten nachhetzen möchte, die er ohnedies nur ein paar Monate später auf den Müll wirft, so soll ihm klar sein, dass nach dem Ausstieg das Leben eines Armen wartet. Und er soll wissen, wie dieses Leben aussieht. Dieses Wissen wird ihm dann helfen, der Versuchung, aus dem Konsumspiel auszusteigen, zu widerstehen. Denn natürlich besteht diese Versuchung. Mag nämlich auch das Leben eines Konsumenten aufregend sein kann – es ist doch mit der Aufgabe verbunden, etwa immer über die neueste Mode Bescheid zu wissen. Der so entstehende Druck wurde von Soziologen untersucht; sie kamen zu dem Ergebnis, dass die Menschen irgendwann in einem Teufelskreis gefangen sind: Sie sind der Überzeugung, dass sie, um ein guter Vater, Ehemann oder was auch immer zu sein, permanent interessantere Konsumartikel kaufen müssen. Und um sicher zu stellen, dass Sie Ihren Kindern die neueste Mode oder sich selbst ein neues Auto kaufen können, arbeiten Sie immer länger und härter. Je mehr Sie jedoch arbeiten, desto weniger Zeit verbringen Sie damit, ihre sozialen Kontakte mit Familie, Freunden und Verwandten zu pflegen. Weshalb sie dann noch mehr Konsumartikel kaufen und verschenken, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Womit noch ein Kollateralschaden des Konsumerismus deutlich wird: Es ist der Verlust der Fähigkeit, intime menschliche Verbindungen zu unterhalten, Bindungen einzugehen und diese zu pflegen. All diese Entwicklungen stehen in Wirklichkeit erst an ihrem Anfang; sie haben ja erst vor wenigen Jahrzehnten begonnen. Weshalb ich jetzt noch keine Schlussfolgerungen bezüglich der Frage ziehen kann, was für Langzeitfolgen das für die Gesellschaft haben wird. Aber: Gott sei Dank bin ich schon alt und werde nicht mehr lange leben. Denn für die Menschen, die mit diesem Problem konfrontiert sein werden, wird es nicht leicht sein, Lösungen zu finden.
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Globalisierung 1500 –1600 Die transatlantische Sklavenmigration ist ein Vernetzungsphänomen von neuartiger Größenordnung und Intensität: Sklavenplantagen haben ihren großen Durchbruch in den 1580er Jahren.
Venedig zählt 140.000 Einwohner.
Die Engländer sehen den Rest der Welt voll mit Gefahren, Bedrohungen und Verschwörungen: Sie reagieren mit Ausweisungen von italienischen Kaufleuten und Bankiers. 1556 erfolgt sogar die Kündigung der Hansevorrechte.
Das von Königin Elisabeth I. 1560/61 stabilisierte Pfund Sterling behält bis 1920 bzw. 1931 seinen Wert.
Im 16. Jahrhundert wird Portugal zum größten Gewürzspediteur für Europa und verdrängt damit Venedig aus dieser Rolle. Seine Seefahrer entdeckten Brasilien und den portugiesischen Diplomaten gelingt es, Spanien dazu zu bringen, die territorialen Ansprüche Portugals in Brasilien anzuerkennen. Gleichzeitig überlässt Spanien Portugal das Monopol für den Handel mit Gewürzen aus den Molukken und Indonesien.
Die offiziellen Märkte Englands sind trotz Spezialisierung und Konzentration und trotz des Beitrags, den Jahrmärkte und Messen als traditionelles Werkzeug des Güteraustauschs leisten, den durch Bevölkerungszunahme und den Aufschwung des 16. und 17. Jahrhunderts gestellten Anforderungen nicht gewachsen. Ein private market blüht auf. Die Protagonisten gehen in die Häuser, handeln am Wirtshaustisch. Mit dem Händler als Reisenden entsteht eine neue Berufsgruppe.
Nachdem Portugal eine Vorreiterrolle bei der Schaffung der weltweiten Verbindungen zu spielen begonnen hat, werden die Handelsbeziehungen zwischen verschiedenen Teilen Nordeuropas durch die phänomenale Entwicklung der niederländischen Seeschifffahrt intensiviert. 1570 ist die Tonnage der niederländischen Handelsschiffe ungefähr so groß wie die der Flotten Englands, Frankreichs und Deutschlands zusammen genommen. Pro Kopf der Bevölkerung ist sie damit 25mal größer wie in diesen drei nördlichen Ländern.
Die geografischen Zentren und Merkmale der Wirtschaftsmacht verändern sich. Die norditalienischen Stadtstaaten und insbesondere Venedig führen den Wachstumsprozess an und reaktivierten den Handel im Mittelmeerraum. Portugal und Spanien eröffnen Handelsrouten zum amerikanischen Kontinent und nach Asien, sind jedoch nicht so dynamisch wie die Niederlande, die um 1600 die wirtschaftliche Führungsmacht werden.
Wenn der Wohlstand Portugals auch zu keiner Zeit den Venedigs erreicht, so werden dort doch Schiffe konstruiert und Navigationstechniken entwickelt, die es ermöglichen, neue Seewege zu erschließen und Handelsbeziehungen zu Afrika und Asien aufzunehmen. Portugal ist der Wegbereiter der europäischen Expansion im Atlantik. So werden dort Schiffe konstruiert und Navigationstechniken entwickelt, die es ermöglichten, neue Seewege zu erschließen und Handelsbeziehungen zu Afrika und Asien aufzunehmen. Im Jahr 1500 entdecken portugiesische Seefahrer Brasilien und geben damit den Auftakt zu drei Jahrhunderten Kolonialherrschaft in Amerika.
Venedigs Bedeutung im Gewürzhandel wird zu Beginn des 16. Jahrhunderts auf Grund der von den neuen Herrschern des Osmanischen Reichs verhängten Beschränkungen des Handels zwischen Syrien und Ägypten und der Konkurrenz durch direkte portugiesische Lieferungen aus Asien erheblich geschwächt. Es wird vermutet, dass die Gewürzeinfuhren Venedigs vom Ende des 15. Jahrhunderts bis zum ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts von rund 1.600 Tonnen pro Jahr auf weniger als 500 Tonnen zurückgingen.
Mit 13 seiner Schiffe und nahezu 1.700 Tonnen Gewürzen, also in etwa der Menge, die Venedig Ende des 15. Jahrhunderts jährlich aus dem Nahen Osten einführte, kehrt Vasco da Gama im Oktober 1503 nach Lissabon zurück. Die portugiesischen Gewinnspannen sind bei diesem Handel jedoch wesentlich größer als die Venedigs. Der überwiegende Teil dieser Gewürze wird über Antwerpen, den wichtigsten Hafen der spanischen Niederlande, in Europa vertrieben.
Die Bevölkerungszahl Asiens ist im Jahr 1.500 fünfmal so hoch wie die Westeuropas (284 Millionen gegenüber 57 Millionen), und 1600 war das Verhältnis in etwa dasselbe. Auf diesem besonders großen Markt ist ein Netz asiatischer Kaufleute im Handel zwischen Ostafrika und Indien sowie Ostindien und Indonesien tätig.
Montierte Quellen: Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Der Handel. Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Aufbruch zur Weltwirtschaft. Angus Maddison, Die Weltwirtschaft: Eine Milleniumsperspektive. Jürgen Osterhammel, Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Wikipedia, Globalisierung (Stand: 15.8.2007). Montiert von Michaela Ritter
Mit dem FAIRTRADE-System die Welt fair-ändern Von Karin Astelbauer-Unger
Infos über die mehr als 260 in Österreich erhältlichen FAIRTRADE-Produkte unter www.fairtrade.at Nähere Informationen über die FLO International und die FLO-Cert GmbH unter www.fairtrade.net, www.flo-cert.net
„Die Aufkäufer haben uns den Preis diktiert, und der war viel zu niedrig“, erzählt Andrés Choque aus Bolivien, dem ärmsten Land Südamerikas. „Doch jetzt können wir dank des FAIRTRADE-Gütesiegels biologisch angebauten Kakao ohne Zwischenhändler direkt exportieren. Wir verdienen nun nicht nur mehr Geld, sondern können auch größere Mengen verkaufen.“ Der Verkauf von Produkten mit dem FAIRTRADE-Gütesiegel wie Kaffee, Bananen, Kakao, Rosen und Fruchtsäften boomt. 2006 stieg der Umsatz weltweit um 37 Prozent, im österreichischen Handel um 63 Prozent auf insgesamt 42 Millionen Euro – zum Wohle der ProduzentInnenorganisationen in Afrika, Asien und Lateinamerika, die im vergangenen Jahr allein über den österreichischen Markt ein Einkommen von über 8,8 Millionen Euro und mehr als 700.000 Euro FAIRTRADE-Prämien für Entwicklungsprojekte erhalten haben. Laut einer im Frühjahr 2007 durchgeführten Marktstudie der GfK Austria kennen bereits mehr als 80 Prozent der ÖsterreicherInnen das FAIRTRADE-Gütesiegel, das damit das bekannteste Gütesiegel des Landes ist. Der Großteil der Befragten weiß, dass FAIRTRADE-Produkte ohne Kinderarbeit hergestellt werden und deren ProduzentInnen faire Preise bezahlt bekommen. „Im Handel mit landwirtschaftlichen Produkten aus den sogenannten Entwicklungsländern zahlen meist die Schwächsten der Produktionskette drauf, die Kleinbauernfamilien“, so der Berater des Vorstandes von FAIRTRADE Österreich Georg Gruber, der von Jänner 2006 bis Ende Juni 2007 FAIRTRADE-Geschäftsführer war. „Nicht so jedoch bei FAIRTRADE. Das FAIRTRADE-System ist massentauglich und zeigt, wie schon in 10, 15 Jahren eine faire Weltwirtschaft funktionieren könnte. FAIRTRADE macht Fairness käuflich – und das mehr als erfolgreich. FAIRTRADE ist wirkungsvolle Entwicklungszusammenarbeit, die garantiert allen Beteiligten zugute kommt.“ Die Strategie von FAIRTRADE Österreich: Wo auch immer Leute Produkte aus den sogenannten Entwicklungsländern kaufen, sollen sie eine FAIRTRADE-Alternative vorfinden – etwa im Supermarkt (z. B. SPAR),
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im Tankstellenshop (z. B. VIVA-Shops), im Drogeriefachhandel (z. B. dm) und natürlich in den über 90 Weltläden, die bereits seit 25 Jahren fair gehandelte Waren anbieten. Und das funktioniert. Das Bewusstsein der Bevölkerung in Sachen fairer Handel steigt sukzessive und damit die Nachfrage. Immer mehr Unternehmen erkennen das enorme Potenzial, das der faire Handel bietet: Spitzenprodukte, deren Herkunft man kennt, zu fair entstandenen Preisen. In Österreich werden bereits in mehr als 5000 Geschäften FAIRTRADE-Produkte angeboten. Immer mehr Unternehmen sind von der FAIRTRADE-Idee und den FAIRTRADE-Produkten überzeugt und wollen mitmachen. Beispiel Kaffee: SPAR, Hofer, Billa, MERKUR und MPREIS haben FAIRTRADE-Kaffee in ihrem Sortiment, und die Bäckerei- und Kaffeehauskette Ströck hat letztes Jahr mehr als 50 ihrer Filialen auf FAIRTRADE-Kaffee umgestellt. Initiativen aus der Jahrhundertmitte aufgreifend und weiterführend hat sich die FAIRTRADEBewegung in den vergangenen 15 Jahren stark entwickelt: Rund 600 Kooperativen in 58 Ländern arbeiten heute nach den strikten Kriterien des FAIRTRADE-Systems; 2006 stieg der Umsatz mit Produkten, die das FAIRTRADE-Gütesiegel tragen, in Österreich um 63% und weltweit um 37% an. In Zahlen bedeutete das in Österreich einen Umsatz von 42 Millionen Euro. Rund eine Million Kleinbauernfamilien oder fast fünf Millionen Menschen profitieren in den Ländern des Südens vom FAIRTRADE-System. Allein aus Österreich flossen Einnahmen in der Höhe von 8,8 Millionen Euro an Produzenten. In der Regel kann davon ausgegangen werden, dass bereits 10 Personen, die im Norden FAIRTRADE-Kaffee trinken, das Überleben einer Familie im Süden sicherstellen. FAIRTRADE sorgt allerdings nicht nur dafür, dass faire Mindestpreise bezahlt werden. Ebenso ist es der Organisation ein Anliegen, Prämien auszuzahlen, die für soziale und ökologische Entwicklungsprojekte eingesetzt werden können und sollen. Wie FAIRTRADE überhaupt Entwicklungsarbeit betreibt: Partner-Genossenschaften haben beispielsweise demokratisch organisiert zu sein und müssen dafür sorgen, dass alle Männer und Frauen an anstehenden Entscheidungen beteiligt werden. Derzeit arbeitet das Team von FAIRTRADE Österreich verstärkt daran, dass in der Gastronomie und in öffentlichen Institutionen noch mehr FAIRTRADE-Produkte als bisher vertreten sind. Starkoch Helmut Österreicher etwa interessiert sich schon lange für die Idee des fairen Handels und verwendet zahlreiche FAIRTRADE-Produkte. Er beobachtet den Trend in der Gastronomie hin zur Konzentration auf das Wesentliche: auf den Geschmack der Lebens- und Genussmittel. „Wenn die Lebensmittel auch noch gesund und biologisch wertvoll sind und fair gehandelt werden, haben wir schon gewonnen!“, meint Österreicher. „Ich bin davon überzeugt, dass sich dieses Denken in der Gastronomie bereits in wenigen Jahren durchsetzen wird. Viele unserer Gäste reagieren sehr positiv darauf, wenn Sie erfahren, dass wir auch FAIRTRADE-Produkte verwenden. Sie finden es gut, wenn sie hervorragende Qualität bekommen und ein gutes Gewissen haben können.“ Wenn nur zehn Menschen
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im Norden FAIRTRADE-Kaffee konsumieren, kann eine ganze Familie im Süden überleben.
Von der Idee des fairen Handels zum FAIRTRADE-Gütesiegel
In Österreich werden bereits in mehr als 5000 Geschäften Produkte verkauft, die mit dem FAIRTRADE-Gütesiegel ausgezeichnet sind.
Die Idee des fairen Handels kommt aus der kirchlichen Tradition und ist in den USA in den 1940er Jahren aus der Entwicklungshilfe heraus entstanden. In Europa setzte die ersten Schritte die englische Hilfsorganisation Oxfam, die 1964 die erste alternative Handelsorganisation (Alternative Trade Organization, ATO) gründete, und auch in den Niederlanden entwickelten sich Initiativen, die 1967 die Importorganisation SOS Wereldhandel (jetzt FAIRTRADE Organisatie) ins Leben riefen. Diese Entwicklungsstufe des fairen Handels war überwiegend durch die politische Solidaritätsbewegung geprägt. Junge, oft gut gebildete AktivistInnen mit starkem Interesse an sozialer Verantwortung, Ökologie, Frieden und Gerechtigkeit engagierten sich für den fairen Handel. Auch seitens der sogenannten Entwicklungsländer wurde in den 1960er Jahren die Forderung „Trade, Not Aid“ immer lauter. Der alternative Handel weitete sich rasch aus. Die 1980er Jahre waren durch hohe Umsatzzuwächse gekennzeichnet. Allerdings blieb der alternative Handel eine Nische, und die Situation der ProduzentInnen verbesserte sich nicht wesentlich. 1988 platzte das International Coffee Agreement (ICA), ein Abkommen zwischen allen ProduzentInnen- und den größten KonsumentInnenländern, das seit 1962 das Preisniveau durch Exportquoten geregelt hatte. Die Kaffeepreise fielen in der Folge um 50 und mehr Prozent und schwanken seither zwischen 55 und 250 US-Dollar pro Quintal Kaffee (= 45,5 kg) – eine Katastrophe für unzählige Kleinbauern. In den „Entwicklungsländern“ leben schließlich an die 100 Mio. Menschen direkt und indirekt vom Kaffeeanbau. In den ATOs begann man daher darüber nachzudenken, wie fair gehandelte Produkte auch im traditionellen Handel, zum Beispiel in Supermärkten, verkauft werden können, um die Absatzmengen zu erhöhen. Die Lösung war die Einführung des FAIRTRADE-Gütezeichens. Das erste FAIRTRADE-Label wurde 1988 in Holland eingeführt und vorerst nur für Kaffee vergeben. Es trug den Namen „Max Havelaar“ der auf einen Helden im gleichnamigen Buch von Eduard Douwes Dekker zurückgeht, das über die Ungerechtigkeiten im Kaffeehandel zwischen den Niederlanden und deren früheren Kolonie Indonesien berichtet. Auch andere europäische ATOs führten FAIRTRADE-Labels ein. 1992 gründete die EFTA (European Fair Trade Association) TransFair International, der 1993 auch Österreich betrat. Im April 1997 schlossen sich die Siegel-Initiativen zusammen und gründeten die Dachorganisation Fairtrade Labelling Organizations International (FLO).
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Den gemeinnützigen Verein FAIRTRADE Österreich, dessen Vorstandsvorsitzender Mag. Helmut Schüller ist, gibt es seit März 1993. Er handelt nicht selbst mit Produkten, sondern agiert als Non-Profit-Organisation ohne wirtschaftliches Eigeninteresse und wird mittlerweile von 30 Trägerorganisationen aus den Bereichen Entwicklungspolitik, Kirche, Ökologie, Bildung und Soziales unterstützt. Auch die Österreichische Entwicklungszusammenarbeit im Außenministerium hat zur Verbreitung des fairen Handels in Österreich entscheidend beigetragen.
Die Partner des FAIRTRADE-Systems. Grafik: FAIRTRADE Österreich
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Strenge Kriterien In insgesamt 58 Ländern (Lateinamerika, Asien und Afrika) arbeiten zurzeit rund 600 Kooperativen nach den strikten Kriterien des FAIRTRADE-Systems. Bevor eine Kooperative mitmachen darf, wird geprüft, ob sie sämtliche Bedingungen erfüllen kann. FAIRTRADE sucht seine Partner sorgfältig aus und hilft ihnen, effiziente Organisationen zu entwickeln. FAIRTRADE-Produkte werden großteils von Kleinbauernfamilien angebaut. Nicht alle Beteiligten können lesen und schreiben und leben meist in noch sehr patriarchalen Strukturen. In FAIRTRADE-Genossenschaften müssen jedoch Frauen wie Männer aller ethnischen Gruppen an sämtlichen wichtigen Entscheidungen ihrer Kooperative direkt und demokratisch beteiligt sein. Kinder- und Zwangsarbeit sind verboten. Die Genossenschaften müssen politisch unabhängig sein und eine demokratische Struktur aufweisen. Die FAIRTRADE-Partner in den sogenannten Entwicklungsländern müssen neben der schweren landwirtschaftlichen Arbeit auch in den Bereichen Organisation, Management, Soziales, Rechenwesen, Umweltschutz etc. sehr viel lernen und leisten, was zu enormen Entwicklungsschüben in den Regionen vor Ort führt.
Mehr Lebensqualität FAIRTRADE-Kooperativen können sich auch deshalb kontinuierlich weiterentwickeln, weil sie für ihre Ware – unabhängig von den Welt-
Bereits 1 Mio. Kleinbauernfamilien, beinahe 5 Mio. Menschen, profitieren vom FAIRTRADE-System und sind wie diese drei Campesinos der Kooperative UCIRI in Mexiko stolz darauf, FAIRTRADE-Partner zu sein. Foto: FAIRTRADE Österreich
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Bereits 1 Mio. Kleinbauernfamilien, beinahe 5 Mio. Menschen, profitieren vom FAIRTRADE-System und sind wie diese drei Campesinos der Kooperative UCIRI in Mexiko stolz darauf, FAIRTRADE-Partner zu sein. Foto: FAIRTRADE Österreich
marktpreisen – faire Mindestpreise bekommen, die sich nicht nur an den Weltmarktpreisen, sondern auch an der Entwicklung der Kaufkraft orientieren. Für ein Quintal Kaffee (= 45,5 kg) etwa werden derzeit 121 US-Dollar bezahlt. Nachhaltige Projekte werden mit 10 US-Dollar pro Quintal Kaffee unterstützt; diese FAIRTRADE-Prämie ist für soziale oder ökologische Entwicklungsprojekte zweckgebunden. Für Biokaffee gibt es eine zusätzliche Prämie in der Höhe von 20 US-Dollar pro Quintal. Steigt der Weltmarktpreis über den FAIRTRADE-Mindestpreis, zahlt FAIRTRADE den höheren Preis. Die Folge der besseren Entlohnung: Der Ausbau der Infrastruktur der Kooperativen und der Umstieg auf biologischen Anbau werden plan- und realisierbar, man kann die Kinder zur Schule schicken sowie die Wohnqualität und Krankenversorgung verbessern. Die 1995 gegründete Cooperativa Montillo in Paraguay etwa produziert Zucker und hat sich bereits ein Büro mit Fax, Telefon und Computer sowie einen Versammlungsraum erwirtschaftet. „Unser Ziel ist es, ein Lagerhaus zu bauen“, so Salvador Delgadillo, Präsident der Kooperative. „Dann könnten wir unsere Produkte das ganze Jahr über verkaufen. Wir wollen auch einen Traktor kaufen, der von den Kooperativenmitgliedern gemietet werden kann.“ Bereits 1 Mio. Kleinbauernfamilien, beinahe 5 Mio. Menschen, profitieren vom FAIRTRADE-System, und sie sind stolz darauf, FAIRTRADE-Partner zu sein: Nun können sie ihre hochwertigen Qualitätsprodukte (fast 70 Prozent ihrer Ware sind bereits bio) exportieren und am Weltmarkt mitmischen.
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Ein strenges Kontrollsystem sorgt dafür, dass sämtliche FAIRTRADE-Kriterien eingehalten werden. Grafik: FAIRTRADE Österreich
Das Kontrollsystem Die Fairtrade Labelling Organizations International (FLO) ist die Dachorganisation von 20 nationalen Siegelinitiativen (in Kanada, in den USA, in Japan, Australien, Neuseeland sowie in 15 europäischen Ländern), die das FAIRTRADE-Zeichen in ihren Ländern bewerben und vermarkten, sowie der drei FAIRTRADE-ProduzentInnennetzwerke CLAC (Coordinadora Latinoamericana y del Caribe de Pequeños Productores de Comercio Justo), AFN (African Fairtrade Network) und NAP (Network of Asian Producers). Damit ein Produkt das FAIRTRADE-Siegel führen darf, muss es den internationalen FAIRTRADE-Standards entsprechen, die von der FLO festgelegt werden. Die FLO hilft den ProduzentInnen, die FAIRTRADEZertifizierung zu erwerben und aufrechtzuerhalten, damit sie die sich bietenden Marktchancen auch nützen können. ProduzentInnenorganisationen, die FAIRTRADE-Produkte liefern dürfen, werden von der 2003 ins Leben gerufenen FLO-CERT GmbH zertifiziert, einer unabhängigen Instanz, die regelmäßige Inspektionen durchführt.
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Zusätzlich zu den Kontrollen während der Produktion wird auch der gesamte Vertriebsweg ständig überwacht. FAIRTRADE Österreich kontrolliert die Unternehmen (GroßhändlerInnen, EinzelhändlerInnen, Alternativhandelsorganisationen), die in Österreich Produkte mit dem FAIRTRADE-Gütesiegel verkaufen. Nur FAIRTRADE-LizenznehmerInnen dürfen das FAIRTRADE-Zeichen verwenden. Sie müssen FAIRTRADE vierteljährlich ihre Verkaufsabschlüsse melden. Diese Daten werden mit den Angaben der FLO-CERT abgeglichen. Weiters führen unabhängige WirtschaftsprüferInnen bei den Lizenznehmerinnen und -nehmern stichprobenartig jährliche Kontrollen (Bestellmengen, Verbrauch, Lager) durch.
Zukunftspläne Der Schwerpunkt von FAIRTRADE Österreich in den kommenden Jahren bis 2009 wird im Bereich Textilien/Baumwolle liegen. Schon jetzt gibt es in Österreich u. a. eine eigene FAIRTRADE-Bekleidungskollektion der EZA Fairer Handel mit T-Shirts, Jacken, und Kleidern aus Baumwolle aus ökologischem Anbau und fairem Handel, die man in den Weltläden erstehen kann, sowie Baumwollshirts für Frauen, Männer und Kinder von La Redoute. International gesehen gibt es konkrete Überlegungen, das FAIRTRADEModell um den Bereich sozial verträglicher Tourismus zu erweitern. FAIRTRADE könnte in Zukunft z. B. Hotelbetriebe in den sogenannten Entwicklungsländern zertifizieren, welche die FAIRTRADE-Kritierien einhalten. Die mit dem FAIRTRADE-Gütesiegel ausgezeichneten Betriebe könnten dann von der weltweiten Reisetätigkeit mehr profitieren als bisher. Angedacht wird auch, den Bereich Gold und Edelsteine ins FAIRTRADE-System aufzunehmen, aber das ist noch Zukunftsmusik. Zusammenfassend kann man sagen, dass es einmal für alle Produkte, welche die Lebensgrundlage von Menschen in den sogenannten Entwicklungsländern bilden, eine FAIRTRADE-Alternative geben soll.
Karin Astelbauer-Unger, 1963 in Wien geboren, arbeitete von 1981 bis 1985 als Journalistin im ORF/Hörfunk (Studio Wien, Ö 1, Ö 3), und war von 1985 bis 1987 Mitarbeiterin der PR- und Werbeabteilung der „Verlag des ÖGB GmbH“. Von 1987 bis 1993 leitete sie als Geschäftsführerin den Europaverlag Wien – Zürich, von 1994–1995 war sie Mitorganisatorin des Österreich-Schwerpunktes zur Frankfurter Buchmesse 1995. Seit 1996 ist Karin Astelbauer-Unger freie Texterin, Redakteurin, Übersetzerin und Lektorin wie auch freie Mitarbeiterin von FAIRTRADE Österreich.
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Die gefrorenen Hühnerflügel und das Wunder der Wüste Von Karin Küblböck
„Freihandel führt zu mehr Wohlstand und Frieden“: So ist auf der Website der einflussreichsten multilateralen Organisation, der Welthandelsorganisation (WTO), zu lesen. Der Internationale Handel ist durch weit reichende Liberalisierungen in diesem Bereich in den letzten Jahrzehnten schneller gewachsen als die Produktion. Profitieren konnten von der Handelsliberalisierung aber nur jene Länder, die diese mit bewussten industriepolitischen Maßnahmen begleiteten. Dabei wurden etwa bestimmte Wirtschaftssektoren vor ausländischer Konkurrenz geschützt und die Steigerung des Verarbeitungsgrades – also der Wertschöpfung – der Produkte gefördert. Im Zuge der Handelsliberalisierung, die im Rahmen der WTO vorangetrieben wird, werden genau jene industriepolitischen Maßnahmen, die in den heutigen Industrieländern zu wirtschaftlicher Entwicklung geführt haben, den heutigen Entwicklungsländern verwehrt. Sehr illustrativ ist dabei der Fall des Geflügelhandels zwischen der EU und Kamerun. Ein herausragendes Beispiel für die positive Kombination von Handel mit verarbeiteten Produkten auf der einen und einem sozialen und ökologischen Ansatz auf der anderen Seite ist hingegen die ägyptische Initiative Sekem, auf die im Anschluss eingegangen wird.
Die Filetierung des Huhns und seine Konsequenzen Europäische KonsumentInnen wurden in den letzten 20 Jahren zunehmend wählerisch und gesundheitsbewusst. Sie greifen in steigendem Maße zu fettarmen Fleisch – Hühnerfleisch ist „in“. Zudem muss Kochen heute schnell gehen: Noch Anfang der 1990er Jahre wurden z. B. in Deutschland zu 70 Prozent ganze Hühner in den Supermärkten erworben. Heute ist es umgekehrt: 80 Prozent des Hühnerfleisches wird in Teilen verkauft. Filets oder Keulen sind angesagt. Die restlichen Teile wie Flügel oder Hälse werden als „Nebenprodukt“ für einen Spottpreis von 60 Cent pro Kilo zum Export angeboten.
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Folgenreiches „Nebenprodukt“ Fünftausend Kilometer südlich der EU-Hauptstadt Brüssel, an der Westküste Afrikas, wurde Kamerun im Dezember 1995 Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO) und senkte – auch auf Druck von Internationalem Währungsfonds und Weltbank – den Höchstzollsatz für Fleischimporte von 80% auf 20%. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich Kamerun selbst mit Geflügel versorgt. Ein Großteils des Geflügels kam von KleinproduzentInnen, daneben hatte sich auch eine kleine, relativ moderne Geflügel verarbeitende Industrie entwickelt. Die Aussicht auf dauerhaft niedrige Zölle machte den kamerunischen Markt nun für europäische Exporteure interessant: Die Importe von Hühnerfleisch stiegen in nur 10 Jahren um das Vierhundertfache, von 60 Tonnen im Jahr vor dem WTO-Beitritt auf 24.000 Tonnen im Jahr 2004. Drei Viertel der Importe stammten aus der EU; hauptsächlich aus Frankreich, Belgien, Holland und Spanien. Da es Kamerun an Inspektoren und Kontrolle fehlt und Bestechung und Korruption der Behörden an der Tagesordnung sind, wurden weder Menge noch Qualität der eingeführten Ware überwacht. Für die wachsende Zahl der Importeure – oft mit guten Kontakten zur Regierung – waren die gefrorenen Geflügelteile ein glänzendes Geschäft. Sie kauften das Kilo Geflügel für 60 Cent ein und verkauften es um das doppelte. Günstiges lokales Geflügel kostete 1,80 Euro pro Kilogramm und konnte mit diesen Importen nicht konkurrieren: Allein zwischen 1997 und 2000 ging die jährliche Produktion von Geflügelfleisch in Kamerun um ein Viertel zurück, unzählige KleinproduzentInnen verloren ihre Lebensgrundlage.
Keine Chicken schicken Nicht nur die ProduzentInnen bekamen die Auswirkungen der Geflügelimporte zu spüren – auch die KonsumentInnen bekamen zunehmend Bauchweh; es häuften sich Fälle von schweren Fleischvergiftungen. Tiefkühlkost ist in armen Ländern mit hohem Risiko behaftet. Auch in Kamerun ließ sich die Kühlkette nicht kontrollieren. 2004 gab die Bürgerbewegung ACDIC („Association Citoyenne de Défense des Interéts Collectifs“) eine breite Stichprobenuntersuchung von gefrorenem Geflügelfleisch in Auftrag. Das Resultat: 84 Prozent der Teile waren für den menschlichen Verzehr ungeeignet. Nach diesen Ergebnissen startete 2004 ACDIC eine Kampagne gegen die „Hühner des Todes“ aus Europa. „Der Export der gefrorenen Hühnerteile ist ein Angriff auf die Bauern, auf die Gesundheit unserer Bevölkerung und auf unsere Volkswirtschaft“, so ihr Sprecher. ACDIC deckte
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die Missstände beim Import und der Hygiene auf und schaffte es, die relevanten Akteure in Kamerun zu mobilisieren. Medien berichteten ausführlich über die „Hühner des Todes“, VerbraucherInnen boykottierten die gefrorenen Geflügelteile, ein nationaler Geflügelzüchterverband wurde gegründet, der Druck auf die PolitikerInnen stieg. Begleitet wurde die Arbeit auf Wunsch von ACDIC in Europa durch ein breites Bündnis von Organisationen. Die Kampagne „Europa rupft Afrika“, machte auf die katastrophalen Auswirkungen der Geflügelexporte aufmerksam. In Deutschland mobilisierte etwa die Nichtregierungsorganisation EED (Evangelischer Entwicklungsdienst) mit dem Slogan „Keine Chicken schicken“. Laut Organisationen wie der WTO sichert ein freier Welthandel Wohlstand und Frieden. Wie die Erfahrung gezeigt hat, profitierten bisher jedoch nur jene Länder von der Handelliberalisierung, die diese mit aktiven industriepolitischen Maßnahmen begleiteten. Und etwa bestimmte Branchen mit Zöllen schützten. Wo letzteres oder vergleichbares hingegen nicht passiert, kann es zu gewaltigen Zerstörungsprozessen kommen. Nachdem etwa Kamerun 1995 der WTO beigetreten war und seine Schutzzölle für Fleischimporte deutlich reduzierte, wurde es förmlich mit EU-Hühnerprodukten überschüttet: Anstelle von anfänglich rund 60 Tonnen Hühnerfleisch pro Jahr wurden 2004 schließlich nicht weniger als 24.000 Tonnen eingeführt. Was einerseits aufgrund der mangelhaften Kühlkette zu unzähligen Erkrankungen führte; andererseits aber die nationale Geflügelindustrie an den Rand des Abgrunds brachte. Erst intensive Proteste verschiedenster Gruppierungen führten zu einer Veränderung der Situation – und bewirkten zudem einen Demokratisierungsschub für das Land. Ein positives Gegenbeispiel zu dieser Entwicklung ist die ägyptische Initiative Sekem. Deren Ursprünge liegen in der Etablierung intelligenter, unterirdischer Bewässerungsanlagen für landwirtschaftliche Kulturen, was zigtausende Tonnen von Pestiziden einzusparen hilft. Über die Jahre ist eine eigene Sekem-Gruppe entstanden, die beispielsweise ihre Exportgewinne in die MitarbeiterInnen-Ausbildung und vergleichbares investiert. Und so andeutet, was gerechtes Wirtschaften in der Praxis heißen kann. Die Kampagne hatte in doppelter Hinsicht Erfolg: Die kamerunische Regierung reduzierte zuerst die Importquote und führte im Anschluss ein System von höheren Zollsätzen ein und schaffte die Mehrwertsteuer für einheimisches Geflügel ab. Durch diese Maßnahmen wurden heimische ProduzentInnen wieder konkurrenzfähig, die kamerunische Geflügelproduktion stieg wieder an. Heute kann ein Großteils der Geflügelnachfrage wieder durch lokale ProduzentInnen gedeckt werden. Die Produktion von Geflügel stellt in Kamerun wieder einen Zukunftsmarkt dar, KleinproduzentInnen nehmen ihre Arbeit wieder auf, es gibt zudem Pläne von Investoren für modernere Schlachthöfe und Lagerhäuser. Neben den positiven Auswirkungen auf die nationale Geflügelzucht löste die Kampagne in Kamerun einen einzigartigen Demokratisierungsschub
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aus. Denn im autokratischen und korrupten Regime Kameruns war es alles andere als selbstverständlich, Untersuchungen über die hygienischen Bedingungen sowie die politischen Verwicklungen in Bezug auf die Hühnerfleischimporte durchzuführen. Die internationale Unterstützung der Arbeit von ACDIC war in diesem Zusammenhang von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Nach und nach diskutierte ganz Kamerun über die gefrorenen Geflügelteile aus Europa, das Thema konnte nicht mehr ignoriert werden. Zu einem – in dieser Form noch nie dagewesenen – Treffen, zu dem ACDIC die kamerunischen ParlamentarierInnen einlud, kamen 120 der 180 Abgeordneten. In diesem Treffen entbrannte eine heiße Debatte über Demokratie und parlamentarische Pflichten. Anfang 2006 entschuldigte sich die Regierung für einen lokalen Gouverneur, der eine Demonstration des Verbandes der GeflügelbäuerInnen gegen die weitere Liberalisierung der Landwirtschaft im Rahmen der WTO untersagt hatte.
Wacklige Beine Der Erfolg der kamerunischen Kampagne steht jedoch auf wackligen Beinen. Denn die von der Regierung erlassenen Maßnahmen entsprechen nicht den Regeln der Welthandelsorganisation. Zölle und Importbeschränkungen sind auf dem Weg zum Wohlstand bringenden Freihandel ein Hindernis. Solange kein anderes Land Kamerun vor das WTO-Schiedsgericht zitiert, können die Regelungen in dieser Form weiter bestehen. Weil in diesem Fall keine dominanten ökonomischen Interessen im Spiel sind, und eine Klage wohl ziemlichen Aufruhr verursachen würde, ist das bisher nicht passiert. Doch die WTO-Bestimmungen sind nicht das einzige Damoklesschwert, das die industriepolitischen Maßnahmen Kameruns wieder zunichte machen könnten. Denn die nächsten Freihandelsabkommen lassen nicht mehr lange auf sich warten: Kamerun verhandelt im Rahmen der zentralafrikanischen Ländergruppe mit der Europäischen Union über ein so genanntes Economic Partnership Agreements, da die bisherigen Abkommen, die den ehemaligen Kolonialstaaten in Afrika, der Karibik und dem pazifischen Raum präferentielle Handelsbedingungen gewährt haben, ebenfalls nicht WTO-konform sind. Ein Großteil des Außenhandels mit der EU soll nun unter diesen Abkommen liberalisiert werden. Nur wenige Produkte werden von der Liberalisierung ausgenommen sein. Ob Hühnerfleisch dazu zählen wird, ist bis jetzt eine offene Frage.
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Ökologisches Wunder in der Wüste Wer öfters Kräuter, Tee oder Datteln aus biologischem Anbau konsumiert, hat vielleicht schon ohne es zu wissen ägyptische Produkte genossen, bei deren Entstehen Know How aus der Steiermark eine nicht unwesentliche Rolle spielte. Der Ägypter Ibrahim Abouleish kam in den 1960er Jahren im Alter von 18 Jahren nach Graz, um dort Pharmazie zu studieren. Bei einem Besuch seiner Heimat Mitte der siebziger Jahre war er geschockt von der ökologischen Fehlentwicklung seines Landes. Das üppige Kulturland im Nildelta war durch die Wasserstandsregulierung des Assuan-Staudamms einer Salzwüste gewichen. 1977 entschloss sich der mittlerweile erfahrene Pharmakologe Abouleish, nach Ägypten zurückzukehren. Er gründete die Initiative Sekem („Lebenskraft der Sonne“). Durch die Entwicklung von unterirdischen Bewässerungssystemen begegnete er dem zentralen Problem, dass in dieser extrem heißen Gegend 80% des Wassers bereits beim Gießen verdunsten. Weiters züchtete er eine Baumwollsorte, die im Vergleich zur konventionellen Baumwolle einen um Vieles niedrigeren Wasserbedarf hat. Der Erfolg war so groß, dass die Farm drei Jahre lang unter militärischer Bewachung stand, da die Behörden davon ausgingen dass die Felder heimlich bewässert würden. Mittlerweile wird aber auf 400.000 Hektar staatlicher Anbaufläche Sekem-Baumwolle angebaut, Ägypten erspart sich dadurch 30.000 Tonnen Pestizide.
Modernes Märchen Der Rest der Entwicklung von Sekem liest sich wie ein modernes Märchen. Eine ehemalige Wüstenlandschaft bringt nun Spitzenprodukte der ökologischen Landwirtschaft hervor. Heute umfasst die Sekem-Gruppe mehrere prosperierende Wirtschaftsbetriebe – von der landwirtschaftlichen Produktion über Heilpflanzenanbau und -verarbeitung, der Vermarktung von Frisch- und Trockenprodukten, einem Konfektionsbetrieb für Kleidung aus eigener Baumwolle bis hin zu einer Kette von Naturkostläden. Sekem bewirtschaftet 400 Hektar Eigen- und Pachtland und vermarktet die Produkte von weiteren 400 kooperierenden Farmen entlang des Nils. Die jährlichen Wachstumsraten liegen bei 30% – 40%. War zu Beginn der Export die wichtigste Einnahmequelle wird mittlerweile ein Großteil der Produkte im Inland abgesetzt – bei gleichzeitig weiterhin steigenden Exportzahlen. Nicht nur in der Produktion, auch beim Umgang mit den MitarbeiterInnen hat Ibrahim Abouleish ein besonderes Modell gewählt: Während
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der Arbeitszeit finden Fortbildungen in Landeskunde, Geschichte oder Sprache statt. Dies steigert den Bildungsstand und die Motivation der MitarbeiterInnen. Die Gewinne aus dem Exportgeschäft der landwirtschaftlichen Produkte und Textilien investiert Sekem in die Errichtung und Erhaltung von Kindergärten, Schulen und einem Gesundheitszentrum. Lehrlinge werden ausgebildet, auch die Absolvierung bestimmter Studienrichtungen durch die MitarbeiterInnen an der Universität Kairo, wie etwa Architektur, Medizin oder Landwirtschaft, wird unterstützt. 2007 wurde sogar eine eigene Universität eröffnet. Diese Maßnahmen kommen wiederum der Initiative zugute, da die Qualitätsund Produktivitätsstandards durch qualifizierte MitarbeiterInnen beständig erhöht werden können.
Karin Küblböck studierte Volkswirtschaft und Politikwissenschaften in Wien und Buenos Aires. Seit 1996 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Österreichischen Forschungsstiftung für internationale Entwicklung. Bis 2001 war sie verantwortlich für den Bereich Österreichische Entwicklungszusammenarbeit; seit 2002 ist sie für den Bereich Weltwirtschaft zuständig. Karin Küblböck arbeitet zudem als Lektorin für Entwicklungsökonomie an der Universität Wien wie sie auch Mitbegründerin und langjährige Obfrau von Attac Österreich ist.
Nachahmung empfohlen Das „Wunder der Wüste“ ist mittlerweile zu einem internationalen Vorzeigeprojekt avanciert. Im Jahr 2003 wurde der Initiative der Alternative Nobelpreis, der “Right Livelyhood Award” verliehen, 2004 wurde Abouleish wurde vom World Economic Forum zum “Outstanding Entrepreneur” gekürt. Die Universität Graz würdigte ihren ehemaligen Studenten im Jahr 2005 mit einem Ehrendoktorat.
Buchempfehlungen Abouleish Ibrahim, Die Sekem-Vision, Stuttgart: Johannes M. Mayer Verlag, 2004. Mari Francisco, Buntzel Rudolf, Das globale Huhn, Frankfurt: Brandes und Apsel Verlag, 2007. Links www.eed.de/meatexport www.sekem.com
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Globalisierung 1600 –1700
In den 150 Jahren nach 1680 wird die Verbringung von Sklaven zu einem steigenden und regelmäßigen Transport einer Massenware. Der atlantische Sklavenhandel schafft Wirkungsketten, die angolische Dörfer mit brasilianischen Zuckerplantagen und diese mit europäischen Teesalons verbindet.
Venedig zählt 150.000 Einwohner.
Asiens größter Reichtum liegt im Zwischenhandel zwischen den verschiedenen, weit voneinander entfernten Wirtschaftszonen (commerce d’Inde en Inde). Bei diesem über weite Entfernungen betriebenen Küstenhandel wird eine Ware gegen eine andere und diese wiederum gegen eine dritte getauscht und so fort.
Das einzige Monopol, das sich die Holländer je errichten konnten, waren Gewürze.
Faustregel für den Gewürzhandel: Der Anbau wird auf eine Insel beschränkt. So konnte man sich den Markt reservieren und den Anbau ähnlicher Kulturen anderswo unterbinden. Amboina war zum Beispiel die alleinige Nelkeninsel, auf Banda wurden Muskatnüsse angebaut und Ceylon lieferte den Zimt. Diese Inseln werden durch die Monokulturen sehr importabhängig, da sie nicht mehr in der Lage sind, sich mit den notwendigsten Nahrungsmitteln und Textilen selbst zu versorgen.
Europa beansprucht ein Fabrikationsmonopol und so soll Lord Chapham gesagt haben: „Sollte es sich Amerika einfallen lassen auch nur einen Stumpf oder Nagel für ein Hufeisen herzustellen, bekäme es das ganze Gewicht der britischen Macht zu spüren.“ Diese Aussage zeigt nur die Unkenntnis über die Lage in Übersee, denn die Neue Welt stellt das, was sie braucht, längst selber her.
Märkte dienen als Gradmesser: Städte werden danach bewertet, wie hoch die Marktgebühren sind.
Ungewöhnlicher Trubel am Markt in London: The Fair on the Thames!
Es kommt zu ersten Spezialisierungen auf den Märkten: Stiefelmarkt, Mehlmarkt.
Die erste Handelskammer entsteht 1700 in Dünkirchen (Venedig 1766, Florenz 1770, Frankreich im 18. Jahrhundert), diese stärken den Einfluss der Großkaufleute auf Kosten der anderen.
Die Niederlande liegen im Zeitraum 1600 –1820 mit ihrem Pro-Kopf-Einkommen in Europa an erster Stelle und zeichnen sich durch einen hohen Grad internationaler Öffnung und Spezialisierung aus. Sie verfügen auch in Asien über ein weit ausgedehntes Handelsimperium.
Die erste große Aktion der Niederländer auf dem amerikanischen Kontinent ist die Eroberung der Zuckeranbauregion um Recife im Nordosten Brasiliens, die sie von 1630 bis 1654 halten können. Der brasilianische Zucker wurde zur Weiterverarbeitung in die Niederlande gebracht, wo es gegen Mitte des 17. Jahrhunderts 40 Zuckerraffinerien gibt.
Ab Mitte des 17. Jahrhunderts nimmt die europäische Nachfrage nach Kaffee sehr stark zu. Das erste Londoner Kaffeehaus wird 1652 eröffnet.
Es kommt zu einem sprunghaften Anstieg der Nachfrage nach Tee in Europa, vor allem in England und den Niederlanden. Die Chinesen haben Kanton 1685 ausländischen Kaufleuten geöffnet und die britischen Teeimporte steigen zwischen 1669 und 1760 von rund 100 kg auf 28.000 Tonnen.
Die Briten sind im 18. Jahrhundert in der Lage, ein stabiles öffentliches Finanzsystem aufzubauen, worin sie sich deutlich vom kränkelnden Ancien Régime in Frankreich unterscheiden.
Zwischen 1720 und 1820 wächst das Volumen der britischen Exporte pro Jahr um 2%, während die niederländischen Ausfuhren jährlich um 0,2% sinken.
Im Jahre 1700 entfällt nur ein Fünftel der weltweiten Frachtkapazität auf die britische Flotte und ein Viertel auf die niederländische. Um 1820 beläuft sich der britische Anteil am weltweiten Frachtvolumen auf über 40%, während die Niederländer nur noch knapp über 2% stellen.
In der Zeit von 1700 bis 1820 ist Großbritannien in eine Reihe von Kriegen verstrickt; Großbritannien ging es bei diesen Konflikten vor allem um die Erlangung einer Vormachtstellung im Welthandel.
Montierte Quellen: Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Der Handel. Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Aufbruch zur Weltwirtschaft. Angus Maddison, Die Weltwirtschaft: Eine Milleniumsperspektive. Jürgen Osterhammel, Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Wikipedia, Globalisierung (Stand: 15.8.2007). Montiert von Michaela Ritter
FAIRTRADE und regionale Selbstversorgung in der Landwirtschaft Von Sarah Laeng-Gilliatt
Einleitung Die öffentliche Diskussion über Globalisierung dominieren zwei Weltanschauungen, die klar differenziert und auseinander gehalten werden müssen – auch wenn sie logisch kohärent sind: Die eine ist die Position im Umfeld der Sozialdemokratie, die andere jene der GlobalisierungsFachleute und Aktivisten, die von einer grundsätzlichen Kritik and Multinationalen Konzernen ausgehen (in der Folge kurz: Globalisierungsgegner). Beide Perspektiven kritisieren den Neo-Liberalismus, wenn auch immer wieder auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Und beide Haltungen werden von Außenstehenden oft zu einer verschmolzen, was Verwirrung stiftet und ihren Einfluss schwächt. Sinnvollerweise sollten die VertreterInnen beider Weltanschauungen voneinander lernen und einander die Hand reichen, um gemeinsam an der Umwandlung unserer Wirtschaft von einer neoliberalen zu einer mehr lebensbejahenden zu arbeiten. Allerdings gibt es wesentliche Unterschiede zwischen der sozialdemokratischen Haltung und jener der Globalisierungsgegner, die nicht bagatellisiert werden sollten. Solche Unterschiede werden zu Zeiten verschiedene Strategien und Taktiken zur Folge haben – und natürlich auch verschiedene Ziele. Ist das der Fall, kann es für die Proponenten beider Weltanschauungen produktiver sein, getrennt zu arbeiten. Ich werde im Folgenden beide Positionen zusammenfassen und dabei argumentieren, dass die Globalisierungsgegner für einen tieferen, grundsätzlicheren Wandel unseres Wirtschaftssystems eintreten. Zudem ist im Unterschied zur sozialdemokratischen Position die Vision der Globalisierungsgegner inspirierender und lebendiger. Des Weiteren werde ich einige der Hauptunterschiede der beiden Visionen bezüglich des Bereichs Landwirtschaft beschreiben. Schließlich werde ich auf die zahlreichen entstehenden, vielversprechenden Initiativen in der Landwirtschaft
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hinweisen (die sich nicht notwendigerweise einer der beiden Kategorien bzw. Gruppen zuordnen lassen).
Die Kritik der Sozialdemokraten und der Globalisierungsgegner am Neoliberalismus1 Zunächst möchte ich festhalten, dass sich viele Leute nicht ausschließlich der einen oder anderen Gruppe zurechnen; die Grenzen sind fließend. Aus Gründen der Klarheit werde ich aber jede Perspektive als eigenes Phänomen darstellen. Globalisierungsgegner wie Vertreter sozialdemokratisch orientierter Positionen eint die Ablehnung des Neoliberalismus, doch gibt es zwischen ihnen deutliche Unterschiede. So stehen „Sozialdemokraten“ der Liberalisierung und Globalisierung von Märkten nicht prinzipiell ablehnend gegenüber, wollen diese jedoch gerecht gestalten. Die Globalisierungsgegner hingegen sind gegenüber den Entwicklungen der letzten 10 – 15 Jahre grundsätzlich kritisch eingestellt, da sich etwa im Feld der Landwirtschaft die Probleme einer umfassenden Globalisierung überdeutlich zeigen. Schließlich sind die Agrar-Weltmärkte ja den landwirtschaftlichen Eliten vorbehalten, was jedoch in einer Welt, in der 40% der Menschen noch immer von der Landwirtschaft leben, illegitim erscheint. Aus diesem Grund bevorzugen Globalisierungsgegner die Konfrontation mit dem Neoliberalismus: Heimische Agrarmärkte sollen ihrer Ansicht nach lokalen Produzenten vorbehalten bleiben, weshalb sie auch dafür plädieren, die Landwirtschaft dem Einflussbereich der WTO zu entziehen. Was zudem deshalb sinnvoll erscheint, weil in der Landwirtschaft nicht wirklich Marktgesetze gelten: Der Agrarsektor kann schon allein deshalb kein autoregulierter Markt sein, weil sich die Ernährungsgewohnheiten nicht mit den Preisschwankungen verändern. Nur weil Lebensmittel billiger werden, wird nicht mehr gegessen – so wie umgekehrt der Konsum nicht zurückgeht (und auch nicht zurückgehen kann), nur weil die Produkte teurer werden. Insofern sind die Globalisierungsgegner auch gegenüber Bewegungen wie FAIRTRADE skeptisch, weil diese zwar die Verhältnisse innerhalb von globalen Produktionsketten verbessern wollen, aber nicht deren Logik fundamental in Frage stellen, bzw. für eine neue Lokalwirtschaft eintreten (auch wenn es neuerdings in den USA Tendenzen zu einem „heimischen FAIRTRADE“ gibt). Genau das erschiene aber sinnvoll: In Zukunft sollte „Nahrungsmittelsouveränität“ im Mittelpunkt einer Diskussion über die Entwicklung der Landwirtschaft stehen, die dafür sorgt, dass in Gemeinden (aller Größenordnungen) die Versorgung mit Lebensmitteln sichergestellt ist. Und zwar unabhängig von den Zielen und Aktionen irgendwelcher multinationaler Konzerne. Erreichen lässt sich eine solche „Nahrungsmittelsouveränität“ dabei über über die Vernetzung lokaler Produzenten und Konsumenten, die etwa von so genannten „Gemeinschaftshöfen“ mit Erfolg praktiziert und forciert wird. Beginnen wir mit einer kurzen Zusammenfassung des Neoliberalismus. Das neoliberale Wirtschaftskonzept beruht auf der neoklassischen, vorkeynesianischen Wirtschaftslehre. Obwohl sie die Wirtschaftslehrbücher beherrscht, hat sich niemals eine Volkswirtschaft nach diesem Modell entwickelt. Es plädiert für eine Politik mit möglichst geringem
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Neoliberale versus sozialdemokratische Konzeption von Wirtschaft Das neoliberale Konzept beruht auf der neoklassischen, vorkeynesianischen Wirtschaftslehre: Geringer staatlicher Einfluss und Lassez-faire Politik bestimmen die wirtschaftlich-gesellschaftlichen Verhältnisse; (fast) alles wird dem – unregulierten – Markt überlassen, der theoretisch „frei“ ist. Bei all dem wird davon ausgegangen, dass die so genannte „unsichtbare Hand“ des Marktes wohltätig wirkt: Das wirtschaftliche Wachstum wird als der Motor für die Lösung praktisch jedes Problems betrachtet; von Armut über Hunger bis hin zum Umweltschutz – wenn auch die Lösung nicht unmittelbar eintritt. Für die Anhänger dieser Perspektive ist der Markt eine notwendige, ja unerbittliche, per se fortschrittliche Kraft. Die sozialdemokratische Perspektive hingegen beruht auf der keynesianischen Wirtschaftslehre und tritt für eine starke, interventionistische und regulierende Rolle des Staates ein. Dieser hilft dabei, einen gerechten Handel und eine gerechtere Verteilung der Gewinne durchzusetzen.
staatlichen Einfluss und Lassez-faire Politik, die ausschließlich vom Markt bestimmt, unreguliert und theoretisch „frei“ ist. Man stellt sich dabei vor, dass die unsichtbare Hand des Markts wohltätig wirkt. Das wirtschaftliche Wachstum wird als der Motor für die Lösung praktisch jedes Problems angesehen; von Armut über Hunger bis hin zum Umweltschutz, wenn die Lösung auch nicht unmittelbar eintritt. Für die Anhänger dieser Perspektive ist der Markt eine notwendige, ja unerbittliche, per se fortschrittliche Kraft. Wie Maggie Thatcher sagte, “There is no alternative” („Es gibt dazu keine Alternative“), was zu einem oft zitierten Akronym – TINA – wurde.
Die sozialdemokratische Perspektive beruht auf der keynesianischen Wirtschaftslehre und tritt für eine starke, interventionistische und regulierende Rolle des Staates ein. DieWas er einerseits über Institutionen und Rahmenbedingungen macht; ser hilft dabei, einen gerechten Handel und andererseits dadurch, dass er auch als „Meta-Unternehmen“ auftritt, eine gerechtere Verteilung der Gewinne das im Krisenfall die Wirtschaft ankurbelt. In der Regel wird dementsprechend auch aktive Geldpolitik betrieben, statt diese durchzusetzen. Für Sozialdemokraten sind internationalen Finanzmärkten zu überlassen. die Asymmetrien zwischen dem globalen Norden und Süden die entscheidenden Ungerechtigkeiten des globalen Handelssystems. Wir alle haben davon gehört, dass der globalen Wirtschaft ein menschliches Antlitz gegeben werden muss. Die allgemeinen Merkmale des sozialdemokratischen Ansatzes kritisieren das Wachstums- und Handelsliberalisierungsmodell nicht grundsätzlich: Sozialdemokraten treten etwa dafür ein, dass die World Trade Organization (WTO) in Sachen Nahrungsmittel die (legistische) Oberhoheit innebehält, um den Norden zu größerer Disziplin in punkto Subventionen zu zwingen. Und überhaupt: Sozialdemokraten machen sich auch für eine sichere Nahrungsmittelversorgung stark; d.h. sie wollen dafür sorgen, dass sich jedes Kind, jede Frau und jeder Mann darauf verlassen können, am nächsten Tag genug zu essen zu haben. Die englische Hilfsorganisation Oxfam ist der Hauptvertreter der sozialdemokratischen Haltung zum Handel. Ihr Bericht 2002 2, gibt seine Position und seine Vorschläge wieder. Darin heißt es: „Niemand von uns sollte bereit sein, Machtmissbrauch, Unrecht und Gleichgültigkeit gegenüber Leid zu akzeptieren“3, was aber zur gegenwärtigen Handelsordnung gehört, in der Armut nicht nur andauert, sondern in der die Ungleichheit in den Ländern selbst und zwischen ihnen zunimmt. Oxfam tritt für gutes Handelsmanagement und eine Steigerung der Exporte
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aus den Entwicklungsländern als leistungsfähige Motoren zur Milderung der Armut ein. In ihren Szenarien geht Oxfam davon aus, dass „eine einprozentige Zunahme des Anteils jeder Entwicklungsregion am Weltexport die weltweite Armut um 12% senken könnte“4 . Sie verurteilt die Tatsache, dass die Exporte der Entwicklungsländer mit vier Mal so hohen Zöllen belegt sind wie die Exporte des Nordens in den Süden, und fordert besseren Zugang zum Markt für die südlichen Exporte. Sie kritisiert auch die Doppelbödigkeit des Nordens, der, obwohl die reichen Länder Lippenbekenntnisse zum freien Handel abgeben, in Wirklichkeit viele protektionistische Strategien weiterhin anwendet. Oxfam schreibt: „Nirgendwo ist die Doppelstrategie der Regierungen der Industrieländer so offensichtlich wie in der Landwirtschaft […] Beide landwirtschaftlichen Supermächte (die US und die EU) exportieren zu Preisen, die um mehr als ein Drittel niedriger sind als die Produktionskosten“ 5. Ein weiterer wichtiger Teil des sozialdemokratischen Widerstandes gegen den Neoliberalismus ist die FAIRTRADE-Bewegung. Dabei handelt es sich um eine lebendige Bewegung mit ungefähr 800.000 Produzenten im Süden, die sich seit Mitte bis Ende der 1990er Jahre an der FAIRTRADE-Produktion beteiligen. Damals gab es über 3.000 verschiedene fair gehandelte Produkte, obwohl diese auf landwirtschaftliche und handwerkliche Produkte beschränkt blieben. Die Kritik der gegen die Großkonzerne gerichteten Globalisierungsgegner am neoliberalen Modell ist viel grundsätzlicher. Obwohl sie viele Argumente aus der FAIRTRADE-Bewegung unterstützen und gerechten Handel als wesentlich betrachten, sind sie der Meinung, dass Handel und Zugang zum Markt primär (obwohl nicht ausschließlich) den Eliten der Agrarindustrie zugute kommen. Diese Haltung verkörpern Via Campesina, Focus on the Global South, die National Family Farm Coalition und viele Kleinbauernorganisationen und Organisationen bäuerlicher Familienbetriebe in der ganzen Welt. Da weltweit 40% der Menschen von der Landwirtschaft leben (wobei die meisten davon Kleinund Subsistenzbauern mit 75% Anteil an den Armen der Welt sind), ist es unerlässlich, dass heimische Märkte lokalen Produzenten vorbehalten bleiben; sie müssen vor ausländischen Multis geschützt werden. Die Globalisierungsgegner kämpfen außerdem dafür, dass wir – wann immer nur möglich – Handel aus Gründen des Umweltschutzes vermeiden. Berechnungen des Center for Sustainable Systems zufolge erfordert die US-Nahrungsmittelversorgung 7,3 Einheiten aus fossiler Energie zur Erzeugung nur einer Nahrungsmittelenergieeinheit. Von diesen 7,3 Einheiten entfallen 12% auf die Produktion, 8% auf Kunstdünger und Pestizide, 15% auf den Transport, 35% auf die Verarbeitung, die Verpackung, den Handel und das Gastgewerbe, und 30% auf die Lagerung von Nahrungsmitteln zu Hause sowie auf die Vorbereitung des Essens (Heller und Keoleain). Ein Großteil dieser fossilen Brennstoffkosten könnte in einem lokalen System der Nahrungsmittelversorgung
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Kritiker des Neoliberalismus und ihre unterschiedlichen Positionen Sowohl Sozialdemokraten wie auch Globalisierungsgegner kritisieren den Neo-Liberalismus, wenn auch auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Sinnvollerweise sollten zwar die VertreterInnen beider Weltanschauungen voneinander lernen und miteinander kooperieren, um gemeinsam an der Umwandlung der Wirtschaft zu arbeiten. In der Tat sind aber die Unterschiede über weite Strecken so groß, dass der Differenz Beachtung zu schenken ist: Globalisierungsgegner: • Ihre Kritik am Neoliberalismus ist grundsätzlich und insofern auch lebendig und inspirierend. • Sie treten für einen tieferen, fundamentalen Wandel unseres Wirtschaftssystems ein. • Sie unterstützen viele Argumente aus der FAIRTRADE-Bewegung, sind aber der Meinung, dass der Welthandel wie auch der Zugang zu diesem primär (wenn auch nicht ausschließlich) den Eliten der Agrarindustrie zugute kommt. • Ein weiterer wesentlicher Kritikpunkt vieler Globalisierungsgegner an der FAIRTRADE-Bewegung ist, dass diese zwar danach trachte, die Verhandlungsmacht kleiner Produzenten zu verbessern, die globalen Märkte per se werden jedoch nicht in Frage gestellt. • Da weltweit 40% der Menschen von der Landwirtschaft leben, ist es unerlässlich, dass heimische Märkte lokalen Produzenten vorbehalten bleiben; Globalisierungsgegner fordern deshalb einen Schutz derselben vor ausländischen Multis. • Globalisierungsgegner kämpfen auch dafür, dass weltweiter Handel auf ein für die Umwelt verträgliches Maß reduziert wird.
• Ebenso fordern sie, dass der WTO der Einfluss auf die Landwirtschaft aus mehreren Gründen entzogen wird: Die Landwirtschaft unterscheidet sich beispielsweise von anderen Industrien, in denen autoregulative Marktkräfte existieren; die Marktlogik funktioniert in dieser nicht, weil die Nachfrage nach Nahrungsmitteln unabhängig vom Preis de facto konstant bleibt (weil Menschen z.B. eine bestimmte Menge an Kalorien pro Tag brauchen). Zudem wird die WTO – als ein aus seiner Geschichte heraus stark US-orientiertes, weitgehend von Konzerninteressen bestimmtes Gremium – als reformunwillig und in ihren Prozessen als undemokratisch und undurchsichtig wahrgenommen. Was zur Folge hat, dass ihr die Kompetenz abgesprochen wird, den Handel in der Landwirtschaft regulieren zu können. • Es wird gefordert, die Landwirtschaft den Menschenrechtsorganisationen und Organisationen wie der FAO, der UNCTAD und der ILO zu überlassen.
Sozialdemokraten: • Für Sozialdemokraten sind die Asymmetrien zwischen dem globalen Norden und Süden stärkster Ausdruck für die Ungerechtigkeit, die das globale Handelssystem kennzeichnet. • Sie kritisieren das Wachstums- und Handelsliberalisierungsmodell nicht grundsätzlich. Und treten dementsprechend dafür ein, dass die WTO in Sachen Nahrungsmittel die regulative Oberhoheit behält, um den Norden etwa zu größerer Disziplin in punkto Agrar-Subventionen zu zwingen. • Sozialdemokraten machen sich für eine sichere Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln stark. • Für die sozialdemokratische Vision von Wirtschaft (und Gesellschaft) stellt die FAIRTRADE-Bewegung ein wichtiges Element im Kampf gegen den Neoliberalismus dar.
reduziert werden. Darüber hinaus ist es auf Grund der Tatsache, dass die Versorgung mit billigem Erdöl zu Ende geht und der Höhepunkt der globalen Erdölversorgung voraussichtlich 2010 erreicht sein wird, erforderlich, dass wir rasch zu einem landwirtschaftlichen System übergehen, das weniger von fossilen Brennstoffen abhängig ist. Nach Ansicht der Globalisierungsgegner sollte die Landwirtschaft deshalb dem Einflussbereich der WTO entzogen werden, und zwar aus mehreren Gründen: Erstens unterscheidet sich die Landwirtschaft von anderen Industrien, in denen autoregulative Marktkräfte existieren. Wenn die Preise für Lebensmittel fallen, essen die Leute deshalb nicht fünf Mahlzeiten am Tag, wie sie auch nicht, wenn die Preise steigen, nicht weniger als drei Mahlzeiten pro Tag essen. Obwohl sich die Zusammensetzung des Essens ändert und die Bauern auf Grund von Preisänderungen andere
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Feldfrüchte anbauen, ändern sich mit den Preisen die angebauten Gesamtmengen nicht wesentlich. Aus diesem Grund sollten die Lebensmittel nicht dem „freien Markt“ der WTO überlassen werden – und auch deshalb nicht, weil die Bauern bei sinkenden Preisen eher dazu gezwungen sind, mehr zu produzieren (wodurch die Preise noch weiter sinken) als weniger (weil sie hohe Fixkosten wie Grundstücke haben); ein finanzielles Auskommen ist sonst nicht möglich. Da zudem die WTO – bedingt dadurch, dass sie in ihren Anfängen ein US-orientiertes, weitgehend von Konzerninteressen bestimmtes Gremium war – eine Geschichte der Doppelmoral und Heuchelei aufweist, reformunwillig ist und ihre Prozesse undemokratisch und undurchsichtig sind, schließen viele die Möglichkeit aus, dass sie den Handel in der Landwirtschaft regulieren kann. Ihr Hauptzweck war immer, Handelsschranken so klein wie möglich zu halten, statt den Handel für die Menschen und Umwelt zu regulieren. Viele fordern deshalb, die Landwirtschaft den Menschenrechtsorganisationen und Organisationen wie der FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisationen der Vereinten Nationen), der UNCTAD (Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen) und der ILO (Internationale Arbeitsorganisation) zu überlassen. Eine wesentliche Kritik vieler Globalisierungsgegner an der FAIRTRADEBewegung ist, dass diese nur danach trachte, die Verhandlungsmacht kleiner Produzenten zu verbessern; letztere sollen damit auf den globalen Märkten konkurrenzfähig werden. Die globalen Märkte werden aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Neue Entwicklungen innerhalb der US – FAIRTRADE-Bewegung, die man als eine Tendenz hin zu einem „heimischen FAIRTRADE“ bezeichnen könnte, tun das jedoch: Da Bauern durch die Globalisierung der Landwirtschaft überall, auch in den Industrieländern, unterminiert werden, organisiert FAIRTRADE auf Basis landwirtschaftlicher Familienbetriebe in den Vereinigten Staaten einen „heimischen FAIRTRADE“. Das bedeutet in einer gewissen Hinsicht, dass FAIRTRADE nun lokal wird. Viele Organisationen, die der Globalisierung entgegenarbeiten, haben sich um eine sehr anspruchsvolle Agenda vereint, die sie „Nahrungsmittelsouveränität“ nennen – und die sie als „Recht der Menschen [verstehen], ihre eigenen Nahrungsmittel und ihre eigene Landwirtschaft zu definieren; die heimische landwirtschaftliche Produktion und den heimischen landwirtschaftlichen Handel zu schützen und zu regulieren, um nachhaltige Entwicklungsziele zu erreichen; das Ausmaß ihrer Nahrungsmittelautonomie zu bestimmen; [und] die Unterbietung der Preise auf ihren Märkten einzuschränken…“ „Nahrungsmittelsouveränität bedeutet nicht die Verneinung des Handels, sondern fördert Handelsstrategien und Praktiken, die die Rechte der
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Nahrungsmittelsouveränität „Nahrungsmittelsouveränität“ ist dadurch gekennzeichnet, dass • Menschen in dem Sinn über ihren Nahrungsmitteleinkauf selbst bestimmen können, als sie nicht von großen globalen Lebensmittelkonzernen abhängig sind und stattdessen die Möglichkeit haben, auf Netzwerke lokaler Produzenten zuzugreifen; • die heimische landwirtschaftliche Produktion und der heimische landwirtschaftliche Handel geschützt und reguliert werden, um nachhaltige Entwicklungsziele zu erreichen; • Bürgerinnen und Bürger das Ausmaß ihrer Nahrungsmittelautonomie selbst festlegen und Preiskämpfen auf ihren (lokalen) Märkten entgegensteuern. Dabei bedeutet Nahrungsmittelsouveränität nicht eine Verweigerung an den (Welt-)Handel, sondern die Förderung von Handelsstrategien und Praktiken, die die Rechte der Menschen auf sichere, gesunde und ökologisch nachhaltige Produktion stärken.
Menschen auf sichere, gesunde und ökologisch nachhaltige Produktion stärken“ 6. Wie Peter Rosset schreibt, „bedeutet Nahrungsmittelsouveränität, dass die Ernährung eines Volkes ein nationales Sicherheitsthema und damit der Souveränität ist. Wenn die nächste Mahlzeit der Bevölkerung eines Landes von den Launen der globalen Wirtschaft, dem guten Willen einer Supermacht, Nahrungsmittel nicht als Waffe einzusetzen, oder von der Unvorhersehbarkeit und den hohen Kosten von Langstreckentransporten abhängt, dann ist das Land nicht sicher im Sinne nationaler Sicherheit oder sicherer Nahrungsmittelversorgung“.7
Agenden einer neuen Landwirtschaft, Visionen für eine neue Politik Die Krise der industrialisierten Landwirtschaft8 auf der ganzen Welt ist direkt auf von Menschen festgelegten Regeln zurückzuführen und zu diesen gibt es eine ganze Palette von Alternativen, die zu ganz anderen Ergebnissen führen könnten. Bei den Problemen, mit denen wir konfrontiert sind, ist nichts unvermeidlich. Helena Norberg-Hodge schreibt: „Wir haben die Macht, Dinge zu verändern. Das destruktive, globale System kann nur so lange existieren, wie wir bereit sind, es zu akzeptieren und zu subventionieren. Wir können dagegen sein. Und in einem ersten Schritt können wir uns am Reichtum und an den Vorteilen erfreuen, die eine Direktverbindung zwischen Bauern und Konsumenten mit sich bringt: frische, köstliche lokale Nahrungsmittel für alle sind der beste Weg, den Planeten Erde zu retten!“ Die Überzeugung, dass eine andere Welt möglich ist, ermutigt Bauerngruppen und die Zivilgesellschaft auf der ganzen Welt, sich hinter Programme zu stellen, mit denen die folgenden Ziele erreicht werden: Es ist ein Menschenrecht, genug zu essen zu haben und sich nahrhafte und kulturell angemessene Nahrungsmittel leisten zu können. Die Bauern sollten einen gerechten Gewinn machen und in der Lage sein, in Würde und ohne wirtschaftlichen Migrationsdruck zu leben. Landwirtschaft soll ökologisch nachhaltig sein und gleichzeitig die Gesundheit des Landes im Prozess stärken, so dass das Land produktiv ist, gesunde Böden hat, die Artenvielfalt erhalten bleibt und saubere Trinkwasserreserven vorhanden sind. Die Landwirtschaft sollte das Herz der ländlichen Wirtschaftsentwicklung sein, so dass der ländliche Raum sich wieder mit Leben füllt. Im Folgenden sind einige Punkte der Agenden aufgelistet, die vorgestellt wurden: Die Erklärung Peoples’ Food Sovereignity Statement ist systematisch und überzeugend. Sie enthält Vorschläge bezüglich der Zusammenschlüsse bäuerlicher Familienbetriebe in den Industrieländern, ergo für die europäische und US-Landwirtschaftspolitik, durch die Bauern anderswo nicht in Gefahr gebracht werden sollen; konkret sind
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das die Punkte For a Legitimate, Sustainable and Supportive Common Agricultural Policy und Food from Family Farms Act: A Proposal for the 2007 US Farm Bill. Über 200 Gruppen in den Vereinigten Staaten haben den Kongress mit einem Brief zur Unterstützung echten Wettbewerbs auf dem Markt konfrontiert, um die Agrarindustrie-Oligopole auszuschalten. Es gibt außerdem verschiedene Positionspapiere eines Verbandes, der sich mit Building Sustainable Futures for Farmers Globally auseinandersetzt. Und auch das Buch Another World is Possible: Alternatives to the Global Economy vom International Forum on Globalization ist an dieser Stelle zu nennen, das ein ausführliches Kapitel über die Landwirtschaft beinhaltet. Die Richtlinien, die diese Gruppen vertreten, können wiederum folgendermaßen charakterisiert werden: 1. Dumping sollte verboten werden. Das würde – möglicherweise in jedem Exportland – eine Organisation erfordern, die die gesamten Produktionskosten einschließlich einer gerechten und angemessenen Gewinnspanne für die Bauern errechnet. Vielleicht könnten dabei die gesamten Umwelt- und Sozialkosten des Handels im Preis mitberücksichtigt werden (In diesem Zusammenhang könnten die Arbeiten von Redefining Progress bzw. ihr Genuine Progress Indicator und der Index for Social and Economic Welfare hilfreich sein; damit könnten Kosten bestimmt werden, die normalerweise nicht in das BIP eingerechnet werden). Allen Ländern sollte es außerdem erlaubt sein, sich gegen Dumping zu schützen; im Speziellen kleineren, für die es oft sehr schwierig ist, sich gegen größere Wirtschaften zu behaupten, von denen sie vielleicht teilweise abhängig sind. 2. Hinsichtlich der Subventionen existieren zwischen Norden und Süden riesige Unterschiede. Alle Exportsubventionen sollten deshalb abgeschafft werden. Das ist nicht so leicht, weil es zahlreiche Mittel und Wege gibt, wie man diese Subventionen verschleiern kann. 3. Alle Handelsabkommen sollten die Nahrungsmittelsouveränität fördern. Daher sollte es Ländern erlaubt sein, bestimmte Produkte zu schützen, ohne deshalb gleich beweisen zu müssen, dass es sich nicht um Dumping handelt. Vor allem aber sollten heimische Märkte für heimische Produzenten geschützt werden. Außerdem sollten nationale, regionale und lokale Regierungen die Sicherheit der Nahrungsmittelversorgung nach eigenem Gutdünken gestalten können. 4. Subventionen, die zu Überproduktion und Export führen, sollten verboten werden. Subventionen sollten eher an Produzenten als an Gebrauchsgüter ergehen. Jedes Land sollte in der Lage sein, zu entscheiden, welche Stützungen es beibehält, sofern diese Preisdumping nicht fördern. Das kann Unterstützung von Marketing, Umweltschutz, den Zugang zu Produktionsressourcen, die Weiterentwicklung, Bildung und Ausbildung, Beschaffungsmanagement, Preisregulierungs-
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maßnahmen, Kredite, Straßenbau etc. beinhalten. Subventionen an industrielle Tierfabriken sollten verboten werden. 5. Es sollte ein Moratorium für alle weiteren Konzernzusammenschlüsse und Konzernaufkäufe geben. Antitrustgesetze, die in den USA und in der EU sowie in vielen anderen Ländern bereits gelten, sollten verstärkt angewendet werden. Für die Durchsetzung der Antitrustbestimmungen sollten mehr Gelder und mehr Befugnisse bereitgestellt werden. Vielleicht sollte eine globale Antimonopolagentur geschaffen werden. Die Zerschlagung von Großkonzernen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zeigt, dass oft Massenbewegungen notwendig sind, um Gesetze durchzusetzen. 6. Mit internationalen Handelsabkommen sollten Mindestpreise für Produkte garantiert und Beschaffungsmanagement betrieben werden. Dank Preisstützungen könnten jene Produktionsflächen brach gelegt werden, die zu einer Überproduktion beitragen (was auch ökologischen Erfordernissen entsprechen würde); ebenso würden es Preisstützungen erlauben, an die Stelle von Produktionsflächen Naturschutzgebiete zu setzen, die von der Regierung oder auch von jenen Bauern, denen die Flächen gehören, betreut werden. 7. Jedem Land sollte es erlaubt sein, den Grundsatz der Vorsorge anzuwenden und gentechnisch veränderte Nahrungsmittel und Kulturen zu verbieten. Patente auf Leben sollten untersagt werden. Es sollte Moratorien für den Anbau gentechnisch veränderter Kulturen geben. Bei bereits eingetragenen Patenten könnte es zumindest einen Schutz vor Biotechnik-Unternehmen geben, die aggressiv recherchieren und etwa Bauern verklagen. Zudem sollte die Aufbewahrung von Saatgut niemals eine Patentverletzung darstellen. Vieles von dem scheint dem Gedanken des freien Marktes direkt zu widersprechen – was auch so ist. Man muss sich aber vor Augen halten, wie weit wir uns mit den massiven Subventionen an riesige Multis, mit den verborgenen Subventionen in Form von Infrastrukturen, auf der diese Multis aufsetzen, und mit der gewaltigen Konzentration in Form von Oligopolen von „freien“ Märkten bereits entfernt haben. Wie bereits erklärt, kann man Nahrungsmittel nicht mit anderen Industrien gleichsetzen, in denen Angebot und Nachfrage den Preis regulieren.
Die Förderung des Lokalen Lokales zu fördern bedeutet nicht, den Handel als solchen abzulehnen: Es geht um Widerstand gegen ein Wirtschaftssystem, das den Handel unter Ausschluss starker lokaler Wirtschaften fördert. Michael Shuman schreibt in Going Local: Creating Self Reliant Communities in a Global Age: „Das Lokale zu fördern bedeutet nicht, sich von der Außenwelt abzuschotten. Es bedeutet die lokalen Unternehmen, die lokale Ressourcen
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nachhaltig nutzen, lokale Arbeitskräfte zu angemessenen Löhnen beschäftigen und vorwiegend lokale Konsumenten bedienen, aktiv zu fördern. Es bedeutet autarker und importunabhängiger zu werden. Die Kontrolle verlagert sich von den Chefetagen ferner Konzerne auf die Bürgerebene, wo sie hingehört.“ Es geht also darum, die regionale Selbstversorgung zu fördern und möglichst viele Grundnahrungsmittel lokal zu produzieren. Nur soweit das nicht möglich ist, wird importiert. Darüber hinaus können die stärksten Bemühungen um die Förderung des Lokalen durch und durch internationalistisch sein – und sie sind es häufig auch. Wir brauchen sicher kein Wettbewerbswirtschaftssystem akzeptieren, das beispielsweise afrikanische Baumwollproduzenten gegen US-amerikanische Baumwollfarmer ausspielt, wie das die Medien manchmal tun. Erinnern wir uns an Mahatma Gandhis Besuch in Lancashire, wo Tausende in den Textilfabriken entlassen wurden, nachdem Gandhi sich bemüht hatte, Indiens Abhängigkeit von britischen Baumwollspinnereien zu durchbrechen. Zunächst voller Groll und Empörung, spendeten die TextilarbeiterInnen Gandhi später Beifall, als er, der die Ursache für ihre Entlassungen war, ihnen von der Armut in Indien erzählte. Heute könnten US-Farmer afrikanische Bauern in ähnlicher Weise unterstützen. Dass das passiert, ist wahrscheinlicher, wenn es uns gelingt, wirtschaftliche Macht zu dezentralisieren, lokale Produktion für lokalen Konsum zu diversifizieren und das Lokale global zu fördern. Durch die lokale Deckung eines möglichst großen Teils der täglichen Nachfrage und den Aufbau einer Grund-Autarkie könnten wir die Sicherheit und das innere Vertrauen gewinnen, der Globalisierung dank Internationalismus und globaler Solidarität zu widerstehen.
Lokale Landwirtschaft als Kern der ländlichen Wirtschaftsentwicklung Der ländliche Raum unterliegt auf der ganzen Welt einem Niedergang. Junge Menschen verlassen ihre Familien auf der Suche nach Arbeit in den schnell wachsenden städtischen Ballungsräumen. Einst belebte Dorfplätze werden still und veröden, gleichzeitig dehnen sich die unersättlichen Ballungsräume aus und zerstören einst produktive Landschaften. Immer mehr Forschungsarbeiten weisen aber darauf hin, dass die Landwirtschaft bei der Revitalisierung des ländlichen Raums eine entscheidende Rolle spielen kann. Bauern und Aktivisten mit Pioniergeist hinterfragen tief verwurzelte Vorurteile gegen die Landwirtschaft. Der Wirtschaftswissenschaftler Ken Meters formuliert das so: „Es ist entscheidend, dass Bauern in die Lebensmittelwirtschaft eingebunden
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Die Förderung des „Lokalen“ Wer Lokales fördern will, muss nicht automatisch den (Welt-)Handel als solchen ablehnen. Genauso wenig bedeutet es, sich von der Außenwelt abzuschotten. Es geht vielmehr um einen Widerstand gegen ein Wirtschaftssystem, das den Handel nur unter Ausschluss starker lokaler Wirtschaftsgefüge fördert. Denn es gilt, die lokalen Unternehmen und die lokalen Ressourcen nachhaltig zu nutzen; lokale Arbeitskräfte zu angemessenen Löhnen zu beschäftigen und vorwiegend lokale Konsumenten zu bedienen. Größtmögliche Autarkie und Importunabhängigkeit ist dabei das Ziel. Die regionale Selbstversorgung wird damit gefördert, indem eine Vielzahl von Grundnahrungsmitteln lokal produziert wird. Die Kontrolle über die eigene Versorgung verlagert sich damit von den Chefetagen ferner Konzerne auf die lokale Bürgerebene. Importiert wird nur das, was nicht selbst produziert werden kann.
werden und die Lebensmittelwirtschaft als Vektor für die ländliche Entwicklung verwendet wird.“ 9 Wie wir noch sehen werden, gibt es an Orten wie Woodbury County, Iowa, Projekte, bei denen Entscheidungsträger davon überzeugt sind, dass die lokale, biologische Landwirtschaft ein Hauptmotor für nachhaltige Wirtschaftsentwicklung ist. Sie investieren Zeit, Geld, Politik und viel Kreativität in diesen Sektor. Ken Meters untersucht am Crossroads Resource Center Wirtschaftsdaten, um nachzuweisen, dass das wirtschaftliche Entwicklungspotenzial durch die Vernetzung lokaler ProduzentInnen mit lokalen KonsumentInnen unglaublich hoch ist. Er hat landwirtschaftliche Systeme in Iowa, Minnesota, Kalifornien und Hawaii analysiert und herausgefunden, dass das bäuerliche Einkommen seit den 1970er Jahren, als die US-Landwirtschaftspolitik zunehmend exportorientiert wurde, überall kontinuierlich zurückgegangen ist. 2002 war das Einkommen der Bauern niedriger als 1969, obwohl sich die Produktivität im gleichen Zeitraum verdoppelte. Von den Regierungsdaten analysiert er primär drei Faktoren: die Produktionskosten der Bauern; das Geld, das in die Betriebe investiert wird; und die Summen, die die Konsumenten für Essen ausgeben. Im Woodbury County in Iowa wurden beispielsweise zwischen 1998 und 2003 jährlich Nahrungsmittel im Wert von 154 Millionen Dollar produziert. Wie in zahlreichen anderen Gegenden überstiegen aber auch hier die Kosten die Bruttoeinnahmen: Die Bauern gaben 178 Millionen Dollar aus, um diese Nahrungsmittelmenge zu produzieren und verloren damit durchschnittlich 24 Millionen Dollar an Produktionskosten pro Jahr. Im gleichen Zeitraum gaben die ca. 104.000 Einwohner des Woodbury County 203 Millionen Dollar pro Jahr für Nahrungsmittel und Essen aus, 150 Millionen Dollar davon für Nahrungsmittel, die anderswo produziert worden waren10. Wenn, wie Michael Shuman in seinem Buch The Small-Mart Revolution schreibt, lokale Konsumenten bei lokalen Produzenten kaufen würden, würde der Wirtschaftsmultiplikator – der Grundstock einer starken, lokalen Wirtschaft, mit dem gemessen wird, wie oft jeder Dollar in der lokalen Wirtschaft zirkuliert – zunehmen. Außerdem würden sich mit dem zunehmenden Einkommen der Bauern auch die Steuereinnahmen erhöhen. Der so genannte Iowa Produce Market Potential Calculator zeigt auf seiner Website viele ähnliche Potenziale. Der Calculator wurde vom Center for Transportation Research and Education und dem Leopold Center for Sustainable Agriculture an der Iowa State University entwickelt. Die Website zeigt Angebot und Nachfrage nach den in Iowa am häufigsten angebauten 37 Obst- und Gemüsesorten. Der Woodbury County verbraucht beispielsweise über 1.800.000 Pfund Tomaten, produziert aber nur 150.000, wodurch den Bauern jährlich 696.000 Dollar verloren gehen. Die Website erklärt Wirtschaftsentwicklungsplanern, dass, wenn 25% der in Iowa konsumierten Nahrungsmittel auch dort produziert
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würden, 140 Millionen Dollar Ertrag generiert werden könnten. 54 Millionen Dollar würden auf die Löhne entfallen, 2.032 Arbeitsplätze würden geschaffen, und zwar verteilt über den ganzen Staat als auch über die einzelnen Counties. Biologische Landwirtschaft kann auch für die wirtschaftliche Entwicklung wirtschaftlichen Nutzen bringen. Luanne Lohr untersuchte 1.208 Counties mit biologisch geführten Betrieben in den Vereinigten Staaten. Die Untersuchung ergab, dass in diesen Landkreisen das Nettoeinkommen aus den betrieblichen Umsätzen um 3.587 Dollar pro Betrieb höher war als in Landkreisen ohne biologische Betriebe. Der Marktwert der Flächen und Bauten war in diesen Counties durchschnittlich um 36.510 Dollar höher, so dass ein durchschnittlicher Betrieb in solch einem Landkreis 10.521 Dollar mehr Grundsteuer zahlt. Außerdem ist das Durchschnittsalter biologischer Landwirte um sieben Jahre niedriger als das Durchschnittsalter konventioneller Landwirte.
Kleine Bauernhöfe sind produktiv Es wird oft behauptet, dass kleinere Bauernhöfe weniger produktiv als große sind, dass moderne Landwirtschaft extrem effizient sei – und dass nur 1,2% der US-Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeiten. Viele Produktionskosten – von der Umweltzerstörung bis zum Zusammenbruch von Gesellschaftsstrukturen oder bis hin zu gesundheitlichen Nachteilen auf Grund geringwertiger Nahrungsmitteln – werden „externalisiert“. Tatsächlich subventioniert die Zukunft die Gegenwart, und diese Kosten werden unsere Kinder tragen müssen. Wenn diese Kosten allerdings internalisiert würden, dann wären die Preise für unsere globalisierten Lebensmittel nicht so billig. Darüber hinaus sind Steuergelder notwendig, um die nötigen Infrastrukturen und Anlagen für unsere moderne Landwirtschaft zu zahlen. Helena Norberg-Hodge schreibt: „Der Anschein von Effizienz wird nur aufrechterhalten, weil mit unseren Steuern vieles auf Kosten kleiner, lokaler Produzenten gezahlt wird, die keine anderen Ressourcen als das, was sie erwirtschaften, haben und dadurch verhältnismäßig ineffizient erscheinen. Ein lokales Geschäft in einem Dorf, das das meiste lokal einkauft, braucht keine Satelliten, keinen Großrechner, keine großen Verkehrsinfrastrukturen, keine Containerschiffe, keinen hoch subventionierten Flugzeug-Treibstoff etc. Großmärkte hingegen können ohne diese Dinge nicht auskommen.“ 11 Ebenso wenig bezieht die heute dominierende Produktivitätsberechnung die gesamte Bandbreite der Vorteile einer diversifizierten Produktion ein. Monokulturproduktion bedeutet, eine Sorte mit hohem Ertrag von ein- und derselben Kultur anzubauen. Eine Produktion, die auf Artenvielfalt beruht, ergibt viele verschiedene Feldfrüchte und verwendet
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unterschiedliche Teile jeder einzelnen Pflanze. Vandana Shiva schreibt, dass „traditionelle Landbausysteme auf gemischter Bewirtschaftung und Fruchtfolge aus Getreide, Hülsenfrüchten, Ölsaaten, mit unterschiedlichen Sorten pro Fruchtart, beruhen, während das ‚Grüne Revolutionspaket‘ genetisch einförmige Monokulturen enthält. Die Erträge verschiedener Kulturen in gemischten und Fruchtfolge-Systemen werden niemals realistisch bewertet. Normalerweise wird der Ertrag einer Frucht wie Weizen oder Mais herausgerechnet und mit den Erträgen neuer Sorten verglichen.“ Ein 1994 im Scientific American publizierter Artikel wies auch darauf hin, dass traditionelle Polykulturen 60 Mal weniger externe Investitionen brauchen als die Monokulturen der Grünen Revolution. Für letztere braucht man zugekauftes Hybridsaatgut, Bewässerung, Kunstdünger, Herbizide und Treibstoff. Traditionelle Methoden deckten den Bedarf intern mit geschlossenen Kreisläufen. Auf diversifizierten Höfen liefern die Tiere Dünger und die Feldfrüchte Futter. Saatgut kann von Jahr zu Jahr aufgehoben werden und einfache Maschinen und Anlagen brauchen keinen großen Kapitalaufwand. Zwar ist der Arbeitsaufwand hoch, doch die externen Investitionen sind niedrig.
Praktische Antworten von der Basis Eine schnell wachsende und hoch innovative Form der Vernetzung von Konsumenten und Produzenten sind Gemeinschaftshöfe (Consumer Supported Agriculture – CSA). Das Konzept entstand vor ungefähr 30 Jahren in Japan und wurde „teikei“ genannt, was soviel wie „dem Essen das Gesicht des Bauern geben“ bedeutet. Die Idee wurde in Europa umgesetzt und gelangte 1984 in die Vereinigten Staaten. CSA vernetzt KonsumentInnen mit einem Bauernhof in der Nähe; die KonsumentInnen kaufen „einen Anteil“ und erhalten jede oder jede zweite Woche Gemüse und Obst der Saison. Das sichert dem Bauern einen Markt und deckt die Produktionskosten im Voraus ab. Die KonsumentInnen teilen das Risiko mit dem Bauern. Bei Braunfäule beispielsweise leiden alle ein wenig, statt nur der Bauer, der vielleicht sonst untergehen würde. Oft helfen die Mitglieder bei der Ernte oder nehmen an Erntedankfesten teil und lernen dabei, woher ihre Nahrungsmittel kommen. Es gibt bereits über 1.000 CSA Netze in den Vereinigten Staaten. Der Community Environmental Legal Defense Fund (CELDF) und das Program on Corporations Law and Democracy (POCLAD) sprechen ein Kernthema des demokratischen Volksrechts an, nämlich landwirtschaftliche Grosskonzerne in Pennsylvania zu verbieten. Hintergrund dazu war, dass sich in besagtem Bundesstaat Agrarkonzerne niederlassen wollten, was allerdings die Existenz bestehender Familienbetriebe unterminiert hätte. Nach dem Vorbild der Gesetzgebung von neun Bundesstaaten, in
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denen Agrarkonzernen eine Ansiedlung verboten ist, entwarfen sie lokale Erlässe, die vergleichbares leisten sollten. Oft ergaben sich daraus „Rechtssprechungskonflikte“ zwischen den Regierungen des Bundesstaates und den Gemeinden, wobei fünfzehn derselben eine „Koalition zur Rettung der Gemeinden“ bildeten, die für die Aufrechterhaltung der örtlichen Hoheitsgewalt kämpfte. CELDF und POCLAD verwenden diese Konflikte auch, um die Bevölkerung darüber aufzuklären, dass sich eine Herrschaft der Konzerne und Demokratie, Nachhaltigkeit, ein lebendiges Gemeinwesen und Volksgesundheit oft ausschließen. Womit auch eine Rechtssprechung herausgefordert werden soll, die statt hinter den Gemeinden nur allzu oft hinter den Konzernen steht. An die Stelle von Kämpfen um gesetzliche Regulierungen (die es, wie die Pennsylvania-Akteure meinen, dann oft die Umweltschützer treffen) und anstatt sich in Genehmigungsverfahren einzumischen, in denen es um Industrieniederlassungen geht, wurde damit das demokratische Recht gerückt, Verbote für Agrarkonzerne gesetzlich zu verankern. Gary Nabhan, Autor des Buches Coming Home to Eat: the Pleasures and Politics of Local Foods, arbeitet am Center for Sustainable Environments an der Bezifferung der Vorteile großer intakter Kulturlandschaften. Was folgenden Hintergrund hat: Viele Rancher tun sich heute zusammen, um sich gemeinsam mit der Zukunft ihrer Flächen zu beschäftigen. Arizona ist in Gefahr, bis 2020 5.300 km2 Land durch Zersiedelung zu verlieren, wobei die Grundstückspreise in den letzten paar Jahren um 9,4% gestiegen sind. Sobald die Landwirtschaft unter einen bestimmten Wert absinkt, besteht eine echte Gefahr, dass die für die Landwirtschaft und Viehzucht erforderliche Infrastruktur – Tierärzte, Schmiede, Futtermittelhändler – verschwindet. Im Bewusstsein dieses hohen Risikos arbeiten viele Betroffene zusammen, um zu fragen, wie sie „Dienstleistungen“ von Landwirten und Viehzüchtern für das Ökosystem bewerten könnten, auf dass die Gemeinden in sie investieren. Als (potenzielle) Dienstleistung wird dabei auch betrachtet, was verschiedene Erfahrungen gezeigt haben, nämlich dass z.B. ein Nicht-Unterteilen großer landwirtschaftlicher Flächen, also das gezielte Zusammenhalten des Betriebs, das Tempo der Zersiedlung bremst. Oder dass Bauernhöfe, die das Grundwasser sauber halten, die Artenvielfalt erhöhen, die Landschaft offen halten oder zur lokalen Stabilität beitragen – was, wie Nabhan es nennt, die echte “homeland security” („Innere Sicherheit“) der Vereinigten Staaten ausmacht. In dem jüngsten Buch Gary Nabhans et al. Five Ways to Value Working Landscapes in the West, führen die Autoren als Beispiel Bauern am Oberlauf des Colorado River an, die für bestimmte Flächenzahlen Wasser auf ihren Höfen 200 Dollar bekommen; schließlich ist der Schutz des Wassers für die Bewohner und für die Natur am unteren Flusslauf unglaublich wichtig. Ebenso investieren Viehzüchter in Montana in die Sanierung von Flüssen; manchmal unter Mithilfe der lokalen Bevölkerung, die angrenzende Flächen aufkauft, und unter Mithilfe des
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Gemeinschaftshöfe: Eine lokale „Reaktion“ auf globale Versorgungsstrukturen In den USA werden Gemeinschaftshöfe als CSA (Consumer Supported Agriculture) bezeichnet. Diese sind eine seit 1984 schnell wachsende und hoch innovative Form der Vernetzung von KonsumentInnen und ProduzentInnen; genauer: von privaten KonsumentInnen und einem Bauernhof in deren Nähe. Durch den Kauf eines Anteils am Hof teilen sich KonsumentInnen das wirtschaftliche Risiko mit dem Bauern, der gegenzüglich wöchentlich (oder nach einem anderen definierten Rhythmus) Gemüse und Obst der Saison direkt zuliefert. Zudem werden die KonsumentInnen durch Gemeinschaftsaktionen wie gemeinsames Sähen, Ernten oder Feiern (Stichwort „Erntedankfest“) auch persönlich miteinander verbunden. Wie auch gewissermaßen ein persönlicher Bezug zu dem geschaffen wird, was auf den Teller kommt. Es gibt bereits über 1.000 CSA Netze in den Vereinigten Staaten.
Verkehrsministeriums, das für die Erhaltung oder Wiedererrichtung von Lebensräumen zahlt.12
Die Errichtung eines lokalen Nahrungsmittelversorgungsnetzes Ein lokales Nahrungsmittelversorgungsnetz ist immer komplex. Wie viele – darunter Rob Marqusee, der Wirtschaftsentwicklungsplaner von Woodbury County – immer wieder erklären, bleibt jede Strategie unwirksam, wenn sie nicht in eine regionale Strategie eingebunden wird. Woodbury County ist ein Vorreiter, was die Entwicklung einer generelSarah Laeng-Gilliat ist Gründerin des len Strategie zur Einbindung der Institute for Nonviolent Economics in Landwirtschaft als wichtiger Wirtschaftsfaktor von Iowa angeht. Die Santa Fe, Neu Mexiko. Sie hat einen Mastertitel aus „Sozial Engagiertem verschiedenen Strategien verstärken Buddhismus“ des „Naropa Institute“ einander gegenseitig. und ist Bachelor der Philosophie der UC Berkely. Ihre wichtigsten Themen Die Regierung von Woodbury County seit 1996 sind Globalisierung und lokaspielt dabei eine zentrale Rolle, le Wirtschaft. Sie arbeitete als Gastproindem sie sich zum Wert lokaler, biofessorin für „Ökologie und Wirtschaft“ logischer Landwirtschaft bekennt. an verschiedenen Universitäten und Im Juni 2005 verabschiedeten sie ein hat drei Bücher über die Ursprünge der Gesetz, mit dem Bauern, die auf bioGewaltfreiheit in verschiedenen spirilogische Landwirtschaft umstellten, tuellen Traditionen, eines davon mit 20 Dollar pro 4.000 m2 Steuernachlass erhielten. Dann, im Jänner 2006, dem Titel Nonviolence Speaks to Power: wurde verordnet, dass NahrungsmitSpeeches by Petra Kelly, veröffentlicht. tel, die vom County beispielsweise Sarah Laeng-Gilliat hat mehrfach bei für das Gefängnis gekauft werden, dem buddhistischen Mönch Thich Nhat organisch produziert und in einem Hanh in dessen Kloster Plum Village Umkreis von 100 Meilen verarbeimeditiert und studiert. Zur Stärkung tet worden sein müssen. Es gibt auch der örtlichen Landwirtschaft in Neu einen Vorschlag, dass der GrundsteuMexiko koordinierte sie das Northern ernachlass im ganzen Bundesstaat New Mexico Organic Wheat Project eingeführt werden soll. Zudem hat und half bei der Erstellung eines Verdas lokale College der Gemeinde zeichnisses der Direktvermarkter unter biologische Landwirtschaft in die neumexikanischen Farmern. Sie ist MitLehrfächer aufgenommen. glied der „Other Worlds Collaborative“, einer Dokumentationsstelle für AlternaDes Weiteren fördert eine Basistiven zur globalen Wirtschaft. gruppe aus Küchenchefs, Bauern, Erziehern, Gesundheitsexperten und Konsumenten, die sich Sustainable Foods for Siouxland nennt, lokale nachhaltige Landwirtschaft. Sie haben lokale Verarbeitungsanlagen gekauft und sind dabei, eine regionale Lebensmittelmarke zu gründen.
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Und sie haben die Bauern bei der Schaffung eines ganzjährigen Markts unterstützt. Schließlich kam es auch noch zum Zusammenschluss von Farmers Market und Floyd Boulevard Breakfasts, die an Samstagen Frühstück und bei Gelegenheit Sonntags-Brunches aus lokaler Produktion servieren. Wie es auch ein „One Stop Fleischgeschäft“ gibt. Genau eine solche Vielzahl von Maßnahmen muss ineinander greifen, wenn Lokalität und Nachhaltigkeit entstehen sollen. Auf dass es zu einer Landwirtschaft kommt, die man tatsächlich als FAIRTRADE bezeichnen kann.
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Anmerkungen 1
Ich erwähne hier lobend Juliet Schor, die diese drei Weltanschauungen im Zuge einer Lehrveranstaltung am Schumacher College in der Vorlesung Green Economics (Sommer 2005) in einer Tabelle vorgestellt hat. Für allfällige Mängel in der vorliegenden Analyse ist die Autorin, nicht Juliet Schor verantwortlich.
2
Rigged Rules and Double Standards, Trade, Globalization and the Fight Against Poverty (Unfaires Spiel – Zweierlei Maß: Handel, Globalisierung und der Kampf gegen Armut).
3
Ebda, S. 4f., Zusammenfassung.
4
Ebda, S. 7.
5
Ebda, S. 9.
6
Erklärung über die Nahrungsmittelsouveränität von Via Campesina et al., Peoples’ Food Sovereignty and Agriculture Statement. (undatiert), http://www.peoplesfoodsovereignty.org/statements/new%20statement/statement_.01.htm
7
Rosset Peter, Food Sovereignty, Global Rallying Cry of Farmer Movements. Food First, Fall 2003.
8
Merkmale dieses Niederganges sind: der Verlust von bäuerlichen Familienbetrieben, Suizid unter den Bauern, Resistenz der Schädlinge gegen Pestizide, ein weitgehend konsolidierter Agrarsektor, niedrige Herstellungspreise in jüngster Zeit, Fettsucht und ernste gesundheitliche Gefahren, mangelnde Nahrungsmittelsicherheit, ökologische Auswirkungen von Industriemonokulturen, erschöpfte Böden, Verödung von Landstrichen etc.
9
DeVore Brian S. 3.
10
Vgl. DeVore Brian S. 2 – 3.
11
Vgl. Norberg-Hodge Helena, Merrifield Todd, Gorelick Steven (2000).
12
Gary Nabhan, Five Ways to Value Working Landscapes in the West. Präsentation bei der 6. Jahreskonferenz der Quivira Coalition, Albuquerque, New Mexico, 20. Jänner 2007.
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Bibliografie DeVore Brian, Putting Farming Back in the Driver’s Seat, in: The Land Stewardship Letter, Special Rural Development Report of the Land Stewardship Project, White Bear Lake, MN. Daryll E. Ray, Daniel G. De La Torre Ugarte, Kelly J. Tiller, Rethinking US Agricultural Policy: Changing Course to Secure Farmer Livelihoods Worldwide, The University of Tennessee: Agricultural Policy Analysis Center, 2003. Heinberg Richard, Fifty Million Farmers, in: Energy Bulletin, 17. November 2006. Heller Martin C. and Keoleian Gragory A., Life Cycle-Based Sustainability Indicators for Assessment of the US Food System, in: Ann Arbor: The Center for Sustainable Systems, 2002. Mamen Katy, Gorelick Steven, Norberg-Hodge Helena, Deumling Diana, Ripe for Change: Rethinking California’s Food Economy, International Society for Ecology and Culture, 2004. Mittal Anuradha, Kawaai Mayumi, Freedom to Trade? Trading Away American Family Farms, in: Food. First Backgrounder, Fall 2001, Vol. 7, No. 4 New Rules Project. The Agriculture Sector: Nurturing Our Rural Communities. http://www.newrules.org/agri/ (April 20, 2007). Norberg-Hodge Helena, Merrifield Todd, Gorelick Steven, Bringing the Food Economy Home: The Social, Ecological and Economic Benefits of Local Food, International Society for Ecology and Culture, 2000. Ritz Dean (Hg.), Program on Corporations, Law and Democracy (POCLAD), Defying Corporations, Defining Democracy: A Book of History and Strateg, New York: Apex Press, 2001, S. 240 – 243. Rosset Peter, Food Sovereignty, Global Rallying Cry of Farmer Movements. Food First, Fall 2003. Rosset Peter, The Multiple Functions and Benefits of Small Farm Agriculture, in the Context of the Global Trade Negotiations. Institute for Food and Development Policy (Food First), policy Brief no. 4. http://www.foodfirst.org/pubs/policybs/pb4.html Rosset Peter, Food is Different: Why We Must Get the WTO Out of Agriculture, London and New York: Zed Books, 2006. Via Campesina et al., Peoples’ Food Sovereignty and Agriculture Statement. (undatiert), http://www.peoplesfoodsovereignty.org/statements/new%20statement/ statement_.01.htm Walden Bello, Dilemmas of Domination: The Unmaking of the American Empire, New York: Metropolitan Books, Henry Holt and Company, 2005.
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Für eine weniger ungleiche Welt Von Branko Milanovic
Die Globalisierung hat unsere Einstellung zu uns selbst und zur Welt verändert: Wir halten uns nicht länger ausschließlich für Bürger einer einzelnen Nation. Die Bewohner der Europäischen Union beispielsweise sind doppelt loyal: einmal gegenüber ihrem „eigenen“ Land, das andere Mal gegenüber der Union. Oder denken wir an jene, die aus unterschiedlichen Gründen Pässe verschiedener Länder besitzen; oder an ehemalige Gastarbeiter in Deutschland, die eine Affinität zu ihrem Herkunftsland (oder zu dem ihrer Eltern) und zu Deutschland sowie Europa fühlen. Auch die statistischen Kategorien ändern sich. Seit der Einführung des Euro gibt es keine Währungsstatistiken für einzelne europäische Länder mehr. Ein Dutzend Länder wird nunmehr zu einem einzigen zusammengefasst – zu statistischen Zwecken. Auch unsere Einstellung zu anderen globalen Themen, wie globale Armut und Ungleichheit, hat sich gewandelt. Während die Armut – auf Grund der Bilder der Zerstörung und Not, die tagtäglich über unsere Fernsehschirme flimmern, oder weil die Verminderung der Armut als Punkt in die von den Vereinten Nationen proklamierten Entwicklungsziele des Jahrtausends aufgenommen wurde – im Fokus der Öffentlichkeit steht, ist die Ungleichheit irgendwie noch immer ein „Schläfer“. Und zwar aus zweierlei Gründen: Erstens ist die Ungleichheit ein heikles Thema. Die Reichen sprechen nirgends gerne über sie. Während die Armut ein öffentlich anerkanntes Problemfeld ist, ruft die Thematisierung der Ungleichheit bei den Reichen oft das Gefühl hervor, dass jemand auf ihr Geld aus sei. In ihren Augen ist das ein Aufruf zur Umverteilung. Zweitens sind Berechnungen der globalen Ungleichheit, d.h. die Bewertung des Einkommens praktisch jedes Bürgers der Welt, extrem kompliziert. Entsprechende Berechnungen beruhen auf den Haushaltsaufstellungen in allen Ländern der Welt – etwas, was es in den meisten Ländern bis vor kurzem gar nicht gab, wobei die Sowjetunion es überhaupt ablehnte, ihre Daten zu veröffentlichen. In China, wo ungefähr ein Fünftel der Weltbevölkerung lebt, wurden Haushaltserhebungen gar erst ab Mitte der Achtzigerjahre verfügbar. In den vergangenen 20 Jahren aber erzielte man große Fortschritte und wir verfügen nun über aussagekräftige Daten für mehr als 90% der Weltbevölkerung und 95% des konsumierten (oder produzierten) Welteinkommens.
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Was geht aus diesen Ergebnissen hervor? Erstens, dass die Ungleichheit zwischen den Einzelpersonen auf der Welt extrem hoch ist. Sie ist höher als die Ungleichheit in jedem der Länder für sich genommen. Die Welt als Ganzes besteht aus einer winzigen extrem reichen Schicht, einer kleinen Mittelschicht und Massen von Armen. Nach westeuropäischen oder amerikanischen Standards sind 78% der Weltbevölkerung arm. Anders betrachtet fließt den oberen 10% der Weltbevölkerung ungefähr die Hälfte des Ertrags weltweit zu. Ihr Durchschnittseinkommen ist 70mal so hoch wie das Durchschnittseinkommen der unteren 10% der Weltbevölkerung. Man beachte, dass diese Statistiken unter Einbeziehung der Tatsache, dass Menschen im Durchschnitt in armen Ländern niedrigere Preise zahlen, erstellt werden. Nahrungsmittel sind beispielsweise in Indien billiger als in Schweden und daher kommt man mit einem Dollar in Indien viel länger aus als in Schweden (wie alle Touristen wissen). Wenn wir diese Anpassungen nicht einkalkulieren und die globale Ungleichheit anhand der Wechselkurse berechnen, vervielfachen sich die Unterschiede: Die oberen 10% der Weltbevölkerung beziehen dann mehr als 2/3 des Welteinkommens oder 150mal so viel wie die ärmsten 10%.
Die heutige Welt ist geteilt, und zwar gleich mehrfach: Einer winzigen Schicht extrem Reicher und einer kleinen Mittelschicht stehen Massen von Armen gegenüber. Konkret sind nach amerikanischen und westeuropäischen Maßstäben 78% der Weltbevölkerung als „arm“ zu bezeichnen. Die Hälfte des Ertrags, der auf diesem Planten erwirtschaftet wird, kommt dabei den oberen 10% der Weltbevölkerung zu; deren Durchschnittseinkommen ist in etwa 70mal so hoch wie das Durchschnittseinkommen jener 10%, die das untere Ende der Welt-Einkommens-Skala bilden. Allerdings nur dann, wenn berücksichtigt wird, dass etwa Nahrung in Indien billiger als in Schweden ist, also dass für das wenige Geld mehr gekauft werden kann. Bleibt diese Bereinigung aus, verdienen die oberen 10% rund 150mal so viel wie die ärmsten 10%. Ob die Ungleichheit insgesamt zu- oder abnimmt, ist dennoch nicht leicht zu bestimmen. Einerseits deshalb nicht, weil die Berechnung äußerst komplex ist; andererseits lassen sich zwei unterschiedliche Trends ausmachen. In den USA oder Russland nimmt die Ungleichheit definitiv zu, was sich auch auf die Welt-Ungleichheit auswirkt. Gleichzeitig hat sich durch das gestiegene Durchschnittseinkommen in Ländern wie Indien oder China die Welt-Ungleichheit verringert. Trotz dieser Unklarheit ist es wichtig, gegen Ungleichheit vorzugehen. Denn die Bewohner der Entwicklungsländer können sich dank Medien und Globalisierung immer besser mit den Bewohnern der Industrienationen vergleichen; sie werden sich also immer deutlicher ihrer Position innerhalb der Gesellschafts-Pyramide bewusst – was nicht ohne Folgen bleibt. Internationale Initiativen sollten deshalb gegen Armut und Ungleichheit vorgehen; was z.B. durch Förderung von Nahrungsmittelexporten aus armen Ländern bei gleichzeitiger Streichung der Agrarsubventionen in den Industrienationen erfolgen könnte. Oder durch Aufweichung der strengen „Intellectual Property Rights“, die Entwicklungsländer von der Nutzung modernster Technologien abhält. Und damit auch von jener Kraft, die heute am stärksten für wirtschaftliches Wachstum sorgt.
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Obwohl alle darin übereinstimmen, dass die Unterschiede groß sind, besteht kein Konsens über zwei zusätzliche Themen: Erstens, nehmen die Unterschiede zu oder ab, zweitens, was soll man dagegen unternehmen, und soll man überhaupt etwas unternehmen? Die jüngste Entwicklung der globalen Ungleichheit ist Gegenstand von Kontroversen, nicht nur wegen zahlreicher methodischer Probleme, mit denen „große Analysen“ wie diese behaftet sind, sondern auch wegen zweier offensichtlich widersprüchlicher Trends. Auf der einen Seite haben große Erhöhungen der Durchschnittseinkommen in China und Indien die globale Ungleichheit verringert. Massen von Indern und Chinesen haben ihren relativen Abstand (in %) von den Reichen verringert. Das war eindeutig eine sehr positive Entwicklung. Andererseits aber hat in den letzten zwei Jahrzehnten die Ungleichheit innerhalb der meisten Länder zugenommen; zudem sind auch viele der ärmsten Länder noch weiter hinter die reichen zurückgefallen (hauptsächlich in Afrika, wo die Entwicklungen oft als katastrophal beschrieben werden). Zunahmen der Ungleichheit innerhalb des Landes gibt es in den Vereinigten Staaten (was unter Reagan anfing), im Vereinigten Königreich (wo es unter Thatcher begann), in Russland im Zuge der Privatisierungswelle und in jüngster Zeit in China und Indien. All diese Entwicklungen haben eine umgekehrte Auswirkung auf die globale Ungleichheit: sie verstärken sie. Insgesamt also scheint es, dass die globale Ungleichheit in den letzten beiden Jahrzehnten unverändert geblieben ist: Sie nahm zwar durch das schnelle Wachstum Chinas und Indiens ab – doch sie nahm auch durch die sich vergrößernden Unterschiede innerhalb der Nationen sowie durch die Stagnation oder den Abschwung in Afrika, Lateinamerika und in den früher kommunistischen Ländern zu. Aber auch wenn die globale Ungleichheit ungefähr gleich geblieben ist, so bewegt sie sich doch immer auf einem extrem hohen Wert. Soll man etwas dagegen tun? Viele meinen, dass globales Handeln vonnöten sei und dass es nur um die Verringerung der Armut gehe. Anne Krüger, ehemalige stellvertretende Geschäftsführerin des IWF, zufolge „sind Arme verzweifelt bestrebt, ihre materielle Lage zu verbessern (…) statt die (Leiter der) Einkommensverteilung hinaufzuklettern.“ Nicht einmal die absolute Zunahme der Einkommensschere zwischen einem Durchschnittsamerikaner und einem Durchschnittsafrikaner bringt jene, die so argumentieren, zum Nachdenken. Denn, so ihr Tenor, der Durchschnittsafrikaner wäre dann bloß ein bisschen weniger arm, mehr nicht. Das aber würde heißen, dass die Relation unseres Einkommens zum Einkommen anderer keine Rolle spielt. Psychologische Studien allerdings zeigen ausnahmslos, dass den Menschen nicht nur ihr absolutes Einkommen in Dollar wichtig ist, sondern auch, wo sie in der gesellschaftlichen Pyramide stehen, und ob sie diese Position für eine faire halten.
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Kommen wir zum Anfang zurück: Die Globalisierung verändert unsere Einstellung zu uns und zu anderen. In der Vergangenheit hat sich ein armer Afrikaner mit seinen Landsleuten verglichen und ihnen ihren Reichtum übel genommen; heute vergleicht er sich und seine wohlhabenden Landsleute mit den Menschen in den reichen Ländern – und nimmt den Bewohnern dieser Länder die riesigen Einkommensunterschiede übel. Die Unterschiede sind dort am offensichtlichsten, wo Menschen aus verschiedenen Ländern zusammen arbeiten – wie z.B. in multinationalen Firmen. Ein „Auswanderer“ verdient womöglich zehn Mal so viel wie die einheimischen Arbeitskräfte – für ein und dieselbe Arbeit. Die Staatsbürgerschaftsdividende lockt. Aber auch wenn Menschen nicht zusammen arbeiten, können sie durch die Globalisierung ihren Lebensstandard vergleichen, indem sie sich die Welt medial in ihre Wohnung (oder Hütte) holen. Das nagt an der relativen Sicherheit, in die sich unsere reiche (nördliche) Welt wie in einen Kokon zurückziehen konnte: Die existierenden Einkommensunterschiede werden jetzt sichtbar, ja zur Schau gestellt und jeder kann sie sehen. Aus diesem Grund muss sich jede internationale Initiative sowohl mit der globalen Armut als auch mit der globalen Ungleichheit beschäftigen. Solche Initiativen sollten zusätzlich und nicht an Stelle bereits laufender Maßnahmen im Bereich (1) Handel, (2) im internationalen Finanzgefüge und (3) in den Migrationsbewegungen ergriffen werden. Untersuchen wir diese drei Bereiche näher: (1) Im Handel sollten die Nahrungsmittelexporte aus ärmeren Ländern dadurch gefördert werden, dass es zur Senkung oder gegebenenfalls sogar zur Streichung landwirtschaftlicher Subventionen in Europa, Japan und den Vereinigten Staaten kommt. In gleicher Weise sollte der bereits vorhandene zollfreie Zugang armer Länder zu Textil- und anderen Exporten auf viele weitere Warenmärkte ausgedehnt und generalisiert werden. Am allerwichtigsten jedoch wäre die Aufweichung der strengen “intellectual property rights” bezüglich Medikamenten, Computersoftware und ähnlichem, wodurch neue Technologien in armen Ländern stärker verbreitet werden könnten. Denn eine der Grundvoraussetzungen, die alle elementaren Wirtschaftsmodelle bezüglich wirtschaftlichem Wachstum propagieren, ist der freie Zugang zu Technologie: Sogar ein armes Land kann – zumindest theoretisch –Technologien implementieren, die in einem anderen Land bereits eine erfolgreiche Nutzung erfahren haben – wobei diese Implementierung theoretisch sogar kostenlos erfolgen kann. Der freie Zugang zu Technologie kann deshalb zum Schlüssel dafür werden, dass die armen Länder – vorausgesetzt, dass alle übrigen Dinge auf dem gleichen Stand sind – schneller wachsen als reiche. In der Regel geht man davon aus, dass Marktmechanismen für ein Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage sorgen und folglich alle
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profitieren. Gerade neue Technologien sind allerdings derzeit nicht frei und nicht gleichermaßen für alle verfügbar. Obwohl es sich bei ihnen eigentlich um kein Wettbewerbsgut handelt (weil viele Menschen die gleiche Technologie gleichzeitig verwenden können, d.h.: wenn ich eine bestimmte Software verwende, um meinen Text zu schreiben, hindert das jemand anderen nicht daran, mit ihr ein Gedicht zu schreiben), aber eben doch um eines, das gleichsam „ausschließenden“ Charakter hat: A kann schreiben, was A will, und B was B möchte – aber jeder nur mit seiner Lizenz, die er beim Hersteller der Software erworben hat. Damit werden “intellectual property rights” etabliert, deren – historisch einmalige – Strenge eigentlich die Entwicklung und das Wachstum armer Länder konterkariert. Das alles wird in seiner Problematik deutlich erkennbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass beispielsweise die Disney Corporation Millionen und möglicherweise Milliarden Dollar verdient, indem sie Geschichten erzählt, die Teil des Weltkulturerbes sind. Die Handlung von „Tausend und einer Nacht“ kann z.B. von Disney kostenlos verwendet werden; wenn aber Perser die Geschichte, die ihre Vorfahren geschrieben haben, sehen möchten, müssen sie Disney etwas zahlen. Natürlich sind bestimmte Gebühren für geistiges Eigentum unumgänglich, wenn die Innovation nicht erstickt werden soll. Sie müssen aber an die Zahlungsfähigkeit der Menschen in armen Ländern angepasst werden. Derzeit schwingt das Pendel zu weit zu Gunsten der Reichen aus. (2) Im Bereich der internationalen Finanzinstitutionen muss man sich zweierlei vor Augen halten. Erstens sind die internationalen Finanzinstitutionen „Opfer“ der Globalisierung. Ihre Bedeutung, insbesondere jene, die ihnen seit der Asienkrise vor zehn Jahren und der Marktöffnung in Osteuropa zugewachsen war, ist im Schrumpfen. Die Globalisierung der Finanzen schreitet mit Riesenschritten voran und inkludiert, dass Darlehen für viele Länder mit mittleren Einkommen wie auch für arme Länder viel leichter zugänglich sind als zuvor. Sie brauchen die IWFund Weltbankdarlehen nicht mehr; umso weniger, als diese Darlehen oft mit Auflagen verbunden sind. Die aushaftenden Darlehen des IWF sind in den vergangenen fünf Jahren von mehr als 80 Milliarden SZR (Sonderziehungsrecht; eine künstliche Währungseinheit, A.d.R.) auf unter 20 Milliarden zurückgegangen. Tatsächlich steckt der IWF in einer tiefen Finanzkrise, weil sein eigenes Einkommen von den Zinsen der aushaftenden Darlehen abhängt. Der IWF ist jetzt eigentlich wie eine Bank, bei der sich nur mehr sehr wenige Länder Geld ausleihen möchten (oder müssen). Und das wird sich nicht so schnell ändern (es sei denn, es kommt zu einer größeren Finanzkrise). Zweitens ist trotz der schwindenden Bedeutung des IWF und der Weltbank ist die “global governance”, die von diesen Institutionen (wie auch von der WTO) ausgeht, wichtig und muss besser an die Welt, wie sie derzeit ist, angepasst werden. Es ist ein Anachronismus, dass die
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Köpfe der beiden wichtigsten internationalen Finanzinstitutionen nur aus den Vereinigten Staaten und Westeuropa kommen dürfen. Es ist schockierend, dass beispielsweise die Schweiz und Belgien in diesen zwei Institutionen mehr Stimmrecht haben als alle afrikanischen Länder zusammen genommen (mit Ausnahme von Südafrika). Die afrikanischen Länder aber haben 35 mal mehr Einwohner als diese beiden Länder! (3) Wie steht es um die Migration? Diese ist in letzter Zeit zu einem Reizwort geworden, und zwar aus mehreren Gründen: Erstens, weil Hindernisse für die Freizügigkeit von Arbeitskräften immer schwerer zu rechtfertigen sind, wenn alle anderen Wirtschaftsfaktoren wie Produktion, Güter und Dienstleistungen relativ ungehindert zwischen den Ländern zirkulieren. Die Migrationen sind heute viel schwächer als während der ersten Globalisierungsperiode (ungefähr 1870 – 1914), obwohl der grenzüberschreitende Verkehr aller anderen Produktionsfaktoren zugenommen hat. Zweitens zeigen Berechnungen, dass sogar ein bescheidenes Ansteigen der Migration mehr zum Rückgang der globalen Armut beitragen könnte als eine Verdoppelung oder Verdreifachung der gegenwärtigen Hilfe an die armen Länder. Drittens, und das ist am wichtigsten, ist der derzeitige Migrationsdruck, wie ihn die EU und die USA zu spüren vermeinen, keine Anomalie. Er kommt auch nicht unerwartet. Er ist nur das Ergebnis eines sehr problematischen Musters der Entwicklungen des letzten Vierteljahrhunderts. Reiche Länder sind durchschnittlich viel schneller gewachsen als arme (mit Ausnahme von Indien und China). Deswegen hat die Ungleichheit zwischen den Ländern dramatisch zugenommen. Um zwei hervorragende Beispiele zu nennen: Während 1960 das Verhältnis des BIP zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko 3,5 : 1 war, ist es heute 4,5 : 1 (und das nach Extrapolation der niedrigeren Preise in Mexiko). Ebenso ist der Abstand zwischen dem BIP von Spanien und Marokko gestiegen: von 2,3 : 1 auf 4,5 : 1. Kein Wunder also, dass das Ansteigen der Einkommensunterschiede zwischen den Ländern mit einem starken Migrationsdruck einhergeht. Die Antwort auf diesen Druck sollte eine zweigliedrige sein: Die reichen Länder sollten mehr Einwanderer zulassen – und sie sollten sich mehr bemühen, die Entwicklung in den ärmeren Teilen, besonders in Afrika, anzukurbeln. In dieser Perspektive kann Hilfe als aufgeklärtes Selbstinteresse der Reichen betrachtet werden. Kommen wir nun zum Ausgangspunkt unserer Vorstellung von „Helfen“ zurück: Wir brauchen ganz eindeutig bessere und effizientere Mechanismen für die finanziellen Beihilfen der reichen Länder; zusätzlich müssen wir einen Weg finden, der sich mit der Globalisierung vereinbaren lässt – mit einem Prozess, der nationale Grenzen durchlässiger und weniger wichtig macht. Die Hilfe sollte an Arme in armen Ländern gehen, aber nicht über die bestehenden Kanäle von Regierung zu Regierung, und auch
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Branko Milanovic, geboren 1953, promovierte mit einer Arbeit über Einkommensverteilung 1987 in Wirtschaftswissenschaften an der Universität Belgrad. Er ist heute führender Wirtschaftswissenschaftler an der Forschungsabteilung der Weltbank, zuständig für Armut, Einkommensverteilung und Haushaltsuntersuchungen. Er ist zudem Partner des Carnegie Endowment for International Peace, Washington, sowie ao. Professor an der School for Advanced International Studies an der Johns Hopkins University und an der University of Maryland.
nicht über die internationalen Finanzinstitutionen, sondern direkt an die Menschen. Wie könnte das funktionieren?
Durch eine globale Besteuerung einkommenselastischer Güter, die hauptsächlich in reichen Ländern konsumiert werden. Die Maßnahme sollte von einer globalen Institution (einer globalen Wohlfahrtskommission) geleitet werden und die Auszahlungen sollMilanovic schreibt und arbeitet über Methodik ten direkt bar an die Armen und Empirik der Ungleichheit, über Armut und in armen Ländern ergehen. Sozialpolitik in Übergangswirtschaften sowie Eine globale Umverteilung über die Globalisierung der Ungleichheit. Zu durch Steuern und Abgaben, seinen jüngsten Veröffentlichungen gehören: die von einem internationalen Income and Influence: Social Policy in Emerging Gremium eingehoben würden, Market Economies (Mitver fasser: Ethan mag heute noch außer Reichweite erscheinen, aber die Kapstein), Upjohn 2003; True world income distribution 1988 and 1993; first calculations Logik der jüngsten Entbased on household surveys alone, Economic wicklungen – weg vom NaJournal, 2002; Income, Inequality, and Poverty tionalstaat – weist darauf during the Transition from Planned to Market hin, dass es früher oder später dazu kommen wird. Ein Economy, Weltbank, 1998. Sein aktuelles Buch Worlds Apart: Measuring International and solches Gremium sollte aber Global Inequality, Princeton University Press, mehr sein als eine weitere erschien 2005. Es wurde ins Chinesische, Itainternationale Organisation lienische, Russische, Spanische und Serbische wie die Vereinten Nationen übersetzt. oder die Weltbank: Es sollte auf die Globalisierung reagieren. Und es sollte ermächtigt werden, für sich (über Besteuerung von Geldtransaktionen oder Flugreisen, wie im Tobin-Vorschlag skizziert) Geld zu lukrieren, aber gleichzeitig die Regierungen umgehen, weil diese oft Hilfe aus dem Ausland verschwendet haben. Im Geiste der Einführung einer Weltbürgerschaft sollte solch ein Gremium vielmehr direkt mit den nationalen Nichtregierungsorganisationen und einzelnen Bürgern armer Länder verhandeln und die Mittel in Form von Barsubventionen verteilen. Eine entsprechende Gelegenheit ließ man in den frühen 1990er Jahren ungenützt verstreichen. Die Gelegenheit, an die ich hier denke, vermittelt jedoch sehr gut, was mir vorschwebt:
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Als die Russlandkrise am Höhepunkt angelangt war, hätte man die Hilfe statt an das korrupte Jelzin-Regime direkt bar an die bedürftigen Bürger auszahlen sollen: Z.B. an PensionistInnen, deren Einkommen wegen der Inflation und dem allgemeinen Chaos ins Bodenlose gesunken waren. Eine internationale Organisation wie die, an die ich hier denke, hätte einfach auf Grundlage der bestehenden Infrastruktur des russischen Staates und der Pensionslisten 20 Millionen russischen PensionistInnen Beihilfen zahlen können. Das Geld wäre viel effizienter eingesetzt gewesen als es so war, und die BürgerInnen hätten die Hilfe der internationalen Gemeinschaft geschätzt – statt derselben vorzuwerfen, ihre Mittel an korrupte Führer zu überweisen. Eine vergleichbare oder ähnliche Vorgangsweise könnte für viele Länder, von Angola bis Zimbabwe, gewählt werden. Sie ist ebenso einfach wie wirkungsvoll und wäre in drei Stufen zu bewerkstelligen: Geld bei den Reichen der Welt auftreiben, nicht mit den Regierungen verhandeln – und die Mittel bar an die Armen auszahlen. Auch wenn die Befürworter einer ausschließlich privatwirtschaftlich angetriebenen Globalisierung etwas gegen den Vorschlag der Einsetzung einer globalen Steuerbehörde – der ersten in der Geschichte der Menschheit! – haben könnten, müssen sie zugeben, dass der Prozess der von ihnen so leidenschaftlich geförderten Globalisierung ihre eigene Position untergräbt. Und zwar dadurch, dass die Globalisierung den Unterschied in der Reichtumsverteilung sichtbarer macht und die Gerechtigkeit der gegenwärtigen globalen Verteilung fragwürdiger erscheinen lässt. Spätestens an diesem Punkt muss den Reichen bewusst werden, dass es auch in ihrem Interesse liegt, ein global angelegtes Vorgehen gegen die Armut – und die Ungleichheit – zu fördern.
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Globalisierung 1700 –1800 Zwischen 1750 und 1880 erfolgt der Aufbau weltwirtschaftlicher Verflechtungen von bislang unbekannter Dichte unter dem Einfluss der von der industriellen Revolution geschaffenen Produktions-, Transportund Kommunikationskapazitäten. In dieser Zeit zieht sich Europa auf sich selbst zurück. Man beobachtet jedoch den Export europäischer Institutionen, z.B. die Idee des Nationalstaates und eine europäischwestliche Denkweise in die Welt.
Die Welt wächst nur sehr langsam zusammen: Obwohl in mehreren Zivilisationen Städte aufblühen und sich auch kulturell zunehmend selbstbewusste und kreative Milieus von Großkaufleuten herausbilden, bleibt das Gewicht des grenzüberschreitenden Fernhandels gegenüber der lokal und regional erzeugten und verbrauchten Produktion eher gering. Nur wenige Zentren, wie die Niederlande, verdanken dem Fernhandel ihren Reichtum.
Die wirtschaftliche Nicht-Vernetzung ist im 18. Jahrhundert kein gravierendes Problem, Autarkie für einigermaßen entwickelte Großräume der natürliche Zustand. Die Welt ist nach wie vor polyzentrisch.
In Daniel Defoes Roman „Tradesman“ findet man zu lesen, dass sich nirgendwo mehr jemand mit örtlichen Erzeugnissen zufrieden gibt. Jeder verlangt Produkte aus aller Welt. Der englische Markt stellt schon Anfang des 18. Jahrhunderts eine lebendige Einheit dar. Im ganzen Land wird dafür gesorgt, dass das Netz schiffbarer Flüsse gut ausgebaut wird, und es gilt zu bewerkstelligen, dass die nächste Verbindung zum Wasser nicht mehr als 15 Meilen entfernt liegt.
Die Spezialisierung der Märkte nimmt immer weiter zu.
Nach der Kolonialisierung Lateinamerikas verlief der Anstieg der Pro-KopfEinkommen sehr viel langsamer als in Nordamerika, jedoch weit rascher als in Asien oder Afrika.
London ist über die Märkte in ganz England vertreten: Einheitliche Mode gibt Aufschluss über einen einheitlichen Wirtschaftsraum. Auch das Bankwesen breitet sich über das ganze Land aus.
Nach 1720 kommen alle Ebenen in Bewegung: es kommt zu einem Bruch in den Systemen: die Läden und der Zwischenhandel blähen sich auf, die Messen sinken auf den Level des elementaren Gütertausches. Börsen erhalten Konkurrenz in den Banken. An der Spitze stehen die Banken und das Börsenwesen, die ganz Europa in Abhängigkeit bringen. An der Basis kommt es zur Ausbreitung des Wandergewerbes und des Hausiererhandels.
Das Gesamtvolumen des europäischen Handels in Asien ist im 18. Jahrhundert etwa neunmal so hoch wie im 17. Jahrhundert.
Der Hauptgrund für die schwindende Dynamik der Niederlande im 18. Jahrhundert ist die Zerschlagung der holländischen Handelsmonopole in den Kriegen gegen Frankreich und Großbritannien, in deren Folge die Niederländer auf die Zuschauerplätze verwiesen werden.
Die niederländische Ostindien-Kompanie beginnt Anfang des 18. Jahrhunderts, Kaffee in Mokka (Jemen) einzukaufen. Zwischen 1711 und 1720 steigt das Volumen der Kaffeeimporte aus dem Jemen von 300 Tonnen auf 875 Tonnen. Ende der 20er Jahre des 18. Jahrhunderts produziert allein Java bereits rund 2.000 Tonnen Kaffee pro Jahr.
Die niederländische Ostindien-Kompanie schreibt den javanischen Kleinherrschern Anbauquoten vor, so dass diese ihre Untertanen zwangen, Kaffee zu pflanzen. Ab den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts bekommen die javanischen Kaffeeplantagen Konkurrenz aus Suriname, wo Produktion und Export wesentlich schneller wachsen.
Die Vorläufer des Typus der modischen und erfolgreichen „NetzwerkFirma“ mit internalisierten Märkten finden sich bereits unter den Kaufmannsimperien (trading empires) der frühen Neuzeit. Dies lässt die Behauptung zu, dass die als charakteristisch für das gegenwärtige Zeitalter der Globalität zu verstehenden Muster schon im 17. und 18. Jahrhundert verfügbar waren.
Montierte Quellen: Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Der Handel. Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Aufbruch zur Weltwirtschaft. Angus Maddison, Die Weltwirtschaft: Eine Milleniumsperspektive. Jürgen Osterhammel, Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Wikipedia, Globalisierung (Stand: 15.8.2007). Montiert von Michaela Ritter
Wissen – Kommodifizierung – An/Enteignung: FAIR?? – NOT AT ALL! Von Margit Franz
“US patent on yoga?” und “Yoga does not belong to an individual” waren die Schlagzeilen im Mai 2007 in der Times of India, der größten indischen Tageszeitung. Swami Ramdev, Indiens TV-Yoga-Guru-Superstar, der allmorgendlich seine Yoga-Praktiken und Philosophien einem begeisterten, alle Bevölkerungsschichten umfassenden Millionenpublikum vermittelt, meldete sich mit den Worten “Yoga cannot be patented as it belongs to the entire country and humanity. Also yoga cannot be run like a company” zu Wort. Yoga wird seit vielen tausend Jahren praktiziert. Das Wort selbst stammt aus einer ältesten Schriftsprachen der Welt, des Sanskrit, und wurde vor 4.000 bis 5.000 Jahren aufgezeichnet. Es bedeutet soviel wie „Vereinigung“ – von Ying und Yang, von Körper und Geist, eigenem und einem universellem Bewusstsein bzw. die Verschmelzung verschiedener Elemente. Im Westen – und zunehmend auch im Osten – glauben die Menschen, dass Yoga eine bloße Abfolge von Körperübungen sei; manche verbinden damit gerade noch Atemübungen. Aber tatsächlich ist Yoga eine Philosophie, eine Lebensweise, ein Heilmethode, eine den Körper und Geist umfassende Lehre. Im „Raja Yoga“ (Raja bedeutet im Sanskrit „König“, weil es der umfassendste und schwierigste Zweig der verschiedenen Yoga-Pfade ist), welches die vollkommene Beherrschung des Geistes und Körpers durch Meditation anstrebt, steht es für eine vollkommene Verschmelzung mit dem Universum, für völliges Vertrauen und Hingabe in den göttlichen Willen, das im Zustand des „Samadhi“ sein höchstes Ziel erreicht. Mit dem Verweis auf diese alte indische Tradition forderte Swami Ramdev, “since there are attempts to patent this tradition (of yoga) in America, the Indian government and yoga organisations should take measures to prevent it”.
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Was war passiert? Ein geschäftstüchtiger indischer Emigrant in den USA, Bikram Choudhary, hatte ein Patent zur Ausübung von Yoga in einem Dampfraum bei 45 Grad Celsius beantragt. Geboren in Kalkutta im Jahre 1946 begann Bikram sein Yogastudium schon mit dem vierten Lebensjahr bei einem bekannten Yogalehrer. 1973 folgte Bikram dann einer Einladung von Präsident Nixon in die USA und wurde einer der bekanntesten Yogalehrer der USA, dem prominente Persönlichkeiten und AthletInnen in Scharen zuströmten. Neuerdings versuchen gewiefte Geschäftsleute sogar, sich Patente für Yoga zu sichern. Was in Indien, wo Yoga nicht bloß eine Körpertechnik, sondern ein Stück Lebensform und Lebenskultur ist, zu einem Aufschrei der Empörung geführt hat. Sogar die indische Regierung hat sich dazu entschlossen, gegen diese Patentierungs-Bestrebungen vorzugehen; wenn nötig mittels eines internationalen Rechtsstreits. Hintergrund für diese Entwicklung ist der so genannte „Kommodifizierungsprozess“; d.h. die gezielte Umwandlung von Gütern in Waren, die für den Kapitalismus typisch ist. Dieser Kommodifizierungsprozess hat längst auch das Feld des Wissens erfasst, wobei die Logik des klassischen Rohstoffhandels wiederholt wird: Aus dem Süden kommt das „rohe Gut“, das im Norden zu edlen Produkten verarbeitet wird. Nur mit dem Unterschied, dass die Veredelung heute nicht mehr in Stahlwerken und ähnlichem, sondern in Forschungslabors erfolgt. Wo das lokale traditionelle Wissen (beispielsweise indischer Provenienz) analysiert, zerlegt und wieder neu zusammengefügt wird. Mittlerweile wächst aber der Widerstand gegen die Kommodifizierungs-Tendenzen: Netzwerke und Kooperationen der verschiedensten Art entstehen, die traditionelles Wissen gegen die Aneignungsversuche des Nordens verteidigen wollen. Und deshalb das traditionelle Wissen in Datenbank-Informationen und damit in öffentliche Informations-Güter verwandeln, das weltweit abgerufen werden kann. Darüber hinaus existieren zahlreiche Forschungsnetzwerke, die das gängige Wissenschaftsparadigma des Nordens verlassen und sich stattdessen um lokale traditionelle Wissenszweige gruppieren. Auf diese Weise will man nicht nur lokales Wissen schützen; es soll auch der Norden dazu angeregt werden, seine Praktiken zu überdenken – auf der Wissensebene wie auf der Ebene des Handels. Laut US-amerikanischen Patent and Trademark Office (USPTO) wurden bereits 150 Yoga bezogene Urheberrechte (= Copyrights), 134 Patente auf Yoga Zubehör und 2315 Yoga Marken (= Trademarks) vergeben. Die indische Regierung und Yogaorganisationen werfen im aktuellen Fall dem USPTO fahrlässigen Umgang bei der Vergabe von Patenten und Marken im Bezug auf traditionelles Wissen vor. Ramdev bringt etwa folgenden zynischen Einwand vor: “How can any Tom, Dick and Harry, who has no true knowledge of yoga, can get patent of Yoga, the traditional knowledge of India?”. Yogi Ashwini wirft zudem ein, “in the present debate we are talking about only asana [= Körperübung] which is just a limb. A person who thinks asana is yoga and who is patenting asanas
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and is thinking he is patenting yoga needs to go back to the kindergarten of yoga.” Dem Westen wird Geschäftemacherei mit Yoga vorgeworfen und die Befürchtung geäußert, dass in Zukunft gilt: “Be ready to pay each time you do your morning yoga! Call it a deliberate attempt to make inroads by the West into the lucrative Indian market, or an enterprising NRI [= Non-Resident Indian, Bezeichnung für indische EmigrantInnen, die wegen großer Kapitalrückflüsse ins Heimatland mit Sonderrechten finanzieller und rechtlicher Art ausgestattet wurden] trying to grab an opportunity”. Aber es wird auch nicht mit Kritik an indischer Geschäftemacherei gespart: “This debate would at least tell the whole world what yoga is and would save many from being cheated by these unscrupulous business men in the garb of yogis, whose only purpose is to make money at the cost of the gullible.” Die indische Regierung hat sich diesen Protesten angeschlossen und zeigt – nach vormals nur von NGOs (= Nichtregierungsorganisationen) getragenen Einsprüchen gegen internationale Patentierungen indischer Kulturgüter und traditionellen Wissens wie die Patente um den indischen Niembaum – verstärkt internationale Initiative. Die offizielle indische Regierung sowie das Gesundheitsministerium protestierten gegen alle Yoga-bezogenen Patente und Marken direkt beim USPTO; das Handelsministerium deponierte seinen Protest beim US-amerikanischen Handelsvertreter und betonte die Verletzung der Rechte von traditionellem Wissen. Sollten diese Bemühungen keine Früchte tragen, ist die indische Regierung bereit, einen internationalen Rechtsstreit gegen alle Yoga bezogenen Patentierungen zu initiieren. Sie begründet ihren Optimismus auf eine digitale Datenbank, in denen systematisch traditionelles Wissen Indiens gesammelt, dokumentiert und beschreiben wird. Komplexe indische Wissenssysteme sollen auf diese Weise in digitale, international abrufbare Information verwandelt werden. Dieses Instrument wurde durch die verstärkten Aneignungsversuche indischer traditioneller Wissenselemente durch ausländische wie indischer Geschäftsunternehmungen als Folge der Einführung von TRIPS (Trade Related Intellectual Property Rights) im Zuge Indiens WTO-Beitritt (World Trade Organisation) notwendig. Denn als „Referenzmaterial“ kann es die Okkupation traditionellen Wissens durch ökonomisch bestimmte Systeme und Märkte verhindern, respektive in einem Rechtsstreit Jahrhunderte altes Wissen einer Kultur zuordnen. Im Fall der Yoga-Patentversuche hat die indische Regierung zusätzlich eine Arbeitsgruppe einberufen, um eine Datenbank für Yoga-Techniken zu erstellen. Alte Sanskrit- und Tamil-Texte, alte ayurvedische Medikamente und hunderte Yogabeschreibungen werden übersetzt und digital aufbewahrt; zudem katalogisiert die Regierung ayurvedische Medikamente.
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All diese Informationen werden in fünf Sprachen zugänglich sein, um sie vor legalen und ökonomischen Aneignungsprozessen durch internationale Abkommen zu schützen. Sie werden damit aber auch zu globalen Gemeingütern; entwurzelt vom lokalen Kontext, der Philosophie und der Bedeutung für die Gemeinschaft, die dieses Wissen über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende generiert, kultiviert und gefördert hat. „Die Kommerzialisierung von Information ist so alt wie der Kapitalismus selbst“ schreibt Peter Burke in „Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft“. Ein Rückblick auf die jüngste Geschichte der so genannten „Dritten Welt“ ist eine Geschichte der vorherrschenden westlichen Entwicklungsstrategien. Dieser Rückblick zeigt aber auch, dass die Unabhängigkeit von der Kolonialherrschaft nie die Abhängigkeit von regionalen und internationalen Machtverhältnissen beendete, bzw. dass wesentliche Elemente der viel zitierten Globalisierung älter sind als ihr Ruf. Globalisierung ist als Jahrhunderte lang andauernder weltweiter Verflechtungsprozess zu verstehen, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Technologieentwicklung und den Ausbau von Kommunikationsmedien eine bisher unerreichte Beschleunigung erfuhr. Der Prozess der Kommodifizierung, die Umwandlung von Gütern zu Waren, stellt nach dem exilösterreichischen Ökonomen Karl Polanyi im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich einen der wichtigsten Prozesse des historischen wie des aktuellen Kapitalismus dar. Produktion und Konsumation werden über Apparate von Märkten, Finanzen, Preisvorgaben, Wettbewerb und Profitdenken abgewickelt. Während sich Marx in seinen Analysen ausschließlich auf den ökonomischen Tauschwert der vormaligen Güter bei der Integration in den Warenkreislauf konzentrierte, versuchen beispielsweise Arjun Appadurai und Igor Kopytoff in ihren Forschungen ihr Augenmerk auf die kulturelle Geschichte der Dinge zu legen. Neben ökonomischen Gründen orten beide kulturelle Zuschreibungen und Bewertungen der Güter, die deren Kommodifizierung fördern. Was Appadurai auch dazu veranlasst, Mode bzw. Modeerscheinungen (“fashion”) als eine dominierende Kraft zur Inklusion in die Gemeinschaft der Waren zu definieren. Diese Expansion des Warencharakters ist in den letzten Jahren auch in neuen Lebensbereichen wie Gesundheit, Kunst oder Erziehung zu beobachten. Somit ist Kommodifizierung ein für viele aktuelle politisch-wirtschaftliche Vorgänge zutreffender Begriff, der eben die Ausdehnung des Warencharakters auf weitere Kontexte beschreibt. Die kulturelle Entwicklung hin zur Informationsgesellschaft eröffnet eine neue Bedeutung des Gutes „Wissen“, das vermehrt Eingang in den kapitalistischen Warenkreislauf findet und somit neue Lebensbereiche einem Monetarisierungs- und Kommodifizierungsprozess unterzieht.
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Die zunehmende Abstraktion der Ökonomie im Zeitalter der beschleunigten Globalisierung, deren Ausdehnung im Gegensatz zum Imperialismus nicht territorial, sondern ex-territorial in einer räumlichen Ausdehnung nach innen bei gleichzeitiger Beschleunigung der „Warenablaufzeiten“ vor sich geht, fördert die Integration virtueller Güter wie Wissen, biologische Substanzen und genetische Ressourcen. Vor allem indigenes Wissen aus biodiversitätsreichen Ländern des Südens, das über Jahrhunderte gemeinschaftlich kultiviert und mündlich von Generation zu Generation weitergegeben wurde, wird zum so genannten globalen „Gemeingut“ – und dessen wissenschaftliche Weiterentwicklung durch weltweit gültige Patentregelungen zum „Privatbesitz“ von WissenschaftlerInnen oder Unternehmen. Daniel Bell sieht sogar den Angelpunkt im Übergang von einer industriellen zu einer postindustriellen Gesellschaft in der Veränderung des Charakters des Wissens, konkret in der Zentralisierung und Kodifizierung des theoretischen Wissens. Die wichtigste Ressource der nachindustriellen Gesellschaft ist das theoretische Wissen, „d.h. die Theorie [wurde] über die Empirie gestellt und das Wissen in abstrakten Symbolsystemen kodifiziert“. Die Wissenschaft wird als „eine besondere Form der gesellschaftlichen Übereinkunft zu dem Zweck, einen ‚Konsens der rationalen Meinung’ zu erzielen“ eingesetzt, wobei TechnikerInnen eine besondere Rolle zugewiesen bekommen: „Sie können das Wissen systematisieren, den Weg zu neuen Erfindungen weisen, neue Methoden der Analyse entwickeln, die Kosten und Folgen eines bestimmten Verfahrens kalkulieren.“ Universalierungsprozessen folgend wird – ohne unterschiedliche Kulturen und deren Wissenskonzeptionen einzubeziehen bzw. unterschiedliche Wissensformen zu unterscheiden – ein gesellschaftsprägendes Wissen, das als Strategieressource und Mittel zur Macht eingesetzt wird, nach Bell in der neuen Gesellschaftsausformung folgendermaßen definiert: „Wissen ist das, was objektiv bekannt ist, ein geistiges Eigentum, das mit einem (oder mehreren) Namen verbunden ist und durch ein Copyright oder eine andere Form sozialer Anerkennung (z.B. Veröffentlichung) seine Bestätigung erfährt. Es wird bezahlt, einmal in Form des für Niederschrift und Forschung erforderlichen Zeitaufwandes und zum anderen in Form der von den Kommunikations- und Bildungsmedien geleisteten finanziellen Vergütung. Es unterliegt, was seine Brauchbarkeit und Förderungswürdigkeit seitens der Gesellschaft (sofern darauf Anspruch erhoben wird) anlangt, der Bewertung durch den Markt und den mit administrativen oder politischen Entscheidungsbefugnissen ausgestatteten Instanzen sowie dem Urteil der Eingeweihten.“
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Ivan Illich geht sogar noch weiter und weist dem Homo Oeconomicus als einen Mythos der Vergangenheit aus. Er ruft das Zeitalter des Homo Systematicus aus: „Die Bedürfnisse dieser Neuschöpfung wandeln sich von der Nachfrage zu Systemerfordernissen, und solche Notwendigkeiten werden von einem exklusiven Kreis von Spezialisten definiert.“ Yoga, Niem, Gelbwurz (Kurkuma), Basmati-Reis: Das sind wenige Beispiele dieser zahllosen gegenwärtigen Kommodifizierungsprozesse, die traditionelle „Kulturgüter“ betreffen. Wobei sich die alten Muster des Rohstoffhandels wiederholen. Das heißt das Rohmaterial kommt aus dem Süden, die Veredelung, der Gewinn und der Konsum sind hingegen Sache des Nordens. Denn natürlich ist es Rohstoff, der aus dem Süden kommt; nur dass er anders gewonnen wird. Seine Gewinnung erfolgt nun durch Kartierungen, durch das Anlegen botanischer Bestimmungsbücher, durch Interviews und durch digitale Sammlungen, wie auch durch Bioprospektionen, die internationale Forschungsinstitutionen und Wirtschaftsbetriebe in Auftrag geben. All das, diese Akquirierung von Informationen, findet noch in den Herkunftsländern statt. Doch dann werden diese neue Informationen nach eingehenden Beforschungen meist in Labors in Wissen verwandelt, indem Wirkstoffe isoliert, purizifiert oder auf synthetischen Weg künstlich nach dem natürlichen Vorbild hergestellt werden – nämlich in Labors des Nordens. Plantagen werden dann angelegt; die Ressourcen werden für die Lokalbevölkerung durch Preiserhöhung oder durch Zugangsbeschränkungen bzw. Eigentumsansprüche von Einzelpersonen unzugänglich gemacht – und verlieren somit ihren Charakter des Gemeingutes. Schließlich ist Privatbesitz in vielen traditionellen Gesellschaften nicht bekannt. Zugleich vollzieht sich aber im Gegenzug der Prozess zum „globalen Gemeingut“, der über Finanz- und Bedürfnismärkte reguliert und stimuliert wird. Wissensdistributionen und –aneignungen führen im Norden zu einer Diversifizierung der Konsumation und eröffnen den Zugang zu Geheimnissen bzw. Kulturgütern traditioneller Gesellschaften, ohne deren kulturellen Kontext zu erahnen. Historische Anleihen reichen diesbezüglich weit zurück und sind so alt wie der Kapitalismus selbst. Bernard Cohn beschreibt den Kolonialismus als Akkumulation von Wissen schlechthin: Britische WissenschaftlerInnen hatten “Indian knowledge into European information” verwandelt – mit dem “effect of converting Indian forms of knowledge into European objects.” Beispielsweise war das Wissen um Chinin als Mittel zur Malariabekämpfung von IndianerInnen aus dem Amazonasgebiet an EuropäerInnen weitergegeben worden. Was auch dazu führt, dass in der feuchten Hitze Indiens Gin Tonic noch immer eines der beliebtesten Getränke in
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alkoholkonsumierenden Kreisen ist: Vom Chinarindenbaum im indianischen Amazonasgebiet zum Tonic in Indien – das zeigt, wie aus purer Information die Ware Wissen wird; auch wenn dazu diverse Prozesse wie Akquirierung, Produktion, Distribution und Aneignung in Form von Recht und Wirtschaft zu durchlaufen sind. Am Ende des 20. Jahrhunderts erfolgt diese Aneignung vormals indigenen Wissens durch die Weiterentwicklung bzw. Reproduktion in wissenschaftlichen Labors; durch chemische Formeln und lateinische Namen als Werkzeuge des Universalisierungsinstruments Wissenschaft. Das internationale Recht in Form der TRIPS liefert dazu die juristische Absicherung. Die in der internationalen Gesetzgebung erfolgte Definition von Erfindung kann – als direkte Fortsetzung der Entdeckungsfahrten, der Sammlungen von Humboldt und anderer Reisender und der Einordnung ihrer Funde in den Jardin und die Enzyklopädie – als Wissensakkumulation betrachtet werden. Die Erfindung löst die Entdeckungen und Sammlungen voriger Jahrhunderte ab und wird zur ökonomischen Ressource und zum marktbestimmenden Faktor in einer auf Wissen basierenden Ökonomie. Schon der Human Development Report der UNDP (United Nation Development Programmes) aus dem Jahre 1999 diagnostiziert ein “global race for knowledge” und hält fest: “knowledge is the new asset”. (…) “The global gap between haves and have-nots, between know and knownots is widening: • In Private research agendes money talks louder then need. • Tightened intellectual property rights keep developing countries out of the knowledge sector. • Patent laws do not recognize traditional knowledge and systems of ownership. • The rush and push of commercial interests protect profits, not people, despite the risks in the new technologies.” Nationalstaatliche Maßnahmen als Schutz gegen diese neuen Abneignungs- und Kommodifizierungsprozesse greifen nicht, da die Nationalstaaten selbst Mitgliedschaft in diesen internationalen Organisationen suchen und somit all deren Rahmenbedingungen (der WTO Beitritt inkludiert z.B. die Verpflichtung, die TRIPS im eigenen Land zu implementieren) übernehmen müssen. Globale Harmonisierungen von rechtlichen Systemen bei gleichzeitig steigender Bedeutung transnationaler Strukturen in Politik und Wirtschaft (z.B. in Form neuer transnationaler Organisationen mitsamt ihren global ausgerichteten Problemlösungsansätzen) indizieren die Bedeutungsveränderungen von vormals nationalstaatlichen Regelungssystemen bzw. die Generierung neuer Regelungssysteme. Diese juristischen Vertragswerke sind in
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verschiedensten Bereichen zu finden; verbunden sowohl mit dem Bestreben, den Planeten Erde mit seinen lokalen Ressourcen wie seinen “global commons” wie Luft oder Biodiversität zu „managen“, aber auch mit dem Ziel, virtuelle Güter in kapitalistische Warenkreisläufe einzubeziehen. Patente auf Lebensformen, auf Teile von Lebensformen (und Lebewesen) sind möglich geworden, wobei diese Patente von kritischen Stimmen als das zentrale Element der Aneignung der biologischen Vielfalt verstanden werden. Instrumente als Schutz vor der Aneignung wie die “geographic indication” von Kulturgütern bestehen zwar, müssen aber von den einzelnen Nationalstaaten in Register, in Datenbanken, in Listen – mit langwierigen Begründungsverfahren – eingeschrieben worden sein. Es besteht die Möglichkeit, Patentrechte international wie national zu beeinspruchen; diese Verfahren sind aber mit hohen finanziellen Kosten verbunden. Zudem muss die Beeinspruchung auf juristischen und technokratischen Wissen beruhen – und schriftlich, auf Basis von empirisch-wissenschaftlich nachvollziehbaren Studien, erfolgen. Womit Kulturen, deren Wissensweitergabe oral erfolgt, der Zugang zu diesem Instrument verweigert wird. Schließlich ist dieses Instrument auch nur dann anwendbar, wenn man sich in irgendeiner Form durch das Recht und des Rechtsrahmen repräsentiert fühlt. Was aber gerade bei indigenen Gruppen nicht immer der Fall ist.
!WIDERSTAND! Nach Inkrafttreten der TRIPS im Jahre 1995 hat es fast ein Jahrzehnt gedauert, bis es zu einem internationalen Widerstand gegen die weltweite, alle kulturellen Unterschiede ignorierende Implementierung dieses Übereinkommens gekommen ist. Weltweite Proteste von NGOs und sozialen Bewegungen haben letztendlich zur Institutionalisierung einer Arbeitsgruppe innerhalb der WIPO (“World Intellectual Property Organisation”) geführt, die sich der kulturellen Differenzen von Wissen annimmt – beschickt von nationalstaatlichen VertreterInnen. Womit von dieser Seite wenig Veränderungspotential zu erwarten ist. Allerdings bildet sich auf verschiedenen Ebenen Widerstand:
Süd-Süd-Kooperationen Vor 30 Jahren forderten die DependenztheoretikerInnen eine verstärkte Süd-Süd-Kooperation: Eine neue Weltwirtschafts- wie Weltinformationsordnung sollte das geopolitische Nord-Süd-Gefälle abschwächen und zu einer egalitäreren Verteilung der weltweiten Ressourcen beitragen.
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Heute führen zwar verstärkte Süd-Süd-Zusammenarbeitsforen zu weniger Abhängigkeit vom Norden, haben aber regionale Disparitäten innerhalb des ohnehin schon sehr differenzierten Südens weiter vergrößert. Vor allem Chinas Dominanz erzeugt neue Abhängigkeiten. Kapitalistisches Denken regiert auch diese Kooperationen und spiegelt die vormals weltwirtschaftlichen Hierarchien innerhalb der Länder des so genannten Südens wider. Durch den expandierenden Weltmarkt wurden regionale Zusammenschlüsse wie A Mercosur („Mercado Común del Sur“, gemeinsamer Markt des Südens Lateinamerikas mit den Mitgliedsstaaten Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Ecuador, Kolumbien, Paraguay, Peru, Uruguay, Venezuela, www.mercosur.org.uy, A CAN („Comunidad Andina de Naciones“, eine Andengemeinschaft mit Bolivien, Kolumbien, Ecuador und Peru, http://www.comunidadandina. org/), AECOWAS in Westafrika (http://www.ecowas.int/) und ASACD in Südafrika (http://www.sadc.int/), sowie A SAARC (“South Asian Association for Regional Cooperation” mit Afghanistan, Bangladesh, Bhutan, Indien, Malediven, Nepal, Pakistan, Sri Lanka (http://www.saarc-sec.org/) neben dem Nordamerikanischen NAFTA-Pakt mit den USA, Kanada und Mexiko als Mitgliedsstaaten immer notwendiger. Diese Zusammenschlüsse änderten im Grunde aber nichts an der „neoliberalen Sachzwanglogik“ und somit an den Kommodifizierungstendenzen von Wissen. ALBA („Alternativa Bolivariana Para los Pueblos de Nuestra America“, http://www.alternativabolivariana.org/) versteht sich hingegen als Alternative zum Neoliberalismus. Und zwar sowohl politisch, ideologisch als auch in seiner schwerpunktmäßigen Ausrichtung auf die Schaffung von sozialer Gerechtigkeit und die Herausbildung eines Wohlfahrtsstaates. Ihre führenden Mitglieder – Venezuela, Kuba und neuerdings Bolivien – versuchen mit ihren linken Regierungschefs neben dem Aufbrechen von politischen wie wirtschaftlichen Vorherrschaften am Subkontinent vor allem im Bereich Wissensdistribution dem Monopolismus ein Ende zu bereiten. Wesentlich in diesem Zusammenhang war die Aufnahme der Sendetätigkeit des Fernsehsender TeleSur (http://www.telesurtv.net/), den Venezuela, Argentinien, Uruguay und Kuba seit Oktober 2005 betreiben. Für den kubanischen Kulturminister Abel Prieto symbolisiert der neue Satellitensender nicht nur ein „neues politisches Selbstbewusstseins in ganz Lateinamerika“, sondern bedeute auch: „Otro mundo es televesible!“ – frei nach dem Motto des VI. Weltsozialforums in Caracas 2006 „Otro mundo es posible“ („Eine andere Welt ist möglich“). Symbolträchtig am 222. Geburtstag Simón Bolivars, der den Kontinent von der spanischen Kolonialmacht befreien wollte, aus der Taufe gehoben,
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versteht sich TeleSur als eigene Stimme Lateinamerikas; vergleichbar mit dem Nachrichtensender „Al Jazeera“ (http://english.aljazeera.net/ English) als Stimme der arabischen Welt. Staatliche Zusammenschlüsse, die wissenschaftliche Süd-Süd-Kooperationen forcieren sollen, sind beispielsweise das “Research and Information System for Developing Countries” (RIS, http://www.ris.org.in/); eine von Indien finanzierte „Denkfabrik“, die den Dialog zwischen WissenschafterInnen und BeraterInnen von so genannten Entwicklungsländern auf dem Gebiet der internationalen Wirtschafts- und Entwicklungsforschung vorantreiben soll. Das “South Centre”, “an Intergovernmental Organization for Developing Countries” (http://www.southcentre.org/), zielt dagegen auf den Aufbau von Süd-Süd-Beziehungen zwischen den Ländern Afrikas, Lateinamerikas, Asiens und des Mittleren Ostens ab. Nämlich indem es den Informationsaustausch und die Bildung von Netzwerken und gemeinsame Aktionen forciert. Beide und noch weitere Süd-Süd-Initiativen im Wissensbereich verfolgen – ähnlich den wirtschaftlichen Süd-Süd-Kooperationen – das Ziel, das Wissensmonopol des Nordens zu brechen, respektive den Wissenund Ressourcentransfer nicht von Süd nach Nord, sondern zwischen Süd-Süd bzw. den Transfer von Nord nach Süd zu intensivieren. Was aber nicht darüber hinweg täuschen darf, dass beide an bestehenden wissenschaftlichen Paradigmen und am gängigen „epistemologischen Kern“ der modernen Wissenschaft festhalten.
Transnationale Initiativen Dagegen lässt sich ein Wechsel der inhaltlichen Paradigmen in diversen transnationalen Initiativen, Bewegungen und NGOs erkennen, deren Ziel ebenfalls eine verstärkte Süd-Süd-Zusammenarbeit ist. Partizipative Forschungsmethoden und -theorien sowie eine empathische politische Arbeit zeichnen diese Gruppen aus, die sich aktiv mit Kampagnen und politischen Bewegungen identifizieren lassen: A ARENA, “Asian Regional Exchange for New Alternatives” (http:// www.arenaonline.org/) ist ein regionales Netzwerk asiatischer Intellektueller mit Sitz in Seoul, das für benachteiligte Gruppen eintritt, Gender- und Ökologiefragen bearbeitet sowie Forderungen und Analysen zu sozialen Kämpfen beisteuert. A Equations, “Equitable Tourism Options” (http://www.equitabletourism.org/), ist eine NGO in Bangalore, die sich seit fast nunmehr 20 Jahren der Erforschung, der (Weiter-)Bildung und Förderung eines holistischen Tourismus widmet. Durch Mediation verschiedener
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Interessensgruppen und durch die Erstellung alternativer Tourismuskonzepte beschäftigen sie sich auch vermehrt mit indigenen Gruppen und deren Wissenssystemen. A “Focus on the Global South” (http://www.focusweb.org/); 1995 an der Chulalomgkorn University in Bangkok gegründet, operiert das Forschungsinstitut (das sich mit alternativen Entwicklungsstrategien, den strukturellen Veränderungen global wirksamer ökonomischer Instrumente/Organisationen und den politischen und strukturellen Herrschaftsverhältnissen auseinandersetzt) mittlerweile auch auf den Philippinen sowie in Indien. Einen weiteren inhaltlichen Schwerpunkt bildet “The Reclaiming of the Commons” und beschäftigt sich unter anderem auch mit (traditionellen) Wissenssystemen. A SANFEC, “South Asia Network on Food, Ecology and Culture” (http:// www.sanfec.org/), widmet sich neben Umwelt- und Entwicklungsfragen der Ernährungssicherheit, und somit auch tradiertem Wissen. A Das “Third World Network” (TWN, http://www.twnside.org.sg/) ist ein unabhängiges Netzwerk von Einzelpersonen und Organisationen, das sich kritisch mit diversen Fragen der Ökonomie, Ökologie und der Politik zwischen Nord und Süd beschäftigt. Neben Büchern gibt es die monatlichen Zeitschriften “Third World Ressurgence” und “Third World Economics” heraus und setzt sich intensiv mit Rechtsfragen (etwa das geistige Eigentum betreffend), Biodiversität und mit dem Zugang zu traditionellen Wissenssystemen auseinander. Es dient als Sammelbecken diverser EntwicklungskritikerInnen und stellt mit seiner Homepage sowie seinen Publikationen einen wichtigen Pool für verschiedenster Alternativansätze im Norden wie im Süden dar. Transnationale Netzwerke, Allianzen über nationalstaatliche Ebenen hinweg, internationale Netzwerke von Nichtregierungsorganisationen im Süden wie im Norden sowie soziale Bewegungen aus unterschiedlichen Interessenszusammenhängen haben im Übrigen gerade über Informationsplattformen wie jener des “Third World Network” in den letzten Jahren ihre Anliegen zum Ausdruck bringen können. Womit sie einen Beitrag zu einer neuen Rezeption von Entwicklung und internationaler Zusammenarbeit auf globaler Ebene geleistet haben. Aufbauend auf diese virtuellen Netzwerke haben Weltsozialforen (http://www.weltsozialforum.de/) diesen Alternativforen und deren Themen Gesichter und einen realen Raum gegeben. Andererseits hat aber gerade diese rapide Technologieentwicklung und ein demokratischerer Zugang zu Kommunikationsmedien eine Vervielfachung lokaler Bezugspunkte geschaffen und eine Politik des Globalen erst denkbar bzw. möglich gemacht. Hardt und Negri versuchen diese aktuellen politischen Formationen mit dem Begriff der “Multitude” („Menge“, „Vielfalt“) zu fassen. Im Gegensatz zur
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Masse, die immer passiv bleibe, sei die “Multitude” aktiv. Es gehe um die Fähigkeit, bei aller Unterschiedlichkeit gemeinsam handeln zu können. „(…) Wenn wir aber an die transnationalen Verbindungen zwischen MenschenrechtsaktivistInnen, FeministInnen und UmweltschützerInnen denken, scheint es, als drängten diese auf einen konsistenten und weniger heuchlerischen Dialog zwischen den Nationen, auf einen demokratischen Dialog zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Belangen und auf eine artikulierte Stimme für die Armen. So gibt es etwa in den Debatten und Diskussionen um die neu geschaffene ‘World Trade Organization’ eine größere Präsenz von AktivistInnen und Intellektuellen, die nicht für bestimmte Markt- oder Staatsinteressen, sondern im Namen ökologischer Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und demokratischer Teilnahme ohne Rücksicht auf nationale Interessen sprechen. Auch wenn das erst ein sich entwickelndes und rudimentäres Vokabular ist, könnte es doch den Beginn eines Vorstoßes setzen – zu einer Welt von Örtlichkeiten und Netzwerken anstelle einer Welt von Ethnizitäten und Territorien“, meint der Anthropologe Appadurai. Lockere Strukturen, der Einsatz von Internet (in Form von protestbegleitenden Internet-Seiten oder als Koordinations- und Kommunikationsforum mittels Emails, Mailing-Listen und zeitschriftenähnlichen News-Portalen) und eine anspruchsvolle Binnenkommunikation lassen die neuen sozialen Bewegungen als Netzwerke „oder genauer noch: als mobilisierte Netzwerke von Netzwerken“ erscheinen, welche mit dem Deleuze’schen Rhizom-Gedanken wie den Netzwerk-Vorstellungen von Manuel Castells zu vereinbaren sind. Netzwerke werden als offene, ortsungebundene Strukturen verstanden, die in der Lage sind, grenzenlos zu expandieren und dabei neue Knoten zu integrieren, solange diese innerhalb des Netzwerkes zu kommunizieren vermögen. Das verbindende Element sind übereinstimmende Kommunikationscodes wie Werte, Erkenntnisziele und Wünsche bzw. Kritik an einer Ordnungsmacht. Paradoxerweise erhalten damit aber auch neue Formen des Handelns auf lokaler Ebene Unterstützung, Anerkennung, Würde und Präsenz. Um in weiterer Folge aus ihrer Tradition heraus Stärke und Inspirationskraft zu schöpfen, sich ihrer alten Wissenssysteme zu besinnen und dies als Mittel einer sozio-kulturellen Regeneration zum Einsatz zu bringen: Maoris aus Neuseeland, Adivasis in Indien oder Native Americans in den USA besinnen sich auf ihre spezifischen spirituellen Werte und teilen zugleich internationale Wissensplattformen wie des “Indigenous Studies General Resources People History Culture” (http://www.archaeolink.com/indigenous_people_social_studies.htm).
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Die Bedeutung des „spirituellen Elementes“ – Majid Rahnema versteht darunter ein Gegenmodell zu einer durchökonomisierten Gesellschaft, das von Liebe, Mitgefühl und Güte geprägt ist und auch einer transzendenten Bedeutung des Lebens Platz einräumt – ist besonders bei der Organisierung indigener Gruppen mit dem Ziel der Erhaltung bzw. Wiederentdeckung ihrer Wissenssysteme zu beobachten. So setzt das peruanische Netzwerk PRATEC (El Proyecto Andino de Tecnologias Campesinas, Andenprojekt für bäuerliche Technologien, http://www.pratec.org.pe/) verschiedene Initiativen zur Stärkung der einheimischen Kultur, indem sie andine Landwirtschaft, die traditionelle Heilkunde sowie die Zubereitung traditioneller Lebensmittel fördert. Und durch Schul- und Bildungsprojekte die Muttersprache Ketschua sowie das Spanische forciert. Wobei es einerseits zur Erhaltung der lokalen Kultur beiträgt, andererseits aber auch die Zukunftschancen der Indigenas verbessert. „Navdanya“ (der Namen steht für die neun Samen, die zur traditionellen Ernährungsicherung ausreichten; http://www.navdanya.org/) bzw. vormals “Research Foundation for Science, Technology and Natural Resource Policy” ist eine Forschungs- und Dokumentationsstelle, die sich rund um die Ökologieaktivistin und Quantenphysikerin Dr. Vandana Shiva etabliert hat. Als Sprecherin der Chipko-Bewegung („Chipko Andolan“) und Verfasserin einer umfangreichen Studie über die ökologischen und sozialen Folgen der Grünen Revolution in Indien wurde sie Ende der 80er Jahre international bekannt. 1993 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet, wurde sie in den 1990er Jahren zur Leitfigur des Widerstandes des so genannten Südens gegen ökonomische und genetische Ausbeutung durch den so genannten Norden. Die Bürgerrechtlerin und Umweltaktivistin machte mit ihren Büchern, Publikationen, Symposiums- und Workshop-Auftritten in aller Welt die Anliegen der Bewegung für eine subsistenzorientierte und ökologische Bewirtschaftung bei gleichzeitiger Ablehnung internationaler Liberalisierungsmaßnahmen öffentlich. Sie gilt international als Galionsfigur des Kampfes gegen „Biopiraterie“ und Aneignung von lokalen Wissen durch internationale Konzerne – wie sie umgekehrt auch eine zentrale Figur im Kampf für die gleichberechtige Anerkennung von traditionellen Wissenssystemen und deren freien Zugang ist. „Navdanya“ ist zudem aktiv in die Wiederbelebung indigener Wissenselemente und -kulturen involviert, indem sie diese dokumentiert und wieder frei zugänglich macht. Im nordindischen Bundesstaat Uttranchal führt sie zudem einen organisch-biologischen landwirtschaftlichen Betrieb, der lokalen Bauern wie international Interessierten als Lehrlandwirtschaft bzw. Bildungs- und Weiterbildungszentrum dient. Schließlich betreibt sie auch noch eine eigene Samenbank mit alten, nicht mehr im Umlauf befindlichen Sorten, die als Tauschbörse genutzt wird. Die Verbreitung einer traditionell-organisch-biologischen
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Landwirtschaft mit Formen der Sechs- bis Zwölffruchtanbaumethode wird im gesamten Bundesstaat vorangetrieben, wobei der landwirtschaftlichen Weiterbildung genauso viel Aufmerksamkeit geschenkt wird wie der politischen Bewusstseinsbildung. So begegnet man auf diversen Besuchen in Himalayagebirgsdörfern in Garhwal Frauenorganisationen, die einem stolz ihre „Registerbücher“ vorlegen: Rezepte, deren lokalen Zutaten, Anbaumethoden, lokale Getreide- oder Linsensorten vermerkt und vom Sarpanch („Bürgermeister“) abgestempelt sind – um sie vor einer möglichen Aneignung durch ökonomische Interessensgruppen zu schützen.
Margit Franz, geb. 1965, ist freie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Zeitgeschichte der Karl-Franzens-Universität Graz und vormalige Lehrbeauftragte zu den Themenbereichen Globalisierung, Digitalisierung und Marginalisierung, außereuropäische Moderne, interkulturelles und globales Lernen, Entwicklungspolitik sowie indische Zeitgeschichte. Ihr Regionen-Schwerpunkt ist der indische Subkontinent; ihre inhaltlichen Schwerpunkte sind zur Zeit u. a. die Kommodifizierung von Wissen, das Exil als kulturelle Mediation und die indische Kunstförderung der Moderne. Zur ihren aktuellen Projekten gehören Walter Langhammer: Graz – Vienna – Bombay – London. Mediator between Arts/Cultures/Worlds/Realities & Continents sowie Austrian-Indian Relations 1750 –2000. Von Margit Franz erschienen in den vergangenen Jahren Passage to India: Österreichische Exil in Britisch-Indien, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.), Jahrbuch 2007, Wien 2007, S. 196 –223; Austria’s Solidarity with Sandinistan Nicaragua, 1979 –1990, in: Eisterer Klaus, Bischof Günter (Ed.), Transatlantic Relations: Austria and Latin America in the 19th and 20th Centuries, Innsbruck, Wien, Bozen 2006 (= Transatlantica, Vol. 1), S. 239 –255, sowie Der patente Baum. Kommodifizierung von Wissen im Kontext einer beschleunigten Globalisierung – veranschaulicht am internationalen Patentstreit um den indischen Niem-Baum, Unveröff. Dissertation, Universität Graz, 2002.
Dr. Vandana Shiva ist auch eine der prominentsten VertreterInnen einer kleinen Zahl von meist transnationalen (sich zwischen verschiedenen Kulturen bewegenden) WissenschafterInnen, die zwar innerhalb des internationalen Wissenschaftssystems agieren, aber in ihrer Wissensproduktion- und Wissensdistributionagenden alternativen Entwicklungsideen nahe stehen. Und in manchen Fällen bestimmte Kampagnen oder NGOs überstützen. Ich nenne solche WissenschafterInnen “activist researchers”: Frederique Apfel-Marglin arbeitet seit Jahren mit Pratec in Peru; Jean Dreze unterstützt mit seinen sozio-ökonomischen Forschungen Initiativen diverser indischer NGOs. Z.B. die des Mazdoor Kisan Shakti Sangathan
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(MKSS) in Rajasthan, die des “Right for Information Act”, oder die des “Rural National Rural Employment Guarantee Act (NREGA)”, deren “social audits” – von einer NGO initiierte, organisierte und mit großer lokaler Beteiligung zur Überprüfung der Implementierung bzw. Verbesserung von (politischen) Maßnahmen durchgeführte Erhebungen – er auswertet, analysiert und sie einer großen internationalen Gemeinschaft zugänglich macht. Ivan Illich, Claude Alvarez, Arturo Escobar, Wolfgang Sachs, Ashis Nandy oder Vinay Lal wiederum gehören zu den kritischen WissenschaftlerInnen, die das westliche Wissenschaftssystem in seiner Form als Machtinstrument und Kontrollinstanz bezüglich der Ausrichtung des Erkenntnisinteresses kritisieren. Und zugleich für mehr “Multiversity” (Namen eines weiteren internationalen WissenschaftlerInnennetzwerkes, das sich vornehmlich für die Pluralität von Wissen und einer Dekonstruktion von Wissen im postkolonialen Sinn bemühen; http://vlal. bol.ucla.edu/multiversity/) eintreten. Sie alle machen deutlich, in welche Richtung der Wissenstransfer zwischen Nord und Süd gehen könnte. Und teilen wohl die auch die Forderung des kolumbianischen Sozialwissenschaftler Arturo Escobar, der einmal schrieb: „Die westliche Vernunft muss offener werden für die globale Vielgestaltigkeit des Wissens und der Vorstellungen von Veränderung – die objektive, wertneutrale wissenschaftliche Erkenntnis ist nur eine von vielen möglichen Formen. (…) Langfristig werden Bedeutungen und Kategorien neu bestimmt werden müssen; neue soziale Bewegungen verschiedener Art haben bereits begonnen, das Soziale und das Wissen neu zu definieren“. Was ein erster Schritt zu mehr Fairness zwischen Nord und Süd sein könnte, wenn es um Wissen geht.
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Neo-Politik: Postökonomistische Weltgestaltung
Das Unmenschliche, die Untoten und der Kapitalismus Slavoj Žižek über Slums, aktuelle Politik und echte Kulturrevolutionen
Die Moralisierung der Märkte von Nico Stehr
CSR, Welthandel und die Notwendigkeit politischer Gestaltung Bernhard Ungericht im Gespräch mit Michaela Ritter und Christian Eigner
Die Entschlüsselung des politisch Möglichen von Saskia Sassen
Das Unmenschliche, die Untoten und der Kapitalismus Slavoj äLåHN über Slums, aktuelle Politik und echte Kulturrevolutionen
Im Zuge der „Slum Talks“, die die Neue Galerie Graz anlässlich des ÅVWHLULVFKHQ KHUEVW´ YHUDQVWDOWHWH KLHOW 6ODYRM äLåHN HLQHQ 9RUtrag über das politische Potential von Slums. Einzelne Aspekte seines Vortrags scheinen auch für die FAIRTRADE-Thematik interessant zu sein: als Verweis darauf, wo politisches Denken heute möglicherweise beginnen muss. Die Redaktion
Peter Weibel an das Publikum: 6ODYRM äLåHN LVW HLQHU GHU LQWHUHVsantesten Intellektuellen unserer Zeit. Gäbe es einen Nobelpreis für SKLORVRSKLVFKLQWHOOHNWXHOOH$UEHLWVROOWHLKQ6ODYRMäLåHNHUKDOWHQ 3HWHU:HLEHODQ6ODYRMäLåHN6ODYRMäLåHNZUGHQ6LHGHQ1REHOpreis annehmen? 6ODYRMäLåHNNein, ich würde nur das Geld nehmen, nicht aber den Preis! Auszug I: Deleuze, das Unmenschliche und der 11. September 2001 Gilles Deleuze schreibt, dass wahrhaft große Kunst dem Menschen eine unmenschliche Perspektive bietet. „Unmenschlich“ nicht im Sinne von Folter oder dergleichen: Der Blickwinkel ist insofern unmenschlich, als er das, was er ins Bild rückt, gleichsam aus einer Position vor oder nach der Menschlichkeit zeigt. Jetzt werden Sie sagen, dass das nicht möglich ist. Ich aber sage, dass das sehr wohl möglich ist, und zwar auf eine ganz bestimmte Art und Weise: Der unmenschliche Blick erfolgt nicht von außerhalb der Menschlichkeit; sein Ort ist vielmehr das unmenschliche Element der Menschlichkeit, also etwas, das der Menschheit innewohnt. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eine philosophische Kategorie einführen; nämlich Kants Unterscheidung zwischen einem „negativen“ und einem „unendlichen Urteil“ in der „Kritik der reinen Vernunft“.
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Ein negatives Urteil verneint nur die Aussage, aber ein unendliches Urteil bestätigt eine Nichtaussage. Das ist nicht dasselbe: „Sie ist nicht tot“ ist beispielsweise ein negatives Urteil, es wird also das „Sie ist tot“ verneint. Aus dem „Sie ist tot“ jetzt die Bestätigung einer Nichtaussage zu machen, würde bedeuten, „Sie ist untot“ zu sagen. Damit kommt etwas ganz anderes ins Spiel: Wenn Sie sagen sie oder er ist untot, bedeutet das nicht einfach, dass er lebt; stattdessen wird er zum lebenden Toten. Er lebt, obwohl er tot ist. Dieser furchterregende Zwischenstatus hat nun eine bestimmte ethische Realität. Denn es ist die Dimension des Tot-Seins, die bestimmten radikalen Lebenserfahrungen selbst innewohnt, wenn das Leben zu intensiv und traumatisch wird. Die einzige Möglichkeit, die dann noch bleibt, ist die, sich in einen Untoten zu verwandeln. Es existiert so etwas wie ein „unmenschlicher Blick“, das heißt ein Blick, der gleichsam „vor“ oder „nach“ der Menschlichkeit erfolgt. Dieser tut sich z.B. dann auf, wenn Menschen buchstäblich den Tod vor Augen haben – etwa, weil das Flugzeug, in dem sie sitzen, gerade in einen Wolkenkratzer rast. In dieser höchst merkwürdigen Situation werden Menschen zu „Untoten“, die noch leben, irgendwie aber auch schon tot sind. Die „politisch Untoten“ unserer Zeit sind die Slum-Bewohner. Zusammengesetzt aus Menschen aller Schichten diverser Bevölkerungsgruppen gelten bei ihnen nicht einmal mehr Klassenkonflikte: Slum-Bewohner leben zwar, sind gesellschaftlich aber bereits „tot“. Was allerdings auch die Chance inkludiert, dass sie zum neuen „universellen Subjekt“ werden, das – getrieben von Not, Elend und Existenzkampf – radikal neue andere Formen von gesellschaftlicher Organisation hervorbringt. Diese mögliche Wiedergewinnung eines Politischen könnte in weiterer Folge die Chance sein, den gängigen „Toleranz-Diskurs“ zu überwinden, der heute üblich geworden ist: Die meisten ehemals politischen Themen – z.B. die Emanzipation von Minderheiten oder Unterdrückten – werden nicht mehr mittels Kategorien wie „Gerechtigkeit“ oder „Gleichheit“ diskutiert; stattdessen dominiert eine Begrifflichkeit der Toleranz. Womit allerdings aus politischen Problemen kulturelle werden – und damit etwas, das sich scheinbar der Gestaltung entzieht. Damit wird jetzt auch fassbar, was ein unmenschlicher Blick sein kann: Denken Sie an den 11. September 2001, und stellen Sie sich vor, dass Sie Videos entdeckt hätten, die jene Passagiere in den letzten Momenten ihres Lebens aufgenommen haben, die in das World Trade Center geflogen sind. Im Übrigen ist es für mich sogar denkbar, dass es solche Videos gibt; aufgezeichnet von irgendwelchen Sicherheits-Kameras, die das Material live in den Tower oder sonst wo hin übertragen haben. Allerdings würde ich auch verstehen, wenn die US-Behörden diese Videos nie zeigten. Denn genau diese Videos stellen einen unmenschlichen Blick dar; sie zeigen die menschliche Realität mit unmenschlichen Augen. Wer nämlich das sieht, was diese Videos zeigen, ist bereits ein Untoter, jemand, der noch lebt, aber eigentlich keine Zeit mehr zu leben hat. Diese Videos zu sehen würde damit auch bedeuten, verbotenen Grund zu betreten.
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Wer sich nun in der Position eines Untoten befindet, rettet sich normalerweise durch eine Lüge. Für mich illustrieren das die Geschehnisse, die sich am 11. September während des Flugs 93 abgespielt haben. Bekanntlich haben die Passagiere in den letzten Minuten des Flugs, als klar war, dass sie sterben würden, ihre Lieben und ihre Familien angerufen, um diesen ein „Ich liebe dich“ zu sagen. Das wurde dahingehend interpretiert, dass der Apostel Paulus eben doch Recht hätte: Das, worum es letztlich gehe, sei eben die Liebe. Ich bin, ganz pathetisch, überhaupt nicht dieser Meinung. Ich glaube, dass dieses „Ich muss sterben, ich liebe dich“ in solchen verzweifelten Augenblicken überhaupt nicht authentisch ist. Meiner Ansicht nach hat man in diesen Situationen extreme Angst, ist verzweifelt und versucht noch rasch, Rechnungen zu begleichen und etwas Richtiges zu tun. Es gibt in einem der Bücher über den 11. September ja auch das Beispiel eines Ehemanns, der ebenfalls seiner Frau noch rasch dieses „Ich liebe dich“ sagte, nachweislich aber seine Frau schlecht behandelt hatte und sich von ihr scheiden lassen wollte. Was dieses „Ich liebe dich“ letztlich inakzeptabel macht. Jetzt können Sie mich natürlich fragen: Was wäre dann passend? In den USA fragte man mich das im Rahmen eines Vortrags, und die Antwort ist furchtbar: Ich erklärte, dass ich – wenn ich so ein Verhältnis zu meiner Frau hätte und kurz vor dem Sterben wäre – am Telefon sagen würde: „Hallo, ich bin’s, ich werde in ungefähr einer Minute sterben. Bevor ich das aber tue, möchte ich einen Punkt klarstellen: Unsere Ehe war ein Albtraum und ich habe dich nie geliebt!“. Das wäre ein wirklich ethischer Akt! Keine Ausflüchte! Es wäre unmenschlich – zugleich aber radikal ethisch!
Auszug II: Slums und das gesellschaftlich-politisch Neue Meine These ist, dass die Slumbewohner in unserer Fantasie den Raum der politisch Untoten besiedeln. Weshalb kommt ihnen diese Rolle heute zu? Wie alle nostalgisch-melancholischen Marxisten halte ich zwar nicht nach einer neuen Arbeiterklasse Ausschau, frage mich aber doch ganz naiv, ob es heute noch irgendeine soziale Position, Gruppe oder sonst etwas gibt, die vielleicht etwas Neues hervorbringt. Konkret das, was mein guter Freund Alain Badiou den „site événementiel“ nennt: Den Ort der Wahrscheinlichkeit, den Ort des möglichen Ereignisses. Der Grund, weshalb die Slums zu einem Ort neuer Ereignisse werden könnten, ist die hohe Konzentration von Menschen, die keine unmittelbaren substanziellen organischen Bindungen untereinander haben: Sie
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gehören weder zu homogenen ethnischen Gruppierungen noch zu Klassen; sie sind alle unterschiedlichsten Ursprungs. Bei einigen handelt es sich um verarmte Stadtbewohner, bei anderen um ehemalige Bauern, bei Dritten um Soldaten. Sie alle sind gezwungen, ohne irgendeine vorgegebene soziale Form zusammenzuleben. Natürlich gibt es Kämpfe – und es gibt Organisationen wie die Kirche, die sich engagieren. Ja, und es gibt, wie mir ein brasilianischer Freund erzählte, sogar „Favela-Kapitalisten“, das ist ein Schlag neuer Unternehmer, die die wildeste Form des dynamischen Kapitalismus leben. Sie nutzen die absolut chaotischen Bedingungen der Favelas aus und organisieren im Produktionsbereich Ausbeutungspraktiken. Doch selbst wenn das alles passiert – alle wissen, dass hier eine Bombe tickt und langfristig nicht so weiter gemacht werden kann. Mit anderen Worten: Diese Menschen, die Slumbewohner, werden im wahrsten Sinn des Wortes gedrängt, etwas Neues zu erfinden. Ich möchte sie nicht idealisieren, sondern sage nur, dass sie in einer Position sind, in der sie gezwungen sind, utopisch zu sein. Utopisch nicht im Sinne einer Einbildung, sondern es geht um eine utopische Realität: Sie sind so verzweifelt, dass sie diese Utopia brauchen, um zu überleben. Mit ihr können sie aus ihrem Raum und aus ihren Formen des sozialen Lebens heraustreten. Und das bedeutet letztlich, etwas Neues zu erfinden und ein Risiko auf sich zu nehmen. Weshalb ich glaube, dass – wenn irgendetwas gesellschaftlich-politisch Neues auftaucht – es aus den Slums kommen wird.
Auszug III: Die Kulturalisierung der Politik versus faktische Universalität des Kapitalismus Worum geht es heute politisch? Um die Kulturalisierung von Politik. Aus diesem Grund sind Begriffe wie „Toleranz“ und „Wohltätigkeit“ so wichtig. Doch gerade am Begriff „Toleranz“ gibt es viel auszusetzen. Wendy Brown hat in ihrem Buch “Regulating Aversions” an ihm eine scharfe Kritik geübt. Brown geht von einer einfachen Beobachtung aus: Themen, die vor 10 oder 20 Jahren noch nicht unter dem Aspekt der Toleranz diskutiert wurden, werden mittlerweile als Problem der Toleranz aufgefasst. Was eine richtige Beobachtung ist. Beispielsweise werden die aktuellen Rassismus-Debatten in den Begrifflichkeiten der Toleranz geführt, etwa nach dem Motto „Wir müssen die Kultur der Gastarbeiter respektieren lernen, darum geht es“. Das ist ein ganz anderer Zugang als man ihn in den großen Freiheitskämpfen des 20. Jahrhunderts findet; ich erinnere nur an Martin Luther Kings amerikanischen Kampf um die volle Emanzipation der Schwarzen. Ich habe mit meinen schwarzen Freunden in den USA darüber gesprochen und Texte Martin Luther Kings im Internet überprüft: Es gab bei ihm nie einen Konnex zum Wort „Toleranz“! Kein
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Schwarzer und keine Schwarze nahmen den Rassismus, den sie erlebten, als Problem der Toleranz wahr. Für sie hing Rassismus mit Gleichheit, Gerechtigkeit, dem Ausbeutungsproblem und vielem mehr zusammen, aber nicht mit Toleranz! Wo liegen jetzt aber die Probleme des „Toleranz“-Begriffs? Interessanterweise wird etwa behauptet, dass es – und ich bin ja im Unbewussten ein mâle chauviniste – im Feminismus primär darum gehen sollte, männliche Toleranz für Frauen zu fördern. Das klingt wie ein schlechter Scherz. Es zeigt aber auch, woran der Begriff „Toleranz“ krankt: Wenn Sie diese (letztlich antifeministische) Logik akzeptieren, bedeutet das nicht auch, dass wir Männer lernen müssen, dass Frauen hysterisch, nervös und lästig sind und es einfach gilt, mit dieser wandelnden Katastrophe namens Frau umzugehen? Das ist eben Toleranz: Toleranz bedeutet nicht, Hass zu überwinden; Toleranz legt fest – und daran erinnert die medizinische Verwendung dieses Begriffs –, wie viel Gift, wie viel schlechte Substanz man aushält. Die nächste Frage, die Wendy Brown stellt, ist die, warum der politische Diskurs heute um den „Toleranz“-Begriff aufgebaut wird. Weshalb wird diesem gegenüber der „Gerechtigkeit“ oder der „Gleichheit“ der Vorzug gegeben? Weil wir in einer postpolitischen Zeit leben. Und in dieser politische und wirtschaftliche Probleme nicht mehr länger als Konfliktursache wahrgenommen werden. Meiner Ansicht nach sollte deshalb die aktuelle multikulturelle Weltsicht scharf kritisiert werden – auch wenn sie interessant ist. Ihre Grundannahme ist sehr einfach: Tolerante Menschen identifizieren sich nicht mit einer spezifischen Kultur. Stattdessen sind sie „multikulturalisiert“ und leben an einem Tag diese Kultur, am anderen eine andere. Sie können Kulturen frei wählen – weshalb diese zu einer privaten Lebensart werden. Wer sich hingegen mit seiner Kultur identifiziert, ist ein Barbar. Was ein hübsche Paradoxie ergibt: Der Primitive ist durch Kultur gekennzeichnet, wodurch der Begriff „Kultur“ zu einer anderen Bezeichnung für „Natur“ und „Barbarei“ wird. Der wahre Kulturmensch hingegen nimmt seine Kultur nicht ernst und weiß eine bestimmte Distanz zu ihr zu wahren. Oder wie es Wendy Brown formuliert, bewusst das deutsche Wort verwendend: Man muss kulturlos sein. Auf jeden Fall werden vor diesem Hintergrund und dieser Logik Unterscheidungen zu kulturellen Unterscheidungen. Sie tangieren dann unser grundsätzliches Sein, unsere Lebensweise – weshalb Probleme nur durch eine Förderung von Toleranz, nicht aber durch eine politische Form gelöst werden können.
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Ich denke, dass es nur eine einzige Möglichkeit gibt, dem zu entkommen: Wir müssen nach einem universellen Subjekt Ausschau halten. Das heißt, wir müssen schauen, wer aus der Kultur hinausgekickt wurde, wer also benachteiligt ist und so vom Sein her ein universelles Subjekt darstellt. Und hierfür gibt es meiner Ansicht nach einen besonders geeigneten Kandidaten, und zwar die Slumbewohner. Allerdings: Um ein universelles Subjekt denken zu können, muss man zuerst einmal die postmoderne Kritik an der Universalität ablegen. Heute ist es ja üblich geworden, zu betonen, dass unsere europäischen Universalitäten – die Menschenrechte, Konzepte eines universellen Menschen etc. – immer schon gefärbt sind und letztlich (europäische) Werte und Lebensweisen privilegieren. Darin liegt ein Körnchen Wahrheit: Das liberale Konzept der Menschenrechte bevorzugt natürlich eine bestimmte Form von individualistischer Subjektivität, freilich auf Kosten einer anderen Subjektivität, in der Werte wie Zusammenarbeit oder Solidarität von größerer Bedeutung sind. Und natürlich ist die Kritik, dass die Universalität der Europäer ja doch nur die Maskerade eines partikulären Interesses sei, zutreffend. Aber: Diese Kritik geht am wirklich subversiven und revolutionären Punkt des Marxismus vorbei, nämlich an der Aufforderung, auch stets die entgegengesetzte Mystifizierung zu berücksichtigen. Im Fall des „partikulären Interesses“ oder der Partikularität ganz allgemein heißt das, zu sehen, dass es eine unsichtbare, aber entscheidende universelle Dimension gibt, der sich das Partikuläre gar nicht bewusst ist. Das ist es, was Marx im Anschluss an Hegel die historische List der Vernunft nennt. So glaubt man beispielsweise, dass man seinen eigenen privaten Interessen folgt; etwa, wenn man Kapital akkumuliert und Profite zu erwirtschaften versucht. Doch der Kapitalist macht das nicht nur für ein besseres Leben; unwissentlich ist er das Werkzeug der historischen universellen Logik des Kapitals. Insofern verfehlt man den wahrscheinlich entscheidenden Punkt, wenn man die eurozentrische Dimension des globalen Kapitalismus kritisiert. Und man verfehlt, was Marx so wichtig war: Dass der Kapitalismus eine universelle Kraft ist; dass er alle partikulären Lebensweisen verzerrt. Er ist, wie es Alain Badiou so schön formuliert hat, „weltlos“. Denn der Kapitalismus ist nicht länger an eine bestimmte Welt im kategorischen Sinne gebunden, an eine Welt als kulturellen Horizont. Vielmehr ist er eine Art neutrale Maschine, die jede partikuläre Lebensweise korrodiert; und selbst wenn diese Lebensweisen überleben, werden sie in Momente des universellen Kapitalismus verwandelt. Das Problem ist also nicht, dass der Kapitalismus eine falsche Universalität hat, sondern dass er eine faktische Universalität ist. Um ihn herauszufordern, muss man sich auf der gleichen Ebene bewegen, denn wenn man auf seiner Partikularität besteht, hat man den Kampf schon verloren.
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Die entscheidende Frage heute lautet deshalb: Was können wir ihm entgegenhalten? Auf seiner Ebene? – Ich glaube, dass das Phänomen der Slums hier von einem bestimmten Interesse ist.
Auszug IV: Der Slumbewohner als fleischgewordener Kapitalismus Die Slums wachsen heute explosionsartig an; nicht nur jene, die man unter dem Begriff „Favelas“ subsumiert. Es ist ein weltweites Phänomen, wie Mike Davis in seinem Buch über Slums darstellt. Laut einiger Quellen lebt derzeit über eine Milliarde Menschen in Slums, wobei allein im größten Slum der Welt zwischen Côte d’Ivoire und Lagos/Nigeria rund 50 bis 70 Millionen Menschen leben. Die Slumbewohner wären damit die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe der Welt. Wir alle sind Zeugen dieses schnellen Wachstums einer Bevölkerungsgruppe, die sich staatlicher Kontrolle entzieht und unter halblegalen Bedingungen und in Selbstorganisation lebt. Dennoch sind viele Slumbewohner auf verschiedenste Art in die globale Wirtschaft eingebunden; z.B. als informelle Lohnarbeiter, als Einzelunternehmer ohne Sozialversicherung oder auf sonst eine Weise. Ja, die Slumbewohner sind der Fleisch gewordene universelle Kapitalismus. Denn bei ihnen handelt es sich nicht mehr um traditionelles Kapital; vielmehr stellen sie den Ort einer universellen Singularität dar: Sie sind wortwörtlich das, was der französische Philosoph Jacques Rancière „Teil keines Teils“ nennt. Zwar sind sie ein Teil der heutigen globalen Gesellschaft, aber ohne bestimmte partielle Funktion innerhalb derselben. Sie sind in der politischen Ordnung darin, aber von ihr ausgeschlossen.
Auszug V: Die göttliche Gewalt, die aus den Favelas kommt Die meisten von uns assoziieren Slums mit Gewalt: Slums – und Gewalt! Ich ziehe gleichsam die Conclusio vor: Gewalt! Natürlich sind Slums gewalttätig. Ich habe das selbst erfahren; ich war in Rio de Janeiro, als es zu einem der Hungeraufstände kam. Die Stadt ist sehr interessant, weil sie einzigartig gelegen ist: Die wohlhabenden Viertel grenzen direkt an die Viertel mit extremer Armut, an die Favelas. Vom reichen Teil der Stadt kann man so die Slums sehen. Im Zuge dieses Hungeraufstands brachen nun die Slumbewohner wie die Heuschrecken über die Supermärkte herein, um Essen zu stehlen. Ja, Gewalt eben! Wahrscheinlich kennen Sie alle Walter Benjamins „Zur Kritik der Gewalt“; wahrscheinlich wissen Sie alle, wie der Staat das Spiel als Begründer der Gewalt spielt und wie er Gewalt erhält. Benjamin erwähnt dann diese paradoxe dritte Gewalt, nämlich die göttliche, die
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er der rechtssetzenden Gewalt gegenüber stellt. Wobei bei Benjamin die göttliche Gewalt nicht die reine Gewalt ist, die als Idee vielen postmodernen Theoretikern und Produzenten von Cultural Studies so gut gefällt. Die göttliche Gewalt ist vielmehr die, die sich dann zeigt, wenn eine Menschenmenge einen Kriminellen lyncht.
Slavoj Žižek, geboren 1949 in Ljubljana, ist Philosoph, Kulturkritiker und nichtpraktizierender Psychoanalytiker. Als Professor für Philosophie lehrt er u.a. in Ljubljana und an der European Graduate School (Schweiz). Zudem ist er seit Anfang 2007 Direktor des Birkbeck Institute for the Humanities an der University of London.
Diese göttliche Gewalt offenbart sich aber auch dann, wenn die Ausgeschlossenen, die Slumbewohner, unsere Gated Communities überrennen. Es ist deshalb kein Wunder, dass einer der bekanntesten Filme über die Slums von Rio “City of God” heißt. Denn in den Slums nimmt die göttliche Gewalt ihren Ausgang. Benjamin bezeichnet ja die Gewalt als Gewalt außerhalb des Gesetzes. Sie ist Gerechtigkeit, aber nicht gesetzliche Gewalt. Er vergleicht sie mit den göttlichen Strafen der Bibel, etwa mit den Heuschrecken. Dazu passt auch, was Benjamin in seiner fünften These über den Begriff der Geschichte sagt, als er vom Angelus Novus spricht; also vom Engel, der auf eine Geschichte des Elends und der Ausbeutung zurückschaut: Von Zeit zu Zeit schlägt diese Geschichte des Leidens förmlich zurück. Das ist dann, im Falle der Slums, die göttliche Gewalt von heute.
Auszug VI: Die Kulturrevolution der kapitalistischen Dynamik Die heutige Politik ist hauptsächlich Angstpolitik. Der gemeinsame Nenner von Populisten, Rechten, aber auch der anderen Seite ist die Angst. Angst vor Einwanderung, Angst vor Wirtschaftskrisen (die auch die Linke pflegt), Angst vor starken Unterdrückungsapparaten, Angst vor ökologischen Katastrophen – damit wendet sich die Politik an einen. Heute können Sie mit positiven Anliegen niemanden mehr motivieren. Oder mit großen politischen Projekten. Die grundlegende Form der Mobilisierung ist heute Angst: Jemandem vor etwas Angst machen – das ist Politik der Angst! Auch liberale Politiker tun das, und sie machen auch Angst, indem sie auf Slums verweisen. Die einzige Möglichkeit, diese Angst zu bekämpfen, ist das Einnehmen einer Position der Angstfreiheit: Seien wir bereit, alles zu riskieren!
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Was zum Thema „Kulturrevolution“ führt: Da ich derzeit gerade eine Auswahl von Texten Mao Zedongs herausgebe, bin ich bezüglich der Durchführbarkeit des Maoismus illusionslos. Die maoistische Kulturrevolution war ein echter Versuch, die ideologische Vergangenheit auszurotten. Ich glaube, darin liegt eine Art poetischer Gerechtigkeit. Das Endergebnis ist aber möglicherweise die wildeste kapitalistische Dynamik, die es in der Geschichte je gab. Kennen Sie den Satz „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ aus der Dreigroschenoper? Wir können diesen Satz verfremden, etwa zu: „Was ist ein lächerlicher terroristischer Überfall, verglichen mit einem Krieg gegen den Terror, den ein Staat organisiert?“, oder zu: „Was sind ein paar arme rotgardistische Aufstände, verglichen mit der revolutionären Macht und der sozialen Wirkung der kapitalistischen Dynamik?“. Wir haben jetzt eine richtige Kulturrevolution. Die Rotgardisten versuchten Sachen zu zerstören, verbrannten Bücher und legten alte Tempel in Schutt und Asche. Das waren lächerliche und ineffiziente Mittel, verglichen mit der Zerstörung der Vergangenheit durch die kapitalistische Dynamik heute.
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Globalisierung 1800–1900
Ein Vorteil der nur langsam aufkeimenden Weltwirtschaft ist, dass sich auch Wirtschaftskrisen noch nicht von Land zu Land und von Kontinent zu Kontinent fortpflanzen.
Nach 1880 setzt die Politisierung der Globalisierung ein: die national verfassten Gesellschaften wollen die Auswirkungen weltwirtschaftlicher Vernetzung politisch einhegen. Weltwirtschaft wird nach außen als Weltpolitik, als Funktion nationaler Macht aufgefasst. Es entstehen Konflikte zwischen den „Weltmächten“, die ein Zeitalter der wirtschaftlichen Entglobalisierung und gleichzeitig das der Weltkrisen und Weltkriege einläuten.
Durch die Verbreitung der industriellen Produktionsweise kommt es zu massiven Veränderungen für die weiträumigen Wirtschaftsbeziehungen. Ein besonders globalisierungsrelevantes Beispiel ist, dass in Fabriken mittels Dampfkraft und maschineller Technik Konsumgüter wie Baumwolltextilien in wachsender Menge zu sinkenden Preisen hergestellt werden können und die Massenproduktion komplizierter mechanischer Geräte bald kein Problem mehr darstellt.
Die industrielle Revolution bringt auch eine Industrialisierung des Verkehrs mit sich, und damit ermöglicht sie um 1830 regelmäßige Verkehrslinien. 1850 fährt das erste Dampfschiff von Shanghai nach London. Zwischen 1860 und 1880 endet das Zeitalter der Segelschiffe. 1869 wird der Suez-Kanal eröffnet, dieser neue Wasserweg halbierte die Reisedistanz zwischen London und Bombay.
In den 1840er Jahren bricht auf dem europäischen Kontinent das Eisenbahnzeitalter an, in dem Sinn gemeint, dass die Eisenbahn als maßgebliches Element des gesellschaftlichen Lebens verstanden wird. Außereuropäische Länder mit Bahnprägung sind unter anderem Indien, Argentinien und Japan. 1867 wird die Verbindung von der West- zur Ostküste der USA fertiggestellt, dies erhöht den Wirkungsradius der städtischer Zentren in unwegsame Gebiete hinein.
Ende des 19. Jahrhunderts hat der Tourist bereits den Reisenden abgelöst. Organisierte Gruppenexkursionen bringen auch den einfachen Bürger an Orte, die von seinem Heimatort oft weit entfernt sind, und so hatten immer mehr Menschen die Möglichkeit, die Kulturen anderer Länder kennenzulernen.
Unter allen Technologien dieser Epoche erzeugt die Telegrafie die dramatischsten Globalisierungseffekte. Die Geschichte der Telegrafie beginnt 1839 mit Samuel Morse. 1866 erfolgt die Verlegung eines funktionstüchtigen Transatlantikkabels, 1880 kann von London aus ein Telegramm an jeden einigermaßen bedeutsamen Ort im British Empire geschickt werden. Die Nachrichtenübermittlungsgeschwindigkeit zwischen Europa und den USA erhöht sich in dieser Zeit um den Faktor 10.000.
In der Zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts löst sich die Geschwindigkeit der Informationsübertragung von derjenigen des Warentransports, was das Geschehen auf den Finanz- und Warenmärkten außerordentlich beschleunigt.
Zwischen 1860 und 1870 wirken erstmals auf wirtschaftlichem Gebiet wahrhaft globale Interdependenzen, die sogar statistisch nachweisbar sind.
Politische Entwürfe wie der Liberalismus mitsamt seiner Freihandelslehre und der Marxismus sind um 1850 reine Globalisierungsutopien. Radikale Freihändler wie Richard Cobden erhoffen sich von der Beseitigung aller Handelsschranken auf der Welt Prosperität und Frieden für die gesamte Menschheit. Dahinter steht die Vision konfliktfreier weltumspannender Interaktionen, die möglich werden würden, wenn sich Staaten und Regierungen des Eingriffs in freiwillige Vereinbarungen zwischen Individuen enthalten.
Als Großbritannien 1846 unilateral seine wichtigsten Zölle abschafft, wird ein Teil des freihändlerischen Programms realisiert. Andere Länder ziehen nach und um 1870 ist ganz Europa westlich des Zarenreiches zu einer großen Freihandelszone geworden.
1851 gründet Julius Reuter die erste Nachrichtenagentur und baut innerhalb eines Jahrzehnts ein Korrespondenznetz über alle Kontinente auf. Damit ist der Grundstein für einen ab 1870 beginnenden globalen Trend der Medienentwicklung gelegt.
Ab 1851 finden Weltausstellungen ausschließlich in Europa und den USA statt. Diese zeigen die materiellen Errungenschaften der „entwickelten“ und der von ihnen angeleiteten „primitiven“ Völker.
Als Globale Ökonomie wird eine Wirtschaft mit der Fähigkeit, als Einheit in Echtzeit oder gewählter Zeit auf globaler Ebene zu funktionieren, bezeichnet.
Die Entstehung der Weltwirtschaft geht einher mit der Ära des Freihandels: Zwischen 1846 – 1880 wurden zahlreiche weltweite wirtschaftliche Beziehungen geknüpft.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird es erstmals möglich, Massengüter über große Distanzen zu verschicken. 1880 wird diesbezüglich eine wichtige Schwelle überschritten: es kommt zu einer Angleichung von Güterpreisen und Reallöhnen zwischen Westeuropa und Nordamerika.
Das Volumen des Welthandels erhöht sich zwischen 1800 und 1913 um das 25fache. Der Welthandel wächst viel schneller als die Weltproduktion. Rudimente der alten Polyzentralität werden jedoch trotzdem bewahrt.
Der Niedergang des britischen Getreidebaus und die Umstellung Großbritanniens auf Fertigwarenexporte und Getreideimporte nach der Abschaffung der Corn Laws 1846 sind die ersten Beispiele für die strukturverändernde Wirkung der neuen Form weltwirtschaftlicher Arbeitsteilung.
Das untrüglichste Anzeichen engerer globaler Zusammenarbeit ist das Auftreten weltweit spürbarer Konjunkturbewegungen: Die „Gründerkrise“ von 1873 läßt weltweit die Güterpreise fallen und 1896 gab es die erste globale Hochkonjunktur.
Spätestens seit den 1880er Jahren ist alltagssprachlich von einer Weltwirtschaft als zusammenhängendes Gebilde die Rede. In den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg erfolgt noch einmal ein gewaltiger Schub weltwirtschaftlicher Vernetzung.
Zwischen 1870 und 1914 wachsen untereinander nur lose verbundene Handelsnetze, deren Zentrum meist in London liegt, zu einem geschlossenen System zusammen. Wichtigstes Anzeichen dafür ist, dass der Ausgleich von Handelsund Zahlungsbilanz nun multilateral erfolgt.
1820 ist das afrikanische Pro-Kopf-Einkommen niedriger als im 1. Jahrhundert. Seither ist es langsamer gestiegen als in allen anderen Regionen. Sogar 1998 liegt das Einkommensniveau nur leicht über dem westeuropäischen Niveau von 1820. Das Bevölkerungswachstum verläuft gegenwärtig rascher als in jeder anderen Region, nämlich achtmal so rasch wie in Westeuropa.
Montierte Quellen: Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Der Handel. Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Aufbruch zur Weltwirtschaft. Angus Maddison, Die Weltwirtschaft: Eine Milleniumsperspektive. Jürgen Osterhammel, Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Wikipedia, Globalisierung (Stand: 15.8.2007). Montiert von Michaela Ritter
1884 einigen sich 25 Staaten auf eine am Meridian von Greenwich ausgerichtete Weltzeit, wobei ab 1913 dieses System bereits weltweite Verbreitung findet.
Neo-Politik: Postökonomistische Weltgestaltung
Das Unmenschliche, die Untoten und der Kapitalismus Slavoj Žižek über Slums, aktuelle Politik und echte Kulturrevolutionen
Die Moralisierung der Märkte von Nico Stehr
CSR, Welthandel und die Notwendigkeit politischer Gestaltung Bernhard Ungericht im Gespräch mit Michaela Ritter und Christian Eigner
Die Entschlüsselung des politisch Möglichen von Saskia Sassen
Die Moralisierung der Märkte Von Nico Stehr
“When the accumulation of wealth is no longer of high social importance, there will be great changes in the code of morals… Of course there will still be many people with intense, unsatisfied purposiveness who will blindly pursue wealth – unless they can find some plausible substitute. But the rest of us will no longer be under any obligation to applaud and encourage them.” (John Maynard Keynes, Essays in Persuasion, [1930] 1963, S. 369–370)
I Postrationale Konsumenten Der Verband Deutscher Kerzenhersteller e.V. berichtet regelmäßig über den vom Statistischen Bundesamt erhobenen Wert der Kerzenproduktion in Deutschland sowie den Umfang der Kerzenein- und ausfuhr. Zweifellos verfügt heute jeder deutsche Haushalt über die Möglichkeit, seinen Bedarf an Illumination mit elektrischem Licht effizient zu decken. Dennoch war das Kerzengeschäft in Deutschland auch in Zeiten des Nullwachstums der Volkswirtschaft eine sehr erfolgreiche Wachstumsbranche. Die jährlichen Zuwachsraten sind beeindruckend. Im Jahr 1997 belief sich das Kerzengeschäft im Inland auf geschätzte 130 Tonnen oder einen Wert von ungefähr 250 Millionen Euro. In 2005 wurden allein 104 Tonnen Kerzen im Wert von 213 Millionen Euro importiert. Allerdings verschleiern diese Zahlen den tatsächlichen Wert der Ausgaben deutscher Haushalte für Kerzen, denn die Dunkelziffer der auf vielen Wochenmärkten und an anderen Orten zu findenden Teilzeitfabrikanten von Kerzen ist hoch. Gleichwohl lassen sich die erfreulichen Wachstumsraten für die Kerzenindustrie kaum als Ergebnis eines rationalen Kaufverhaltens erklären. Es sind offensichtlich andere Gründe, die auf dem Kerzenmarkt das Illuminationsverhalten bestimmen. Die Frage ist, wieweit diese Beobachtungen generalisierbar sind und sie Auskunft über eine radikale Veränderung des Verhaltens aller Markteilnehmer moderner Gesellschaften geben.
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II Märkte und ihre moralische Basis Vor einem Jahrhundert gab der typische Haushalt eines OECD-Landes achtzig Prozent seines Einkommen für Ernährung, Kleidung und Unterkunft aus. Heute beträgt dieser Anteil an den Konsumausgaben weniger als dreißig Prozent. Es gibt kaum etwas, das die moderne Ökonomie und Gesellschaft signifikanter beeinflusst als die Entscheidungen der Konsumenten am Markt. Obwohl es daher nicht überrascht, dass hierdurch Art und Umfang der Produktion mitbestimmt werden, ist der Konsument lange Zeit nicht nur von professionellen Ökonomen als isoliertes, uninformiertes, vor allem aber (nur) rational handelndes Einzelwesen verstanden worden, dessen Kaufentscheidung – oder auch Kaufenthaltung – Ergebnis eng umschriebener finanzieller Überlegungen sei. Saubillig sollte es sein! Vor wenigen Jahren waren es Dritte-Welt-Läden, kleine Verkausfstände und winzige Bioläden, in denen fair gehandelter Kaffee ein Nischendasein fristete. Diese Verhaufsetablissements wurde von wenigen, schon durch ihre Äusserlichkeiten leicht erkennbare Kunden frequentiert. Heute haben ökologische und fair gehandelte Produkte ein Millionenklientel und dreistellige Wachstumsraten. Die grossen Einzelhandelsketten in vielen europäischen Ländern führen Dutzende von fair gehandelten Produkten in ihrem Sortiment. Aber auch anderen Waren als Lebensmittel haben sowohl in der Rohstoffzusammensetzung als auch in den Produktionsabläufen zunehmend moralische Qualitäten. Das Markvolumen dieser Produkte und Diensleistungen steigt nachhaltig und rapide. Marktverhalten hatte schon immer, über weitreichende historische Abschnitte hinweg, eine dann als weitgehend selbstverständlich verstandene moralische Basis. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an philosophische Traditionen des frühen Mittelalters, die sich auf Fragen des gerechten Preises oder des Zinsverbots bezogen. Noch elementarer verweist die Tatsache, dass die Konsumationsmuster der Menschen nicht nur in der Vergangenheit durch Momente wie Geschlechts-, Klassenoder ethnische Zugehörigkeit mitbestimmt waren und auch heute noch sind, auf eine bestimmte moralische Untermauerung der Märkte. In Kulturen mit patriarchalischen Traditionen, in Klassengesellschaften und in ethnisch stratifizierten Gemeinschaften ist der Konsum von Luxusgütern ein Symbol hoher sozialer Zugehörigkeit. Der verbleibende Teil der Menschen konsumiert üblicherweise nur das, was zum Gehalt seiner Existenz notwendig ist.
III Neue nachhaltige soziale Normen Wie genau hat sich der Markt gerade in jüngster Zeit verändert? Wie lassen sich die typischen Handlungsmaximen heutiger Konsumenten fassen? Wie hat sich dadurch auch das Verhalten anderer Markteilneh-
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mer wie das der Produzenten verändert? Sind die Entscheidungen der Konsumenten etwa das Ergebnis einer von Unternehmen (künstlich) bestimmten Nachfrage oder sind vielmehr andere, außer-ökonomische gesellschaftliche Prozesse für das Markthandeln der Konsumenten und der Dynamik des Marktes verantwortlich? Gerade heute, in Zeiten, in denen es mehr als genug Strom und Licht gibt, boomt der KerzenMarkt: Im Jahr 2005 wurden allein in Deutschland 104 Millionen Tonnen Kerzen im Wert von 213 Millonen Euro importiert – was ein deutliches Zeichen dafür ist, dass Märkte keineswegs von „rationalen Subjekten“ dominiert werden. Was den Konsumenten antreibt sind offensichtlich weniger rechnerische Kalküle und Effizienzdenken als bestimmte Werte und Lebensvorstellungen. Wozu auch der Boom rund um fair gehandelte Güter passt, der seit Jahren stetig an Volumen zunimmt. Dass Märkte eine „moralische Basis“ haben und von Werten „durchzogen“ sind, ist freilich nicht neu. Neu ist vielmehr, dass diese Werte nicht – wie etwa im Mittelalter – gegen den Konsum gerichtet sind, sondern ihm eine bestimmte Ausrichtung geben. Mit den Waren zusammen werden auch bestimmte Werte „gehandelt“, und zwar zunehmend solche wie Fairness, Authentiziät oder goodwill. Die Märkte beginnen sich gleichsam zu moralisieren, wozu es freilich nötig ist und war, dass ein bestimmter Grad an Wohlstand der Fall ist. Nur dann kann nämlich so etwas wie ein moderner Konsument entstehen, für den Waren nicht nur einen Nutzwert, sondern gleichsam auch „moralische Eigenschaften“ aufweisen: Güter verfügen heute über eine Art „Würde“ und sind gleichsam die Repräsentanten jener Normen, die mit ihrer Produktion verbunden (oder auch nicht verbunden) waren. Natürlich gilt die Moralisierung der Märkte – noch – nicht für alle Märkte; z.B. nicht für jene des Finanzbereichs. Wie man auch nicht meinen darf, dass durch sie der Kapitalismus aufgelöst würde. Allerdings wird er durch die „Moralisierung“ modifiziert – genau wie die Gesellschaft ganz generell. Denn wo Werte über Märkte und Güter „ausgehandelt“ werden, verändern sich auch die Herrschaftsverhältnisse. Was der Nationalstaat oder auch die Wissenschaften als alte „Wertproduzenten“ bereits deutlich in Form von schwindendem Einfluß zu spüren bekommen. Die Moralisierung der Märkte als junge gesellschaftliche Entwicklung verweist einmal auf eine Auflösung und Abwahl der klassischen moralischen Basis, sichtbar beispielsweise in der Musikindustrie, in der Aufnahmen kostenlos oder für eine geringe Gebühr (im Vergleich zu den von den Produzenten bestimmtnen Preisen in der Vergangenheit) mitbenuzt werden, teilweise unter Missachtung von Eigentumsvorbehalten, und auf das Vordringen anderer moralischer Prinzipien in der Produktion, der Wahl eines Standortes und der Konsumation, aber auch auf eine Veränderung des Stellenwerts der Ethik im wirtschaftlichen Handeln insgesamt. Sofern man von einer Moralisierung der Märkte in modernen Gesellschaften sprechen kann – und nicht, wie manche befürchten, eine Verdrängung ethischer Maximen durch den Markt – kommen wirkungsvolle und nachhaltige soziale Normen zum Einsatz, die ein vom egoistischen Maximiergehabe oder dem Geltungskonsum abweichendes Verhalten vorschreiben. Zu diesen bedeutend werdenden Normen des
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Marktes gehören beispielsweise Fairness, Authenzität, Goodwill, Ängste, Nachhaltigkeit, Ausgleich, Rache, Exklusivität, Originalität, Solidarität, Alter, Mitgefühl sowie viele andere moralische Maximen. Welche gesellschaftlichen Entwicklungen genau sind aber dafür verantwortlich und tragen dazu bei, dass Normen dieser Art einen wachsenden Stellenwert sowohl bei der Produktion als auch der Konsumation einnehmen? Eine Moralisierung der Märkte ist nicht der Beweis dafür, dass marktfremde Formen dominieren oder die traditionelle Marktinstitutionen generell schwächer geworden seien. Die Moralisierung des Marktes, die Abkehr einer von der Mechanik des Gelderwerbs bestimmten Rationalisierung des Marktverhaltens, verweist vor allem auf den Beginn einer weiteren Stufe in der gesellschaftlichen Entwicklung des Marktes. Erste, signifikante Tendenzen hin zur Moralisierung der Märkte, beispielsweise die wachsende Präferenz für ökologische Produkte oder der Widerstand gegen biotechnologisch veränderte Lebensmittel, lassen sich bereits deutlich ausmachen und werden in Zukunft wahrscheinlich noch einflussreicher. Der Trend ist nicht linear. Er wird von Rückschlägen in der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung unterbrochen, aber durch den wachsenden durchschnittlichen Wohlstand der Haushalte forciert.
IV Von „Hunger-Märkten“… Unsere wichtigsten Ideen von den Eigenschaften des Marktes und unserem angeblich typischen Marktverhalten entstammen einer Welt, die keinen verbreiteten Wohlstand oder kein allgemeines Bildungswesen, sondern nur ausgesprochene Armut, umfassende Machtlosigkeit, verbreiteten Hunger und Analphabetismus kannte. Die Armut der Lohnabhängigen verstand man als Voraussetzung der Expansion der Produktion; der Reichtum eines Landes wurde als Funktion der Armut ihrer arbeitenden Bevölkerung betrachtet. Die Armut der Arbeitenden hatte auch eine Reihe von angeblich positiven moralischen Konsequenzen. So disziplinierte die Armut die Lohnabhängigen und leistete einen entscheidenden Beitrag zum Erhalt des gesellschaftlichen status quo. Seit dem 18. Jahrhundert ist deshalb die Behauptung, Wohlstand demoralisiere, zu einem Gemeinplatz geworden. Die noch heute gültige Theorie des Marktes entstammt somit einer Gesellschaft, die es nicht mehr gibt. Sie galt für das Kommunikationssystem einer Gesellschaft, die soziale Differenzierung, die Rolle des Staates, die soziale oder politische Ungleichheitsstruktur und die Wirtschaft der Gesellschaft. Von Verbrauchern war damals jedoch überhaupt keine Rede. Der Konsum schuf keinen Wohlstand. Die Mehrzahl der Menschen „konsumierte“ überhaupt nicht, sondern versuchte zu überleben. Es war eine Welt, in der der Arbeitsplatz dazu diente, existenzielle Bedürfnisse zu befriedigen, in der die Produktion dazu da war, die Gesellschaft vor den Gefahren der Umwelt zu schützen und der Markt rein instrumentelle
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Funktionen hatte. Der „Konsument“ war eine ohnmächtige Arbeitskraft und, wie die Natur, in erster Linie Produktionsfaktor. Ein ähnlich trostloses Bild wird auch heute noch oft vom größten Teil der Marktteilnehmer gezeichnet. Danach leidet die Mehrheit der Menschen entweder unter materiellem Mangel oder, aus einer oft asketischen Sicht, an Konsum-Übersättigung. Konsumenten werden als hilflose, unmündige, unsichere, manipulierte und somit schlecht beratene Käufer dargestellt. Das gesellschaftliche Substrat der Moral und die Schubkraft für eine Moralisierung der Märkte sind dagegen insbesondere die veränderten Lebensumstände des Menschen. Diese These mag zwar strittig sein, aber unbestritten ist, dass sich der Lebensstandard der meisten Menschen jahrhundertelang nur unwesentlich verändert hat. Im Gegensatz dazu leben wir gegenwärtig nicht nur aus ökonomischer Sicht, sondern auch nach dem erreichten Bildungsstandard der Bevölkerung in einem historisch unverwechselbaren Zeitalter, jedenfalls in den so genannten entwickelten Gesellschaften. Obwohl Reichtum und Bildung weder hier noch anderswo gleich verteilt sind, sind beide weiter verbreitet als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit.
V …zu Märkten des Überflusses Es stellt sich deshalb die Frage, welche nachhaltige Spur der Weg zu weit verbreitetem Wohlstand, das Vorhandensein nie gekannten Reichtums und eines weiter denn je verbreiteten allgemeinen Wissens (Wissenheit) in der modernen Gesellschaft hinterlassen hat? Und da sich die veränderten Lebensumstände in einer Vielzahl veränderter Sozialstrukturen, Verhaltensweisen und Werte manifestieren, kann man gezielter fragen: Hat sich deshalb die Institution der Märkte und das Verhalten der auf ihnen agierenden Akteure in bemerkenswerter Weise verändert? Sind es heute zunehmend die intrinsischen Eigenschaften von Waren, die nützlich sind? Auch im Zeitalter der Moralisierung der Märkte sind Waren keine menschliche Wesen. Da aber die Dinge eine Vielzahl von menschlichen Werten annehmen, die zu ihren intrinsischen Eigenschaften werden, sind Waren zunehmend hybride Gebilde. Waren können, wie auch der Mensch beispielweise, eine bestimmte Würde haben. Waren sind nicht mehr reine, tauschbare Gegenstände oder Mittel des menschlichen Handelns. Am Markt erhältliche Dinge sind Symbole einer sich abzeichnenden Überwindung von Entfremdung und Verdinglichung. Eine Moralisierung der Märkte heißt aber nicht, dass moralisch „höhere“, „zivilere“, „humanere“, „friedliche“ oder sogar „nachhaltige“ Normen plötzlich das ökonomische Geschehen dominieren. Es ist möglich, aber nicht zwingend, dass sich solche, von Vielen als moralisch überlegen eingeschätzte Verhaltensweisen von Konsumenten und Produzenten
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zunehmend beobachten lassen. Noch kann man unterstellen, dass neue Konventionen und Orientierungsmuster prompt von allen Akteuren geteilt werden oder dass sich ein solcher Konsens fast naturwüchsig herausbildet. Bestimmte Verhaltensnormen werden weiter die von Minoritäten sein. Aber diese Minoritäten mögen sehr wohl Meinungsführer sein. Auch in Zukunft werden sich die Orientierungsmuster ökonomischen Handelns von Produzenten und Konsumenten unterscheiden.
VI Waren und Dienstleistungen mit moralischen Eigenschaften Es ist wichtig zu untersuchen, welche Erfahrungen, vielleicht sogar welche gemeinsamen Erfahrungen der Gesellschaftsmitglieder dafür verantwortlich sind, dass es zur Herausbildung eines neuen kulturellen oder moralischen Verständnisses ökonomischen Handelns kommt. Ob diese Erfahrungen auch weitgehend gemeinsame moralische Werte zur Folge haben, ist eine empirische Frage. Es liegt auf der Hand, dass tief greifende Veränderungen im ökonomischen Handeln von neuartigen gesellschaftlichen und politischen Konflikten begleitet sind, aber auch angetrieben werden. Nicht alle Märkte sind gleich. Sie verändern sich nicht alle zur gleichen Zeit, im gleichen Tempo oder in allen Regionen dieser Welt. Bei einigen Marktformen, wie zum Beispiel der Finanzmarkt, greifen Normen, Richtlinien, Regulierungs- und Lenkungsmaßnahmen, die auf eine Moralisierung des Marktverhaltens hinauslaufen, nur sehr schwer, wenn nicht überhaupt nicht, wie uns die Persistenz umfassender Korruption immer wieder vor Augen führt. Die strikte Einteilung in marktendogene und -exogene Normen hilft nicht weiter, weil sie seit eh und je impliziert, dass die Wirksamkeit von spezifischen gesellschaftlichen Normen auf ein bestimmtes soziales Umfeld beschränkt sind. Märkte tragen beispielsweise zur Gestaltung der Kultur bei, während kulturelle Prozesse wiederum die Märkte beeinflussen. Das sind die wirklich interessanten Aspekte eine Analyse der Märkte in modernen Gesellschaften, während die oft nur statische, selbstgenügsame Betrachtung des Marktes nicht nur weit weniger interessant, sondern auch unrealistischer ist. Die Moralisierung der Märkte signalisiert keinesfalls einen Bruch mit dem Kapitalismus. Die eine kapitalistische Wirtschaftsordnung kennzeichnenden Merkmale, wie die des Privateigentums an den Produktionsmitteln oder ein auf Gewinnerzielung ausgerichtetes Verhalten, werden allenfalls modifiziert und temperiert, nicht aber aufgehoben. Der Kapitalismus wird z.B. dadurch modifiziert, dass einst als selbstverständlich angesehene Komponenten des Produktionsprozesses, wie das „natürliche Kapital“ mit in die Produktionsgleichung aufgenommen werden.
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Die in bestimmten Nationen oder Regionen der Welt entwickelten Verhaltensvorschriften, Standards von Waren und Dienstleistungen sowie Prozeduren werden nicht nur zu globalen Standards und Prozeduren als Ergebnis der sowohl bewusst (etwa durch internationale Verträge) angestrebten als auch nichtintendierten Verbreitung von Normen (etwa weltweite Handelsströme, der wachsende Zugang zu Kommunikationsmedien, das Konkurrenzverhalten, die persistent gestärkte Rolle der Konsumenten), sondern vor allem zu dann weitgehend unsichtbaren moralischen Eigenschaften von Waren und Dienstleistungen.
VII Der gesamtgesellschaftliche Wandel – und seine Gewinner, bzw. Verlierer Zusammenfassend lässt sich deshalb formulieren: Die These von der Moralisierung der Märkte bezieht sich auf eine Art Schaukelbewegung von Angebot und Nachfrage, auf einen gemeinsamen Tanz der Produzenten und Konsumenten. Die These unterzieht die normativen Grundlagen des in modernen Märkten zu beobachtenden Sozialverhaltens, sowie die Verhaltensumstände einer grundlegenden Revision. Dieser Wandel wiederum ist Ausdruck historisch einmaliger Transformationen in modernen Gesellschaften, die das Ergebnis des wachsenden Wohlstands der Menschen einerseits und ihres gestiegenen Wissensstandes andererseits sind. Das Verständnis der symbolischen und organisatorischen Dynamik des Marktes in modernen Gesellschaften setzt also voraus, wie das auch für den Wandel anderer einflussreicher sozialer Institutionen wie zum Beispiel des Staates, der Kirche oder des Erziehungswesens gilt, dass man die beobachteten Verhaltens- und Einstellungsveränderungen der Akteure in ihnen in eine Beziehung zum gesamtgesellschaftlichen Wandel setzten muss. Und wer sind die Gewinner und Verlierer der Moralisierung der Märkte? Man kann nur hoffen, dass die Zahl der Verlierer und die Reibungsverluste klein sein werden. Zu den Verlierern gehören wahrscheinlich die Nationalstaaten, die einen Teil ihrer Souveränität abgeben müssen, um transnationalen fiskalischen und rechtlichen Normen Geltung zu verschaffen, Normen, die Handlungsvorschriften dienen, die eine Moralisierung der Märkte stützen und stärken. Zu den Verlierern gehören aber auch die traditionelle Ausprägung, der Einfluss und die Eigenart der Funktionen großer gesellschaftlicher Institutionen. Dies gilt insbesondere im Vergleich des einstigen gesellschaftlichen Einflusses der großen gesellschaftlichen Institutionen, die unsere Identität fast selbstverständlich bestimmten, mit dem gestiegenen gesellschaftlichen Einfluss kleiner sozialer Gruppen und sozialer Bewegungen. Die einst mächtigen gesellschaftlichen Instsitutionen, d.h. der Staat, die Wissenschaft, die Konzerne oder die Kirche finden es immer schwerer, ihren Willen durchzusetzen. Es kommt zu einem Herrschaftsverlust kraft
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Nico Stehr ist Inhaber des Karl Mannheim Lehrstuhls für Kulturwissenschaften an der Zeppelin University sowie Fellow des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. Im akademischen Jahr 2002/2003 war er Paul-Lazarsfeld-Professor der Human- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Buchveröffentlichungen jüngeren Datums: Wissenspolitik (Suhrkamp, 2003), The Governance of Knowledge (Transaction 2004), Biotechnology: Between Commerce and Civil Society (Transaction, 2004), Knowledge Politics: Governing the Consequenecs of Science and Technology (Paradigm Publishers, 2005), The Moralization of the Markets (Transaction, 2006, mit Christroph Henning und Bernd Weiler), Knowledge (Routledge, 2006, mit Reiner Grundmann), Moral Markets (Paradigm Publihsers, 2007), Knowledge and the Law (Transaction Publishers, 2007, mit Bernd Weiler) und Die Moralisierung der Märkte (Suhrkamp, 2007).
Wissen. Die führt zu einer bemerkenswerten Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften und damit zu einer Beschleunigung gesellschaftlicher Veränderungen, die nicht mehr vorrangig Ergebnis des planvollen Handelns der Institutionen Ökonomie, Staat oder Wissenschaft sind.
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CSR, Welthandel und die Notwendigkeit politischer Gestaltung Was Corporate Social Responsibility kann – und was nicht Bernhard Ungericht im Gespräch mit Michaela Ritter und Christian Eigner
Corporate Social Responsibility, kurz CSR, hat auf den ersten Blick hin wenig mit FAIRTRADE zu tun. Allerdings: Eine gerechte Weltwirtschaft und ein gerechter Handel brauchen ganz bestimmte Rahmenbedingungen – wie sie auch veränderte Strategien und Vorgangsweisen auf Seite der Akteure benötigen. So besehen wird es denkbar, dass CSR in der FAIRTRADE-Diskussion eine Rolle spielen kann. Allerdings: Was bedeutet Corporate Social Responsibility überhaupt? Und: Ist CSR politisch – oder handelt es sich dabei um einen weiteren Schritt in Richtung „Privatisierung“ von gesellschaftlicher Verantwortung? Bernhard Ungericht: CSR ist für mich eine extrem politisch besetzte Thematik. Wie CSR ja auch von seiner Entstehung her etwas Politisches ist: Corporate Social Responsibility als ein Prinzip für Unternehmen und Konzerne wurde als Topic vom so genannten „Grünbuch“ der EU-Kommission in die öffentliche Diskussion eingebracht. Das war 2001. Die Bestimmung von CSR ging dabei in eine eindeutige Richtung: Die angedachte “Responsibility” sollte darin bestehen, dass ein Unternehmen für seine gesamte Wertschöpfungskette die Verantwortung übernimmt. Also etwa auch dafür, dass auf der Zulieferseite „alles passt“ und Ausgangsmaterialien für die Produktion nicht aus Betrieben stammen, für
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die Menschenrechte, Arbeitsrechte oder Umweltschutz Fremdworte sind. Eigene Prüfungsmechanismen, Kontrollorganisationen und Beschwerdestellen, so war die Idee, würden dafür sorgen, dass die Verantwortung auch wirklich gelebt würde. Allerdings sind die Unternehmerverbände angesichts dieser Ideen sehr rasch nervös geworden. Die Vorstellung, dass CSR zu verbindlichen Richtlinien führen könnte, war offensichtlich sehr erschreckend – weshalb die Verbände umgehend versuchten, den öffentlichen Diskurs über Corporate Social Responsibility zu bestimmen: Sie gründeten Organisationen wie CSR Germany oder CSR Austria, mit denen vor allem klargestellt werden sollte, dass Corporate Social Responsibility eine Sache der Freiwilligkeit ist. Und nur dann für die Unternehmen akzeptabel wäre, wenn sie davon auch profitieren würden. Die Verbände sind mit dieser Strategie im Übrigen ungemein erfolgreich gewesen. Sie haben das CSR-Bild in der Öffentlichkeit damit geprägt und auch die EU-Kommission beeinflusst.
Inwiefern? Bernhard Ungericht: Der letzte Bericht der EU-Kommission an das Europäische Parlament und an den EU-Rat zum Thema Corporate Social Responsibility spricht eine ganz andere Sprache als das Paper von 2001. Nun ist auf einmal von Wettbewerb die Rede, oder davon, dass die Unternehmen ein Anrecht auf Rahmenbedingungen haben, die ihre Wettbewerbskraft steigern – weil nur profitable Firmen CSR realisieren können.
Das hört sich aber so an, als ob CSR als Konzept, Strategie oder was auch immer eigentlich noch völlig unbestimmt ist… Bernhard Ungericht: Deshalb sagte ich vorhin auch, dass CSR eine politisch besetzte Thematik ist: Noch ist Corporate Social Responsibility nicht mehr als eine leere Hülle, die verschiedene Gruppierungen aufzufüllen versuchen. Davon zu unterscheiden sind die konkreten Initiativen auf der Ebene realer Unternehmen und die damit einhergehenden Verantwortungskonzeptionen und Motive. Zu den Unternehmerverbänden kamen ja sehr bald andere Organisationen hinzu, die ihre Vorstellungen von CSR zu platzieren versuchten; Gewerkschaften beispielsweise, oder das Österreich-Netzwerk für Soziale Verantwortung, in dem Arbeiterkammer, kirchliche Institutionen oder etwa Amnesty International aktiv sind. Natürlich haben diese Organisationen ein etwas anderes Verständnis jener sozialen Verantwortlichkeit, die die Unternehmen übernehmen sollten: Verbot von Kinderarbeit, Verbot von Diskriminierung am Arbeitsplatz, das Recht Gewerkschaften
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CSR Unternehmen sind heute dazu aufgefordert, soziale Verantwortung zu übernehmen. Und zwar, wenn möglich, auf globaler Ebene. CSR, Corporate Social Responsibility, ist ein Weg dazu. Unternehmen haben dieser Forderung auch in ihrem eigenen Interesse nachzugehen. Sie stehen dementsprechend vor der Herausforderung, angemessene Konzepte zu entwickeln. Mit CSR wurde ein „Prinzip“ geschaffen, das sowohl für ein verantwortliches unternehmerisches Handeln in der eigentlichen Geschäftstätigkeit (Markt), aber auch für die Berücksichtigung ökologisch relevanter Aspekte (Umwelt) wie auch für respektvolle Beziehungen zu Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern (Arbeitsplatz) und schließlich für den gesuchtem Austausch mit dem Umfeld (Gemeinwesen) steht. Die “Responsibility” besteht folglich darin, dass ein Unternehmen für seine gesamte Wertschöpfungskette die Verantwortung übernimmt. Zu dieser Kette gehören natürlich auch diverse Zulieferer, und so richtet sich die Verantwortung über die Grenzen des eigenen Bereichs hinaus. Idealerweise sollten Prüfungsmechanismen und Kontrollstellen eingerichtet werden, um eine „saubere“ Kette zu garantieren. Allerdings hat der ganze Ansatz einen Haken: Nach Ansicht der Unternehmensverbände soll CSR auf Freiwilligkeit beruhen. Was sich bisher als wenig erfolgreich erwiesen hat. Quelle: Wikipedia
Meilensteine der europäischen CSR-Politik A Das Davoser Manifest von 1973 A das EU-Grünbuch zu CSR im Jahr 2001 A das Europäische Multistakeholder Forum zu CSR zwischen 2002 und 2004 A Zwei Mitteilungen der EUKommission zu CSR A Die Unterstützung der von Unternehmen gegründeten Europäischen Allianz zu CSR durch die Kommission A Das Programm „Förderung von CSR in KMUs“ der (EU-)Generaldirektion Unternehmen und Industrie
Quelle: Wikipedia
zu gründen und ähnliches – um alles das hätten sich demnach Konzerne entlang ihrer Wertschöpfungskette zu kümmern. Und zwar nicht auf freiwilliger Basis, sondern – da es sich um grundlegende Dinge handelt – verpflichtend. Diese Interpretation von CSR hat bei der EU-Kommission allerdings nicht jenes Gewicht wie die Deutung der Unternehmerverbände.
Und wie sieht es in den Unternehmen selbst aus? Was aus einem Konzern und den diesen vertretenden Verband zu hören ist, ist ja nicht unbedingt repräsentativ für die gesamte Betriebs-Landschaft. Bernhard Ungericht: Darüber gibt ein Forschungsprojekt Auskunft, das gerade in der Steiermark läuft. Im Rahmen desselben werden Unternehmen untersucht, die mit dem Thema CSR an die Öffentlichkeit gegangen sind oder CSR-Preise gewannen. Eine Frage, die all den 50 Firmen und 200 Leitbetrieben dabei gestellt wird bzw. wurde, lautet: „Hat ein Unternehmen, das mit CSR wirbt, verpflichtende Kriterien einzuhalten? Und muss es im Rahmen eines Zertifizierungsprozesses überprüfen lassen, ob es diese Kriterien auch einhält?“ Interessanterweise waren 70% bis 80% jener Unternehmen, in denen CSR ein Thema ist, dafür, dass es solche Kriterien und Zertifizierungsprozesse gibt. Ähnlich beeindruckend waren bisher die Antworten auf die Frage, ob es entlang der Wertschöpfungskette ökologische Mindeststandards wie auch Mindeststandards im Bereich der Menschenrechte geben sollte, die bindend sind. Nicht weniger als 90% der Befragten fanden das richtig. Ohne dabei im Übrigen um ihre unternehmerische Freiheit zu fürchten: Ebenfalls 90% betrachteten derartige Standards als Schutzmaßnahme und nicht als illegitimen Eingriff. Was heißt das jetzt? Wohl folgendes: Vor allem die Klein- und Mittelbetriebe werden offensichtlich von den Unternehmerverbänden missbraucht. Denn es werden zwar im Namen aller Unternehmen Verbindlichkeiten im CSR-Bereich abgelehnt, in Wirklichkeit soll damit aber nur den internationalen Investoren ein Dienst erwiesen werden, die an rechtlich verbindlichen Rahmenbedingungen kein Interesse haben. Die lokalorientierten Klein- und Mittelbetriebe hingegen hätten gegen verbindliche Maßnahmen wahrscheinlich gar nichts einzuwenden, weil sie diese auch als Schutz betrachten. Schließlich verhindern diese ja ein Absinken von Arbeitsstandards und damit einen möglichen Lohn- und Preiskampf nach unten.
Gegen eine Verantwortungs-Bestimmung, wie sie z.B. von Seiten der Gewerkschaften kommt, haben die kleineren Betriebe also nicht unbedingt etwas einzuwenden…
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CSR, Corporate Social Responsibility, ist nach wie vor eine leere „Worthülse“. Verschiedene Gruppen füllen sie mit verschiedenen Inhalten, wobei einige der so entstehenden Begriffsbestimmungen durchaus sinnvoll erscheinen; etwa die der Internationalen Arbeitsorganisation ILO. Laut dieser bedeutet CSR für ein Unternehmen, darauf zu achten, dass die Geschäftstätigkeit auf eine gesellschaftsverträgliche Weise durchgeführt wird. Was praktisch bedeutet, dass man als Firma sozialen und ökologischen Kriterien genügen muss, die wiederum auf Werten wie den Menschenrechten beruhen. Sollen diese Kriterien aber eingehalten werden, müssen sie für die Unternehmen verbindlich sein; auf Basis von Freiwilligkeit, so haben die vergangenen Jahrzehnte gezeigt, kommt es zu gar nichts. Denn mag der Begriff CSR auch erst seit der Jahrtausendwende in Gebrauch sein – neu ist das, was er will und anstrebt, nicht. Versuche, Verhaltenscodes für transnationale Unternehmen zu etablieren, existieren nämlich seit den 1970er Jahren. Allerdings wurden sie von den Unternehmerverbänden immer wieder erfolgreich hintertrieben, da international tätige Konzerne Regelungen, die von ihnen z.B. die Einhaltung von Menschenrechten fordern, meist nichts abgewinnen können. Was sie im Übrigen von Klein- und Mittelbetrieben unterscheidet, die – wie eine Studie zeigt – keine Probleme mit verpflichtenden CSR-Maßnahmen haben. Für verpflichtende Kriterien kann aber nur die Politik durch die Etablierung entsprechender internationaler Institutionen sorgen – wie die Politik auch Regeln schaffen könnte, aufgrund derer Firmen, die ein bestimmtes (menschliches) Größenmaß überschritten haben, ihre Tätigkeitserlaubnis verlieren. Tatsächlich sind solche gesetzlichen Regelungen alles andere als utopisch – sie existieren vielmehr bereits. Und zwar ausgerechnet in den USA. Dort ist im Unternehmensrecht seit dem 19. Jahrhundert verankert, dass Firmen regelmäßig daraufhin überprüft werden müssen, ob sie ihr Geschäft noch im Sinne der Gesellschaft ausüben. Tun sie das nicht, dürften sie theoretisch nicht mehr jene Charta verliehen bekommen, die ihnen ihre Tätigkeit erst erlaubt. Allerdings traut sich üblicherweise kein Gericht, dieses Gesetz zu exekutieren. Ein stark interpretiertes CSR könnte also – in Kombination mit neuen internationalen Institutionen – einiges zu einer gerechteren Weltwirtschaft beitragen. Und dass Unternehmen, die sich demokratisieren und gesellschaftlich verantwortlich operieren, sehr erfolgreich sein können, zeigt das Beispiel Mondragón, ein spanischer Genossenschaftsverband: Demokratisch organisiert gehört das Unternehmen zu den größten Betrieben des Landes.
Bernhard Ungericht: …wobei es so eine Sache ist, was den Unternehmen dann letztlich praktisch als CSR-Maßnahme gilt: Aufgrund der fehlenden Standards herrscht hier eine unglaubliche Heterogenität; CSR kann von Umweltmanagement bis hin zur pfleglichen Behandlung der Humanressourcen alles Mögliche sein.
Trotzdem, bei aller Beliebigkeit, die offensichtlich Faktum ist, und bei all den unterschiedlichen Auffassungen, die diverse Organisationen von CSR haben: Welche Bestimmung von “Social Corporate Responsibility” würde Sinn machen? Und zwar mit Blick auf die gesellschaftlich-wirtschaftlichen Probleme unserer Zeit.
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Bernhard Ungericht: Sinnvoll erscheint mir jene der Internationalen Arbeitsorganisation ILO. Laut dieser bedeutet die Realisierung von CSR, dass ein Unternehmen seine Geschäftstätigkeit auf gesellschaftsverträgliche Art und Weise durchführt. Das heißt: Die Produktion von Gütern oder die Abwicklung von Dienstleistungen – alles, womit ein Unternehmen Geld verdient – muss ökologischen und sozialen Kriterien genügen. Generell kann man sagen, dass es um die Übernahme und Integration von Werten in das Betriebsgeschehen geht, die seit 100 Jahren mehr oder weniger außer Streit gestellt sind wie z.B. die Arbeitnehmerrechte. Oder die Interessen zukünftiger Generationen. Höchste Standards – das ist die Devise. Was das praktisch bedeutet, will ich anhand von zwei Beispielen illustrieren: Das eine ist die britische Ethical Trading Initiative (ETI). Nach jahrelangen Konflikten zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen (aus dem Menschenrechtsbereich, Solidaritätsorganisationen, kirchliche Organisationen etc.) und britischen Großunternehmen um die ethische Verantwortung für internationale Beschaffungsketten, wurde 1998 die ETI gegründet. UnternehmensvertreterInnen, Gewerkschaften und NGOs erarbeiteten gemeinsam einen strengen Verhaltenskodex und Implementierungsstandards, die sicher stellen sollten, dass internationale Beschaffungsketten ethisch sauber, transparent und nachprüfbar reorganisiert werden. Das andere Beispiel ist eine österreichische Firma. Diese erarbeitet gerade einen Verfassungsentwurf, in dem etwa festgehalten wird, dass die Lohndifferenz im Unternehmen nicht mehr als 1:3 betragen darf, dass die Arbeitenden demokratische Rechte bekommen und nicht die Anteilseigner entscheiden. Zusätzlich werden auch in dieser Firma die Beschaffungsketten durchleuchtet: keine Produkte aus China, weil es fast unmöglich ist, die Arbeitsbedingungen zu kontrollieren, möglichst ökozertifizierte Lieferanten, möglichst regionale Lieferanten etc.
Gerade an solchen Beispielen wird deutlich, dass Corporate Social Responsibility im Zuge einer „Reform“ der Weltwirtschaft hin in Richtung mehr Gerechtigkeit eine wichtige Rolle spielen könnte. Ist dieser Eindruck richtig – oder ist das eine Überschätzung der Möglichkeiten von CSR? Bernhard Ungericht: Wenn man den Weg geht, der gerade beschrieben wurde – ja. Folgt CSR aber der Logik der Unternehmerverbände, kann es zu einem FAIRTRADE wenig beitragen. Genau besehen ist die ganze CSR-Debatte aber nichts Neues, sondern die Fortsetzung einer sehr alten Diskussion unter einem anderen Namen. Denn über die Einführung von Unternehmenspflichten wird schon seit Jahrzehnten geredet: Schon 1972 hat die UNO-Konferenz für Handel
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und Entwicklung einen Prozess ins Leben gerufen, in dessen Verlauf ein Verhaltenscode für transnationale Unternehmen entwickelt werden sollte. Der Impuls dazu kam von den Entwicklungsländern, die damals, bedingt durch die Erdölkrise, in einer sehr starken Position waren, da sie Unterstützung durch die OPEC-Staaten fanden. Aber auch die Öffentlichkeit war an diesem Thema interessiert, bedingt u.a. durch diverse Skandale rund um transnationale Konzerne.
Das heißt aber, es müsste ja bereits so etwas wie CSR-Richtlinien geben, wenn auch unter anderem Namen… Bernhard Ungericht: Hier zeigt sich die ganze Problematik dieses Ansatzes: Der Verhaltenscode war schon zu 70% ausgehandelt, dann begannen die Industrienationen zu blockieren – und nach 10 Jahren Arbeit wurde die für den Code zuständige Abteilung kurzerhand geschlossen. Stattdessen wurden dann Guidelines für die international tätigen Unternehmen veröffentlicht – deren Einhaltung aber wieder dem Prinzip der Freiwilligkeit unterlag. Das kommt einem bekannt vor, oder?
…es erinnert an die Entwicklungen rund um den ersten CSR-Ansatz von Seiten der EU-Kommission… Bernhard Ungericht: Von Seiten der UNO wurde noch ein zweiter Versuch in Richtung Verhaltenscode unternommen, und zwar im Jahr 2000. Die Menschenrechtsabteilung der Vereinten Nationen beauftragte 26 Experten, einen Vorschlag zu entwickeln, der auch von der Subcommission of Rights angenommen wurde. Er beinhaltete weit reichende Pflichten für Unternehmen, z.B. die strikte Einhaltung der Menschenrechte. Beschwerdemechanismen waren konzipiert worden, man hatte sich Monitoring-Organisationen ausgedacht und eine Schadenersatzpflicht designt. Schließlich wurde durch Lobbying der Industrieverbände aber auch dieser Ansatz wieder gekippt; 2004 war alles vorüber. Was blieb, waren wieder freiwillige Schritte, die die Unternehmen setzen können. Es war sogar so etwas wie ein Pendant zum Internationalen Gerichtshof angedacht; dort wären dann die etwaigen Klagen gegen Unternehmen, die sich nicht an die Regeln halten, vorgebracht worden.
Aber bedeutet das nicht, dass CSR eigentlich kein realistischer Weg ist, wenn es um Strategien und Instrumente zur Veränderung des Welthandels in Richtung mehr Fairness geht? Zumindest so lange nicht, wie es keine passenden Institutionen gibt, die Unternehmen etwa klagbar machen, wenn sie die Verantwortung nicht wahrnehmen, zu der sie verpflichtet sind?
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Bernhard Ungericht: Das ist der Punkt: Ohne solche Institutionen kann es nicht gehen! Denn Unternehmen sind Marktteilnehmer und einem Wettbewerb ausgesetzt – wieso sollen sie vor diesem Hintergrund freiwillig darauf verzichten, Vorteile auszunutzen, die sich etwa durch lasche Arbeitsrechte erzielen lassen? Diese ganzen Phantasien von der freiwilligen Verpflichtung auf gesellschaftliche Maßnahmen beruhen meiner Meinung nach auf zwei Fiktionen: Die eine hat der Schweizer Betriebswirtschaftsprofessor und Wirtschaftsethiker Peter Ulrich als die „marktmetaphysische Gemeinwohlfiktion“ bezeichnet; sie besagt, dass der Markt auf wundersame Weise ganz von selbst zum Gemeinwohl beitragen wird – was er aber, wie 150 Jahre Versuch gezeigt haben, nicht tut, zumindest nicht automatisch. Die zweite Fiktion ist die, dass Unternehmen so etwas wie Personen sind und folglich so etwas wie ein moralisches Subjekt darstellen. Wie schon gesagt: Unternehmen unterliegen Marktzwängen; sie sollen ihr Kapital vermehren und nicht gesellschaftlichen Wohlstand schaffen. Moralität ist nicht ihre Sache, auch wenn sie juridische besehen Personen sind.
Bleiben wir bei den „passenden Institutionen“ für ein den fairen Welthandel unterstützendes CRS: Wahrscheinlich ist ein ganzes Paket von institutionellen Settings nötig, um Corporate Social Responsibility in einem attraktiven Sinne zu ermöglichen – wie ein anderer Welthandel ganz generell ein umfassendes Bündel von Institutionen braucht… Bernhard Ungericht: …und Institutionen haben als Basis die politische Auseinandersetzung. Für mich kann diese zu verschiedensten Ansätzen und Lösungen in Sachen „Unternehmens-Reform“ führen. Und um die geht es hier ja letztlich. Beispielsweise ist es denkbar, die Gesetzgebung dahin zu verändern, dass Firmen ab einer bestimmten Größe bestimmten Rechtsnormen unterworfen sind. Diese können wiederum einen radikalen Inhalt haben und besagen, dass Unternehmen ab einer bestimmten Größe ihr menschliches Maß verloren haben, für eine Gesellschaft deshalb bedrohlich sind und folglich zerschlagen werden müssen. Weniger radikal formuliert könnten diese Rechtsnormen z.B. Reformen einfordern, die in Richtung Downsizing des Konzerns gehen…
..was aber in beiden Fällen in Richtung Utopismus geht. Die Realisierung solcher Rechtsnormen ist doch höchst unrealistisch…
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Bernhard Ungericht: Tatsächlich? Nun, dann habe ich eine Überraschung für Sie: Solche Rechtsnormen gibt es schon! Nämlich im US-amerikanischen Unternehmensrecht. Im 19. Jahrhundert wird in diesem klargestellt, dass Firmen nur eine bestimmte Größe erreichen dürfen. Konkret erhalten die Unternehmen von der Gesellschaft eine Charta, das heißt sie erhalten von der Gesellschaft das Recht, bestimmte Geschäfte betreuen zu können. Die Charta gilt aber nur für eine bestimmte Zeit – und nach dieser sieht man sich an, ob die Geschäfte im Sinne der Gesellschaft ausgeübt wurden! Ist das der Fall, bleibt den Firmen die Charta erhalten, sonst wird sie ihnen wieder entzogen. Das ist nach wie vor amerikanisches Recht!
…von dem man aber nur sehr wenig hört – und auch sieht… Bernhard Ungericht: Stimmt, ja. Es ist ein typischer Fall von Recht, das sich kein Gericht anzuwenden getraut. Zwar wurde in einigen Verfahren schon festgestellt, dass besagte Charta den betroffenen Unternehmen eigentlich entzogen werden sollte, aber ebenso wurde dann betont, dass man von diesem Recht nicht Gebrauch machen werde. Die Revolution, die damit eingeleitet würde – für die will offensichtlich niemand verantwortlich sein.
…also eben doch eine utopische Rechtsnorm… Bernhard Ungericht: Auch in diesem Fall geht es um Politik und um politische Entscheidungen. Sie können getroffen werden, das hat nichts mit modernistischem Utopismus zu tun. Natürlich geht das nicht einfach, aber das ist die Natur politischer Auseinandersetzungen. Im Übrigen bedarf es nicht nur neuer Rechtsnormen, sondern auch neuer Instrumente. Von einem neuen Gerichtshof war schon die Rede, von Monitoring-Organisationen auch. Erneut ist ein ganzes Bündel an Instrumenten nötig, z.B. auch die Reform des öffentlichen Beschaffungswesens und Förderwesens – hier sollten nur Unternehmen unterstützt werden, die nachweislich ökologische und soziale Standards entlang ihrer ganzen Wertschöpfungskette einhalten. Wobei es manchmal schon hilfreich und effektvoll wäre, wenn die bestehenden Instrumente gestärkt würden. Zur Unternehmensthematik existieren ja OECD-Richtlinien, die im Jahr 2000 reformiert und ausgebaut wurden, die allerdings wieder einmal nur für die Staaten verpflichtend sind. Diese müssen diese Guidelines verbreiten und haben dazu einen nationalen Kontaktpunkt einzurichten, der auch als Anlaufstelle für Beschwerden gilt: Wenn jemand der Ansicht ist, dass
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Unternehmen als gesellschaftlich-politische Systeme Heute erreichen Unternehmen – vor allem, wenn sie global agieren – mitunter eine Größe, die sie zu gesellschaftlichpolitischen Systemen werden lässt. Dementsprechend verfügen sie auch über gesellschaftlichpolitische Macht, und zwar in einem nicht unbeträchtlichen Ausmaß. Sie wandeln sich gewissermaßen zu quasipolitischen Institutionen, die jedoch ohne demokratische Legitimierung agieren. Gesellschaftlich-politische Macht in den Händen jener, die sich nicht einer allgemein anerkannten Verfassung unterstellen, kann jedoch gefährliche Tendenzen in sich tragen. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass Ökonomen wie Peter Ulrich die Demokratisierung dieser Multis fordern. Demokratisierung bedeutet dabei auch ein Stück Aufteilung der Macht und Mehrparteilichkeit bei der Ausarbeitung, Festsetzung und Durchführung von Unternehmensstrategien.
ein Unternehmen die OECD-Richtlinien etwa bezüglich Menschen- oder Arbeitnehmerrechten verletzt, kann er dies dort melden. Der Kontaktpunkt muss dann mit der Firma in Kontakt treten und vermittelnd tätig werden. Das ist schon einmal etwas – aber wieso gibt man diesem Instrument nicht noch mehr Gewicht und macht es noch stärker? Kein Unternehmen muss sich daran halten, nicht einmal die öffentlichen. Es geht nur um freiwillige Selbstverpflichtungen.
Der politische Wille fehlt also, etwas zu tun. Warum eigentlich? Argumentiert wird natürlich mit der schwindenden Macht des Nationalstaats im Zuge der Globalisierung, aber genau besehen ist das doch nur eine Ausrede: Das Wirtschaftsgeschehen wird zu einem guten Teil von bilateralen Abmachungen getragen, die die Vertreter der Nationalstaaten aushandeln; die argumentativ oft ins Feld geführte drohende Abwanderung der Konzerne in Billiglohnländer, die jedes politische Handeln gefährlich und zerstörerisch macht, hat sich doch längst als Chimäre erwiesen. Denn bei allem Outsourcing, das in den letzten Jahren passiert ist – zum großen Arbeitsplatzschwund oder dergleichen hat es in den Industrienationen nicht geführt. Warum ist die Politik so gestaltungsunwillig? Bernhard Ungericht: Gute Frage. Zunächst ist festzuhalten, dass der große Bruch in den 1980er Jahren statt gefunden hat. Mit zwei neoliberalen PolitikerInnen in den tonangebenden Ländern (Thatcher und Reagan) konnte eine ganze Reihe an „Reformen“ durchgesetzt werden: die Liberalisierung und Deregulierung des internationalen Handels, des Finanzwesens, die Liberalisierung der Investitionsregime etc. In den 1980er Jahren haben die Politiker aller ideologischen Richtungen transnationale Unternehmen hofiert, in der Hoffnung, dass sie ihr Füllhorn über die nationalen Standorte ausschütten werden. Die naiven Politiker haben sich erhofft, dass die großen internationalen Ebenen genau so sind wie die nationalen. Dass sie sich an die Gesetze halten und brav ihre Steuern bezahlen. Aber das war eine neue Spezies: beweglich, anonym und rücksichtslos. Neben der politischen Naivität gab und gibt es natürlich auch ideologische Gründe, hinter denen immer konkrete Interessen stehen. Ein Blick in die Massenmedien genügt, um die neoliberalen Reflexionskriterien zu erkennen: Wettbewerbsfähigkeit, „Effizienz“, Eigennutz, Entsolidarisierung usw.
Gehen wir noch einmal zurück zum Stichwort „Unternehmens-Reform“. Sie kann auf all den politisch-institutionellen Maßnahmen beruhen, die gerade angesprochen wurden. Was ist noch denkbar? Bernhard Ungericht: Vom schon genannten Peter Ulrich stammt der Vorschlag der Demokratisierung der Unternehmen. Seiner Ansicht
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nach sind Unternehmen heute zum Teil schon so groß, dass sie de facto gesellschaftlich-politische Systeme darstellen. Und dementsprechend über eine gesellschaftlich-politisch nicht unbeträchtliche Macht verfügen. Sie sind damit immer auch politische Institutionen, die aber nicht demokratisch legitimiert sind. Weshalb nach Ansicht von Ulrich diese Unternehmen demokratisiert werden müssen. Das kann z.B. durch einen demokratisch zusammengesetzten Verwaltungsrat passieren, in dem Kapitaleigner, Beschäftigtenvertreter, die Vertreter der Interessen zukünftiger Generationen oder Menschenrechtsorganisationen sitzen. Alle sind gleichberechtigt und haben ein Mitspracherecht bei der Führung des Unternehmens. Das Management ist in weiterer Folge der Umsetzer diverser Vorhaben.
Bernhard Ungericht ist seit 2003 a. o. Univ. Prof. am Institut für Internationales Management der Universität Graz. Seine Forschungsschwerpunkte sind Globalisierungsprozesse und Transnationale Unternehmen sowie Wirtschaftsethik und Unternehmensverantwortung. Zuletzt erschienen von ihm zu diesen Themen: Zwischen Konflikt und Kooperation. Neue zivilgesellschaftliche Akteure und multi-stakeholder-Dialog als betriebswirtschaftliche Herausforderungen, München: Rainer-HamppVerlag (2005), Filling the Empty Shell. The Public Debate on CSR in Austria as a Paradigmatic Example of a Political Discourse, in: Journal of Business Ethics (2006) DOI 10.1007/s10551-006-9111-8 (zusammen mit Richard Weiskopf), und Menschenrechte und Internationale Geschäftstätigkeit – Positionen und Ansätze zum Umgang mit einer regulativen und diskursiven Kluft, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik, 6/3 (2005), S. 234 – 343.
Jetzt kann man natürlich rasch sagen: Das geht nicht, schon gar nicht bei großen Konzernen. Was aber nicht stimmt, wie der Beispiel Mondragón Corporación Cooperativa, kurz Mondragón zeigt. Mondragón ist die größte Genossenschaft der Welt, genauer gesagt handelt es sich um einen Genossenschaftsverbund. Gegründet wurde sie im Baskenland von dem jungen Priester José María Arizmendiarrieta, der sich mit dem (bürger-)kriegsbedingten Elend der Bevölkerung konfrontiert sah und hoffte, letzteres über eine genossenschaftliche Organisation mindern zu können. Mondragón hat mittlerweile 73.000 Beschäftigte und kann als Mischkonzern betrachtet werden, dem z.B. die zweitgrößte Supermarktkette Spaniens gehört. Wie in seiner Gesamtheit besehen Mondragón das siebtgrößte Unternehmen Spaniens ist. Anders als seine Konkurrenten ist Mondragón jedoch demokratisch organisiert: Die Unternehmensregeln werden in der Vollversammlung durch die Genossinnen und Genossen bestimmt, was dann etwa zu einer Gehaltsregelung führt, die besagt, dass die Relation zwischen höchstem und niedrigstem Lohn nicht das Verhältnis von 1:6 überschreiten darf. Wobei die Einzelgenossenschaften aber auch dazu berechtigt sind, das Verhältnis 1:1 festzulegen. Demokratie in Unternehmen funktioniert also durchaus, auch in erfolgreichen. Zu Mondragón gehört im Übrigen eine eigene Universität mit
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4.000 Studierenden, eine eigene Bank, eine eigene Sozialversicherung und vieles mehr. Auch die Bank funktioniert nach sehr eigenen Regeln: Geht es etwa einer Genossenschaft schlecht, erhält sie zinsenlose Kredite. Florierende Genossenschaften hingegen haben „normale“ Zinsen zu zahlen.
Verantwortliche, sogar demokratisch organisierte Unternehmen sind mithin möglich. Wenn man nun die oben ausführlich dargestellte Institutionen-Problematik bzw. die Defizite auf der Ebene der Institutionalisierung einmal bei Seite lässt und nur auf die Potentiale blickt, die in der CSR-Thematik stecken: Welche Rolle könnte verantwortungsvoll agierenden Firmen zukommen, wenn es um FAIRTRADE-Entwicklungen geht? Bernhard Ungericht: Vor allem sollten sie auch ordnungspolitische Mitverantwortung zeigen. D. h. sie sollten vernünftige Rahmenbedingungen nicht verhindern, sondern einfordern. Strenge und für alle verbindliche Mindeststandards sind ein Schutz für die engagierten Unternehmen. Es hilft ihnen, nicht in die Dilemmasituation zu geraten, ob sie sich jetzt für den betriebswirtschaftlichen Nutzen oder für das gesellschaftlich vernünftige oder moralisch Richtige entscheiden sollen. Ein positiver Wettbewerb also, der diejenigen bevorzugt, die verantwortungsbewusster sind und diejenigen benachteiligt, die weniger verantwortungsbewusst sind.
Mit der Thematik des verantwortlich agierenden Unternehmens ist im weitesten Sinne auch die Thematik lokalwirtschaftlichen Vorgehens verbunden; also eines wirtschaftlichen Tuns, das nicht auf die Produktion für internationale Märkte ausgerichtet ist, sondern sich auf die Bedienung lokaler oder maximal regionaler Märkte beschränkt. Welche Bedeutung kann man der Lokalwirtschaft beimessen, wenn es um die Frage geht, wie man Wirtschaft gerechter gestalten kann? Bernhard Ungericht: Der Lokalwirtschaft kommt in diesem Zusammenhang sogar eine fundamentale Bedeutung zu. Denn es spricht ja vieles dafür, dass sich die globale Ökonomie nicht gesellschaftsverträglich und zukunftstauglich organisieren lässt. Einfach, weil sie zu komplex ist. Ich habe ein Interview mit einem Unternehmen geführt, das einer großen Trading-Initiative angehört. Auf der untersten BeschaffungsEbene hat dieser Konzern weltweit verteilt rund eine Million Zulieferer! Da werden Kontroll-Maßnahmen wie jene, von denen oben die Rede war, schwer, wenn nicht gar unmöglich.
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Wenn deshalb Verantwortung ein Thema sein soll, gibt es vielleicht nur eine Lösung, nämlich Deglobalisierung, mithin Lokalisierung! Zudem ist das ohnedies der vernünftigste Ansatz, weil neben Verantwortung auch die Demokratie einen überschaubaren geografischen Raum braucht.
Bernhard Ungericht, wir danken Ihnen für das Gespräch!
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Globalisierung 1900 – 2007
In der Wirtschaftsgeschichte werden die Jahrzehnte vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs als eine Epoche weitgehender Globalisierung beschrieben, danach folgt eine Phase der Entglobalisierung, die bis nach dem Zweiten Weltkrieg reichte.
Nach 1945 erfolgt das bewusste Bemühen um den Aufbau einer besseren Weltordnung jedoch nach zwei konkurrierenden Mustern in zwei konkurrierenden Machtblöcken. Es entstehen die Strukturen, innerhalb derer sich die Globalisierung der Gegenwart entwickelt hat: durch Dekolonisation, multinationale Konzerne, Entwicklungspolitik, Konsumgesellschaft usw.
Nach 1945 tritt auch eine neue Art von Globalisierung hervor: die Welt als Schicksalsgemeinschaft in Hinblick auf die Möglichkeit ihrer nuklearen Vernichtung und grenzüberschreitender merklicher Umweltprobleme.
Die Überwindung des Raums sowohl im Wasser, auf dem Land wie auch in der Luft wird zur Selbstverständlichkeit: 1903 erfolgt der erste Motorflug und 1913 hält sich bereits ein Flugzeug mit acht Personen über zwei Stunden in der Luft; 1911 kam Amundsen am Südpol an, damit war jeder Teil der Erde bereist und kartografiert, und 1912 stach die Titanic in See.
Die Kolonialreiche der Supermächte überstehen das Kriegsende nicht lange. Der Rückzug der Kolonialherren führt zur Entstehung von in Weltwirtschaft und Weltpolitik eingebundenen Nationalstaaten: 1950 gibt es 81 Staaten auf der Erde, 1960 sind es 90 und 1970 bereits 134.
Auf der Konferenz von Bretton Wood kommt es zur Einigung auf die Grundzüge eines rechtlichen und institutionellen Rahmens für eine freie Weltwirtschaft: diese sollen verhindern, dass wirtschaftliche Probleme in erster Linie unilateral durch Beschränkungen des Waren- und Kapitalverkehrs bekämpft werden. Der internationale Rahmen muss daher dafür sorgen, dass internationale Kooperation auf diesen Gebieten mit einer auf Vollbeschäftigung gerichteten Politik vereinbar bleibt.
In der Tätigkeit multinationaler Konzerne spiegelt sich die Gestaltungsmacht der Staaten: Private Firmen gehören seit dem 19. Jahrhundert zu den erfolgreichsten und stabilsten grenzübergreifenden Organisationen. Sie gründen, um Zollmauern zu überspringen und gleich direkt auf geschützten Märkten produzieren zu können, Zweigwerke im Ausland als verkleinerte Kopien der Mutterfirma; diese nutzen selbstverständlich das technologische wie organisatorische Know-How der Mütter aus. Diese Strategie bleibt die gesamte Zwischenkriegszeit über interessant und dominiert auch noch nach 1945.
Die Staaten der Dritten Welt verfolgen in ihrer Mehrzahl eine Strategie der Industrialisierung durch Abkopplung von einer Weltwirtschaft, die man für Unterentwicklung verantwortlich macht.
„Weltmarkt“ steht als Synonym für unberechenbare Nachfrageschwankungen, erdrückende Konkurrenz und finanzielle Abhängigkeiten.
Das Europäische Wirtschaftswunder um 1960 führt zuerst zu Vollbeschäftigung, dann zur Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte. Während der Auflösung wandern zahlreiche Menschen aus den Kolonien in die Mutterländer, als Umkehrung der Wanderströme, die über Jahrhunderte in Europa weggeflossen sind. Europäische Städte werden zu multikulturellen Metropolen.
Immer mehr Urlaube gehen in das benachbarte Ausland, Charterflüge bringen die Touristen in weit entfernte Ferienparadiese. Das Potential des Pauschalurlaubs als Forum der Kulturbegegnung ist begrenzt, zugleich integriert die Ferienindustrie eine Reihe von Regionen in die Weltwirtschaft.
Mitte der 1980er Jahre entwickeln sich die so genannten „Schwellenländer“, vor allem die „Tigerstaaten“ Ostasiens, zu Industrieökonomien auf mittlerem Technologieniveau. Häufig geschieht dies durch deren Eingliederung in die Produktionsketten transnationaler Konzerne.
Neben der „Zweiten“ Welt des Kommunismus löst sich nach 1985 auch die „Dritte“ der Entwicklungsländer auf, indem einige Staaten materiell zum Westen und Japan aufschließen, während gleichzeitig bei zahlreichen anderen von irgendwie gearteter Entwicklung keine Rede sein kann.
1948 bis 1958 wächst die Weltwirtschaft jedes Jahr um 5,1%, zwischen 1958 und 1970 sogar um 6,6%; zugleich nimmt der Welthandel rascher zu als die Produktion.
Die Fortschritte der Kommunikations- und Datenverarbeitungstechnologie im letzten Viertel des letzten Jahrhunderts sind entscheidende Voraussetzungen für den Aufschwung globaler Finanzmärkte, für die Organisierbarkeit transnationaler Konzerne und für den Aufstieg der Tigerstaaten. Die elektronische Vernetzung der Welt hat eine neue digitale Kluft zwischen Vernetzten und Unvernetzten geschaffen.
Die amerikanische Wirtschaft hat sich in den 1975er Jahren auf den Süden und Westen der USA verlagert (Untergang New Yorks).
Der beunruhigendste Aspekt in der wirtschaftlichen Entwicklung Westeuropas seit 1973 ist der dramatische Anstieg der Arbeitslosigkeit. Zwischen 1994 und 1998 liegt die durchschnittliche Arbeitslosenquote bei nahezu 11% der Erwerbsbevölkerung. Damit erreicht sie ein höheres Niveau als zum Zeitpunkt der großen Depression in den 1930er Jahren und ist viermal so hoch wie im „Goldenen Zeitalter“.
Seit 1950 ist Asien die dynamischste Region der Weltwirtschaft, die alle anderen Regionen übertrifft. Diese Entwicklung steht in starkem Kontrast zur Vergangenheit. In den viereinhalb Jahrhunderten von 1500 bis 1950 stagniert Asien, während alle anderen Regionen vorankommen. Im Jahr 1500 entfallen auf Asien 65% des weltweiten BIP, 1950 sind es lediglich 18,5%. Seit 1950 hat sich der Anteil Asiens verdoppelt.
Afrika vereint nahezu 13% der Weltbevölkerung auf sich, erwirtschaftet aber nur 3% des weltweiten BIP. Es ist die ärmste Region der Welt, deren ProKopf-Einkommen 1998 nur 5% des in der reichsten Region und weniger als die Hälfte des in Asien (ohne Japan) verzeichneten Niveaus erreicht.
Afrika hat die niedrigste Lebenserwartung (52 Jahre gegenüber 78 in Westeuropa).
1983 wird der wirtschaftspolitische Begriff der Globalisation von Theodore Levitt, einem deutschen Emigranten und Professor an der Harvard Business School mit dem Artikel „The Globalization of Markets“ geprägt, der im Harvard Business Review erscheint. Im deutschsprachigen Raum wird der Begriff nach 1990 diskutiert.
1961 wird die Haager Konvention beschlossen. Es wird darin eine Entbürokratisierung und Vereinfachung des Rechtsverkehrs zwischen den Staaten festgeschrieben, was eine Globalisierung im heutigen Sinn überhaupt erst ermöglicht hat.
Der weltweite statistisch nachweisbare Warenhandel stieg zwischen 1948 und 2004 auf über das 27fache, während die statistisch dokumentierte Produktion von Gütern sich nur auf knapp das achtfache vergrößerte. Das heißt, dass die Wertschöpfungsketten immer länger und komplexer werden; jedem Produktionsschritt können mehrere Handelsschritte zugeordnet werden. Mit gravierenden Folgen für die Umwelt: Wo solche Disparitäten entstehen, schießen Transport und Transaktionskosten in die Höhe.
Finanzintermediäre (Broker, Finanzdienstleister) gelten dank moderner EDV als die Hauptbeschleuniger der Globalisierung, denn es lassen sich Milliardenbeträge innerhalb von Sekunden über den Globus verschieben.
Wenn das Bewusstsein global zu werden beginnt, gilt dieser Umstand für heutige Globalisierungstheoretiker als Indiz für den Anbruch eines neuen Zeitalters. Denn ein globales Verantwortungsgefühl setzt reale Wirkungszusammenhänge voraus, die es in der früheren Neuzeit noch nicht gab oder über die man nichts wusste.
Montierte Quellen: Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Der Handel. Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts. Aufbruch zur Weltwirtschaft. Angus Maddison, Die Weltwirtschaft: Eine Milleniumsperspektive. Jürgen Osterhammel, Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Wikipedia, Globalisierung (Stand: 15.8.2007). Montiert von Michaela Ritter
Jaques Attali spricht 1979 von einer „Verschiebung des Weltzentrums vom Atlantik zum Pazifik und einer Art Wirtschaftsachse USA-Japan.“
Globalisierung führt zu Hyperkulturalität. Die Kulturen werden im globalen Hyperraum entgrenzt zu einer Hyperkultur. Nicht Grenzen, sondern Vernetzungen und Vermischungen organisieren den Hyperraum dieser Kultur. Diese so enstehende Kulturform stellt eine offene und damit entinnerlichte Form der Kultur dar.
Die Entschlüsselung des politisch Möglichen1 Von Saskia Sassen
Die folgende Analyse rückt eine ganz bestimmte politische Option in den Mittelpunkt: Akteure, so die These, die logisch und kategorial dem Phänomen des Nationalstaats angehören, sind weit besser dazu geeignet, an der Steuerung von globalen Institutionen und Prozessen (und mithin an globaler Politik) mitzuwirken, als gemeinhin angenommen wird. Was auch inkludiert, dass sowohl Staaten wie Bürger für einen fairen Handel kämpfen können, indem sie auf nationale Instrumentarien zurückgreifen. Das erscheint nahe liegender als auf einen gerechten globalen Staat zu warten, der ohnedies unwahrscheinlich ist. Allerdings ist dazu eines notwendig – die Neuausrichtung von dem, was man die internationale politische Arbeit von Staaten nennt. Zwei Grundvoraussetzungen eröffnen jene – politische – Option, von der ich hier sprechen möchte. Beide werden in der Regel in den Abhandlungen übersehen, die sich positiv oder kritisch mit der wirtschaftlichen Globalisierung durch Großunternehmen beschäftigen: Die eine ist, dass die Nationalstaaten für die Globalisierung von Produktionsprozessen wie Handel weitaus bedeutsamer sind, als wir meinen. Dass wir das oft nicht erkennen liegt einfach daran, dass wir den Staat als geschwächt betrachten. Wenn den Staaten aber im Rahmen der Globalisierung diese Bedeutung zukommt, dann sollte auch deren internationale Politik neu ausgerichtet werden. Ihr Inhalt sollte dann einerseits die soziale Gerechtigkeit in allen ihren institutionellen Erscheinungsformen sein, andererseits der Kampf gegen die Macht der großen globalen Wirtschaftsakteure. Die andere Grundvoraussetzung ist struktureller Natur: Das staatliche Hoheitsgebiet, die staatliche Hoheitsgewalt und die Rechte wurden bisher von nationalen Systemen verwaltet. Nun werden Teilgebiete dieser drei Bereiche zunehmend ausgelagert; sie gehören jetzt zu partiellen, oft hoch spezialisierten, länderübergreifenden Clustern, von denen es immer mehr gibt. Einige dieser Cluster fungieren dabei als vertraute Ordnungen zur Lenkung einer immer größer werdenden Reihe globaler Prozesse, einschließlich des Handels. Andere hingegen sind neue Räume für politisches Agieren, die konkret jenen offen stehen, die sich ansonsten – wie
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Die Politik ist keineswegs machtlos – auch wenn die Regierungen gerne dieses Bild von sich selbst und den politischen Institutionen zeichnen. Tatsächlich war es nämlich die Politik, die die aktuelle Weltwirtschaft gebaut hat, und die damit zugleich, ohne es wahrscheinlich zu merken, einen neuen Macht- oder Gewalttypus hervorgebracht hat. Konkret handelt es sich um eine globale Gestaltungskraft, die so entstanden ist, die zurzeit jedoch ausschließlich zur Förderung der Weltwirtschaft eingesetzt wird. Nichts spricht jedoch dagegen, sie umgekehrt auch zur Eindämmung und Begrenzung der gegenwärtigen ökonomischen Strukturen zu nutzen. Zumindest dann nicht, wenn man sich von der üblichen Polarisierung von „national versus global“ verabschiedet. Denn mit dieser Dualität oder Polarität kann man die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse nicht verstehen: Was heute vielmehr passiert ist eine Entnationalisierung, die bestimmte Aspekte des Staates betrifft – z.B. das Recht und die Gerichtsbarkeit, die heute nicht mehr allein Staatssache sind –, die aber doch nicht ohne den Nationalstaat auskommen kann. Viele Entnationalisierungs- oder Globalisierungsprozesse werden nämlich am Ende durch nationale Einbettung realisiert; z.B. dann, wenn es nationale Gerichte sind, die internationales Recht vollziehen. Mit der Globalisierung gehen also Macht und Einfluss nicht verloren, sie werden „nur“ anders strukturiert und können sogar transnational genutzt werden. Wozu auch ein zweiter „Entwicklungsstrang“ der aktuellen Weltentwicklung beiträgt: Nicht nur werden durch die Entnationalisierung bestehende institutionelle Gefüge des Staates restrukturiert; es entstehen auch neue länderübergreifende „Cluster“, in die Komponenten des Nationalstaats ausgelagert werden und die so neue politische Räume bilden. Und zwar Räume, die es verschiedensten Akteuren erlauben, auf der globalen politischen Bühne mitzuspielen. Wie ein solcher Cluster aussehen kann, zeigt das Beispiel eines Konflikts, der sich um die Missachtung von Arbeitsrechten drehte und vor einem Washingtoner Gericht ausgetragen wurde: Involviert waren in diesen US-amerikanische wie ausländische Firmen sowie Arbeitnehmer in den verschiedensten internationalen Niederlassungen dieser Firmen. Allein aufgrund der Zusammensetzung der Beteiligten entstand so ein komplexes Gefüge, ein Raum, in den die Washingtoner Rechtssprechung gleichsam „ausgeweitet“ wurde – zum Teil mit Erfolg, wie Sassen andeutet. Und damit nahelegt, wie mit bereits bestehenden institutionellen Mitteln um eine gerechtere Weltwirtschaft gekämpft werden könnte. die so genannten Bürgerinnen und Bürger – nur innerhalb der existierenden nationalstaatlichen Strukturen (politisch) artikulieren können. Zudem werden diese Räume aber auch für jene etabliert, die zu arm oder politisch zu verwundbar sind, um an globalen Politiken Teil haben zu können. In weiterer Folge möchte ich daher zuerst die angedeutete Neuausrichtung der Politik diskutieren; der zweite Teil der Analyse untersucht dann einige dieser neuen länderübergreifenden Cluster, die sich aus Fragmenten von Hoheitsgebieten, Hoheitsgewalten und Rechten zusammensetzen. So etwas wie das Herzstück dieses Essays ist dabei jedoch eine Untersuchung dessen, wie die Grenzen der Macht und wie die Komplexitäten der Machtlosigkeit aussehen, welche direkten oder indirekten Widerstände und Aktionen Machtlose also wissentlich oder unwissentlich leisten
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können. Denn Macht und Machtlosigkeit sind freilich komplexe Kategorien, die verschiedenen Formen der Theoretisierung unterliegen. In dieser Hinsicht kann die vorliegende Erörterung auch als eine Untersuchung aufgefasst werden, die die Grenzen des Weberschen Konzepts der Macht analysiert; mithin Macht als Fähigkeit eines Akteurs oder einer Institution, seinen oder ihren Willen durchzusetzen. An anderer Stelle 2 habe ich die Verwendung des Macht-Begriffs für die Arbeit der Konstruktion und des Aufbauens der Befindlichkeit untersucht – und dabei die Veränderlichkeit des Erfolgs und der Effizienz dieser Arbeit sowie die Dauerhaftigkeit ihrer Ergebnisse betont. Ich habe in diesem Zusammenhang3 auch die Vorstellung entwickelt, dass umgekehrt Machtlosigkeit bzw. Ohnmacht konstruiert und gemacht und daher eher veränderbar als fix ist. Was wiederum die Möglichkeit einer „veränderlichen Ohnmacht“ inkludiert, die einerseits einfach, andererseits komplex strukturiert sein kann: Beispielsweise kann die Machtlosigkeit eines illegalen Einwanderers auf einem großen landwirtschaftlichen Betrieb in Kalifornien oder auf einer Plantage in Mexiko eine einfache Form haben, während sie in einer Stadt wie New York, Los Angeles oder Mexiko City komplex wird.
Wenn globales Kapital den Staat braucht, können wir dem Staat neue Agenden zuweisen Die Rolle, welche die Nationalstaaten in der globalisierten Wirtschaft spielen, wirft speziell zwei Fragen auf, die an dieser Stelle von Relevanz sind: Einmal gilt es zu überlegen, ob die zentrale Bedeutung, die den Staaten bei der Errichtung einer globalen Ökonomie zugekommen ist bzw. zukommt, nicht vielleicht einen spezifischen Typus von Gewalt/Macht hervorgebracht hat. Nämlich von Gewalt/Macht, die der Nationalstaat nun auf globaler Ebene nutzen kann. Die andere Frage ist, ob eben dadurch, dass die neue Weltwirtschaft von den Nationalstaaten mitgebaut wurde, für die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit entsteht, sich in die globale Politik einzuschalten; konkret über die Institutionen des Nationalstaats, die zu Brücken werden können, über die man die globale Politik erreicht. Schließlich ist der Staat ja weiterhin der einzige Rahmen, in dem Menschen ihre Rechte und Ansprüche geltend machen können. Damit tun sich Optionen auf, die nicht zu unserer gängigen Vorstellung vom Staat passen. Denn laut dieser zieht er sich ja aus der Wirtschaft und aus dem sozialen Bereich zurück – und zwar in der Folge von Angriffen, die mächtige multinationale Firmen sowie Organisationen wie der IWF und die WTO gegen den Staat führen. Meine These lautet, dass der Staat in einer globalisierten, großkonzerndominierten Wirtschaft viel weniger an Gewalt und Macht verliert als oft angenommen wird:
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Vielmehr haben sich die Staaten von selbst oft so verhalten, als ob sie keine Macht hätten. Die Tatsache, dass Staaten nicht nach ihrer tatsächlichen Macht gehandelt haben, bedeutet nicht, dass diese Macht nicht existiert und in Zukunft nicht ausgebaut werden kann. Dementsprechend erscheint es interessant zu analysieren, ob die Macht, die der Nationalstaat offensichtlich hat und zur Realisierung einer globalen Weltwirtschaft einsetzt, nicht auch auf andere Bereiche ausgedehnt werden kann; z.B. auf die Felder Menschenrechte und Umwelt, denen auf internationaler Ebene nicht jene Bedeutung zukommt, die ihnen zukommen sollte. Wie es ebenfalls lohnend sein könnte, zu bedenken, ob diese Macht nicht zur Realisierung einer sozial gerechten Wirtschaft und eines fairen Handels zu nutzen ist. Oder um es so zu formulieren: Könnte diese – neue – Macht nicht dazu eingesetzt werden, die Macht der globalen wirtschaftlichen Großakteure zu begrenzen anstatt sie zu fördern? Das würde nämlich das Engagement für neue Formen gemeinsamer internationaler Zusammenarbeit zwischen den Nationalstaaten erfordern; mithin Koalitionen jener, die willig sind, sich nicht auf den Krieg, sondern auf Projekte sozialer Gerechtigkeit zu konzentrieren. Gehen wir näher auf die Beschaffenheit dieses neuen Gewalttypus ein, so können wir feststellen, dass es private, oft ausländische Interessen an der Politik eines Staates sind, die diesen neuen Gewalttypus generieren. Es wird so ein Macht-Hybrid produziert, das weder rein privat noch rein öffentlich ist. Weshalb es sich um einen gefährlichen Gewalttypus (und auch um eine gefährliche staatliche Praxis) handelt: Mit ihm geht eine Entnationalisierung einher; eine Entnationalisierung von dem, was gleichsam als „national“ konstruiert wurde. Diese Entnationalisierung vollzieht sich dabei in mehreren spezifischen Prozessen. Und sie vollzieht sich – was wesentlich ist – bei gleichzeitiger Neuausrichtung der staatlichen Agenden an den Agenden der internationalen Großkonzerne, was zudem von der Einschleusung privater Interessen in nationale politische Kreisläufe begleitet wird; einer Einschleusung, die allerdings als öffentliche Politik verkleidet wird. Finanzministerien, Zentralbanken, Legislaturen und viele andere staatliche Bereiche leisten so jene Staatsarbeit, die für die Sicherstellung eines globalen Kapitalmarktes, eines globalen Handelssystems, der erforderlichen Wettbewerbspolitiken und von vielem mehr notwendig ist. Diese partielle, oft hoch spezialisierte (oder zumindest partikularisierte) Entnationalisierung betrifft aber nicht nur die wirtschaftliche Globalisierung: Ebenso ist sie ein Thema für die Menschenrechtsproblematik, ist es doch neuerdings nationalen Gerichten erlaubt, bei entsprechenden Verfehlungen ausländische Firmen oder ausländische Diktatoren anzuklagen. Wie es den Gerichten auch möglich ist, illegalen Einwanderern
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Neue Gestaltungsmöglichkeiten für Staaten und BürgerInnen Es gehört zu den gängigen Vorstellungen der Globalisierungsdiskussion, dass sich der Nationalstaat – auf Druck multinationaler Konzerne und Organisationen wie der WTO und dem IWF – aus den verschiedensten Gesellschaftsbereichen (inkl. der Wirtschaft) zurückzieht bzw. bereits zurückgezogen hat. Saskia Sassen ist jedoch der Ansicht, dass der Nationalstaat weit weniger an Macht verloren hat als immer behauptet wird. Ja, mehr noch: In gewisser Hinsicht hat der Staat sogar Macht dazu gewonnen. Dementsprechend wird ihrer Ansicht nach viel zu schnell den Ansinnen und Forderungen multinational operierender Konzerne nachgegeben. Denn wenn auch den Globalisierungskritikern zugestanden werden muss, dass es bezüglich des National- oder Rechtsstaats Auflösungstendenzen gibt: Letztlich geht es eher um eine Auslagerung von einzelnen Komponenten auf eine neue höhere Ebene (etwa im Rechtsbereich), was neue Formen der Macht hervorbringt; neue Formen, die eben noch zu wenig von den Staaten genutzt werden. Es kommt also weniger zu einer Gesamtauflösung des Nationalstaats als dass sich seine Rolle fundamental verändert. Doch nicht nur der Staat profitiert von dieser „KomponentenVerschiebung“. Es stellt sich auch die Frage, was diese für die Bürgerinnen und Bürger bedeutet: Profitieren diese ebenfalls von den neuen „Clustern“ und „Räumen“, die dadurch entstehen, dass z.B. nationale Gerichte zu Schauplätzen von Prozessen werden, deren Streitparteien auf mehreren Kontinenten zu Hause sind? Sassens Antwort ist ein „Ja“: Auch jene, die eigentlich von der Politik ausgeschlossen sind, haben in einer Welt der restrukturierten politischen Institutionen nun politische Gestaltungsmöglichkeiten, die vor 20 Jahren nicht gegeben waren.
gewisse Rechte zuzubilligen. Die Entnationalisierung ist auf diese Weise nicht nur ambi-, sondern polyvalent: Sie endogenisiert die globalen Agenden vieler unterschiedlicher Typen von Akteuren – etwa die von Großkonzernen wie auch von Finanzmärkten – „verarbeitet“ in diesem Endogenisierungsprozess aber z.B. auch Menschenrechtsziele. Was durch diese Analyse deutlich wird, ist die Rolle des Nationalen im Zuge der Globalisierung: Das Nationale prägt den partiellen und dabei epochalen Wandel, den wir eben „Globalisierung“ nennen, viel stärker, als man für gewöhnlich meint. Dieses Ergebnis läuft der in der Globalisierungsliteratur gängigen Konzentration auf globale Institutionen und Prozesse (Stichworte WTO, IWF, NAFTA usw.) ebenso zuwider wie der damit verwandten Annahme, dass „global“ und „national“ einander ausschließen. Auch wenn viele Komponenten des Nationalen und Globalen ganz unterschiedlich und inkompatibel sind – es bleiben genügend Komponenten, die nicht in dieses duale Schema passen.
So sind es etwa verschiedenste subnationale Mikroprozesse, die zu einem guten Teil das ausmachen, was man „Globalisierung“ nennt. Diese Mikroprozesse sind gerade dabei, das zu ent-nationalisieren, was von seinem Ursprung her der Kategorie „national“ zugeordnet werden kann; konkret einzelne Politiken, Gesetze, politische Subjektivitäten, Stadträume, Zeithorizonte oder sonstige Bereiche. Manchmal ermöglicht oder fördert das die Konstruktion neuer Arten globaler Systeme, zu denen beispielsweise die globalen elektronischen Netzwerke gehören; nicht nur jene des Finanzsektors, sonder auch die der Umweltaktivisten oder jene der Promotoren einer gerechten Entwicklung. Dann wieder wirken diese Entnationalisierungsprozesse auf nationaler Ebene und bringen dort Phänomene wie die “Global Cities” hervor. So besehen könnten sich die „Stars der Globalisierungsliteratur“, also u. a. die WTO, der IWF oder die NAFTA, als Vorboten einer neuen (politischen Welt-)Ordnung erweisen, auch wenn sie oft als die neue Ordnung selbst gesehen werden. Es gilt jedoch das gewaltige Potenzial zu sehen, dass in diesen Institutionen
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steckt: Mit ihnen lässt sich eine neue Ordnung realisieren; sie sind Instrumente für den Aufbaue einer solchen – aber sie sind nicht die neue Ordnung selbst. Weshalb Hoffnung besteht, dass letztere entstehen wird; auch vor dem Hintergrund der Krise, in der einige der genannten Institutionen stecken und die eine Neuausrichtung notwendig macht. Auf jeden Fall handelt sich um äußerst spannungsgeladene Mikroprozesse, auch wenn diese oft nur Teilprozesse größerer Abläufe sind und dabei zusätzlich einen hohen Spezialisierungsgrad wie auch einen gewissen Grad an Obskurität aufweisen. Sie entnationalisieren, was im Kontext der Nation gebaut wurde, ohne das jedoch allerdings immer offenkundig zu machen. So erleben etwa viele Menschen die Mikrotransformationen, die auf diese Weise auf der institutionellen wie subjektiven Ebene hervorgebracht werden, weiterhin als „national“, auch wenn sie in Wirklichkeit grundlegende Veränderungsprozesse von historischer Tragweite darstellen. Oft müssen diese Prozesse erst decodiert werden, um offensichtlich zu sein. Wozu dieses sich ganz im Nationalen realisierende Globale allerdings durch kein supranationales System und auch durch keine internationalen Abkommen hindurchlaufen muss – so wie es auch nicht notwendig ist, dass es neue Meta-Strukturen wie elektronische Finanzmärkte oder die globale Zivilgesellschaft passiert. Denn diese Transformationsprozesse umfassen spezifische Komponenten einer breiten Palette von nationalen Größen, zu denen etwa die Arbeit nationaler gesetzgebender und richterlicher Instanzen, die weltweiten Tätigkeiten von nationalen Firmen und Märkten, die politischen Projekte von Nichtregierungsakteuren, Diasporanetzwerke, Veränderungen im Verhältnis Bürger – Staat oder überlokale Prozesse, die arme Haushalte grenzüberschreitend zusammenschließen, gehören. Sie richten also ausgewählte institutionelle Bausteine und spezifische öffentliche wie private Praktiken nach globalen Logiken aus – und entfremden sie so den historisch herausgebildeten nationalen Abläufen. Zu diesen sind auch klassische internationale Beziehungen aus Austauschformen zu zählen, die klar von globalen Prozessen zu unterscheiden sind. Kurz: Den gegenwärtigen Wandlungsprozess kann man mithin nur dann verstehen, wenn man über die üblichen Bilder von Globalisierung hinaus denkt und die genannten Prozesse der Entnationalisierung miteinbezieht. Letztere sind in der Literatur bisher zu kurz gekommen; der Fokus war in der Regel auf jene Aspekte der Globalisierung gerichtet, die ganz offensichtlich „global“ sind. Tatsächlich ist ja auch das Entstehen globaler Formationen ein wesentliches Kennzeichen des historischen Wandels, den wir gerade erleben; sie sind geradezu logisch. Doch sogar solche globalen Ordnungen und Formationen funktionieren oft nur dann, wenn sie auf die nationale Prozessebene heruntergebrochen werden. Wozu es aber wiederum besondere Formen der Entnationalisierung braucht, die dadurch eine weitere Förderung erfährt.
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Natürlich geht dieses Zusammenspiel von Entnationalisierung und nationaler Einbettung entnationalisierender Prozesse nicht reibungsfrei vor sich; es kommt zu den verschiedensten – nichtintendierten – Effekten. Ja, es existiert geradezu eine „nicht erzählte Geschichte“ der misslungenen nationalen Einbettung ent-nationalisierender Prozesse; denn immer noch hat das Nationale genug Kraft und Lebendigkeit, um EntNationalisierungs-Tendenzen zum Erliegen zu bringen. Ebenso ist aber die Umkehrung der Fall, d.h. der Entnationalisierungsprozess treibt Nationalisierungsdynamiken in unterschiedlichen aber bisweilen doch zusammenhängenden Bereichen. Ein Beispiel hierfür ist die Entnationalisierung bestimmter Komponenten der Wirtschaft bei gleichzeitiger Re-Nationalisierung gewisser Bereiche der Einwanderungspolitik. All das wird eben nicht gesehen, wenn der Fokus gewissermaßen auf den globalen Auswirkungen der Globalisierung liegt; dann bleibt unentdeckt, mit welcher komplexen Architektur wir es zu tun haben – und wie viele, nur allzu oft nicht-globale Rädchen im Globalisierungsprozess ineinander greifen.
Grenzüberschreitende Cluster aus Hoheitsgebiet, Hoheitsgewalt und Rechten: Neue Räume für politische Strategie Das zweite Strukturelement, das es all jenen, die sich mit nationalen oder lokalen politischen Kontexten begnügen zu müssen, erlaubt, auf der globalen politischen Ebene tätig zu werden, sind die oben bereits genannten neuen, grenzüberschreitenden Gefüge; konkret jene hochspezialisierten, grenzüberschreitenden Räume, deren Zahl immer größer wird und die Teilräume komplexerer Zusammenhänge sind. An dem einen Ende des Spektrums, das diese Gefüge bilden, stehen private Übereinkünfte wie die lex constructionis. Bei diesem handelt es sich um ein privates „Recht“, das von den großen Engineeringunternehmen der Welt entwickelt wurde, um eine gemeinsame Antwort auf die verschärften Umweltstandards in jenen 100 Ländern zu haben, in denen sie mit Niederlassungen präsent sind. Das andere Ende bilden Institutionen wie der Internationale Strafgerichtshof, der das erste globale Höchstgericht überhaupt ist, und das TRIPS Recht, das handelsbezogene Rechte an geistigem Eigentum regelt und als das erste globale Recht überhaupt betrachtet werden kann. Abgesehen davon, dass sich diese Institutionen immer stärker diversifizieren, ist zu beachten, dass sie an Zahl zunehmen: Über 125 existieren aktuellsten Zählungen zufolge4. Gefüge und Räume dieser Art lösen bestimmte Komponenten des Nationalstaats und des formalen Staatsapparats von innen her auf. Sie legen so die Basis für die Neubestimmung jener Schlüsselkompetenzen, die nationale Akteure inklusive dem Nationalstaat auszeichnen – und die
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nun, im Zuge einer Neubestimmung, zu Schlüsselkompetenzen werden können, die das Agieren und Arbeiten in globalen Räume betreffen. Allerdings: Es erfolgt eben nur eine Auflösung bestimmter Komponenten des Nationalstaats, keine Gesamtauflösung. Zu letzterer kommt es weder durch die Vermehrung besagter Gefüge und Räume, noch durch die Entnationalisierung. Lediglich werden durch diese beiden Prozesse nationale und zwischenstaatliche Agenden aus ihren traditionellen Institutionen herausgelöst und in neue Settings eingegliedert. Beide Prozesse werden hier deshalb auch untersucht, um die Bedingungen eines „neuen Modus“ staatlicher Hoheitsgewalt zu bestimmen. Denn dieser wird noch viel zu wenig gesehen – wie er auch theoretisch noch äußerst unvollständig beschrieben ist. Obwohl er die Möglichkeit in sich bietet, das Feld der globalen Politik auch für die Bürger und Akteure des Nationalstaats zu öffnen; darunter sogar für jene, denen es an Macht fehlt und die durch ihre Benachteiligung und Verwundbarkeit de facto unbeweglich sind. Ich möchte all das Gesagte durch Beispiele belegen5: Das erste sind die neuen „Geographien der Gerichtsbarkeit“, die sich gerade herausbilden. Sie sind genau ein solcher Cluster, von dem oben die Rede war und der sich aus Bruchstücken von Hoheitsgebieten, Hoheitsgewalten und Rechten zusammensetzt, die bisher über die Kategorie des „Nationalen“ bestimmt waren. Konkret existiert heute eine Fülle von Gerichtsverfahren, die zwar geografisch besehen transnational ausgerichtet sind, aber doch von nationalen Gerichten forciert werden. Beispielsweise hat das „Center for Constitutional Rights“ in Washington an nationalen Gerichten gegen multinationale Konzerne prozessiert – was u. a. verdeutlicht, welche Werkzeuge zur Verfügung stehen, wenn man für eine gerechtere Weltwirtschaft kämpfen möchte. Prozessgegner waren dabei amerikanische und ausländische Firmen, die gegen die Rechte von Arbeitern in OffshoreNiederlassungen verstoßen hatten. Dementsprechend ging es in diesem Fall um eine Rechtssprechung, in die drei Seiten oder Parteien involviert waren und die verschiedene geografische Orte betraf, die nicht alle in einem Land lagen. So waren nämlich die Headquarter der betroffenen Firmen in den USA, aber auch – so wie die Offshore-Niederlassungen – in anderen Nationen beheimatet, während das Gericht eben wiederum in Washington angesiedelt war. Auch wenn diese Prozesse ihr Ziel nicht voll und ganz erreichten: Sie signalisierten, dass nationale Gerichte der Ort sind, an denen gegen Firmen vorgegangen werden kann, die sich im Ausland fragwürdiger Geschäftspraktiken bedienen; und zwar selbst dann, wenn es sich auch um ausländische Firmen handelt. Und sie signalisieren noch etwas anderes: Komponenten des Nationalstaats oder besser: des Rechtsstaats können heute zur Ausbildung staatenübergreifender Rechtssprechungen
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genutzt werden. Das, was den Nationalstaat stark gemacht hat, kann auch international von Nutzen sein; es ist ein wichtiges Instrument neben den neuen anderen, oft zitierten Instrumenten, zu denen z.B. der neue Internationale Strafgerichtshof oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gehört. Das zweite Beispiel ist jener Cluster, der dadurch entstanden ist, dass sich die Nationalstaaten um den Aufbau eines standardisierten globalen Wirtschaftsraums bemüht haben, in dem heute Unternehmen und Märkte ihre Geschäfte abwickeln können. Erneut werden so nichtnationale Organisationslogiken durch Teilaspekte nationaler Rechte oder überhaupt: durch die Idee der (national verankerten) Rechtsordnung gestärkt. Was umgekehrt aber auch heißt, dass das, was einst dem Nationalstaat und dessen Unternehmen Kraft gab, nun in parzellierter und ausgelagerter Form zur Zerlegung der Ordnungssysteme des etablierten Staates beiträgt. Ein Beispiel hierfür sind die neuen Tools, die – auf Druck von global agierenden Unternehmen hin – für die Bereiche „geistiges Eigentum“ oder „Bilanzierungsregeln“ in den vergangenen Jahren von den Staaten geschaffen wurden. Diese Werkzeuge schaffen eigene operative Räume, die gerade jene Komponenten nationaler Rechtssysteme nutzen, die Entnationalisierungsprozessen ausgesetzt waren6. Dementsprechend sind sie aber auch Werkzeuge einer organisatorischen Logik, die prinzipiell nie zum Nationalstaat gehört hat. Was auch zur Folge hat, dass sie nur allzu oft den Interessen des nationalen Kapitals zuwider laufen. So gesehen ist die wirtschaftliche Globalisierung also alles andere als ein Rückzug des Staates, der deshalb notwendig ist, weil es ein „globales System“ irgendwie notwendig macht. Der Staat zieht sich nicht zurück – es sind lediglich die Regierungen, die sich nach der Dynamik des globalen Kapitals zu richten müssen meinen. Gerade vor diesen Hintergrund ist es wichtig, dass die Nationalstaaten zusammenarbeiten; etwa um globale Vereinbarungen über Umwelt, Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und fairen Handel zu treffen. Als Drittes möchte ich jenen Cluster anführen, der aus den globalen Netzwerken lokaler Aktivisten und, um es genereller zu formulieren, aus den konkreten Infrastrukturen der globalen Zivilgesellschaft besteht. Letztere ist ja vor allem ein Produkt der digitalen Netzwerke und der Phantasien, die mit selbigen verbunden sind. Allerdings schließt das nicht aus, dass auch lokalen Akteuren, Organisationen und Zusammenhängen eine Schlüsselrolle beim Aufbau dieser Zivilgesellschaft zukommt, die zunehmend Gestalt annimmt. Denn das lokale Engagement von Akteuren und Aktivisten ist wichtig; egal, wie universell und weltumspannend die Konflikte auch sind, denen sich diese Aktivisten widmen: Nimmt man das lokale Engagement all dieser Aktivisten zusammen, so ist es im Hinblick
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Saskia Sassen ist Ralph Lewis Professorin für Soziologie an der Universität Chicago und Centennial Gastprofessorin an der London School of Economics. Ihre neuestes Buch heißt Territory, Authority, Rights: From Medieval to Global Assemblages, Princeton Univesity Press, 2006 (Das Paradox des Nationalen, Suhrkamp, Herbst 2007). Sie hat soeben für die UNESCO ein Fünfjahresprojekt über nachhaltiges menschliches Siedlungswesen abgeschlossen, für das sie ein Netzwerk aus Forschern und Aktivisten aus über 30 Ländern bildete. Es wurde als einer der Bände der Encyclopedia of Life Support Systems (Oxford, Vereinigtes Königreich: EOLSS Publishers) (http://www.eolss.net) veröffentlicht. Weitere Bücher von ihr sind die 3. Auflage von Cities in a World Economy, Sage 2006 (Metropolen des Weltmarkts. Die neue Rolle der Global Cities), A Sociology of Globalization (Norton, 2007) und Digital Formations: New Architectures for Global Order (Princeton University Press, 2005), dessen Mitherausgeberin sie ist. The Global City kam 2001 in einer überarbeiteten Neuauflage heraus. Ihre Bücher sind in 16 Sprachen übersetzt. Sie ist Mitglied mehrerer Redaktionskomitees und Konsulentin in mehreren internationalen Gremien. Außerdem ist sie Mitglied des “Council on Foreign Relations”, Mitglied der “National Academy of Sciences Panel on Cities” und Vorsitzende des “Information Technology and International Cooperation Committee” des “Social Science Research Council” (USA). Ihre Kommentare erschienen in The Guardian, The New York Times, Le Monde Diplomatique, im International Herald Tribune, Newsweek International, Vanguardia, Clarin, der Financial Times u. a.
auf eine Weltgesellschaft konstitutiv. Wofür auch globale elektronische Netzwerke sorgen, die eine lokal-globale Dynamik forcieren. An anderer Stelle7 habe ich die Möglichkeiten untersucht, die ressourcenschwachen und wenig mobilen Organisationen offen stehen, um Teil einer „Globalität“ zu werden, die im Lokalen verankert ist. Wenn diese mit neuen Technologien versorgt werden und in weiterer Folge über die Möglichkeit von Echtzeit-Transaktionen, dezentralen Zugängen und Interconnectivity verfügen, können auch sie Teil des globalen öffentlichen Raums werden. Freilich ist letzterer so etwas wie eine subjektive Erlebensgröße, aber er ist es nicht nur. Schließlich entsteht der Eindruck eines globalen öffentlichen Raums ja dadurch, dass unterschiedliche Orte oder Örtlichkeiten dieser Welt miteinander in Konflikt geraten. Gerade das und mithin auch die eigene „Globalität“ wird, so kann man postulieren, von jenen besonders erfahren, die eben nur wenig mobil sind – und nicht von den Einzelpersonen und Organisationen, die die Möglichkeit haben, um den Globus zu reisen. Manchmal kann diese Globalität dabei komplexe Formen annehmen; wie z.B. im Falle jener Indigenen, die eine direkte Vertretung in internationalen Foren unter Umgehung der nationalstaatlichen Autoritäten verlangen – prinzipiell ein altes Anliegen, das durch die globale
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elektronische Vernetzung wesentlich gefördert wurde. Manchmal ist diese Globalität aber auch sehr elementar: Den Regenwalt-Aktivisten, die in den verschiedensten Weltteilen operieren, geht es etwa darum, eine Interaktion zwischen lokal verankerten Akteuren oder Nutzern und ortlosen digitalen Netzwerken herzustellen. Damit verbunden ist die oben schon aufgezeigte „Triangulierung“ der Gerichtsbarkeit, die Gerichte grenzüberschreitend agieren lässt, um politische Maßnahmen zu ermöglichen, die früher nur in nationalen Zusammenhängen hätten passieren können. Umgekehrt nutzen lokale Aktivisten oft globale Kampagnen und internationale Organisationen, um die Rechte und Garantien, die ihre Heimatländer gewähren, sicher zu stellen: Sie haben jetzt die Möglichkeit, eine nicht-nationale oder globale Dimension in ihre nationalen Auseinandersetzungen einzubringen. Das alles verweist auf das Entstehen einer neuen, besonderen Art von Territorialität, die mit Kontexten des Digitalen wie Nicht-Digitalen verwoben ist. Sie lagert einerseits in spezifischen, subnationalen Räumen; andererseits konstituiert sie sich als Spielform einer spezialisierten, respektive partiellen globalen Öffentlichkeit. Obwohl sich alle genannten Cluster unterscheiden, teilen sie gewisse Merkmale: Erstens jenes, nicht ausschließlich national oder global, sondern beides zugleich zu sein. Zweitens vereinigen sie in ihrer Clusterhaftigkeit unterschiedliche Raum-Zeit-Ordnungen, also unterschiedliche Geschwindigkeiten und Horizonte. Drittens bringen sie erfolgreiche Parteinnahmen und Proteste hervor – und auch das, was man „Grenzgebiets-Effekt“ nennen könnte. Ergo einen Raum, der Parteinahmen ermöglicht, ohne dass klare Prozessregeln für die Entwicklung dieser Parteinahme existieren. Die Resolutionen, die im Zuge solcher Treffen entstehen, können dann auch gleich Gelegenheit dazu bieten, Konflikte auszutragen, die in anderen Räumen nicht so leicht ausgetragen werden könnten. Viertens erlauben Clusterbildungsprozesse neuen Akteuren, die Bühne zu betreten. Und zwar neuen Akteuren, die nun Zugang zu grenzübergreifenden (politischen) Feldern erhalten, die früher ausschließlich Institutionen wie dem Staat oder der WTO vorbehalten waren. Fünftens schließlich werden in der Gegenüberstellung der verschiedenen zeitlichen Ordnungen, die in diesen neuen Clustern zusammenkommen, vorhandene Kompetenzen einer neuen Organisationslogik nutzbar gemacht8. Diese Cluster beginnen so die existierende klassische territoriale Verfasstheit des Nationalen auf hochspezielle Art und Weise zu entbündeln – wenn auch oft nur teilweise. In Fällen, in denen das Globale inhaltsreich ist oder mehrfachen Bedingtheiten unterliegt, ist seine Einbringung in eine institutionalisierte Welt, die historisch überwiegend national konstruiert wurde, folgenreich. All das weist auch darauf hin, wie groß der Bedarf ist, das neu zu denken, was oft als Dualität konzipiert wird, nämlich die Unterscheidung zwischen
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dem Globalen und dem Lokalen. Zu der dann auch noch die Annahme gehört, territoriale Nähe sei für die Schaffung des „Lokalen“ eine Voraussetzung wie umgekehrt die Ortlosigkeit für das Globale. Es gilt hier deshalb jene räumlichen Hierarchien zu überdenken, die üblicherweise als gegeben hingenommen werden, also die Dreiheit lokal/national/global, in der das Lokale üblicherweise als langsame und das Globale als schnelle Zeit gedacht wird.
Anmerkungen 1
Eine umfassende Analyse der verschiedenen hier aufgeworfenen Themen und die relevanten Quellen und Bibliografien finden Sie in Sassen: Territory, Authority, Rights: From Medieval to Global Assemblages (Princeton University Press, 2006) [I. d. F. zit. als „Sassen, 2006“]. Die deutsche Übersetzung wird bei Suhrkamp unter dem Titel „Das Paradox des Nationalen“ herauskommen.
2
Vgl. Sassen, 2006: Kapitel 3, 4, 8 und 9.
3
Vgl. Ebda, Kapitel 2, 6, 7 und 8.
4
Vgl. Sassen, 2006: Kapitel 5, 8 und 9.
5
Nähere Angaben zu diesem Thema: vgl. Sassen, 2006: Kapitel 8.
6
Vgl. Sassen, 2006: Kapitel 4 und 5.
7
Vgl. Sassen, 2006: Kapitel 7.
8
Nähere Angaben dazu siehe Sassen, 2006: Kapitel 8.
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Rahmenprogramm und Ergänzendes Begleitend zur Ausstellung finden im Spiegelsaal der Neuen Galerie drei Vorträge zum Themenbereich „Fairer Handel“ statt: Mi, 26.9.2007, 19:00 Uhr Branko Milanovic: Globalisierung, Handel und die Ungleichheit der Nationen Do, 4.10.2007, 19:00 Uhr Nico Stehr: Die Moralisierung der Märkte Do, 8.11.2007, 19:00 Uhr Julian Nida-Rümelin: Was ist internationale Gerechtigkeit?
Die Veranstaltungen werden von Christian Eigner und Peter Weibel moderiert.
Fragen des gerechten Tausches wirft auch die ORF Radiokolleg-Serie „Ethisch korrekt kaufen. Kann man durch Konsum die Welt verändern?“ auf. Ausgestrahlt von 17. bis 20. September 2007 auf Ö1 deckt sich das Sendedatum mit dem Beginn der Ausstellung „UN/FAIR TRADE“, weshalb die Serie in CD-Form auch diesem Buch beigelegt wird. An dieser Stelle seien vom ORF Hörfunk Dr. Martin Bernhofer, dem Leiter des Bereichs Wissenschaft Bildung Gesellschaft, Dr. Ursula Baatz (ORF-HD 4 Religion Hörfunk) sowie Dr. Eva Maria Quatember (Ö1 CD-Produktionen) für die Zusammenarbeit gedankt.
Begleitet wird das Projekt UN/FAIR TRADE auch von einem Wiki, das im Netz unter www.un-fairtrade.org zu finden ist. Dieses Wiki soll das Projekt über Graz hinaus erweitern und stellt eine Basis für jene WebEinspielungen dar, die Teil der Ausstellung sind. Das Wiki wurde – wie die Web-Einspielungen – von System One Wien (www.systemone.at) produziert.
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